Mahler Melancholie

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Mahler Melancholie
Der Autor Martin Geck behandelt in seinem Essay das Thema der Melancholie
bei Gustav Mahler anhand dessen zweiter Sinfonie – wobei dieses
Temperament auch für zahlreiche Kompositionen Mahlers stimmungsbildend
ist.
Melancholie
Lucas Cranachs auf 1533 datiertes Gemälde zeigt am rechten Bildrand eine
junge Frau, die in sich gekehrt und mit gesenktem Blick an einem Stock
schnitzt. Ob es sich um zauberisches oder um selbstvergessenes Tun handelt,
muss offen bleiben; jedenfalls fehlt ihr die Wahrnehmung für die Knaben,
welche den Raum füllen: Zwei von ihnen machen mit Querpfeife und Trommel
eine vermutlich ausgelassene Musik, zu der einige andere lebhaft tanzen;
weitere Knaben liegen da, als ob sie urplötzlich in Schlaf versunken seien. Am
Bildhorizont erscheint ein Zug dämonischer Wesen. Eine Eule – gemeinsam mit
der Fledermaus Vertreterin des saturnischen Temperaments – trägt eine
nackte Hexe, die in der Linken Schlangen, in der Rechten Kröten hält; eine
weitere Hexe, auf einem Teufel reitend, umarmt einen Priester usw. Der ganze
Zug befindet sich in einer Wolke, an deren Anfang das Greisenhaupt von
Boreas, dem eisigen Windgott, sichtbar ist; aus seinem Munde kommt das
Wort Melancholia. Boreas aber ist Saturn, der die Melancholie regierende
Planten-Gott, lichtarm, unrein, kalt, ein Herr der dunklen Erdentiefe, gefährlich
und zugleich genialisch, produktiv.
Die symbolische Darstellung von Melancholie umfasst das ganze Bild, nicht
nur die Erscheinung der Frau: Traurigkeit, Abwesenheit und äußerliche
Starrheit werden besonders an ihrem Gegenbild deutlich, der Vitalität welche
die Knaben ausstrahlen. Auch sie sind selbstvergessen, ob sie nun aktiv tanzen
oder passiv im Schlaf liegen; doch diese Selbstvergessenheit bedeutet keinen
Rückzug aus dem Augenblick, sondern vollkommene Hingabe an ihn:
Melancholie ist hier geradezu als Abwehr dieses besitzergreifenden
Weltverständnisses definiert.
Was dem weltzugewandten Menschen der reale Augenblick, ist dem
Melancholiker sein dunkles Inneres. Dort entwickeln die vitalen
Lebensansprüche, die er nicht hat verwirklichen können oder wollen, ihre
eigene Dynamik; dort entsteht ein explosives Gemisch von Enttäuschung, Wut
und Rachegefühlen, vor dem der Melancholiker sein Bewusstsein versperren
muss: Deshalb wirkt er so starr. Die Alten sahen in solchen abgespaltenen
Triebregungen dämonische Kräfte, speziell den Einfluss Saturns am Werk; in
diesem Sinne hat Cranach sie gleichsam aus dem Innern der
melancholischen Frau hervorgeholt und auf die Zimmerwand projiziert.
Sein Bild ist möglicherweise als direkte Antwort auf Dürers Melencolia I zu
verstehen, die mit humanistischem Pathos das akzeptable, nämlich
genialische und kunstschöpferische Moment des melancholischen
Temperaments vorführt. Cranach gehört demgegenüber zum Kreis Luthers,
der Melancholie mit einem „Wurm im Gewissen“ vergleicht, dessen sich ein
guter Christ möglichst schnell zu entledigen hat. Deshalb bringt er
Melancholie auch nicht, wie Dürer, mit der gestaltenden Kraft der Geometrie
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in Verbindung; nicht zufällig im niederen Stil malend, zeigt er vielmehr formal
Disparates, inhaltlich Befremdliches und Grelles. Symptomatisch ist der
Mangel an Beziehung unter den einzelnen Figurengruppen. Die Welt als
Narrenhaus – dieser dem 16. Jahrhundert geläufige Topos wird von Cranach
unter dem speziellen Thema der Melancholie konkretisiert.
Malerei kann sich Vielschichtigkeit und Disparatheit erlauben, weil das Sujet
für Kundige auf den ersten Blick erkennbar ist. Musik hat sich damit seit jeher
schwer getan. Schon in ihrer Herkunft aus Lied und Tanz liegt begründet, dass
sie geordnete Zeit repräsentieren, d.h. sinnvolles Nacheinander anstatt
verwirrender Vielfalt in der Gleichzeitigkeit bieten soll. Das will nicht besagen,
Letzteres habe die Komponisten nicht seit jeher gereizt; vielmehr ließe sich die
Geschichte der freien Phantasie geradezu als Geschichte musikalischer
Melancholiedarstellungen schreiben: Johann Sebastian und Carl Philipp
Emanuel Bach, Mozart, Beethoven, Schumann und Liszt scheinen von den
Themen Trauer oder Verlassenheit besonders angeregt worden zu sein, das
Verhältnis von affectus und numerus, Diskontinuität und strenger Formung,
Regellosigkeit und untergründiger Ordnung, versteckter und offener Botschaft
innerhalb der Gattung der Klavierphantasie zu reflektieren. Doch das alles
tendiert eher zum hohen Stil von Dürers Melancholie-Darstellung, als zu dem
niederen Stil von Cranach: Die zunächst theologisch, dann philosophisch und
ästhetisch begründete Forderung nach der harmonischen Einheit von Inhalt
und Form lässt Extravaganzen nur in Maßen zu.
Der musikgeschichtlich entscheidende Einschnitt liegt erst bei Mahler. Dieser
äußert sich über das Scherzo aus der zweiten Sinfonie am 26. März 1896
gegenüber Max Marschalk mit den Worten:
„Wenn Sie dann aus diesem wehmütigen Traum [des vorausgegangenen
Andante moderato] aufwachen, und in das wirre Leben zurückmüssen, so
kann es Ihnen leicht geschehen, daß Ihnen dieses unaufhörlich bewegte, nie
ruhende, nie verständliche Getriebe des Lebens grauenhaft wird, wie das
Gewoge tanzender Gestalten in einem helle erleuchteten Ballsaal, in den Sie
aus dunkler Nacht hineinblicken – aus so weiter Entfernung, daß Sie die Musik
hierzu nicht mehr hören! Sinnlos wird Ihnen da das Leben, und ein
grauenhafter Spuk, aus dem Sie vielleicht mit einem Schrei des Ekels
auffahren!“
In ähnlichem Sinn und mit gelegentlich geradezu identischen Formulierungen
hat sich Mahler über das Scherzo immer wieder geäußert; so spricht er von
einem Menschen, „der sich und sein Glück verloren hat“, von einer „Welt wie
im Hohlspiegel, verkehrt und wahnsinnig“, vom „Geist des Unglaubens, der
Verneinung“, vom „Ekel vor allem Sein und Werden“. Bezeichnender Weise
taucht die Musik zum Scherzo auch in einem der Lieder aus Des Knaben
Wunderhorn auf: Es hat die Überschrift Des Antonius zu Padua Fischpredigt
und glossiert mit „süßsaurem“ Humor die Vergeblichkeit alles hehren
Engagements: „Die Predigt hat g’fallen, Sie bleiben wie alle“ – so endet der
Wunderhorn-Text, der zugleich als Mahlers Kommentar zur Rolle des Künstlers
in der Gesellschaft zu verstehen ist.
Das Lebensgefühl, welches aus den Äußerungen zum Scherzo spricht, steht
pars pro toto für den ganzen Mahler. Allenthalben beklagt er seine Fremdheit
in der Welt und seine Verschwisterung mit Einsamkeit und Trauer. „Gestern
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habe ich ein trauriges Weihnachtsfest gehabt, ich saß wieder einmal allein zu
Hause, und sah aus meinem Fenster die ganze gegenüberliegende
Häuserreihe voller Weihnachtsbäume und Lichter“, erzählt er am 25.
Dezember 1886 dem Freund Friedrich Löhr. Emil Freund berichtet er einige
Jahre später aus Hamburg: „Ich habe so viel in den letzten Wochen
durchgemacht – ohne äußere erkennbare Veranlassung – es packt mich die
Vergangenheit – alles, was ich verloren – die Gegenwart mit ihrer Einsamkeit –
und alles mögliche – Du kennst an mir solche Stimmungen aus früheren
Jahren – wenn mich früher solche Traurigkeit befiel inmitten meiner Freude...“
Alma Mahler schreibt er im Jahre 1907: „Sind denn die Menschen aus einem
andern Stoff als ich? Donnerwetter, man möchte sich da rein in das Dickicht
zurückziehen und überhaupt nichts mehr von der Welt wissen“. In seine
Rückert-Lieder nimmt er den Text auf:
„Ich bin der Welt abhanden gekommen,
mit der ich sonst so viele Zeit verdorben,
sie hat so lange nichts von mir vernommen,
sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!...“
Solches Leiden hat seine Wurzeln in der Romantik und verbindet sich mit
Erfahrungen des Fin de siècle; insofern ist es nicht auf Mahler beschränkt. Neu
ist indessen die Weise, auf welche die entsprechenden Erfahrungen
kompositorisch produktiv gemacht werden: Endlich kann und darf Musik das
Nicht-Identische darstellen. Mahlers Scherzo ist aus einzelnen semantischen
Segmenten zusammengesetzt, die man – für sich betrachtet – als ‚schöne
Stellen’ identifizieren könnte: gefällige Streicherklänge, Klarinetten-Gedudel,
schmachtende Trompeten, festlicher Tusch. Das Ganze ist im Genre populärer
Tanzmusik gehalten; die Klarinettenmelodie ab Takt 45 erinnert wohl nicht
zufällig an das Trio im Scherzo von Bruckners Vierter, und ihre Variante in den
Bratschen ab Takt 105 ist dem Vorspiel zu Bachs Bauernkantate zwar sicherlich
nicht bewusst nachgebildet, jedoch im Gestus verwandt: In beiden Fällen
geht es um das Klischee des routinierten „Aufspielens“. Freilich ist bei Mahler
nichts mehr von der Biederkeit seiner ‚Vorgänger’ zu finden: Die Mischungen
der Harmonien und Instrumentenklänge sind pikant; und bei aller Seriosität im
Handwerklichen komponiert Mahler in seiner Weise ‚auf Wirkung’, die man
sonst nur vom neu aufgekommenen Genre der Unterhaltungsmusik kennt.
Sieht man das Scherzo in diesem Kontext, so könnte man es in der
Nachbarschaft etwa des Rosenkavalier ansiedeln; das gilt selbst noch für die
skurril windungsreiche, „mit Humor“ vorzutragende Partie der Es-Klarinette ab
Takt 92.
Indessen gibt es einen anderen Kontext, der nicht von Gemütlichkeit wissen
will, selbst nicht von der ironisch distanzierten des Rosenkavaliers. Da weht es
einen kalt an, und man wird mit Störungen aller Art konfrontiert: Es gibt
Wiederholungen bis hin zur Monotonie, Unterbrechungen, Überlappungen,
falsche Anschlüsse, zum Teil dissonierende Klänge, die man nicht bloß als
interessante Farbmischungen ansehen kann, die vielmehr wehtun. Wenn ab
Takt 465 der lange „Schrei des Ekels“ erklingt – dargestellt als eine Art
musikalischer Brandung, in der b-moll an C zerschellt, öffnet sich das Tor zur
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neuen Musik: Nicht von ungefähr hat Luciano Berio das Scherzo als „Gefäß“
für den dritten Satz seiner eigenen Sinfonia von 1968 gewählt, in dem er u.a.
dunkle Beckett- und Joyce-Texte verarbeitet und unvermittelt die Zeile „Mein
junges Leben hat ein End“ in der deutschen Originalsprache einblendet.
Keineswegs darf man von Parodie auf Tanz- oder Unterhaltungsmusik
sprechen. Das hieße nämlich, an den zu parodierenden Gegenstand von
außen heranzugehen und tendenziell zwischen ‚Original’ und ‚Bearbeitung’
zu trennen, wie dies etwas Strawinsky in seiner Pulcinella-Suite tut. Der
Komponist Mahler ist nicht der Zeitgenosse Mahler, welcher dem Treiben der
Welt zwar verächtlich oder verzweifelt, jedoch als sich als autonom
verstehendes Subjekt gegenübertritt. Er ist vielmehr mit dem komplexen
Geschehen identifiziert, erlebt und beschwört dieses jedoch als ein Nichtidentisches: Er ist – um in seinem eigenen Bild zu bleiben – im Ballsaal und in
der dunklen Nacht; er hat ein Ohr für die Schönheit der „sehr ausdrucksvoll
gesungenen“ Trompetenmelodie und den „Schrei des Ekels“. Seine Musik ist
so komponiert, dass sie in beide Kontexte passt, ohne dass diese zueinander
passen. Sie ist die Summe oder Differenz von zwei Größen, die nicht mehr
aber auch nicht weniger miteinander zu tun haben, als dass ihre Summe oder
ihre Differenz die entscheidende künstlerische Größe ergibt.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat Musik zunehmend die Fähigkeit gewonnen,
neben dem Schönen das Charakteristische darzustellen, also vor allem das
Befremdliche, Schreckliche und Hässliche. Doch – von wenigen Ansätzen bei
Berlioz abgesehen – ist dies stets innerhalb einer Gesamtkonzeption
geschehen, die weiterhin vom Ideal des Schönen und Stimmigen bestimmt
war: Im Ring gibt es sowohl ‚schöne’ als auch ‚schreckliche’ Figuren; doch sie
haben tendenziell ihren festen Platz im Drama – wie die Guten und Bösen im
Märchen. Mahlers Scherzo gleicht eher Cranachs Melancholie-Bildnis, das alle
Elemente dieses Temperaments herbeizitiert, sich aber nicht vereinen lässt: die
hingebungsvoll Musizierenden und Tanzenden, die vor dem Leben sich
abschließende Person und ihr mit schwarzer, aggressiver Phantasie gefülltes
Innneres.
Doch wo bleibt der „Schrei des Ekels“? Dieser Gestus des Scherzo hat keine
Entsprechung in Cranachs Melancholia, würde zu ihr auch nicht passen: Der
Schrei bedeutet eine Entladung angestauter Energie, die das melancholische
Temperament gerade nicht freizugeben vermag! Er macht öffentlich, dass
der Mensch Zerrissenheit und Entfremdung nicht länger seiner eigenen
Unzulänglichkeit zuschreibt, sondern als Unrecht erlebt, das die Welt an ihm
verübt. Seinen Protest herausschreiend, schlägt er die Tür nicht nur zum
idealistischen, sondern auch zum romantischen Zeitalter hinter sich zu und
erweist sich damit als verzweifelt trotziges Kind des Fin de siècle – oder gar
schon als Sprachrohr des Expressionismus? Dann löste sich im Scherzo jener
absolute Schrei, den gerade eben Edvard Munch im Bild fixiert hat.
In Mahlers kargen Hamburger Arbeitszimmer hingen zur Zeit der Zweiten drei
Bilder wie drei Wegzeichen: eine anonyme Fischpredigt, Dürers Melencolia
und Tizians Konzert mit der Darstellung eines verklärt blickenden, entfernt an
Mahler selbst erinnernden Mönches. Hier ist es somit die bei den Humanisten
als Ausdruck geisterfüllter Kontemplation hochgeschätzte „edle“ Melancholie,
die den von der Welt enttäuschten Sinn des Künstlers auf den Trost heiliger
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Tonkunst verweist. In solcher Konsequenz folgt in der Zweiten auf die
Fischpredigt ein als Urlicht bezeichneter Zwischensatz, in dem die Bläser –
„sehr feierlich, aber schlicht“ – die Choralweise „Aufersteh’n, ja aufersteh’n
wirst du, mein Staub, nach kurzer Ruh“ intonieren. Der Zeitgenosse vernimmt
es mit Respekt; doch was gälte ihm die ganze Sinfonie, ja Mahlers
Gesamtwerk, wenn dort nicht immer wieder Unversöhntes, Nicht-Identisches
zur Sprache käme?
Martin Geck
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