Kriegskinder

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Nachrichten
11. Deutscher
Seniorentag
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Gemeinsam
in die Zukunft!
2. bis 4. Juli 2015
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BAGSO-Nachrichten
Das Magazin der Bundesarbeitsgemeinschaft
der Senioren-Organisationen
Nachrichten
03/2014
ISSN 1430-6204
BAGSO InternetWoche
2014
Gemeinsam
in die Zukunft!
11. Deutscher Seniorentag
2. bis 4. Juli 2015
in Frankfurt /M.
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Kriegskinder
© Foto: Bundesarchiv
Titel – Kriegskinder
Kriegskinder
E
rlebnisse in der Kindheit sind
prägend für das ganze Leben. So
können längst vergessen geglaubte traumatisierende Erfahrungen
wieder aufbrechen, wenn Menschen an einer Demenz erkranken.
Die oft nicht nachvollziehbaren
2
Ängste, die sie entwickeln, stellen miterlebt. Natürlich sind die Erlebdie Pflegenden vor große Heraus- nisse und Erfahrungen völlig unforderungen.
terschiedlich. Nach Angaben von
Dr. Heide Glaesmer von der AbteiEtwa 16,5 Millionen Menschen lung für Medizinische Psychologie
der heute über 65-Jährigen haben und Medizinische Soziologie der
als Kinder den Zweiten Weltkrieg Universität Leipzig berichten aber
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Titel – Kriegskinder
immerhin 40–50% der Kriegskinder über traumatische Erfahrungen – überwiegend aus der Zeit
des Zweiten Weltkrieges. Diese
Generation ist damit deutlich stärker belastet als die nachfolgenden
Generationen.
irritiert fest, dass viele der von ihr
Befragten meinten: „Es hat uns
nicht geschadet.“ Die meisten, die
sie auf ihre Kindheit angesprochen hatte, hätten zudem schnell
abgewehrt, zumeist mit dem Satz:
„Andere haben es viel schlimmer
gehabt.“ Ohnehin machten diese
Die Kölner Journalistin und Buch- Menschen meist nicht viel Aufheautorin Sabine Bode, die sich seit ben um sich und das, was sie gevielen Jahren mit der „Generation prägt hat.
der Kriegskinder“ beschäftigt (siehe Verlosung, S. 55), stellte aller- Wir sind uns im Klaren, dass wir
dings zu Beginn ihrer Recherchen das Thema hier nur anreißen kön-
nen, sodass viele Facetten unbeleuchtet bleiben müssen.
Unerlässlich erschien uns, auf das
Schicksal der Opfer des NS-Regimes einzugehen, auch wenn hier
der Begriff „Kriegskinder“ sicher
zu kurz greift. Wir danken Michael Teupen vom Bundesverband
Information & Beratung für NSVerfolgte, dass er uns dabei unterstützt hat. n
Das Redaktionsteam
„Das Leid der Kinder spielte damals keine Rolle“
Ein Interview mit Prof. Hartmut Radebold
Wie hat der Krieg diejenigen, die
damals Kinder waren, geprägt?
Sind alle sogenannten Kriegskinder traumatisiert?
Das kann man nicht pauschal beantworten, denn es existiert ein
riesiges Spektrum unterschiedlichster Erfahrungen, abhängig
davon, wo man aufgewachsen ist.
Wir schätzen, dass etwa 40 % dieser
Jahrgänge keine traumatisierenden und schädigenden Ereignisse
erlebt haben. Schätzungsweise 30
bis etwa 35 % sind – nach heutigen
Maßstäben – hoch traumatisiert
bzw. geschädigt. Schließlich gibt
es noch ein weiteres Drittel dieser
Menschen, die mit Kriegserfahrungen konfrontiert wurden, bei
denen es aber genügend schützende Faktoren gab, die das ein Stück
aufgefangen haben, sodass sich
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diese Erfahrungen nicht lebenslang auswirken. Die Erinnerungen
der ersten Gruppe sehen oft so aus:
Viel Freizeit nach Kriegsende, sie
brauchten nicht zur Schule zu gehen, haben in Ruinen gespielt und
amerikanische Soldaten erlebt,
die Schokolade verteilten. Zu den
Erfahrungen der Hochtraumatisierten gehörten dagegen Bombenhagel, Flucht und Verfolgung
sowie Vertreibung. Es wird geschätzt, dass ca. 14 Mio. Menschen
zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat verloren haben. Dazu kommt,
dass ein Viertel aller Kinder nach
dem Krieg ohne Väter aufwachsen
musste, etwa 200.000 waren sogar
Vollwaisen, die zudem nicht selten
auch Geschwister und Großeltern
verloren hatten. All diese Erkenntnisse beziehen sich weitestgehend
auf Westdeutschland und Westberlin, im Osten war das ein absolutes Tabuthema, weil die Russen
die „Befreier“ waren.
Wenn die Erfahrungen so unterschiedlich waren, kann man wohl
auch kaum generationen-typische
Verhaltensmuster der damaligen
Kriegskinder ableiten?
Doch, das kann man. Denn man
muss sich klarmachen, dass seit der
Industrialisierung und dem Kaiserreich in Deutschland bestimmte Erziehungsnormen galten, die
im „Dritten Reich“ systematisch
fortgesetzt wurden. In Bezug auf
Jungen hieß das z. B.: keine Gefühle zeigen, Zähne zusammenbeißen, Schmerzen wegstecken
und nicht weinen. Sie haben auch
nie gelernt, über Probleme und
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Titel – Kriegskinder
Schwierigkeiten zu sprechen. Die
meisten damals erwachsenen
Männer waren beim Militär und
auch stolz darauf. Denken Sie an
den Spruch von Hitler: „Zäh wie
Leder, hart wie Kruppstahl und
flink wie die Windhunde.“ Nach
dem Krieg ging das so weiter, denn
diese Erziehungsnormen wurden
von den Eltern nicht in Frage gestellt. Deutschland war zwar ein
zerstörtes und besiegtes Land,
aber die kritischen Stimmen kamen nur allmählich.
Welche typischen Verhaltensweisen kann man demnach in diesen
Geburtsjahrgängen erkennen?
Es gibt unter den Betroffenen, Beschädigten und Traumatisierten
eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die ich „ich-synton“ nenne,
d. h., sie gehören so selbstverständlich zu der Person, dass sie nicht
hinterfragt werden. Dazu gehört,
dass sie angepasst, sparsam, vo-
Zur Person
Hartmut Radebold
Univ.-Prof. em. Dr.
med., 1935 in
Berlin geboren, ist
Arzt für Psychiatrie/Neurologie,
Psychoanalyse und
Psychotherapeutische Medizin,
Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV)
und Altersforscher. Von 1976 bis
1998 hatte er einen Lehrstuhl
für Klinische Psychologie an der
Universität Kassel inne. Als Autor
veröffentlichte er u. a.: „Die dunklen
Schatten der Vergangenheit – Hilfen
für Kriegskinder im Alltag“ und „Abwesende Väter und Kriegskindheit“.
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rausplanend und organisierend
sind, wenig Rücksicht auf eigene
Bedürfnisse nehmen und sich von
vielen Dingen nicht trennen können. So werden Gegenstände des
täglichen Gebrauchs vorsichtshalber aufgehoben und natürlich isst
man den Teller leer. In psychologischen Untersuchungen zeigt sich,
dass die sogenannten Kriegskinder
äußerlich freundlich und innerlich
skeptisch bis misstrauisch sind.
Weitere Untersuchungen belegen,
dass die ehemaligen Kriegskinder
eingeschränkte soziale Fähigkeiten und im Vergleich zu anderen
eine eingeschränktere Lebensqualität haben. Sie wurden schnell in
die familiäre Verantwortung genommen – weil die Väter fehlten
oder sie die „Älteren“ waren. Als
dann die Väter nach vielen Jahren
zurückkamen, waren die Kinder
zu kleinen ernsten Erwachsenen
geworden, die wenig an Kindheit
und Jugend erlebt haben. Und die
vielen Flüchtlingskinder hatten
den Auftrag, es besser zu machen,
neue Sicherheiten zu schaffen und
die Familie sozusagen abzusichern. Auf allen Seiten herrschten
also Riesen-Erwartungen an die
Kinder.
Sie sprachen von einer bis heute
vorherrschenden eingeschränkten
Lebensqualität? Wie drückt sich
diese aus, denn materiell geht es
doch vielen ehemaligen Kriegskindern heute recht gut?
Können sie das materiell Erreichte
auch für sich nutzen? Sie sehen sich
selbst oft als völlig bedürfnislos an.
Leisten sie sich im Alter eine bequemere Wohnungseinrichtung?
Gönnen sie sich etwas? Wie oft
hört man den Spruch: „Das lohnt
sich doch nicht mehr in meinem
Alter.“ Ihre Alltagsbewältigung
ist insgesamt schlechter. Statt sich
den Alltag zu erleichtern, heben
sie alles Mögliche auf. Die Keller
und Böden sind voll, schließlich
weiß man nie, wozu man es noch
gebrauchen kann. 1945 bis 1950
waren das gut nachvollziehbare Überlebensstrategien, die aber
heute nicht mehr sinnvoll sind.
Bei all dem erlebten Leid: Warum
sind nach dem Krieg nicht massenweise ehemalige Kriegskinder
in die Psychotherapie-Praxen gestürmt?
Vor dem Krieg gab es schon ganz
wenige Psychotherapeuten und
Psychiater, den Beruf des Psychologen gab es noch nicht. Das war
nach dem Krieg nicht anders, im
Gegenteil. Es stand also nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung. Außerdem spielte das Leid
der Kinder damals keine Rolle.
Die Mütter sahen zwar, dass es
ihren Kindern schlecht ging, aber
sie waren mit dem realen Überleben zu sehr beschäftigt. Außerdem hegte man die Vorstellung,
dass die Kinder schnell vergessen
würden: Das wächst sich schon
aus. Auch das Leid der Erwachsenen wurde nicht wahrgenommen.
Und als in den Jahren 1950 bis
1954 noch viele Heimkehrer aus
der Gefangenschaft zurückkamen,
da wollte keiner mehr von ihrem
Leid hören. Die, die auffallend
psychisch verändert waren, sind in
den psychiatrischen Kliniken „verschwunden“.
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1954 gab es die einzige repräsentative Untersuchung der Bundesrepublik. Dazu wurden 1.000 Kinder
untersucht, die bei Kriegsende
sechs, teilweise zehn Jahre alt waren. Gefunden wurde nichts: Die
Kinder hatten ein normales Längenwachstum und Gewicht und
zeigten normale Schulleistungen.
Auffälligkeiten gab es nicht. Damit
waren alle hochzufrieden, die Eltern und die Professionellen. Denn
es schien somit erwiesen, dass
Kinder zwar extreme Erfahrungen
machen können, die aber für ihre
weitere Entwicklung keine Rolle
spielen. Erst 2006 wurde durch das
Erscheinen des Buches „Schläge im
Namen des Herrn“ bekannt, dass
etwa 500.000 bis 600.000 Kinder
nach dem Krieg in Heime gesteckt
wurden. Das waren die schwer Erziehbaren, die Auffälligen, die Verhaltensgestörten, die, die schlechte
Schulleistungen zeigten. Es waren
die durch den Krieg verhaltensauffällig gewordenen Kinder. Die hat
unsere Gesellschaft einfach weggesperrt. Als sie wieder rauskamen,
haben sie geschwiegen und versucht, irgendwie klarzukommen.
Als Psychoanalytiker haben Sie
aber doch ehemalige Kriegskinder behandelt…?
Ja, aber diese haben erst ab ihrem
50. Lebensjahr bemerkt, dass irgendetwas mit ihnen nicht in Ordnung ist. Dabei hat keiner anfangs
erwähnt, er habe schlimme Erfahrungen im Krieg gemacht. Sie
kamen mit diffusen Beschwerden,
weil sie merkten, sie haben Beziehungs- und Bindungsstörungen,
kennen ihre eigenen Bedürfnisse
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© Foto: Goldblick - Fotolia.com
Titel – Kriegskinder
Manche ehemaligen Kriegskinder bemerken oft sehr spät, „dass irgendetwas mit
ihnen nicht in Ordnung ist. Oft wissen weder die Ehepartner noch die Kinder, was
damals genau passiert ist.“
nicht. Erst im Lauf der Behandlung
wurde ihnen und mir langsam bewusst, was sie für eine Geschichte
mitbringen.
sondern immer jemanden mitnehmen, wie den Partner oder die
Kinder. Denn kein Mensch weiß,
was ihn an solchen Orten plötzlich wieder einholt. „Beschützen“
lassen sollte man sich auch vor bevorstehenden kritischen Ereignissen, wie einer großen Operation.
Eigentlich müssten auch die Narkoseärzte in Krankenhäusern für
die Biografie ihrer Patienten sensibilisiert werden.
Was raten Sie Menschen, die sich
mit verdrängten Kriegserfahrungen konfrontiert sehen?
Wichtig ist, dass man sich in Zeiten,
in denen es einem gut geht, klarmacht, was man erlebt hat, und sich
eingesteht, dass das zu einem gehört. Das Zweite ist, dass man bereit
ist, darüber zu sprechen. Oft wissen Wird jemand von seiner Verganweder die Ehepartner noch die Kin- genheit eingeholt, ist es wichtig, aus
der, was damals genau passiert ist. der Vereinzelung herauszukommen. Es gibt vielerorts sogenannte
Und man sollte sich Situationen, Kriegskindergruppen. Oder man
in denen alte Gefühle wieder auf- begibt sich in eine Psychotherapie.
leben können, nicht ohne Schutz Ein Weg ist es auch, seine Biografie
aussetzen. Man sollte also nicht aufzuschreiben und öffentlich zu
allein nach Polen oder an andere machen, das hat sehr viele psychoOrte der Vergangenheit fahren, therapeutische Effekte.
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Titel – Kriegskinder
Welche Rolle spielen Kriegserfahrungen bei Demenz?
Demenz ist eine Krankheit, die
den Intellekt und das Gedächtnis
verändert, nicht aber die Gefühle.
Das heißt also: Alles, was an abgewehrten, bedrohlichen, beunruhigenden Gefühlen und Ängsten
von damals da ist und was man
lebenslang unter Kontrolle gehalten hat, kann aufbrechen – und
zwar sehr intensiv, wenn die Kontrollmechanismen wegbrechen
oder sich verändern. Wir wissen
nicht, ob solche Kriegserfahrungen die Demenz befördern. Aber
tigungen während des Krieges und
in der direkten Nachkriegszeit in
Ostdeutschland aus. Aber langsam
gelangt dieses Thema auch in die
Fortbildung der Pflegekräfte. Diese müssen dafür sensibilisiert werden. Wenn z. B. ein männlicher
Pfleger bei einer demenzkranken
Heimbewohnerin Intimpflege vornimmt und diese plötzlich schreit
und um sich schlägt, kann das mit
Dabei handelt es sich um ein einer Vergewaltigungserfahrung
großes Tabuthema…
in der Vergangenheit zusammen…um eines der höchst tabuisier- hängen. n
ten Themen in Deutschland. Wir
gehen von 1,9 Millionen Vergewal- Das Interview führte Ines Jonas.
man kann sagen, während der
Demenz werden möglicherweise
sehr, sehr alte Dinge wach, und
deshalb ist es notwendig, dass
die Heime wissen, welche Vorgeschichte ein Mensch mitbringt.
In der Nacht können leicht bedrohliche Gefühle hochkommen,
besonders bei ehemaligen Vergewaltigungsopfern.
Der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte
„Es gilt, wachsam zu bleiben“
D
er Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. existiert seit über 20
Jahren. Das Besondere an dem
Verein ist, dass er die Interessen
aller NS-Opfer vertritt, also nicht
ausschließlich die der Juden, Sinti und Roma. Vielmehr setzt er
sich auch mit den Verfolgungsschicksalen von Zwangsarbeitern,
politisch Verfolgten, EuthanasieOpfern und Menschen, die wegen
Erzähl- und Begegnungscafés für NSVerfolgte: Hier wird Überlebenden des
NS-Regimes ein Ort zum Austausch
und der Begegnung geboten.
6
ihrer sexuellen Identität unter dem
NS-Regime gelitten haben, auseinander und bemüht sich um einen
gerechten Ausgleich. Eine nicht
validierte, aber realistische Schätzung geht davon aus, dass in der
Bundesrepublik heute noch ca.
80.000 Menschen leben, die von
den Nazis verfolgt wurden.
Gerade die Jahre von 1930 bis zum
Kriegsende waren für diesen Personenkreis existenziell bedrohlich
und traumatisierend. Bekannt ist,
dass unter dem Terror-Regime des
„Dritten Reichs“ ca. sechs Millionen Juden ermordet wurden.
Schon weit weniger im Bewusstsein ist, dass auch ca. 500.000 Sinti
und Roma in den Vernichtungslagern umgebracht wurden. Politisch
engagierte Menschen wie Kommunisten und Sozialdemokraten wur-
den ebenso verfolgt wie Mitglieder
der bekennenden Kirche oder die
Zeugen Jehovas, die aus Glaubensgründen den Dienst mit der Waffe
verweigerten. Homosexuelle kamen in die Konzentrationslager,
Menschen mit geistiger Behinderung wurden Opfer der Euthanasie
in den verschiedenen „Irrenanstalten“, „Asoziale“ wurden zwangssterilisiert. Für die Sklavenarbeit
in der Rüstungsindustrie wurden
die Bewohner ganzer Dörfer deportiert, aus dem Osten, aber z. B.
auch aus Frankreich.
In Anbetracht dieser zahlreichen
Gruppen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, fällt
es schwer zu glauben, dass die Bevölkerung, wie so häufig nach dem
Krieg dargestellt, nichts davon gewusst habe. Nicht nur der Staat
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Titel – Kriegskinder
und die Industrie in Deutschland
profitierten von den Verfolgungsmaßnahmen, auch viele Einzelne:
Wohnraum wurde zur Verfügung
gestellt, das Hab und Gut deportierter Juden verkauft und versteigert.
Einige konnten sich retten, indem
sie Deutschland rechtzeitig verließen, andere blieben, weil sie sich
nicht vorstellen konnten, dass z. B.
ein hochdekorierter Offizier des
Ersten Weltkriegs Opfer von Verfolgung werden könnte. Wenige
überlebten diese Zeit in Deutschland: Sie mussten sich in Kellern
oder Wäldern verstecken, hausten in Verschlägen, sie hungerten
und lebten ständig in der Angst,
entdeckt, verhaftet und ermordet
zu werden. Es ist nachvollziehbar,
dass diejenigen, die den Krieg und
die Nazi-Diktatur überlebten, zum
Teil schwere Schäden davontrugen, sowohl körperliche als auch
seelische.
Nach Kriegsende am 8. Mai 1945
wurde „entnazifiziert“. Die Entnazifizierung wurde aber großzügig
gehandhabt, nur die Täter, denen
man eine aktive Teilnahme am
Unrechtsregime Hitlers nachweisen konnte, mussten sich – und
auch dies nur zum Teil – der Justiz
der Alliierten stellen, ab Ende der
50er Jahre vereinzelt auch der bundesdeutschen Justiz.
Von den Emigranten, die Deutschland verlassen hatten, kamen nur
wenige zurück. Einige der aus dem
Osten in das damalige Reichsgebiet verschleppten „Ostarbeiter“
blieben in Deutschland, weil sie
befürchten mussten, in ihrem HeiBAGSO-Nachrichten
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matland als Kollaborateure wiederum verfolgt zu werden.
Im Jahr 1949 entstand dann die
Bundesrepublik Deutschland, ein
demokratischer Rechtsstaat. Es
hatte sich zwar das Staatswesen
geändert, aber keineswegs die Bevölkerung. Dieselben Gruppen,
die von den Nazis verfolgt wurden,
hatten auch weiterhin erhebliche
Nachteile zu erwarten, weil sich
der Ungeist des Nationalsozialismus immer noch in den Köpfen
sehr vieler Menschen befand. Personelle Kontinuitäten gab es vor
allem im politischen Bereich unter Konrad Adenauer, in der Justiz
und in der Ärzteschaft. Man meinte, sich genötigt zu sehen, auf die
Erfahrungen dieser Personen zurückzugreifen, um ein funktionierendes System aufzubauen. In der
„sowjetisch besetzten Zone“ wurde grundlegend anders verfahren:
Dort wurden tatsächlich die meisten NS-Täter aus verantwortlichen
Positionen entfernt.
Der Kölner Oberbürgermeister Jürgen
Roters wird beim Besuch des Begegnungscafés überschwänglich von Projektteilnehmerin Anneliese Wolff begrüßt.
ordnungspolitische Maßnahme“
gehandelt habe, nicht um Unrecht.
Dies änderte sich erst durch eine
Klarstellung von Bundeskanzler
Helmut Schmidt.
Besonders benachteiligt waren
auch die Menschen, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt
gewesen waren. Da in der Bundesrepublik Homosexualität bis 1969
unter Strafe gestellt war, konnte
nur theoretisch Entschädigung beantragt werden. Dies wäre jedoch
nur um den Preis einer strafrechtlichen Verfolgung möglich gewesen.
Auch später war eine Antragstellung für diesen Personenkreis stets
mit der Gefahr gesellschaftlicher
Ächtung verbunden. In den 70er
und 80er Jahren entstanden auf
Bundes- und Landesebene weitere
Entschädigungsregelungen.
Für die Opfer der NS-Zeit in der
jungen Bundesrepublik gab es gravierende Konsequenzen. Das Bundesentschädigungsgesetz war auf
die Entschädigung von „rassisch,
religiös und politisch Verfolgten“
begrenzt. Allerdings wurde das
Gesetz sehr bald so gehandhabt,
dass politisch Verfolgten, in erster
Linie Kommunisten, jegliche Entschädigung vorenthalten wurde.
Auch Sinti und Roma wurde der
Status der „rassisch Verfolgten“
nicht zuerkannt. Vielmehr entschieden in den 60er Jahren noch
höchste Gerichte, dass es sich bei
der zwangsweisen Umsiedlung Faye Cukier, Caféteilnehmerin des
der Sinti und Roma um eine „rein Kölner Cafés für NS-Verfolgte.
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Titel – Kriegskinder
Es wäre falsch zu behaupten, dass
sich in den vergangenen Jahren nichts gebessert habe. Es gibt
zahlreiche Initiativen, die sich mit
den Verbrechen der Nazis auseinandersetzen, es gibt engagierte
Bürgerinnen und Bürger, es gibt
Möglichkeiten der Entschädigung.
Dennoch liegt noch vieles im Argen. So gibt es weiterhin nicht
entschädigte Opfergruppen, wie
z. B. italienische Militärinternierte oder sowjetische Kriegsgefangene. Aktuell kämpfen Sinti und
Roma um ein Mahnmal in Berlin.
Die Frage der Schädigung und
Beeinträchtigung der „Zweiten
Generation“ wird bewusst nicht
wahrgenommen oder negiert, der
Ruf „Jetzt muss auch mal Schluss
sein“ ist nach wie vor zu hören.
nur identifiziert werden konnten, gilt
es, wachsam zu bleiben und sich den
Tendenzen der Wiedererstarkung
von Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und
Antiziganismus („Zigeuner“-Feindlichkeit) entgegenzustellen. n
Es bleiben viele Aufgaben für den
Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte: Vor dem Hintergrund, dass über zehn Jahre lang
rechtsextremistische Morde begangen wurden, ohne dass die Täter auch
Michael Teupen
Bundesverband Information &
Beratung für NS-Verfolgte e.V.
Holweider Str. 13–15, 51065 Köln
teupen@nsberatung.de
www.nsberatung.de
Trauma im Alter
Kindheitserlebnisse in der NS-Zeit und im Krieg
können Menschen ein Leben lang belasten
V
iele ältere Menschen leiden
an den Folgen traumatischer
und belastender Erlebnisse. Häufig erscheinen dann unvermittelt
und heftig auftretende Reaktionen
nicht verständlich: ein plötzlicher
Angstanfall, Ruhelosigkeit oder
auch unerklärliche körperliche
Symptome. Das Nachlassen der
körperlichen Kräfte und entstehende Hilfsbedürftigkeit, insbesondere Veränderungen wie der
Umzug in ein Pflegeheim, können
psychische Schutzmechanismen
schwächen und bedrohliche Erinnerungen aus der Vergangenheit
auch nach Jahrzehnten wieder
aufbrechen lassen. Oft sind diese
Erlebnisse nicht einmal den Angehörigen bekannt und sie sind
für das Pflegepersonal, vor allem
auch bei demenziell veränderten
8
Menschen, eine große Herausforderung. Ein Projekt der Fachhochschule Frankfurt geht den
Traumata und ihren Auswirkungen auf den Pflegealltag auf den
Grund.
eine Wechselwirkung von Kriegsereignissen wie Bombenangriffen, denen die Kinder ausgesetzt
waren, den manchmal an Misshandlung grenzenden Erziehungsidealen im Nationalsozialismus
und den von Schuld und Scham
Zu beachten ist bei dieser Thema- geprägten Beziehungserfahrungen
tik, dass es sehr unterschiedliche mit den Eltern.
Arten traumatischer Erfahrungen
und Belastungen gibt, die beson- In den meisten Studien werden
dere Kenntnisse und einen spe- die Belastungen ausschließlich
zifischen Umgang erfordern. In als Folge von Kriegserlebnissen
unserem Projekt „Trauma im Al- wie Bombardierungen, Flucht
ter“ (TiA) stehen die sogenannten und Vertreibung verstanden. Bea. posttrauKriegskinder, die zwischen 1930 obachtet werden u. und 1945 geborenen, nicht-ver- matische Belastungsstörungen,
folgten Deutschen, im Mittelpunkt Ängste, Depressionen, psychoder Forschung. Deren besondere somatische Beschwerden, soziale
Belastung besteht im Zusammen- Schwierigkeiten, Schlaflosigkeit,
wirken verschiedener potenziell Panik bei Feuerwerk, Sparsamtraumatischer Ereignisse: Es gibt keit und das Verstecken von NahBAGSO-Nachrichten
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Titel – Kriegskinder
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Kongress mit Ausstellung
Prof. Dr. Ursula Lehr –
neue BAGSO-Vorsitzende
AusZeit für
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LEBEN
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Bundeska
Kongress
Angela Merkel
9. DEUTSCHER SENIORENTAG
„ALTER LEBEN – VERANTWORTUNG
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Ehrenamtspreis für
Grüne Damen und Herren
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www.bagso.de
BAGSO-Nachrichten
n
04/2012
9
rung. Pflegesituationen können
die Betroffenen erneut mit dem
Thema der Intimitätsverletzung
konfrontieren, das kann sich z. B.
bei sexuell traumatisierten Frauen
darin äußern, dass sie sich nicht
von männlichen Pflegern berühren lassen können.
werfung erzogen und sollten bereit
sein, ihr Leben für Hitler zu opfern. Das Ende des Nationalsozialismus kam für sie überraschend
und ließ sie orientierungslos zurück. In den meisten Familien
gab es keine Auseinandersetzung.
Viele schämten sich und hatten
Schuldgefühle, die auch von den
Kindern übernommen wurden.
Die Ideale von Stärke, Unverletzlichkeit und Überlegenheit können es besonders schwer machen,
die körperliche Schwäche und
Hilfsbedürftigkeit, die durch Pfle- Einschneidende Veränderungen wie
gebedarf im Alter entstehen, zu er- Pflegebedürftigkeit und der Umzug in
ein Pflegeheim, können bedrohliche
tragen.
Unsere Studie bezieht die Sozialisation und Erziehung im Nationalsozialismus in die Analyse
der Spätfolgen ein, denn für die
Verarbeitung der Kriegserlebnisse sind diese äußerst relevant. Im
Sinne des damaligen Welt- und
Menschenbildes sollten die Kinder stark, unbeugsam und den anderen überlegen sein, sie wurden In unserer Studie ist es uns gezum Gehorsam und zur Unter- lungen, den Zusammenhang
zwischen Kriegserlebnissen und
Erziehungs- und BeziehungserDas vom Bundesministerium für
fahrungen genauer zu beleuchten
Bildung und Forschung geförderte
und zu zeigen, dass Erinnerungen
Projekt „Trauma im Alter“ wird an
an Bombennächte oder andere
der Fachhochschule Frankfurt von
2009 bis Ende 2012 durchgeführt.
Kriegshandlungen oft als eine Art
Kooperationspartner sind der EvanstellvertretendeErinnerung(„Deckgelische Regionalverband, die Henerinnerung“) für das eigentry und Emma Budge-Stiftung, das
lich Schmerzhafte fungieren: Es
Hufeland-Haus und das Jüdische
lässt sich leichter über den Krieg
Altenzentrum.
sprechen, d. h. über ein äußeres
Ereignis, als über das Grauen in
der Familie. Auch kann gezeigt
werden, wie der durch den Krieg
entstandene Schrecken sich mit
dem Verhalten der Eltern verbindet und auf diese Weise erst
zum Trauma wird. Es ist psychisch nur schwer erträglich, das
Das TiA-Team (v.l.): Projektleiterin
Bild der geliebten Eltern zusamProf. Dr. Ilka Quindeau mit ihren
menzubringen mit ErinnerunMitarbeiterinnen Katrin Einert und
gen an Begebenheiten, in denen
Dr. phil. Nadine Teuber
man sich durch sie bedroht, verletzt oder verraten fühlte. Diese
Kontakt: keinert@fb4-frankfurt.de
Szenen müssen zugunsten des
10
Erinnerungen aus der Vergangenheit
auch nach Jahrzehnten wieder aufbrechen lassen.
Bildes der „guten Eltern“, der heilen Kinderwelt und um des harmonischen Verhältnisses willen
vom Bewusstsein ferngehalten
werden. Allerdings geschieht dies
auf Kosten der Anerkennung der
eigenen Verletztheit, was eine andauernde psychische Belastung
darstellt. Diese „Beziehungstraumata“ können sich dann in
der Pflegebeziehung reaktivieren
und die Bewältigung des Alltags
erheblich erschweren. Die besonderen Belastungen dieser Personengruppe können weit besser
verstanden werden, wenn man
die äußere Bedrohung durch den
Krieg, die problematischen familiären Beziehungserfahrungen
und die Sozialisation im Nationalsozialismus in ihrem Zusammenwirken betrachtet. n
Prof. Dr. Ilka Quindeau, Katrin
Einert und Dr. phil. Nadine Teuber
BAGSO-Nachrichten
n
04/2012
© Foto: dundanim - Fotolia.com
Titel – Kriegskinder
Titel – Kriegskinder
Entlastung durch Schreibtherapie:
Das Projekt „Lebenstagebuch“
D
as Behandlungsangebot richtet sich an Menschen über 65
Jahre, die momentan aufgrund
ihrer traumatischen Kindheitserlebnisse während des Zweiten
Weltkriegs bzw. kurz danach unter
psychischen Langzeitfolgen leiden.
Die Therapie vereint Komponenten, die sich als sehr wirksam in
der Behandlung von posttraumatischen Störungen gezeigt haben.
Im Vordergrund steht die biografische Aufarbeitung, in deren Zusammenhang das traumatische
Erlebnis aus der Vergangenheit
bearbeitet wird. Klient und Therapeut kommunizieren über das
Internet, in Ausnahmefällen auch
über den herkömmlichen Briefweg
oder per Fax. Die Therapeuten folgen dabei einem wissenschaftlich
fundierten Behandlungsprotokoll,
das aus strukturierten Behandlungseinheiten besteht, die auf die
Situation und die Möglichkeiten
des Klienten eingehen und angepasst werden. Diese schreiben zu
Hause in ihrer vertrauten Umgebung und können so ihre Biografie und ihr Trauma in Begleitung
eines Therapeuten verarbeiten.
Die Behandlung dauert ca. sechs
Wochen und ist für eine begrenzte Anzahl von Teilnehmern im
Rahmen einer Studie möglich und
kostenfrei. Anhand psychodiagnostischer Fragebögen werden die
Effekte der Behandlung gemessen.
Alle Daten werden anonymisiert,
so dass keine Rückschlüsse auf die
betreffende Person möglich sind.
Die Studie wird vom Behandlungszentrum für Folteropfer unter der Leitung von Dr. Christine
Knaevelsrud sowie von Dr. med.
Philipp Kuwert von der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie
der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im HELIOS Hanseklinikum Stralsund durchgeführt.
Weitere Informationen unter
www.lebenstagebuch.de n
Kontakt:
Dipl. Psych. Maria Böttche
Tel.: 030 / 303 906 32
E-Mail: maria.boettche@
lebenstagebuch.de
„Das grundlegende Gefühl der Sicherheit fehlte“
Lebenslange Folgen kriegsbedingter Vaterlosigkeit
Etwa ein Viertel aller Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs Kinder oder Jugendliche waren, sind langfristig kriegsbedingt als Halbwaisen ohne Vater aufgewachsen. Ihre Väter sind im Krieg gefallen, ihren Kriegsverletzungen erlegen, in Gefangenschaft umgekommen oder unter bis heute ungeklärten Umständen verschollen. Die Zahl dürfte sich für Deutschland auf etwa 2,5 Millionen beziffern. In Europa hat es infolge des Zweiten
Weltkriegs rund 20 Millionen Halbwaisen gegeben.
D
iese „vaterlosen Töchter und
Söhne“ beginnen oft erst seit
einigen Jahren, sich intensiv mit
ihren nicht oder kaum gekannten
Vätern und den Folgen ihres vaterlosen Aufwachsens für sich, ihre
Partnerschaften und auch ihre eiBAGSO-Nachrichten
n
04/2012
genen Kinder zu beschäftigen. Ihr
Leben sei lange „mit Arbeit ausgefüllt“ gewesen, sagen sie. Sie hätten
bislang keine Zeit gehabt, sich mit
ihrer Kindheit und Jugend und mit
daraus möglicherweise erwachsenden lebenslangen Prägungen zu
befassen. Seit Kurzem allerdings
begeben sie sich auf Spurensuche,
versuchen, die Gräber ihrer Väter
ausfindig zu machen, und trauern
verspätet um ihre toten Väter, von
denen sie sich als Kinder zumeist
nicht haben verabschieden kön11
© Foto: privat
Kriegerwitwe mit ihren Kindern
nen. Außerdem überlegen sie sich,
was sie ihren Kindern und Enkeln
diesbezüglich mitteilen wollen.
Väterlicher Halt und väterlichmännliche Orientierungen fehlten
den „vaterlosen Töchtern und Söhnen“ oft, in der Kindheit, während
des Heranwachsens oder ein Leben
lang. Es habe sie ihr gesamtes bisheriges Leben ein grundlegendes
Gefühl tiefer Unsicherheit begleitet, verbunden mit einer ebenfalls
lebenslangen tiefen Sehnsucht
Zur Person
Prof. Dr. Barbara
Stambolis
lehrt Neuere und
Neueste Geschichte
an der Universität
Paderborn. Sie war
zeitweise Mitsprecherin der Forschungsgruppe „Weltkriegs2Kinder“ und ist Autorin des
2012 erschienenen Buches „Töchter
ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht“. In Vorbereitung ist ihr Buch:
„Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten.
Beiträge zu einem historischen und
gesellschaftlichen Schlüsselthema“.
12
nach väterlichem Halt, teilen viele
Vaterlose mit. Sie glauben, mit ihrem Vater wäre ihr Leben anders
verlaufen. Ihnen habe jemand gefehlt, der sie auf dem Weg ins Leben
anders ermutigt und unterstützt
hätte, als ihre Mütter das konnten.
Eine der vielen Frauen, die ohne
Vater aufwuchs, drückte es folgendermaßen aus: „Ja, den, glaube ich,
hätte ich liebend gern zum Vater
gehabt: einen Menschen, der mich
trägt, wenn ich müde bin, mich an
die Hand nimmt, wenn ich Angst
verspüre, und einfach da ist, wenn
ich ihn brauche.“ Manche derjenigen, die ihren Vater wenigstens
kurz kennengelernt haben, während eines Fronturlaubs etwa,
glauben sich zu erinnern, ihr Vater habe sie auf dem Arm oder an
der Hand gehalten und ihnen „die
Sterne gezeigt“. Es scheint aus der
Rückschau kaum einen intensiveren Ausdruck eines kurzen kindlichen Glücks zu geben, hinter dem
sich ein tiefer Schmerz verbirgt:
Wenn sie mit einem Vater an der
Seite hätten aufwachsen können,
so eine Ahnung der Töchter und
Söhne, hätte er ihnen nicht nur
Sternbilder gedeutet, sondern „die
Welt erklärt“.
Entwicklungspsychologen
beschreiben die Rolle des Vaters für
das Heranwachsen eines Mädchens und auch eines Jungen in
folgender Weise: Im Kleinkindalter hilft der Vater dem Kind, sich
aus dem frühen symbiotischen
Verhältnis zur Mutter zu lösen.
Vaterlosen Kindern fehlt also das
in einer entscheidenden kindlichen Entwicklungsstufe für den
© Foto: Ignaz Böckenhoff,
Bestand Landesmedienzentrum Münster
Titel – Kriegskinder
Gruß an den Vater
weiteren Lebensweg bedeutsame
Erlebnis des Vorhandenseins einer
Mutter und eines Vaters.
Auch wenn ihre Väter aus dem
Krieg zurückgekehrt wären, so
wären sie auch während des Heranwachsens ihrer Kinder wahrscheinlich keine „idealen“, d. h.
zärtlich-liebevollen, Väter gewesen, gleichwohl hätten sie für die
Entwicklung der Töchter und Söhne eine wichtige Rolle übernommen, indem sie die Mädchen „in
ihrer weiblichen Identität“ bestätigt hätten. Diese Unterstützung
in ihrer „männlichen Identität“
hat sicher auch vaterlosen Söhnen
gefehlt, allerdings wohl in anderer
Hinsicht, wie noch näher zu erläutern wäre (siehe Hinweise im Autorenporträt).
Was sie gelernt haben, beherrschen vaterlose Töchter und Söhne
bis heute: Zu ihren Stärken gehören Disziplin und Verlässlichkeit,
Selbstständigkeit und Tatkraft,
oft gepaart mit Strenge sich selbst
gegenüber bzw. Nichtachtung von
Überforderungs- und Erschöpfungsanzeichen nach dem Motto:
„Sei nicht so zimperlich“. Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zu
äußern, fällt vielen von ihnen bis
heute schwer.
BAGSO-Nachrichten
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Titel – Kriegskinder
Vaterlosen Töchtern und Söhnen
ist während ihrer seit einigen Jahren erst intensiven Beschäftigung
mit ihren Vätern nicht zuletzt
deutlich geworden, dass der offene Umgang mit Gefühlen für sie
ungewohnt ist. Dem Wunsch, mit
ihren mittlerweile erwachsenen
Kindern ins Gespräch zu kommen, lag bzw. liegt nicht zuletzt
die Frage zugrunde, was sie möglicherweise un- oder halbbewusst
– z. B. Ängste und Unsicherheiten
aus ihrer Kindheit – weitergegeben
haben könnten.
Einer ganzen Reihe von Kriegskindern, Frauen wie Männern,
gelingt es indes offenbar seit einigen Jahren, „Mitleid“ im Sinne
von empathischem Mitgefühl für
das „Kind von einst“ zuzulassen,
ein nicht selten auch im Familiengespräch durchaus klärender und
manchmal wohl geradezu befreiender Schritt. In einem Gespräch
zwischen einem vaterlosen Sohn
der Kriegsgeneration und seinem Sohn teilte Letzterer mit, die
Beschäftigung mit der Kindheit
seines Vaters habe bei ihm dazu
geführt, sich in die „Bedürftigkeit“
seines alten Vaters stärker als zuvor einzufühlen. Er könne seinen
Vater heute „in den Arm nehmen“,
das habe dieser ja in seiner Kindheit vermissen müssen. Ein solches
Beispiel ist sicher als Ermutigung
zu verstehen, sich der eigenen
kriegsbedingten
Vaterlosigkeit
und ihren Folgen „im Dialog der
Generationen“ noch intensiver zuzuwenden. n
Prof. Dr. Barbara Stambolis
„Die Menschen sind auf der Suche
nach ihrer Vollständigkeit.“
Seit 2004 veröffentlichen Sie regelmäßig Suchbitten auf Ihrer
Internetseite. Wie oft wurde dieses Angebot bisher in Anspruch
genommen?
Die Suchbitten machen nur einen
kleinen Teil unserer Arbeit aus. Da
wir darüber keine Statistik erstellen und andererseits häufig auch
keine Rückmeldungen erhalten,
liegen uns keine Zahlen vor. Ich
schätze, dass wir seit der Gründung des Vereins ca. 60 bis 80 Anfragen bekommen haben.
Wer wendet sich zumeist an Sie:
Menschen, die Verwandte suchen,
oder richtet sich die Suche eher
nach verschollenen Freunden und
Kameraden?
Die Suchbitten, die uns erreichen,
beziehen sich fast ausschließlich
auf die Suche nach Verwandten,
BAGSO-Nachrichten
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insbesondere Vätern und Geschwistern. Wie gesagt, wir führen
keine Statistik und haben kaum
positiven Rücklauf. Sobald jemand
gefunden wurde, scheint das Interesse zu erlahmen und wir erhalten
leider meistens keine entsprechende Benachrichtigung. Aber in den
letzten Tagen haben wir wieder
zwei Erfolgsmeldungen bekommen.
Was bedeutet dieses Angebot für
die Menschen, die es in Anspruch
nehmen? Warum ist es ihnen nach
so langer Zeit wichtig, jemanden
zu finden bzw. Auskünfte über die
Vermissten zu erhalten?
Es besteht ein großes Bedürfnis,
über verschwundene Väter und/
oder früh verstorbene Mütter Erkundigungen einzuziehen. Deutsche und ausländische Kinder, die
aus Liebeskontakten zwischen den
sogenannten Feinden entstanden
sind, suchen immer wieder ihre
Soldatenväter und Halbgeschwister. In den beteiligten Familien besteht ein eigenartiger Codex, nicht
über diese Kinder zu sprechen. Bisweilen ist es nur ein Gefühl, dem
die Kinder nachgehen, manchmal
sind es auch leise Andeutungen
13
Titel – Kriegskinder
oder jemand in der Familie hat
aus Versehen etwas „ausgeplaudert“. Menschen, die nach ihren
Angehörigen forschen, sind auf
der Suche nach ihrer Vollständigkeit. Sie wünschen sich für ihren
letzten Lebensabschnitt die Vervollkommnung der eigenen Historie. Es sind häufig Menschen, die
unter der Unvollständigkeit ihrer
Vergangenheit stark leiden. Da wir
ja mit den sogenannten Kriegskindern und -enkeln sehr viel therapeutisch arbeiten, haben wir auch
70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einen recht guten Überblick
über die zerrissenen Familien. n
Die Fragen stellte Ines Jonas.
Der Verein kriegskind.de e.V. widmet sich der Diagnose, Behandlung und
Beforschung kriegstraumatisierter Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, sowie deren Nachkommen. Er wendet sich aber auch an die Opfer
späterer und aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen sowie totalitärer
Unterdrückung.
Der Vereinsgründung ging im April 2000 die Tagung
„Kriegskinder – gestern und heute“ in der Evangelischen
Akademie Bad Boll voraus. Im Tagungsverlauf wurde
das Ausmaß seelischer und körperlicher Kriegsschäden
auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar. Aus den Teilnehmenden bildete sich spontan eine Arbeitsgruppe, die
es sich zur Aufgabe machte, an diesem Thema national
und international zu arbeiten. Aus dieser Gruppe wurde
später der Verein kriegskind.de e.V.
Dr. med. Helga Spranger
Kontakt:
kriegskind.de e.V., Dr. med. Helga Spranger, Erste Vorsitzende
Fritz-Reuter-Weg 17, 24229 Strande, kriegskinder@web.de, www.kriegskind.de
Erzählen gegen das Vergessen
© Foto: Jonas
Zeitzeugen berichten vom Krieg und von der Zeit danach
v.li: Edeltraud Wieneritsch, Eberhard Schimansky,
Gisela Schmütz und Mechthild Haase
I
ch möchte die Menschen ermuntern, einfach nur ihre eigenen
Geschichten zu erzählen. Zum
Beispiel darüber, wie es sich für
ein Kind anfühlt, das nicht weiß,
ob die Mutter am Abend wieder
nach Hause kommen wird, das
ständig mit dieser Angst lebt,
sagt Mechthild Haase von der
14
Caritas-Beratungs- und Koordinierungsstelle Ehrenamt im Kreis
Ahrweiler. Solche Gefühle erlebte Gisela Schmütz während des
Zweiten Weltkriegs. Die heute
72-Jährige hat nach 1945 in einem
Auffanglager „unter schlimmsten
hygienischen Bedingungen“ gelebt, „fünf Jahre Hunger ertragen“
und jeden Tag gefürchtet, nach
dem Vater auch noch die Mutter
zu verlieren. Sie ist eine von insgesamt vier Zeitzeugen, die Mechthild Haase für das Projekt „Kriegskinder brechen ihr Schweigen“
gewinnen konnte. Mit ihnen geht
sie in allgemeinbildende Schulen
und Altenpflegeschulen, besucht
Jugendgruppen und Integrationskurse für Migranten. Ihr Ziel ist
es, erlebte Geschichte aus erster
Hand zu vermitteln. „Es geht mir
darum, dass die Zuhörenden über
die abstrakten Historienfakten
hinaus hören, was der Krieg mit
den Menschen damals angerichtet
hat, und dass sie Verständnis für
die ehemaligen Kriegskinder entwickeln. Außerdem möchte ich,
dass die Lebensgeschichten dieser
Menschen eine Würdigung erfahren“, so Haase weiter. Viele von
ihnen hätten sehr lange geschwiegen und ihre Erlebnisse tief in
sich vergraben. „Die Kriegskinder
von damals lebten ja auch in einer
schwierigen Situation“, erklärt die
Caritas-Mitarbeiterin, „denn sie
waren Opfer im Täterdeutschland.“
BAGSO-Nachrichten
n
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Titel – Kriegskinder
Edeltraud Wieneritsch, Jahrgang
1930, hat zum ersten Mal „richtig“
von ihren Kindheitserlebnissen
beim Zeitzeugen-Projekt berichtet.
Das war für sie auch der Anlass,
erstmals nach dem Dokument zu
suchen, mit dem sie im August 1945
aus dem „Arbeitslager“ Auschwitz
entlassen wurde. Sie, die in Oberschlesien kaum etwas vom Krieg
mitbekommen hatte, kam im Februar 1945 in das Lager, um u. a. die
Kleider, die Zahnprothesen und
Brillen der dort ermordeten Juden
zu sortieren. „Damals“, sagt sie,
„hatte ich keine Angst. Ich hatte
überhaupt keine Gefühle.“
hätten ihn dazu gebracht – und
schließlich habe er in einem Winterhalbjahr die Geschichte seiner
Kindheit aufgeschrieben. Als er
dann den Caritas-Aufruf zu einer
Gesprächsreihe sah, die den Schulbesuchen vorausging, meldete er
sich.
Auch der 75-jährige Eberhard Schimansky hat mit seinen Kindern
nie über seine Kriegserlebnisse
gesprochen. Erst die Enkeltöchter
Die Zeitzeugen-Berichte wirken.
Die Realschülerinnen Lena Möller und Ellen Hecker sind sich
einig: Durch die Schilderung der
Seine Geschichten drehen sich um
Flucht und Vertreibung. Durch sie
will er den jungen Leuten heute
vermitteln, wie es ist, wenn man
plötzlich aus seinem Leben gerissen wird und kein Zuhause mehr
hat. (Siehe dazu den Bericht auf
den Seiten 23 und 24).
persönlichen Schicksale sei bei ihnen viel mehr haften geblieben als
im trockenen Geschichtsunterricht. „Man konnte spüren, wie es
die Erzähler immer noch ergriffen macht. Das hat auch uns sehr
berührt und wir haben später
noch länger darüber gesprochen“,
sagt die 16-jährige Lena Möller.
Und ihre Mitschülerin Ellen ergänzt: „Wir wissen jetzt eher zu
schätzen, was unsere Generation
alles hat, dass wir regelmäßig zur
Schule gehen können und immer
Kleidung und Essen zur Verfügung haben.“ n (ij)
Beratungsstelle- und
Koordinierungsstelle Ehrenamt
Caritasverband Rhein-Mosel-Ahr e.V.
Mechthild Haase
Tel.: 0 26 41 / 75 98 60
Meine verlorene Kindheit
Zwei Jahre auf der Flucht
Im Januar 1945 begann bei Eiseskälte der Leidenszug von Millionen Deutschen, die vor den vorrückenden sowjetischen Truppen aus den Ostgebieten flohen. Unter ihnen war der damals neunjährige Eberhard Schimansky.
I
ch bin 1936 in Kreuzberg in
Oberschlesien zur Welt gekommen, war also drei Jahre alt, als der
Krieg ausbrach. Abgesehen vom
Tod meines Vaters, der in Stalingrad fiel, war meine Kindheit während der Kriegsjahre unbeschwert:
Ein Haus, ein großer Garten, die
umliegenden Weizenfelder mit
vielen Mohnblumen waren unsere
Spielplätze. 1945 änderte sich alles.
Meine Mutter sagte an einem bitterkalten Januarmorgen zu meinen
drei Geschwistern und mir, dass
BAGSO-Nachrichten
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wir schnell unsere Sachen zusammenpacken und zum Bahnhof laufen sollten. Wir hatten zwei Stunden Zeit dazu. In drei Tagen seien
wir wieder zu Hause – aber es wurde eine Reise ohne Wiederkehr.
Ab diesem Zeitpunkt waren wir
zwei Jahre unterwegs, zu Fuß, mit
einem Handkarren. Wir hatten
kein Ziel, außer zu überleben. Wir
wussten morgens nicht, wo wir
abends ankommen würden und
wie es danach weitergehen würde. Die starke Hand unserer Mut-
ter hat uns immer weitergeführt.
Wir waren sehr arm, hatten nur
das, was wir am Leib trugen – in
doppelten Lagen. Das Einzige, was
ich an persönlichen Dingen mitge-
Zur Person
Eberhard
Schimansky
lebt heute in Bad
Neuenahr.
15
Titel – Kriegskinder
nommen hatte, war ein Kistchen
mit Zinnfiguren. In Görlitz habe
ich die letzten verloren, danach
hatte ich nichts Persönliches mehr.
Hunger war unser ständiger Begleiter. Wir vier Geschwister
konnten nicht einfach zu unserer
Mutter sagen, dass wir Hunger haben. Wozu auch? Es gab ja nichts.
Wenn die Mutter etwas Essbares hatte, dann wurde es geteilt.
Ich erinnere mich daran, wie wir
in Görlitz im Haus eines Bäckers
untergebracht wurden. Nebenan
wurde das Brot gebacken und ich
habe immer den Geruch wahrgenommen, aber ich habe nichts von
dem Brot bekommen. Immer wenn
ich heute eine Bäckerei betrete und
frisches Brot rieche, dann ist die
Erinnerung daran wieder da.
Die zwei Jahre auf der Flucht waren endlos und zugleich zeitlos.
Es war eine verlorene Kindheit.
Es gab keine Schule für uns und
Freundschaften konnten wir auch
nicht schließen, denn wir mussten
16
© Foto: Bundesarchiv
In Plauen im Vogtland sind wir
bei Bombenangriffen zweimal verschüttet worden, man hat uns nach
Stunden wieder rausgeholt. Überhaupt war der Tod unser ständiger
Begleiter. Als wir im Januar mit
dem Zug unterwegs waren und
umsteigen mussten, weil die Gleise
defekt waren, haben wir gesehen,
wie die Schwachen und Alten, die
das alles nicht überstanden hatten,
einfach am Bahndamm abgelegt
wurden. Als Kind habe ich das alles
nur mit großem Erstaunen erlebt.
Angstgefühle kannte ich nicht.
Von Flucht und Vertreibung waren Millionen Menschen betroffen:
Es wird geschätzt, dass zwischen 1944 und 1948 circa 14 Millionen
ihre Heimat verloren haben.
ja weiterziehen. Schwäche konnte man sich nicht erlauben, man
musste immer auf der Hut und
wachsam sein, schon deshalb, um
seine Familie nicht zu verlieren.
Wir haben einmal auf irgendeinem Bahnhof gewartet, als meine
Mutter plötzlich feststellte: „Oh
Gott, da fehlt ja ein Kind! Rührt
euch nicht von der Stelle und lasst
euch nicht mitnehmen. Ich gehe
jetzt euren Bruder suchen.“ Es waren Unmengen von Kindern ohne
Eltern unterwegs, die z.T. einfach
mitgenommen wurden. Gott sei
Dank hat sie meinen Bruder wiedergefunden.
haft. Es war ein kleines Bauerndorf
– und in dem steht dann plötzlich
eine Frau mit vier kleinen Kindern und die Familie heißt auch
noch Schimansky. „Jetzt kommen
die Polen“, hieß es da. „Was sollen
wir denn mit denen?“ Wir wurden
zum Bürgermeister auf den Hof
bestellt und der musste sehen, wo
er uns unterbringt. Dann musste
eine Familie für uns ein Zimmer
räumen. Willkommen waren wir
nicht. Das war auch eine harte
Zeit. Erst 1951 begann für mich
wieder das Leben. Da waren wir
dann endlich integriert und konnten anfangen, uns etwas zu erarbeiten. n
Nach zwei Jahren kamen wir in
Hessen an und wurden dort sess- Eberhard Schimansky
BAGSO-Nachrichten
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04/2012
Titel – Kriegskinder
Aller Anfang ist schwer! Leben in Trümmern
Anne Kern, Jahrgang 1926, hat die Vor- und Nachkriegszeit in ihrer Heimatstadt Halberstadt erlebt und erinnert
sich in ihrem Bericht an die Arbeit der sogenannten Trümmerfrauen.
I
Die ehemaligen Straßen sahen aus
wie Schneisen, die man durch die
Stadt geschlagen hatte. Rechts und
links große Trümmerberge, unter
denen sicher noch Tote lagen. Nur
unsere alte ehrwürdige FachwerkUnterstadt blieb zum Teil erhalten. Aber ein großer Verlust waren
doch die wertvollen mittelalterlichen Gebäude, die ein Raub der
Flammen wurden, zum Beispiel
die beiden Märkte und das Rathaus.
Jeder versuchte, ein einigermaßen
dichtes Dach über den Kopf zu bekommen mit Blick auf den Herbst
und Winter. Dies blieb meistens
den Frauen überlassen, denn die
Männer waren noch in der Kriegsgefangenschaft, manchmal noch
über Jahre hinaus. Nicht daran zu
denken, wie viele gefallen waren!
Wer Glück hatte, besaß wenigstens
noch einige heile Fensterscheiben, sonst wurde mit Pappe und
BAGSO-Nachrichten
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04/2012
© Foto: Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen
ch glaube, viele Menschen haben
die Erinnerung an den schweren
Anfang, die Wochen und Monate
nach dem Kriegsende, verdrängt.
Auch mich kostete es große Mühe,
alles wieder ins Gedächtnis zu rufen. Teilweise war es sehr schmerzhaft, aber das Positive, Optimistische, drängt nach vielen Jahren
doch in den Vordergrund. Ich
möchte wiedergeben, wie ich es in
meiner Heimatstadt Halberstadt
erlebt und empfunden habe.
Brettern alles zugenagelt. Bis das
Gasnetz wieder in Ordnung war,
musste auf den eisernen Öfen gekocht werden, nachher im Winter
auch die einzige Wärmequelle.
Es war ein komischer Anblick,
wenn in Häuserwände Löcher geschlagen waren, und heraus ragte
ein mächtig qualmendes Ofenrohr,
da die Schornsteine ja meistens kaputt waren. Aber wir hatten einen
tollen Großvater, Zimmermann
und Tischler, Ende des 19. Jahrhunderts als wandernder Zimmermann in Europa auf der Walz
gewesen. Er konnte noch ordentlich zupacken und das Werkzeug
war auch gerettet.
Bei allen Menschen stand zunächst das Wort „Essen“ im Vordergrund. Wir bekamen wohl
Lebensmittelkarten, aber zum
Leben zu wenig und zum Ster-
ben zu viel. Die Karten wurden
eingeteilt nach der Arbeit, die
man verrichtete. Schwerstarbeiter bekamen logischerweise das
meiste. Wütend werde ich, wenn
ich mir die tägliche Lebensmittelration für Mütter ins Gedächtnis rufe: 250 Gramm Brot, 15
Gramm Nährmittel, 15 Gramm
Zucker, sieben Gramm Fett und
15 Gramm Fleisch. Wenn sie nun
mehrere kleine Kinder hatten
und darum nicht arbeiten gehen
konnten, in einem Zimmer hausten, Wäsche wuschen mit Ersatzseife und die wenigen Klamotten
immer ausflickten, nur hungrige
Mäuler vor Augen – dann Hut ab.
Sie mussten mit der Kinderschar
auf abgeernteten Feldern Ähren
suchen oder Kartoffeln stoppeln
und versuchen, Brennmaterial
zu sammeln. Das gebräuchlichste
Transportmittel war sowieso der
Kinderwagen.
17
Mein größter Wunsch war damals:
ein ganzes Brot für mich allein.
War aber nicht zu erfüllen. Großmutter und Mutter kochten nicht,
nein, es grenzte an Zauberei.
Manchmal flossen auch Tränen
bei Mutter, wenn nichts mehr da
war. Jedenfalls gab es bei dieser
Verpflegung keine Übergewichtigen, es gab keine Verstopfung und
wenige Diabetiker oder Herz- und
Kreislaufkranke. Dafür traten andere Krankheiten auf, wie Typhus
oder Tbc.
Es wurden Schulen und Gaststätten zu Krankenhäusern „umfunktioniert“. Mein Weg führte jeden
Tag an so einer Schule vorbei. Um
diese Zeit zu überstehen, mussten
wir gesund bleiben, also etwas in
den Magen kriegen. Mutter und
Schwester suchten Bucheckern im
Wald. Die waren federleicht und
man musste sehr, sehr fleißig sein,
um dann eine bestimmte Menge
in Öl umtauschen zu können.
Nur derjenige Arbeitsfähige bekam
Lebensmittelkarten, der zusätzlich eine bestimmte Anzahl Steine klopfte, das heißt, Mauersteine
aus Trümmerbergen mit einem
Hammer vom alten Putz befreite.
Die aufgeschichteten Steine wurden von einer Aufsichtsperson, natürlich einem Mann, nachgezählt
und die Klopfer, meistens Frauen,
bekamen eine Bescheinigung, dass
sie ein Recht auf eine Lebensmittelkarte hatten. An die großen
Trümmer- und Schuttberge wurden dann Frauen „angesetzt“, die
legendären Trümmerfrauen. Sie
hatten einen festen Arbeitsvertrag,
klopften Steine, schippten unendlich viel Schutt in Loren und pla-
© Foto: Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen
Titel – Kriegskinder
nierten große Flächen. Alles per
Hand, es war Schwerstarbeit. n
Abdruck der gekürzten Fassung
mit freundlicher Genehmigung des
Unabhängigen Frauenverbandes
Landkreis Halberstadt e.V. (siehe
Projekt und Internetseite „Leben
und Arbeit der Trümmerfrauen
in Halberstadt“: www.ufv-halberstadt.de/StartTruem).
Weitere Informationen per E-Mail:
ufv_halberstadt@web.de und
Telefon: 03941 / 60 11 92
Not macht(e) erfinderisch!
Während des Krieges und in der Zeit danach herrschte ein großer Mangel an alltäglichsten Gegenständen. Die
Menschen waren gezwungen zu improvisieren und stellten aus alten, verbrauchten und zerstörten Dingen wieder
einigermaßen Brauchbares her. Heidrun Gemähling hat sich bei den Zeitzeugen in ihrer Region dazu umgehört.
A
lte, ausgediente und abgetragene Damenstrümpfe wurden
über den ganzen Arm gezogen
und mit der Schere rundum in
lange Streifen geschnitten, dann
als Knäuel aufgewickelt. Mit einer
dicken Häkelnadel konnte man
anschließend Bettvorleger anfertigen, mit einigem Geschick sogar
mit bunten Mustern. Wurden sie
im Laufe der Zeit unansehnlich,
wusch man sie und gebrauchte sie
18
noch als Matratzenschoner. Auch
bei den damals gebräuchlichen
Strohmatratzen musste jedes Jahr
die Füllung erneuert werden und
nicht selten stellte man fest, dass
Mäuse dort Unterschlupf gefunden
hatten. Die Bettwäsche wurde geflickt und geflickt, fein säuberlich,
bis die Nähte anfingen zu reißen,
und erst dann schnitt man daraus
Putzlappen. Selbst genähte Kleider,
die nicht immer so gelungen waren,
wie man es sich vorgestellt hatte,
trug man trotzdem ohne Murren,
denn ein neues Kleid in den Kriegswirren war für jede Frau eine Freude und ein kleiner Lichtblick in der
trostlosen Zeit.
Wochentags, so erzählte mir eine
alte Dame, trug man Holzschuhe
und nur sonntags oder zu anderen Festlichkeiten Lederschuhe,
die man bei Bedarf selbst besohlte.
BAGSO-Nachrichten
n
04/2012
Titel – Kriegskinder
Eine Müllabfuhr im heutigen Sinn
gab es fast nicht und so wurde auch
alles, was irgendwie brennbar war
oder nur danach aussah, im Ofen
verfeuert. Es zischte, stank und
qualmte in allen Tönen und Gerüchen, aber es wurde warm und der
Müll war beseitigt.
te fachgerecht durch vorgebohrte
Löcher in entsprechend geformte
Holzbretter zog. Obendrauf kam
ein Schutzholz, das oft noch bunt
bemalt wurde, und fertig war ein
Besen. Im Tausch gegen drei Pfund
Zucker wechselte er anschließend
den Besitzer.
Wer beim Bäcker Brot kaufte, bekam einen schmalen Bogen Papier
mit zum Einwickeln, vielleicht auch
manchmal zum Schutz vor den entstehenden Löchern durch Kinderhand. Der Bogen wurde zu Hause
natürlich nicht weggeworfen, sondern zum Einwickeln der Schulund Arbeitsbrote verwendet.
Strickjacken, die zu klein geworden
waren, verwandelte man in neue,
indem man sie aufribbelte, die Wolle dann noch nass vom Waschen
auf Besenstiele zum Aushängen
und Trocknen spannte. So verzierten diese „Kunstobjekte“ manchen
Haushalt und gaben dem Wohnen
eine besondere Note von feuchtem Heidrun Gemähling
Duft und Gemütlichkeit.
Es kam auch vor, dass von einem
Zur Person
abgestürzten englischen Flugzeug
Heidrun Gemähso mancherlei gebrauchsfähige
ling lebt in NordUtensilien ihre Verwendung fanhorn und schreibt
den, natürlich ohne Erlaubnis der
gerne Gedichte
Obrigkeit. So bekamen durch geund Geschichten,
schickte Handwerkerhände Kochdie die Facetten
töpfe wieder Henkel und Deckel
des Lebens betreffen. Die 68-jährige gehört auch zum
ihren Anfassknopf zurück. Auch
Redaktionsteam der Heimatzeitung
gefundene Granathülsen wurden
„Der Grafschafter“.
beim Klempner zu heiß begehrten
Informationen über die Autorin
Wärmflaschen
umfunktioniert
unter: www.lyrik-kriegundleben.de
und oft im Tausch gegen Butter,
Kontakt: info@lyrik-kriegundleben.de
Speck, Eier eingesetzt.
Handwerklich geschickte Männer
stellten aus den Schwanzhaaren der
Pferde Bürsten, Besen, Handfeger
und Spinnjäger her. Vor dem Haus
oder Hof wurden dafür die Rosshaare über Feuer in einem Waschkessel ausgekocht, wobei sich
fürchterlicher Gestank entwickelte,
anschließend wurden sie ausgekämmt, glattgestrichen und auf die
gewünschte Länge zugeschnitten.
Die Kinder mussten auch mithelfen
und dem Vater die Borsten anreichen, der sie dann mit einer Pinzet-
Aus Pferdedecken fertigte man
Mäntel, Jacken und Hosen und
färbte sie auch manchmal. Militärmäntel wurden komplett aufgetrennt, gewendet und neu gestaltet
wieder zusammengenäht zum zivilen Gebrauch.
Das Abwaschwasser vom täglichen
Geschirr sammelte man im Eimer
und tränkte damit das Vieh, damit
das Wasser und jeglicher Rest von
Nährstoffen nicht unnütz vergeudet wurde, denn Wasser musste jedes Mal vom Außenbrunnen geholt
werden. n
Man kann alles noch gebrauchen!
E
r rief mich an einem Sonntag an
und war „geladen“. Er – 30 Jahre alt – wollte im Keller des elterlichen Hauses diverses Mobiliar unterstellen, fand diesen jedoch voll.
Dort hatte sich sein Vater ausgebreitet. Der Sohn erklärte, endlich
BAGSO-Nachrichten
n
04/2012
einmal ausräumen zu müssen, und
der Vater, ein sehr wohlhabender Mann, stand zunächst hilflos
daneben. Erst als es in Richtung
Abfalltonnen ging, fiel er seinem
Sohn in den Arm und verlangte
alles wieder zurück und an Ort
und Stelle. Ich bekam Einzelheiten
genannt: ein Eisenrohrstück, alte
Zeitungen, alte Kleidungsstücke,
Möbel jeglicher Größe und Stilart,
uraltes Elektrozubehör… und alles
konnte der Vater noch gebrauchen.
In mir stieg ein Kichern auf und
19
Titel – Kriegskinder
Großfamilie in arktischem Winter reichen. Nein, nein, ich kaufe keine mehr! Aber es fällt mir
sehr schwer. Es könnte doch noch
kälter kommen und die Heizung
ausfallen.
Wir Kriegskinder können „alles
irgendwann noch mal gebrauchen“ (müssen). Wir, die wir in der
Nachkriegszeit als Spielzeug nur
über eine leere Konservenbüchse
verfügten, jedes Kleidungsstück
gewendet und mit abenteuerlichen
Stoffresten verlängert bekamen,
deren alte Pullover aufgeribbelt
und mit weiteren missfarbenen
Wollresten neu gestrickt wurden,
die wir jedes leere Marmeladenglas
sorgsam behandeln mussten – wir
wissen noch heute, dass man alles
noch gebrauchen kann. Im Notfall. Und der kommt! Irgendwann!
Und wir sind dann gerüstet! Besser als die junge Generation!!
Ja und dann die Vorräte! Die jährlich 60 – 70 Gläser selbst gekochte
Marmelade, an die ich dann nicht
rangehen mag (zu Hause gab es
immer nur die, die schon Schimmel angesetzt hatte. Die „musste
weg“.). Und der haltbare Glosterapfel, der im Oktober geputzt wird
und mindestens bis Ostern reicht,
weil ich ihn nur sparsam nutze (zu
Hause gab es immer nur die, die
schon erste Faulstellen aufwiesen.
Die „mussten weg“). Bei jedem
Spaziergang sammle ich zur Belustigung meiner Nachbarn trockene
Zweige für den Kamin und trage
sie heim. Das streckt den Kaminholzvorrat.
© Foto: DramaSan - Fotolia.com
ich fragte den Empörten nach dem
Geburtsjahr seines Vaters. 1943!
Ja, habe ich ihm gesagt, da kannst
du nichts machen. Diesen Keller
wirst du erst nach dem Tode deines Vaters nutzen können!
maske und bemühte sich um Bundeswehrverpflegung.
Ich stellte eines Tages fest, dass ich
12 kg Zucker in meinem Einkaufswagen hatte. Ein paar Kilogramm
stellte ich schamhaft zurück. Aber
als ich 12 Jahre später aus meiner Wohnung auszog, fand ich
versteckt (!) ein Riesenarsenal an
gebunkertem Speiseöl, Schokolade, Linsen, Reis, Erbsen, Kerzen,
Streichhölzern …
Als der Iran-Irak-Krieg ausbrach,
geriet meine Kollegin, mit der ich
ein Dienstzimmer teilte, in Panik.
Sie war mein Jahrgang und hatte
ihre ersten beiden Lebensjahre in
Berliner Bunkern verbracht. Sie Immer habe ich einen Riesenkaufte Jodtabletten und eine Gas- vorrat Kerzen an genau festgelegten Plätzen, die Streichhölzer
daneben – „… falls mal das Licht
Zur Person
ausfällt.“ Ich hebe jedweden engen, weiten, mittleren WollpullProf. Dr. Christine Swientek ist
over auf (früher selbst gestrickt),
Autorin mehrerer Bücher über das
Älterwerden,
denn er könnte mich mal wärmen
u. a. „Letzter
müssen. Oder Besucher. Oder um
Ausweg SelbstSchutz Suchende. Nach wie vor
mord. Was alte
muss ich mich von jedem TextilMenschen in
geschäft losreißen, das Wolldeden Tod treibt.“
cken anbietet. Meine Sammlung
ist stattlich. Sie würde für eine
20
Ich weiß, wir haben keinen Krieg
mehr (jedenfalls nicht in Deutschland). Ich weiß, dass es auch in drei
Jahren noch Äpfel und Wolldecken
geben wird (wirklich?) Aber als
mir kürzlich eine Nachbarin beim
(ein bisschen) Kelleraufräumen
half, weil eine neue Waschmaschine angeliefert werden sollte, und
sagte: „Nein, die alten Weck-Gläser kann man doch nicht wegtun,
wer weiß, ob wir die nicht noch
mal gebrauchen müssen“, war ich
glücklich!
Für viele Tage! Sie hatte meine
arme Kinderseele erkannt!
Prof. Dr. Christine Swientek
BAGSO-Nachrichten
n
04/2012
Titel – Kriegskinder
Die Kinder der Kriegskinder
Das Titelthema Kriegskinder in den BAGSO-Nachrichten 4/2012 hat für große Resonanz unter unseren Leserinnen und Lesern gesorgt. Doch es waren nicht nur die ehemaligen Kriegskinder selbst, die sich sehr dafür
interessierten, sondern auch deren Kinder. Über diese „Kriegsenkel“ hat die Kölner Journalistin Sabine Bode
ein Buch geschrieben. Ines Jonas hat mit ihr gesprochen.
Warum ein Buch über Kriegsenkel? Wie präsent ist denn heute
– fast 68 Jahre nach Kriegsende –
der Zweite Weltkrieg noch?
Ich behaupte, präsenter denn je.
Denn je länger das Kriegsende zurückliegt, umso mehr beschäftigen
sich die Leute mit der Zeit davor.
Zwar nicht so sehr mit der Frage,
was damals geschah, denn das ist
weitestgehend geklärt, aber über
die Auswirkungen auf die Menschen weiß man immer noch wenig. Bisher ist es eine Minderheit,
die sich damit befasst, vor allem im
Kontext mit der eigenen Familiengeschichte. Aber diese Minderheit
wächst, und zwar ziemlich schnell.
Als mein Buch über die Kriegskinder „Die vergessene Generation“
als Taschenbuch erschien, meldeten sich deren Kinder bei mir, und
zwar vehement. Sie sagten: ‚Wir
haben auch etwas erlebt.
Nichts offensichtlich Schlimmes
zwar, aber wir haben auch Probleme – vor allem Probleme mit unseren Eltern.‘ Der erste Teil ihrer
E-Mails lautete fast immer: ‚Vielen
Dank, dass Sie mir einen Zugang
zu meinen Eltern ermöglicht haben‘, und im zweiten Teil las ich:
‚Es ist nicht leicht, Kind solcher Eltern zu sein.‘
BAGSO-Nachrichten
n
02/2013
Wir sprechen jetzt von den Jahrgängen 1960 bis 1975, also von
Menschen, die heute zwischen
Ende dreißig und Anfang fünfzig
sind…
…und die immer noch große Probleme mit ihren Eltern haben. Außerdem haben viele von ihnen mit
einem verunsicherten Lebensgefühl zu kämpfen, von dem sie bisher nicht wussten, woher das kam.
Und so war es für sie erleichternd
zu erkennen, dass hier offenbar ein
altersgruppenspezifisches Problem
vorliegt.
Und das alles hat etwas mit dem
Krieg zu tun?
Ja. Es beginnt bei den Eltern der
Kriegsenkel und dem, was jenen
widerfahren ist. Wir wissen heute
aus der Entwicklungspsychologie,
dass die ersten Erfahrungen im
Leben die prägendsten sind. Zwar
haben die Kriegskinder, die in den
1940er Jahren geboren wurden,
kaum Erinnerungen an die Kriegsjahre. Von ihren Eltern haben sie
oft gehört: ‚Du warst ja klein, hast
immer nur in deinem Körbchen
gelegen, da hast du nicht viel mitbekommen.‘ Aber natürlich haben
diese Kinder etwas mitbekommen
– auf einer ganz subtilen Ebene.
Den in den 1930er Jahren Gebo-
renen wurde gesagt: ‚Sei froh, dass
du lebst, vergiss alles, schau nach
vorn.‘ Daran haben sie sich gehalten und das war auch die richtige
Strategie. Denn es gab damals keine Hilfe für traumatisierte Kinder.
Und es gab auch nur wenige unbelastete Eltern und Erwachsene,
die diesen Kindern in irgendeiner
Form hätten beistehen können.
Die Kriegskinder haben von ihren
Eltern nach dem Krieg immer wieder gehört, dass alles in Ordnung
sei. Das muss man auch verstehen.
Wenn die schlimme Zeit vorbei
ist, dann will man nicht mehr daran denken, dann freut man sich,
wenn die Kinder gute Schulnoten
heimbringen und alles scheinbar
gut ist.
Die Kriegskinder mussten also alles mit sich selbst ausmachen, was
für Kinder und Jugendliche nur
schwer möglich ist, und das hat sicher Spuren in deren Seele hinterlassen. Doch inwiefern haben sich
deren seelische Verletzungen und
Traumata auf ihre Kinder ausgewirkt bzw. übertragen?
Darüber habe ich lange nachgedacht. Die Antwort liegt in der
Bindungsforschung, die aus der
Psychoanalyse entstanden ist. Eltern, die sich von traumatischen
Erlebnissen nicht erholt haben –
21
Titel – Kriegskinder
das ist bei Traumata in der Kindheit häufig der Fall –, können
ihren Kindern nicht die Stabilität
geben, die diese brauchen. Das
Allertypischste für solche Eltern
ist, dass sie ein Kind nicht beruhigen können. Ein unbelasteter Vater oder eine unbelastete Mutter
nimmt ein Kind, das schreit, auf
den Arm und hält es – selbst wenn
es lange schreit –, bis es ruhig ist.
So entsteht Vertrauen ins Leben.
Belastete Eltern können das nicht,
denn das Schreien des Säuglings
weckt ihre eigene Hilflosigkeit, die
sie ja eigentlich gut weggepackt
zu haben glaubten. Sie halten das
Schreien nicht aus und unterbrechen den Kontakt. Das klingt
jetzt erst mal nicht so schlimm,
denn sie tun ja ihren Kindern keine offensichtliche Gewalt an. Sie
ziehen „nur“ innerlich ein Rollo
runter – was aber für Babys eine
Bedrohung ihrer Existenz darstellt. Durch diesen innerlichen
Rückzug ihrer Eltern haben sie
nicht die Stabilität bekommen, die
man für eine psychische Gesundheit braucht. Das heißt jetzt nicht,
dass die Angehörigen der 1960er
bis 75er Jahrgänge reihenweise
krank sind, aber eine große Zahl
aus dieser Generation ist eben beeinträchtigt.
Wie wirkt sich das aus?
man, wenn man Kinder in die sind unglaubliche Netzwerker. Sie
Welt setzt.
tun sich zusammen, auch im Internet (www.kriegsenkel.de), und
Viele bleiben zeitlebens in einer tauschen sich aus. Dieser Ausunguten Fürsorge für die Eltern tausch ist das Wichtigste, was es
verstrickt – ein frühkindliches gibt. Sie stellen fest, dass sie nicht
Muster: ‚Ich bin dafür zuständig, allein sind. Das, was im Kollektiv
dass Mama glücklich ist. Ich muss verursacht worden ist, kann man
dafür sorgen, dass es Papa gut nur in Gemeinschaft erkennen
geht.‘ Von solchen Gedanken kön- und angehen.
nen sie sich kaum lösen. Sie sind
einfach nicht richtig abgenabelt.
Meine weitere Empfehlung ist,
in der Familiengeschichte genau
Auf der anderen Seite haben sie hinzuschauen, ob und wo es Versich bisher immer gesagt: ‚Ich strickungen mit den Nazis gab.
habe es doch eigentlich gut gehabt, Hitlerdeutschland war ja eine Gemeine Eltern haben alles für mich fälligkeitsdiktatur. Man wurde
getan.‘ Haben sie auch. Für die ziemlich belohnt und bevorzugt,
materiellen Bedürfnisse ist wirk- wenn man da mitgeschwommen
lich ausreichend gesorgt worden. ist. Und so haben viele vom jüNur etwas Entscheidendes hat ge- dischen Eigentum profitiert, wofehlt, die emotionale Wärme. Da- rüber aber eisern geschwiegen
durch ist ihnen nicht das Gefühl wird. Ich will niemanden anpranvermittelt worden, dass man dem gern, ich will nur dieses ‚Wir hatLeben vertrauen kann. Weil das ten damit nichts zu tun‘ entlarven.
aber nicht so offensichtlich ist, hat Wenn man diese Familienlegenes bei vielen auch lange gedauert, den nicht auflöst, bekommt man
bis sie begriffen haben, dass ihr El- keine Ruhe. Es geht nicht darum,
ternhaus problematisch war.
dass die Kriegsenkel ihre Eltern
und Großeltern verdammen, sonErheben Sie damit nicht einen dern sie sollen sagen können: ‚Gut,
Vorwurf gegen die Kriegskinder dass ich das jetzt weiß.‘ n
und ihre emotionale Unfähigkeit
als Eltern?
Zur Person
Nein, denn sie haben alles getan,
Sabine Bode
was sie tun konnten.
ist Autorin der BüWas machen die Kriegsenkel mit
der Erkenntnis, dass die emotionale Sprachlosigkeit im Elternhaus an vielen ihrer Probleme
schuld ist? Was raten Sie ihnen?
Nach meinen Schätzungen ist ein
Drittel bindungsunsicher. Viele
von denjenigen, die sich als Kriegsenkel definieren, sind auch kinderlos geblieben. Da haben Sie den
Hinweis auf mangelndes Vertrau- Viele sind regelrechte Kriegsenkelen ins Leben, denn das braucht Aktivisten geworden. Diese Leute
22
cher „Die vergessene Generation.
Die Kriegskinder
brechen ihr
Schweigen“ und
„Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation“ sowie anderer
Bücher, z. B. über Trauer. Informationen: www.sabine-bode-koeln.de
BAGSO-Nachrichten
n
02/2013
Titel – Kriegskinder
Die 112 BAGSO Verbände
(Stand: August 2014)
Ausführliche Informationen über die Verbände finden Sie unter www.bagso.de
1. Alevitische Gemeinde Deutschland
2. Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (AWO)
3. Arbeitsgemeinschaft Evangelische Krankenhaus Hilfe e.V. (eKH)
4. Arbeitsgemeinschaft SPD 60 plus –
Referat Generationenpolitik
5. Bayerisches SeniorenNetzForum (BSNF) e.V.
6. BDZ - Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft –
Ständiger Ausschuss „BDZ-Senioren“
7. BegegnungsCentrum Haus im Park der
Körber-Stiftung
8. Betreuungswerk Post Postbank Telekom (BeW)
9. Bund Deutscher Amateurtheater e.V. –
Bundesgeschäftsstelle (BDAT)
10. Bund Deutscher Forstleute (BDF) –
Seniorenvertretung des BDF
11. Bund Deutscher Kriminalbeamter (bdk)
12. Bundesarbeitsgemeinschaft der
Landesseniorenvertretungen e.V. (BAG LSV)
13. Bundesarbeitsgemeinschaft Senioren der Partei
DIE LINKE
14. Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros e.V. (BaS)
15. Bundesarbeitsgemeinschaft seniorTainerin (BAG sT)
16. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung e.V.
– Verein zur Förderung des selbständigen Wohnens
älterer und behinderter Menschen
17. Bundesarbeitskreis ARBEIT UND LEBEN –
Arbeitskreis für die Bundesrepublik Deutschland e.V.
18. Bundesforum Katholische Seniorenarbeit (BfKS)
19. Bundesinteressenvertretung der Nutzerinnen und
Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter
und bei Behinderung e.V. (BIVA)
20. Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose e.V. (BfO)
21. Bundesverband der Katholiken in Wirtschaft und
Verwaltung e.V. (KKV)
22. Bundesverband Gedächtnistraining e.V. (BVGT)
23. Bundesverband Geriatrie
24. Bundesverband Information & Beratung für
NS-Verfolgte e.V.
25. Bundesverband Seniorentanz e.V. (BVST)
26. Bundesverband Seniorpartner in School e.V. (SiS)
27. Dachverband der Gerontologischen und Geriatrischen
Gesellschaften Deutschlands e.V. (dvgg)
28. dbb beamtenbund und tarifunion
29. DENISS e.V. Deutsches Netzwerk der Interessen vertretungen von Seniorenstudierenden
BAGSO-Nachrichten
n
04/2012
30. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.
– Selbsthilfe Demenz
31. Deutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für
Erwachsenenbildung e.V. (DEAE)
32. Deutsche Gesellschaft für AlterszahnMedizin e.V.
(DGAZ)
33. Deutsche Gesellschaft für Hauswirtschaft e.V. (dgh)
34. Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche
Weiterbildung und Fernstudium e.V. (DGWF) –
Sektion „Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft
liche Weiterbildung für ältere Erwachsene (BAG WiWA)“
35. Deutsche Landsenioren e.V. (DLS)
36. Deutsche PsychotherapeutenVereinigung e.V. (DPtV)
37. Deutsche Seniorenpresse Arbeitsgemeinschaft e.V.
(dsp)
38. Deutsche Steuer-Gewerkschaft – Landesverband
Nordrhein-Westfalen (DSTG)
39. Deutscher Akademikerinnenbund e.V. (DAB)
40. Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.
(DBSV)
41. Deutscher Bridge-Verband e.V. (DBV)
42. Deutscher BundeswehrVerband e.V. (DBwV)
43. Deutscher Evangelischer Frauenbund e.V. (DEF)
44. Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und
Pflege e.V. (DEVAP)
45. Deutscher Familienverband (DFV)
46. Deutscher Frauenrat (DF)
47. Deutscher Guttempler-Orden (I.O.G.T.) e.V.
48. Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB)
49. Deutscher Schwerhörigenbund e.V. (DSB)
50. Deutscher Senioren Ring e.V. (DSR)
51. Deutscher Turner-Bund (DTB)
52. Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in
Studium und Beruf e.V. (DVBS)
53. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
e.V. (dv)
54. Deutsches Sozialwerk e.V. (DSW)
55. DIE GRÜNEN ALTEN (GA)
56. DPolG Bundespolizeigewerkschaft
57. Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)
58. EURAG-Deutschland Sektion im Bund und der älteren
Generation Europas
59. Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in
der EKD (EAfA)
60. Evangelisches Seniorenwerk – Bundesverband für
Frauen und Männer im Ruhestand e.V. (ESW)
23
61. Familienbund der Katholiken Bundesverband e.V.
62. Forschungsinstitut Geragogik e.V. (FoGera)
63. FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e.V.,
Bundesvereinigung (FGW)
64. Generationenbrücke Deutschland
65. Gesellschaft für Gehirntraining e.V. (GfG)
66. Gesellschaft für Prävention e.V. – gesund älter werden
67. Gewerkschaft der Polizei (GdP)-Seniorengruppe
(Bund)
68. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft –
BundesSeniorenAusschuss (GEW)
69. Greenpeace e.V. Team50plus
70. Hartmannbund – Verband der Ärzte Deutschlands e.V. – Ausschuss für Altersfragen der Medizin des
Hartmannbundes
71. HelpAge Deutschland e.V. – Aktion alte Menschen
weltweit (HAD)
72. IG Metall
73. Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU)
74. Internationaler Bauorden – Deutscher Zweig e.V. –
Verein „Senioren im Bauorden“ (IBO)
75. Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands
e.V. (KAB)
76. Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft für
Erwachsenenbildung (KBE)
77. Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands –
Bundesverband e.V. (kfd)
78. Katholischer Deutscher Frauenbund e.V. (KDFB)
79. Kneipp-Bund e.V.
80. Kolpingwerk Deutschland gemeinnützige GmbH
81. komba gewerkschaft – Gewerkschaft für den
Kommunal- und Landesdienst
82. Kommunikationsgewerkschaft DPV (DPVKOM)
83. KWA Kuratorium Wohnen im Alter gemeinnützige AG
84. Lange Aktiv Bleiben – Lebensabend-Bewegung (LAB)
85. Liberale Senioren LiS – Bundesverband
86. LIGA für Aeltere e.V.
87. Memory Liga e.V. – Liga für Prägeriatrie
88. MISEREOR – Aktionskreis „Eine-Welt-Arbeit im Dritten
Lebensalter“
89. NATUR UND MEDIZIN e.V. – Fördergemeinschaft
der Karl und Veronica Carstens-Stiftung
90. NaturFreunde Deutschlands e.V. – Verband für
Umweltschutz, sanften Tourismus, Sport und Kultur
91. NAV-Virchow-Bund – Verband der niedergelassenen
Ärzte Deutschlands e.V.
92. Netzwerk-Osteoporose e.V. – Organisation für
Patienten-Kompetenz
93. Projekt 50 Bundesverband e.V. – Verein zur Förderung
brachliegender Fähigkeiten
94. Senior Experten Service – Stiftung der Deutschen
Wirtschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH
(SES)
95. Senioren-Lernen-Online UG (SLO)
96. Senioren-Union der CDU Deutschlands
97. Senioren-Union der CSU
98. Seniorenvereinigung des Christlichen Jugenddorf werkes Deutschlands e.V. (CJD)
99. Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD)
100. Sozialverband VdK Deutschland e.V.
101. Sozialwerk Berlin e.V.
102. Unionhilfswerk Landesverband Berlin e.V.
103. Verband der Beamten der Bundeswehr e.V. (VBB)
104. Verband Wohneigentum e.V.
105. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen
106. Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD)
107. Virtuelles und reales Lern- und Kompetenz-Netzwerk
älterer Erwachsener (ViLE) e.V.
108. Volkssolidarität Bundesverband e.V. (VS)
109. VRFF Die Mediengewerkschaft
110. wir pflegen – Interessenvertretung begleitender
Angehöriger und Freunde in Deutschland e.V.
111. wohnen im eigentum – die wohneigentümer e.V.
112. Zwischen Arbeit und Ruhestand – ZWAR e.V.
Auf vielfachen Wunsch haben wir das Leitthema der BAGSO-Nachrichten 04/2012 in einer Auflage
von 2.500 Stück nachgedruckt.
Impressum
BAGSO-Nachrichten
Zeitschrift für Aktive in Seniorenarbeit und Seniorenpolitik
Redaktion
Dr. Guido Klumpp, Geschäftsführer
(V.i.S.d.P.)
Ursula Lenz, Pressereferentin
Ines Jonas, Dipl.-Päd./Journalistin
Herausgeber
Bundesarbeitsgemeinschaft der
Senioren-Organisationen e.V.
(BAGSO)
Bonngasse 10, 53111 Bonn
Tel.: 02 28 / 24 99 93 0
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