Kriegskinder
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Kriegskinder
BA Son GS de Das Magazin der O rd Na ru ch ck Bundesarbeitsgemeinschaft ric Tit ht elt der Senioren-Organisationen en he 04 ma /2 01 2 Nachrichten 11. Deutscher Seniorentag mit Messe Gemeinsam in die Zukunft! 2. bis 4. Juli 2015 Congress Center Messe Frankfurt BAGSO-Nachrichten Das Magazin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen Nachrichten 03/2014 ISSN 1430-6204 BAGSO InternetWoche 2014 Gemeinsam in die Zukunft! 11. Deutscher Seniorentag 2. bis 4. Juli 2015 in Frankfurt /M. Mobilitätsplattform geht online Sehen und Hören Unterstützen Sie die Arbeit der BAGSO mit einem Abonnement der BAGSONachrichten. Kriegskinder © Foto: Bundesarchiv Titel – Kriegskinder Kriegskinder E rlebnisse in der Kindheit sind prägend für das ganze Leben. So können längst vergessen geglaubte traumatisierende Erfahrungen wieder aufbrechen, wenn Menschen an einer Demenz erkranken. Die oft nicht nachvollziehbaren 2 Ängste, die sie entwickeln, stellen miterlebt. Natürlich sind die Erlebdie Pflegenden vor große Heraus- nisse und Erfahrungen völlig unforderungen. terschiedlich. Nach Angaben von Dr. Heide Glaesmer von der AbteiEtwa 16,5 Millionen Menschen lung für Medizinische Psychologie der heute über 65-Jährigen haben und Medizinische Soziologie der als Kinder den Zweiten Weltkrieg Universität Leipzig berichten aber BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder immerhin 40–50% der Kriegskinder über traumatische Erfahrungen – überwiegend aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Diese Generation ist damit deutlich stärker belastet als die nachfolgenden Generationen. irritiert fest, dass viele der von ihr Befragten meinten: „Es hat uns nicht geschadet.“ Die meisten, die sie auf ihre Kindheit angesprochen hatte, hätten zudem schnell abgewehrt, zumeist mit dem Satz: „Andere haben es viel schlimmer gehabt.“ Ohnehin machten diese Die Kölner Journalistin und Buch- Menschen meist nicht viel Aufheautorin Sabine Bode, die sich seit ben um sich und das, was sie gevielen Jahren mit der „Generation prägt hat. der Kriegskinder“ beschäftigt (siehe Verlosung, S. 55), stellte aller- Wir sind uns im Klaren, dass wir dings zu Beginn ihrer Recherchen das Thema hier nur anreißen kön- nen, sodass viele Facetten unbeleuchtet bleiben müssen. Unerlässlich erschien uns, auf das Schicksal der Opfer des NS-Regimes einzugehen, auch wenn hier der Begriff „Kriegskinder“ sicher zu kurz greift. Wir danken Michael Teupen vom Bundesverband Information & Beratung für NSVerfolgte, dass er uns dabei unterstützt hat. n Das Redaktionsteam „Das Leid der Kinder spielte damals keine Rolle“ Ein Interview mit Prof. Hartmut Radebold Wie hat der Krieg diejenigen, die damals Kinder waren, geprägt? Sind alle sogenannten Kriegskinder traumatisiert? Das kann man nicht pauschal beantworten, denn es existiert ein riesiges Spektrum unterschiedlichster Erfahrungen, abhängig davon, wo man aufgewachsen ist. Wir schätzen, dass etwa 40 % dieser Jahrgänge keine traumatisierenden und schädigenden Ereignisse erlebt haben. Schätzungsweise 30 bis etwa 35 % sind – nach heutigen Maßstäben – hoch traumatisiert bzw. geschädigt. Schließlich gibt es noch ein weiteres Drittel dieser Menschen, die mit Kriegserfahrungen konfrontiert wurden, bei denen es aber genügend schützende Faktoren gab, die das ein Stück aufgefangen haben, sodass sich BAGSO-Nachrichten n 04/2012 diese Erfahrungen nicht lebenslang auswirken. Die Erinnerungen der ersten Gruppe sehen oft so aus: Viel Freizeit nach Kriegsende, sie brauchten nicht zur Schule zu gehen, haben in Ruinen gespielt und amerikanische Soldaten erlebt, die Schokolade verteilten. Zu den Erfahrungen der Hochtraumatisierten gehörten dagegen Bombenhagel, Flucht und Verfolgung sowie Vertreibung. Es wird geschätzt, dass ca. 14 Mio. Menschen zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat verloren haben. Dazu kommt, dass ein Viertel aller Kinder nach dem Krieg ohne Väter aufwachsen musste, etwa 200.000 waren sogar Vollwaisen, die zudem nicht selten auch Geschwister und Großeltern verloren hatten. All diese Erkenntnisse beziehen sich weitestgehend auf Westdeutschland und Westberlin, im Osten war das ein absolutes Tabuthema, weil die Russen die „Befreier“ waren. Wenn die Erfahrungen so unterschiedlich waren, kann man wohl auch kaum generationen-typische Verhaltensmuster der damaligen Kriegskinder ableiten? Doch, das kann man. Denn man muss sich klarmachen, dass seit der Industrialisierung und dem Kaiserreich in Deutschland bestimmte Erziehungsnormen galten, die im „Dritten Reich“ systematisch fortgesetzt wurden. In Bezug auf Jungen hieß das z. B.: keine Gefühle zeigen, Zähne zusammenbeißen, Schmerzen wegstecken und nicht weinen. Sie haben auch nie gelernt, über Probleme und 3 Titel – Kriegskinder Schwierigkeiten zu sprechen. Die meisten damals erwachsenen Männer waren beim Militär und auch stolz darauf. Denken Sie an den Spruch von Hitler: „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde.“ Nach dem Krieg ging das so weiter, denn diese Erziehungsnormen wurden von den Eltern nicht in Frage gestellt. Deutschland war zwar ein zerstörtes und besiegtes Land, aber die kritischen Stimmen kamen nur allmählich. Welche typischen Verhaltensweisen kann man demnach in diesen Geburtsjahrgängen erkennen? Es gibt unter den Betroffenen, Beschädigten und Traumatisierten eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die ich „ich-synton“ nenne, d. h., sie gehören so selbstverständlich zu der Person, dass sie nicht hinterfragt werden. Dazu gehört, dass sie angepasst, sparsam, vo- Zur Person Hartmut Radebold Univ.-Prof. em. Dr. med., 1935 in Berlin geboren, ist Arzt für Psychiatrie/Neurologie, Psychoanalyse und Psychotherapeutische Medizin, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV) und Altersforscher. Von 1976 bis 1998 hatte er einen Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Kassel inne. Als Autor veröffentlichte er u. a.: „Die dunklen Schatten der Vergangenheit – Hilfen für Kriegskinder im Alltag“ und „Abwesende Väter und Kriegskindheit“. 4 rausplanend und organisierend sind, wenig Rücksicht auf eigene Bedürfnisse nehmen und sich von vielen Dingen nicht trennen können. So werden Gegenstände des täglichen Gebrauchs vorsichtshalber aufgehoben und natürlich isst man den Teller leer. In psychologischen Untersuchungen zeigt sich, dass die sogenannten Kriegskinder äußerlich freundlich und innerlich skeptisch bis misstrauisch sind. Weitere Untersuchungen belegen, dass die ehemaligen Kriegskinder eingeschränkte soziale Fähigkeiten und im Vergleich zu anderen eine eingeschränktere Lebensqualität haben. Sie wurden schnell in die familiäre Verantwortung genommen – weil die Väter fehlten oder sie die „Älteren“ waren. Als dann die Väter nach vielen Jahren zurückkamen, waren die Kinder zu kleinen ernsten Erwachsenen geworden, die wenig an Kindheit und Jugend erlebt haben. Und die vielen Flüchtlingskinder hatten den Auftrag, es besser zu machen, neue Sicherheiten zu schaffen und die Familie sozusagen abzusichern. Auf allen Seiten herrschten also Riesen-Erwartungen an die Kinder. Sie sprachen von einer bis heute vorherrschenden eingeschränkten Lebensqualität? Wie drückt sich diese aus, denn materiell geht es doch vielen ehemaligen Kriegskindern heute recht gut? Können sie das materiell Erreichte auch für sich nutzen? Sie sehen sich selbst oft als völlig bedürfnislos an. Leisten sie sich im Alter eine bequemere Wohnungseinrichtung? Gönnen sie sich etwas? Wie oft hört man den Spruch: „Das lohnt sich doch nicht mehr in meinem Alter.“ Ihre Alltagsbewältigung ist insgesamt schlechter. Statt sich den Alltag zu erleichtern, heben sie alles Mögliche auf. Die Keller und Böden sind voll, schließlich weiß man nie, wozu man es noch gebrauchen kann. 1945 bis 1950 waren das gut nachvollziehbare Überlebensstrategien, die aber heute nicht mehr sinnvoll sind. Bei all dem erlebten Leid: Warum sind nach dem Krieg nicht massenweise ehemalige Kriegskinder in die Psychotherapie-Praxen gestürmt? Vor dem Krieg gab es schon ganz wenige Psychotherapeuten und Psychiater, den Beruf des Psychologen gab es noch nicht. Das war nach dem Krieg nicht anders, im Gegenteil. Es stand also nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung. Außerdem spielte das Leid der Kinder damals keine Rolle. Die Mütter sahen zwar, dass es ihren Kindern schlecht ging, aber sie waren mit dem realen Überleben zu sehr beschäftigt. Außerdem hegte man die Vorstellung, dass die Kinder schnell vergessen würden: Das wächst sich schon aus. Auch das Leid der Erwachsenen wurde nicht wahrgenommen. Und als in den Jahren 1950 bis 1954 noch viele Heimkehrer aus der Gefangenschaft zurückkamen, da wollte keiner mehr von ihrem Leid hören. Die, die auffallend psychisch verändert waren, sind in den psychiatrischen Kliniken „verschwunden“. BAGSO-Nachrichten n 04/2012 1954 gab es die einzige repräsentative Untersuchung der Bundesrepublik. Dazu wurden 1.000 Kinder untersucht, die bei Kriegsende sechs, teilweise zehn Jahre alt waren. Gefunden wurde nichts: Die Kinder hatten ein normales Längenwachstum und Gewicht und zeigten normale Schulleistungen. Auffälligkeiten gab es nicht. Damit waren alle hochzufrieden, die Eltern und die Professionellen. Denn es schien somit erwiesen, dass Kinder zwar extreme Erfahrungen machen können, die aber für ihre weitere Entwicklung keine Rolle spielen. Erst 2006 wurde durch das Erscheinen des Buches „Schläge im Namen des Herrn“ bekannt, dass etwa 500.000 bis 600.000 Kinder nach dem Krieg in Heime gesteckt wurden. Das waren die schwer Erziehbaren, die Auffälligen, die Verhaltensgestörten, die, die schlechte Schulleistungen zeigten. Es waren die durch den Krieg verhaltensauffällig gewordenen Kinder. Die hat unsere Gesellschaft einfach weggesperrt. Als sie wieder rauskamen, haben sie geschwiegen und versucht, irgendwie klarzukommen. Als Psychoanalytiker haben Sie aber doch ehemalige Kriegskinder behandelt…? Ja, aber diese haben erst ab ihrem 50. Lebensjahr bemerkt, dass irgendetwas mit ihnen nicht in Ordnung ist. Dabei hat keiner anfangs erwähnt, er habe schlimme Erfahrungen im Krieg gemacht. Sie kamen mit diffusen Beschwerden, weil sie merkten, sie haben Beziehungs- und Bindungsstörungen, kennen ihre eigenen Bedürfnisse BAGSO-Nachrichten n 04/2012 © Foto: Goldblick - Fotolia.com Titel – Kriegskinder Manche ehemaligen Kriegskinder bemerken oft sehr spät, „dass irgendetwas mit ihnen nicht in Ordnung ist. Oft wissen weder die Ehepartner noch die Kinder, was damals genau passiert ist.“ nicht. Erst im Lauf der Behandlung wurde ihnen und mir langsam bewusst, was sie für eine Geschichte mitbringen. sondern immer jemanden mitnehmen, wie den Partner oder die Kinder. Denn kein Mensch weiß, was ihn an solchen Orten plötzlich wieder einholt. „Beschützen“ lassen sollte man sich auch vor bevorstehenden kritischen Ereignissen, wie einer großen Operation. Eigentlich müssten auch die Narkoseärzte in Krankenhäusern für die Biografie ihrer Patienten sensibilisiert werden. Was raten Sie Menschen, die sich mit verdrängten Kriegserfahrungen konfrontiert sehen? Wichtig ist, dass man sich in Zeiten, in denen es einem gut geht, klarmacht, was man erlebt hat, und sich eingesteht, dass das zu einem gehört. Das Zweite ist, dass man bereit ist, darüber zu sprechen. Oft wissen Wird jemand von seiner Verganweder die Ehepartner noch die Kin- genheit eingeholt, ist es wichtig, aus der, was damals genau passiert ist. der Vereinzelung herauszukommen. Es gibt vielerorts sogenannte Und man sollte sich Situationen, Kriegskindergruppen. Oder man in denen alte Gefühle wieder auf- begibt sich in eine Psychotherapie. leben können, nicht ohne Schutz Ein Weg ist es auch, seine Biografie aussetzen. Man sollte also nicht aufzuschreiben und öffentlich zu allein nach Polen oder an andere machen, das hat sehr viele psychoOrte der Vergangenheit fahren, therapeutische Effekte. 5 Titel – Kriegskinder Welche Rolle spielen Kriegserfahrungen bei Demenz? Demenz ist eine Krankheit, die den Intellekt und das Gedächtnis verändert, nicht aber die Gefühle. Das heißt also: Alles, was an abgewehrten, bedrohlichen, beunruhigenden Gefühlen und Ängsten von damals da ist und was man lebenslang unter Kontrolle gehalten hat, kann aufbrechen – und zwar sehr intensiv, wenn die Kontrollmechanismen wegbrechen oder sich verändern. Wir wissen nicht, ob solche Kriegserfahrungen die Demenz befördern. Aber tigungen während des Krieges und in der direkten Nachkriegszeit in Ostdeutschland aus. Aber langsam gelangt dieses Thema auch in die Fortbildung der Pflegekräfte. Diese müssen dafür sensibilisiert werden. Wenn z. B. ein männlicher Pfleger bei einer demenzkranken Heimbewohnerin Intimpflege vornimmt und diese plötzlich schreit und um sich schlägt, kann das mit Dabei handelt es sich um ein einer Vergewaltigungserfahrung großes Tabuthema… in der Vergangenheit zusammen…um eines der höchst tabuisier- hängen. n ten Themen in Deutschland. Wir gehen von 1,9 Millionen Vergewal- Das Interview führte Ines Jonas. man kann sagen, während der Demenz werden möglicherweise sehr, sehr alte Dinge wach, und deshalb ist es notwendig, dass die Heime wissen, welche Vorgeschichte ein Mensch mitbringt. In der Nacht können leicht bedrohliche Gefühle hochkommen, besonders bei ehemaligen Vergewaltigungsopfern. Der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte „Es gilt, wachsam zu bleiben“ D er Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. existiert seit über 20 Jahren. Das Besondere an dem Verein ist, dass er die Interessen aller NS-Opfer vertritt, also nicht ausschließlich die der Juden, Sinti und Roma. Vielmehr setzt er sich auch mit den Verfolgungsschicksalen von Zwangsarbeitern, politisch Verfolgten, EuthanasieOpfern und Menschen, die wegen Erzähl- und Begegnungscafés für NSVerfolgte: Hier wird Überlebenden des NS-Regimes ein Ort zum Austausch und der Begegnung geboten. 6 ihrer sexuellen Identität unter dem NS-Regime gelitten haben, auseinander und bemüht sich um einen gerechten Ausgleich. Eine nicht validierte, aber realistische Schätzung geht davon aus, dass in der Bundesrepublik heute noch ca. 80.000 Menschen leben, die von den Nazis verfolgt wurden. Gerade die Jahre von 1930 bis zum Kriegsende waren für diesen Personenkreis existenziell bedrohlich und traumatisierend. Bekannt ist, dass unter dem Terror-Regime des „Dritten Reichs“ ca. sechs Millionen Juden ermordet wurden. Schon weit weniger im Bewusstsein ist, dass auch ca. 500.000 Sinti und Roma in den Vernichtungslagern umgebracht wurden. Politisch engagierte Menschen wie Kommunisten und Sozialdemokraten wur- den ebenso verfolgt wie Mitglieder der bekennenden Kirche oder die Zeugen Jehovas, die aus Glaubensgründen den Dienst mit der Waffe verweigerten. Homosexuelle kamen in die Konzentrationslager, Menschen mit geistiger Behinderung wurden Opfer der Euthanasie in den verschiedenen „Irrenanstalten“, „Asoziale“ wurden zwangssterilisiert. Für die Sklavenarbeit in der Rüstungsindustrie wurden die Bewohner ganzer Dörfer deportiert, aus dem Osten, aber z. B. auch aus Frankreich. In Anbetracht dieser zahlreichen Gruppen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, fällt es schwer zu glauben, dass die Bevölkerung, wie so häufig nach dem Krieg dargestellt, nichts davon gewusst habe. Nicht nur der Staat BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder und die Industrie in Deutschland profitierten von den Verfolgungsmaßnahmen, auch viele Einzelne: Wohnraum wurde zur Verfügung gestellt, das Hab und Gut deportierter Juden verkauft und versteigert. Einige konnten sich retten, indem sie Deutschland rechtzeitig verließen, andere blieben, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass z. B. ein hochdekorierter Offizier des Ersten Weltkriegs Opfer von Verfolgung werden könnte. Wenige überlebten diese Zeit in Deutschland: Sie mussten sich in Kellern oder Wäldern verstecken, hausten in Verschlägen, sie hungerten und lebten ständig in der Angst, entdeckt, verhaftet und ermordet zu werden. Es ist nachvollziehbar, dass diejenigen, die den Krieg und die Nazi-Diktatur überlebten, zum Teil schwere Schäden davontrugen, sowohl körperliche als auch seelische. Nach Kriegsende am 8. Mai 1945 wurde „entnazifiziert“. Die Entnazifizierung wurde aber großzügig gehandhabt, nur die Täter, denen man eine aktive Teilnahme am Unrechtsregime Hitlers nachweisen konnte, mussten sich – und auch dies nur zum Teil – der Justiz der Alliierten stellen, ab Ende der 50er Jahre vereinzelt auch der bundesdeutschen Justiz. Von den Emigranten, die Deutschland verlassen hatten, kamen nur wenige zurück. Einige der aus dem Osten in das damalige Reichsgebiet verschleppten „Ostarbeiter“ blieben in Deutschland, weil sie befürchten mussten, in ihrem HeiBAGSO-Nachrichten n 04/2012 matland als Kollaborateure wiederum verfolgt zu werden. Im Jahr 1949 entstand dann die Bundesrepublik Deutschland, ein demokratischer Rechtsstaat. Es hatte sich zwar das Staatswesen geändert, aber keineswegs die Bevölkerung. Dieselben Gruppen, die von den Nazis verfolgt wurden, hatten auch weiterhin erhebliche Nachteile zu erwarten, weil sich der Ungeist des Nationalsozialismus immer noch in den Köpfen sehr vieler Menschen befand. Personelle Kontinuitäten gab es vor allem im politischen Bereich unter Konrad Adenauer, in der Justiz und in der Ärzteschaft. Man meinte, sich genötigt zu sehen, auf die Erfahrungen dieser Personen zurückzugreifen, um ein funktionierendes System aufzubauen. In der „sowjetisch besetzten Zone“ wurde grundlegend anders verfahren: Dort wurden tatsächlich die meisten NS-Täter aus verantwortlichen Positionen entfernt. Der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters wird beim Besuch des Begegnungscafés überschwänglich von Projektteilnehmerin Anneliese Wolff begrüßt. ordnungspolitische Maßnahme“ gehandelt habe, nicht um Unrecht. Dies änderte sich erst durch eine Klarstellung von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Besonders benachteiligt waren auch die Menschen, die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt gewesen waren. Da in der Bundesrepublik Homosexualität bis 1969 unter Strafe gestellt war, konnte nur theoretisch Entschädigung beantragt werden. Dies wäre jedoch nur um den Preis einer strafrechtlichen Verfolgung möglich gewesen. Auch später war eine Antragstellung für diesen Personenkreis stets mit der Gefahr gesellschaftlicher Ächtung verbunden. In den 70er und 80er Jahren entstanden auf Bundes- und Landesebene weitere Entschädigungsregelungen. Für die Opfer der NS-Zeit in der jungen Bundesrepublik gab es gravierende Konsequenzen. Das Bundesentschädigungsgesetz war auf die Entschädigung von „rassisch, religiös und politisch Verfolgten“ begrenzt. Allerdings wurde das Gesetz sehr bald so gehandhabt, dass politisch Verfolgten, in erster Linie Kommunisten, jegliche Entschädigung vorenthalten wurde. Auch Sinti und Roma wurde der Status der „rassisch Verfolgten“ nicht zuerkannt. Vielmehr entschieden in den 60er Jahren noch höchste Gerichte, dass es sich bei der zwangsweisen Umsiedlung Faye Cukier, Caféteilnehmerin des der Sinti und Roma um eine „rein Kölner Cafés für NS-Verfolgte. 7 Titel – Kriegskinder Es wäre falsch zu behaupten, dass sich in den vergangenen Jahren nichts gebessert habe. Es gibt zahlreiche Initiativen, die sich mit den Verbrechen der Nazis auseinandersetzen, es gibt engagierte Bürgerinnen und Bürger, es gibt Möglichkeiten der Entschädigung. Dennoch liegt noch vieles im Argen. So gibt es weiterhin nicht entschädigte Opfergruppen, wie z. B. italienische Militärinternierte oder sowjetische Kriegsgefangene. Aktuell kämpfen Sinti und Roma um ein Mahnmal in Berlin. Die Frage der Schädigung und Beeinträchtigung der „Zweiten Generation“ wird bewusst nicht wahrgenommen oder negiert, der Ruf „Jetzt muss auch mal Schluss sein“ ist nach wie vor zu hören. nur identifiziert werden konnten, gilt es, wachsam zu bleiben und sich den Tendenzen der Wiedererstarkung von Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiziganismus („Zigeuner“-Feindlichkeit) entgegenzustellen. n Es bleiben viele Aufgaben für den Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte: Vor dem Hintergrund, dass über zehn Jahre lang rechtsextremistische Morde begangen wurden, ohne dass die Täter auch Michael Teupen Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. Holweider Str. 13–15, 51065 Köln teupen@nsberatung.de www.nsberatung.de Trauma im Alter Kindheitserlebnisse in der NS-Zeit und im Krieg können Menschen ein Leben lang belasten V iele ältere Menschen leiden an den Folgen traumatischer und belastender Erlebnisse. Häufig erscheinen dann unvermittelt und heftig auftretende Reaktionen nicht verständlich: ein plötzlicher Angstanfall, Ruhelosigkeit oder auch unerklärliche körperliche Symptome. Das Nachlassen der körperlichen Kräfte und entstehende Hilfsbedürftigkeit, insbesondere Veränderungen wie der Umzug in ein Pflegeheim, können psychische Schutzmechanismen schwächen und bedrohliche Erinnerungen aus der Vergangenheit auch nach Jahrzehnten wieder aufbrechen lassen. Oft sind diese Erlebnisse nicht einmal den Angehörigen bekannt und sie sind für das Pflegepersonal, vor allem auch bei demenziell veränderten 8 Menschen, eine große Herausforderung. Ein Projekt der Fachhochschule Frankfurt geht den Traumata und ihren Auswirkungen auf den Pflegealltag auf den Grund. eine Wechselwirkung von Kriegsereignissen wie Bombenangriffen, denen die Kinder ausgesetzt waren, den manchmal an Misshandlung grenzenden Erziehungsidealen im Nationalsozialismus und den von Schuld und Scham Zu beachten ist bei dieser Thema- geprägten Beziehungserfahrungen tik, dass es sehr unterschiedliche mit den Eltern. Arten traumatischer Erfahrungen und Belastungen gibt, die beson- In den meisten Studien werden dere Kenntnisse und einen spe- die Belastungen ausschließlich zifischen Umgang erfordern. In als Folge von Kriegserlebnissen unserem Projekt „Trauma im Al- wie Bombardierungen, Flucht ter“ (TiA) stehen die sogenannten und Vertreibung verstanden. Bea. posttrauKriegskinder, die zwischen 1930 obachtet werden u. und 1945 geborenen, nicht-ver- matische Belastungsstörungen, folgten Deutschen, im Mittelpunkt Ängste, Depressionen, psychoder Forschung. Deren besondere somatische Beschwerden, soziale Belastung besteht im Zusammen- Schwierigkeiten, Schlaflosigkeit, wirken verschiedener potenziell Panik bei Feuerwerk, Sparsamtraumatischer Ereignisse: Es gibt keit und das Verstecken von NahBAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder Schirmherrin: Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel 11. Deutscher Seniorentag mit Messe Veranstaltung gefördert von In Kooperation mit 2. – 4. Juli 2015 · Congress Center Messe Frankfurt Sie wollen Ihr Leben im Alter aktiv und engagiert gestalten? Sie wollen sich informieren, diskutieren, ausprobieren? Besuchen Sie den 11. Deutschen Seniorentag 2015! Rund 100 Vorträge, Diskussionsrunden, Workshops und vieles mehr aus den Bereichen Gesundheit & Pflege, Engagement & Politik und Wohnen erwarten Sie. Mehr auf www.deutscher-seniorentag.de Partner BAGSO e.V. · Bonngasse 10 · 53111 Bonn · 0228/ 24 99 93 - 29 · dst@bagso.de · www.bagso.de Die BAGSO-Nachrichten… … erscheinen alle drei Monate. Sie können die Öffentlichkeitsarbeit der BAGSO unterstützen, indem Sie die BAGSO-Nachrichten abonnieren – für 16 € im Jahr bzw. für nur 12 €, wenn Sie Mitglied eines BAGSO-Verbandes sind. Wenn Sie interessiert sind, wenden Sie sich bitte an Susanne Wittig in der BAGSO-Geschäftsstelle: 0228 / 24 99 93 11 und wittig@bagso.de en lter er Ä by d Lob ft cha t eins nschaf gem ft gemei einschaft haits scbe eits arbeitsgem esnar ndei sarb em dern Bundes rtsBu ggaz in ne de nde nen agazin seiMa b nen u Da Dabeitsgeme tio s Magazininschaft atio B ar nis Bundesar isa Magazin der anioreDas des -Org n-Orga der der ren tioDas M unor Sen B en y der Ältenisa der en in der n z Lobb a M gem Senioren-O BundesDarb er ionen ni a d io Organisat agna n-Org agazinder Se a einschaft rganisatioder s eits nisat 8 der SeniorenMere nenSen gazinDadser re s M asr Ält y de -Orga 07 1/200 LobbD iorender MBaugna enio Da Senioren 4/20 S r -OrgSen dzes inadrb de anio 07 der ereiBts 0 isareetinzum Die Ausgab 2 o-O 2/ nen d nsc rga ugnem 2009 9. Deuts / nis eseiarb chen 4 ha 0 Seniorentag ationen eitsgftem ISSN ISSN 143 ISSN 1430 01/2010 eins 1430 0-6204 Die -620 -6204 ISSN 1430 cha 02/2009 4 -6204 Festsc ft Pr ISSN 1430-6204 og 03/ e ramm Di 2009 20 Ja hrift Neue BAerGS sc h ISSN 1430-6204 hi O-en20!Ja re BA 02/200 6204 ProgrammBro ISSN 14309 hre Se GSO schüren pen olitik niore 0-6204 Alter erschienen! im 0 ion n ISSN 143 1/2 Depress 009 h ein Tabu – immer noc 04 03/ 30-62 r Link N 14 201 Walte sich an -6204 ISS BAG 4 1430 SO wendet ISSN neten nNac triech hNach tenhric ten Nernaicch Nen Nrianch ach hN richt hte chte Nric anchhtNreanc ricahcth hGraiScchO A c B O ichhteric a S N G AN nhte B O n S 8. – 10. Juni G BA Die Congress Center 2009 Leipzig 8. – 10. Juni 2009 Leipzig Congress Center tion Publika Nr. 24 schaft en gemein isation arbeits n-Organ Bundes der Seniore PROG Schirmhe ord 9. DEUT ge die Ab IT en TRA eas des Deutsch tages POR ester L en Bundes w Sch pf geg andel m tion enta okum Bildd enh Ka sch Verant Men Kontakt GmbH Service 53111 Bonn 53 BAGSO 10 · 55 55 52 Bonngasse so.de 28 / Tel.: 02 kontakt@bag E-Mail: „ALTER PROGRAMM Schirmherrin: Bundeskanzlerin in 2009 tag 10. Juni 8. bis ioren r Sen utsche 9. De mit Ausstellung Angela Merkel Inte rn 201 etWoc 4 he andere Megatrend e in d mein ie Z sa uku m 11. 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Impfen nz EGE eme PFL eber D Ratg erm MünAduig f de n m E d rnRffatrun eaunhdreg atieeah kPinErf eu nnnzäh g lt tiefSichLear u ibe S dlichWoSnd hlene n, zählt Gesu behesse nf u ebrebew Län Lmeh nsegen rn Mob ilitä geh tsplatt t on fo line rm Walte Ehrenamtspreis für Grüne Damen und Herren e chür Bros Neue FSFJ des BM er Älte den re aktiv Klim f asch ür utz r Lin k eu dd He ö ren www.bagso.de BAGSO-Nachrichten n 04/2012 9 rung. Pflegesituationen können die Betroffenen erneut mit dem Thema der Intimitätsverletzung konfrontieren, das kann sich z. B. bei sexuell traumatisierten Frauen darin äußern, dass sie sich nicht von männlichen Pflegern berühren lassen können. werfung erzogen und sollten bereit sein, ihr Leben für Hitler zu opfern. Das Ende des Nationalsozialismus kam für sie überraschend und ließ sie orientierungslos zurück. In den meisten Familien gab es keine Auseinandersetzung. Viele schämten sich und hatten Schuldgefühle, die auch von den Kindern übernommen wurden. Die Ideale von Stärke, Unverletzlichkeit und Überlegenheit können es besonders schwer machen, die körperliche Schwäche und Hilfsbedürftigkeit, die durch Pfle- Einschneidende Veränderungen wie gebedarf im Alter entstehen, zu er- Pflegebedürftigkeit und der Umzug in ein Pflegeheim, können bedrohliche tragen. Unsere Studie bezieht die Sozialisation und Erziehung im Nationalsozialismus in die Analyse der Spätfolgen ein, denn für die Verarbeitung der Kriegserlebnisse sind diese äußerst relevant. Im Sinne des damaligen Welt- und Menschenbildes sollten die Kinder stark, unbeugsam und den anderen überlegen sein, sie wurden In unserer Studie ist es uns gezum Gehorsam und zur Unter- lungen, den Zusammenhang zwischen Kriegserlebnissen und Erziehungs- und BeziehungserDas vom Bundesministerium für fahrungen genauer zu beleuchten Bildung und Forschung geförderte und zu zeigen, dass Erinnerungen Projekt „Trauma im Alter“ wird an an Bombennächte oder andere der Fachhochschule Frankfurt von 2009 bis Ende 2012 durchgeführt. Kriegshandlungen oft als eine Art Kooperationspartner sind der EvanstellvertretendeErinnerung(„Deckgelische Regionalverband, die Henerinnerung“) für das eigentry und Emma Budge-Stiftung, das lich Schmerzhafte fungieren: Es Hufeland-Haus und das Jüdische lässt sich leichter über den Krieg Altenzentrum. sprechen, d. h. über ein äußeres Ereignis, als über das Grauen in der Familie. Auch kann gezeigt werden, wie der durch den Krieg entstandene Schrecken sich mit dem Verhalten der Eltern verbindet und auf diese Weise erst zum Trauma wird. Es ist psychisch nur schwer erträglich, das Das TiA-Team (v.l.): Projektleiterin Bild der geliebten Eltern zusamProf. Dr. Ilka Quindeau mit ihren menzubringen mit ErinnerunMitarbeiterinnen Katrin Einert und gen an Begebenheiten, in denen Dr. phil. Nadine Teuber man sich durch sie bedroht, verletzt oder verraten fühlte. Diese Kontakt: keinert@fb4-frankfurt.de Szenen müssen zugunsten des 10 Erinnerungen aus der Vergangenheit auch nach Jahrzehnten wieder aufbrechen lassen. Bildes der „guten Eltern“, der heilen Kinderwelt und um des harmonischen Verhältnisses willen vom Bewusstsein ferngehalten werden. Allerdings geschieht dies auf Kosten der Anerkennung der eigenen Verletztheit, was eine andauernde psychische Belastung darstellt. Diese „Beziehungstraumata“ können sich dann in der Pflegebeziehung reaktivieren und die Bewältigung des Alltags erheblich erschweren. Die besonderen Belastungen dieser Personengruppe können weit besser verstanden werden, wenn man die äußere Bedrohung durch den Krieg, die problematischen familiären Beziehungserfahrungen und die Sozialisation im Nationalsozialismus in ihrem Zusammenwirken betrachtet. n Prof. Dr. Ilka Quindeau, Katrin Einert und Dr. phil. Nadine Teuber BAGSO-Nachrichten n 04/2012 © Foto: dundanim - Fotolia.com Titel – Kriegskinder Titel – Kriegskinder Entlastung durch Schreibtherapie: Das Projekt „Lebenstagebuch“ D as Behandlungsangebot richtet sich an Menschen über 65 Jahre, die momentan aufgrund ihrer traumatischen Kindheitserlebnisse während des Zweiten Weltkriegs bzw. kurz danach unter psychischen Langzeitfolgen leiden. Die Therapie vereint Komponenten, die sich als sehr wirksam in der Behandlung von posttraumatischen Störungen gezeigt haben. Im Vordergrund steht die biografische Aufarbeitung, in deren Zusammenhang das traumatische Erlebnis aus der Vergangenheit bearbeitet wird. Klient und Therapeut kommunizieren über das Internet, in Ausnahmefällen auch über den herkömmlichen Briefweg oder per Fax. Die Therapeuten folgen dabei einem wissenschaftlich fundierten Behandlungsprotokoll, das aus strukturierten Behandlungseinheiten besteht, die auf die Situation und die Möglichkeiten des Klienten eingehen und angepasst werden. Diese schreiben zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung und können so ihre Biografie und ihr Trauma in Begleitung eines Therapeuten verarbeiten. Die Behandlung dauert ca. sechs Wochen und ist für eine begrenzte Anzahl von Teilnehmern im Rahmen einer Studie möglich und kostenfrei. Anhand psychodiagnostischer Fragebögen werden die Effekte der Behandlung gemessen. Alle Daten werden anonymisiert, so dass keine Rückschlüsse auf die betreffende Person möglich sind. Die Studie wird vom Behandlungszentrum für Folteropfer unter der Leitung von Dr. Christine Knaevelsrud sowie von Dr. med. Philipp Kuwert von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im HELIOS Hanseklinikum Stralsund durchgeführt. Weitere Informationen unter www.lebenstagebuch.de n Kontakt: Dipl. Psych. Maria Böttche Tel.: 030 / 303 906 32 E-Mail: maria.boettche@ lebenstagebuch.de „Das grundlegende Gefühl der Sicherheit fehlte“ Lebenslange Folgen kriegsbedingter Vaterlosigkeit Etwa ein Viertel aller Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs Kinder oder Jugendliche waren, sind langfristig kriegsbedingt als Halbwaisen ohne Vater aufgewachsen. Ihre Väter sind im Krieg gefallen, ihren Kriegsverletzungen erlegen, in Gefangenschaft umgekommen oder unter bis heute ungeklärten Umständen verschollen. Die Zahl dürfte sich für Deutschland auf etwa 2,5 Millionen beziffern. In Europa hat es infolge des Zweiten Weltkriegs rund 20 Millionen Halbwaisen gegeben. D iese „vaterlosen Töchter und Söhne“ beginnen oft erst seit einigen Jahren, sich intensiv mit ihren nicht oder kaum gekannten Vätern und den Folgen ihres vaterlosen Aufwachsens für sich, ihre Partnerschaften und auch ihre eiBAGSO-Nachrichten n 04/2012 genen Kinder zu beschäftigen. Ihr Leben sei lange „mit Arbeit ausgefüllt“ gewesen, sagen sie. Sie hätten bislang keine Zeit gehabt, sich mit ihrer Kindheit und Jugend und mit daraus möglicherweise erwachsenden lebenslangen Prägungen zu befassen. Seit Kurzem allerdings begeben sie sich auf Spurensuche, versuchen, die Gräber ihrer Väter ausfindig zu machen, und trauern verspätet um ihre toten Väter, von denen sie sich als Kinder zumeist nicht haben verabschieden kön11 © Foto: privat Kriegerwitwe mit ihren Kindern nen. Außerdem überlegen sie sich, was sie ihren Kindern und Enkeln diesbezüglich mitteilen wollen. Väterlicher Halt und väterlichmännliche Orientierungen fehlten den „vaterlosen Töchtern und Söhnen“ oft, in der Kindheit, während des Heranwachsens oder ein Leben lang. Es habe sie ihr gesamtes bisheriges Leben ein grundlegendes Gefühl tiefer Unsicherheit begleitet, verbunden mit einer ebenfalls lebenslangen tiefen Sehnsucht Zur Person Prof. Dr. Barbara Stambolis lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn. Sie war zeitweise Mitsprecherin der Forschungsgruppe „Weltkriegs2Kinder“ und ist Autorin des 2012 erschienenen Buches „Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht“. In Vorbereitung ist ihr Buch: „Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema“. 12 nach väterlichem Halt, teilen viele Vaterlose mit. Sie glauben, mit ihrem Vater wäre ihr Leben anders verlaufen. Ihnen habe jemand gefehlt, der sie auf dem Weg ins Leben anders ermutigt und unterstützt hätte, als ihre Mütter das konnten. Eine der vielen Frauen, die ohne Vater aufwuchs, drückte es folgendermaßen aus: „Ja, den, glaube ich, hätte ich liebend gern zum Vater gehabt: einen Menschen, der mich trägt, wenn ich müde bin, mich an die Hand nimmt, wenn ich Angst verspüre, und einfach da ist, wenn ich ihn brauche.“ Manche derjenigen, die ihren Vater wenigstens kurz kennengelernt haben, während eines Fronturlaubs etwa, glauben sich zu erinnern, ihr Vater habe sie auf dem Arm oder an der Hand gehalten und ihnen „die Sterne gezeigt“. Es scheint aus der Rückschau kaum einen intensiveren Ausdruck eines kurzen kindlichen Glücks zu geben, hinter dem sich ein tiefer Schmerz verbirgt: Wenn sie mit einem Vater an der Seite hätten aufwachsen können, so eine Ahnung der Töchter und Söhne, hätte er ihnen nicht nur Sternbilder gedeutet, sondern „die Welt erklärt“. Entwicklungspsychologen beschreiben die Rolle des Vaters für das Heranwachsen eines Mädchens und auch eines Jungen in folgender Weise: Im Kleinkindalter hilft der Vater dem Kind, sich aus dem frühen symbiotischen Verhältnis zur Mutter zu lösen. Vaterlosen Kindern fehlt also das in einer entscheidenden kindlichen Entwicklungsstufe für den © Foto: Ignaz Böckenhoff, Bestand Landesmedienzentrum Münster Titel – Kriegskinder Gruß an den Vater weiteren Lebensweg bedeutsame Erlebnis des Vorhandenseins einer Mutter und eines Vaters. Auch wenn ihre Väter aus dem Krieg zurückgekehrt wären, so wären sie auch während des Heranwachsens ihrer Kinder wahrscheinlich keine „idealen“, d. h. zärtlich-liebevollen, Väter gewesen, gleichwohl hätten sie für die Entwicklung der Töchter und Söhne eine wichtige Rolle übernommen, indem sie die Mädchen „in ihrer weiblichen Identität“ bestätigt hätten. Diese Unterstützung in ihrer „männlichen Identität“ hat sicher auch vaterlosen Söhnen gefehlt, allerdings wohl in anderer Hinsicht, wie noch näher zu erläutern wäre (siehe Hinweise im Autorenporträt). Was sie gelernt haben, beherrschen vaterlose Töchter und Söhne bis heute: Zu ihren Stärken gehören Disziplin und Verlässlichkeit, Selbstständigkeit und Tatkraft, oft gepaart mit Strenge sich selbst gegenüber bzw. Nichtachtung von Überforderungs- und Erschöpfungsanzeichen nach dem Motto: „Sei nicht so zimperlich“. Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, fällt vielen von ihnen bis heute schwer. BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder Vaterlosen Töchtern und Söhnen ist während ihrer seit einigen Jahren erst intensiven Beschäftigung mit ihren Vätern nicht zuletzt deutlich geworden, dass der offene Umgang mit Gefühlen für sie ungewohnt ist. Dem Wunsch, mit ihren mittlerweile erwachsenen Kindern ins Gespräch zu kommen, lag bzw. liegt nicht zuletzt die Frage zugrunde, was sie möglicherweise un- oder halbbewusst – z. B. Ängste und Unsicherheiten aus ihrer Kindheit – weitergegeben haben könnten. Einer ganzen Reihe von Kriegskindern, Frauen wie Männern, gelingt es indes offenbar seit einigen Jahren, „Mitleid“ im Sinne von empathischem Mitgefühl für das „Kind von einst“ zuzulassen, ein nicht selten auch im Familiengespräch durchaus klärender und manchmal wohl geradezu befreiender Schritt. In einem Gespräch zwischen einem vaterlosen Sohn der Kriegsgeneration und seinem Sohn teilte Letzterer mit, die Beschäftigung mit der Kindheit seines Vaters habe bei ihm dazu geführt, sich in die „Bedürftigkeit“ seines alten Vaters stärker als zuvor einzufühlen. Er könne seinen Vater heute „in den Arm nehmen“, das habe dieser ja in seiner Kindheit vermissen müssen. Ein solches Beispiel ist sicher als Ermutigung zu verstehen, sich der eigenen kriegsbedingten Vaterlosigkeit und ihren Folgen „im Dialog der Generationen“ noch intensiver zuzuwenden. n Prof. Dr. Barbara Stambolis „Die Menschen sind auf der Suche nach ihrer Vollständigkeit.“ Seit 2004 veröffentlichen Sie regelmäßig Suchbitten auf Ihrer Internetseite. Wie oft wurde dieses Angebot bisher in Anspruch genommen? Die Suchbitten machen nur einen kleinen Teil unserer Arbeit aus. Da wir darüber keine Statistik erstellen und andererseits häufig auch keine Rückmeldungen erhalten, liegen uns keine Zahlen vor. Ich schätze, dass wir seit der Gründung des Vereins ca. 60 bis 80 Anfragen bekommen haben. Wer wendet sich zumeist an Sie: Menschen, die Verwandte suchen, oder richtet sich die Suche eher nach verschollenen Freunden und Kameraden? Die Suchbitten, die uns erreichen, beziehen sich fast ausschließlich auf die Suche nach Verwandten, BAGSO-Nachrichten n 04/2012 insbesondere Vätern und Geschwistern. Wie gesagt, wir führen keine Statistik und haben kaum positiven Rücklauf. Sobald jemand gefunden wurde, scheint das Interesse zu erlahmen und wir erhalten leider meistens keine entsprechende Benachrichtigung. Aber in den letzten Tagen haben wir wieder zwei Erfolgsmeldungen bekommen. Was bedeutet dieses Angebot für die Menschen, die es in Anspruch nehmen? Warum ist es ihnen nach so langer Zeit wichtig, jemanden zu finden bzw. Auskünfte über die Vermissten zu erhalten? Es besteht ein großes Bedürfnis, über verschwundene Väter und/ oder früh verstorbene Mütter Erkundigungen einzuziehen. Deutsche und ausländische Kinder, die aus Liebeskontakten zwischen den sogenannten Feinden entstanden sind, suchen immer wieder ihre Soldatenväter und Halbgeschwister. In den beteiligten Familien besteht ein eigenartiger Codex, nicht über diese Kinder zu sprechen. Bisweilen ist es nur ein Gefühl, dem die Kinder nachgehen, manchmal sind es auch leise Andeutungen 13 Titel – Kriegskinder oder jemand in der Familie hat aus Versehen etwas „ausgeplaudert“. Menschen, die nach ihren Angehörigen forschen, sind auf der Suche nach ihrer Vollständigkeit. Sie wünschen sich für ihren letzten Lebensabschnitt die Vervollkommnung der eigenen Historie. Es sind häufig Menschen, die unter der Unvollständigkeit ihrer Vergangenheit stark leiden. Da wir ja mit den sogenannten Kriegskindern und -enkeln sehr viel therapeutisch arbeiten, haben wir auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einen recht guten Überblick über die zerrissenen Familien. n Die Fragen stellte Ines Jonas. Der Verein kriegskind.de e.V. widmet sich der Diagnose, Behandlung und Beforschung kriegstraumatisierter Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, sowie deren Nachkommen. Er wendet sich aber auch an die Opfer späterer und aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen sowie totalitärer Unterdrückung. Der Vereinsgründung ging im April 2000 die Tagung „Kriegskinder – gestern und heute“ in der Evangelischen Akademie Bad Boll voraus. Im Tagungsverlauf wurde das Ausmaß seelischer und körperlicher Kriegsschäden auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar. Aus den Teilnehmenden bildete sich spontan eine Arbeitsgruppe, die es sich zur Aufgabe machte, an diesem Thema national und international zu arbeiten. Aus dieser Gruppe wurde später der Verein kriegskind.de e.V. Dr. med. Helga Spranger Kontakt: kriegskind.de e.V., Dr. med. Helga Spranger, Erste Vorsitzende Fritz-Reuter-Weg 17, 24229 Strande, kriegskinder@web.de, www.kriegskind.de Erzählen gegen das Vergessen © Foto: Jonas Zeitzeugen berichten vom Krieg und von der Zeit danach v.li: Edeltraud Wieneritsch, Eberhard Schimansky, Gisela Schmütz und Mechthild Haase I ch möchte die Menschen ermuntern, einfach nur ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel darüber, wie es sich für ein Kind anfühlt, das nicht weiß, ob die Mutter am Abend wieder nach Hause kommen wird, das ständig mit dieser Angst lebt, sagt Mechthild Haase von der 14 Caritas-Beratungs- und Koordinierungsstelle Ehrenamt im Kreis Ahrweiler. Solche Gefühle erlebte Gisela Schmütz während des Zweiten Weltkriegs. Die heute 72-Jährige hat nach 1945 in einem Auffanglager „unter schlimmsten hygienischen Bedingungen“ gelebt, „fünf Jahre Hunger ertragen“ und jeden Tag gefürchtet, nach dem Vater auch noch die Mutter zu verlieren. Sie ist eine von insgesamt vier Zeitzeugen, die Mechthild Haase für das Projekt „Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ gewinnen konnte. Mit ihnen geht sie in allgemeinbildende Schulen und Altenpflegeschulen, besucht Jugendgruppen und Integrationskurse für Migranten. Ihr Ziel ist es, erlebte Geschichte aus erster Hand zu vermitteln. „Es geht mir darum, dass die Zuhörenden über die abstrakten Historienfakten hinaus hören, was der Krieg mit den Menschen damals angerichtet hat, und dass sie Verständnis für die ehemaligen Kriegskinder entwickeln. Außerdem möchte ich, dass die Lebensgeschichten dieser Menschen eine Würdigung erfahren“, so Haase weiter. Viele von ihnen hätten sehr lange geschwiegen und ihre Erlebnisse tief in sich vergraben. „Die Kriegskinder von damals lebten ja auch in einer schwierigen Situation“, erklärt die Caritas-Mitarbeiterin, „denn sie waren Opfer im Täterdeutschland.“ BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder Edeltraud Wieneritsch, Jahrgang 1930, hat zum ersten Mal „richtig“ von ihren Kindheitserlebnissen beim Zeitzeugen-Projekt berichtet. Das war für sie auch der Anlass, erstmals nach dem Dokument zu suchen, mit dem sie im August 1945 aus dem „Arbeitslager“ Auschwitz entlassen wurde. Sie, die in Oberschlesien kaum etwas vom Krieg mitbekommen hatte, kam im Februar 1945 in das Lager, um u. a. die Kleider, die Zahnprothesen und Brillen der dort ermordeten Juden zu sortieren. „Damals“, sagt sie, „hatte ich keine Angst. Ich hatte überhaupt keine Gefühle.“ hätten ihn dazu gebracht – und schließlich habe er in einem Winterhalbjahr die Geschichte seiner Kindheit aufgeschrieben. Als er dann den Caritas-Aufruf zu einer Gesprächsreihe sah, die den Schulbesuchen vorausging, meldete er sich. Auch der 75-jährige Eberhard Schimansky hat mit seinen Kindern nie über seine Kriegserlebnisse gesprochen. Erst die Enkeltöchter Die Zeitzeugen-Berichte wirken. Die Realschülerinnen Lena Möller und Ellen Hecker sind sich einig: Durch die Schilderung der Seine Geschichten drehen sich um Flucht und Vertreibung. Durch sie will er den jungen Leuten heute vermitteln, wie es ist, wenn man plötzlich aus seinem Leben gerissen wird und kein Zuhause mehr hat. (Siehe dazu den Bericht auf den Seiten 23 und 24). persönlichen Schicksale sei bei ihnen viel mehr haften geblieben als im trockenen Geschichtsunterricht. „Man konnte spüren, wie es die Erzähler immer noch ergriffen macht. Das hat auch uns sehr berührt und wir haben später noch länger darüber gesprochen“, sagt die 16-jährige Lena Möller. Und ihre Mitschülerin Ellen ergänzt: „Wir wissen jetzt eher zu schätzen, was unsere Generation alles hat, dass wir regelmäßig zur Schule gehen können und immer Kleidung und Essen zur Verfügung haben.“ n (ij) Beratungsstelle- und Koordinierungsstelle Ehrenamt Caritasverband Rhein-Mosel-Ahr e.V. Mechthild Haase Tel.: 0 26 41 / 75 98 60 Meine verlorene Kindheit Zwei Jahre auf der Flucht Im Januar 1945 begann bei Eiseskälte der Leidenszug von Millionen Deutschen, die vor den vorrückenden sowjetischen Truppen aus den Ostgebieten flohen. Unter ihnen war der damals neunjährige Eberhard Schimansky. I ch bin 1936 in Kreuzberg in Oberschlesien zur Welt gekommen, war also drei Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Abgesehen vom Tod meines Vaters, der in Stalingrad fiel, war meine Kindheit während der Kriegsjahre unbeschwert: Ein Haus, ein großer Garten, die umliegenden Weizenfelder mit vielen Mohnblumen waren unsere Spielplätze. 1945 änderte sich alles. Meine Mutter sagte an einem bitterkalten Januarmorgen zu meinen drei Geschwistern und mir, dass BAGSO-Nachrichten n 04/2012 wir schnell unsere Sachen zusammenpacken und zum Bahnhof laufen sollten. Wir hatten zwei Stunden Zeit dazu. In drei Tagen seien wir wieder zu Hause – aber es wurde eine Reise ohne Wiederkehr. Ab diesem Zeitpunkt waren wir zwei Jahre unterwegs, zu Fuß, mit einem Handkarren. Wir hatten kein Ziel, außer zu überleben. Wir wussten morgens nicht, wo wir abends ankommen würden und wie es danach weitergehen würde. Die starke Hand unserer Mut- ter hat uns immer weitergeführt. Wir waren sehr arm, hatten nur das, was wir am Leib trugen – in doppelten Lagen. Das Einzige, was ich an persönlichen Dingen mitge- Zur Person Eberhard Schimansky lebt heute in Bad Neuenahr. 15 Titel – Kriegskinder nommen hatte, war ein Kistchen mit Zinnfiguren. In Görlitz habe ich die letzten verloren, danach hatte ich nichts Persönliches mehr. Hunger war unser ständiger Begleiter. Wir vier Geschwister konnten nicht einfach zu unserer Mutter sagen, dass wir Hunger haben. Wozu auch? Es gab ja nichts. Wenn die Mutter etwas Essbares hatte, dann wurde es geteilt. Ich erinnere mich daran, wie wir in Görlitz im Haus eines Bäckers untergebracht wurden. Nebenan wurde das Brot gebacken und ich habe immer den Geruch wahrgenommen, aber ich habe nichts von dem Brot bekommen. Immer wenn ich heute eine Bäckerei betrete und frisches Brot rieche, dann ist die Erinnerung daran wieder da. Die zwei Jahre auf der Flucht waren endlos und zugleich zeitlos. Es war eine verlorene Kindheit. Es gab keine Schule für uns und Freundschaften konnten wir auch nicht schließen, denn wir mussten 16 © Foto: Bundesarchiv In Plauen im Vogtland sind wir bei Bombenangriffen zweimal verschüttet worden, man hat uns nach Stunden wieder rausgeholt. Überhaupt war der Tod unser ständiger Begleiter. Als wir im Januar mit dem Zug unterwegs waren und umsteigen mussten, weil die Gleise defekt waren, haben wir gesehen, wie die Schwachen und Alten, die das alles nicht überstanden hatten, einfach am Bahndamm abgelegt wurden. Als Kind habe ich das alles nur mit großem Erstaunen erlebt. Angstgefühle kannte ich nicht. Von Flucht und Vertreibung waren Millionen Menschen betroffen: Es wird geschätzt, dass zwischen 1944 und 1948 circa 14 Millionen ihre Heimat verloren haben. ja weiterziehen. Schwäche konnte man sich nicht erlauben, man musste immer auf der Hut und wachsam sein, schon deshalb, um seine Familie nicht zu verlieren. Wir haben einmal auf irgendeinem Bahnhof gewartet, als meine Mutter plötzlich feststellte: „Oh Gott, da fehlt ja ein Kind! Rührt euch nicht von der Stelle und lasst euch nicht mitnehmen. Ich gehe jetzt euren Bruder suchen.“ Es waren Unmengen von Kindern ohne Eltern unterwegs, die z.T. einfach mitgenommen wurden. Gott sei Dank hat sie meinen Bruder wiedergefunden. haft. Es war ein kleines Bauerndorf – und in dem steht dann plötzlich eine Frau mit vier kleinen Kindern und die Familie heißt auch noch Schimansky. „Jetzt kommen die Polen“, hieß es da. „Was sollen wir denn mit denen?“ Wir wurden zum Bürgermeister auf den Hof bestellt und der musste sehen, wo er uns unterbringt. Dann musste eine Familie für uns ein Zimmer räumen. Willkommen waren wir nicht. Das war auch eine harte Zeit. Erst 1951 begann für mich wieder das Leben. Da waren wir dann endlich integriert und konnten anfangen, uns etwas zu erarbeiten. n Nach zwei Jahren kamen wir in Hessen an und wurden dort sess- Eberhard Schimansky BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder Aller Anfang ist schwer! Leben in Trümmern Anne Kern, Jahrgang 1926, hat die Vor- und Nachkriegszeit in ihrer Heimatstadt Halberstadt erlebt und erinnert sich in ihrem Bericht an die Arbeit der sogenannten Trümmerfrauen. I Die ehemaligen Straßen sahen aus wie Schneisen, die man durch die Stadt geschlagen hatte. Rechts und links große Trümmerberge, unter denen sicher noch Tote lagen. Nur unsere alte ehrwürdige FachwerkUnterstadt blieb zum Teil erhalten. Aber ein großer Verlust waren doch die wertvollen mittelalterlichen Gebäude, die ein Raub der Flammen wurden, zum Beispiel die beiden Märkte und das Rathaus. Jeder versuchte, ein einigermaßen dichtes Dach über den Kopf zu bekommen mit Blick auf den Herbst und Winter. Dies blieb meistens den Frauen überlassen, denn die Männer waren noch in der Kriegsgefangenschaft, manchmal noch über Jahre hinaus. Nicht daran zu denken, wie viele gefallen waren! Wer Glück hatte, besaß wenigstens noch einige heile Fensterscheiben, sonst wurde mit Pappe und BAGSO-Nachrichten n 04/2012 © Foto: Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen ch glaube, viele Menschen haben die Erinnerung an den schweren Anfang, die Wochen und Monate nach dem Kriegsende, verdrängt. Auch mich kostete es große Mühe, alles wieder ins Gedächtnis zu rufen. Teilweise war es sehr schmerzhaft, aber das Positive, Optimistische, drängt nach vielen Jahren doch in den Vordergrund. Ich möchte wiedergeben, wie ich es in meiner Heimatstadt Halberstadt erlebt und empfunden habe. Brettern alles zugenagelt. Bis das Gasnetz wieder in Ordnung war, musste auf den eisernen Öfen gekocht werden, nachher im Winter auch die einzige Wärmequelle. Es war ein komischer Anblick, wenn in Häuserwände Löcher geschlagen waren, und heraus ragte ein mächtig qualmendes Ofenrohr, da die Schornsteine ja meistens kaputt waren. Aber wir hatten einen tollen Großvater, Zimmermann und Tischler, Ende des 19. Jahrhunderts als wandernder Zimmermann in Europa auf der Walz gewesen. Er konnte noch ordentlich zupacken und das Werkzeug war auch gerettet. Bei allen Menschen stand zunächst das Wort „Essen“ im Vordergrund. Wir bekamen wohl Lebensmittelkarten, aber zum Leben zu wenig und zum Ster- ben zu viel. Die Karten wurden eingeteilt nach der Arbeit, die man verrichtete. Schwerstarbeiter bekamen logischerweise das meiste. Wütend werde ich, wenn ich mir die tägliche Lebensmittelration für Mütter ins Gedächtnis rufe: 250 Gramm Brot, 15 Gramm Nährmittel, 15 Gramm Zucker, sieben Gramm Fett und 15 Gramm Fleisch. Wenn sie nun mehrere kleine Kinder hatten und darum nicht arbeiten gehen konnten, in einem Zimmer hausten, Wäsche wuschen mit Ersatzseife und die wenigen Klamotten immer ausflickten, nur hungrige Mäuler vor Augen – dann Hut ab. Sie mussten mit der Kinderschar auf abgeernteten Feldern Ähren suchen oder Kartoffeln stoppeln und versuchen, Brennmaterial zu sammeln. Das gebräuchlichste Transportmittel war sowieso der Kinderwagen. 17 Mein größter Wunsch war damals: ein ganzes Brot für mich allein. War aber nicht zu erfüllen. Großmutter und Mutter kochten nicht, nein, es grenzte an Zauberei. Manchmal flossen auch Tränen bei Mutter, wenn nichts mehr da war. Jedenfalls gab es bei dieser Verpflegung keine Übergewichtigen, es gab keine Verstopfung und wenige Diabetiker oder Herz- und Kreislaufkranke. Dafür traten andere Krankheiten auf, wie Typhus oder Tbc. Es wurden Schulen und Gaststätten zu Krankenhäusern „umfunktioniert“. Mein Weg führte jeden Tag an so einer Schule vorbei. Um diese Zeit zu überstehen, mussten wir gesund bleiben, also etwas in den Magen kriegen. Mutter und Schwester suchten Bucheckern im Wald. Die waren federleicht und man musste sehr, sehr fleißig sein, um dann eine bestimmte Menge in Öl umtauschen zu können. Nur derjenige Arbeitsfähige bekam Lebensmittelkarten, der zusätzlich eine bestimmte Anzahl Steine klopfte, das heißt, Mauersteine aus Trümmerbergen mit einem Hammer vom alten Putz befreite. Die aufgeschichteten Steine wurden von einer Aufsichtsperson, natürlich einem Mann, nachgezählt und die Klopfer, meistens Frauen, bekamen eine Bescheinigung, dass sie ein Recht auf eine Lebensmittelkarte hatten. An die großen Trümmer- und Schuttberge wurden dann Frauen „angesetzt“, die legendären Trümmerfrauen. Sie hatten einen festen Arbeitsvertrag, klopften Steine, schippten unendlich viel Schutt in Loren und pla- © Foto: Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen Titel – Kriegskinder nierten große Flächen. Alles per Hand, es war Schwerstarbeit. n Abdruck der gekürzten Fassung mit freundlicher Genehmigung des Unabhängigen Frauenverbandes Landkreis Halberstadt e.V. (siehe Projekt und Internetseite „Leben und Arbeit der Trümmerfrauen in Halberstadt“: www.ufv-halberstadt.de/StartTruem). Weitere Informationen per E-Mail: ufv_halberstadt@web.de und Telefon: 03941 / 60 11 92 Not macht(e) erfinderisch! Während des Krieges und in der Zeit danach herrschte ein großer Mangel an alltäglichsten Gegenständen. Die Menschen waren gezwungen zu improvisieren und stellten aus alten, verbrauchten und zerstörten Dingen wieder einigermaßen Brauchbares her. Heidrun Gemähling hat sich bei den Zeitzeugen in ihrer Region dazu umgehört. A lte, ausgediente und abgetragene Damenstrümpfe wurden über den ganzen Arm gezogen und mit der Schere rundum in lange Streifen geschnitten, dann als Knäuel aufgewickelt. Mit einer dicken Häkelnadel konnte man anschließend Bettvorleger anfertigen, mit einigem Geschick sogar mit bunten Mustern. Wurden sie im Laufe der Zeit unansehnlich, wusch man sie und gebrauchte sie 18 noch als Matratzenschoner. Auch bei den damals gebräuchlichen Strohmatratzen musste jedes Jahr die Füllung erneuert werden und nicht selten stellte man fest, dass Mäuse dort Unterschlupf gefunden hatten. Die Bettwäsche wurde geflickt und geflickt, fein säuberlich, bis die Nähte anfingen zu reißen, und erst dann schnitt man daraus Putzlappen. Selbst genähte Kleider, die nicht immer so gelungen waren, wie man es sich vorgestellt hatte, trug man trotzdem ohne Murren, denn ein neues Kleid in den Kriegswirren war für jede Frau eine Freude und ein kleiner Lichtblick in der trostlosen Zeit. Wochentags, so erzählte mir eine alte Dame, trug man Holzschuhe und nur sonntags oder zu anderen Festlichkeiten Lederschuhe, die man bei Bedarf selbst besohlte. BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder Eine Müllabfuhr im heutigen Sinn gab es fast nicht und so wurde auch alles, was irgendwie brennbar war oder nur danach aussah, im Ofen verfeuert. Es zischte, stank und qualmte in allen Tönen und Gerüchen, aber es wurde warm und der Müll war beseitigt. te fachgerecht durch vorgebohrte Löcher in entsprechend geformte Holzbretter zog. Obendrauf kam ein Schutzholz, das oft noch bunt bemalt wurde, und fertig war ein Besen. Im Tausch gegen drei Pfund Zucker wechselte er anschließend den Besitzer. Wer beim Bäcker Brot kaufte, bekam einen schmalen Bogen Papier mit zum Einwickeln, vielleicht auch manchmal zum Schutz vor den entstehenden Löchern durch Kinderhand. Der Bogen wurde zu Hause natürlich nicht weggeworfen, sondern zum Einwickeln der Schulund Arbeitsbrote verwendet. Strickjacken, die zu klein geworden waren, verwandelte man in neue, indem man sie aufribbelte, die Wolle dann noch nass vom Waschen auf Besenstiele zum Aushängen und Trocknen spannte. So verzierten diese „Kunstobjekte“ manchen Haushalt und gaben dem Wohnen eine besondere Note von feuchtem Heidrun Gemähling Duft und Gemütlichkeit. Es kam auch vor, dass von einem Zur Person abgestürzten englischen Flugzeug Heidrun Gemähso mancherlei gebrauchsfähige ling lebt in NordUtensilien ihre Verwendung fanhorn und schreibt den, natürlich ohne Erlaubnis der gerne Gedichte Obrigkeit. So bekamen durch geund Geschichten, schickte Handwerkerhände Kochdie die Facetten töpfe wieder Henkel und Deckel des Lebens betreffen. Die 68-jährige gehört auch zum ihren Anfassknopf zurück. Auch Redaktionsteam der Heimatzeitung gefundene Granathülsen wurden „Der Grafschafter“. beim Klempner zu heiß begehrten Informationen über die Autorin Wärmflaschen umfunktioniert unter: www.lyrik-kriegundleben.de und oft im Tausch gegen Butter, Kontakt: info@lyrik-kriegundleben.de Speck, Eier eingesetzt. Handwerklich geschickte Männer stellten aus den Schwanzhaaren der Pferde Bürsten, Besen, Handfeger und Spinnjäger her. Vor dem Haus oder Hof wurden dafür die Rosshaare über Feuer in einem Waschkessel ausgekocht, wobei sich fürchterlicher Gestank entwickelte, anschließend wurden sie ausgekämmt, glattgestrichen und auf die gewünschte Länge zugeschnitten. Die Kinder mussten auch mithelfen und dem Vater die Borsten anreichen, der sie dann mit einer Pinzet- Aus Pferdedecken fertigte man Mäntel, Jacken und Hosen und färbte sie auch manchmal. Militärmäntel wurden komplett aufgetrennt, gewendet und neu gestaltet wieder zusammengenäht zum zivilen Gebrauch. Das Abwaschwasser vom täglichen Geschirr sammelte man im Eimer und tränkte damit das Vieh, damit das Wasser und jeglicher Rest von Nährstoffen nicht unnütz vergeudet wurde, denn Wasser musste jedes Mal vom Außenbrunnen geholt werden. n Man kann alles noch gebrauchen! E r rief mich an einem Sonntag an und war „geladen“. Er – 30 Jahre alt – wollte im Keller des elterlichen Hauses diverses Mobiliar unterstellen, fand diesen jedoch voll. Dort hatte sich sein Vater ausgebreitet. Der Sohn erklärte, endlich BAGSO-Nachrichten n 04/2012 einmal ausräumen zu müssen, und der Vater, ein sehr wohlhabender Mann, stand zunächst hilflos daneben. Erst als es in Richtung Abfalltonnen ging, fiel er seinem Sohn in den Arm und verlangte alles wieder zurück und an Ort und Stelle. Ich bekam Einzelheiten genannt: ein Eisenrohrstück, alte Zeitungen, alte Kleidungsstücke, Möbel jeglicher Größe und Stilart, uraltes Elektrozubehör… und alles konnte der Vater noch gebrauchen. In mir stieg ein Kichern auf und 19 Titel – Kriegskinder Großfamilie in arktischem Winter reichen. Nein, nein, ich kaufe keine mehr! Aber es fällt mir sehr schwer. Es könnte doch noch kälter kommen und die Heizung ausfallen. Wir Kriegskinder können „alles irgendwann noch mal gebrauchen“ (müssen). Wir, die wir in der Nachkriegszeit als Spielzeug nur über eine leere Konservenbüchse verfügten, jedes Kleidungsstück gewendet und mit abenteuerlichen Stoffresten verlängert bekamen, deren alte Pullover aufgeribbelt und mit weiteren missfarbenen Wollresten neu gestrickt wurden, die wir jedes leere Marmeladenglas sorgsam behandeln mussten – wir wissen noch heute, dass man alles noch gebrauchen kann. Im Notfall. Und der kommt! Irgendwann! Und wir sind dann gerüstet! Besser als die junge Generation!! Ja und dann die Vorräte! Die jährlich 60 – 70 Gläser selbst gekochte Marmelade, an die ich dann nicht rangehen mag (zu Hause gab es immer nur die, die schon Schimmel angesetzt hatte. Die „musste weg“.). Und der haltbare Glosterapfel, der im Oktober geputzt wird und mindestens bis Ostern reicht, weil ich ihn nur sparsam nutze (zu Hause gab es immer nur die, die schon erste Faulstellen aufwiesen. Die „mussten weg“). Bei jedem Spaziergang sammle ich zur Belustigung meiner Nachbarn trockene Zweige für den Kamin und trage sie heim. Das streckt den Kaminholzvorrat. © Foto: DramaSan - Fotolia.com ich fragte den Empörten nach dem Geburtsjahr seines Vaters. 1943! Ja, habe ich ihm gesagt, da kannst du nichts machen. Diesen Keller wirst du erst nach dem Tode deines Vaters nutzen können! maske und bemühte sich um Bundeswehrverpflegung. Ich stellte eines Tages fest, dass ich 12 kg Zucker in meinem Einkaufswagen hatte. Ein paar Kilogramm stellte ich schamhaft zurück. Aber als ich 12 Jahre später aus meiner Wohnung auszog, fand ich versteckt (!) ein Riesenarsenal an gebunkertem Speiseöl, Schokolade, Linsen, Reis, Erbsen, Kerzen, Streichhölzern … Als der Iran-Irak-Krieg ausbrach, geriet meine Kollegin, mit der ich ein Dienstzimmer teilte, in Panik. Sie war mein Jahrgang und hatte ihre ersten beiden Lebensjahre in Berliner Bunkern verbracht. Sie Immer habe ich einen Riesenkaufte Jodtabletten und eine Gas- vorrat Kerzen an genau festgelegten Plätzen, die Streichhölzer daneben – „… falls mal das Licht Zur Person ausfällt.“ Ich hebe jedweden engen, weiten, mittleren WollpullProf. Dr. Christine Swientek ist over auf (früher selbst gestrickt), Autorin mehrerer Bücher über das Älterwerden, denn er könnte mich mal wärmen u. a. „Letzter müssen. Oder Besucher. Oder um Ausweg SelbstSchutz Suchende. Nach wie vor mord. Was alte muss ich mich von jedem TextilMenschen in geschäft losreißen, das Wolldeden Tod treibt.“ cken anbietet. Meine Sammlung ist stattlich. Sie würde für eine 20 Ich weiß, wir haben keinen Krieg mehr (jedenfalls nicht in Deutschland). Ich weiß, dass es auch in drei Jahren noch Äpfel und Wolldecken geben wird (wirklich?) Aber als mir kürzlich eine Nachbarin beim (ein bisschen) Kelleraufräumen half, weil eine neue Waschmaschine angeliefert werden sollte, und sagte: „Nein, die alten Weck-Gläser kann man doch nicht wegtun, wer weiß, ob wir die nicht noch mal gebrauchen müssen“, war ich glücklich! Für viele Tage! Sie hatte meine arme Kinderseele erkannt! Prof. Dr. Christine Swientek BAGSO-Nachrichten n 04/2012 Titel – Kriegskinder Die Kinder der Kriegskinder Das Titelthema Kriegskinder in den BAGSO-Nachrichten 4/2012 hat für große Resonanz unter unseren Leserinnen und Lesern gesorgt. Doch es waren nicht nur die ehemaligen Kriegskinder selbst, die sich sehr dafür interessierten, sondern auch deren Kinder. Über diese „Kriegsenkel“ hat die Kölner Journalistin Sabine Bode ein Buch geschrieben. Ines Jonas hat mit ihr gesprochen. Warum ein Buch über Kriegsenkel? Wie präsent ist denn heute – fast 68 Jahre nach Kriegsende – der Zweite Weltkrieg noch? Ich behaupte, präsenter denn je. Denn je länger das Kriegsende zurückliegt, umso mehr beschäftigen sich die Leute mit der Zeit davor. Zwar nicht so sehr mit der Frage, was damals geschah, denn das ist weitestgehend geklärt, aber über die Auswirkungen auf die Menschen weiß man immer noch wenig. Bisher ist es eine Minderheit, die sich damit befasst, vor allem im Kontext mit der eigenen Familiengeschichte. Aber diese Minderheit wächst, und zwar ziemlich schnell. Als mein Buch über die Kriegskinder „Die vergessene Generation“ als Taschenbuch erschien, meldeten sich deren Kinder bei mir, und zwar vehement. Sie sagten: ‚Wir haben auch etwas erlebt. Nichts offensichtlich Schlimmes zwar, aber wir haben auch Probleme – vor allem Probleme mit unseren Eltern.‘ Der erste Teil ihrer E-Mails lautete fast immer: ‚Vielen Dank, dass Sie mir einen Zugang zu meinen Eltern ermöglicht haben‘, und im zweiten Teil las ich: ‚Es ist nicht leicht, Kind solcher Eltern zu sein.‘ BAGSO-Nachrichten n 02/2013 Wir sprechen jetzt von den Jahrgängen 1960 bis 1975, also von Menschen, die heute zwischen Ende dreißig und Anfang fünfzig sind… …und die immer noch große Probleme mit ihren Eltern haben. Außerdem haben viele von ihnen mit einem verunsicherten Lebensgefühl zu kämpfen, von dem sie bisher nicht wussten, woher das kam. Und so war es für sie erleichternd zu erkennen, dass hier offenbar ein altersgruppenspezifisches Problem vorliegt. Und das alles hat etwas mit dem Krieg zu tun? Ja. Es beginnt bei den Eltern der Kriegsenkel und dem, was jenen widerfahren ist. Wir wissen heute aus der Entwicklungspsychologie, dass die ersten Erfahrungen im Leben die prägendsten sind. Zwar haben die Kriegskinder, die in den 1940er Jahren geboren wurden, kaum Erinnerungen an die Kriegsjahre. Von ihren Eltern haben sie oft gehört: ‚Du warst ja klein, hast immer nur in deinem Körbchen gelegen, da hast du nicht viel mitbekommen.‘ Aber natürlich haben diese Kinder etwas mitbekommen – auf einer ganz subtilen Ebene. Den in den 1930er Jahren Gebo- renen wurde gesagt: ‚Sei froh, dass du lebst, vergiss alles, schau nach vorn.‘ Daran haben sie sich gehalten und das war auch die richtige Strategie. Denn es gab damals keine Hilfe für traumatisierte Kinder. Und es gab auch nur wenige unbelastete Eltern und Erwachsene, die diesen Kindern in irgendeiner Form hätten beistehen können. Die Kriegskinder haben von ihren Eltern nach dem Krieg immer wieder gehört, dass alles in Ordnung sei. Das muss man auch verstehen. Wenn die schlimme Zeit vorbei ist, dann will man nicht mehr daran denken, dann freut man sich, wenn die Kinder gute Schulnoten heimbringen und alles scheinbar gut ist. Die Kriegskinder mussten also alles mit sich selbst ausmachen, was für Kinder und Jugendliche nur schwer möglich ist, und das hat sicher Spuren in deren Seele hinterlassen. Doch inwiefern haben sich deren seelische Verletzungen und Traumata auf ihre Kinder ausgewirkt bzw. übertragen? Darüber habe ich lange nachgedacht. Die Antwort liegt in der Bindungsforschung, die aus der Psychoanalyse entstanden ist. Eltern, die sich von traumatischen Erlebnissen nicht erholt haben – 21 Titel – Kriegskinder das ist bei Traumata in der Kindheit häufig der Fall –, können ihren Kindern nicht die Stabilität geben, die diese brauchen. Das Allertypischste für solche Eltern ist, dass sie ein Kind nicht beruhigen können. Ein unbelasteter Vater oder eine unbelastete Mutter nimmt ein Kind, das schreit, auf den Arm und hält es – selbst wenn es lange schreit –, bis es ruhig ist. So entsteht Vertrauen ins Leben. Belastete Eltern können das nicht, denn das Schreien des Säuglings weckt ihre eigene Hilflosigkeit, die sie ja eigentlich gut weggepackt zu haben glaubten. Sie halten das Schreien nicht aus und unterbrechen den Kontakt. Das klingt jetzt erst mal nicht so schlimm, denn sie tun ja ihren Kindern keine offensichtliche Gewalt an. Sie ziehen „nur“ innerlich ein Rollo runter – was aber für Babys eine Bedrohung ihrer Existenz darstellt. Durch diesen innerlichen Rückzug ihrer Eltern haben sie nicht die Stabilität bekommen, die man für eine psychische Gesundheit braucht. Das heißt jetzt nicht, dass die Angehörigen der 1960er bis 75er Jahrgänge reihenweise krank sind, aber eine große Zahl aus dieser Generation ist eben beeinträchtigt. Wie wirkt sich das aus? man, wenn man Kinder in die sind unglaubliche Netzwerker. Sie Welt setzt. tun sich zusammen, auch im Internet (www.kriegsenkel.de), und Viele bleiben zeitlebens in einer tauschen sich aus. Dieser Ausunguten Fürsorge für die Eltern tausch ist das Wichtigste, was es verstrickt – ein frühkindliches gibt. Sie stellen fest, dass sie nicht Muster: ‚Ich bin dafür zuständig, allein sind. Das, was im Kollektiv dass Mama glücklich ist. Ich muss verursacht worden ist, kann man dafür sorgen, dass es Papa gut nur in Gemeinschaft erkennen geht.‘ Von solchen Gedanken kön- und angehen. nen sie sich kaum lösen. Sie sind einfach nicht richtig abgenabelt. Meine weitere Empfehlung ist, in der Familiengeschichte genau Auf der anderen Seite haben sie hinzuschauen, ob und wo es Versich bisher immer gesagt: ‚Ich strickungen mit den Nazis gab. habe es doch eigentlich gut gehabt, Hitlerdeutschland war ja eine Gemeine Eltern haben alles für mich fälligkeitsdiktatur. Man wurde getan.‘ Haben sie auch. Für die ziemlich belohnt und bevorzugt, materiellen Bedürfnisse ist wirk- wenn man da mitgeschwommen lich ausreichend gesorgt worden. ist. Und so haben viele vom jüNur etwas Entscheidendes hat ge- dischen Eigentum profitiert, wofehlt, die emotionale Wärme. Da- rüber aber eisern geschwiegen durch ist ihnen nicht das Gefühl wird. Ich will niemanden anpranvermittelt worden, dass man dem gern, ich will nur dieses ‚Wir hatLeben vertrauen kann. Weil das ten damit nichts zu tun‘ entlarven. aber nicht so offensichtlich ist, hat Wenn man diese Familienlegenes bei vielen auch lange gedauert, den nicht auflöst, bekommt man bis sie begriffen haben, dass ihr El- keine Ruhe. Es geht nicht darum, ternhaus problematisch war. dass die Kriegsenkel ihre Eltern und Großeltern verdammen, sonErheben Sie damit nicht einen dern sie sollen sagen können: ‚Gut, Vorwurf gegen die Kriegskinder dass ich das jetzt weiß.‘ n und ihre emotionale Unfähigkeit als Eltern? Zur Person Nein, denn sie haben alles getan, Sabine Bode was sie tun konnten. ist Autorin der BüWas machen die Kriegsenkel mit der Erkenntnis, dass die emotionale Sprachlosigkeit im Elternhaus an vielen ihrer Probleme schuld ist? Was raten Sie ihnen? Nach meinen Schätzungen ist ein Drittel bindungsunsicher. Viele von denjenigen, die sich als Kriegsenkel definieren, sind auch kinderlos geblieben. Da haben Sie den Hinweis auf mangelndes Vertrau- Viele sind regelrechte Kriegsenkelen ins Leben, denn das braucht Aktivisten geworden. Diese Leute 22 cher „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ und „Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation“ sowie anderer Bücher, z. B. über Trauer. Informationen: www.sabine-bode-koeln.de BAGSO-Nachrichten n 02/2013 Titel – Kriegskinder Die 112 BAGSO Verbände (Stand: August 2014) Ausführliche Informationen über die Verbände finden Sie unter www.bagso.de 1. Alevitische Gemeinde Deutschland 2. Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (AWO) 3. Arbeitsgemeinschaft Evangelische Krankenhaus Hilfe e.V. (eKH) 4. Arbeitsgemeinschaft SPD 60 plus – Referat Generationenpolitik 5. Bayerisches SeniorenNetzForum (BSNF) e.V. 6. BDZ - Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft – Ständiger Ausschuss „BDZ-Senioren“ 7. BegegnungsCentrum Haus im Park der Körber-Stiftung 8. Betreuungswerk Post Postbank Telekom (BeW) 9. Bund Deutscher Amateurtheater e.V. – Bundesgeschäftsstelle (BDAT) 10. Bund Deutscher Forstleute (BDF) – Seniorenvertretung des BDF 11. Bund Deutscher Kriminalbeamter (bdk) 12. Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesseniorenvertretungen e.V. (BAG LSV) 13. Bundesarbeitsgemeinschaft Senioren der Partei DIE LINKE 14. Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros e.V. (BaS) 15. Bundesarbeitsgemeinschaft seniorTainerin (BAG sT) 16. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung e.V. – Verein zur Förderung des selbständigen Wohnens älterer und behinderter Menschen 17. Bundesarbeitskreis ARBEIT UND LEBEN – Arbeitskreis für die Bundesrepublik Deutschland e.V. 18. Bundesforum Katholische Seniorenarbeit (BfKS) 19. Bundesinteressenvertretung der Nutzerinnen und Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter und bei Behinderung e.V. (BIVA) 20. Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose e.V. (BfO) 21. Bundesverband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung e.V. (KKV) 22. Bundesverband Gedächtnistraining e.V. (BVGT) 23. Bundesverband Geriatrie 24. Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. 25. Bundesverband Seniorentanz e.V. (BVST) 26. Bundesverband Seniorpartner in School e.V. (SiS) 27. Dachverband der Gerontologischen und Geriatrischen Gesellschaften Deutschlands e.V. (dvgg) 28. dbb beamtenbund und tarifunion 29. DENISS e.V. Deutsches Netzwerk der Interessen vertretungen von Seniorenstudierenden BAGSO-Nachrichten n 04/2012 30. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. – Selbsthilfe Demenz 31. Deutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung e.V. (DEAE) 32. Deutsche Gesellschaft für AlterszahnMedizin e.V. (DGAZ) 33. Deutsche Gesellschaft für Hauswirtschaft e.V. (dgh) 34. Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium e.V. (DGWF) – Sektion „Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft liche Weiterbildung für ältere Erwachsene (BAG WiWA)“ 35. Deutsche Landsenioren e.V. (DLS) 36. Deutsche PsychotherapeutenVereinigung e.V. (DPtV) 37. Deutsche Seniorenpresse Arbeitsgemeinschaft e.V. (dsp) 38. Deutsche Steuer-Gewerkschaft – Landesverband Nordrhein-Westfalen (DSTG) 39. Deutscher Akademikerinnenbund e.V. (DAB) 40. Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) 41. Deutscher Bridge-Verband e.V. (DBV) 42. Deutscher BundeswehrVerband e.V. (DBwV) 43. Deutscher Evangelischer Frauenbund e.V. (DEF) 44. Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP) 45. Deutscher Familienverband (DFV) 46. Deutscher Frauenrat (DF) 47. Deutscher Guttempler-Orden (I.O.G.T.) e.V. 48. Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) 49. Deutscher Schwerhörigenbund e.V. (DSB) 50. Deutscher Senioren Ring e.V. (DSR) 51. Deutscher Turner-Bund (DTB) 52. Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) 53. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (dv) 54. Deutsches Sozialwerk e.V. (DSW) 55. DIE GRÜNEN ALTEN (GA) 56. DPolG Bundespolizeigewerkschaft 57. Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) 58. EURAG-Deutschland Sektion im Bund und der älteren Generation Europas 59. Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in der EKD (EAfA) 60. Evangelisches Seniorenwerk – Bundesverband für Frauen und Männer im Ruhestand e.V. (ESW) 23 61. Familienbund der Katholiken Bundesverband e.V. 62. Forschungsinstitut Geragogik e.V. (FoGera) 63. FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e.V., Bundesvereinigung (FGW) 64. Generationenbrücke Deutschland 65. Gesellschaft für Gehirntraining e.V. (GfG) 66. Gesellschaft für Prävention e.V. – gesund älter werden 67. Gewerkschaft der Polizei (GdP)-Seniorengruppe (Bund) 68. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – BundesSeniorenAusschuss (GEW) 69. Greenpeace e.V. Team50plus 70. Hartmannbund – Verband der Ärzte Deutschlands e.V. – Ausschuss für Altersfragen der Medizin des Hartmannbundes 71. HelpAge Deutschland e.V. – Aktion alte Menschen weltweit (HAD) 72. IG Metall 73. Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) 74. Internationaler Bauorden – Deutscher Zweig e.V. – Verein „Senioren im Bauorden“ (IBO) 75. Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands e.V. (KAB) 76. Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (KBE) 77. Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands – Bundesverband e.V. (kfd) 78. Katholischer Deutscher Frauenbund e.V. (KDFB) 79. Kneipp-Bund e.V. 80. Kolpingwerk Deutschland gemeinnützige GmbH 81. komba gewerkschaft – Gewerkschaft für den Kommunal- und Landesdienst 82. Kommunikationsgewerkschaft DPV (DPVKOM) 83. KWA Kuratorium Wohnen im Alter gemeinnützige AG 84. Lange Aktiv Bleiben – Lebensabend-Bewegung (LAB) 85. Liberale Senioren LiS – Bundesverband 86. LIGA für Aeltere e.V. 87. Memory Liga e.V. – Liga für Prägeriatrie 88. MISEREOR – Aktionskreis „Eine-Welt-Arbeit im Dritten Lebensalter“ 89. NATUR UND MEDIZIN e.V. – Fördergemeinschaft der Karl und Veronica Carstens-Stiftung 90. NaturFreunde Deutschlands e.V. – Verband für Umweltschutz, sanften Tourismus, Sport und Kultur 91. NAV-Virchow-Bund – Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.V. 92. Netzwerk-Osteoporose e.V. – Organisation für Patienten-Kompetenz 93. Projekt 50 Bundesverband e.V. – Verein zur Förderung brachliegender Fähigkeiten 94. Senior Experten Service – Stiftung der Deutschen Wirtschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (SES) 95. Senioren-Lernen-Online UG (SLO) 96. Senioren-Union der CDU Deutschlands 97. Senioren-Union der CSU 98. Seniorenvereinigung des Christlichen Jugenddorf werkes Deutschlands e.V. (CJD) 99. Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD) 100. Sozialverband VdK Deutschland e.V. 101. Sozialwerk Berlin e.V. 102. Unionhilfswerk Landesverband Berlin e.V. 103. Verband der Beamten der Bundeswehr e.V. (VBB) 104. Verband Wohneigentum e.V. 105. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen 106. Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) 107. Virtuelles und reales Lern- und Kompetenz-Netzwerk älterer Erwachsener (ViLE) e.V. 108. Volkssolidarität Bundesverband e.V. (VS) 109. VRFF Die Mediengewerkschaft 110. wir pflegen – Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland e.V. 111. wohnen im eigentum – die wohneigentümer e.V. 112. Zwischen Arbeit und Ruhestand – ZWAR e.V. Auf vielfachen Wunsch haben wir das Leitthema der BAGSO-Nachrichten 04/2012 in einer Auflage von 2.500 Stück nachgedruckt. Impressum BAGSO-Nachrichten Zeitschrift für Aktive in Seniorenarbeit und Seniorenpolitik Redaktion Dr. Guido Klumpp, Geschäftsführer (V.i.S.d.P.) Ursula Lenz, Pressereferentin Ines Jonas, Dipl.-Päd./Journalistin Herausgeber Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) Bonngasse 10, 53111 Bonn Tel.: 02 28 / 24 99 93 0 Fax: 02 28 / 24 99 93 20 E-Mail: kontakt@bagso.de www.bagso.de Korrektorat Helga Vieth Layout Mediengestaltung Digital und Print Nadine Valeska Schwarz Köslinstraße 40 53123 Bonn www.nadine-schwarz.de