Relevanz von (Inter-)kulturalität - interculture journal: Online

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Relevanz von (Inter-)kulturalität - interculture journal: Online
jahr
2012
jahrgang
11
ausgabe
19
interculture
j ourna l
herausgeber
jürgen bolten
stefanie rathje
url
interculture-journal.com
Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien
Relevanz von
(Inter-)kulturalität:
Erfahrungen und
Prognosen
Relevance of (Inter-)culturality:
Experiences and prognoses
Peter James Witchalls
Is national culture still relevant?
Ist das Konzept von
Nationalkultur noch zeitgemäß?
Hang Lin
Die Lehren des Meisters:
Konfuzius und die chinesisch kulturelle
Identität konfuzianischer Prägung
Teachings of the Master:
Confucius and the Chinese Cultural Identity
with Confucian Characteristics
Aladin El-Mafaalani
Migrations- und ungleichheitsbedingte
Missverständnisse in der Schule
Misunderstandings at school in the
context of migration and social inequality
Manfred Ertl
So nah und doch so fern –
Fremdheitserfahrungen deutscher
Migranten in Frankreich
From proximity to distance – experiences of
strangeness by German immigrants in France
Petra-Stefanie Vogler
Intuition als Metafähigkeit
Interkulturellen Managements –
zum Selbstverständnis Interkultureller Manager
Intuition as meta skill in Intercultural
Management – on the self-conception of
Intercultural Managers
herausgeber
jürgen bolten (jena)
stefanie rathje (berlin)
wissenschaftlicher beirat
rüdiger ahrens (würzburg)
manfred bayer (danzig)
klaus p. hansen (passau)
jürgen henze (berlin)
bernd müller-jacquier (bayreuth)
alois moosmüller (münchen)
alexander thomas (regensburg)
chefredaktion und web-realisierung
mario schulz
editing
diana krieg
kontakt
fachgebiet interkulturelle
wirtschaftskommunikation (iwk)
universität jena
ernst-abbe-platz 8
07743 jena
redaktion@interculture-journal.com
issn
1610-7217
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www.interculture-journal.com
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i n ha l t
content
Vorwort der Herausgeber
Editorial
7
Stefanie Rathje, Jürgen Bolten
Vorwort der Herausgeber
Editorial
Artikel
Articles
11
Peter James Witchalls
Is national culture still relevant?
Ist das Konzept von Nationalkultur noch
zeitgemäß?
21
Hang Lin
Die Lehren des Meisters:
Konfuzius und die chinesisch kulturelle
Identität konfuzianischer Prägung
Teachings of the Master: Confucius and the
Chinese Cultural Identity with Confucian
Characteristics
33
Aladin El-Mafaalani
Migrations- und ungleichheitsbedingte
Missverständnisse in der Schule
Misunderstandings at school in the
context of migration and social inequality
43
Manfred Ertl
So nah und doch so fern –
Fremdheitserfahrungen deutscher
Migranten in Frankreich
From proximity to distance – experiences of
strangeness by German immigrants in France
67
Petra-Stefanie Vogler
Intuition als Metafähigkeit
Interkulturellen Managements –
zum Selbstverständnis Interkultureller
Manager
Intuition as meta skill in Intercultural
Management – on the self-conception of
Intercultural Managers
i n ha l t
Rezensionen
Reviews
content
93
Olga Sacharowa
97
Linda Schwarzl
Braunwarth, Esther (2011): „Interkulturelle
Kooperation in Deutschland am Beispiel
der Gesellschaften für christlich-jüdische
Zusammenarbeit“
Kong, Jieting (2012): „Survival Kit für
Chinesen in Deutschland“
101
Alexandra Stang
105
Stefan Strohschneider
111
Sara Dirnagl
Schumann, Adelheid (2012): „Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur
Integration internationaler Studierender
und Förderung Interkultureller Kompetenz“
Genkova, Petia (2012): „Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“
Sezgin, Hilal (Hg.) (2011): „Deutschland
erfindet sich neu“ und
Stemmler, Susanne (Hg.) (2011):„Multikultur 2.0“
6
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Vorwort der
Herausgeber
Editorial
Stefanie Rathje
Professorin für Unternehmensführung und Kommunikation, Hochschule für Technik und Wirtschaft
Berlin (HTW)
Jürgen Bolten
Professor für Interkulturelle
Wirtschaftskommunikation an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Vorwort der Herausgeber
Die aktuelle Ausgabe von interculture
j ourna l beschäftigt sich mit der Frage
nach der Relevanz von interkulturellen
Fragestellungen in der heutigen Gesellschaft. Die Autoren dieser Ausgabe
beschreiben hierzu vielfältige Erfahrungen und geben zugleich Prognosen zur
zukünftigen Bedeutung des Konzepts
von Kulturalität bzw. Interkulturalität.
Die Frage nach der Relevanz von Kulturalität zwingt auch heute noch unweigerlich dazu, in diesem Zusammenhang
über die Rolle von Nationalkulturen
nachzudenken. Diesem Thema widmet
sich der erste Artikel: Peter Witchalls
untersucht in seinem einleitenden Beitrag „Is national culture still relevant?“,
ob die Kategorisierung Nationalkultur
bei der Interaktionsanalyse von Mitgliedern verschiedener Nationalstaaten
noch zeitgemäß ist. Hierzu analysiert
er verschiedene soziale Systeme und
Institutionen, die zur Aufrechterhaltung
eines Konzepts von Nationalkultur
beitragen können.
Hang Lin beschreibt in seinem Artikel
„Die Lehren des Meisters: Konfuzius
und die chinesisch kulturelle Identität
konfuzianischer Prägung“ die Bedeutung des Konfuzianismus für das Verständnis Chinas vor dem Hintergrund
kontinuierlicher westlicher Einflüsse.
Manfred Ertl untersucht in seinem Beitrag „So nah und doch so fern – Fremdheitserfahrungen deutscher Migranten
in Frankreich“ die Berichte deutscher
Auswanderer in Frankreich. Er geht
dabei im Besonderen der Frage nach,
welche Rolle eine Herkunfskultur für
die eigene persönliche Entwicklung in
der „Fremde“ spielt.
Anhand eines Fallbeispiels aus dem
deutschen Schulbereich analyisert
Aladin El-Mafaalani in seinem Beitrag
Migrations- und ungleichbedingte
Missverständnisse im deutschen Schulsystem. Er geht dabei auf verschiedene
Erziehungslogiken ein und untersucht
deren Wirkung auf die Schüler.
Petra Vogler geht im letzten Beitrag
„Intuition als Metafähigkeit Interkulturellen Managements – zum Selbstverständnis Interkultureller Manager“ der
Frage nach der Relevanz von Interkulturalität im Managementbereich
nach. Sie beschreibt die Interkulturelle
Mangementkompetenz als strategische
Handlungskompetenz in internationalen Unternehmenssituationen. Dabei
legt sie einen besonderen Schwerpunkt
auf das Konzept der Intuition als Metafähigkeit.
Ergänzt wird die aktuelle Ausgabe
durch eine Reihe von Rezensionen
aktueller Bücher mit interkulturellem
Themenfokus.
7
Olga Sacharowa rezensiert das Buch
von Esther Braunwarth „Interkulturelle
Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlichjüdische Zusammenarbeit“.
Linda Schwarzl setzt sich mit dem Buch
„Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“ von Jieting
Kong auseinander.
Alexandra Stang widmet sich dem Buch
„Interkulturelle Kommunikation in der
Hochschule. Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz“ von Adelheid
Schumann, Stefan Strohschneider setzt
sich mit dem Band „Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“ von Petia Genkova auseinander
und Sara Dirnagl betrachtet die beiden
Veröffentlichungen „Deutschland
erfindet sich neu“, herausgegeben von
Hilal Sezgin, und „Multikultur 2.0“ von
Susanne Stemmler.
Die Herausgeber bedanken sich an
dieser Stelle bei allen Autorinnen und
Autoren und freuen sich auf zahlreiche
weitere Beiträge für zukünftige Ausgaben des interculture j ourna l .
Stefanie Rathje (Berlin) und
Jürgen Bolten (Jena) im Dezember 2012
8
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Editorial
The current issue of interculture journal
tackles the tricky question of relevance
of intercultural topics for society. Our
authors gather multifacted experiences
and lay out prospects concerning the
future meaning of concepts of culturality and interculturality.
Dealing with the question of significance of culturality today inevitably
evokes rethinking the role of national
cultures - the first article‘s central topic:
In “Is national culture still relevant?“,
Peter Witchalls investigates whether
national culture as a category is still
adequate in the interaction analysis
of members stemming from different
countries and examines different social
systems and institutions that might
maintain the notion of concept of national culture.
In his article “Teaching of the Master:
Confucius and the Chinese Cultural
Identity with Confucian Characteristics“, Hang Lin describes the importance of confucianism for understanding China‘s development while taking
into account continuous Western
influences.
The paper “From proximity to distance
- experiences of strangeness by German
immigrants in France“ by Manfred Ertl
analyzes reports of German emigrants
in France to find out how important
the notion of one‘s birth culture proves
to be for one‘s personal development
abroad.
This issus is accompanied by a number
of reviews of current publications with
an intercultural focus.
Olga Sacharowa presents her view on
the book “Interkulturelle Kooperation
in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ by Esther Braunwarth.
Linda Schwarzl reviews the publication
“Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“ by Jieting
Kong. Alexandra Stang provides a writeup of the book “Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur
Integration internationaler Studierender
und Förderung Interkultureller Kompetenz“ by Adelheid Schumann.
Stefan Strohschneider reviews the book
“Kulturvergleichende Psychologie: Ein
Forschungsleitfaden“ by Petia Genkova
and Sara Dirnagl takes a close look at
the two publications “Deutschland
erfindet sich neu“ edited by Hilal Sezgin
and “Multikultur 2.0“ by Susanne
Stemmler.
The editors would like to thank all
authors for their contributions to this issue and strongly encourage new authors
to submit their manuscripts for future
publication in interculture j o urna l .
Stefanie Rathje (Berlin) and
Jürgen Bolten (Jena), December 2012
Based on a case study from the German
school system, Aladin El-Mafaalani
examines in his article typical misunderstandings stemming from migration or
other discriminatory scenarios. He takes
a look at differing education concepts
and analyzes their influence on the
students.
Petra Vogler‘s contribution explores the
question of relevance of interculturality
in the are of management. Describing
intercultural managerial competence as
a strategic action competence in international settings, she puts a focus on the
idea of intuition as a relevant meta-skill.
9
10
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Is national
culture still relevant?
Ist das Konzept von Nationalkultur noch zeitgemäß?
Peter James Witchalls
Abstract (English)
Dr., Dozent für Wirtschaftsenglisch und Interkulturelle
Kommunikation an der Universität Hamburg
With constant claims that we now live in a borderless world, where nation states are
no longer relevant against the backdrop of convenient travel, the activities of multinational corporations and networking possibilities such as facebook and co., this article
asks whether using the category of national culture in order to analyse interaction
between members of differing nation states still makes sense. In order to do this, the
article looks at some of the social systems and institutions behind the maintenance of
culture and argues that although national culture is becoming somewhat less important as a method of categorising culture and is one of many, there are still some basic
reasons why the culture maintained by nation states may be more stable than many
would have us believe.
Keywords: Nation, culture, globalization, network, intercultural
Abstract (Deutsch)
Seit langem wird behauptet, dass nationale Grenzen bedeutungslos geworden sind
angesichts der zunehmenden Reisemöglichkeiten, der Aktivitäten von multinationalen Unternehmen und der neuen Vernetzungsmöglichkeiten, die Facebook und Co.
bieten. Dieser Artikel geht der Frage nach, ob die Kategorisierung Nationalkultur bei
der Interaktionsanalyse von Mitgliedern verschiedener Nationalstaaten noch zeitgemäß ist. Um die Frage zu beantworten werden verschiedene soziale Systeme und
Institutionen betrachtet, die zur Aufrechterhaltung einer Kultur beitragen. Obwohl
Nationalstaaten immer mehr an Bedeutung verloren haben, argumentiert dieser Artikel, dass es immer noch einige grundlegende Gründe gibt, die dafür sprechen, dass
die Idee von Kulturen als Nationen resistenter sein wird als viele vermuten.
Stichworte: Nation, Kultur, Globalisierung, Netzwerk, interkulturell
11
1. Introduction
Continuing globalisation and new
ways of interacting such as online social
networking mean that people today face
an ever more diverse choice of affiliation
and cultural membership. Social and
professional networking platforms such
as Facebook and Xing, actively encourage the assignment of their users to specific, standardised and multiple groups.
We might therefore express our affiliation to any number of sub-cultures,
ranging from a loose alignment with our
liking a particular object, place, person
or activity to strong affiliations with the
involvement of, for example, political
activities that might define much of an
individual’s life. In fact, it is now often
asserted that many individuals possess “multiple identities“ (e. g. Welsch
2009). With this, the subject of intercultural communication is facing a new
challenge: Rather than the traditional
idea that members of one national
culture communicate with members of a
foreign culture in the sense of hermetic,
geographical, cultural units, intercultural communication in a globalised
world is said to involve the crossing over
and merging of many aspects of culture,
thus creating a „transcultural“ world
(Welsch 2009). We are therefore faced
with the question: How can we define
and categorise the cultures that make up
people’s lives? To answer this we must
of course address the nature of culture
and in particular the importance of the
concept of national culture, which is so
commonly considered to be synonymous with culture. So, for example, if
a Chinese acquaintance is invited to a
dinner party, how much of this invitee’s
behaviour at that party can be attributed to the fact that he or she is Chinese, and how much to other factors,
such as affiliations to a whole host of
sub-cultures that could be professional,
regional, gender-specific, generational,
interest-group related or even a culture
that simply relates to family, friends or
the individual him / herself2. In all cases
we are talking here about patterns of
thoughts and / or behaviours that are
caused wholly or partly by membership
of a particular group of people. And this
is where intercultural communication
12
becomes complex: Even membership of
a culture cannot be viewed in a binary
fashion. We do not share behaviour and
thought patterns with any one culture
completely, but are partial members of
many3. So where does this leave us with
regard to the traditional view of culture
in which individuals belong to one or a
small number of cultures, often geographic in nature? The following paper
will attempt to give some answers to this
question.
2. Concepts of Culture
The primary question to be addressed
here relates to the nature of culture
itself. Ever since the study of culture
has considered the low form of culture
(i. e. everyday or subjective culture) as
opposed to culture pertaining to classical disciplines and the arts4, scholars
from a range of disciplines have been
trying to achieve a consensus regarding
a common definition of culture. Most
textbooks point out the vast number
of varying definitions that have been
suggested, before attempting to put
forward an amalgamation of common
aspects from these definitions. The
problem here seems to be the differing standpoints of the researchers who
propose these definitions. Thus, while
psychologists might emphasise culture
as an “orientation system“ for the individual (e. g. Thomas 2003), semioticians
are more likely to talk about culture as
a “system of signs” (e. g. Posner 1991)
and sociologists frequently envisage
culture as a “social system” (e. g. Luhmann 1984). It is apparent then, that
the definition of culture depends on the
viewpoint and the objective of one’s research, whether this relates to the functioning of society (macro-perspective),
the success of an individual (micro-perspective), the communication process
itself (processual perspective), or other
viewpoints and objectives. These viewpoints and objectives are represented
by the traditional academic disciplines,
which have mostly developed into university departments (with the exception
of intercultural communication5).
Thus, this distinct division of research
into well-defined6 subject areas certainly
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Recent attempts to understand and
define culture seem to have recognized
both of these postulates. With reference
to the latter, an increasing number of institutes and university departments have
been created in the recognition that
one discipline alone cannot attempt to
deal with the vast and complex concept
of culture. Modern science’s tendency
to break down complex notions into
ever smaller units for ever more detailed
linear analysis (at least in the Western
developed world) does not always help
us to understand the subject. This,
indeed, would be analogous to the obviously nonsensical study of the precise
properties of each neuron in the brain
in order to try to comprehend how the
brain functions as a whole. Thus, the
study of culture is moving from the
linear analysis of component parts, to
a viewpoint which is more contextdependent (synchronic and diachronic),
more system or network-oriented and
more processual in nature (e. g. Rathje
2006, Bolten 2011). Seen in this way,
the analysis of culture becomes a more
holistic but also complex venture7. Such
a viewpoint may thus require the imaginative ability of researchers as much as
analytical ability8. Indeed, new analogies
of culture are being developed, such as
the comparison of culture with the cohesion that exists in the surface tension
of water (Hansen 2009:6).
input will activate patterns across the
network of one’s culturally determined
schemata. Two individuals belonging to
the same cultural group will therefore
exhibit similar patterns of schemata
(both structurally and qualitatively)
when subjected to the same external
stimulus. Assuming we could represent
the schemata that they share, the result
would be a complex, interconnecting
web such as that represented in exh. 1.
If we wish to view this network, we will
firstly need to acquire accurate data.
Whether techniques such as issuing as
distributing questionnaires can reflect
these inner patterns of the mind and
their related interconnections is highly
questionable. Secondly, depending on
the way we view and categorise culture,
we will ask different questions and thus
only be able to see fragmented parts of
the whole. So, in the diagram below,
if we categorise culture according to
national entities, and assuming that we
have a verifiable data set, we will see,
say, only the red nodes in the network.
This will, however, never represent the
complexity of all the red nodes, let alone
the added complexity of say, the green
nodes, which is what we would see if we
took a look at culture from a different
angle (again, assuming that we could
gain accurate data, a complex issue
itself ). The number of ways of viewing
culture is of course, endless itself (only
three viewpoints are represented on the
diagram through red, green and yellow).
Through such a conceptualisation, we
gain an insight into why culture is so
hard to define and difficult to categorise.
(See: Exh. 1)
I would like to offer an analogy of my
own: If culture is systematic, processual, context-dependent and caught
in a continuous loop of information,
then it seems that culture can be seen
as a set of patterns of associations,
ideas and attributions (schemata) that
are activated in a group of individuals
when subjected to the same contextual
surroundings and stimuli. This appears
quite similar to the maps of areas of the
brain that are stimulated when subjected to particular contexts, as we now
know from experiments in the laboratory (Spitzer 1999:95). Thus, a similar
Despite the difficulties involved in
making the concepta contained in the
cultural network visible, the conception
of culture as it is shown in the diagram
nevertheless allows for the multiple
identities that we observe in the modern
digitalised world, and also gives clues
as to how a single individual can successfully function within very diverse
cultural spheres, such as the civil servant who is also a rock musician or the
teenager who identifies with skinhead
culture, but can also function quite
successfully at grandma’s coffee and cake
afternoons. According to the context,
hinders a common consensus of definition regarding the concept of culture.
It is, however, also the complexity of
the concept itself that prevents us from
describing it fully.
13
the corresponding set of patterns of
schemata will be activated. It is important to remember here that each person
is a partial member of many cultures
and thus in reality will take “patterns”
from one cultural network and integrate
them with patterns from networks of
other cultures.
Our conception of culture has therefore
changed from a static, object-oriented,
homogenous and clearly delineated
view of culture to one which acknowledges the dynamic, interconnected,
systematic and multiple-layered nature
of cultures, whose complexity can only
be approached through analogies with
systems found in nature or in the human
mind.
3. Does national culture
still matter?
Given this new situation, one might
then ask whether one’s geographic location still matters in terms of cultural
affiliation. Indeed, it has been suggested
that national culture is no longer relevant (e. g. Linck 2003).
There are, however, some important
reasons why national culture still matters: A culture is influenced to a great
extent by the agent or institution that
disseminates information within that
culture as well as the attitudes and
influences on that agent (Münch 1990).
Since the beginning of the modern age,
the dissemination of information has
been carried out mainly by academics,
(“Wissenschaftler”), the Church and
the State in various combinations. In the
latter part of the 20th century and in the
21st century, this function has, to a large
degree, been assumed by the mass media. Niklas Luhmann takes an extreme
view when he states:
“Whatever we know about our society, or
indeed about the world in which we live,
we know through the mass media [...]”
(Luhmann 2000:1).
One might then contend that due to the
now truly global reach of media organizations, that this global media culture
would create a global communication
culture. However, if we look more
14
Exh. 1: Different ways of viewing the schemata of culture. Source: Authors own illustration.
closely at Luhmann’s three categories of
mass media, i. e. news, entertainment
and advertising (Luhmann, 2000), we
observe in every one of these areas that
it is still predominantly national media
that a nation consumes. It is still, for
instance, the Tagesschau that the vast
majority of Germans watch when they
wish to be informed about the world,
rather than CNN or BBC World, and
it is consistently the (less expensivelyproduced) local programmes that
achieve the highest viewing figures (cf.
Breidenbach / Zukrigl 1998:67).9 Page
impression statistics relating to the most
popular websites in Germany (i. e. the
websites at which people spend most
time), show that German sites such
as StudiVZ, T-online and Bild.de rank
highest.10 Many would contest here that
online media has a far greater cross-border reach. However, even here, a recent
study by Pankaj Ghemawat estimated
that only around 16% of the online
community’s friends on facebook were
located beyond their national border.11
Even in advertising, it is seldom that an
advertisement is completely standardized (Moser 2007:124).12
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Thus, despite widespread claims that we
are living in a borderless world, nations,
to the large part, continue to consume
national media. This national media
is crucial in maintaining continuity, enabling reproduction of existing ideas and
sustaining the cultural memory (cf. Assmann 1988) of the population. Despite
the slow erosion of national legislation
through adaptation to EU directives
and possible influence from international bodies (e. g. the United Nations),
the coordination of social interaction is
still regulated mostly through national
legislative measures. This legislature
has exerted and still exerts a considerable influence on the store of cultural
knowledge, governing what is considered plausible, sense-making and normal
(Bolten 2007:59).
For all these reasons, national culture is
still relevant. In fact, one could say that
national culture will remain crucial until
such a time as the average citizen forms
his / her view of the world through the
consumption of foreign media13 and
until such a time as legislation becomes
truly international.
4. The resilience of cultures
There are also three further factors that
suggest that regional / national cultures
might be more resistant to transculturality than commonly thought:
■■ Although it is difficult to deny that
the industrialised world14 displays a
large degree of interconnectivity, it
is important to examine the characteristics of this interconnectedness.
Of Luhmann’s main social systems
(legal, political, scientific, religious
and economic; Luhmann 1984),
it is predominantly the economic
and to some extent the scientific
systems which display a real degree
of interconnectedness. Religious,
legal, political and social systems
remain comparatively isolated, and it
is these systems that coordinate and
maintain social and cultural systems.
Of course, every system influences
every other system. However, the
point here is that there are large
parts of social coordination which
do not display the connectedness
that is claimed to be ubiquitous in
the developed world.
■■ The key factor behind a culture’s
resistance to becoming completely
transglobal, however, is the autopoietic15 nature of social systems
themselves: Social systems not only
provide the store of knowledge to
which a society / culture refers, but
they also provide a way to interpret
new information. Therefore, a social
system, when encountering foreign
information, does not understand a
new piece of information in the light
of its original context, but gives it
meaning, according to its own system of interpretation, thus referencing itself. One could say that while
a social system is structurally open
(i. e. it clearly has contact with other
systems and cannot be regarded as a
container), it is functionally closed
(i. e. the mechanism for interpretation does not come from the outside,
but from within the cultural system
itself ). This is the reason why, for
example, many aspects of U.S. culture can be integrated into German
culture without too many problems.
However, the meaning attached to
these items is always adjusted to fit
with the German cultural system. A
BMW, for example, conveys a different set of meanings and associations
in the U.S. than it does in Germany.
In order to understand foreign information, members of a culture must
reference its own patterns of interpretation and it is predominantly the
national media that performs this
task for the individual.
5. Conclusion
In conclusion, we should be careful
not to overstate claims regarding the
interconnectedness brought about by
globalization and the digitalization of
communications, since:
■■ Many areas of the world have yet to
experience the globalization process;
15
■■ The extent of cross-border communication is consistently overestimated (Ghemawat 2011:27);
■■ Many aspects of globalization have
been brought about only by one
social system, namely the economic
system;
■■ Most citizens continue to consume
national media;
■■ Cultures, held together mostly by
language and national media, cannot
be replaced, overwritten or transglobalised through contact with other
cultures since they function in an
autopoietic way, i. e. they reference
themselves when looking for interpretation of new information.
Therefore, although identities are
certainly becoming diversified, national culture is still an important way
(although one of many) to categorise
a certain density of similar schematic
patterns in a group of individuals when
faced with a particular context.
So what would the similarities be in the
network of schemata in the minds of
members of the same national culture?
Many associations would be similar, and
the value judgments regarding these
associations would – although not necessarily similar – nevertheless be mostly
taken from a pool of possible interpretations that are present within that culture
(through media and reproduction of
ideas). Indeed, it is the fact that value
judgments are taken mostly from a pool
of generally recognized ideas that makes
this network recognizable. Thus, much
of the network would have a recognizable character, although many of the
details would be different. If we were
to zoom out to view this network from
afar, it would appear almost identical.
However, viewing it close up, it would
look very different indeed.16
In summary, just as claiming that
cultures are hermetically sealed and
geographically-based containers is clearly
not an appropriate conception of culture in today’s globalized world, it is also
incorrect to claim that national cultures
are now meaningless and that the devel-
16
oped world is currently a transcultural
entity without borders, for a whole host
of reasons stated above. The recognition
of the misleading nature of these two
opposing extremities will allow us to
examine more thoroughly the complexities of cultural networks in the light of
the new, networked modernity.
Despite the vast complexity of cultural
networks, we can nevertheless examine
a small section of the network by specifying cultural variables, which might
be national cultures but might also be
other collectives such as regional, generational, professional etc. Again using
the analogy with biology, in a biological
system, a particular outcome is rarely
caused by one single triggering factor,
but by a combination of interdependent
factors.
Thus, we need to examine the causal
relationship between membership (or
part membership) of cultural collectives
and particular patterns of thought and
behaviour. We can do this by examining a number of cultural variables in
particular contexts, thereby avoiding
mono-causal explanations and doing
justice to the complexities of cultural
systems. For example, in individual contexts, one might examine negotiations
between an American and German
businessperson in the banking sector.
Further differentiation might consider
the regional, gender, educational or
generational differences between these
parties. In this way we have a range of
cultural factors that might influence
communication between these two people. The extent of patterns of thought
and action shared by both parties can be
estimated, which in turn will indicate
the amount of negotiation with regard
to basic assumptions and communication procedure (meta-communication)
that will be required. These types of
analyses will always be a small part of
the overall picture, but they will be
relevant for particular contexts and will
provide insights for future interaction
between people with similar sets of cultural belonging in similar contexts and
will thus be useful and insightful.
Finally, we will never be able to predict
behaviour precisely, since not only do
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
we need to examine the inputs and
outputs of a particular system, but we
must also consider the dynamic nature
of such a complex system. In complex
systems input does not necessarily equal
output, even if we have a good grasp of
what the inputs are, and this is why despite the fact that we know, for example,
that a particular person is Christian,
lives in a city, has Chinese citizenship, is
male, drinks coffee and likes to play golf,
we still cannot predict his behaviour at a
dinner party perfectly.
IVW e.V. (2009). Online-Nutzungsdaten
Juli 2009. URL: http://www.ivwon
line.de/ausweisung2/suchen2.php [Retrieved: 19. Novembre 2012].
6. References
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Mass Media. Stanford: Stanford University.
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Endnotes
Hansen, K. P: (2009a): Zulässige und
unzulässige Komplexitätsreduktion beim
Kulturträger Nation. Interculture Journal 8
(8), pp.1-11.
1. The focus here is on interaction and
thus intercultural communication. However, the same principles apply to contrasting
cultures, i. e. cross-cultural communication.
Hansen, K. P. (2009b): Kultur, Kollektiv,
Nation. Passau: Stutz Verlag.
2. See Hansen (2009) for a typology of
cultures or „collectives“.
17
3. See Bolten (2011) for an idea of this
„fuzzy“ view of culture.
4. The beginning of such a viewpoint could
be said to have started around the late 1960s
(Bolten 2007).
5. There are, however, now a few (and
increasing) number of university departments in this area, e. g. the department of
intercultural business communication at the
Friedrich-Schiller University of Jena.
6. Each subject area attempts to define
itself with unique specialized language.
However, if unreflected upon, this language
forces the scholar to view the subject from
a particular angle that necessarily prevents a
view of the entire complexity of culture.
7. Cultural dimensions such as those from
Hofstede or Trompenaars are of little use
here, which should be apparent after viewing Exh. 1.
14. It is worth noting here that the majority
of the world’s population i. e. those belonging to underdeveloped countries is conveniently ignored in discussions regarding
our borderless world. Indeed, while some
talk of the existence of a second modernity
in which nations no longer matter, there
remain many areas of the world that have
not even achieved the establishment of a
stable nation state.
15. Autopoietic systems originally refer to
biological systems such as cells. In reference
to social systems it has the meaning of a
self-referencing system whereby a system (or
culture) references itself to give meaning to
external stimuli.
16. This is an idea presented in Bolten
(2011), which explains why we simultaneously recognise the overall character of
cultures, but at the same time reject detailed
categorisation of cultures.
8. Albert Einstein, when attempting to
conceptualise the workings of the world,
wrote: “Imagination is more important than
knowledge. For knowledge is limited, whereas imagination embraces the entire world,
stimulating progress, giving birth to evolution. It is, strictly speaking, a real factor in
scientific research” (Einstein 1931: 97).
9. A recent example of the regional
nature of the entertainment industry is the
entry into the German market of Rupert
Murdoch’s satellite television company Sky,
which, despite its global structure, adapts its
programmes almost exclusively for German
viewers.
10. In fact, according to the IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der
Verbreitung von Werbeträgern e.V.), there
was only one non-German website in the
top ten most popular sites in July 2009
(IVW 2009).
11. Cf. www.ted.com/talks/pankaj_ghemawat_actually_the_world_isn_t_flat.html .
12. One of the largest advertising agencies,
J.Walter Thompson, estimated that Europewide standardised advertising would only
account for around 5% of total advertising
volume in the coming years (Breidenbach /
Zukrigl 1998:46).
13. Although the very fact that the media
might be construed as foreign will prevent
this from being the main source of information that coordinates one’s view of the
world.
18
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19
20
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Die Lehren des Meisters: Konfuzius und die chinesisch kulturelle
Identität konfuzianischer Prägung
Teachings of the Master: Confucius and the Chinese Cultural
Identity with Confucian Characteristics
Hang Lin
Abstract (Deutsch)
M.A., Doktorand am Institut für
Kulturwissenschaften Ost- und
Südasiens - Sinologie, Dozent für
interkulturelle Kommunikation
beim Projekt „Globale Systeme
und Interkulturelle Kompetenz“
(GSiK) an der Universität Würzburg
Während des letzten Jahrhunderts erlebt China massive soziale und kulturelle
Änderungen, die sich vorwiegend durch schnelle Übernahme westlicher Normen und
deren Ideen kennzeichnen. Zur gleichen Zeit ist Chinas historisches und kulturelles
Erbe aber nie geschnitten worden und das chinesische Volk und die heutige chinesische
Gesellschaft sind immer noch erheblich durch die Geschichte und seine traditionell
kulturelle Identität geprägt, insbesondere durch Konfuzius und seine Lehren. Aber wer
ist eigentlich Konfuzius und was sind seine Lehren? Wie sind sie mit der chinesischen
kulturellen Identität in Verbindung gebracht? Die vorliegende Arbeit setzt sich ein
Konfuzius und seine wichtigsten Ideen zu analysieren. Sie versucht dann den Kern
der konfuzianischen Werte und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Geschichte
Chinas zu skizzieren. Auf der Basis dieser Untersuchung werden Einblicke gegeben um
zu zeigen, dass Konfuzius und seine Lehren nicht untergegangen sind, sondern sie sind
immer noch relevant. Eine angemessene Bewertung dieser Werte kann wesentlich dazu
beitragen ein tieferes Verständnis über die zeitgenössische chinesische Gesellschaft und
die chinesisch kulturelle Identität zu gewinnen.
Stichworte: Konfuzius, Konfuzianismus, China, kulturelle Identität
Abstract (English)
China has experienced massive social and cultural transformation during the last
century, an era marked with rapid adoption of Western norms and ideas. In the mean
time, Chinese cultural heritages have never been totally cut and the Chinese people and
the Chinese society today are still considerably shaped by China’s unique past and its
traditional cultural identity, especially by Confucius and his teachings. But who is Confucius? What are his teachings? How are they related to the Chinese cultural identity?
This paper endeavors to analyze Confucius, the founder of the Confucianism, and his
main advocations, trying to outline the essence of confucian values and their significance for the history of China. On the base of this examination, considerations will be
given to demonstrate that Confucius and his teachings did not perished but are still
relevant in modern China. An insight into the ideas of Confucius and a proper comprehension of these values can help to better understand Chinese contemporary society and
Chinese cultural identity.
Keywords: Confucius, Confucianism, China, cultural identity
21
1. Einleitung
Im 21. Jahrhundert wurde weltweit
wohl kein anderes Land in einer derartigen Breite und Tiefe diskutiert wie
China. Vielfach wird prognostiziert,
dass China in den nächsten zehn Jahren
die USA als Supermacht überholen,
ablösen und dadurch international zum
einflussreichsten Global Player aufsteigen wird (Mastel 1997:14, Lo 2007:13,
Steinfeld 2010:71). Das Wirtschaftswachstum ist auf die Öffnung des chinesischen Marktes in den späten 1970er
Jahren zurückzuführen. Durch diese
Öffnung sah sich China in den letzten drei Jahrzehnten vielen Reformen
gegenüber gestellt, wodurch das Land
grundlegende Veränderungen erlebte,
sowohl aus wirtschaftlicher, politischer
als auch gesellschaftlicher Perspektive.
Durch Chinas Öffnung und Reform
hat sich auch das marktwirtschaftliche
und gesellschaftliche Gedankengut der
westlichen Welt sehr schnell in China
verbreitet, wobei das Land der Mitte
immer noch stark von der traditionellen
chinesischen Denkweise und seinen
eigenen geisteswissenschaftlichen Ideen
geprägt bleibt, allem voran vom Konfuzianismus (Lin 2011:437ff.).
Aus diesem Kontext ergeben sich eine
Reihe von Fragen: Was ist das chinesische bzw. konfuzianische Denksystem?
Welche Beiträge hat Konfuzianismus
zur Gestaltung der Geschichte Chinas
geleistet? War China konfuzianisch und
ist es immer noch? Wenn ja, inwieweit
ist die chinesische Gesellschaft und die
kulturelle Identität Chinas von den
Lehren des Konfuzius geprägt? Diese
Fragen zu beantworten ist schwer, wenn
nicht unmöglich. Leider ist es jedoch so,
dass nur sehr selten in der entsprechenden Literatur Angaben dazu gemacht
werden, was denn das spezifisch konfuzianische an China nun genau ist und
vor allem, wie sich bestimmte als konfuzianisch bezeichnete Verhaltensweisen
tatsächlich an die chinesische Tradition
anbinden lassen.
Um den Spezifika des Konfuzianismus zu erörtern und die Lehren des
Meisters zu erfassen ist ein Blick in
die Vergangenheit unumgänglich. Als
22
eine der meist verbreiteten Lehren der
Welt prägt der Konfuzianismus die
chinesische Geisteswelt bis heute. Sein
Wirkungskreis umfasst insbesondere
die ostasiatische Welt und erstreckt
sich somit auf ungefähr ein Drittel der
Menschheit.
2. Konfuzius und seine
Gespräche
Woher kommt eigentlich das Wort
Konfuzianismus? Das Wort geht zurück
auf Konfuzius, also der Name, den die
jesuitischen Missionare des endenden
sechzehnten Jahrhunderts dem chinesischen Meister Kong gegeben haben, der
in alten chinesischen Quellen zumeist
als Kongzi, eben Meister Kong, bezeichnet wird (Rule 1986:15ff.). Kongfuzi
(Lehrmeister Kong), der dann zu Konfuzius latinisiert wurde, ist jedoch im
chinesischen eine verhältnismäßig spätere Wortbildung, die in den wirklich
alten Texten nicht vorkommt. Hierbei
ist allerdings anzumerken, dass der Konfuzianismus jedoch keine von Konfuzius gegründete Lehre ist, da dieser selbst
sich stets auf ältere Weisheiten berufen
hatte.1 Dennoch entwickelte sich im
Laufe der Jahrhunderte nach Konfuzius
eine beträchtliche Anhängerschaft, die
sich seiner Lehren bediente und teilweise erweiterte oder neu interpretierte.
Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Konfuzianer
Menzius (370 v.Chr.-290 v.Chr.), Xunzi
(312 v.Chr.-230 v.Chr.), Dong Zhongshu (179 v.Chr.-104 v.Chr.) sowie die
Philosophie des Neo-Konfuzianismus.
Trotz solcher Entwicklung bleibt Konfuzianismus immer überwiegend von
Konfuzius geprägt, deshalb wird sich
die Arbeit hier hauptsächlich auf die
Lehre des Konfuzius, dem Gründer der
konfuzianischen Schule, konzentrieren.
Geboren wurde Konfuzius 551 v. Chr.
in der Stadt Qufu, wo er 479 v. Chr.
auch starb.2 Er stammte aus einer eher
unbedeutenden Adelsfamilie aus dem
Staate Lu, der heutigen Provinz Shandong. Konfuzius war der erste chinesische Denker, der es fertig brachte,
andere Personen in seiner Umgebung
derart zu inspirieren, dass durch seine
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Lehren eine eigene Schule, der Konfuzianismus, entstand. Überlieferungen
zufolge soll Konfuzius in seiner gesamten Lebenszeit ca. 3000 Schüler unterrichtet haben (Grube 1910:57f., Yao
2000:53ff.). Es muss erwähnt werden,
dass er einen großen Teil seines Lebens
durchs Land wanderte und so Schüler
von unterschiedlichen Provinzen und
Städten aufnehmen konnte, die oft auch
nur kurze Zeit bei ihm blieben (Biallas
1981:29ff.). Seine Wandertätigkeit ist
jedoch vor allem darauf zurückzuführen, dass er sein ganzes Leben hindurch
nach einem Fürsten gesucht hat, der
gewillt war, Konfuzius Lehren in die
Tat umzusetzen. Zwar genoss er mit der
Zeit einen hohen Ruf als weiser Lehrmeister, dennoch vermochte niemand
seine Predigten tatsächlich anzuwenden.
Erst im zweiten Jahrhundert vor Christus, also mindestens 300 Jahre nach
dem Tod von Konfuzius, wurde das
Hauptwerk, durch das wir von seinem
Denken wissen, zusammengefügt:
die Gespräche des Konfuzius (Lunyü).
Konfuzius selbst hat der Nachwelt keine
schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen, dennoch sind die Gespräche eine
Sammlung von Sprüchen, die der Meister in allen möglichen Lebenslagen und
zu höchst unterschiedlichen Themenkreisen von sich gegeben haben soll.3
Das Lunyü wurde im 2. Jahrhundert n.
Chr. von Zheng Xuan (127-200 n.Chr.)
zusammengestellt, der sich verschiedener Texte und Spruchsammlungen
aus unterschiedlichen Jahrhunderten
bediente. Obwohl über Konfuzius
Leben und Gedanken sehr viel niedergeschrieben wurde, gibt es genügend
Spielraum für Interpretationen, da seine
Lehren sehr allgemein gehalten waren
(Makeham 2003).
3. Lehren des Konfuzius
Von der abendländischen Philosophie
unterscheiden sich die Lehren des
Konfuzius ihrer Methode nach grundlegend. Im Gegensatz zu den meisten
westlichen Philosophieströmungen
findet sich im Konfuzianismus keine
logisch ableitbare Struktur und es wird
auch kein metaphysisches System konstruiert. Theoriebildungen, wie sie sich
in der abendländischen Philosophie seit
den Vor-Sokratikern finden, spielen im
Konfuzianismus keine Rolle. Konfuzius
lehrte eine Ethik, die auf verschiedene
Situationen im alltäglichen Leben anwendbar und nicht in logische Formeln
darstellbar ist (Liu 1998:16ff.). Deswegen gibt es im Konfuzianismus, sowie in
der gesamten chinesischen Geisteswelt,
weder einen Satz der Identität noch
einen Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs. Auffällig ist vor allem der
Umstand, dass Konfuzius selbst keine
revolutionären und neuen Gedanken
in die Welt setzte, sondern „lediglich
alte Weisheiten in gesammelter Form
verkündete“ (Bauer 2001:53). So soll
er einmal über sich selbst gesagt haben:
„Ich bin keiner, der mit Weisheit geboren wurde, sondern ich liebe bloß das
Altertum und bemühe mich ernstlich,
ihm nach zu streben.“ (Legge 1960:201)
Das philosophische Interesse des
Konfuzius gilt den menschlichen und
sozialen Beziehungen. In der Wiederbelebung der antiken Sitten und der von
der Sitte getragenen Staatsverfassung
sieht er die Rettung aus dem staatlichen
und sittlichen Verfall seiner damaligen
Zeit (Yao 2000:171ff.). Im Zentrum
seiner Lehren steht stets das richtige
Verhalten eines Einzelnen gegenüber
anderen Individuen und der Gesellschaft, mit dem Ziel allgemeines Wohl
und Glück aufkommen zu lassen. Seine
Philosophie ist sehr praxisbezogen und
darauf ausgelegt zu handeln und nicht
bloß in Gedanken zu versinken (Soothill 1923:31ff., Bauer 2001:58). Ablehnend stand Konfuzius insbesondere
dem Sinnieren über das Jenseits, Geister
und alles Übernatürliche gegenüber. Er
mahnte die Menschen erst Erkenntnis
im Diesseits zu erstreben bevor sie sich
über das Jenseits Gedanken machten.
Wir haben von Konfuzius selbst keine
Angaben über ein System seiner Lehren,
doch der Text der Große Lehre dürfte
immerhin später die Gedanken, die ihn
bei dem Unterricht leiteten, in einfacher
und richtiger Weise gruppiert haben.
Die Lehren des Konfuzius ruhen auf
vier Säulen, nämlich Menschlichkeit
(ren), Sittlichkeit (de), Rechtschaffenheit / Gerechtigkeit (yi), und Riten (li).
23
3.1. Menschlichkeit
3.2. Sittlichkeit
Mit dem Ausdruck Menschlichkeit ist
der konfuzianische Zentralbegriff angesprochen, unter den sich alle anderen
konfuzianischen Tugenden und Ideale
einordnen lassen. Die chinesische Bezeichnung dafür ist ren und wird häufig
auch mit Menschlichkeit, Güte oder
Menschenliebe wiedergegeben (Bauer
2001:56ff., Yao 2000:253ff.). Auf die
Frage, ob es einen einzigen Satz gäbe,
mit dem sich der Inhalt von Menschlichkeit ausdrücken lasse, gibt Konfuzius die klare Antwort:
Wie zuvor erwähnt, sah Konfuzius
in seiner Zeit einen Verfall der Sitten
und hat daher deren Wiederherstellung besonderen Nachdruck verliehen.
Sittliches Verhalten betrachtete er auch
als enge Verknüpfung zur moralischen
Einstellung. Daher schloss für ihn die
Sittlichkeit unmoralische Verhaltensweisen aus. Nach Konfuzius Meinung
kann man nur mit mühsamer Kultivierung die Tugend besitzen, aber ein
Mensch mit Tugend wird niemals allein
sein. So sprach er:
„Was man sich selbst nicht wünscht, fügt
auch anderen Menschen nicht zu.“ (Legge
1960:301)
Bedeutend war für Konfuzius dabei
stets, dass diese Menschlichkeit von
Herzen kommt und aufrichtig gemeint
ist, während falsche Freundlichkeit und
Oberflächlichkeit zu verabscheuen sind.
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit waren
für Meister Kong auch in Freundschaften unumgänglich. Wenn man bei einem Freund einen Mangel wahrnimmt,
so ist man verpflichtet ihm diesen
mitzuteilen. Ändert dieser aber sein
Verhalten nicht oder ignoriert den Hinweis, dann möge man nicht pedantisch
wirken und ihn nochmals ermahnen,
sondern es dem Freund selbst überlassen, sich zu bessern. Daneben forderte
Konfuzius auch allgemein dazu auf die
Verhaltensweisen anderer zu beobachten, um selbst daraus zu lernen:
„Wenn wir einen Würdigen sehen, so
denken wir daran, ihm gleich zu werden.
Wenn wir einen Unwürdigen sehen, so
prüfen wir uns selbst in unserem Innern.“
(Legge 1960:170)
Genauso wie es wichtig ist den eigenen
Charakter zu stärken, wünscht ein
Mensch, der ren hat, auch den Charakter anderer zu fördern. Das Prinzip der
Menschlichkeit ist sehr stark mit dem
Begriff der Hilfsbereitschaft verbunden. Wer selbst nach Weisheit und
Erkenntnis strebt, soll auch andere dazu
motivieren – einerseits indem man sie
unterrichtet, andererseits indem man es
ihnen vorlebt (Liu 1998:19ff.).
24
„Tugend wird nicht allein sein, [wer sie
besitzt], wird Genossen haben.“ (Legge
1960:172)
Sittlichkeit stand zu Konfuzius Zeit
in engem Zusammenhang mit Sitten
und Riten. Zeremonien angemessen
abhalten, ein ordnungsgemäßes Verhalten an den Tag legen und sich in seiner
hierarchischen Ebene korrekt einzugliedern bedeutete für Konfuzius sittlich zu
handeln. Die Tugend zu verinnerlichen
und nach ihr zu leben sah er als Ziel für
die Menschen. Der Typus des sittlichen
Menschen ist der „Edle“, ein Begriff, der
sowohl ethisch als auch soziologisch zu
verstehen ist. Ihm gegenüber steht der
„Gemeine“, ebenfalls wiederum seiner
moralischen Minderwertigkeit und
seiner sozial niederen Stellung nach zu
verstehen:
„Der Edle stellt Anforderungen an sich
selbst, der Gemeine stellt Anforderungen an die anderen Menschen.“ (Legge
1960:300)
„Der Edle denkt an Tugend, der Gemeine
aber an Komfort.“ (Legge 1960:277)
Es muss jedoch erwähnt werden, dass
Sittlichkeit für Konfuzius nicht nur bei
der inneren Überzeugung der Menschen
eine wichtige Rolle spielte, sondern
auch in der Regierung und Herrschaft.
Konfuzius glaubte, dass all die großen
Herrscher in den alten Zeiten tugendhafte Menschen gewesen sein sollen
und deshalb sang er Lobreden zu diesen
Herrschern für ihre Tugend.4 Um ein
Volk gut regieren zu können muss der
Herrscher einerseits sein Volk lieben,
was durch Tugend ermöglicht wird
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
und andererseits sein Volk kennen, was
durch Weisheit bewerkstelligt wird.
Nur dann kann ein Regent die Ämter
mit den richtigen Personen besetzen.
Hierarchie spielte für Meister Kong
eine grundlegende Rolle, denn sie war
für ihn gleichbedeutend mit Ordnung – und nur in einem Staat, in dem
Ordnung herrscht, kann es Glück und
Frieden geben.
3.3. Rechtschaffenheit / Gerechtigkeit
Eine andere Säule ist das yi, das oft als
Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit
übersetzt wird. Gerechtigkeit als Prinzip
einer ausgleichenden Ordnung in einer
Gesellschaft ist nicht eine konfuzianische Erfindung, sie findet sich in allen
Kulturen und ist historisch sehr weit
zurückzuverfolgen. Natürlich wurde im
konfuzianischen Kontext dieser Begriff
verwendet, der heute meist nur ungenau
und zu eng mit gerecht übersetzt wird.
Das yi ist stark von der konfuzianischen
Ethik geprägt und ist eine Tugend, die
sehr stark in die Sphären der Sittlichkeit
hineinspielt. Das fordert eine Haltung,
die man vor sich selbst rechtfertigen
kann. Besonders bedeutend ist in diesem Zusammenhang eine Objektivität
in das eigene Handeln zu bringen und
sich nicht von Vorlieben oder Abneigungen leiten zu lassen. So sprach der
Meister:
„Der Edle hat für nichts auf der Welt eine
unbedingte Voreingenommenheit oder
eine unbedingten Abneigung. Das Rechte
allein ist es, auf dessen Seite er steht.“
(Legge 1960:168)
Der Edle hat also den Sinn für rechtes
Tun verinnerlicht und folgt diesem
intuitiv. So wird Gerechtigkeit vor allem
als personale Gerechtigkeit und als Eigenschaft und Tugend eines Menschen
verstanden, die zur Aufrechterhaltung
der vorgegebenen Ordnung beitragen
sollte. Im Konfuzianismus bezieht sich
das yi auch auf Staat und Gesellschaft.
Nach Konfuzius soll die Leitung eines
Volkes nicht durch Gesetze und Strafen
erfolgen, denn daraus ergibt sich unter
den Menschen bloß ein ständiges Versuchen, die Regeln zu umgehen. Gute
Führung bedeutet aber durch gute Taten und richtiges Handeln, die gerecht
und rechtschaffend sind, zu wirken
(Nosco 2008:31ff.).
Auch in Bezug auf gewinnbezogenes
Wirtschaften stellte Konfuzius das
moralische Handeln als das wichtigste
dar. Für ihn unterscheiden sich der
Edle und der Gemeine dadurch, dass
„der Edle sich nach der Gerechtigkeit
richtet, der Gemeine aber am Gewinn“ (Legge 1960: 170). Alles was
gegen die Gerechtigkeit ist, soll auch
nicht weitergeführt werden. Deshalb
sind Reichtum und Ehren, die durch
Ungerechtigkeit erworben werden, für
Konfuzius wie schwebende Wolken
(Legge 1960: 200ff.). Aber heißt das
dann, dass Konfuzius sich absolut gegen
alles Gewinnbezogenes richtete und
alles ablehnte was damit zu tun haben
könnte? Zu Beantwortung dieser Frage
sagte der Meister:
„Nicht nur auf die kleinen Gewinne
achten. […] Die Konzentration auf kleine
Gewinne verhindert die Bewältigung
der größeren Angelegenheiten.“ (Legge
1960:270)
3.4. Riten
Eine weitere Eigenschaft, die die Lehren
des Konfuzius auszeichnet, stellen die
Riten dar. Hier haben wir wieder das
Problem der Übersetzungsungenauigkeit. Das chinesische Zeichen ist li und
in der westlichen Welt versteht man
unter Riten oft einen religiösen Brauch.
Der Begriff der konfuzianischen Riten
ist im Gegensatz dazu sehr viel weiter
gefasst und bezeichnet die abstrakte
Idee der Gesamtheit aller Umgangsund Verhaltensformen, die einen guten
Menschen und eine intakte gesellschaftliche Ordnung ausmachen. In diesem
Sinne ist auch das li eng verbunden mit
einem anderen Begriff des Konfuzius,
nämlich der Menschlichkeit. Anders
als das nach innen gewandte ren wurde
das li als nach außen gerichtete Praxis
verstanden, auf deren Grundlage man
in der Gesellschaft richtig handelt. So
erklärt Konfuzius was die authentische
Menschlichkeit ist: „sich selber zu
unterwerfen und zu den Riten zu zurückkehren“ (Legge 1960: 200ff.). Die
25
Wichtigkeit der Riten lässt sich durch
die Worte des Konfuzius klar verdeutlichen:
„Nicht auf das schauen, was nicht den
Riten entspricht. Nicht darauf hören, was
nicht den Riten entspricht. Nicht davon
reden, was nicht den Riten entspricht.
Nicht das tun, was nicht den Riten entspricht.“ (Legge 1960:250)
Für Konfuzius umfassen die Riten die
Normen des richtigen sozialen Verhaltens und deshalb sollen aufrichtige
Menschen sich angemessen nach den
richtigen Riten richten. Die Befolgung
der Riten bedeutete – durchgängig mit
Nachdruck auf dem Gemeinschaftsgedanken – die Verinnerlichung von
Handlungen, wodurch der Betroffene
einerseits in den Genuss des tröstlichen Gefühls der Tradition gelangte,
andererseits aber auch seinen Schatz an
Eindrücken und Erfahrung bereichern
konnte.
Es ist auf dieser Grundlage zu erwähnen, dass Konfuzius auch die besondere
Rolle und die Wichtigkeit der Musik
nachdrücklich betonte. Die Musik,
die aus unterschiedlichen Tönen und
Klängen besteht, so Konfuzius, empfängt man nicht als störenden Lärm
sondern als harmonische Melodie, denn
die unterschiedlichen Töne wurden
nach gewissen Regeln in eine bestimmte
Reihenfolge zusammengestellt. So stellt
die Musik ein perfektes Beispiel für die
ideale Gesellschaft dar: die Mitglieder
der Gesellschaft, die wie die Töne auch
von Natur aus voneinander abweichen,
sollen auch in eine richtige Ordnung
gebracht werden. So trat Konfuzius für
eine vornehme Gesellschaft ein, in der
man sich immer bewusst bleibt, welche
Personen höher oder niedriger gestellt sind als man selbst. Er war davon
überzeugt, dass die höchste soziale
Ordnung zu erreichen sei, wenn man
in der Gesellschaft auch seinen Rang
genau kenne. Die Riten gaben, so glaubt
Konfuzius, klare Anleitungen, welches
Verhalten vom individuellen Menschen
erwartet wurde und zwar abhängig von
seiner Rolle und seinem Rang in der
Gesellschaft. Die optimale hierarchische
soziale Struktur von Konfuzius lässt sich
26
in seinem berühmten Spruch exemplifizieren:
„Der Herrscher ist Herrscher und der
Untertan ist Untertan. Der Vater ist
Vater und der Sohn ist Sohn.“5 (Legge
1960:256)
4. Konfuzius Lehren als
ideologische Säulen des chinesischen Kaiserreiches
Konfuzius hatte leider nicht viel Glück
bei der Umsetzung seiner Ideen in
die Praxis. Vermutlich kurz nach der
Kompilation der Lunyü schrieb Sima
Qian (ca. 145 v.Chr.-ca. 90 v.Chr.),
der Vater der chinesischen Geschichtsschreibung, die erste aber auch authentischste Biographie des Meisters. In
dieser Biographie wird Konfuzius im
Grunde als ein Verlierer beschrieben,
den keiner so recht brauchen konnte
und der sich dem Appellieren an moralischer Kultivierung, der Überlieferung
der Tradition und Wiederherstellung
der Gesellschaftsordnung nur deswegen
widmete, weil er trotz unermüdlichen
Umreisens an den Fürstenhöfen des Reiches niemanden fand, der ihn anstellen
und seine Ideen umsetzten wollte (Sima
1997:1947, Yang / Yang 1974:27ff.).
Aus der Zeit der Han um 81 vor Christus ist die Aussage eines Großwürdenträgers überliefert, der sagte: „Konfuzius war in der Lage eckig zu sein, aber
nicht rund“ (Gale 1931:70). Damit ist
gemeint, dass Konfuzius fixe Prinzipien
hatte, sich aber nicht anpasste und deshalb nicht weit kam. Nach chinesischer
Vorstellung war das kein Kompliment.
Dennoch wurde Konfuzius um das
Jahr vor Christus zum unbestrittenen
Meister. Die Bedeutung des Konfuzius
besteht für chinesische Literaten seit der
Frühen Han-Dynastie (202 v. Chr. - 9
n. Chr.) in der ersten Linie darin, dass
er dieses politisch-moralische System
entworfen hatte, in dem bestimmte Unterordnungs- und Hierarchieverhältnisse gelten und nicht angetastet werden
sollen (Kramers 1986:754). Genau aus
dieser Zeit stammten die Ursprünge
der ersten Säule von Konfuzius Lehren,
das berühmte Beamtenprüfungswesen
(Kejü-Prüfungen). Unter den Han wur-
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
de schon um 140 vor Christus erstmals
der Zugang zur chinesischen Bürokratie durch einigermaßen verbindliche
Kriterien geregelt: Die Kenntnis einer
kanonischen Schrift sowie ihrer Auslegungstradition wurde als Voraussetzung
für die Aufnahme in den Beamtendienst
gesetzt (Yao 2000:84). Aber damals
musste die Ausbildung nicht unbedingt mit den Lehren des Konfuzius,
so wie sie in dessen Gespräche niedergelegt sind, zu tun haben. Erst im 7.
Jahrhundert nach Christus wurde das
Prüfungssystem wesentlich ausgebaut
und im 10. Jahrhundert wurde es zu der
dominierenden Rekrutierungsmethode
der Staatsverwaltung. Es wurden alle
drei Jahre stattfindende Palastprüfungen
eingeführt, für die man sich mit zuvor
abgelegten Präfektursprüfungen qualifizieren konnte. Die besten Absolventen
wurden auf eine kaiserliche Liste gesetzt
und ihre Namen überall im Reich bekannt gemacht. Auf diese Absolventen
warteten strahlende Karrieren. In den
sieben Jahrhunderten zwischen dem
13. Jahrhundert und dem Sturz des
Kaiserreiches Anfang des 20. Jahrhunderts wurden ausschließlich nur die
konfuzianischen kanonischen Schriften
als Schulbuchtexte und Referenzen für
die Prüfungen genehmigt. Dieses stark
von Konfuzianismus geprägte Prüfungswesen ist das Mittel gewesen, mithilfe
dessen die Kenntnis der kanonischen
Schriften in immer tiefere und breitere
Bevölkerungsschichten verbreitet werden konnte.
Eng mit diesem Phänomen verbunden
ist die zweite Säule, nämlich der staatlich angeordnete Kult die volkstümliche
Verehrung für Konfuzius. Bereits kurz
nach dem Beginn des 2. Jahrhunderts
vor Christus wurde ein kaiserliches Opfer dargebracht und somit begann eine
lange Tradition, innerhalb derer sich im
Laufe der Jahrhunderte ein Staatskult
für Konfuzius ausprägte. Im Jahr 37
nach Christus belehnte der damalige
Herrscher der Han-Dynastie einen
Nachfahren des Konfuzius als Markgraf
und ließ ihn dem Meister in seinem Namen Opfer bringen (Biallas 1981:55ff.).
In den folgenden Jahrhunderten wurden
dem Meister nach und nach immer
höher posthume Titel verliehen und
Konfuziustempel in der Hauptstadt und
landesweit errichtet. Ab dem 14. bzw.
15. Jahrhundert lässt sich diese Gegebenheit erstmals physisch wahrnehmen. In Anlehnung an buddhistische
Vorbilder wurden Heiligengeschichten
des Konfuzius, z. B. Bildergeschichten,
in denen das Leben des Konfuzius
illustriert und verherrlicht wurde,
gedruckt und im Volk verbreitet (Yao
2000:207f.). Im 18. Jahrhundert wurde
der Geburtstag des Konfuzius (28.
September, 551 v.Chr.) ermittelt und
zum Nationalfeiertag erklärt, an dem im
Konfuziustempel der Hauptstadt und
seinen in allen Provinzen des Reiches
existierenden Repliken große Zeremonien und Verehrung geübt wurden. Damit
sind Konfuzius und seine Lehren nicht
nur in der Elite als verbreitete politische
Heilslehren gesehen, sondern auch sehr
stark in die Nähe der Religionen des
Buddhismus und des Daoismus gerückt.
Auf Befehl des Kaisers Yongzheng (r.
1722-1735) wurde ein weitläufiger
Kommentar verfasst und unter dem
Namen des Kaisers veröffentlicht, aus
dem am ersten und fünfzehnten jeden
Monats in allen Städten des Reiches
ein Kapitel den versammelten Beamten
und Volk vorgelesen wurde (Biallas
1981:62). Somit wurde der Kaiser selbst
Verbeiter des Konfuzianismus und Erzieher des Volkes nach konfuzianischen
Grundsätzen.
5. Konfuzianismus in der
Feuerprobe der modernen
Welt: Überleben und Wiederbelebung
Als schließlich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die politische
und wirtschaftliche Schwäche Chinas
bei den Angriffen Europas und Japans
offen zu Tage trat, waren die äußeren
Stützen des Konfuzianismus vollends
brüchig geworden und sein Sturz wenigstens in den extremsten Ausbildungen
besiegelt: die alten Schulen und Prüfungssysteme in dem der Kaiser, seine
Beamten und auch das ganze chinesische Volk fungierten und ebenso der
Staatskult mussten abgeschafft werden.
Mit dem Sturz der letzten Dynastie im
27
Jahr 1911 sanken auch Konfuzius und
seine Lehren von ihren Höhen herab.
Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen einige chinesische Reformer wie
Yan Fu (1854-1921) und Zhang Taiyan
(1869-1936) kritisch über die Probleme
Chinas nach zu denken. Als sie sahen
wie kläglich das eigentlich als Reich der
Mitte angesehene China versagte, einigen verhältnismäßig kleineren europäischen Armeen Widerstand zu leisten,
wiesen sie darauf hin, dass der wahre
Grund für die eigene Schwäche Chinas
darin liege, dass die konfuzianischen
Lehren Spekulationen vorangetrieben
haben, die den naturwissenschaftlichen
Wissen und dem alltäglichen Leben
wenig förderlich waren. Der Konfuzianismus sei an allem Schuld und er sei
ein Hindernis, welches einer Modernisierung nach westlichem Vorbild im
Wege stünde (Levenson 1958:109, Lin
2011:438). „Zerschlagen den Konfuzius-Laden“ wurde zum Werbeslogan
der liberalen Revolutionäre in der
Bewegung des Vierten Mai (1919). Die
kaiserlichen Beamtenprüfungen wurden
zum Beginn des 20. Jahrhunderts aufgehoben und zu einem modernen, westlichen System modernisiert. Zur selben
Zeit wurde auch der staatliche Kult des
Konfuzius aufgegeben. Anstelle einer
Ausbildung in kanonischen konfuzianischen Schriften standen nun Naturwissenschaften und Fremdsprachen auf
dem Lehrplan. Auch die Konfuziustempel, in denen volkstümliche Verehrung
des Konfuzius für Jahrhunderte geübt
wurde, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgegeben und in Museen
oder Speicher umgewandelt.
Als die Kommunisten am Ende des
Bürgerkrieges 1949 an die Macht kamen, standen sie vor der Aufgabe, sich
Gedanken zu machen, wie sie sich zum
konfuzianischen Erbe Chinas stellen
sollten. Doch als die Kulturrevolution im Jahr 1966 ausbrach, wurde die
Antwort ganz klar: Die veralteten und
feudalen Lehren des Konfuzius sollten
durch Marxismus-Leninismus ersetzt
werden. In einer bizarren Kampagne
wurde zu Beginn der 1970er Jahren der
in Ungnade fallende, designierte Nachfolger von Mao, Lin Biao (1907-1971),
28
der unter nach wie vor ungeklärten
Umständen auf einem heimlichen Flug
in Richtung Sowjetunion abgestürzt
und umgekommen war, mit Konfuzius
gleichgesetzt (Wu 1983:26ff., Chin
2009:11). So wurde Konfuzius nicht
nur an der Schwäche Chinas vor den
westlichen Mächten schuldig, sondern
er wurde auch als Antirevolutionär
gegen den Kommunismus angesehen. In
Folge dessen wurden Konfuzius-Statuen
zerstört und Konfuzius-Comics, die den
Bildergeschichten des 15. Jahrhunderts
trotz ihrer Verzerrung in erstaunlicher
Weise ähneln, erschienen. Nur, dass in
ihnen der Meister nun als Sklavenhalter
präsentiert und seine Philosophie als
klassengebunden verunglimpft wurden.
Dies ist natürlich nur eine Seite der
Geschichte. Die Nabelschnur zwischen
der konfuzianischen Tradition und dem
modernem China, als auch moderne
Ostasien, kann nicht leicht durchtrennt
werden. Verschiedene Elemente des
konfuzianischen Erbes, in welcher Form
auch immer, sind in der Gegenwart
immer noch erhalten, die entweder in
nationalistischen und kommunistischen
Lehren und Grundsätzen zu entdecken sind oder implizit in der zugrunde liegenden gesamten Struktur der
chinesischen Gesellschaft ausgeblendet
sind (Levenson 1958:126ff.,135). Der
Zusammenhang zwischen Sun Yat-sens
„Drei Prinzipien des Volkes“ (sanmin
zhuyi) und der konfuzianischen Version
des Grand-Einheit-Gesellschaft ist so
stark, dass es kaum bestritten ist, dass
die Erstere zu einem gewissen Grad eine
Folge des Letzteren ist. Die Kommunisten, auf der anderen Seite, waren
so tief von der konfuzianischen Moral
inspiriert, dass David Nivison sogar
argumentiert, dass sich die chinesische
kommunistische Ethik und der Konfuzianismus schon von Anfang an nicht
voneinander unterschieden werden
konnten (Nivison 1972).
Die letzten drei Jahrzehnte stellten eine
Phase der Rehabilitation des Konfuzius dar: Im Jahr 1984 wurde in seiner
Heimat Qufu, vor einer großen Zahl
geladener ausländischen Gäste, eine
neue Konfuziusstatue aufgestellt, die als
Nachfolger für die während der Kultur-
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
revolution zerstörte alte Statue dienen
sollte. Im Jahr 1985 wurde ein nationales Institut für Konfuziusforschung in
Peking gegründet und seitdem treffen
sich da in regelmäßigen Abständen
Wissenschaftler, die aus verschiedenen
Anlässen über das Konfuzianische Erbe
diskutieren. Die achtziger Jahre sind
gleichzeitig die Zeit, in der sich die wirtschaftlichen Erfolge der Tigerstaaten
(Hong Kong, Taiwan, Korea, Singapur)
und China, die über einen ausgeprägt
konfuzianischen Hintergrund verfügen,
immer auffälliger manifestieren und
auch zunehmend die Aufmerksamkeit
der Welt auf sich zieht. So haben einige
Forscher begonnen, den Konfuzianismus als einen der Gründe für diesen
Erfolg auszumachen.6
Die Kombination von konfuzianischen
Werten und modernen Qualitäten
schafft in China einen neuen Titel für
die Führungskräfte in der Wirtschaft:
Die Unternehmer werden als „konfuzianische Unternehmer“ (rushang)
ausgezeichnet, dafür, dass sie in dem
Wirtschaftsleben konfuzianische Werte
wie Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und
Wahrhaftigkeit zeigen (Lin 2011:439).
Das einst abgeschaffte konfuzianische
Bildungssystem ist wieder auf dem
Vormarsch: Nach einer Pause von fast
einem Jahrhundert werden in China die
Beamtenprüfungen in einer neuen Form
wieder aufgenommen, als Mittel für die
Rekrutierung der Staatsbeamten (Yao
2000:276ff.). Selbstverständlich sind
alle diese Institutionen nun vielmehr
von den westlichen bzw. universellen
Ideen geprägt, aber die Wiederbelebung
von Konfuzius und seine Lehren sind
eindeutig spürbar.
6. Fazit und Ausblick
So wie das Christentum die westliche
Kultur und Ethik beeinflusst hat und
heute immer noch beeinflusst, so wirken
die Lehre des Meisters Kong im ostasiatischen Kulturraum seit mehr als 2000
Jahren. Ein ganz anderes China und ein
ganz anderes Volk bringt uns Konfuzius und seine Schule. Es ist wahr, dass
niemand sich näher mit China befassen
kann ohne Konfuzius, dem größten
Mann Chinas und dem berühmtesten
Chinesen der Welt, seine besondere
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber
der Begriff Konfuzianismus wird heute
zumeist in stark ausgeleierter Form
verwendet. Oft machen sich Anhänger
der konfuzianischen These nicht mal
die Mühe, die jeweilige Qualität in
konfuzianischen Texten tatsächlich zu
verordnen und vor allem nicht sich Gedanken zu machen, ob nicht äquivalente
Ideen ganz genauso in christlichen oder
muslimischen Texten zu finden wären.7
So fasst es beispielsweise Tu Wei-Ming,
Professor für die Kultur Chinas an
der Harvard University und einer der
wichtigsten Apologeten des modernen Konfuzianismus, folgendermaßen
zusammen:
„Bei ihrer Sondierung der geistigen
Orientierungsgrundlagen, die den
Industrienationen Ostasiens gemeinsam
sind, haben Historiker, Philosophen und
Religionswissenschaftler eine Anzahl
erstaunlich allgemeingültiger Grundhaltungen festgestellt. Hierzu zählt das
Konzept des Selbst als Zentrum aller
Beziehungen, ein Gefühl für Vertrauensgemeinschaften ähnlich der Familie,
die Bedeutung eingefahrener Rituale im
Alltagsleben, das Primat der Erziehung
bei der Charakterbildung, die Bedeutung
exemplarischer Führerpersönlichkeiten in
der Politik, die Abneigung gegen Zivilprozesse sowie die Betonung des Konsensus
und der Selbstkultivierung. Das Wertsystem, das diesen Punkten offensichtlich
noch am ehesten entspricht, ist allgemein
unter dem Namen ‘konfuzianische Ethik’
bekannt.“ (Tu 1990:43)
Von einer ganz anderen Seite als von der
Wertediskussion aus sollten Bedenken
kommen, ob nicht in den Lehren des
Konfuzius mehr Kräfte stecken, als sich
westliche Beobachter jahrhundertelang
vorstellen konnten: Der volkstümliche
Glaube an die spirituelle Kraft Konfuzius und seine Einflüsse auf die heutige
Gesellschaft ist nicht gebrochen. Die
Führung in Peking scheint gegen diese
Umtriebe nichts zu haben, denn ihre
Förderung verspricht Legitimation, da
chinesische, traditionelle Kultur ein wesentliches Element ist, das an die Stelle
marxistisch-leninistischer Ideologie
treten kann. So lässt es sich nicht schwer
verstehen, warum Chinas Staatspräsident Hu Jintao 2004 das Schlagwort
29
„harmonische Gesellschaft“, das direkt
auf Konfuzius Appell an einer vorbildlichen Gesellschaft der Menschheit
zurückzuführen ist, als Zukunftsversion
der chinesischen Gesellschaft ausgerufen hat. Ein völliger Verzicht Chinas
auf Sozialismus bzw. Kommunismus
gilt äußerst unwahrscheinlich, aber es
ist unbestritten, dass die Lehren von
Konfuzius in dem politischen Leben
und den Modernisierungsprozess Chinas immer mehr an Gewicht gewinnen
werden. Der umfangreiche Einfluss der
Lehren des Konfuzius bleibt im heutigen China immer inhärent und so wird
die chinesische Gesellschaft und die
kulturelle Identität der Chinesen auch
in der Zukunft weiter von dem alten
Meister geprägt.
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tionen basieren. Für die anderen Versionen
der Übersetzung, siehe u. a. Arthur Waley,
The Analects of Confucius. London: George
Allen & Unwin Ltd. 1938, S. 166; Edward
Slingerland, Confucius Analects: With
Selections from Traditional Commentaries.
Indianapolis / Cambridge: Hackett Publishing Company 2003, S. 130.
6. Unter anderen z. B. Roderick MacFarquhar, Kent Calder, Roy Hofheinz Jr. und
Ezra Vogel.
7. Eine Ausnahme bildet das Buch von
Galia Patt-Shamir, To Broaden the Way.
A Confucian-Jewish Dialogue. Oxford:
Lexington Books 2006; ein tiefgreifendes
Werk über die Idee und Werte der konfuzianischen und jüdischen Traditionen.
Endnoten
1. Eine hintergründige Studie zu den älteren, chinesisch philosophischen Weisheiten,
die zum Teil als ideologische Grundlage
des Konfuzianismus diente, ist Yuri Pines,
Foundations of Confucian Thought. Intellectual Life in the Chunqiu Period, 722-453
B.C.E.. Honolulu: University of Hawai’i
Press 2002.
2. Im Gegensatz zu Religionsstiftern
anderer Kulturen wissen wir nicht viel von
Konfuzius, bis auf Geburts- und Todestag.
Für eine ausführliche Debatte über die persönlichen Daten des Konfuzius, siehe Franz
Xaver Biallas, Konfuzius und sein Kult. New
York und London: Garland Publishing
1981, S. 117; E. Bruce Brooks und A. Taeko
Brooks, The Original Analects. Sayings of
Confucius and His Successors. New York: Columbia University Press 1998, S. 263-264.
3. Neuere Forschungen bestätigen einen
Verdacht, der schon von traditionellen
Gelehrten geäußert worden ist, nämlich
dass nur ein größeres Kernstück von ca.
50-75% des Lunyü tatsächlich auf die Zeit
von Konfuzius zurückgehen kann, während
der zweite Teil, Kapitel 11 bis 20, erst in
den kommenden Jahrhunderten hinzugewachsen ist. Vgl. Brooks und Brooks, The
Original Analects, S. 201-203.
4. Für eine englische Übersetzung der
Reden von Konfuzius in Lunyü, siehe James
Legge, The Chinese Classics, Bd. 1, S. 213215.
5. Für diesen Satz aus dem Lunyü gibt es
allerdings andere Übersetzungsmöglichkeiten, die auf unterschiedlichen Interpreta-
31
32
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Migrations- und ungleichheitsbedingte Missverständnisse in der Schule
Misunderstandings at school in the context of migration and
social inequality
Aladin El-Mafaalani
Abstract (Deutsch)
Dr. rer. soc., Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität
Bochum sowie Projektleiter am
ISF RUHR in Dortmund
Kulturelle Vielfalt und soziale Ungleichheit stellen zentrale Herausforderungen im Erziehungs- und Bildungssystem dar. Ausgehend von einem Fallbeispiel für misslungene
Kommunikation in der Grundschule werden latent wirksame Normalitätsannahmen
expliziert. Dabei wird aus mehreren Perspektiven ein Gespräch zwischen einer Lehrerin und einem türkeistämmigen Jungen unter Betrachtung der Erziehungsvorstellungen der Eltern vergleichend interpretiert. Dieser Fall zeigt kontrastreich auf, welche
dissonanten Erziehungslogiken auf ein Kind implizit einwirken können.
Stichworte: Erziehungsziele, Kommunikation, Migration, soziale Ungleichheit, Fallanalyse
Abstract (English)
Cultural diversity and social inequality are central challenges in the education system.
Latent effective stereotypes are explicated by an example of failed communication in the
primary school. A conversation between a teacher and a Turkish boy is interpreted from
several perspectives considering the parents ideas of education. This case shows rich in
contrast which dissonant ideas of education influence a child implicitly.
Keywords: educational objectives, communication, migration, social inequality, case
study
1. Einleitung
Dem deutschen Bildungswesen wurde
mehrfach attestiert, sozial ungleiche
Startchancen nur unzureichend auszugleichen. Soziale Herkunft, Migrationshintergrund und Geschlecht stellen
dabei die zentralen Merkmale dar, die
die Bildungschancen von Lernenden auf
teilweise beträchtliche Weise beeinflus-
sen. War vor einigen Jahrzehnten noch
die Arbeitertochter der bildungspolitische Problemfall, so werden heute
Jungen, insbesondere Migrantensöhne,
strukturell benachteiligt (Geißler 2008).
In diesem Zusammenhang werden der
schulischen Alltagspraxis u. a. auch
starre Normalitätsvorstellungen und
stereotypen Erwartungshaltungen
attestiert (Gomolla / Radtke 2002,
33
Dravenau / Groh-Samberg 2008). Im
Folgenden werden solche Normalitätsannahmen und Erwartungshaltungen exemplarisch anhand eines Falls
in der Grundschule dargestellt und
analysiert. Dabei handelt es sich um ein
misslungenes Gespräch zwischen einer
Lehrerin und einem türkeistämmigen
Schüler. Die Auswahl dieses Falls zur
exemplarischen und zugleich markanten
Skizzierung zentraler Problemstellungen
begründet sich in folgenden Aspekten:
Zum einen spielt die Phase der Selektion zu Beginn der Grundschule noch
keine große Rolle, zum anderen zeigt
dieser Fall Problemstellungen auf, die
nicht unmittelbar mit dem Unterricht
zusammenhängen und bereits sehr früh
wirksam sind. Schließlich repräsentiert
der Junge aus einer türkeistämmigen
Arbeiterfamilie, der in einem stark
segregierten Stadtteil aufwächst, eine
im deutschen Bildungssystem besonders
benachteiligte Gruppe. Entscheidend
erscheint dabei auch, in welch subtilen
Zusammenhängen Normalitätserwartungen latent wirksam sind.
Die Situation, die im Folgenden
dargestellt und analysiert wird, wurde
von einer Grundschullehrerin in einem
Interview erzählt. Daraufhin wurde die
erzählte Situation durch Schauspieler
nachgestellt und mehreren türkischstämmigen Vätern vorgespielt, um
anschließend bei der Interpretation der
Situation die verschiedenen Perspektiven von Lehrkraft, Eltern und Kind
berücksichtigen zu können. Vor diesem
Hintergrund wird abschließend vom
Fall abstrahiert, um aus der Analyse
misslungener Kommunikation Anknüpfungspunkte für eine migrations- und
ungleichheitssensible pädagogische
Praxis zu diskutieren.
1. Falldarstellung
Ömer ist ein in Deutschland geborenes
7-jähriges Grundschulkind türkischer
Herkunft und wächst in einem stark segregierten Stadtteil im Ruhrgebiet auf.
Sein Vater gehört zur zweiten Generation der ehemaligen Gastarbeiter, seine
Mutter hat ihre Kindheit in der Türkei
verbracht. Beide Elternteile haben kaum
Erfahrungen mit dem deutschen Schul-
34
system. Der Vater war selbst in einer so
genannten Ausländerklassen untergebracht, hat entsprechend einen großen
Teil seiner Schulzeit in rein türkischen
Lerngruppen verbracht und beendete
seine Schulzeit ohne Schulabschluss; die
Mutter hat die Schulzeit vollständig in
der Türkei erlebt. Ömer kann sich auf
Türkisch und auf Deutsch verständigen,
hat allerdings – nach Aussage der Lehrkraft – in Bezug auf die Sprachkompetenz im Vergleich zu seinen Mitschülern
und Mitschülerinnen Rückstände.1
Die nun folgende Situation ereignet
sich, nachdem Ömer auf dem Schulgelände rot gefärbtes Wasser in einen
Ballon füllt und dieser dann in der
Turnhalle platzt. Auf dem Boden und
an mehreren Kleidungstücken seiner
Mitschüler sind rote Flecken. Da die
Klassenlehrerin nicht gesehen hat, was
passiert war, fragt sie in die Klasse, wer
das gewesen sei. Erst nachdem sie mehrfach und nachdrücklich fragt, zeigt ein
Mitschüler auf Ömer. Da die Lehrkraft
an Ömers Gesichtsausdruck erkennt,
dass ihm klar zu sein scheint, dass sein
Handeln nicht in Ordnung war, lässt
sie ihn zunächst gemeinsam mit einigen
Mitschülern die Flecken säubern, um
kurze Zeit später unter vier Augen mit
Ömer zu sprechen. Die folgende Situationsbeschreibung wird von der Lehrerin
auf die Bitte hin, die Situation und den
Dialog so genau wie möglich zu beschreiben, formuliert:
L: „Ich habe mich so hingesetzt und
Ömer hat ungefähr in der Entfernung
vor mir gestanden. Er guckte schon etwas
traurig. Ich habe ihn gefragt, wie ich das
immer mache: ‚Ömer, erzähl mal, was
ist passiert?‘. Ganz ruhig ne. Und er hat
nichts gesagt. Er guckt auf den Boden und
antwortet nicht. Dann wollte ich wissen
woher er die Farbe hat. Ich meine, das ist
nicht in Ordnung so, zwei Schüler haben
Flecken gehabt auf den Anziehsachen.
Und er antwortete immer noch nicht. Der
hat halt so genervt gewirkt. Und dann
bin ich schon, schon etwas ich sag mal
sauer geworden. Ich meine das bringt so
ja nichts.“
I: „Was haben Sie dann gesagt? Wie ging’s
weiter?“
L: „Ja, dass er mich anschauen soll und
mit mir reden soll. Dann hat er mich
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
glaub ich kurz angeguckt, ganz kurz und
dann hat wieder auf den Boden geguckt.
So mit schräg gesenktem Kopf. So als ob er
das jetzt ertragen muss, als ob er wartet,
dass es endlich fertig ist. Irgendwann war
meine Geduld am Ende. Ich mein, das
war‘n anstrengender Tag und so kommt
man nicht weiter, wenn er nicht redet.“
I: „Was haben Sie dann getan?“
L: „Ich habe gesagt: ‚Entweder du redest
jetzt mit mir oder ich muss mit deinen
Eltern reden‘. Ich meine, ich war halt
sauer. Das war ja alles eigentlich nicht
so schlimm. Aber er guckte immer noch
gelangweilt, dachte ich zumindest. Aber
irgendwie ist es schlecht gelaufen.“
I: „Und wie ist es weitergegangen?“
L: „Er hat angefangen zu weinen und
gesagt, dass er das nicht wollte, dass der
Ballon platzt. Er wollte nur spielen.
Er hat richtig geweint. Ich musste ihn
erstmal beruhigen. So wollte ich das ja
nicht. Das ist ganz verkehrt gelaufen. […]
Naja, dann haben wir abgemacht, dass
so etwas nicht wieder passieren darf. […]
Aber gestern hat es schon wieder Probleme
gegeben.“
2. Mehrperspektivische
Fallanalyse
An dieser unscheinbaren Situation
lassen sich Irritationen bzw. Missverständnisse in pädagogischen Kontexten
exemplarisch aufzeigen. Im Folgenden
wird die Situation aus den Perspektiven
der Lehrerin, der Eltern und indirekt
auch des Kindes rekonstruiert, um über
diesen Umweg unterschiedliche Motivlagen und Denkmuster offen zu legen
2.1. Die Perspektive der Lehrkraft
Die Lehrerin hat das Gespräch gesucht,
sie hat dies nicht vor der gesamten
Klasse getan, sie hat sich hingesetzt, sich
dem Kind zugewandt, das Gespräch ruhig begonnen und eine offene Frage gestellt. Dies stellt für den pädagogischen
Alltag ein durchaus nachvollziehbares
Verhalten dar. Dennoch war der Verlauf
des Gesprächs kaum zufriedenstellend,
insbesondere auch deshalb, weil sich das
Fehlverhalten kurze Zeit später wiederholte. Aus der Perspektive der Lehrkraft
war das Verhalten von Ömer irritierend,
denn ansonsten sei er ein sehr lebhafter
und selbstbewusster Junge. Daher kann
sie sein Verhalten nicht klar einordnen:
War es ein Ausdruck von Desinteresse
oder von Respektlosigkeit, dass er sie
nicht angeschaut und ihr nicht geantwortet hat? Nimmt er sie u. U. als weibliche Autoritätsperson nicht ernst oder
hat sie sich inadäquat verhalten? Durch
diese Unsicherheit wird sie im Laufe des
Gesprächs ungeduldig, immer entschiedener und zuletzt weiß sie sich nicht
anders zu helfen, als dem Jungen mit der
Autorität der Eltern zu drohen. Weil sie
nicht beabsichtigte, Ömer zum Weinen
zu bringen, tröstet sie ihn anschließend.
Mit dem unbestimmbaren Gefühl,
etwas falsch gemacht zu haben bzw. den
Jungen nicht richtig eingeschätzt zu
haben, fährt sie nach Hause. Sie denkt
darüber nach, ein Gespräch mit Ömers
Eltern zu führen, um einen besseren
Einblick in die familiäre Situation zu
bekommen und mögliche Probleme
zu klären. Die Unbestimmtheit der Situation veranlasst sie also, zunächst ein
Problem in der Familie zu vermuten.
2.2. Die Perspektive der
Eltern
Elf türkeistämmigen Vätern aus dem
Arbeitermilieu wurde die Videoaufzeichnung, in der die Situation von
Schauspielern nachgestellt wird, gezeigt,
um herauszufinden, wie sie die Situation
interpretieren. Um mögliche (Selbst-)
Ethnisierungen zu vermeiden und
Erziehungsverhalten und -muster zu
fokussieren, wurde ein deutschstämmiges Kind für die Aufzeichnung gewählt.
Im Folgenden wird die Reaktion eines
türkeistämmigen Vaters exemplarisch
dargestellt. Der Vater schaut sich
das Video interessiert und ruhig an.
Mehrmals nickt er und bestätigt damit
die Angemessenheit des pädagogischen
Handelns. Erst am Ende schüttelt er mit
dem Kopf.
I: „Was haben Sie da gesehen?“
V: „Das ist nicht richtig. So ist da kein
Wunder, dass unsere Jungen Probleme
in der Schule haben. Wir sagen unseren
Jungen: ‚Sei respektvoll zu den Lehrern’.
Egal ob Mann oder Frau, das is egal.
35
Aber dort, ich weiß nicht, die dort kennen
Respekt nicht […]. Er soll nicht weinen
und sie soll ihn nicht trösten auch noch.
Was soll das? […] Warum gibt es keine
Bestrafung?“
Zunächst fällt das Wir-Die-Denken auf.
Was erst im Laufe des Gesprächs klar
wird: Der Vater meint mit „Wir“ nicht
seine Familie oder Eltern im Allgemeinen, sondern türkeistämmige Eltern
im Speziellen. Obwohl das Kind in der
nachgespielten Szene weder sprachliche
noch optische Merkmale aufweist, die
auf einen türkischen Jungen hindeuten,
wird vom Vater die Situation unmittelbar in den eigenen Kontext übertragen.
Er scheint sich häufiger mit anderen
Eltern über diese Thematik unterhalten
zu haben und nimmt hier ein allgemeines Problem wahr.
Wie hätte sich der Vater verhalten? Der
Vater empfindet das Fehlverhalten des
Jungen ausdrücklich als inakzeptabel –
in der Sache selbst gibt es also zunächst
keine unterschiedliche Problemwahrnehmung. Jedoch unterscheidet sich
das erzieherische Vorgehen des Vaters
fundamental von jenem der Pädagogin.
Er würde den Jungen verbal und mit
entschiedenem Ton zurechtweisen.
Dabei wäre jede Antwort des Jungen
als Aufmüpfigkeit zu interpretieren und
würde entschieden bestraft. Der Vater
möchte gar nicht wissen, wie dieses
Fehlverhalten zustande kam und warum
der Junge etwas Verbotenes tut. Selbst
dann, wenn der Vater Fragen stellt,
erwartet er häufig keine Antwort.2 Aus
seiner Perspektive handeln Kinder häufig unüberlegt, was unterbunden und
je nach Schweregrad geahndet werden
müsse. Dabei ist es ihm wichtig, dass der
Junge nicht weint, also nicht emotional reagiert, sondern die Autorität der
erziehenden Person uneingeschränkt
anerkennt und sich unterordnet.
Ebenso missfällt dem Vater, dass die
Lehrerin die Eltern als Drohkulisse
instrumentalisiert, obwohl der Junge
die Autorität der Lehrerin gar nicht
anzweifle. Diese Unsicherheit der Pädagogin wird vom Vater als Inkompetenz
gedeutet. Genauso verhält es sich mit
einer eventuellen Einladung der Eltern
durch die Lehrkraft:
36
V: „Warum sollen wir kommen? Sie kann
nicht so mit dem Kind so umgehen. Das
ist keine Erziehung. Das Problem hat sie
gemacht. Jungen machen immer so ein
Quatsch. Sie muss klarkommen damit.
Warum schicke ich Kinder in Schule,
wenn dann auch dort die Erziehung ich
machen muss?“
Während der Vater also das Fehlverhalten des Jungen genauso missbilligt, wie dies auch die Pädagogin
tat, scheint ein fundamentaler
Unterschied darin zu liegen, wie das
Fehlverhalten erklärt wird und entsprechend auch wie damit umgegangen wird. In der wissenschaftlichen
Literatur ist dieser Erziehungsstil
türkeistämmiger bzw. muslimischer
Familien häufig beschrieben worden. Beispielsweise bei AlamdarNiemann (1992), Merkens (1997)
und Toprak (2002). Aus diesen drei
Studien lässt sich erkennen, dass sich
zum einen ganz unterschiedliche
Erziehungsstile in türkeistämmigen
Familien feststellen lassen, aber zum
anderen auch, dass es einen Typus
gibt, der dem Erziehungsstil des
Vaters entspricht: Die Bezeichnungen religiös-autoritär (AlamdarNiemann), autoritär (Merkens) und
konservativ-spartanisch (Toprak)
benennen das Erziehungsverhalten
auf analoge Weise und unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf
die Bedeutung der Religion für die
Erziehung.3
In diesen drei Typisierungen wird
davon ausgegangen, dass sich die Eltern,
die eine autoritäre bzw. konservative
Erziehung verfolgen, besonders dann
erzürnen, wenn das Kind widerspricht.
Das Abweichen von elterlichen Anordnungen wird nicht geduldet. Gegenüber
Forderungen des Kindes bleiben die
Eltern grundsätzlich hart. Entsprechend
handelt es sich hier um ein spezifisches
Menschenbild. Demnach ist ein Kind
noch nicht zur Einsicht fähig. Ein Fehlverhalten wird scharf angemahnt und
nicht ergründet. Erst ein aufmüpfiges
Verhalten, das bereits durch ein Antworten während der Zurechtweisung als
solches identifiziert werden kann, führt
zu einer harten Bestrafung. Respekt,
Gehorsam und Loyalität sind in diesen
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Familien zentrale Werte. Die Bestrafung
von Kindern dient den Eltern also zum
einen zur Verhaltenskorrektur, zum
anderen aber auch zur (Wieder-)Herstellung der Loyalität den Eltern und
Erwachsenen gegenüber.
Aus dieser Perspektive wird deutlich,
dass für den Vater nicht der Beginn des
Gesprächs zwischen Lehrerin und Kind
(also das Schweigen und der gesenkte Blick), sondern erst das Ende ein
Problem darstellt. Aus seiner Sichtweise
ist das Handeln der Pädagogin nicht
zielführend. Durch den Verlauf des
Gesprächs fühlt sich der Vater darin
weiter bestärkt. Aus den Aussagen des
Vaters kann ferner auf eine weitere typische Denkweise geschlossen werden:
Türkeistämmige Eltern treten häufig
die Bildungs- und Erziehungsverantwortung vollständig an die Schule ab.
Das liegt u. a. an dem großen Handlungsspielraum des Lehrers in Bezug
auf die Disziplinierung der Schüler in
muslimischen Gesellschaften. Schulen
im Orient übernehmen die Erziehungsverantwortung für die Kinder während
der Schulzeit praktisch vollständig (vgl.
Leenen u. a. 1990). D. h., dass auftretende Probleme innerhalb der Schule
gelöst werden, ohne dass die Eltern zu
Rate gezogen werden. Die Funktion der
Schule wird offenbar nicht angemessen
eingeschätzt, was als plausible Erklärung dafür gilt, dass türkeistämmige
Kinder trotz hoher Bildungsaspirationen der Eltern im Bildungssystem
relativ schlechte Ergebnisse erzielen
(vgl. hierzu auch Bittlingmayer / Bauer
2007). Vor diesem Hintergrund lässt
sich nachvollziehen, dass der Vater die
Einladung zu einem Gespräch bezüglich
der Erziehung des Kindes als pädagogische Inkompetenz deutet.
2.3. Die Perspektive des
Kindes
Was der Pädagogin in der Situation
also nicht klar wurde: Ömer verhält
sich ihr gegenüber anscheinend nach
den Regeln der innerfamiliären Kommunikation in konservativen Familien.
Das Verhalten, das seine Lehrerin als
Desinteresse oder gar Respektlosigkeit
deutet, scheint vielmehr ein Ausdruck
von Demut und Gehorsam zu sein.
Sein Verhalten hat den Charakter einer
ansozialisierten inneren Norm: Während einer Zurechtweisung scheint er
Hemmungen zu haben, einer Autoritätsperson in die Augen zu schauen und
ihre Fragen zu erwidern. Ein Angucken
auf Augenhöhe kann dann später auch
unter Jugendlichen als Provokation – als
Anmache – interpretiert werden (Tertilt
1996).4 Direkter Blick- bzw. Augenkontakt ist in orientalischen Kulturen
traditionell nur zwischen Statusgleichen
üblich (Broszinsky-Schwabe 2011).
Er schweigt – ein Verhalten, das er gelernt hat. Jedoch wird sein respektvolles,
einer gelernten Regel folgendes Verhalten nicht als solches (an-)erkannt. Im
Laufe des Gesprächs zeigt sich: Ömer ist
irritiert. Das Verhalten der Pädagogin
weicht deutlich von jenem seiner Eltern
ab. Zudem ist die Situation für ihn
kaum durchsichtig: Zu häufig wechselt
die Lehrkraft den Gesprächsmodus (erst
offen und freundlich, dann ernst und
bedrohlich, zuletzt dann wieder einfühlsam und aufmunternd). Ein solches
situatives erzieherisches Handeln wird
in konservativen Familien kaum praktiziert. Ömer fehlt in solchen Situationen
Orientierung und Berechenbarkeit. Die
großen Distanzen, die zwischen einer
Orientierung an Einsicht und Selbstständigkeit in der Schule und der Orientierung an Autorität und Loyalität in
der Familie bestehen, können dauerhaft
zu Stress führen. Er erlebt verschiedene
Regelwerke und Anerkennungsmodi in
Schule und Familie, ohne dass ihm dies
klar zu werden scheint.5
3. Mögliche Folgen
Bei dauerhaften Irritationen zwischen
widersprüchlichen Anerkennungsmodi
ist es aus der Perspektive von Kindern
durchaus problematisch, beiden Erwartungsstrukturen bzw. Erziehungslogiken
gerecht zu werden (vgl. Grundmann
et al. 2008). Problematisch wird es
dann, wenn Anerkennung in der Schule
ausbleibt und damit das Wertesystem
der Schule tendenziell weniger attraktiv
wird. Dies gilt für sozial benachteiligte
Jungen mit türkischem Migrationshintergrund in besonderem Maße. Denn
37
in konservativen türkischen Familien
dürfen Jungen toben und aggressives
Verhalten ausleben, ohne permanent
auf Missgunst zu stoßen (vgl. PflugerSchindlbeck 1989).6 Zudem sind sie
mit den Regeln der Eltern, des näheren
häuslichen Umfelds und der ethnischen
Community besser vertraut als mit den
impliziten Regeln in pädagogischen
Institutionen.
Die Werte, die in der Schule gelebt
werden, können für die Kinder aus konservativen Migrantenfamilien zu einer
enormen Herausforderung werden. Die
individualisierte Lebensführung, auf die
die Schule vorbereiten soll, basiert auf
individueller Anerkennung als moderne
Form der Integration. Bleiben diese
Erfahrungen aus, besteht die Gefahr
des Rückzugs in das Herkunftsmilieu
bzw. die ethnische Community. „Desintegration zeigt sich deshalb gerade
in einem Anerkennungsvakuum […].
Bleibt Anerkennung aus, kann leicht
eine Entwicklung eintreten, die traditionelle Form der Integration durch
Bindung wiederzubeleben“ (Heitmeyer
et al. 1998:59; Hervorhebung nicht im
Original). Da Ömer bereits Leistungsdefizite, insbesondere im sprachlichen
Bereich, attestiert werden, besteht durch
solche irritierenden Zustände, die keine
Antizipierbarkeit sozialer Situationen
ermöglichen, durchaus das Risiko für
Schuldistanzierung. Als Risikofaktoren
für Schulmüdigkeit und Schuldistanzierung zählen u. a. Dissonanzen zwischen
schulischer und außerschulischer
Lebenswelt und ambivalente Haltungen
der Eltern gegenüber der Schule (vgl.
u. a. Thimm 2000).
Die Häufung schulischer Kontexte, in
denen die Antizipation von Erwartungen und von Folgen des eigenen Handelns nicht gelingt und entsprechend
Anerkennung und Erfolg ausbleiben,
begünstigt eine Haltung, in der die
schulischen Logiken als etwas Fremdes
wahrgenommen werden. Wenn sich
dann im Laufe der Jugendphase zusätzlich die Haltung etabliert, dass die
Lebenspraktiken und Denkmuster der
Eltern nicht zeitgemäß sind, setzt eine
aktive Suche nach (neuer) Zugehörigkeit ein (Bohnsack / Nohl 2001). Diese
38
Suchbewegungen jenseits schulischer
und familiärer Einflussnahme können
insbesondere in segregierten städtischen Räumen zu verheerenden Folgen
führen.
4. Fazit
Zunächst muss auf die Besonderheiten
des Samples hingewiesen werden: Alle
befragten Väter weisen ein niedriges
Bildungsniveau auf und leben in einem
stark benachteiligten Stadtteil. Dabei
weisen lediglich fünf der insgesamt elf
Befragten ein konservatives Erziehungsverständnis nach dem hier beschriebenen Muster auf. Auf dieser Grundlage
können keine quantitativen Aussagen
getroffen werden und schon gar keine
Generalisierung auf der Grundlage von
Repräsentativität. Es geht also nicht
darum, Aussagen über objektive Verhältnisse zu machen, sondern vielmehr
darum, bekannte und belegte Problemstellungen aus der Erlebensperspektive
der Akteure exemplarisch aufzuzeigen,
insbesondere die Deutungen einer
Situation aus den Perspektiven verschiedener Akteure.
Bezogen auf den konkreten Fall kann
man sich fragen, wie die beteiligten
Personen reagieren, wenn sich Ömer
wieder ungeschickt anstellt. Wie wird
Ömer auf die dauerhaften Irritationen
zweier Erziehungslogiken reagieren, die
nebeneinander stehen und sich teilweise
widersprechen? Wie wird die Lehrerin
mit einer erneuten Frustration umgehen? Und welche Haltung gegenüber
der Schule und der Lehrkraft entwickeln die Eltern, wenn sie erneut zu Rate
gezogen werden bzw. wenn sie das Gefühl haben, das Fehlverhalten würde auf
innerfamiliäre Probleme zurückgeführt?
Um Widersprüche und Irritationen –
wie sie hier beschrieben wurden – zu
vermeiden müssten sie zunächst als
solche erkannt und transparent bearbeitet werden. Hierfür erscheinen drei
Aspekte zentral: (1) Diversität und
Ungleichheit müssen in der Aus- und
Weiterbildung der Lehrkräfte sowie
der sozialpädagogischen Fachkräfte
eine größere Rolle spielen; damit geht
(2) einher, dass (u. U. sehr vorausset-
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
zungsreiche) Normalitätsannahmen auf
den Ebenen der Organisation und der
Interaktion erkannt und reflektiert werden; daraus lässt sich (3) ableiten, dass
interdisziplinäre (Erziehungs-)Konzepte (u. a. in Bezug auf den Unterricht, die
Schulsozialarbeit und das Ganztagsprogramm) notwendig sind. Unter dem
Stichwort Migrationssensibilität ließen
sich die drei Punkte auf einen Nenner
bringen.
Insgesamt kann es also keineswegs darum gehen, sich der familiären Erziehung
anzunähern, sondern – ganz im Gegenteil – die Kinder dazu zu befähigen,
die schulischen Herausforderungen zu
bewältigen, indem der Anteil dessen,
was implizit vorausgesetzt wird, so klein
wie möglich gehalten wird. Das bezieht
sich nicht allein auf die Entwicklung
von Sprachkompetenz, sondern auch
auf erzieherische Fragen im Allgemeinen. Die Eltern in solche Konzepte
mit einzubeziehen, kann durchaus
gewinnbringend sein. Von den Eltern
zu erwarten, sich zu ändern, erscheint
hingegen kaum erfolgversprechend. Sie
können sich nur sehr schwer von ihren
Werten und Traditionen distanzieren.
Im Gegenteil: Häufig geben sie den
schulischen Verhältnissen die Schuld für
das Scheitern der eigenen Kinder. Dadurch werden die eigenen Denkmuster
und Erziehungsziele u. U. verstärkt, was
für folgende Generationen das Spannungsverhältnis zwischen Familie und
Schule weiter konserviert (El-Mafaalani
/ Toprak 2011).
Kinder aus benachteiligten Migrantenfamilien erleben zwei unterschiedliche
Identitäten, zwei verschiedene kulturelle Codes, also im wörtlichen und
metaphorischen Sinne zwei Sprachen,
bei denen sich die Heranwachsenden
als Sprecher und Übersetzer zugleich
üben müssen. Diese zu vollziehenden
komplexen Syntheseleistungen zwischen
herkunftsbezogenen und aufnahmelandbezogenen Erwartungen werden
um schichtspezifische Problemstellungen verstärkt. Die Art, in der Kinder
eine Möglichkeit erhalten bzw. erkennen, Anerkennung in Schule und Beruf
zu erfahren, bestimmt entscheidend mit,
inwieweit sie die traditionellen Denk-
und Handlungsmuster aufrechterhalten,
verstärken oder den deutschen Verhältnissen angleichen.
5. Literatur
Alamdar-Niemann, M. (1992): Türkische
Jugendliche im Eingliederungsprozess. Eine
empirische Untersuchung zur Erziehung
türkischer Jugendlicher in Berlin (West) und
der Bedeutung ausgewählter individueller
und kontextueller Faktoren im Lebenslauf.
Hamburg: Dr. Kovac.
Bittlingmayer, U. H. / Bauer, U. (2007):
Aspirationen ohne Konsequenzen. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und
Sozialisation 27(2007), S. 160-180.
Bohnsack, R. / Nohl, A.-M. (2001): Ethnisierung und Differenzerfahrung. Fremdheiten der Identität und des Habitus. Zeitschrift
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Sozialforschung 2(2001), S. 189-207.
Broszinsky-Schwabe, E. (2011): Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse und
Verständigung. Wiesbaden: VS Verlag.
El-Mafaalani, A. (2012): Vom Arbeiterkind zum Akademiker. Habitusanalytische
Rekonstruktionen überwundener Ungleichheit jenseits von Migration und Geschlecht.
In: Soeffner, H.-G. (Hrsg.): Transnationale
Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35.
Kongresses der Deutschen Gesellschaft für
Soziologie in Frankfurt am Main 2010.
Wiesbaden: Springer VS.
El-Mafaalani, A. / Toprak, A. (2011):
Muslimische Kinder und Jugendliche in
Deutschland. Lebenswelten, Denkmuster,
Herausforderungen. St. Augustin / Berlin:
Konrad-Adenauer-Stiftung.
Geißler, R. (2008): Die Metamorphose der
Arbeitertochter zum Migrantensohn. Zum
Wandel der Chancenstruktur im Bildungssystem nach Schicht, Geschlecht, Ethnie
und deren Verknüpfungen. In: Berger, P.
A. / Kahlert, H. (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen
Chancen blockiert. Weinheim: Juventa, S.
71-100.
Grundmann, M. / Bittlingmayer, U. H. /
Dravenau, D. / Groh-Samberg, O. (2008).
Bildung als Privileg und Fluch – Zum
Zusammenhang zwischen lebensweltlichen
und institutionalisierten Bildungsprozessen.
In: Becker, R. / Lauterbach, W. (Hrsg.):
Bildung als Privileg. Erklärungen und
39
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Heitmeyer, W. / Collmann, B. / Conrads, J.
(1998): Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus. Weinheim: Juventa.
Merkens, H. (1997): Familiale Erziehung
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Deutschland. In: Kirchhöfer, D. / Merkens,
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Deutschland. Baltmannsweiler: Schneider,
S. 9-100.
Pfluger-Schindlbeck, I. (1989): „Achte die
Älteren, liebe die Jüngeren“. Sozialisation
türkischer Kinder. Frankfurt/M.: Athenäum.
Tertilt, H. (1996): Türkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Thimm, K. (2000): Schulverweigerung.
Münster: Beltz.
Toprak, A. (2002): „Auf Gottes Befehl und
mit dem Worte des Propheten...“. Auswirkungen des Erziehungsstils auf die Partnerwahl
und die Eheschließung türkischer Migranten
der zweiten Generation in Deutschland.
Herbolzheim: Centaurus.
40
Endnoten
1. Diese Bewertung der Sprachkompetenz
wurde von der Lehrerin im Hinblick auf die
deutsche Sprache ausgesprochen. Inwieweit
dies auch auf die Türkischkenntnisse zutrifft,
konnte nicht nachvollzogen werden.
2. Beispielsweise: Was soll das? Bist du verrückt? Willst du mich provozieren? Hierbei
handelt es sich um rhetorische Fragen, auf
die nicht geantwortet werden darf.
3. Für den vorliegenden Sachverhalt ist
die Bedeutung der Religion irrelevant.
Insgesamt wird das Verhältnis von traditioneller und religiöser Erziehung kontrovers
diskutiert.
4. Der häufig parodierte Spruch „Was
guckst du?!“ lässt sich hieraus herleiten.
5. Genau diesen Zusammenhang konstatieren auch Bohnsack und Nohl (2001).
Allerdings vermuten die Autoren, dass diese
Dissonanzen zwischen der „inneren Sphäre“
(Familie) und der „äußeren Sphäre“ (Mehrheitsgesellschaft) erst in der Adoleszenz zu
einem Problem werden. Hier kann jedoch
durchaus vermutet werden, dass diese bereits
vorher (zumindest implizit) wirksam sind.
6. Die geschlechtsspezifische Erziehung
spielt in konservativen türkeistämmigen
Familien eine herausragende Rolle: Während Jungen zu körperbetontem, aktivem
Verhalten motiviert werden, wird von Mädchen Schamhaftigkeit und Zurückhaltung
erwartet. Dadurch können dann auch unterschiedliche Problemstellungen in der Schule
auftreten. Durch die Distanz zwischen den
traditionellen Männlichkeitsbildern und
den in der Schule erwarteten Verhaltensweisen werden Jungen vor besondere Herausforderungen gestellt.
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41
42
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
So nah und doch so fern –
Fremdheitserfahrungen deutscher
Migranten in Frankreich
From proximity to distance – experiences of strangeness by
German immigrants in France
Manfred Ertl
Abstract (Deutsch)
Soziologe und Deutschlehrer (agrégation), tätig als Forscher und in
einem französischen Gymnasium
Ziel dieses Artikels ist es zu verstehen, wie deutsche Auswanderer der 80er und 90er
Jahre in Frankreich die kulturelle und gesellschaftliche Distanz erlebt haben, welche
Fremdheitserfahrungen sie gemacht haben und wie sie damit umgegangen sind, um ihren Platz in der französischen Gesellschaft zu finden und sich an die Kultur (im Sinne
von Sitten, Gebräuchen, Werten usw.) und die Gesellschaft zu gewöhnen. Wir analysieren die Lebensweise der Deutschen in Frankreich vornehmlich aus einer inneren,
subjektiven Perspektive, aus ihrer Wahrnehmung der Fremdheit.
Wir vernachlässigen bewusst klassifizierende Ansätze der Integration. Jedoch interessieren wir uns dafür, wie sich der Migrant von seiner neuen Umgebung wahrgenommen fühlt. Wichtige Ergebnisse der Studie sind: Die Ursprungskultur prägt durch ihre
Sozialisierung auf Lebenszeit und man bleibt immer irgendwie fremd in der zweiten
Kultur. Man muss der Herkunftskultur einen angemessenen Platz im Leben einräumen, um die Fremdheitserfahrungen besser ertragen zu können. Dafür gilt es eine
Vielzahl von Anpassungsleistungen zu bewerkstelligen, um eine Ursprungskultur im
Ausland (miter-)leben zu können, ohne sich darin einzuschließen. Schließlich kommt
es bei vielen Migranten zu einer Persönlichkeitsstärkung durch die Auswanderung.
Stichworte: Kultur, Fremder, Ausländer, Migrant, Auswanderung
Abstract (English)
The aim of this article is to understand how the German expatriates of the 80‘s and
90‘s in France experienced the cultural and social distance of the two countries, what
kind of experiences as foreigners they had and how they have managed to find their status in the French society and to get used to the local culture (highlighting conventions,
manners, values etc.) and society.
We will analyze the lifestyles of Germans in France in the first place from a subjective
viewpoint, from their perception as strangers. Classifying typologies of integration will
be put aside on purpose. However we are interested in migrant’s perception of their
new environment. The important outcomes of the study are: Through socialization the
culture of origin influences the individuals all their lives and causes some perpetual
strangeness in a second culture. People have to find an appropriate status for their culture of origin so that they better bear experiences of strangeness.
43
Therefore a lot of adaptations are necessary in order to live also one’s culture of origin
in a foreign country, without getting locked in with it. Finally a lot of migrants benefit
from a stronger personality thanks to their expatriation.
Keywords: Culture, stranger, foreigner, migrant, expatriation
1. Nähe und Distanz zwischen zwei Ländern aus der
Sicht von Migranten
Frankreich und Deutschland teilen eine
lange gemeinsame Geschichte, reich an
Annäherungen, aber auch an Konflikten. Angesichts eines derartig vielschichtigen Erbes lässt sich verstehen, warum
nach 1945 die deutsch-französische
Freundschaft zur Pflichtinstitution
wurde, um die Beziehungen zu befrieden. Wir wissen auch, dass die deutschfranzösischen Jugendbegegnungen eine
zentrale Säule dieser Freundschaft sind
und sich so erste Kontakte aufbauen.
Wir wissen allerdings weniger über die
Beziehungen zwischen den benachbarten Bürgern, abgesehen von Imagestudien und Fremdsprachenstatistiken. Die
Reaktionsweisen auf eine fremde Umgebung wurden bislang vornehmlich als
Ergebnis der kulturellen bzw. sozialen
Distanz zwischen Migranten und einer
Gastgesellschaft beschrieben. Fremdheit
als zentrale Erfahrung des Migrationsprozesses in allen seinen Stadien scheint
meines Wissens noch weniger erforscht,
vor allem im innereuropäischen Kontext. Vornehmlich (sozial-) psychologische Studien beschäftigten sich bislang
in einem internationalen Kontext mit
Fremdheitsgefühlen wie Heimweh,
Depressionen und Identitätsstörungen
abhängig von der kulturellen Distanz
zwischen Herkunfts- und Gastgesellschaft, der sozialen Integration und
der Persönlichkeit (Ward / Kennedy
1993:131, Santé mentale au Québec
1993).
Ich versuche die Natur dieser Fremdheitserfahrungen und den Umgang
mit ihnen ausgehend von klassischen
soziologischen Schriften zum Thema
und eigenen Interviews zu eruieren.
Dieser Artikel will verstehen, wie die
Deutschen in Frankreich die kulturelle
und gesellschaftliche Distanz erlebt
haben, welche Fremdheitserfahrungen
44
sie gemacht haben und wie sie damit
umgegangen sind, um ihren Platz in der
französischen Gesellschaft zu finden
und sich an die Kultur (im Sinne von
Sitten, Gebräuchen, Werten usw.) und
die Gesellschaft zu gewöhnen. Nicht
zuletzt wird ein neues Verhältnis zwischen Herkunfts- und Gastkultur und
der soziale Status in Herkunfts- und
Gastgesellschaft thematisiert.
Wir explorieren diese Forschungsfrage
aus der Sicht von deutschen Immigranten in Frankreich, geboren nach 1945.
Unsere empirische Studie basiert auf 20
lebensgeschichtlichen Interviews (Erhebungszeitraum 2011-2012) mit diesen
Emigranten der 80er und 90er Jahre, die
also mindestens 20 Jahre in Deutschland und mehr als zehn in Frankreich
verbracht haben. Die Interviews
bestehen aus zwei Teilen, einem narrativen Teil der Lebensgeschichte von
etwa ein bis zwei Stunden und einem
Teil mit offenen Nachfragen von etwa
gleicher Länge, falls diese nicht schon
ausreichend beantwortet wurden. Viele
der Befragten hatten Französisch in der
Schule und haben Familienurlaube in
Frankreich verbracht oder an Schülerbzw. Studentenaufenthalten teilgenommen. Fast alle haben das Abitur
und sogar ein Universitätsstudium als
Bildungshintergrund. Der Partner ist in
der Regel französischer oder zumindest
nichtdeutscher Herkunft (siehe auch
Alaminos 2006).
Weitere methodische Details zur Empirie betreffen die Kriterien, nach denen
die Interviewpartner ausgewählt wurden. Alle Interviewpartner haben eine
vollständige Sozialisation in Deutschland mit mindestens ersten Studienbzw. Berufserfahrungen. Sie müssen
mindestens zehn Jahre durchgehend in
Frankreich gelebt und auch gearbeitet
haben. Es wurde natürlich, soweit das
im Rahmen einer qualitativen Befragung möglich ist, auch auf eine gewisse
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Repräsentativität der Geschlechterverteilung, der Altersstruktur, der Wohnorte, der Ausbildung bzw. der Berufe
geachtet. Trotzdem ist die Stichprobe
großstadtlastig, beinhaltet viele Lehrer
bzw. Kulturvermittler und vorwiegend
längere Ausbildungswege.
Die Interviews wurden durch Mitschrift, digitale Aufnahme und teilweise
schriftliche Nachbefragungen erfasst.
Die Auswertung bestand aus thematischen Zusammenfassungen der Interviews je nach Forschungsproblematik,
aber auch teilweise aus wörtlichen
Transkriptionen der Aufnahmen. Die
Zitate aus den Interviews sind eher
kategorischer und thematischer Natur,
weil die Befragten nur sehr indirekt auf
Fremdheitsgefühle zu sprechen kamen,
vielleicht um ihr neues Selbstverständnis nicht zu gefährden. Zudem hätte
eine Kontextualisierung von zu vielen
Zitaten auch den Rahmen eines Artikels
gesprengt.
Die theoretische Auswertungsmethode bezieht sich im Wesentlichen
auf Analysen von Philippe D’Iribarne
(2011:453ff.).
„It is more important to analyze the
categories that structure the discourse
(’outer form’) than what the interviewees
are seeking to get across (’the content’)
[…] shared framework of meaning…a
certain vision of what constitutes the
proper way of living together” (D’Iribarne
2011:460). Wichtige Anregungen
kamen auch aus der „Methodenfibel für
qualitative Interviews” von Jean-Claude
Kaufmann (2008).
Ein letztes Problem liegt naturgemäß
in der Repräsentativität der Ergebnisse
und Interpretationen der qualitativen
Interviews. Man kann sich natürlich
darüber streiten inwieweit der Forscher
als Interviewer, der das Schicksal der
Befragten selbst teilt, einen Einfluss auf
deren Aussagen ausübte. Andererseits
erleichtert dieselbe kulturelle Herkunft
bestimmte Interpretationsfragen.
Beide Phänomene tauchten übrigens
unter umgekehrten Vorzeichen bei der
Befragung französischer Einwanderer
in Deutschland auf. Es hat sich dabei
gezeigt, dass eine tiefe Vertrautheit
mit der Kultur der Befragten, diese zu
tieferen Erzählungen ihrer Lebensgeschichte inspiriert. Umgekehrt bestand
in den französischen Interviews in
Deutschland manchmal die Gefahr in
ein berufliches Curriculum vitae wie mit
einem Arbeitsgeben abzugleiten. Wir
haben bewusst ausgeklammert: deutsche Studenten, Rentner und andere
Nichterwerbstätige, ja sogar Entsandte,
um uns auf die Herausforderung einer
vollständigen Integration zu konzentrieren.
2. Begriffe des Fremden
und von Fremdheitserfahrungen
2.1. Der Begriff der Fremdheit
Konfrontiert mit einer fremden Kultur1
oder Gesellschaft2 taucht die Fremdheitserfahrung auf, wenn jemand regelmäßig in einem unbekannten Kontext,
in unbekannten Situationen, mit ihm
unbekannten Personen handeln muss
bzw. Schwierigkeiten hat, die Konsequenz seiner Handlungen zu antizipieren. Im Gegensatz zur Entfremdung
setzt die Fremdheitserfahrung voraus,
dass diese Unsicherheitsfaktoren nicht
gemeinsam auftreten. Im Gegensatz
zum touristischen Tapetenwechsel oder
der Geschäftsreise ist dieses Fremdheitsgefühl jedoch von Dauer, ohne dass
der Akteur ihm entgehen könnte und
ohne dass seine Herkunftskultur ihm
dabei irgendwie behilflich sein könnte,
z. B. durch Rückzug in die Gesellschaft
von Landsleuten. Hahn unterscheidet
Andersheit, eine mental wahrgenommene Fremdheit der Alterität von
Fremdheit in der Interaktion, wenn die
Art des Umgangs mit den Mitmenschen divergiert (Hahn 1994:142). Die
Interviewten berichten fast ausschließlich über Fremdheit (Gewohnheiten,
Umgangsweisen etc.) oder reduzieren
diese auf Andersheit (Werte, Denkweisen etc.). Die Unterscheidung zwischen
sozialer und mentaler Anpassung ist den
Befragten offensichtlich nur sehr diffus
bewusst.
45
In einer soziologischen Herangehensweise – wie in meiner Definition – kann
Fremdheit nicht total sein. Jedes Gesellschaftsmitglied kann Fremdheitsgefühle
sowie Vertrautheit erleben, nicht nur
die Immigranten. Jedoch kann nur der
Ausländer, ohne primäre Sozialisation
im Gastland zum Fremden werden.
Ich beziehe mich hier auf den Typus
des „Fremden“, analysiert von Park
(1928:881ff.), Schütz (1972:53ff.) und
Simmel (1995:202ff.).
2.2. Fremdheit und Lebensgeschichte
Man kann jedem Auswanderer aus persönlichen Motiven entgegenhalten, dass
er ja freiwillig zum Fremden geworden
ist. Wenn er mit seiner Situation nicht
zufrieden ist, kann er jederzeit nach
Hause zurückkehren. Tatsächlich liegen
die Dinge im Einzelfall jedoch etwas
komplizierter. Der wichtigste Grund,
sein Land freiwillig zu verlassen, ist
selten Fernweh, Abenteuerlust, Erlebnishunger von jungen Leuten oder
eine Karrierechance bzw. eine berufliche Entsendung. Ja, selbst die große
Liebe ist selten der tiefere Grund. Der
wesentliche Antrieb findet sich in der
Beziehung zu seiner sozialen Umgebung
(und / oder seiner Kultur) und seiner
Person, geformt von dieser Umgebung.
Nach Akhtar ist es diese persönliche
Beziehung zu seiner Kultur und seiner
Ursprungsumgebung, die alle Beziehungen zu anderen Kulturen und sozialen
Kontexten bestimmt. Wenn dieses
Verhältnis nicht befriedigend ist, sind
zwei Reaktionsweisen des Individuums
vorstellbar, die Akhtar von Freud übernimmt (Akhtar 2007:178)3: Entweder
sucht sich das Individuum eine neue
Umgebung, die besser zu seinen Bedürfnissen passt. In diesem Fall korrigiert
die Auswanderung eine Nichtanpassung
an das Ursprungsmilieu. Freud spricht
von einer alloplastischen Anpassung.
Oder das Individuum fühlt das Bedürfnis, seine Persönlichkeit zu ändern und
hofft, dies in einer neuen Umgebung
zu erreichen. Dann dient die Auswanderung der Persönlichkeitsentwicklung
bzw. -veränderung dank eines neuen Mi-
46
lieus. Freud bezeichnet diese Anpassung
als autoplastisch.
Wir diskutieren hier nicht, wie die
beiden Motive in aller Regel verflochten sind. Die Interviews zeigen, dass
sich viele in ihrer Ursprungsumgebung
unwohl und isoliert fühlten, egal, ob es
sich um ihre Familie, ihren Wohnort
oder Deutschland im Allgemeinen handelte. Fast alle Befragten waren bereits
früh in ihrer Jugend eher Einzelgänger.
Diese Befragten versuchten vermehrt
mit ihrer Auswanderung zu sich selbst
zu finden. In einigen Fällen wollten sie
ihre Persönlichkeit weiterentwickeln,
um unabhängiger, mutiger, unternehmenslustiger, erwachsener etc. zu
werden. Die ursprüngliche Sozialisation
scheint eine Art Blockade gegenüber ihrer Umgebung aufgebaut zu haben, die
sie als Neuling in Frankreich abzuschütteln hofften.
„Ich litt in Deutschland immer unter
einer gewissen Isolierung, dieser Abgeschlossenheit, mit Gardinen überall, an
der Endgültigkeit und Festgefügtheit von
allem.” (Interviewpartner A)
2.3. Formen der Fremdheit
und Aufbau dieses Artikels
Wir analysieren die Lebensweise von
Deutschen in Frankreich vornehmlich
aus einer inneren, subjektiven Perspektive, aus ihrer Wahrnehmung der
Fremdheit. Wir vernachlässigen bewusst
klassifizierende Ansätze der Integration (Berry 1990:201ff.)4, basierend auf
Beobachtung und spezifischen sozialen
Konstellationen ihrer Umgebung.
Jedoch interessieren wir uns dafür, wie
sich der Migrant von seiner neuen Umgebung wahrgenommen fühlt.
Viele Autoren migrations- bzw. fremdheitstheoretischer Forschungen sprechen von Phasen der Migration und
damit verbundenen Fremdheitserfahrungen. Breckner unterscheidet insbesondere:
„[…] - die Phase des ‚Ankommens‘ in
einer neuen Gesellschaft mit entsprechenden Erfahrungen bei der ‚Aufnahme‘;
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
- Prozesse des ‚Etablierens‘ und Herstellung von Teilhabe an verschiedensten
Funktionssystemen,
charakterisiert: What a hell is going on
here? (Geertz 1973)
- Phasen der Neustrukturierung ortsgebundener Bezüge zum Herkunftszusammenhang (z. B. durch deren ‚Verpflanzung‘ in den Aufenthaltskontext mit Hilfe
symbolischer Gegenstände, dem Nachzug
signifikanter Personen oder durch Heimfahrten) und schließlich
3. Fremdheitserfahrungen
deutscher Immigranten in
Frankreich
- Phasen der (Re-)perspektivierung der
Migration im Hinblick auf eine Rückkehr
auf einen dauerhaften Verbleib im Aufenthaltskontext oder ein Weiterziehen“
(Breckner 2005: 404).
Ohne in jeder Biographie genau diese
Abfolge für alle Lebensbereiche rekonstruieren zu können, ergibt sich doch
eine Tendenz, dass den Migranten in der
Anfangsphase der Bruch mit gewohnten Lebens- und Handlungsbezügen
zumindest öfters sehr seltsam vorkam
(die anderen Bürokratie-, Hierarchie-,
Höflichkeitsformen werden z. B.
erwähnt), Nach einigen Jahren hat
man sich beruflich, familiär und auch
gesellschaftlich in der Gastgesellschaft
neu positioniert und in gewisser Weise
gelernt, mit den Formen der Fremdheit
im Alltag umzugehen. Schließlich in
einer dritten Phase – die wiederum zu
unterschiedlichen Zeitpunkten und
auch diskontinuierlich für verschiedene
Lebensbereiche auftreten kann – geht
es um die Einbettung von Fremdheit ins
persönliche Selbstverständnis und ein
neues Gleichgewicht zwischen verschiedenen Kulturbezügen.
Diese drei Erfahrungen sind für uns die
Ausgangspunkte, die Wahrnehmung
und das Aushalten von Fremdheitsgefühlen deutscher Immigranten in
Frankreich näher zu untersuchen: 1. Die
Entdeckung der Fremdheit, 2. Das Zulassen der Fremdheit, 3. Die Akzeptanz
der Fremdheit.
In der Folge werden wir sehen, dass der
Fremde in den meisten Fällen eine alltägliche, strukturelle Fremdheit erfährt,
die sich zeitweilig in radikale Fremdheit
wandeln kann und uns sprachlos macht
und jede Reaktion blockiert (Waldenfels 1997:35).5 Dem Ethnologen
Geertz wird ein Ausruf zugeschrieben,
der solche Situationen folgendermaßen
3.1. Die Entdeckung der
Fremdheit
3.1.1. Welchen Status hat die Ursprungssozialisation für das Leben
in einem neuen Land?
„Heimat ist Sicherheit, sage ich. In der
Heimat beherrschen wir souverän die
Dialektik von Kennen-Erkennen, von
Trauen-Vertrauen” (Améry 1980:82).
Vor dem Hintergrund der Biographien
der Befragten geraten unterschiedliche
Fremdheitsaspekte in den Fokus. Die
prinzipielle Problematik ist jedoch, inwieweit kulturelle bzw. soziale Andersartigkeit innerhalb Europas noch wahrgenommen und als störend empfunden
wird. Dieser Frage soll eingangs nachgegangen werden, anhand andauernder
Differenz wegen mangelnder intuitiver
Vertrautheit mit der Gastgesellschaft
und deren Vergangenheit, und schließlich einer biographischen Fremdheit an
allen Lebensorten.
Im Gegensatz zur Entfremdung – eine
extreme Form der Fremdheit – als
Enteignung des Subjekts, gehören
Fremdheitserfahrung zur Beziehung
zwischen Individuum und Gesellschaft.
Aber im Gegensatz zum Fremden,
kann der Einheimische frei seine Dosis
von kulturellem Abenteuer, Fernweh,
Multikulturalität etc. wählen. Soziale
Marginalität von Einheimischen fällt,
im Gegensatz zu der von Fremden, nicht
aus dem Rahmen der sozial und kulturell bekannten und tolerierten gesellschaftlichen Vielfalt.
Das Fremdheitsgefühl ist nicht nur ein
Übergangsphänomen, das man willentlich wie das Fernweh kanalisieren
könnte. Es zeigt sich als stabile Erfahrung, wenn man regelmäßig und über
einen Zeitraum von mehreren Jahren an
Grenzen des Verstehens der Funktions-
47
weise einer anderen Gesellschaft, Kultur
oder der Akzeptanz von Differenz stößt.
In der Gegenwart sind die meisten
Bürger des Okzidents und vor allem
in den großen Metropolen permanent
einer mehr oder weniger homöopathischen Dosis von Fremdheit ausgesetzt,
ob es der Diversität der Lebensstile oder
der Herkunft der Mitbürger geschuldet
ist. Die Offenheit gegenüber solcher
Fremdheit gehört zur Komplexität einer
modernen Persönlichkeit. Indessen ändert sich die Lage, wenn man beschließt,
sich dauerhaft in einem anderen Land
niederzulassen, das nicht die gleiche
Kultur und die gleichen Vergesellschaftungsweisen wie die Herkunftsgesellschaft aufweist.
„Paris war für mich zuerst einmal ein
Schock: die langen Arbeitszeiten, die
altmodische technische Ausstattung
meines Arbeitsplatzes, die Hierarchie, die
Bürokratie und die vielen Menschen…
Aber, da ich auf der Suche nach einem
offeneren und lebenslustigeren Ort war
als die deutsche Provinz, fand ich den
einfacheren französischen Lebensstil,
die großen vorhanglosen Fenster, die
Wohnungen ohne Schrankwände und die
provisorischen Entscheidungen auch sehr
anziehend.“ (Interviewpartner A)
Im Falle des totalen Eintauchens in die
neue Kultur ist es sehr destabilisierend,
dass der Großteil der alten Referenzsysteme im neuen Kontext nicht mehr
funktioniert. In seiner Schrift über
den Fremden räumt Schütz (Schütz
1972:56) den Einheimischen das
Privileg der Bekanntheit des kulturellen Wissens ein. Es handelt sich dabei
um ein Wissen, das bis auf Widerruf
evident und intuitiv, aber auch approximativ ist, während der Fremde, in
seinem Idealbild, dem Immigranten,
sich mit der Vertrautheit der ortsüblichen Gepflogenheiten zufrieden geben
muss. Hierbei geht es um ein Wissen
für enge Beziehungen, für gegenseitiges Vertrauen, das aber explizit und
rational ist. Reduziert auf sein Vertrautheitswissen, kann der Fremde nicht
unbewusst reagieren, sondern nur nach
genauem Abwägen der Tatsachen des
fremden kulturellen Kontextes. Das
Bekanntheitswissen erlaubt Spontaneität, Natürlichkeit, stillschweigendes
48
Einverständnis, trotzdem dieses Wissen
stets undurchschaubar, widersprüchlich
und inkohärent bleibt.
Viele weibliche Befragte erzählen
von ihrer natürlichen Vertrautheit
mit deutschen Freundinnen, die mit
ihren französischen Freundinnen nicht
möglich sei, teils aus deren Desinteresse
an persönlichen und intimen Themen,
teils aus fehlender Komplizenschaft mit
ihnen.
„An der Uni, da hatte keiner mit keinem
etwas… es gab einfach kein soziales Leben
[…] dass der soziale Kontakt mit den
Franzosen so unglaublich schwer ist, dass
es so unglaublich lange dauert bis man
von einem Franzosen mal nach Hause
eingeladen wird.” (Interviewpartner B)
„Mit meiner deutschen Freundin habe
ich mehr Intimität, kann ich mich mit
Sprache amüsieren. Habe es satt ständig
anders zu sein, trotz Integration.” (Interviewpartner C)
Die Gastkultur verstärkt dieses Gefühl
der Ausgeschlossenheit, denn ohne
genauere Kenntnis über die kulturellen Hintergründe der Einwanderer
interessiert sie sich relativ wenig für
dessen Vergangenheit. Dieser Umstand
ist schon derartig von den Befragten
internalisiert, dass sie, trotz anderslautender Fragestellung, spontan ihre
Lebensgeschichte mit ihrer Ankunft in
Frankreich beginnen. Doch die Fremdheitserfahrung beginnt oft schon vor der
Auswanderung und diese ist oft nur die
Lösung eines langjährigen Konfliktes
mit der Umgebung.
Eine andere Befragte, aufgewachsen
an der französischen Grenze und im
deutsch-französischen Gymnasium, hat
erst mit 40 die von ihren Eltern übernommene Formel aufgegeben:
„[…] eine Reise ins Reich machen.“ (Interviewpartner B)
Ein anderer relativ introvertierter Befragter findet seine ehemaligen Landsleute furchtbar indiskret, ja sogar zudringlich, wogegen man sich permanent
zu wehren und zu rechtfertigen hat.
„Ich landete wohl in Frankreich, weil
ich das Kleinbürgerliche in Deutschland
nicht mehr ertrug, ihre Rechthaberei und
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
ihre Besserwisserei gehen mir selbst heute
schon nach wenigen Tagen in Deutschland auf die Nerven.“ (Interviewpartner
E)
Nach den Interviews generiert sich das
Fremdheitsgefühl zwischen einander
nahen Kulturen zunächst weitgehend
unbewusst und manifestiert sich eher
durch Übertragung oder Sublimation
als direkt. Entweder wird die Herkunftskultur als fürderhin unbrauchbar
verdrängt (Übertragung), manchmal
wird sogar die Muttersprache aufgegeben und nicht einmal mehr mit den
Kindern in dieser gesprochen. Oder
man wird Vermittler und verkauft seine
Herkunftskultur oder seine Sprache,
um seine Existenz im fremden Kontext
zu rechtfertigen (Sublimation). Für ein
stabiles Selbstverständnis ist es kaum
erträglich, sich oft fremd und fehl am
Platz gegenüber den wichtigsten Werten
der Gastkultur zu fühlen.
Andauernd von seiner Umgebung
gespiegelte Fremdheit erweist sich als
verunsichernd und wird daher sozial
und psychisch von den Migranten
bekämpft. Zumal, die uneinholbare Abgeschnittenheit von einer gemeinsamen
Vergangenheit, definitive Grenzen der
Bekanntheit aufzeigt. Die Herkunftskultur war entweder schon immer etwas
suspekt oder wird es im Laufe der Jahre,
weil die Migranten ihr altes Deutschland
nicht mehr wiedererkennen.
3.1.2. Wie reagiert der Immigrant
auf den Zwang einer neuen Sozialisierung im Gastland?
Die Reaktionen auf den Verlust der
Referenzsysteme wird in der Literatur
durch Somatisierung bzw. psychisches
Leid beschrieben (Ward / Kennedy
1993:131; Santé mentale au Québec
1993). Uns interessiert jedoch hier wie
diese Spannung, charakteristisch für die
Anfangszeit der Migration, eine Neuorientierung der Migranten auslöst.
Die Mehrzahl der Interviewten berichtete von einer Animosität bzw. eine
Schwierigkeit mit der deutschen Kultur
bzw. Gesellschaft. Fast alle vermieden, zumindest in ihrer Anfangszeit
in Frankreich, jeglichen Kontakt mit
Landsleuten. Einmal nach Frankreich
emigriert, ist fast keine der befragten
Personen für einen längeren Zeitraum
nach Deutschland zurückgekehrt und
die Besuche bei der Familie und Freunden wurden rarer im Laufe der Jahre.
Fast alle versuchten ihre kulturellen
Praktiken, gebunden an die Herkunftskultur bzw. die primäre Sozialisation,
durch solche der Gastkultur zu ersetzen.
Um nicht sofort als Deutscher erkannt
zu werden, haben einige (vor allem
Frauen) fast ihren deutschen Akzent
verloren, andere hält man für Belgier
oder Schweizer. Rar sind diejenigen, die
es nicht eilig haben, ihr Französisch zu
perfektionieren.
„Meine erste Fremdheitserfahrung machte ich mit fünf Jahren, als die Familie von
der Großstadt in ein süddeutsches Dorf
umzog, dessen Dialekt ich nicht sprach
und auch nicht verstand. Die anderen
Kinder hänselten mich immer, weil ich
das “r” nicht zu rollen vermochte.” (Interviewpartner D)
Nach diesen Angaben der Befragten
schien das Schicksal der Herkunftskultur besiegelt zu sein. Nach einigen
Jahren allerdings werden fast alle von
ihrer verdrängten Kultur, Familie,
Herkunftsregion etc. eingeholt und auch
von den gesellschaftlichen Integrationsproblemen, die sie schon in Deutschland hatten. Einigen ist es gelungen, der
Gastkultur den Vorrang einzuräumen,
trotzdem auch sie von Zeit zu Zeit
durch einige Wiedergänger gestört
werden. Andere haben das Glück, als
beruflicher Vermittler oder Deutschlehrer regelmäßig mit der Heimatkultur in
Kontakt zu bleiben. Viele entwickeln
den Ehrgeiz, zumindest ihren Kindern
ihre Herkunftskultur zu vermitteln. Die
Fremdheitsgefühle, ausgelöst von dieser
Rückkehr zu den Ursprüngen, werden
erduldet durch eine gewisse Reserviertheit in der Gastgesellschaft, durch die
Relativierung jeglicher kultureller Bezüge und durch Bevorzugung der einen
bzw. der anderen Kultur, je nach dem,
was passender ist.
Die Befragten geben an, den französischen Kommunikationsstil zu akzeptieren, kritisieren ihn aber auch als zu
indirekt oder ineffizient bei Arbeitsbesprechungen. Dennoch verrichtet man
49
seine Arbeit auf seine Art, manchmal
sogar mit dem expliziten Einverständnis
des Vorgesetzten und zum Leidwesen
der eifersüchtigen Kollegen. Viele navigieren zwischen den zwei kulturellen
Welten und erlauben sich ausnahmsweise auch mal nach französischer Manier
ein kleines Kavaliersdelikt. Der Kontakt
mit dem Heimatland ist nicht sehr
intensiv, ist jedoch von einschneidenden
biographischen Erlebnissen und starken
Emotionen geprägt. Einige wurden von
ihrer Familie vernachlässigt, andere sind
nach dem Tod eines geliebten Familienmitglieds ausgewandert, wiederum
andere waren überbehütete Kinder oder
standen unter dem geistigen Kuratel
ihrer Eltern oder wollten einfach ihrem
provinziellen Schicksal entrinnen.
„In meiner Kindheit und Jugend war
alles wichtig was “anders” war. Ich habe
keine Heimat, weil ich nie den lokalen
Dialekt sprach und nicht mehr dort lebe.
Zu Deutschland ist die Beziehung noch
komplizierter, weil meine Eltern die
Länder jenseits der Saar immer als “das
Reich” betitelten. Ich war als Jugendliche
eigentlich fast immer mit viel älteren Leuten zusammen und diskutierte mit ihnen
über Politik und unser Engagement.
Hatte fast keine Freunde, nur diejenigen
meines Freundes.” (Interviewpartner B)
Dennoch hat die Mehrheit der Immigranten der deutschen Kultur einen
Platz eingeräumt, vor allem nach der
Geburt ihrer Kinder. Für sie bleibt die
deutsche Kultur zumindest in ihren
Herzen und Gefühlen dominant (siehe
hierzu auch Bekanntheitswissen) selbst
wenn die französische Kultur im Alltag
dominiert. Der natürliche Reflex ist
deutsch und die deutschen Immigranten präsentieren sich auch ohne Scheu
als in Frankreich lebende Deutsche.
Trotzdem wird die französische Kultur
nicht vernachlässigt. Im Gegenteil,
diejenigen, die sich mit ihren Ursprüngen ausgesöhnt haben, sind auch offener
und toleranter gegenüber bestimmten
französischen Eigenheiten.
„Die Kunst hat mein Leben gerettet.
Meine Liebe zu Frankreich war Liebe
auf den ersten Blick. Ich habe mich Hals
über Kopf in Frankreich verliebt [‚coup de
foudre‘ im Original], weil es für mich das
Land der Raffiniertheit, der Sensualität
50
und der Ästhetik ist. Ich werde überall auf
der Welt auch auf Französisch angesprochen, vielleicht, weil es meinem Wesen
entspricht, mit dem Herzen zu urteilen
und auf Empathie zu bauen.” (Interviewpartner E)
Viele Frauen und einige professionelle
Vermittler haben von Anfang an eine interkulturelle Haltung eingenommen. Sie
kommunizieren im geeigneten Moment
ihre Wertedifferenz oder praktizieren
eine altruistische Einstellung als Gast,
der der lokalen Kultur mit Bodenrecht
(Recht der zuerst Dagewesenen) einen
gewissen Respekt schuldet. Ihre deutsche Kultur ist oft auf den familiären
Bereich begrenzt oder drückt sich als
harmlose Folklore aus, die auch von
Franzosen goutiert wird.
Eine rein deutsche Reaktionsweise ist
langfristig nicht möglich und der französische kulturelle Rahmen erfordert
lange Zeit bewusste Entscheidungen
der Anpassung von Fall zu Fall (Vertrautheitswissen). Der Immigrant muss
sich stets entscheiden zwischen einer
Reaktion aus seiner Herkunftskultur
(Denken wie üblich, Bekanntheitswissen)
und einer Anpassung an einen neuen
Rahmen mit seinen Ungewissheiten
und seinem unzureichenden Wissen
darüber. Die Herkunftskultur erweist
sich als schwer überwindbar und bedarf
einer neuen Positionierung im Leben
der Entwurzelten.
3.1.3. Welche Beziehungen gibt es
zwischen Fremdheit und Kultur?
„Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es bestand
in der stückweisen Demontierung unserer
Vergangenheit, was nicht abgehen konnte
ohne Selbstverachtung und Haß gegen das
eigene Ich.“ (Améry 1980:88)
Die spezifisch deutsche Kombination
aus einer beschämenden nationalen
Vergangenheit und einer intensiven
Pflege lokaler und traditioneller Gewohnheiten wirft die Frage auf, ob es
vielleicht eine spezifisch deutsche Form
der Fremdheit und des Heimatverlustes
gibt. Die Arbeitshypothese dabei ist,
dass bei vielen Deutschen die kindliche
Heimat nicht ausreichend in allgemei-
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
ner Kultur aufgeht und so eine Nostalgie zu kindlichen Welten überlebt.
„Auch der Umgangston mir den Kollegen, dass man irgendwie nichts direkt
ansprechen darf, sondern erst so über
Formeln sich den anderen annähert […]
Ganz komisch, dass man an die nicht
rankommt… entweder kenne ich Deutsche
oder Ausländer hier, […] Kann mich
nicht daran gewöhnen, dass es absolut
keinen Platz für Kinder und Jugendliche
gibt… keine Jugendkultur (keine Jugendliteratur, keine Filme, keine Orte, keine
Sendungen) […] eigentlich nur so Bewahrungsanstalten.” (Interviewpartner B)
Im Verständnis der Fremdheit der anderen Kultur gibt es auch ein semantisches
Problem. Die deutsche Sprache unterscheidet mehr verschiedene Nuancen
der Fremdheit als das Französische,
weil es Wörter verschiedener Wurzeln
benutzt. In aufsteigender Reihenfolge
der Unbekanntheit kennt man „den
Ausländer“ (frz. l’étranger), „den
Fremden“ (frz. l‘étranger), die „Seltsamkeit, Sonderbarkeit, Absonderlichkeit“
(frz. l’étrangeté, bizarrerie, quelque
chose d’abscond). Diese Abstufung der
Fremdheit erinnert an die Typologie
von Waldenfels, die in der „radikalen
Fremdheit“ kulminiert (Waldenfels
1997).
Die soziale Form6 der totalen Fremdheit
kann aber nicht gedacht werden, ohne
den Begriff der totalen Vertrautheit,
den die deutsche Sprache als Heimat
(Geburtsland) bezeichnet und der über
den Begriff des Vaterlands (frz. patrie,
terre natale) hinausgeht. Den Begriff
Vertrautheit differenziert die deutsche
Sprache auch mehr als das Französische
(frz. familier). Vor dem Hintergrund
der lebenslangen Entfremdung von der
maximalen Vertrautheit der MutterKind Symbiose in den Begegnungen
mit dem Vater, den anderen Familienmitgliedern, der Gesellschaft etc. sagt
man im Deutschen auch von einem
Baby, es fremdelt, was in Frankreich eher
ignoriert wird. In der Kindheit später,
spricht man in Deutschland von der
Gewöhnung an unvertraute Umgebungen. Auch darüber geht das französische
Schulsystem ab der Vorschule (3-4
Jahre) weitgehend hinweg.
Schütz liefert uns eine nicht erschöpfende Aufzählung von sentimentalen
Erinnerungen an Heimat (1972:95):
„[…] das Haus des Vaters und die Muttersprache, die Familie, den geliebten
Menschen, die Freunde, […] eine geliebte
Landschaft, die Lieder, die mich meine
Mutter lehrte – auf besondere Weise
zubereitetes Essen, vertraute Dinge des
täglichen Gebrauches, Volksweise und
persönliche Gewohnheiten – kurz, ein
besonderer aus kleinen aber wichtigen
Elementen bestehender Lebensstil.”
Diese Aufzählung zeigt, dass das Heimatgefühl auch auf einen neuen Ort
übertragbar ist, wenn man ihn mit allen
Sinnen aufnimmt, wie es in der Kindheit geschah.
„Auch nach über 20 Jahren im Ausland
halte ich Verbindung mit Deutschland
über mein morgendliches Jogging, die
kalte Dusche danach, Bier trinken, aber
vor allem über meine Kinder, denen ich
alte deutsche Filme, Kinderbücher, Musik
usw. nahebringe.” (Interviewpartner D)
„Ich habe immer selbst nach 45 jähriger
Emigration eine Wohnung in meiner
Studienstadt beibehalten, wo ich bis heute
meine besten Freunde habe.” (Interviewpartner F)
Die Frage, die sich natürlicherweise
an dieser Stelle für die Deutschen
stellt, ist: wie ertragen wir all das, was
unserer Kindheit und damit unserem
Heimatbegriff fremd ist? Die Antwort
von Detlev Claussen ist so banal wie
überraschend: Weil wir Kultur haben!“
(Claussen 2008:299). In der Unmittelbarkeit von Heimat (das Familienhaus,
die Straße, das Viertel, der Ort, …)
bin ich identisch mit der Welt meiner
Bedürfnisse und Lebensumstände. Vom
Zeitpunkt an, zu dem ich dem Anderen
(dem Fremden) begegne und Interessen
entwickle, die ich meiner mittelbaren
Umgebung entgegensetze, brauche ich
Kultur mit seinen Kodes und Regeln,
um die Realität einzuschätzen und
entwickle die Fähigkeit selbst Kultur
zu haben. Die totale Vertrautheit, also
Heimat, ist der Kindheit vorbehalten.
Alles, was danach kommt, ist mehr oder
weniger von der Erfahrung der Fremdheit durchzogen und durch Kultur
rationalisiert.
51
Dieses gemeinsame kulturelle Erbe
entlehnen die Individuen ihrer sozialen
Umgebung, aber sie erzeugen sie auch
in ihren Interaktionen. Wenn es sich
um eine relativ vertraute Umgebung
handelt, perfektionieren die Individuen
die lokale Kultur durch eine „subjektive
Kultur“ (Triandis 1994:2) und man
spricht dann von einem Lebensstil, einer
Familienkultur, einer Freundeskultur
oder einer Unternehmenskultur etc.
Aber welchen Platz nimmt die deutsche
(National-) Kultur in dieser persönlichen Aneignung von Kultur ein?
Wir können aufgrund unserer rein
qualitativen Empirie kein abschließendes Urteil über unsere Arbeitshypothese
abgeben. Eine fast durchgehend nostalgische Beziehung vieler Interviewter zu
Deutschland, seinen Kulturprodukten
und seinen sozialen Gepflogenheiten
(typisch deutsche Reaktionsweisen sind
selbst nach 20 Jahren Frankreich ohne
Zusammensein mit anderen Deutschen
noch voll intakt) ist ein starkes Indiz
dafür, dass die kindliche Heimat bei vielen Deutschen nach wie vor neutralere
nationale Referenzen ersetzt.
3.2. Das Zulassen der Fremdheit
3.2.1. Welchen Platz räumen die
Immigranten ihrer Herkunftskultur
bzw. -gesellschaft ein?
„Man muss Heimat haben, um sie nicht
nötig zu haben, […] Um dieser oder
jener zu sein, benötigen wir das Einverständnis der Gesellschaft“ (Améry
1980:81,101).
Der Verlust der Herkunftskultur bzw.
-gesellschaft bewirkt meist alltägliche
und strukturelle Fremdheit. Da in
Frankreich die Herkunft am Akzent
sehr schnell wahrgenommen wird, kann
diese auch nicht so leicht verborgen
werden. Hinzu kommt, dass soziale
Zuschreibungen mit dem Verlassen
Deutschlands fast gänzlich wegfallen
und eine neue Reputation zu erarbeiten
ist. Inwieweit die deutsche Herkunft
dazu herangezogen wird, steht in diesem Abschnitt zur Klärung. Es geht also
zunächst um die Formen der Abkehr
52
von der Herkunftskultur, dann über die
Fremdheitserfahrung zur Wiederentdeckung seiner Ursprünge und schließlich um Fremdheit ausgelöst durch den
Schutz der Individualität, die in der
Herkunftskultur entwickelt wurde.
Der Fremde ist im Gastland zunächst
eine Anomalität, denn die Deutschen
leben normalerweise in Deutschland
und die Franzosen in Frankreich. Und
viele Nichtauswanderer fragen: Wenn
man sich mit seiner Heimat im Einklang befindet, warum sollte man sie
verlassen? Deshalb ist der Auswanderer
in erster Linie ein Entwurzelter, der sich
mit folgender Alternative konfrontiert
sieht: sich als Ausländer (Deutscher)
Anerkennung zu verdienen oder als
angepasster Neuankömmling (Wahlfranzose) akzeptiert zu werden. Eine
der ersten Fragen an den Migranten bei
neuen sozialen Kontakten ist auch regelmäßig: Und wieso sind Sie zu uns nach
Frankreich gekommen?
Die Geschmacksauswanderer oder Wahlemigranten mögen das Ausland und
unsere Befragten insbesondere Frankreich. Und für viele bleibt die Abkehr
von ihrer Heimat lange Zeit unbewusst
(verdrängt) oder wird geläutert (sublimiert) durch übertriebene Anstrengungen, den Erwartungen des Gastlandes
zu entsprechen. Bei den gut ausgebildeten, freiwilligen, nordeuropäischen
Einwanderern werden alltägliche und
strukturelle Fremdheitsgefühl in einem
Maße verinnerlicht, dass die ursprüngliche kulturelle Distanz zwischen ihren
beiden Kulturen unproblematisch wird
(Berry 1990, vgl. hierzu Separation und
Multikulturalität). Im Gegensatz zu südeuropäischen bzw. außereuropäischen
Migranten lebt diese Art Einwanderer
kaum unter Landsleuten und ihr totales
Eintauchen in die Gastkultur erfordert
im Gegenzug den Aufbau einer sehr
persönlichen Beziehung zu ihrer Herkunftskultur (Multikulturalität).
Die Interviews ergaben eine Tendenz
die kulturellen Unterschiede zwischen
den beiden Ländern zu relativieren oder
zu minimieren. Andere wählten ein
Leben am Rande der Gesellschaft mit
einem etwas einzelgängerischen Beruf,
wie z. B. (Hochschul-)Lehrer oder
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Kulturvermittler. Bei vielen gab es eine
späte Rückkehr zur Ursprungskultur
mit der Geburt der Kinder, nach einer
wichtigen Lebenserfahrung oder einer
Psychotherapie. Oft ist die Ursprungskultur von ihren Orten abgekoppelt
und irgendwie immaterialisiert, und
wird in Form von Literatur, Musik,
Kultur, Essen, geselligen Treffen gelebt.
Und das Deutschsein wird ausschließlich
im Privatleben bzw. einer Nische des
öffentlichen Lebens praktiziert. Aber es
gibt auch diejenigen die ihr Deutschsein
offen einfordern und sich dafür einsetzen als solche anerkannt zu werden. Sie
können das oft dank ihrer beruflichen
Position und / oder ihrer starken Persönlichkeit.
„1968 während meiner Assistenzjahre
in Frankreich war ich als Student vom
Zentralismus und der Allgegenwärtigkeit
des politischen Lebens fasziniert. Paris
war für mich ein positiver Schock, dieses
Leben auf den Straßen, diese Hingabe an
die Gastronomie, diese Atmosphäre in den
Brasserien… Ich muss zugeben, dass ich
eher französischen Charakters bin, denn
ich bin nicht distanziert, zurückhaltend,
sondern spontan, herzlich und diskret,
was mich vom deutschen Maulhelden
unterscheidet.” (Interviewpartner F)
Also bleibt die Frage der Dosierung der
Anpassung völlig offen, was immer man
auch macht, um sie eine zeitlang zu umgehen. Man wird oft schnell von seinen
Ursprüngen eingeholt, wenn man die
Anpassung als Versteckspiel mit seinem
eigenen Deutschsein betreibt. Denn
die Fremdheitserfahrung im Gastland
ist auch ein Indikator für seine eigene
Fremdheit.
Nach Waldenfels (1997:44) geht die
Fremdheitserfahrung über die Situation
der Migration hinaus, denn sie konfrontiert uns wie die erste Sozialisation
mit der Wahrnehmung unserer Person
durch andere. Diese Erfahrung wird
noch verstärkt durch die Fremdheit
der Charakterzüge des Immigranten
für den Einheimischen, der sie vor dem
Hintergrund einer anderen Mentalität
interpretiert.
Einige Migranten erkennen sich in der
Wahrnehmung durch ihre neuen Landsleute nicht wieder. Andere wundern
sich über die Wahrnehmung einiger
deutscher Eigenschaften wie lautes
Sprechen, insistieren, Festhalten an bestimmten Überzeugungen (als psychoRigidität qualifiziert), Übersensibilität
oder zu große Direktheit. Vielen fehlt
nach einigen Jahren auch ein intuitiver
Zugang zu Kulturprodukten (wie Filme,
Literatur, Theater oder auch humoristischen Sendungen im Fernsehen), zu
Freunden (Austausch über gemeinsame
Interessen oder auch sehr persönliche
Themen statt Smalltalk über die neuesten kulturellen Ereignisse).
„Ich fühle mich in Frankreich manchmal
verlassen: man redet über nichts persönliches, wenn ich versuche mit anderen
meine Werte zu verteidigen, bleibt es bei
Wertebekundungen, aber niemand ist
bereit sich in Schwierigkeiten zu bringen, um sie zu verteidigen. Zum Beispiel
wurde ich schon mehrmals als geizig
hingestellt, als ich versuchte eine gemeinsame Kasse während eines Urlaubs unter
Freundinnen gerecht zu organisieren.”
(Interviewpartner G)
Aber die Spiegelung der deutschen
Sozialisierung in der Fremdheit dient
auch dem Schutz der Individualität
des deutschen Einwanderers wie z. B.
ein inzwischen reflektierter Umgang
mit Autorität, wie die Erhaltung eines
deutschen Erziehungsstils oder wie
Prinzipien, an denen man festhält (z. B.
die Pünktlichkeit). „Der Rückzug in
die Fremdheit als einer Ersatzheimat”
(Baumann 1995:106) ist ein Weg der
kulturellen Selbstanpassung, die den
Fremden aber als Bedrohung für die
Werte der Einheimischen entlarvt. Sein
Drang nach Universalität ist seine letzte
Hoffnung, seine eigene Außenseiterrolle
zu überwinden:
„Der Fremde stellt eine einzigartige,
hilflos, ambivalente Mischung aus universalistem Programm und relativistischer Praxis dar.“ (Baumann 1995:111)
Die Konfrontation mit einer fremden
Kultur fördert die Persönlichkeitsentwicklung durch den Umgang mit
(kultureller) Mehrdeutigkeit. Mit
Ambivalenz meint man in der Psychologie das gleichzeitige Vorhandensein
gegensätzlicher Gefühle. Baumann
versteht darunter eher die Zwiespältig-
53
keit und Zufälligkeit unserer Existenz
in der modernen Gesellschaft und
besonders diejenige des Fremden. Sie
zu vernichten, so Baumann weiter,
führe nur in den Totalitarismus wie den
Nationalsozialismus und erzeuge nur
neue Ambivalenz. Wir übernehmen den
Begriff der Ambivalenz von Baumann,
um eine Konsequenz der Fremdheitserfahrung aufzuzeigen: „ein Fremder zu
sein, bedeutet, fähig zu sein, ständige
Ambivalenz zu leben, ein Ersatzleben
der Verstellung“ (Baumann 1995:45).
Die Verhaltensanforderungen in einer
neuen Kultur sind komplex, in der es
dem Neuling nicht immer gelingt, aus
seiner Sicht eindeutige Reaktionen zu
zeigen und so kommt es ihm entgegen,
wenn seine Umgebung auch mit Zwiespältigkeit und Zufälligkeit aufwartet.
Viele Befragte bezeugen, dank ihrer
Auswanderung, reifer geworden zu sein,
wenn das Reiferwerdenwollen nicht
sogar der Hauptgrund ihres Weggangs
war. Einige haben die auf die Gastkultur
projizierten persönlichen Probleme gelöst, andere wurden endlich erwachsen,
wieder andere haben sich von einem
einengenden familiären System befreit
bzw. sind autonomer geworden. Alle
haben an Persönlichkeit gewonnen. „Im
Ausland habe ich mich endlich selbst
gefunden“ (Interviewpartner D) – eine
große Opposition der Umgebung erfordert die Mobilisierung der inneren Kräfte, um sich zu schützen und verstärkt die
Motivation die Suche nach dem Selbst
zu betreiben.
Wie andere Untersuchungen schon
herausfanden, dass die biographische
Relevanz der Migrationserfahrung
wesentlich von der Einbettung, Ausprägung und Handhabung der damit
verbundenen Fremdheitserfahrungen
bestimmt wird (Breckner 2005:416),
wurden auch meine Befragten vielfach
durch Fremdheitserfahrungen auf die
eigene Sozialisation zurückverwiesen.
Entweder wird das Deutschsein als permanente Rechtfertigung für die eigene
Andersartigkeit vor sich her getragen,
oder aber im öffentlichen Leben suspendiert und dafür privat umso intensiver
gelebt. In einigen Bereichen dient die
deutsche Identität auch der Legitimie-
54
rung verweigerter Anpassung an die
Gastkultur. Es steht zu befürchten, dass
dieses Durcheinander von Referenzen,
je nach Situation, Bezugspersonen, ja
selbst nach Stimmungen nicht nur für
die Deutschen problematisch ist. Diese
unbefriedigenden Kompromisse erfordern langfristig stabilere Lösungen.
3.2.2. Wie kann die Ursprungskultur in eine neue Umgebung
integriert werden?
„Ich bin versucht zu sagen, dass wir
umso mehr davon [Heimat] benötigen,
je weniger wir mit uns nehmen. Denn es
gibt sehr wohl eine Art mobiles Zuhause
oder zumindest ein Ersatz von Zuhause.“
(Améry 1980:78)
Um seine Außenseiterrolle zu überwinden, suchen die Migranten ihren
sozialen Status abzusichern und nach
einer für sie befriedigenden sozialen
Integration. Welchen Einfluss hat dabei
die Gastgesellschaft? Welche Alternativen bieten sich ihnen?
Park (1928) schlägt mehrere Weisen
der Integration vor: „Akkulturation,
Assimilation oder Amalgamation“.
Indessen, wenn keine dieser Methoden
greift, verinnerlicht der Immigrant den
Konflikt und wird zum „marginal man“
(siehe hierzu Berry Jahr, der Marginale,
die Segregation / Separation). Für Park
braucht die tatsächliche Assimilation
zwei bis drei Generationen:
„In these immigrants autobiographies the
conflict of cultures, as it takes place in the
mind of the immigrant, is just the conflict
of ‘the divided self ’, the old self and the
new. And frequently there is no satisfying
issue of this conflict, which often terminates in a profound disillusionment.” (Park
1928:355)
Die Migranten meiner Interviews
konstatieren die Grenzen dessen, was
ihre neue Heimat ihnen zu geben bereit
ist und geben sich damit zufrieden – sei
es in Form von materiellen und / oder
ideellen Vorzügen – solange berufliche
oder familiäre Ansprüche vorgehen. Bei
Rentenantritt sollen die Lebensorte neu
und anders gewichtet werden.
Für Stonequist geht es bei Integrationsbiographien auch um soziale Konflikte,
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
um Herrschaftsbeziehungen und die
Verweigerung der Integration und
nicht nur um kulturelle oder ethnische
Konflikte.
„So the marginal man as conceived in this
study is one who is poised in psychological uncertainty between two (or more)
social worlds; reflecting in his soul the
discords and harmonies, repulsions and
attractions of these worlds, one of which is
often ‘dominant’ over the other; in which
membership is implicitly if not explicitly
based upon birth or ancestry (race or nationality); and where exclusion removes
the individual from a system of group
relations.” (Stonequist 1937:8)
Der Unsicherheit über die Zugehörigkeit begegnen die deutschen Migranten
in Frankreich durch eine tadellose
Anpassung, sei es durch berufliches
Engagement, durch eine starke familiäre
und patrimoniale Integration, um sich
gegen die Gefahren der Unklarheit ihres
Status zu wappnen. Oder sie adoptieren ein kosmopolitisches Image oder
die Kunst, sich in einer bescheidenen
materiellen Existenz Tag für Tag in einer
prekären beruflichen Situation durchzuschlagen.
Um diesen Konflikt zu lösen, schlägt
Stonequist (1937), in der Folge von
Park, folgende Typologie vor: 1.)
„passing“ praktiziert derjenige, der die
Gastkultur annimmt bis zu einem Punkt
an dem er die Ursprungskultur negiert
und als formales Mitglied der Gastgesellschaft lebt („als ob Mitglied“); 2a.)
Im Falle des Scheiterns dieser Strategie
verstärkt sich die Identifizierung mit der
Herkunftskultur bis zur aktiven Werbung für sie oder 2b.) es entwickelt sich
eine negative oder ambivalente Haltung
gegenüber der Gastkultur; 3.) „intermediate role“ ist ein Typus der von Anfang an versucht, die beiden Kulturen
miteinander zu vermitteln.
In den Interviews konnten wir eine späte Rückkehr zur Herkunftskultur feststellen, wenn der Integrationsprozess zu
stagnieren beginnt, scheinbar rückläufig
ist oder man gar echte Niederlagen
erlebt hat (Scheidung, Entlassung, Konflikte mit Kollegen etc.), die persönliches (psychisches) Leid auslösen.
Eine Interviewte ist stolz darauf, endlich die Kraft gefunden zu haben, ihr
Geburtsland Deutschland zu verlassen
und in die Heimat des Vaters zurückzukehren. Ihr Vater, der sie verlassen hat,
war französischer Soldat. Heute, nach
einigen Jahren in Frankreich, erlebt sie
eine Art Desillusion; denn es ist ihr
schier unmöglich, hierzulande Freunde
zu finden oder ein soziales Netzwerk
aufzubauen. Es gelingt ihr nicht besser
ihre eigenen Schwächen in Frankreich
zu überwinden als in Deutschland und
sie entwickelt eine ambivalente Haltung
gegenüber ihrer Auswanderung und
ihrem Gastland (Interviewpartner H).
Ein anderer hat sich für eine intermediäre Position entschieden, um (zuerst
aus beruflichen Gründen) besser zu
kommunizieren (Interviewpartner I).
Allerdings leben viele relativ zurückgezogen und ohne jedes gesellschaftliche
Engagement in Frankreich. Man muss
sich fragen, welche Rückwirkungen das
auf ihre Person hat.
„Auf Anhieb fällt mir überhaupt nichts
Positives über Frankreich ein: eine durchhierarchisierte, autoritäre Gesellschaft mit
unglaublich konservativer Denkungsart.
[…] Dieses unglaublich altmodischhierarchische: Monsieur le Principal, diese
Umgangsformen […] Autoritätsdenken,
der Egoismus gehen mir erst in letzter
Zeit auf den Wecker […] Dieser Alltag,
die Umgebung, die ich am Anfang positiv
empfunden habe, empfinde ich heute als
negativ, wie z. B. die Gleichgültigkeit,
Mangel an Gemeinschaftsdenken, Autoritätsgläubigkeit, Mangel an Offenheit. […]
Dieses unheimlich egoistische Verhalten,
wenn man Schlange steht und es muss immer einer kommen der sich vordrängelt.”
(Interviewpartner B)
Das Bedürfnis nach Heimat bestimmt
auch in einer Rückwendung die eigene
Kultur in der Gastgesellschaft bekannter
zu machen und mit ihr zu arbeiten.
Tatsächlich sehnen sich diejenigen der
Befragten weniger nach Deutschland,
die beruflich regelmäßig mit ihrer
Heimat in Kontakt stehen oder einfach
öfter Frankreich verlassen und mit
Deutschen oder anderen Ausländern zu
tun haben.
Die Navigation zwischen verschiedenen
Kulturen kann teilweise den Verlust
55
räumlicher Bezüge (gewohntes Stadtbild, Wohnung / Haus, Landschaft etc.)
der Herkunftskultur kompensieren. Allerdings spielen auch relativ kontingente
Erfahrungen mit der Offenheit der
Gastgesellschaft eine nicht unerhebliche
Rolle in diesem Prozess.
3.2.3. Gibt es eine lebenslange
Fremdheit?
„Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein
Verlorener, und habe er es auch gelernt,
in der Fremde nicht mehr wie betrunken
umherzutaumeln, sondern mit einiger
Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu
setzen.“ (Améry 1980:84)
Vom kindlichen Ursprung des Heimatgefühls war schon die Rede. Aber wie
findet sich nun der erwachsene Migrant
in seiner Fremdheit zurecht und wie
lebt er mit ihr, wenn sie anhält?
Letztendlich müssen wir feststellen, dass
die Herkunftskultur das dominierende
Erbe im Leben ist. Allerdings braucht
sie einen adäquaten Platz in der Gastkultur. Simmel betont ein gemeinsames
Erbe, das einen generellen Charakter
gegenüber der menschlichen Gemeinschaft darstellt, jedoch einen spezifischen Charakter gegenüber anderen
Gesellschaften und er fügt hinzu:
“Das Bewusstsein, nur das überhaupt
Allgemeine gemein zu haben, (bringt)
doch gerade das, was nicht gemeinsam ist,
zu besonderer Betonung”. Das kann ganz
abstrakt die ‚fremde Herkunft‘ sein, weshalb die Fremden „nicht als Individuen,
sondern als die Fremden eines bestimmten
Typus überhaupt empfunden“ werden
(Simmel 1908:512).
Vieles von dem, was einem kulturellen
Kollektiv spezifisch ist und demgegenüber man sich zu positionieren hat,
wenn man als ein integraler Bestandteil
akzeptiert werden will, entzieht sich
dem Fremden. Dem Fremden fehlt die
organische Beziehung zu den Einheimischen, weil er in diesem Land oft keine
originären familiären Beziehungen hat,
keine nationalen Erinnerungen teilt
(z. B. Fernsehansprachen von de Gaulle,
Mai 68 in Paris, Attentate auf Giscard,
Coluche live, Barbara im Konzert etc.).
Kurz, seine kulturelle und lebensstilisti-
56
sche Sozialisierung ist eine völlig andere
und steht einer engen Vertrautheit im
Wege.
Die Fremdheitsgefühle erinnern an den
Erwerb von Identifikationsmechanismen mit fremden Objekten. Sie beziehen sich auf etwas, was die Mitglieder
einer Kultur miteinander teilen. Was
„nach innen zwar allgemein, nach außen
aber spezifisch und unvergleichlich ist”
(Simmel 1908:689).
„Man erinnert mich oft an meinen
deutschen Tonfall oder meine zu direkte
Ausdrucksweise, deren ich mich nicht
entledigen kann. Man stuft mich sofort
als sehr methodisch, verlässlich, aber auch
rigide ein… halt wie eine Deutsche. Eines
Tages hat man mir sogar den Job eines
Hotelmanagers per Telefon angeboten,
nur weil ich Deutsche bin.“ (Interviewpartner C)
Der deutsche Immigrant muss mit
einem von Klischees geprägten Bild zu
leben lernen. Simmel (1908) erinnert
uns daran, dass der Fremde nicht als
Person wahrgenommen wird, sondern
eher als ein „Typus des Fremden“. Ohne
eine gemeinsame Heimat mit seiner
Umgebung muss der Fremde irgendwie
Interaktionen mit seiner Herkunftsgruppe und deren Imaginäres in seinem
tiefsten Inneren erzeugen oder sich
vorstellen (Breckner 2006:96f.):
„Das Selbst ist mit der unmöglichen Aufgabe betraut, die verlorene Integrität der
Welt wieder zu erneuern: oder, bescheidener, mit der Aufgabe, die Erzeugung von
Selbstidentität am Leben zu erhalten;
eigenständig das zu tun, womit einst die
einheimische Gemeinschaft betraut war.
Tatsächlich muss eine solche ‚einheimische
Gemeinschaft’ als der Bezugsrahmen
für Selbstidentität im Innern des Selbst
konstruiert werde. Und nur innerhalb der
Imaginationsarbeit des Selbst hat eine solche Gemeinschaft ihre notwendig prekäre
Existenz.“ (Baumann 1995:125)
Viele der Befragten berichten von ihren
Erfahrungen, die Heimat exportiert zu
haben, arbeiten an der Herstellung eines
neuen deutschen Heimatbildes für die
Familie. Diese Anstrengungen verweisen auf die Notwendigkeit, einen neuen
Platz in seinem Leben für seine Wurzeln
zu finden.
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Denn das Resultat einer nationalen
Sozialisation bleibt nach einer vollständigen Kindheit und Schullaufbahn in
Deutschland allgegenwärtig. Wir haben
den Befragten auch die Frage nach den
Bezügen des Nationalstolzes gestellt:
Sie geben oft ihren Stolz auf demokratische Errungenschaften an, zitieren
einen wahrhaftigen Rechtsstaat mit
einer unabhängigen Justiz (wegen der
deutschen Geschichte), die Offenheit
gegenüber Fremden und dem Ausland,
den wirtschaftliche Erfolg dank seiner
Arbeit und nicht nur seiner natürlicher
Ressourcen, eine gewisse Verantwortlichkeit seiner Bürger, die sich ein kritisches Bewusstsein bewahrt hätten.
Diese kollektiven Erfolge finden auch
ihre Entsprechung im Privatleben, wie
die lockere Atmosphäre, die man dort
mit Nachbarn, Kollegen, Freunden hat
und dadurch ein intensives soziales Leben mit vielen Begegnungen und Festen
genießt. Schließlich wird auch noch die
Seriosität und das Vertrauen in seinen
Mitbürger zitiert, wie auch die Toleranz
gegenüber dem Bekleidungsstil.
Wenn wenigstens einige Elemente des
kollektiven Imaginären der Herkunftskultur gut in die persönliche Identität
integriert sind, spricht die Psychologie
von einer gelungenen Individuation
und einer stabilen Identität7. So sind die
Individuen in der Lage die Trennung
zwischen ihren Werten und Überzeugungen und denjenigen ihrer Umgebung zu ertragen.
Die Wege, seine Herkunftskultur in der
Gastgesellschaft für alle Beteiligten angemessen zu leben, sind äußerst vielfältig
und können hier nur angeschnitten
werden. In den Interviews wird nicht
immer klar, welche Rolle die Gastgesellschaft für die Präsenz der deutschen Kultur spielt und müsste vertieft
erforscht werden.
Zusammenfassend kann man sagen,
dass das Fremdheitsgefühl in unseren
Interviews notgedrungen zugestanden
werden muss, obwohl es nicht gern
erinnert wird und viele Interviewte auch
nach vielen Jahren einige Grundwerte
der Gastgesellschaft als befremdend
erleben (siehe hierzu auch 3.1.3., 3.2.2.).
3.3. Die Fremdheit akzeptieren
3.3.1. Wie gehen die Immigranten mit ihren Grenzen der Integration und dem Heimatverlust um?
Wie richtet sich der deutsche Migrant
nun in seiner etwas exponierten Stellung
in der französischen Gesellschaft ein?
Was sind die Gegenmittel gegen Fremdheitserfahrungen? Wie entwickelt sich
die Fremdheit sich selbst gegenüber?
Und wie erlebt er die Ambivalenz seiner
Zugehörigkeit zur Gastgesellschaft
(bzw. die Reminiszenzen seiner Zugehörigkeit zu Deutschland)?
Nach den Lebensgeschichten erweist
sich der berufliche Erfolg als wichtigste
Stütze der Integration. Sie ist aber auch
der Persönlichkeitsstärke und / oder
dem Ehrgeiz sich zu integrieren und zu
reüssieren geschuldet. Andere, etwas zögerlicher und weniger abgehärtet durch
die eigene Biographie suchen immer
noch nach einem adäquaten Platz in der
französischen Gesellschaft. Strategien,
sich der fremden Kultur und Gesellschaft gegenüber zu öffnen, erweisen
sich als unumgänglich, um den in der
Ursprungssozialisierung erlernten Rollen noch diejenige des typischen Ausländers und / oder des (Über-) Angepassten
hinzuzufügen.
“Die Andersartigkeit Frankreichs habe
ich eher als eine Herausforderung und
Bereicherung erlebt…. Es zu schaffen, sich
anzupassen ist ein außergewöhnlicher
Erfolg in einer Welt von Kasten, Klans,
Klischees und Stereotypen.” (Interviewpartner J)
Nach unseren Analysen kann das
Fremdheitsgefühl durch folgende Elemente gelindert werden: die Stärke und
Festigkeit der persönlichen Identität,
das Selbstvertrauen, den Gleichmut gegenüber der Herkunftsgesellschaft und
/ oder -kultur, den Grad der beruflichen
und sozialen Integration im Gastland,
die Anerkennung und Wertschätzung
durch die Gastgesellschaft, das soziale
Netz im Gastland, die Kenntnis des
Wohnorts des Gastlandes und seiner Kultur. Seltsamerweise wird der
meist einheimische Partner nur selten
erwähnt, selbst wenn er sich bei Nach-
57
fragen als wichtige Hilfe am Anfang des
Einlebens erwies.
Selbstverständlich beeindruckt diese
Liste, aber für fast alle Befragten finden
sich in ihr gleich mehrere Schwachstellen. Deshalb ist das Fremdheitsgefühl
allgegenwärtig, selbst bei denjenigen,
die scheinbar mit ihrer Integration
zufrieden sind. Der Einheimische oder
selbst der französische Partner oder
manchmal auch ein enger französischer
Freund(in) sind da keine große Hilfe,
denn ohne das Gefühl des Verlustes
kultureller Sicherheiten schon erlebt
zu haben, ist die Fremdheitserfahrung
schwer nachvollziehbar. Selbst den
Auswanderern bleibt sie lange kaschiert
und manifestiert sich lediglich als ein
etwas schräges Leben, als ein Zuviel an
Originalität und durch das Gefühl,
von gewissen Kreisen, Situationen und
Freundschaften ausgeschlossen zu sein.
Und der Fremde trägt aktiv dazu bei,
dass seine Andersartigkeit nicht wahrgenommen wird; denn seine Integration
beruht vor allem darauf, sich so weit wie
möglich der Normalität des neuen Kontextes anzunähern. Außerdem wird die
Fremdheit gerne versteckt, weil sie dazu
verpflichten würde, die Fremdheit sich
selbst gegenüber anzuerkennen. (Sartre
zitiert nach Baumann 1995:112)8.
„Wenn ich eine andere werde, dann
erinnert mich das weniger an den Verlust
meiner selbst.” (Interviewpartner D)
„Das Genie ist überall isoliert, egal wo es
sich befindet.” (Interviewpartner B)
„In Frankreich habe ich noch nie jemanden kennengelernt, der sich wirklich für
Deutschland interessierte.” (Interviewpartner A)
Dennoch haben viele Befragte die große
Offenheit vieler französischer Kontexte
(Arbeit, Freunde, Schwiegerfamilie,
Lebensort, Vereinsleben, Nachbarschaft
etc.) gegenüber der Integration von Ausländern hervorgehoben. Einige haben
behauptet, dass sie so einen Empfang in
Deutschland nicht für selbstverständlich hielten.
Simmel formuliert diese Erfahrung, sich
respektiert und notwendig zu fühlen,
auf die folgende Weise: „Mit all seiner
unorganischen Angefügtheit ist der
58
Fremde doch ein organisches Glied der
Gruppe, deren einheitliches Leben die
besondere Bedingtheit dieses Elementes
einschließt.” (Simmel 1908:512)
Also bleibt die Frage nach dem den
deutschen Ausländern in Frankreich reservierten Platz offen. Unsere Befragten
haben dazu ebenfalls nur einige Rezepte
anzubieten:
„Um hierzulande zu gefallen, muss man
den landesüblichen Tugenden Genüge
tun, sich nützlich machen, ja manchmal
sogar unumgänglich werden durch sein
unablässiges Engagement, man sollte die
Küche, die Kultur und das gute Leben
in Frankreich loben; und vor allem muss
man es um jeden Preis vermeiden, die
Wirtschaft oder die Politik, ja Frankreich
ganz allgemein zu beurteilen ; dieses
Recht ist den Einheimischen vorbehalten…“ (Interviewpartner F)
Trotz aller Anstrengungen, werden
auch Grenzerfahrungen der Anpassung
gemacht, in den Interviews aber nur
selten angesprochen: Die soziale (oder
symbolische) Position des langjährigen
Immigranten ist oft nicht klar. Und so
sieht man sich mal als Franzose deutscher
Abstammung; mal als deutscher Kosmopolit; oder als Deutsch-Franzose; in
Ermangelung familiärer Wurzeln oder
von Kinderfreundschaften in Frankreich, fühlt man sich nicht wirklich als
Kind dieses Landes.
„Ich kenne Frankreich nicht wirklich.”
(Interviewpartner A)
Baumann (1995:103, 111) beschreibt
diese Gefühl in folgenden paradoxalen
Begriffen : „der Ausschluss in die Objektivität“ (ein Standpunkt von dem aus
Insider überprüft werden können) und
„die Wurzellosigkeit der Universalität“
(nur Juden, Zigeuner und Kosmopoliten zeugen noch von dieser äußeren
Grenze des Nationalismus) sind für
die Unmöglichkeit, das Wissen über
die Gesellschaft der Einheimischen zu
internalisieren, verantwortlich.
„[…] es [ist] nicht die Unfähigkeit,
einheimisches Wissen zu erwerben, die
den Außenseiter als Fremden konstituiert,
sondern die inkongruente existentielle
Konstitution des Fremden, insofern er weder ‚innen‘ noch ‚außen’, weder ‚Freund’
noch ‚Feind’, weder eingeschlossen noch
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
ausgeschlossen ist, die das einheimische
Wissen unassimilierbar macht.“ (Baumann 1995:101)
Wie gesehen gibt es keine Patentrezepte, die Fremdheit ein für alle Mal
zu überwinden, allenfalls Strategien,
mit ihr ad hoc im Alltag zurechtzukommen. Als ein Ausweg zeichnet sich
das Eingeständnis „ewiger Fremdheit“
ab. Nichtsdestoweniger kennen langjährige Migranten fast alle Untiefen
der Gastgesellschaft und vermögen im
Alltag alle gefährlichen Klippen zu
umschiffen. Tun sie das dennoch nicht,
so steht dahinter eine sehr persönliche
Entscheidung.
3.3.2. Was bedeutet die Ambivalenz der Position des Fremden?
Nach einer genaueren Beschreibung
der Natur der Ambivalenz des Fremden, diskutieren wir zwei Wege mit ihr
umzugehen: die Überanpassung und
die Zurückhaltung in einer freiwilligen
Teilmarginalisierung.
Die Ambivalenz des Fremden resultiert
aus seiner Form der Fremdheit, die noch
radikaler ist als die des gesellschaftlich
marginalen Einheimischen. Sie zielt auf
das spezifische des Selbstverständnisses
ausländischer Individuen. Da es schwer
fällt im Kontext einer fremden Kultur
oder Gesellschaft ein eindeutiges Kriterium für Normalität zu bestimmen,
muss man dieses Maß entweder wieder
in seiner eigenen Welt oder der Welt der
anderen suchen.
„Ich war schon immer relativ introvertiert
und musste mich um andere kümmern.
In Frankreich ist diese Isolation erträglicher als in Deutschland, weil alles
offener ist, der Lebensstil einfacher ist
und Entscheidungen provisorisch sind.”
(Interviewpartner A)
Die Normalität wird heute eher vom
persönlichen Charakter, der Persönlichkeit und der Mitgliedschaft in einer
(Sub-)Kultur bestimmt als von der
Gesellschaft; das Individuum hat heute
die Autonomie in seinem Privatleben,
seine ihm gefälligen Werte zu wählen
und diese werden bis zu einem gewissen
Grad auch in der Öffentlichkeit toleriert. Dennoch gibt es gute Gründe, die
dafür sprechen, dass das moderne Indi-
viduum bezüglich bestimmter Paradigmen in jeder Kultur Stellung beziehen
muss. Diese Paradigmen bestimmen
auch seine eigene Normalität, je nach
seinen Präferenzen: wie z. B. seinen sozialen Status durch seinen Bekleidungsstil
oder seine Wohnungseinrichtungen
ausdrücken, überspielen oder verstecken
etc., seine Geselligkeit in Abhängigkeit
von seinem sozialen Status pflegen oder
eben nicht etc. (Rathje 2006:12f.).
„Selbst nach über 40 Jahren Frankreich
sind meine besten Freunde immer noch in
Deutschland und werden es auch bleiben.
Selbst wenn ich sie selten sehe, stellt sich
eine intime Vertrautheit in kürzester Zeit
ein, die für mich unmöglich in Frankreich
ist. Meine französischen Bekannten sind
entweder zu derb, ja machistisch oder zu
verklemmt; wie dem auch sei, auf jeden
Fall sind die Franzosen, die ich kenne
weniger offen als die Deutschen, wenn es
darum geht über persönliche Dinge zu
reden und das ist schade.“ (Interviewpartner F)
Noch deutlicher kritisiert eine andere
Befragte ein nationales Paradigma:
„Man kann über alles diskutieren hier,
aber sobald es an die ‚Grande Nation‘
geht, dann gehen die Klappen runter.“
(Interviewpartner B)
Baumann warnt uns. Wenn wir die
kulturelle und soziale Differenz nicht
ernstnehmen, so setzen wir uns um so
mehr der Ambivalenz aus. Wir gehen
sozusagen naiv mit der Andersartigkeit
der Vertreter der Gastkultur um und
ignorieren unsere eigene Andersartigkeit, was zu interkulturellen Missverständnissen führen kann. Die Konflikte
um und die Marginalisierung von
Ausländern bleiben ohnehin bestehen.
Denn die Bekämpfung der Ambivalenz
durch mehr Transparenz und mehr Regeln führt nur zu neuen Unschärfen.
Diese Entwicklung der modernen
Gesellschaft ist besonders delikat für die
deutsche Kultur, die sehr an expliziten
Regeln hängt und an eine antizipierende Organisation gewöhnt ist. Einige
deutsche Immigranten haben selbst
nach einer langen Zeit als Auswanderer noch Probleme die in Frankreich
übliche Dosis von Improvisation und
Approximation in der Arbeitswelt zu
59
akzeptieren, eine gemessene und tolerante Haltung einzunehmen, gegenüber
vielen Regelabweichungen, denen man
in Frankreich tagtäglich begegnet.
isoliert, nicht genügend (sozial) anerkannt, was sich vielfach in Selbstkritik,
Perfektionismus, ja selbst Erfolgsstreben
äußert.
Die Überanpassung (siehe hierzu Berry
Jahr, Assimilation, mit Aufgabe der
Herkunftskultur), ist auch nicht das
Allheilmittel gegen die Grundsituation
des Fremden. Übertriebene Integration
führt zu „perversen Effekten“ (Baumann
1995:99ff ). Der erzwungene Eintritt
in eine fremde Kultur wendet oft den
guten Willen des Immigranten gegen
sich selbst. Seine Assimilationsbemühungen trennen ihn mehr von den
Einheimischen, enthüllen mehr seine
Fremdheit und bestätigen mehr sein
Gefühl der Inkohärenz als dass er sich
in die Gruppe einfügt. Im Übrigen wird
die Überanpassung von den Einheimischen wie ein Geständnis seiner Schuld
für seine Freiheit (von lokalen Normen
und Werten) und Objektivität (durch
Relativierung letzterer) (Baumann
1995:111) interpretiert, während sich
die Einheimischen in ihren Sicherheit
gebenden lokalen Kodes eingeschlossen,
abgewertet fühlen.
„Auch während der 10 Jahre in Italien,
bevor ich nach Frankreich kam, lebte ich
nur auf Italienisch und unter Italienern.
Dennoch bin ich da von den nationalstolzen Einheimischen nicht als Ihresgleichen,
eben als Italienerin angesehen worden.”
(Interviewpartner D)
Einige der Befragten berichten, dass sie
wegen ihres übertriebenen Willens, sich
der Gastkultur anzunähern bzw. sie zu
imitieren, schon einmal zurechtgewiesen und an die guten alten deutschen
Tugenden (Stereotypen) erinnert
wurden.
Das gefiel diesen Migranten überhaupt
nicht. Denn, wenn auch der Gebrauch
von Klischees für fremde Kulturen
zugelassen ist, so wird das gleiche Prozedere, angewendet auf die eigene Kultur,
doch in aller Regel zurückgewiesen.
Deshalb bleiben einige Interviewte
in sicherer Distanz zur französischen
Gesellschaft und gestehen offen ihre
Anpassungsgrenzen ein, ohne sich in die
lokalen Affären einzumischen und vor
allem ohne sie zu kommentieren.
Indessen geben fast alle zu, gewissen
Ausschlusserscheinungen ausgesetzt zu
sein, die sie gemäß ihrer Persönlichkeit
und im besten Fall durch eine stoische
Haltung zu akzeptieren scheinen. Aber
die meiste Zeit fühlen sie sich trotzdem
60
Also bleibt dem Fremden im Ausland
nur seine fremde Haltung, angezeigt
durch seine Zurückhaltung, sein vorgegebenes Erstaunen und sein Mitgefühl.
Für das Selbstvertrauen braucht es ein
Minimum an Selbstanpassung, um die
Gastgeber nicht dauernd vor den Kopf
zu stoßen. Die Übernahme des Urteils
der Einheimischen zu seiner unauflöslichen Fremdheit und die Unfähigkeit die
Welt aus der Sicht der Einheimischen zu
sehen, bestätigen ebenfalls den schlimmsten gegen ihn von Einheimischen
gehegte Verdacht: seine Zurückweisung
der lokalen Werte und der Anspruch auf
ein Gefühl der Überlegenheit (wegen
seiner Unabhängigkeit von den lokalen
Denkweisen). Goffman fasst diesen Gedanken in eine sehr treffende Metapher:
„Statt sich auf seine Krücke zu stützen,
beginnt er [der Migrant] damit Golf zu
spielen“ (Baumann 1995:111).
„Nach zwei mehr als zehnjährigen
Aufenthalten im Ausland fühle ich mich
überall fremd, weil ich selbst überall anders bin und ambivalente Gefühle hege,
wo ich auch bin. Am wohlsten fühle ich
mich unter Ausländern, Kosmopoliten,
die ganz verschiedene persönliche Geschichten tolerieren. Wenn man einmal
diese kosmopolitische Identität adoptiert
hat, dann dominiert wieder der persönliche Charakter und die Zwänge der
Lokalkulturen erscheinen fast lächerlich,
eher wie amüsante Folklore.” (Interviewpartner D)
Das Selbstbild des Fremden, geprägt
von der Relativität des herrschenden
Wertekanons und angelehnt an eine
universalistische Perspektive, bedroht
die Einheimischen, weil es sie an die
Schwächen und Mängel ihrer Werte
erinnert und sie an den der Moderne
innewohnenden Relativismus mahnt.
Die Aufgabe des Bezugs zu den eigenen
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Wurzeln wiederum ist fatal für den Immigranten wie es Franz Kafka beschreibt
(Baumann 1995:117). Bei Kafka hat der
Fremde kein Recht auf ein Selbstbild,
eine eigene Identität. Er leitet den Sinn
seiner Wahrnehmungen ausschließlich
aus den Reaktionen der Einheimischen
ab, er vergisst völlig seine Fähigkeit, aus
seinem eigenen Erbe ein vernünftiges
Projekt abzuleiten. Das bedeutet, seine
persönliche Autonomie aufzugeben.
Als Fazit vieler Autoren, die sich mit der
Frage der Fremdheit beschäftigt haben
und als eigens ausgewertete Biographien
deutscher Auswanderer scheint die Ambivalenz die wichtigste Existenzbedingung des Fremden zu sein: sei es wegen
seines Unwissens über die Geschichte
kollektiver Gefühle, seines Status, der
die Einheimischen an gewisse Objektivitäten erinnert, die ihnen in der
lokalen Sicht aus dem Blick geraten, sei
es wegen seines Status der gleichzeitigen
Integriertheit und Ausgeschlossenheit
gegenüber dem evidenten kollektiven Wissen oder seiner Funktion als
Freund und Feind (Konkurrent). All das
schränkt die Emanzipation des Fremden
als Individuum ein und verdammt ihn
zu einem bestimmten Typus des Fremden. Die Befragten leiden unter diesen
Klischees, mit denen man sie gleichsetzt. Deshalb stellt die Fremdheitserfahrung auch die Herkunftsidentität in
Frage, denn sie hinterfragt die erlernten
Sicherheiten und bringt die Kriterien
für Normalität durcheinander9.
Zusammenfassend ergibt sich: Zumindest am Anfang stört das Fremdheitsgefühl die Emigranten selbst
relativ wenig, denn sie haben ja alle ihre
Integrationsprobleme und die (Re-)
Konstruktion ihrer Identität mit dem
Akt des Verlassens ihres Landes (Elternfunktion) gelöst. Sei es in der Hoffnung,
eine ihren Bedürfnissen angemessenere
Umgebung zu finden (alloplastisch), sei
es die Gelegenheit seine Persönlichkeit
zu entwickeln oder einfach erwachsener
zu werden (autoplastisch). Diese Hoffnung auf unmittelbare Reifung dank der
Auswanderung ist eine der großen Entdeckungen aus den Interviews. Und das
vorprogrammierte Scheitern (zumindest in der Anfangsphase) ist nach einer
Phase des Umherirrens die Hauptmotivation an sich selbst zu arbeiten, um die
Frage der Ambivalenz seiner Existenz als
Fremder, aber auch als Person, etwas zu
klären. Dies ist für viele ein Lebensprojekt, oft belohnt durch das Erreichen
einer klareren, stabileren und ausgeglicheneren Identität. Das Fremdheitsgefühl verwandelt sich im besten Falle
relativ häufig in diplomatische Ambivalenz gegenüber kulturell befremdenden
Situationen, manchmal in selbstlose
Bereitstellung seiner Hilfe als Kompensation von nicht überspielbarer Fremdheit und schließlich, noch seltener, zur
Übernahme von lokalen Werten und
Normen in das eigene Selbstverständnis
des Fremden. Grundsätzliche Fremdheit
gegenüber der Gastkultur bleibt jedoch
jederzeit abrufbar und bedrohlich im
Hintergrund.
Am Ende gilt es die verbleibende Ambivalenz zu ertragen, indem eine passende Positionierung zu Herkunfts- und
Gastkultur gefunden wird.
3.3.3. Was heißt es, die Ambivalenz zu ertragen?
Akhtar schlägt eine Lesart des Integrationsprozesses in vier Dimensionen
vor, die jeweils die Fähigkeit ermessen, Ambivalenz zu ertragen. (Akhtar
2007:95ff.). Es geht dabei darum, für
jede Dimension eine intermediäre
Position zu finden zwischen der unbedingten Identifikation mit der neuen
Umgebung und deren Zurückweisung
wegen der Suche nach den schlecht
integrierten (kulturellen) Wurzeln. Man
muss also lernen, Ambivalenz in den
verschiedensten Lebenssituationen zu
ertragen.
Die erste Dimension betrifft die Triebe
und Affekte, in der man von der Entgegensetzung zwischen Liebe und Hass
zur Ambivalenz finden muss und dies
auch angesichts der neuen Kultur (Objekt). Es handelt sich hier um die psychische Kompetenz zur Trennung zwischen
Selbstbild (Subjekt) und Repräsentation
der Umwelt (Objekt). Im Falle einer
schwachen Trennung zwischen Subjekt
und Objekt droht in Situationen mangelhafter Anpassung und daraus resultierender Nichtanerkennung die Gefahr
61
der Regression. Diese Regression zeigt
sich in einer aggressiven Abwertung der
Gastkultur und der Idealisierung der
Herkunftskultur (oder umgekehrt).
Vor allem am Anfang ihrer Migration
berichten mehrere Befragte von Phasen,
während derer sie ihre Ursprungskultur
völlig zurückwiesen, um schließlich
später während anderer Phasen diese zu
idealisieren (siehe hierzu die vorstehenden Zitate von Interviewpartner E und
B).
Die zweite Dimension definiert den
persönlichen und psychischen Bereich,
der die optimale Distanz zur umgebenden Gesellschaft (Objekt) bestimmt, um
zu vermeiden, dass diese zu stark internalisiert oder exteriorisiert wird. Eine zu
geringe Distanz zum Objekt (Beziehung
zur Mutter) provoziert symbiotische Bedürfnisse, die sich ebenfalls negativ auf
die richtige Distanz zur neuen Kultur
auswirken. Wir erinnern an nicht überwundene kindliche Heimatnostalgien
wie unter 3.2.1 besprochen. Mögliche
Konsequenzen sind erneut ein ethnozentrischer Rückzug auf den Objektentzug (Fusion mit der Herkunftskultur)
oder eine kontra-phobische Assimilation (Zurückweisung der Herkunftskultur) bei Idealisierung der neuen Kultur.
Bezüglich der Distanz zu beiden Kulturen erzählen die Interviewten von ihrem
Zögern, ihre persönliche Identität zu
verteidigen, da sie oft zum Zeitpunkt
der Migration noch wenig entwickelt
schien. Am Anfang ihrer Integration
haben sie zu sehr oder zu wenig ihre
Werte gegenüber der neuen Umgebung behauptet. Einige haben indessen eingeräumt, dass das Erlernen die
richtige Distanz zu finden, unabhängig
von Frankreich, eine Angelegenheit der
persönlichen Reifung war.
„Mit fortschreitendem Alter wird das
Kindheitspaket vergrößert, verdichtet, um
die Leere zu füllen, in 20 Jahren bin ich
nur 2-3 Mal zu meiner Großtante gefahren, von der Familie kommt nicht viel […]
Alle sind ambivalent, die Franzosen auch,
manches ist gut, manches nervig […] Als
Persönlichkeit bin ich selbständiger, älter
geworden, habe neue Erfahrungen im
Leben gemacht, wie z. B. verschiedene
Arbeitsklimata, wenn auch nur mit Aver-
62
sion, bin mehr ich selber geworden, dank
Frankreich gereift.” (Interviewpartner C)
Die dritte Dimension steht vor der
Herausforderung, den unvollkommenen Charakter der Erfahrungen am
neuen Lebensort anzuerkennen und
weder in die Nostalgie eines verlorenen
Paradieses abzuschweifen, noch sich auf
die allein heilbringende Zukunft in der
verlorenen Heimat zu kaprizieren. Hier
geht es darum, seine Triebe und Bedürfnisse an der Realität auszurichten und
von Projektionen aus der Vergangenheit
oder in die Zukunft zu befreien. Der
Verlust der Errungenschaften der primären Sozialisierung remobilisiert beim
Migranten symbiotische Bindungen.
Die Gefahr bei dieser Erfahrung ist es,
die Vergangenheit bzw. eine mögliche
Zukunft in der Herkunftsgesellschaft zu
idealisieren.
Dieser Aspekt wird relativ wenig
angesprochen. Einige ältere Befragte
(> 55 Jahre) beginnen jedoch sich
Gedanken darüber zu machen, wie sie
mehr Zeit in ihrer ehemaligen Heimat zubringen können und dass ihre
intimsten Bindungen (mit Ausnahme
ihrer französischen) Familie doch
mehr in Deutschland als in Frankreich
liegen (z. B. Verwandte, Kinder- und
Jugendfreundschaften(siehe hierzu die
vorstehenden Zitate von Interviewpartner F zu deutschen Freundschaftsbeziehungen und B zu zunehmender
Intoleranz gegenüber unzivilisierten
Franzosen).
Schließlich besteht die letzte Integrationsdimension darin, eine neue Zugehörigkeit bzw. Aufteilung zu generieren,
mit denen der Migrant vom meine und
deine zu unserer Kultur, Gesellschaft,
Gemeinschaft etc. in Frankreich findet.
Es gilt dabei, seinen primären Narzissmus zu überwinden, zugunsten der
Sorge um den Nächsten. Fehlende Erfahrungen mit den Symbolen der französischen Kultur, sprachliche Hürden
und ein unangepasstes Über-Ich, verhindern die Entwicklung einer toleranten
Haltung und favorisieren die Regression
auf einen primären Narzissmus.
Niemand unter den Befragten hat eine
primäre Rivalität zwischen den beiden
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Kulturen zum Ausdruck gebracht.
Wenn es jedoch darum geht, ihre
Beziehung(en) zu den beiden Kulturen
miteinander zu vergleichen, greifen sie
auch auf Stereotypen zurück wie z. B.
die Pünktlichkeit, die Organisation, die
Effizienz, den Laissez-faire, die Gastlichkeit oder die reichhaltige Küche / Gastronomie. Dies ist vielleicht ein Indiz
dafür, dass ihre moralische Wahrnehmung noch nicht bereit ist, die beiden
Kulturen miteinander zu vermischen.
Mehrere Deutsche, die in Frankreich ihr
eigenes Unternehmen oder Karriere aufgebaut haben, haben keinerlei Probleme
von ihrem Arbeits- oder Wohnort in der
wir-Form zu sprechen. Dagegen sprechen sie von der französischen Politik,
dem Staat und den Werten häufiger in
der sie-Form.
„Hier bin ich längst nicht mit allem
einverstanden wie zum Beispiel mit den
französischen Wohnsilos oder den französischen Gesetzen, die Fehlentwicklungen
bestärken und sage auch, was ich denke;
denn französische Politiker sind heute alle
korrupt.” (Interviewpartner K)
Wenn die Immigranten (noch) nicht
die oben erwähnten Anpassungen
entwickelt haben, bleibt ihr Selbstbild
vage und mühsam. Man spürt, dass ihre
Ursprungsidentität noch keinen angemessenen Platz in der Gastgesellschaft
gefunden hat. Ihre Herkunft wird nicht
anerkannt. Sie haben noch keinen, oder
sind gerade dabei, einen Heimatersatz
aufzubauen, sei es in der Arbeit durch
die Vermittlung von Kenntnissen über
Deutschland, sei es als pädagogische
Projekte, die für Deutschland werben, sei es durch deutsche Aktivitäten
(Stammtische, Feste, Deutschunterricht für die Kinder etc.) im Rahmen
deutsch-französischer Familien oder
einfach durch direkten Austausch mit
deutschen und französischen Freunden.
Aber nur wenige der Migranten haben
sich in der Gastgesellschaft soweit
engagiert, dass sie ehrenamtlich Dienste
übernähmen oder man von aktiven Rolle in der französischen Politik sprechen
könnte. Diejenigen, die es gemacht haben (als Bürgermeister, als Mitbegründer von deutsch-französischen Häusern,
als Stadträtinnen) können es sich
erlauben, offen als Deutsche in Frankreich aufzutreten und werden als solche
respektiert, weil sie sich für Frankreich
(-Deutschland) eingesetzt haben. Die
Mehrheit begnügt sich damit, ausgeglichene gegenseitige Beziehungen in ihren
beruflichen und privaten Netzwerken
zwischen den beiden Ländern zu unterhalten. Ihr Status in Frankreich scheint
dem Etikett in Frankreich lebende(r)
Deutsche(r) zu entsprechen, da ihnen die
deutsche Staatsangehörigkeit ausreicht.
Die französische wurde nur beantragt,
sofern eine Doppelstaatsangehörigkeit
möglich war.
4. Fazit: Vom Einzelgänger
zum Kosmopoliten?
Die Erfahrung der Fremdheit ist eine
Herausforderung für viele Migranten,
ob sie bewusst oder unbewusst erlebt
wird. Die Anerkennung der Herkunftskultur sowie ihr Platz in der neuen
Umgebung erweist sich oft als strategisch wichtig dafür, die etwas marginale
Position in der Gastgesellschaft zu
akzeptieren, seine Identität und sein
Selbstwertgefühl zu stabilisieren.
Aber viele der befragten deutschen
Migranten sind an Marginalität gewöhnt und haben häufig die Persönlichkeitsstärke, um mit viel Gegnerschaft
zurechtzukommen. Die Mehrheit der
Befragten ist seit langem Einzelgänger.
Fast alle lebten irgendwie am Rande der
deutschen Gesellschaft. Sie sind auch
relativ autonom, was ihre Familie anbelangt. Viele haben das Elternhaus bei
der ersten Gelegenheit verlassen. Deshalb haben sie sich eher den Herausforderungen ihrer Unabhängigkeit gestellt,
auch den damit verbundenen Leiden
und Anstrengungen, um ihre Ziele zu
realisieren. Schließlich verdankt sich ihr
Wechsel nach Frankreich nicht allein
einer günstigen (beruflichen, persönlichen oder materiellen) Gelegenheit,
sondern wird von einem sehr persönlichen, oftmals anfänglich unbewussten
Projekt motiviert:
■■ Alloplastische Anpassung: in
Ermangelung von befriedigenden sozialen bzw. familiären Beziehungen
in Deutschland, zogen diese Aus-
63
wanderer eine durch ihre Formerfordernisse stärker strukturierende
Gesellschaft vor, die auch toleranter
gegenüber Außenseitern ist und
selbst viel Marginalität erzeugt.
Autoplastische Anpassung: die Perspektive den Leidensdruck von diskreten
Einzelgängern oder Geschmacksindividualisten in einer Gesellschaft aufzuheben, wo solche Lebensstile normal sind,
ermutigte einige dieser Auswanderer,
ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln.
Die erlebte Fremdheit erinnerte sie
schnell an ihre Integrationsprobleme,
die sie mit der Auswanderung zu lösen
hofften. Sie wiederholten sie, jedoch in
anderer Gestalt in der neuen Kultur und
in Abwesenheit der alten Primärgruppen, welche beide zu ihrer Überwindung beitragen.
Man könnte die wichtigsten Ergebnisse
dieses Artikels der drei Hauptkapitel
folgendermaßen zusammenfassen: Die
Ursprungskultur prägt durch ihre Sozialisierung auf Lebenszeit und man bleibt
immer irgendwie fremd in der zweiten
Kultur. Man muss der Herkunftskultur
einen angemessenen Platz im Leben
geben, um die Fremdheitserfahrungen
besser ertragen zu können. Es gilt eine
Vielzahl von Anpassungsmaßnahmen
zu bewerkstelligen, um eine Ursprungskultur im Ausland (mit-)leben zu können, ohne sich darin einzuschließen.
Wenn der Migrant diese drei Aspekte
des Lebens im Ausland ernst nimmt, so
reift auch vielfach seine Persönlichkeit.
Diese drei Herausforderungen entsprechen auch etwa den verschiedenen
Phasen der Integration im Gastland und
der Entwicklung einer neuen (bikulturellen) Identität. Dabei ist es selbstverständlich, dass Ungleichzeitigkeiten der
Anpassung in verschiedenen Lebensbereichen auftreten. So ist man imstande
Fremdheit (Andersheit) besser zu
ertragen, die Dämonen seiner Kindheit
zu überwinden und sich von den alten
nationalen mentalen Landkarten zu
befreien, verglichen mit denjenigen, die
im Heimatland geblieben sind. Schließlich stellt sich die Frage, ob solche
Biographien für einen kosmopolitischen
Geist sensibilisieren oder ihn zumindest
vorbereiten. Persönlich bleiben wir
64
skeptisch gegenüber einer kosmopolitischen kulturellen Position, was aber die
Legitimität dieser Frage nicht verneint.
Aber für uns handelt es sich hier eher
um eine philosophische als soziologische Frage.
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Endnoten
1. Dieser Studie unterliegt ein weiter Begriff
von Kultur, der die Qualitäten verschiedener
Kollektive umfasst, der die Alltagskultur berücksichtigt und Unterschiede in Sitten und Werten
von sozialen Gruppen betont.
4. Berry entwickelte ein 4 Felder-Schema, das
Annahme bzw. Zurückweisung der Gastkultur
und der Herkunftskultur einander gegenüberstellt. Daraus entstehen 4 Integrationsstrategien:
Bi- bzw. Multikulturalität, Assimilation, Segregation / Separation, Marginalisierung.
5. Waldenfels unterscheidet verschiedene Grade erlebter Fremdheit oder des Fremdseins. Die
Fremdheitserfahrung kann qualifiziert werden
als:
- alltäglich, die begrenzt wird durch alles, was wir
als vertraute Erfahrungen bezeichnen können
(Schütz (1972) nennt sie: „Denken wie üblich“)
wie zum Beispiel die Fremdheit von Nachbarn,
Straßenpassanten oder Schalterbeamten, mit
denen man sich verständigen kann.
- strukturell, die Begegnungen außerhalb beherrschter Ordnungen betrifft (wie zum Beispiel
eine Fremdsprache, soziale Riten, Sitten, Moralen eines anderen Landes, fremde Lebenswelten,
der sich verändernde Zeitgeist etc.) und tritt immer dann auf, wenn man sich in eine neue soziale
Ordnung begibt (aber auch in neue Milieus).
- radikal, die auf Erfahrungen verweisen, die uns
mit Ereignissen außerhalb jeglicher Ordnung
konfrontieren und nicht nur eine bestimmte
Interpretation, sondern die Interpretation im
Allgemeinen in Frage stellen. Hier handelt es sich
um eine Verständnislosigkeit, die den eigenen
Sinnhorizont übersteigen, aber keine totale
oder absolute Fremdheit wie die Entfremdung
darstellt).
6. Die sozialen Formen organisieren für
Simmel (1908) soziale Inhalte wie z. B. die
Sozialisierung oder die Vergesellschaftung. Um
ihre Funktionsweise besser zu verstehen und ihre
Reichweite zu erfassen, untersucht er sie gerne in
Form von Gegensatzpaaren.
7. Identität als psychologisches Konzept geht
davon aus, dass sich ein Mensch mit etwas identifiziert, also ein äußeres Merkmal einer bestehenden Gruppenidentität als eigenes Wesensmerkmal annimmt.
8. Baumann Z. op cit; „L’étranger, c’est
l’homme en face du monde […] L’étranger, c’est
aussi l’homme parmi les hommes… C’est enfin
moi-même par rapport à moi-même.”
9. Die nationale Repräsentationen der Welt zu
denen jedes darin sozialisierte Wesen Stellung zu
beziehen hat.
2. Die Gesellschaft eines Landes unterscheidet
sich von seiner Kultur durch eine spezifische
Organisation des öffentlichen Lebens mit seinen
Institutionen, seinen sozialen Beziehungen und
dem Status seiner Institutionen.
3. Siehe auch Wikipedia: Alloplastic adaptation (URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Alloplastic_adaptation).
65
66
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Intuition als Metafähigkeit Interkulturellen Managements – zum Selbstverständnis Interkultureller Manager
Intuition as meta skill in Intercultural Management – on the
self-conception of Intercultural Managers
Petra-Stefanie Vogler
Abstract (Deutsch)
Dr., Interkulturelle Managerin
und Erziehungsphilosophin;
tätig als Unternehmensberaterin
und Dozentin
Management in Organisationen und Unternehmen ist heute in besonderem Maße
„Management interkultureller Komplexität“ (Mahadevan 2008a). Interkulturelle
Managementkompetenz bewegt sich ergo in und zwischen den fünf Dimensionen
Haben von Erfahrung, Sensibilität, Fertigkeit, Wissen und Metafähigkeit Intuition
in interkulturellen Handlungskontexten, und präsentiert sich somit als strategische
Handlungskompetenz in internationalen Unternehmenssituationen.
Stichworte: Interkulturelles Management, Interkulturelle Kommunikation, Intuition,
Sensibilität, Virtuelle Kooperation
Abstract (English)
Nowadays management in organisations and companies has become first and foremost
a „management of intercultural complexity“ (Mahadevan 2008a). Intercultural management competence subsequently moves in and between the five dimensions having of
experience, sensitivity, skill, knowledge and meta skill intuition in intercultural action
contexts and therefore presents itself as strategic competence in international organisational settings.
Keywords: intercultural management, intercultural communication, intuition, sensitivity, virtual cooperation
1. Einführung
Management in Organisationen und
Unternehmen ist heute in besonderem
Maße „Management interkultureller
Komplexität“ (Mahadevan 2008a) und
insofern Interkulturelles Management.
Der Grad der Einbindung und demzufolge der Wirkung Interkulturellen
Managements richtet sich nach der
jeweiligen Organisations- bzw. Unternehmenskultur2, deren Definitions-
versuche vielfältig und häufig widersprüchlich sind (vgl. Rathje 2004:60ff ).
Daher lassen sich die unterschiedlichen
Bedeutungen, welche Organisationsbzw. Unternehmenskultur anhaften, in
zwei zentrale Sichtweisen unterteilen.
So geht man zum einen davon aus,
Organisationen seien Kulturen, „deren
Gewohnheiten man genau wie Stämme, Nationen oder andere Gruppen
beschreiben“ (Smircich 1983:347 zitiert
nach Rathje 2009a:2) könne, zum
67
anderen nimmt man an”Organisationen
hätten eine bestimmte Kultur, die veränderbar bzw. gestaltbar sei“ (Smircich
1983:339 zitiert nach Rathje 2009a:2).
Unternehmenskultur sei daher „immer
auch interkulturelle Unternehmenskultur. Im Rahmen internationaler oder
interethnischer Zusammenhänge, in
denen eine der Organisation übergeordnete ‚pankollektive Verklammerung‘
(Hansen 2009) der Mitarbeiter, z. B. im
Rahmen einer gemeinsamen Sprache,
Religionszugehörigkeit oder Staatsangehörigkeit fehlt, hat sich der Sprachgebrauch von interkultureller Personalund Organisationsentwicklung oder
auch interkultureller Unternehmenskultur etabliert“ (Rathje 2009a:3).
Man kann behaupten, dass das Berufsfeld des Interkulturellen Managements
als wichtiges Gestaltungsinstrument
von Unternehmenskultur, Personal- und
Organisationsentwicklung heute ähnlich en vogue und heterogen ist wie das
unmittelbar damit verbundene Themenfeld der „Interkulturellen Kompetenz“
(Bolten 2007:21). Ebenso wie im Fall
der Interkulturellen Kompetenzdiskussionen3 (vgl. Benseler u. a. 2003, Bolten
2006, Deardorff 2006, Rathje 2006,
2010), ist der fachliche Diskurs hier von
Heterogenität, Multidisziplinarität und
Konfrontation geprägt (Bolten 2011,
Koch 2010, Rothlauf 2009, Scherm /
Süß 2001, Fuchs / Apfelthaler 2008,
Mahadevan 2008), so dass von keinem
einheitlichen Konzept interkulturellen
Managements gesprochen werden kann.
Diese bestehende Unschärfe und Uneinheitlichkeit des fachlichen Diskurses
wird zum einen sichtbar am „Fehlen
klarer Begriffsbildungen“ (Koch 2008:
3), zum anderen an der unterschiedlichen Art und Weise der Anwendung
von Modellen, Theorien, Methoden
und Konzepten interkulturellen
Managements in der Praxis. Sicherlich
ist nicht von der Hand zu weisen, dass
die Anerkennung des Berufsfeldes des
Interkulturellen Managements unternehmens- und organisationsspezifisch
stark variiert und demzufolge auch
dessen Etablierung und Wirkungskraft
im Rahmen der Personal- und Organisationsentwicklung selbst äußerst divers
ist. Welche Modelle, Mechanismen und
68
Strategien letztlich zur Beschreibung,
Feststellung, Behebung und Nutzung
interkulturell bedingter Einflüsse und
Aspekte in verschiedenen Kontexten
herangezogen werden, steht wiederum
in direkter Verbindung mit der Frage
nach dem zugrunde liegenden Verständnis der Begriffe Kultur und Interkultur.
Die interkulturelle Managementdebatte
sowie deren Relation zur Kulturbegriffsverständnisdiskussion soll jedoch in
diesem Beitrag nur ansatzweise andiskutiert werden. Ausgehend von einem
lebensweltlichen Kulturbegriff kann
auch hier darauf verwiesen werden, dass
„alle Organisationsmitglieder neben
ihrer Unternehmenszugehörigkeit auch
gleichzeitig Teil weiterer Gruppen oder
Kollektive sind, aus denen sich ihrerseits
Kulturen speisen (z. B. Akademiker,
Kölner, Frauen, Bayern, Fussball-Fans,
Franzosen, Hobby-Musiker), immer
dafür, dass unterschiedliche Kulturen in
die Unternehmenswirklichkeit hineingetragen werden. Diese Multikollektivität (Hansen 2000:196f.) der Individuen
macht aus Unternehmenskulturen dann
immer auch gleichzeitig Interkulturen,
weil ‚präkollektive‘ (Hansen 2009),
also dem Organisationszusammenhang
vorgelagerte, kulturelle Erfahrungen, die
Zusammenarbeit beeinflussen“ (Rathje
2009b:3).
Interkulturelle Managementkompetenz
bezieht sich demzufolge auf die Felder
Erfahrung, Sensibilisierung, Fertigkeit,
Wissen und Metafähigkeit in interkulturellen Handlungskontexten. Das Konzept einer kontextualisierten Form Interkulturellen Managements befasst sich
also mit der Umsetzung von interkulturellen Denk- und Handlungsweisen in
den Arbeitsalltag von Unternehmen.4
Folglich basiert dieses auf einer Art
Zwischenspiel von einem einerseits auf
Differenz und Kohärenz, andererseits
auf Similarität und Kohäsion basierendem Prinzip von Kultur. Dieses Prinzip
der Similarität, der (Fremd)-Ähnlichkeit sowie der Selbstähnlichkeit, welches in Philosophie sowie Sozial- und
Naturwissenschaften dazu verwendet
wird, um grundsätzlich wiederkehrende,
in sich selbst verschachtelte Strukturen
zu bezeichnen, kann für das Themenfeld des Interkulturellen Managements
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
durchaus einen wichtigen gedanklichen
Beitrag leisten. Wittgenstein spricht
beispielsweise in seinen Philosophischen
Untersuchungen (1953) von Familienähnlichkeit und verweist hier auf
Eigenschaften von Begriffen, die mit
einer in ein bestimmtes System einordnende Klassifikation nicht hinreichend
erfasst werden können, da Begriffe
unscharfe Grenzen haben können. Als
Beispiele nennt Wittgenstein den Begriff der Sprache, den des Spiegels und
den des Sprachspiels. Ihm zufolge gibt
es keine allgemeinen Merkmale, die für
alle Sprachen, Spiele und Sprachspiele
gelten, obgleich es einige Spiele mit
gemeinsamen Merkmalen (Brettspiele,
Kartenspiele, Ballspiele usw.) gäbe,
die aber wiederum mit anderen keine
Gemeinsamkeiten aufwiesen, jedoch
über Familienähnlichkeiten miteinander verwandt seien, also in diesem Sinne
eine Familie bildeten. In den Philosophischen Untersuchungen sprach
Wittgenstein bildhaft davon, dass bei
bestimmten Begriffen einzelne Fälle wie
Fasern eines Fadens ineinandergriffen
(vgl. Wittgenstein 2001). Nietzsche
beschreibt die Familien-Ähnlichkeit auf
andere Weise:
„Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit
alles indischen, griechischen, deutschen
Philosophirens erklärt sich einfach genug.
Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft
vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden,
dass, Dank der gemeinsamen Philosophie
der Grammatik – ich meine Dank der
unbewussten Herrschaft und Führung
durch gleiche grammatische Funktionen –
von vornherein Alles für eine gleichartige
Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso
wie zu gewissen andern Möglichkeiten der
Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt
erscheint” (Nietzsche 1886:28f ).
Die Idee der Similarität wird bislang
höchst selten für die Beschreibung eines
dem interkulturellen Management
zugrunde liegenden Kulturmodells
verwendet und nur am Rande berücksichtigt, da das Prinzip der Kohäsion
hingegen geläufiger ist. Dieses verweist
auf ein Kulturmodell, welches sowohl
der Forderung nach Differenz- als auch
Kohärenzorientierung Rechnung trägt.
Das kohäsionsorientierte Modell von
Hansen geht beispielsweise davon aus,
dass Kulturen ganz allgemein innerhalb
menschlicher Kollektive bestehen.
Zahlreiche Ebenen von Kultur, die sich
überlagern und widersprechen können,
werden hier zugelassen. In allen komplexeren Kollektiven herrscht „nicht nur
Vielfalt, sondern Diversität, Heterogenität, Divergenzen und Widersprüche“
(Hansen 2000:182). Die Leistung
dieses Modells liegt in einer plausiblen
Erklärung des Zusammenhalts von
Kulturen, ihrer Kohäsion, nicht aus
Kohärenz, sondern aus der Bekanntheit
von Differenzen. Auf der Ebene der
Wirtschaftsunternehmen ist bekannt,
dass der Zusammenhalt von Unternehmenskulturen nicht notwendigerweise
an Homogenität geknüpft ist, sondern
eher an Normalitätserzeugung über
Bekanntmachung von Differenzen.
Rathje knüpft an Hansens Differenzierung an und entwickelt auf deren Basis
Matrixmodelle zum Kulturbegriffsverständnis. Auf Organisationsebene
wäre die Kreation einer „pankollektiven
Klammer“ (Hansen 2009) sicherlich
eine der grundsätzlichen Aufgaben eines
Interkulturellen Managers.
2. Interkulturelle Managementkompetenz
Die dem Bereich des Interkulturellen
Managements inhärente Komplexität
stellt große Anforderungen an die Agierenden. Die einleitend beschriebenen
Begriffsfelder und Prinzipien umreißen
dementsprechend ein Arbeitsfeld,
welches in sich äußerst heterogen und
divers ist und sich daher auf besondere
Kompetenzen bezieht, welche sich gemäß des Gesamtsystems verschiedenen
Dimensionen zuordnen lassen. Daher
kann die Komplexität interkultureller
Managementkompetenz anhand der folgenden fünf Dimensionen Haben von I.
Erfahrung, II. Sensibilität, III. Fertigkeit,
IV. Wissen und V. Metafähigkeit in interkulturellen Handlungskontexten näher
beschrieben werden. Der Schwerpunkt
der Diskussion liegt im Anschluss auf
Punkt V. Metafähigkeit Intuition.
69
2.1. Dimensionen I und II –
Erfahrung und Sensibilität
I. Erfahrung
Angelehnt an Kochs Aufteilung (vgl.
Koch 2008:12) in diverse Arbeitskontexte, soll der Bereich der Erfahrung
im nationalen, internationalen sowie
berufsgruppenspezifischen Arbeitskontext
(Berufsfeld Management) untersucht
werden. Diese kontextuale Differenzierung ist insofern ausschlaggebend, als
dass ein interkultureller Manager sich
in diesen interdependenten Kontexten
des Erfahrungsbereichs interkulturellen
Managements bewegt und von daher in
der Lage sein muss sich kontextadäquat
zu bewegen.
II. Sensibel sein für
70
interkulturelle
Prozesse
Internationaler
Arbeitskontext
I. Erfahrung haben
Nationaler
Arbeitskontext
Interkulturelle
Management
Kompetenz
I. Erfahrung haben
Management
Kontext
interkulturelle
Aspekte von Führung
II. Sensibel sein für
Abb. 1: Dimensionen I und II – Erfahrung und Sensibilität. Quelle: Autorin, eigene Darstellung.
II. Sensibilität
Der zweite große Bereich interkultureller Managementkompetenz bezieht
sich auf den Besitz von Sensibilität
für interkulturelle Besonderheiten von
Managementbereichen, Besonderheiten
interkultureller Prozesse sowie interkulturelle Aspekte von Führung. Zu den erwähnten Managementbereichen zählen
beispielsweise Qualitätsmanagement,
Sozialmanagement, Zeitmanagement
und Personalmanagement. Exemplarisch sollen im Anschluss einige möglicherweise auftretende interkulturelle
Besonderheiten in den Bereichen Qualitätsmanagement und Zeitmanagement
erläutert werden. Qualitätsmanagement
befasst sich mit der Qualität in einem
Projekt, also mit dessen Durchführung
und der Qualität des daraus resultierenden Produktes5. Bei Organisationen und
Einrichtungen, die Anspruch auf interkulturelle Qualifizierung erheben, geht
es hierbei vor allem um die Frage nach
der Anerkennung kultureller Differenz
und der Verankerung der Bedeutung
interkultureller Besonderheiten. Ein so
verstandenes interkulturelles Qualitätsmanagement dient oftmals als Grundlage für die Erarbeitung interkultureller
Qualitätsstandards. Zu den Qualitätsmanagement-Bestandteilen zählen u. a.
der Entwurf eines Leitbildes für die
jeweilige Einrichtung, die Entwicklung
von Zielen, die Entwicklung von Evaluationsverfahren oder auch die Verfassung eines Organisations-Management-
II. Sensibel sein für
I. Erfahrung haben
interkulturelle
Besonderheiten von
Management-Bereichen
Handbuchs. Zudem geht es um die
Verbesserung der Teamkooperation, also
z. B. mittels der Formulierung von interkulturellen Standards der Teamarbeit
oder auch der Managementtätigkeit.
Zeitmanagement beschäftigt sich mit
der Kunst der optimalen Zeitnutzung.
Eine weitere Komponente im Projektmanagement die von entscheidender
Bedeutung ist. Alle Probleme hinsichtlich zeitlicher Abläufe lassen sich
hiermit situationsbedingt optimal lösen.
Die wichtigsten Ansatzpunkte sind die
optimale Zeitplanung, Setzen von Prioritäten und Eliminierung von zeitintensiven weniger relevanten Aufgaben.
Durch effektive Aufgabenabarbeitung
und effiziente Planung lassen sich Probleme und Hindernisse oft frühzeitig
erkennen. So würde man im internationalen Projektmanagement das Arbeiten
mit Meilensteinen als eine geeignete, die
interkulturelle Zusammenarbeit unterstützende, Methode betonen. Beispielsweise tendiert eine stark monochron
und linear wirkende Arbeitskultur mit
meist langer Planungs- und kurzer Umsetzungsphase (wie häufig in Deutschland umgesetzt) zu Detailzeitplänen,
d. h. zu stark strukturierten Zeitplänen
und Abläufen; eine Vorgehensweise,
welche Abstimmungskulturen (wie
meist in Japan) oder polychron orientierten Arbeitskulturen mit meist kurzer
Planungs- und langer Umsetzungsphase
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Interkulturelle
Handlungskompetenz
Kompetenzbereich
Allgemeine
Handlungskompetenzen
Individuell
Belastbarkeit, Lernbereitschaft, Selbstwahrnehmung, Selbststeuerungsfähigkeit,
Rollendistanz, Flexibilität, Ambiguitätstoleranz
Selbststeuerungsfähigkeit in sprachlich und kontextuell
fremden Umgebungen
(„Normalität herstellen können“)
Sozial
Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, MetaKommunikationsfähigkeit, Toleranz,
Kritikfähigkeit, Empathie etc.
Konfliktfähigkeit in Kontexten unter Beweis stellen
können, in denen andere Konfliktbewältigungsstrategien üblich sind als im gewohnten Kontext
Fachlich
Fachkenntnisse im Aufgabenbereich,
Kenntnisse der fachlichen/ beruflichen
Infrastruktur, Fachwissen vermitteln
können, Berufserfahrung etc.
Fachkenntnisse unter Berücksichtigung anderskultureller Traditionen der Bildungssozialisation vermitteln
können
Strategisch
u.a. Organisations- und Problemlösefähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Wissensmanagement etc.
Synergiepotentiale bei kulturell bedingt unterschiedlichen Formen der Zeitplanung erkennen und realisieren
können
Abb. 2:
dto. plus Transferfähigkeit auf ziel-/interkulturelle Kontexte
Unterschied zwischen allgemeiner und interkultureller Handlungskompetenz. Quelle: Bolten 2006.
(wie meist in Indien umgesetzt) nicht
entspricht. Eine einseitige Vorgabe führt
im Projektmanagement zwangsläufig
zu Missverständnissen und Konflikten,
da die eine Seite sich über Nichteinhaltung von Terminplanungen beschwert,
die andere Seite sich durch starkes
Gepushtwerden angegriffen fühlt. Die
Anpassung des Führungsstils zählt an
dieser Stelle zu einer weiteren zentralen
Projektmanagementmethode im interkulturellen Kontext. Eine Führungsperson muss sich der Arbeitskulturen
der Mitarbeiter im Einzelfall bewusst
sein und den Führungsstil dementsprechend verändern. Das Zeitmanagement
kann also beispielsweise durch einen
eher paternalistisch-autoritären oder
eher partizipativ-egalitären Führungsstil verschieden beeinflusst. In vielen
Fällen lassen sich Entsprechungen von
Führungs- und Kommunikationsstilen
aufzeigen.
„Da derartige Kommunikationssysteme
oder -stile lebensweltliche Interaktion
insgesamt begleiten und prägen, findet
man Entsprechungen im Führungsstil,
Verhandlungsstil, Lernstil sowie in
Merkmalen gesamtgesellschaftlicher Organisation wie etwas in politischen oder
wirtschaftlichen Strukturen […}. Hierbei
gilt: Je kleiner die Interaktionsgruppen
oder Lebenswelten qua Kulturen sind,
desto größer werden die Fits zwischen den
Stilbereichen sein. (...) In diesem Sinne
sind kommunikative Stile in dem bereits
diskutierten Sinn von Kommunikation
gleichzeitig auch als kulturelle Stile identifizierbar“ (Bolten 2007:78f.).
2.2. Dimension III – Kompetenz
III. Kompetenz
Interkulturelle Kompetenz6 hier, um
den letzten Begriff etwas näher zu
beleuchten, betont den „Unterschied
zwischen allgemeiner (eigenkultureller)
und interkultureller Handlungskompetenz“ (Bolten 2006:1). Gerade in integrativen Prozessmodellen kommt dieser
deutlich zum Ausdruck (Abb. 1)
Erfolgreiches interkulturelles Handeln
beruht folglich „auf dem gelungenen
ganzheitlichen Zusammenspiel von
individuellem, sozialem, fachlichem und
strategischem Handeln in interkulturellen Kontexten“ (Bolten 2006:3). Bolten
hat hier den Versuch unternommen
den affektiven, kognitiven und konativen Dimensionen des beschriebenen
Strukturmodells unter die vier Kompetenzbereiche (personal, sozial, fachlich,
methodisch) des Prozessmodells zu
ordnen (Bolten 2007:24ff.).7 Mit in-
71
2.3. Dimensionen IV und V –
Wissen und Metafähigkeit
IV. Wissen: Imaginationsreflexivität (vgl.
Vogler 2010)
Mit der Fähigkeit zur Imagination
ist der Mensch ausgestattet, mit dem
72
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
III. Fähigkeit haben
interkulturelle
Soziale
Kompetenz
II. Sensibel sein für
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
interkulturelle
Besonderheiten von
Management-Bereichen
I. Erfahrung haben
Nationaler
Arbeitskontext
III. Fähigkeit haben
I. Erfahrung haben
Internationaler
Arbeitskontext
Interkulturelle
Management
Kompetenz
interkulturelle
Individuelle
Kompetenz
I. Erfahrung haben
Management
Kontext
interkulturelle
Aspekte von Führung
III. Fähigkeit haben
II. Sensibel sein für
interkulturelle
Fachliche
Kompetenz
III. Fähigkeit haben
interkulturelle
Strategische
Kompetenz
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
Abb. 3: Dimension III – Kompetenz. Quelle: Autorin, eigene Darstellung.
Wissen um ihre Beschaffenheit, Einflüsse und Wirkungen jedoch weniger. Ein
Bewusstsein dafür, dass diese imaginative Kraft stets am Werk ist und somit unsere täglichen Handlungen, Gedanken
und Meinungen (auch interkultureller
Natur) begleitet und beeinflusst, bedarf
daher im Zusammenhang interkultureller Kompetenzdiskussionen einer besonderen Zuwendung. Es reicht also nicht
aus lediglich von imaginativer Kompetenz zu sprechen und die Komplexität
des Diskurses auf die Förderung einzelner Teilfähigkeiten wie beispielsweise
der Entwicklung kreativen Problemlösungsvermögens oder synergetischen
Potentials zu begrenzen.8 Koehn und
Rosenau (2002) definieren imaginative
Kompetenz als „eine durch transnationale Erfahrungen erlangte Fähigkeit9,
welche Individuen befähigt effektiv an
Aktivitäten teilzunehmen, die zwei oder
mehr nationale Grenzen überschreitet“
(Koehn / Rosenau 2002:114).10 An dieser Stelle erhebt sich erneut die Kritik,
ob denn die transnationale Erfahrung
für die hier derart definierte Fähigkeit
imaginativer Kompetenz überhaupt
verantwortlich sein kann oder ob es
nicht vielmehr einer reflexiven und
offenen Geisteshaltung zu verdanken ist,
wenn inter-, trans- oder monokulturelle
Erfahrung überhaupt als solche wahrgenommen und dementsprechend hiermit
in Verbindung stehende Überlegungen
miteinbezogen werden.
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
II. Sensibel sein für
interkulturelle
Prozesse
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
terkultureller Kompetenz werden nach
ihm Voraussetzungen zur erfolgreichen
Bewältigung interkultureller Überschneidungssituationen bezeichnet.
Handlungskompetenz kann in diesem
Sinne als ein Zusammenspiel verschiedener Teilfähigkeiten, die da wären
individuelles, soziales, fachliches und
strategisches Handeln, verstanden werden. Interkulturelle Kompetenz kann
somit nicht als eigenständiger Bereich
neben den vier eben genannten Teilfähigkeiten gelten, sondern muss als eine
Bezugsdimension gesehen werden, die
im Sinne einer Folie den vier anderen
Teilkompetenzen beruflichen Handelns
unterliegt. „Interkulturelle Kompetenz
schließt eigen- und fremdkulturelle
Kompetenz ein. Während fremdkulturelle Kompetenz das Verstehen der
Besonderheiten des jeweiligen ‚anderen‘
strategischen Vorgehens ermöglicht, besteht interkulturelle Kompetenz darin,
handlungsfähige Synergien zwischen eigen- und fremdkulturellen Ansprüchen
bzw. Gewohnheiten ‚aushandeln‘ und
realisieren zu können. Folglich handelt
es sich bei ‚interkultureller Kompetenz‘
auch nicht um einen eigenständigen,
fünften Kompetenzbereich neben
den vier genannten“ (Bolten 2006:1).
Interkulturelle Kompetenz definiert
sich damit als die „Fähigkeit, individuelle, soziale, fachliche und strategische
Kompetenzen in fremdkulturellen
Handlungskontexten angemessen zu
realisieren“ (Bolten 2001:214). Um an
das vorhergehend beschriebene kohäsive Kulturverständnis anzuknüpfen, so
könnte interkulturelle Kompetenz dann
beschrieben werden als „die Fähigkeit,
die in interkultureller Interaktion
zunächst fehlende Normalität zu stiften
und damit Kohäsion zu erzeugen“
(Rathje 2006:14). Nach dieser Vorstellung führt interkulturelle Kompetenz
dazu, dass aus unbekannten Differenzen
bekannte werden.
Insofern ist die Beschäftigung mit der
eigenen Imagination in interkulturellen
Situationen ebenso entscheidend wie
die kritische Auseinandersetzung und
Reflexion des eigenen Verhaltens zu den
hier stattfindenden Imaginationsprozessen. Diese Fähigkeit der Reflexivität
von Imaginationsverhalten in interkulturellen Handlungskontexten stellt eine
Bezugskomponente interkultureller
Kompetenz dar und begleitet daher
alle Handlungen der im Boltenschen
Prozessmodells genannten Dimensionen. Imaginationsreflexivität gilt als
Bestandteil Interkultureller Kompetenz
und somit auch als Bezugsebene für die
vier Teilkompetenzfelder beruflichen
Handelns. Erfolgreiches interkulturelles
Handeln beruht demzufolge einerseits
„auf dem gelungenen ganzheitlichen
Zusammenspiel von individuellem,
sozialem, fachlichem und strategischem
Handeln in interkulturellen Kontexten“
(Bolten 2006:3, Hervorhebung im Original), andererseits auf der besonderen
Berücksichtigung imaginationsreflexiver
Prozesse. Für die Diskussion erscheint
es daher relevant das Verhältnis von
Imagination, Imaginationsreflexivität
und interkultureller Kompetenz näher
zu bestimmen (vgl. Vogler 2010).11
V. Meta-Fähigkeit: Intuition
„Darin, daß der Mensch im gegenwärtigen Zustand nicht ohne Abstraktion
erkennen kann, stimmt Duns Scotus
mit Thomas überein, nicht jedoch darin,
daß der menschliche Intellekt überhaupt
die Fähigkeit dazu nicht hat. Obgleich
daher die Erkennbarkeit des Gegenstandes hinsichtlich der Zuständlichkeit
auf die abstrahierte Allgemeinnatur
eingeschränkt ist, geht sie doch in gewisser
Hinsicht, nämlich in Beziehung auf die
Existenz des erkannten Gegenstandes,
auch darüber hinaus. Kurz gesagt: Was
etwas ist, kann der Mensch zwar nur abstraktiv erkennen, aber daß es ist, ist auch
in diesem Leben intuitiv erkennbar. Für
sich und in realer Abgrenzung gegen das
abstraktive Erkennen erfaßt die Intuition
nichts, sondern es wird lediglich anläßlich
eines als etwas Erkannten auch die aus
dieser Washeit herausfallende Existenz
miterkannt” (Koßler 1998:555f.).
Der Intuition (lat. intueri: hineinschauen, betrachten, erwägen), als
Meta-Fähigkeit Interkultureller Man-
agementkompetenz, wird im Rahmen
dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Oftmals wird Intuition
als die Fähigkeit der „geistigen Anschauung“ und „transzendenten Funktion“
(u.a. bei den Philosophen Fichte,
Spinoza, Husserl) bezeichnet. Die
Philosophie kennt die Schwierigkeit den
„entsprechenden Modus des Nexus zwischen rein mentaler Intuition und rein
physikalischer Wirklichkeit zu bestimmen“ (Thaliath 2011:2). Das Hineinschauen verweise, so Thaliath, auf einen
„Erkenntniszugang, in dem das Subjekt
sich unmittelbar an Gegenstände bzw.
an ihre sinnliche Präsenz wendet, um
sie ohne diskursives Denken wahrzunehmen“ (Thaliath 2011:2). Intuitives Erkennen sei demnach ein Prozess
der „unmittelbaren, nicht-diskursiven
Anschauung“, welche eben nicht „auf
jener abstrahierenden Funktion des
Verstandes, sondern ausschließlich auf
der in die phänomenalen Gegenstände
unmittelbar hineingehenden Sinnlichkeit aufbaut“ (Thaliath 2011:2).
Husserls Kernkonzept der Wesensschau
beschäftigt sich u. a. mit dem Zugang
zur wesenhaften Struktur eines Gegenstandes. Wahrnehmung, Herleitung und
Intuition werden oft als Instrumente
des Wissens bezeichnet; oftmals ist die
Rede von Seelen-Intuition (soul intuition12), welche als zentrale Fähigkeit für
die Persönlichkeitsentwicklung gesehen
wird (Nireshwalia 2003).
„Discriminatory reasoning compares the
known, which is felt by perception. These
three methods (perception, inference, intuition) are inherent in religious methods.
Intuition comes from within, whereas
thoughts originate from the external
world” (Nireshwalia 2003:4).
Im Jahr 2010 wurde die Bedeutung von
Intuition in komplexen Situationen mit
besonderen Herausforderungen in den
Bereichen der interkulturellen und virtuellen Kooperation im Rahmen einer
eigens durchgeführten Untersuchung
erörtert. Die zielführende Fragestellung
lautete Welche Rolle nimmt Intuition im
Bereich des Treffens strategischer Entscheidungen (SDM Strategic Decision
Making) im Bereich von GSD (Global
Software Development) Management
ein?13 GSD Global Software Develop-
73
ment wird heutzutage u. a. als „quickly
growing phenomenon“„ und als „a way
of life“ (Herbstleb 2007:207) bezeichnet.
„A significant finding of the study is that
the use of “gut-feel” in strategic decision
making in the computer industry was
much greater than banking and utilities.
Indeed, the acceptance by senior managers of the fact that they use “gut-feelings”
in strategic decision making itself is an
important finding” (Khatri / Alvin
2000:79).
Globale Softwareentwicklung in Teams
findet natürlich bereits an einer Vielzahl
von unterschiedlichen Orten statt, so
dass für diese das Arbeiten auf virtueller
Ebene die Normalität darstellt. GSD
Teams sind daher meist international,
multikulturell und virtuell. Im Zentrum
der Arbeit eines virtuellen Teams steht
also das Erreichen einer gemeinsamen
organisationalen Aufgabe, zum einen
unter der Verwendung technologischer
Medien, zum anderen über geographische, kulturelle und zeitliche Grenzen
hinweg (vgl. Jarvenpaa / Knoll / Leidner 1999, Townsend / DeMarie/ Hendrickson 1998). In den vergangenen zehn
Jahren wurden bereits zahlreiche Vorteile von GSD diskutiert (vgl. Ó Conchúir
/ Holmström / Ågerfalk / Fitzgerald
2006).14 Viele Studien verweisen auf die
Notwendigkeit interkultureller Kompetenz in GSD Projekten (vgl. Karahanna
2005). Man fand heraus, dass der kulturelle Hintergrund die Art und Weise
beeinflussen kann, in welcher Entwickler eine Situation interpretieren und auf
sie reagieren (vgl. Ågerfalk et al. 2005).
Kulturelle Faktoren können einen
großen Einfluss auf das Management
und den Erfolg verteilter Projekte haben
(vgl. Tanner 2009, Paasivaara / Lassenius 2003, Carmel1999). Der große
Stellenwert von Vertrauensaufbau und
-erhalt in virtuellen Teams wird hier
ebenso betont (vgl. Hernández-López
/ Colomo-Palacios / García-Crespo /
Soto-Acosta 2010, Casey 2010, Jarvenpaa / Leidner 1999).
„The fundamental problem of GSD is that
many of the mechanisms that function to
coordinate the work in a co-located setting
are absent or disrupted in a distributed
project” (Herbsleb 2007:208).
74
Natürlich gibt es weitere Herausforderungen und Schwierigkeiten, welchen
sich GSD Projekte gegenüber sehen15.
In der Studie konnte beobachtet werden, dass die befragten GSD-Manager
und -Managerinnen eine unumstößliche
eigene individuelle Gewissheit der Richtigkeit der eigenen intuitiven Entscheidung zu haben schienen. Im Gespräch
mit den einzelnen Personen wurde der
Eindruck gewonnen, als hätten sie selbst
keinen Zweifel an der Richtigkeit der
eigenen intuitiven Entscheidung. Dies
änderte sich allerdings, sobald man
den Kreis der Anwesenden erweiterte
und man nach der Einschätzung der
Bewertung durch andere fragte. Fragen lauteten hier: „Würde Ihr Team
eine Entscheidung akzeptieren, welche
Sie auf Basis Ihrer Intuition getroffen
haben?“ bzw. „Würde Ihre Organisation
eine Entscheidung akzeptieren, welche
Sie auf Basis Ihrer Intuition getroffen
haben?“ Die Mehrheit der Befragten
tendierte hier in die entgegen gesetzte
Richtung und meinte eher, dass diese
Aussage nicht akzeptiert bzw. nicht anerkannt würde und von daher entweder
gar nicht erst zur Sprache gebracht werde bzw. mit anderen Mitteln wie ZDF
– Zahlen, Daten, Fakten untermauert
werden müsse. Man könnte also sagen,
dass in diesem Moment der Alleinstellung der Aussage Anerkennungsmechanismen in den Hintergrund gestellt
werden. Erst im Moment der Notwendigkeit der Rechtfertigung der eigenen
Gewissheit kommt es zu einer Umformulierung und Anpassung an anerkannte Strukturen der Entscheidungsfindung.
Man könnte hier auch von kontextbedingten Verkleidungsstrategien sprechen.
Wichtig hier ist allerdings, dass sich
der einzelne des Umstandes, dass diese
Strategien angewandt werden, bewusst
ist und diese auch reflektiert. Das war
in allen Interviews der Fall. Entgegen
vieler wissenschaftlicher Konzepte und
Konstrukte der Dichotomie IntuitionRationalität, hatte man den Eindruck,
dass es bei den Befragten ein Empfinden von Kongruenz eigener als intuitiv
bezeichneter Entscheidungen und ihrer
Bedeutungen und nachhaltigen Richtigkeit bzw. Stimmigkeit gab.
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Zusammenfassend kann behauptet werden, dass der Intuition im Rahmen des
Treffens strategischer Entscheidungen
in GSD Management große Bedeutung
zugesprochen wurde.
„Rational-analytic methods can seldom be
used exclusively; by its very nature, prediction deals with the unknown, and we can
calculate or measure only what is known
[…] At the very least, a forecaster has to
use intuition in gathering and interpreting data and in deciding which unusual
future events might influence the outcome.
Hence in virtually every (decision) there is
always some intuitive component” (Goldberg 1990:73).
Der Zusammenhang von intuitiver
Synthese16 und Performanz in high
velocity environments soll im Hinblick
auf die Teamarbeit im Rahmen von
GSD betont werden. Hinsichtlich des
Treffens von Entscheidungen hängen
Intuition und Geschwindigkeit unmittelbar zusammen.
„It is the smooth automatic performance
of learned behaviour sequences and often
can short circuit a step-wise decision-making thus allowing an individual to know
almost instantly what the best course of
action is. It compresses years of experience
and learning into split seconds” (Isenberg,
1984).
Viele Studien verweisen darauf, dass ein
Experte gelernt hat irrelevante Informationsteile zu ignorieren und sich auf
die kritischen zu konzentrieren (vgl.
Prietula und Simon, 1989; Kirschenbaum, 1992; Harung, 1993). In ihrer
Untersuchung der Geschwindigkeit bei
Entscheidungsprozessen in unterschiedlichen „high-velocity environmental
contexts” liefern Eisenhardt (1989),
und Judge and Miller (1991) indirekte
Evidenz, das intuitive Synthese einen
positiven Effekt auf die Ausübung hat.
„Intuitive synthesis is an important
strategy process factor which managers
often exhibit in their strategic decision
making” ; „intuitive synthesis allows
calling a number of related problems or
issues at the same time. One byproduct is
that a manager can attain economies or
effort (Isenberg, 1984). An expert learns
to ignore the irrelevant patterns or pieces
of information and concentrate on the
critical ones (Prietula / Simon 1989,
Kirschenbaum 1992, Harung 1993)”
(Khatri / Alvin 2000:78).
Es finden sich zahlreiche Definitionen
von Intuition, die sich v. a. hinsichtlich
der Verwendung der Begriffe Bewusstsein, Un- und Unterbewusstsein, Intellekt und Instinkt unterscheiden. Als
unterbewusster Prozess wird Intuition
in der folgenden Erklärung beschrieben: „[…] most of it is a subconscious
drawing from innumerable experiences
that are stored. We draw from this
reserve without conscious thought”
(Agor 1990:158). „[...] [A]ccessing the
internal reservoir of cumulative experience and expertise developed over a
period of years, and distilling out of that
a response or an urge to do or not to do
sth. or choose from some alternatives –
again without being able to understand
consciously how we get the answers”
(Agor 1994:38). Intuition als nichtbewusster Vorgang wird so erklärt: „[...]
we were informed by a growing body
of literature in psychology that has
shown how a large portion of cognitive
thought occurs outside of consciousness (Bargh 1996, Bargh / Chartrand
1999, Jacoby / Lindsay / Toth 1992,
Kihlstrom / Barnhardt / Tataryn 1992,
Reber 1992)” (Dane / Pratt 2007:50).
„Some psychologists have even referred
to the 1990s as the ‘decade of automaticity’ (Pizarro / Bloom 2003)” (Dane /
Pratt 2007:50). In vielen Studien kann
eine Art Polarisierung von Bedeutungen, die in den Begriffen intuition und
deliberation inbegriffen sind, verzeichnet werden (z. B. Betsch 2004, Epstein
et al. 1996).
„Intuition is understood as a purely affective mode and not as a heuristic-affective
mode as assumed by Epstein (1996),
whereas deliberation is understood as a
reflective, cognition based mode. Understanding the differences between these
styles is important, as the role of affect in
decision making has increasingly become
a central topic in the literature (Betsch
2004: 179).” Intuition has also been
defined as “affectively charged judgments
that arise through rapid, nonconscious,
and holistic associations. In doing so, we
delineate intuition from other decisionmaking approaches (e. g. insight, rational)” (Dane / Pratt 2007:33).
75
Ein derart dualistisches Gedankensystem postuliert eine unterschiedliche
Art der Entscheidungsfindung. In
manchen Fällen wird den beiden Stilen
ihre Fähigkeit des „logischen Denkens“
abgesprochen (Betsch 2004). Auch in
der erwähnten GSD-Studie konnte die
Beobachtung gemacht werden, dass man
aus Angst der Zurückweisung bzw. der
Abwertung als unlogisch und unrealistisch Denkender die Äußerung intuitiv
zu dieser Entscheidung gekommen zu sein
zurückhält und unterdrückt. Gigerenzer
und Kruglanski bieten folgende Erklärung:
„A popular distinction in cognitive
and social psychology has been between
intuitive and deliberate judgments. This
juxtaposition has aligned in dual-process
theories of reasoning associative, unconscious, effortless, heuristic17, and suboptimal processes (assumed to foster intuitive
judgments) versus rule-based, conscious,
effortful, analytic, and rational processes
(assumed to characterize deliberate judgements). In contrast, we provide convergent arguments and evidence for a unified
theoretical approach to both intuitive and
deliberative judgments” (Gigerenzer /
Kruglanski 2011:97).
Beide Beurteilungsstile sind gemäß der
Autoren „rule-based“ und dem dualen
Ansatz qualitativ unterschiedlicher
Prozesse entgegengesetzt. Sie sind von
folgendem Gedanken überzeugt:
„It is time to move beyond imprecise
dualisms and toward specific models of the
judgmental process such as models of heuristic inference rules, their building blocks,
and their adaptations to task environments that humans confront” (Gigerenzer
/ Kruglanski 2011:106).
Diesen Versuch unpräzise Dualismen
zu überwinden, machte, wie bereits
erwähnt, im Spätmittelalter Duns
Scotus, einer der bekanntesten Vertreter
der Intuitionstheorie. Er differenzierte
zwischen cognitio intuitiva und cognitio abstractiva und sah diese beiden
Formen der Kognition als vielmehr
korrelativ denn konträr. Die erstere
Erkenntnisform „ereignet sich in der
Domäne der Sinnlichkeit, bevor der zu
erkennende Gegenstand dem abstrahierenden Intellekt gegeben wird“ (Thaliath 2011:4). Daher sei die reale und
76
intentionale Präsenz des Gegenstands
allein der Sinnlichkeit zugänglich und
die intuitive Erkenntnis demnach eine
„vor-prädikative (oder vor-logische)
Erkenntnis des Gegenstandes, die sich
bloß auf seine reale Präsenz bezieht“
(Thaliath 2011:3). Jedoch könne es,
wie an einem Beispiel aus der Newtonschen Mechanik verdeutlicht werden
soll, einen Unterschied zwischen den
„unmittelbar-real wahrzunehmenden
und nur apriorisch vorzustellenden bzw.
zu visualisierenden Gegenständen und
ihren mechanischen Strukturen“ (Thaliath 2011:7) geben18.
„Wenn ein Astronom im Kontext der
klassisch-newtonschen Mechanik die elliptische Planetenbahn und die periodische
Variation der Planetengeschwindigkeit
vorstellt, vermag er die Realität dieser
himmelsmechanischen Phänomene nicht
unmittelbar-gegenwärtig und sinnlich
wahrzunehmen, er verfügt hierbei offensichtlich über seine Imagination bzw. die
apriorische Visualisierung der himmelsmechanischen Formen und Strukturen.
Die Präsenz der erkannten Phänomene
hier ist nicht unmittelbar real, aber
auch nicht irreal, sondern sie wird durch
eine Intuition - und zwar durch eine
vorbegriffliche Intuition - vorausgesetzt.
Eine derartige außer-irdische Intuition unterscheidet sich von der sinnlich
unmittelbar zugänglichen und als solche
realen irdischen Intuition allerdings nicht
in dem ontologischen Status der realen
und imaginierten himmelsmechanischen
Phänomene, sondern allein in der epistemologischen Modalität ihrer Erkenntnis”
(Thaliath 2011:6f.).
Der zentrale Punkt, den Thaliath in
seiner Diskussion hervorhebt, ist die
Erörterung der Frage, was passiert, wenn
man Erkenntnisprozessen das Faktum
der Sprache und der Begrifflichkeit
entzieht? Er stellt zur Debatte, ob eine
Erkenntnis vor-prädikativ zustande
kommen könne, ob es also überhaupt
möglich sei, eine „Erkenntnis ohne
subjektive Prädikation“ vorzustellen? In
jedem sprachlichen Urteil bildet das Prädikat das zentrale Faktum der Erkenntnis. Wenn wir urteilen, dass diese Blume
rotfarbig ist und angenehm riecht,
bilden die prädizierten Merkmale der
Blume, nämlich die Rotfarbigkeit und
der angenehme Geruch, die Wesenszüge
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
der subjektiven Erkenntnis des Objekts. Ohne eine derartige Prädikation
kann die Erkenntnis des Objekts nicht
zustande kommen“ (Thaliath 2011:14).
Die Sprache gehört also unmittelbar
zum Erkenntnisprozess. Dies bedeutet
im Umkehrschluss, dass ein Erkenntnisprozess als solcher seine Gültigkeit
in dem Moment verliert, indem man
ihn der Sphäre der Sprache enthebt.
Diese Enthebung bzw. Abkoppelung des
intuitiven Erkenntnisprozesses von der
Sprache erleben wir bei Kant, welcher
die intuitive Erkenntnis dem Bereich
der vor-sprachlichen, vor-logischen
bloßen Anschauung, einer Vorphase des
Erkenntnisprozesses, zuordnet.
„[...] Nur so viel scheint zur Einleitung,
oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es
zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten
Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit
und Verstand, durch deren ersteren uns
Gegenstände gegeben, durch den zweiten
aber gedacht werden“ (Kant 1966:94f.
zitiert nach Thaliath 2011:15).
Somit kann eine Behandlung des
Gegeben-werdens der Gegenstände (in
der Ästhetik) einem Gedacht-werden
der Gegenstände (in der Anschauung)
beobachtet werden. Thaliath verweist
hier auf eine Analogie von scotistischer
Differenzierung zwischen intuitiver und
abstraktiver Erkenntnis und kantischer
Zweiteilung zwischen Ästhetik und
Logik in der transzendentalen Elementarlehre. Die grundsätzliche Unterscheidung beider Ansätze verdeutlicht
jedoch, warum sich die Intuition in
einer Rechtfertigungssituation befindet,
wenn es um Anerkennung von Begründungen und Entscheidungsmechanismen geht.
„Scotus schreibt der ‚cognitio intuitiva‘
einen autonomen Erkenntnischarakter
zu, und differenziert diese Erkenntnisform von der abstraktiven Erkenntnis.
‚Anschauung‘ im kantischen System
erlangt eine derartige epistemologische
Autonomie nicht; sie wird im Rahmen
einer transzendentalen Ästhetik als eine
Vorstufe der begrifflichen Erkenntnis, der
sie als ein notwendiges Korrelat innewohnt, betrachtet“ (Thaliath 2011:17).
„Die scotistische Vorstellung von der
Abstraktion - in Bezug auf die Lehre vom
‚cognitio abtraktiva‘ – ist der kantischen
Lehre der transzendentalen Synthese
bzw. des Hinzfügens des apriorisch bereits
vorhandenen Begriffs zu dem Gegenstand
– im Rahmen einer transzendentalen
Logik – prozessual entgegengesetzt“ (Thaliath 2011:17).
Die cognitio intuitiva ist also bei Kant
‚Anschauung‘ und insofern nur Vorstufe begrifflicher Erkenntnis, während
sie bei Scotus Autonomiestatus hat.
Daher ist interessant, dass bei dem
Großteil der Befragten ein sehr großes
Bewusstsein für die Verbundenheit
und Interkontextualität intuitiver
und deliberativer Prozesse vorhanden
war. Man könnte also sagen, dass die
Untersuchung die scotische Erklärung
bestätigt. In den Gesprächen wurde
schnell deutlich, wie sehr der einzelne
durch begriffliche Konzepte (wie z. B.
dualistischer Natur) und Mechanismen
(wie z. B. der Anerkennung, der Angst,
etc.) gelenkt und beeinflusst wird. Sehr
oft müsse man sich dem Begriffs- und
Sprachgebrauch innerhalb einer Organisation beugen und überanpassen. Des
Öfteren wurde der Wunsch geäußert
sich von der zwanghaften Unterordnung
unter unpräzise Dualismen zu befreien. Man kann sicherlich behaupten,
dass die Freiheit der Nutzung und der
offenen Verwendung des Begriffs der
Intuition mit der Verantwortungs- und
Machtebene ansteigt. Zudem hängt die
Natürlichkeit, welcher der Verwendung
des Begriffes zugrunde liegt, ab von der
gesellschaftlichen Akzeptanz desselben.
Die Definition von Intuition variiert
und ist abhängig von dem jeweiligen
historischen, kulturellen, philosophischen, etc. Kontext. Aus diesem Grund
ist ein konstanter Kontextualisierungsprozess vonnöten, möchte man
über Intuition sprechen19. Nach dieser
umfassenden Auseinandersetzung mit
dem Intuitionsbegriff sowie dessen
Bedeutungsgehalt für das Feld der
interkulturellen Managementkompetenz, soll im folgenden Abschnitt darauf
aufbauend und anknüpfend die Person
des Interkulturellen Managers erneut ins
Zentrum gerückt werden.
77
3. Zur Person des Interkulturellen Managers
V. Wissen haben
Imaginationsreflexivitätskompetenz
III. Fähigkeit haben
Die Feststellung „alle Beteiligten (alle
beteiligten Personen, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kunden, Lieferanten, Partner,
politische Entscheidungsträger im Inund Ausland) sollten [...] die Vorstellungen des interkulturell agierenden
Managers umsetzen, akzeptieren oder
mit ihren eigenen Handlungen zur Zielerreichung beitragen. Hierfür bedarf es
entsprechender Kenntnisse, Einsichten
und Fähigkeiten der interkulturell kompetent handelnden Personen“ (Koch
2008:3) postuliert das Vorhandensein
bestimmter Kompetenzen, welche für
das erfolgreiche Agieren des Managers
verantwortlich sind. D. h. er ist in erster
Linie Visionär und Strategieberater
einer Organisation, einer Gruppe, eines
Teams, etc. Er entwirft Konzepte und
entwickelt Ideen, welcher der Verbesserung der Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen dienen. Insofern vereint
er die Rollen Interkultureller Trainer,
Mediator, Coach und Consultant in
seiner Person. Felder des interkulturellen Managements sind interkulturelles
Consulting, interkulturelles Training,
interkulturelles Coaching und interkulturelle Mediation. Das Training orien-
78
interkulturelle
Soziale
Kompetenz
II. Sensibel sein für
VI. Meta-Fähigkeit haben
Intuition
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
interkulturelle
Besonderheiten von
Management-Bereichen
V. Wissen haben
Imaginationsreflexivitätskompetenz
III. Fähigkeit haben
I. Erfahrung haben
Internationaler
Arbeitskontext
Interkulturelle
Management
Kompetenz
I. Erfahrung haben
Nationaler
Arbeitskontext
interkulturelle
Individuelle
Kompetenz
I. Erfahrung haben
Management
Kontext
II. Sensibel sein für
interkulturelle
Prozesse
VI. Meta-Fähigkeit haben
Intuition
interkulturelle
Aspekte von Führung
3.1. Aufgaben und Funktionen
„Alle Beteiligten (alle beteiligten Personen, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kunden,
Lieferanten, Partner, politische Entscheidungsträger im In- und Ausland) sollten
[...] die Vorstellungen des interkulturell
agierenden Managers umsetzen, akzeptieren oder mit ihren eigenen Handlungen
zur Zielerreichung beitragen. Hierfür
bedarf es entsprechender Kenntnisse, Einsichten und Fähigkeiten der interkulturell
kompetent handelnden Personen“ (Koch
2008:3).
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
Der Interkulturelle Manager als ein
sich in den vorab beschriebenen fünf
Dimensionen Grenzgänger und sich
Bewegender, vereint in sich folglich
eine Vielzahl an Aufgaben und Funktionen, persönlichen Einstellungen und
Haltungen sowie Formen interdisziplinärer Ausrichtung, auf die im Anschluss
näher eingegangen werden soll.
VI. Meta-Fähigkeit haben
Intuition
III. Fähigkeit haben
II. Sensibel sein für
interkulturelle
Fachliche
Kompetenz
interkulturelle
Strategische
Kompetenz
V. Wissen haben
Imaginationsreflexivitätskompetenz
III. Fähigkeit haben
V. Wissen haben
III. Interkerkulturelle
Kompetenz
Imaginationsreflexivitätskompetenz
VI. Meta-Fähigkeit haben
Intuition
Abb. 4: Dimensionen IV und V – Wissen und Metafähigkeit. Quelle: Autorin, eigene Darstellung.
tiert sich besonders an der Förderung
individueller interkultureller Kompetenz während Coaching zusätzlich die
Optimierung interkultureller Gruppenarbeit forciert. Die interkulturelle Mediation vermittelt zwischen Individuen,
Gruppen, Kollektiven, etc.. Von all diesen Formen hebt sich das interkulturelle
Consulting als separate Disziplin der
interkulturellen Dienstleistungen ab, da
es hier in erster Linie um organisationsbezogene Themen geht. Hinsichtlich
interkultureller Dienstleistungen kann
zusätzlich zwischen Maßnahmen offthe-job und Maßnahmen on-the-job
unterschieden werden. Unter Maßnahmen on-the-job, also parallel zur Arbeit
beanspruchte Dienstleistungen, werden
interkulturelle Mediation und interkulturelles Coaching subsumiert. Mediation wird besonders dann eingesetzt
wenn offene oder verdeckte Konflikte
in multikulturellen Teams vorliegen.
Coaching beinhaltet meist die Betreuung und Supervision multikultureller
Teams mit dem Ziel, kulturspezifisches
Handeln zu reflektieren und Synergiepotentiale als Zielvorgaben zu formulieren. Off-the-job Maßnahmen umfassen
interkulturelle Trainings und Planspiele
sowie interkulturelles Consulting. Die
Trainings und Planspiele beinhalten
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
konventionelle und sensitive Trainings
sowie berufsfeldbezogene Planspiele,
in denen interkulturelle on-the-job Situationen simuliert werden (vgl. Bolten
2005). So arbeitet er direkt als Gestalter
im Rahmen von Organisations- und
Personalentwicklung mit.
3.3. Persönliche Einstellungen und Haltungen – das
‚Selbst‘-Verständnis im Interkulturellen Diskursfeld
3.2. Formen interdisziplinärer
Ausrichtung
Der interkulturelle Manager als Person
hat tiefe Einsicht in die Komplexität
von Managementprozessen im nationalen und internationalen Kontext.
Er ist im Grunde jemand mit großen
imaginationsreflexiven und intuitiven
Fähigkeiten, ein Mensch, der sicher
seiner selbst bewusst ist, sich selbst
versteht und sozusagen von einem reifen
Selbst-Verständnis geleitet wird. Das
Selbst-Verständnis, welches Diskussionen um Identität, Kultur, Interkultur
und Interkulturellem Management
zugrunde liegt, eröffnet ein weites Feld
an Diskursen. Der Begriff des ‚Selbst‘
manifestiert sich aufgrund der Komplexität diverser Sicht- und Verständniswelten auf vielfältige Art und Weise.
Daher ist die Öffnung des Bereiches der
interkulturellen Wirtschaftskommunikation gegenüber anderen Disziplinen
wie der Theologie, der Philosophie, der
Mystik, etc. ebenso zu berücksichtigen
wie gegenüber jenen der bereits etablierten (Psychologie, Soziologie, Linguistik,
BWL, etc.).
Interkulturelles Management ist in
gewisser Weise ein Schnittstellenberufsfeld. Unter Verwendung des Ansatzes
interkultureller Kompetenz, welcher
sich auszeichnet durch die Einsicht in
die Kulturabhängigkeit unseres Denkens, Fühlens, Handelns und Wollens,
mit dem Ziel die produktive und
humane Kraft einer Organisation durch
eine Verbesserung der interkulturellen
und virtuellen Kooperation, d. h. Der
Zusammenarbeit, Koordination, Kommunikation und Interaktion. Hansens
Ansatz, dass sich die Individualkultur
jedes Menschen aus einer Vielzahl von
Kollektivitätszugehörigkeiten auszeichne, insofern also per se in sich kulturell
heterogen und „radikal individuell“
(Rathje 2009b:2) sei, lässt sich um die
Idee der „kulturellen Verankerungen“
(Henze 2011) und „kulturellen Orientierungen“ (Flechsig 2000) erweitern
und insofern auch kontrastieren und
relativieren.
Der interkulturelle Manager ist Metakommunikator und Verkörperung
seiner Ansätze. Er ist Psychologe, Metaphysiker und Pädagoge gleichermaßen.
Er ist Querdenker und Schnittstelle;
seine Basis ist notwendigerweise die
Interdisziplinarität, da sich seine Person
aus der Vielfalt der Wissenszugänge
nährt. Zusätzlich zur tiefen Einsicht in
die Komplexität von Managementprozessen, übernimmt er eine Schnittstellenfunktion innerhalb der Organisation
und fördert den aktiven Austausch und
den Dialog. Das Öffnen von Räumen
für interkulturelle Verständigung zählt
ebenso zu seinen Aufgaben wie die
Vernetzung von Organisation, Wissenschaft, Gesellschaft, etc.
„In an important sense there are no ‚subjects‘ at all“ (Nelson 1987:31).
Beispielsweise ist die Frage nach dem
Verständnis des ‚Selbst‘ eng verknüpft
mit der Frage nach dem Begriff der
Identität. In vielen ‚westlichen‘ Gesellschaften wird der Identitätsbegriff mit
dem Entwicklungsbegriff verbunden.
Die Entwicklung einer ‚eigenen‘ und
‚stabilen‘ Identität steht hier am Ende
einer Reihe von Entwicklungsstadien
(Kindheit, Jugend, Erwachsenensein);
diese können durchaus kritischer Natur
sein. Bei dem Versuch des Erreichens
einer stabilen Identität kann es zu Konflikten und Krisen kommen, die in extremen Situationen zu einer Identitätskrise führen können (Camilleri 1990,
Erikson 1963, Maslow 1970, Rogers
1961, 1980). Laungani (2007) verweist
auf die Differenzierung von physischem
und ‚psychologischem Raum‘, welcher
seiner Meinung nach eine besondere
Rolle in der Debatte um die Identitäts-
79
definitionsfrage spielt. Diese Differenzierung des ‚psychologischen Selbst‘
von anderen ‚psychologischen Selbsten‘
konstruiert Imaginationsgrenzen und
somit eine Trennung zwischen Ich und
Du sowie Ich und Es, von dem Martin
Buber in seinem dialogischen Prinzip
spricht (vgl. Laungani 2007:61). Die
Vorstellung dieser Trennung, auf welcher die Anerkennung der Person und
der Individualität basiert, kann einerseits als Errungenschaft gesehen werden,
andererseits aber natürlich auch als
Risiko und Gefahr gefangen zu sein in
sozialer Vereinsamung und individueller
Isolation. So meinte Buber:
„Zu allen Zeiten ist wohl geahnt worden,
daß die gegenseitige Wesensbeziehung
zwischen zwei Wesen eine Urchance des
Seins bedeutet, und zwar eine, die dadurch in die Erscheinung trat, daß es den
Menschen gibt. Und auch dies ist immer
wieder geahnt, daß der Mensch eben damit, daß er in die Wesensbeziehung eingeht, als Mensch offenbar wird, ja daß er
erst damit und dadurch zu der ihm vorbehaltenen gültigen Teilnahme am Sein
gelangt, daß also das Du-sagen des Ich im
Ursprung alles einzelnen Menschwerdens
steht” (Grötzinger 1994:20).
Hier wird Bubers positives Menschenbild deutlich; er geht davon aus, dass in
jedem Menschen die ‚Wahrheit‘ angelegt
ist als Grundlage des Dialogs. Das Doppelprinzip des Menschseins beinhalte
ihm zufolge immer das Verhältnis von
(Ur)Distanz und Beziehung, wobei die
Phänomene im Bereich der Distanzakte
vor allem universal, jene im Bereich der
Beziehungsakte in erster Linie personal
seien. Nur in Form der Verwirklichung
sieht Buber die Möglichkeit eines neuen
Verhaltens zur Welt; das WiderstandFinden, das Berühren des Wesens, das
Gegenüber, spielen eine große Rolle
dabei. Im Zentrum der Buberschen Philosophie steht die Reflexion des dualistischen Welt- und Menschenbildes, welches er anhand des Spannungsverhältnis
bzw. Polarität des Ur-zwei erörtert. Das
Ur-zwei, also das Eine – das Andere, das
Wirkliche – das Mögliche, das Leben
– der Tod, das Bekannte – das Fremde,
etc., bezeichnet den Zustand des polar
miteinander Verbundenen und doch
80
polar einander Widersetzten (vgl. Grötzinger 1994:20ff ).
Wir bewegen uns ergo stets in einem
Raum der Vagheit, in welchem wir auf
eine gewissse Logik der Unschärfe20
zurückgreifen müssen und auf denselben auch angewiesen sind. Die Bezeichnung reicht unter anderem zurück in
die griechische Antike; bereits Platon
postulierte, dass zwischen den Begriffen
wahr und falsch ein dritter Bereich liege,
und setzte hier einen Kontrapunkt zur
Aussage seines Zeitgenossen Aristoteles,
welcher die Präzision der Mathematik
darin begründete, dass eine Aussage nur
entweder wahr oder falsch sein könne.
Jeder Mensch und somit folglich auch
jedes Unternehmen und jede Organisation sind in diesem Gedankenzug
gewissermaßen fuzzy systems und somit
auch poröse Systeme, welche durchdringen und durchdrungen werden. In der
Physik, genauer in der Thermodynamik,
unterscheidet man offene, geschlossene und abgeschlossene bzw. isolierte
Systeme. Als abgeschlossen oder isoliert
bezeichnet man ein geschlossenes
System dann, wenn keine Materie und
kein Stoff austreten oder diesem zugeführt werden kann. Energie hingegen
kann nach wie vor das System erreichen
bzw. das System auch wieder verlassen.
Jedes System an sich ist folglich, wenn es
um Energieaustausch geht, im Grunde
porös und insofern im chiastischem Verhältnis mit der Welt existent; „eine der
wesentlichsten Bedeutungen des Leibes
liegt also in seiner Fähigkeit, einerseits
als Teil der Welt dieselbe wahrzunehmen und auf sie zu reagieren und
andererseits von ihr wahrgenommen zu
werden (vgl. Danzer 2003:143).
„Sichtbar und beweglich zählt mein Körper zu den Dingen, ist eines von ihnen, er
ist dem Gewebe der Welt verhaftet, und
sein Zusammenhalt ist der eines Dinges.
Da er aber sieht und sich bewegt, hält der
die Dinge in seinem Umkreis, sie bilden
einen Anhang oder eine Verlängerung
seiner selbst, sind seine Kruste und bilden
einen Teil seiner vollen Definition, wie
auch die Welt aus eben dem Stoff des Körpers gemacht ist. Diese Verkehrungen und
Antinomien sind verschiedene Arten, zu
sagen, daß das Sehen mitten aus den Dingenheraus geschieht, da, wo ein Sichtbares
sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
für sich selbst durch das Sehen aller Dinge
wird und die ursprünglichte Einheit des
Empfindenden mit dem Empfundenen
besteht wie die desWassers im Eiskristall”
(Merleau-Ponty 1984:16f.).
Unsere Wahrnehmung und unser Sehen
gehen hinsichtlich unseres Leibes oftmals von diesem als einem „abgegrenzten und einheitlichem Selbst“ (Ötsch
2011:1) aus und postulieren somit
eine vermeintliche Geschlossenheit
des Selbstsystems. Der „Leib kann als
(vorgestellte) Hülle klassifiziert werden“
(Ötsch 2011:1). Eine gedachte und vielleicht auch erwünschte Vorstellung wie
jene der Undurchlässigkeit unserer Haut
bzw. die Begrenzung unseres Körpers
von der Außenwelt basiert auf einem
weiteren Ur-zwei, dem Dualismus von
Innen-Außen, welcher an sich wiederum
ein Konstrukt ist.
„Die Wahrnehmung von Objekten steht
nach Merleau-Ponty in direktem Rückbezug auf die Eigenwahrnehmung des
Leibes. Auch der Leib kann als (vorgestellte) Hülle klassifiziert werden. Die
Empfindung des Leibes als abgegrenztes
und einheitliches Selbst bedarf des Gewahrseins einer ‚unsichtbaren‘ Rückseite,
die fast zur Gänze außerhalb des Gesichtsfeldes liegt. Sie grenzt den >InnenRaum< des Leibes vom >Außen-Raum<
der Dinge ab. Durch die Hülle bekommt
der Leib einen Innen-Horizont, aus dem
der Außen-Horizont des Raumes entsteht. (Beide Horizonte liegen in einem
gemeinsamen Feld [...]. Auch der Mensch
ist ein strömendes Wesen. Seine Haut
besteht aus Poren. Mit ihnen saugt er die
Welt um sich auf. Nur das, was durch die
Poren des Menschen passt, gelangt in sein
>Inneres< und kann wahrgenommen
werden. Das Auge besteht aus Feuer bzw.
Licht und Wasser bzw. feuchter Luft. Die
Poren der Augen nehmen das von außen
einströmende Feuer oder Licht in sich
auf und vermögen so Licht und Dunkel
zu ‚sehen’. Beim Riechen gelangen die
feinen Ausströmungen der Dinge in die
Poren der Nase, was nur geschehen kann,
wenn wir atmen. Die Poren der einzelnen Sinnesorgane sind verschieden. Jeder
Sinn hat seine Poren, die nur bestimmte
Ströme passieren lassen. Immer trifft der
Strom von >außen< auf etwas Gleiches
im >Inneren<. ‚Denn mit der Erde
sehen wir Erde; mit Wasser und mit Luft
[aether] strahlende Luft, aber mit Feuer
vernichtendes Feuer; Liebe sehen wir mit
Liebe und Streit mit verderblichen Streit.‘
Sehen ist eine fließende Verbindung. Zwei
Menschen, die sich einander ansehen, sind
im gleichen Strom verbunden: ‚Eins wird
beider [Augen]Blick‘“ (Empedokles zitiert
nach Ötsch 2011:1).
Der große indische Philosoph A. K.
Chatterjee21 beschreibt das Selbst als
eng mit der Thematik der Metaphysik
als einem Ausdruck von Selbst verbunden. „And metaphysics being an expression of the self, the way of looking at
the activity of doing metaphysics must
necessarily involve a certain self-alienation, or even self-disruption resulting in
profound spiritual disquiet” (Chatterjee
1969:5). Das Betreiben von Metaphysik
bedinge also eine Entfernung von sich
selbst, eine Selbstdistanzierung bzw.
geradezu ein Selbstzerwürfnis. „Metaphysics is subjective and mythical, and
reveals the profoundest truth about
one’s own being, the highest truth that
there is. As Kierkegaard puts it: “If the
truth happens to be only in a single
subject it exists in him alone” (Chatterjee 1971:33). So betont er die Notwendigkeit einer Ontologie des Selbst,
also in gewisser Weise eines Selbstseins,
ohne welches das Selbst keinen Ort in
dieser Welt hätte. Es ist insofern also das
ontologische Selbst, welches Selbstheit
herstellt. Die buddhistische Lehre vom
Sein gründet auf der Anschauung, dass
alles Dasein und alles Leben auf der
gesetzmässigen Kooperation flüchtiger
Faktoren beruht und es somit nichts
auf der Welt geben kann, das unabhängig von anderem existiert und ein
selbstständiges Eigensein (svabhâvatâ)
aufweist. Ein beharrendes Sein hinter
allem Seienden, eine ewige Substanz
oder Wesenhaftigkeit wird demnach
abgelehnt. Alle Existenz ist der dauernden Aufeinanderfolge von Werden und
Vergehen anheimgestellt. Unbeständigkeit (anityatâ) und Wesenlosigkeit
(asvabhâvatâ) sind die Merkmale aller
Erscheinungen.
„Without an ontology, the self has as it
were, no anchor in reality, no restingplace in the world. […] Selfhood achieved
only by giving an ontological slant to our
perspective by constructing an internally
balanced structure in which the concepts
81
fall in line with one another” (Chatterjee
1969:3).
Ein interkultureller Manager hat insofern in gewisser Weise auch die Verantwortung Metaphysiker zu sein, jemand,
der versucht, die Menschen und ihre
Weltsichten und jeweiligen -verständnisse zu sehen. Dieses Sehen, welches
im indischen Sanskrit als Philosophie,
als Darsana, bezeichnet wird, bezeichnet die dem Menschen innewohnende
Kraft sich selbst in der Welt und seinem
Leben zu sichten und damit auch sich
selbst und die anderen zu verstehen.
C.G. Jung setzte sich beispielsweise
mit dem Begriff des Selbst im Rahmen
des Zen-Buddhismus auseinander. So
schreibt er: „Wie man das Selbst immer
definieren mag, so ist es etwas anderes
als das Ich, und insofern eine höhere
Einsicht vom Ich überleitet zum Selbst,
so ist letzteres ein Umfänglicheres,
welches die Erfahrung des Ich in sich
schließt und dieses daher überragt.
Gleichwie das Ich eine gewisse Erfahrung meiner selbst ist, so ist das Selbst
eine Erfahrung meines Ich, welche aber
nicht mehr in Form eines erweiterten
oder höhern Ich, sondern in Form eines
Nicht-Ich gelebt wird“ ( Jung in Suzuki
2003:15). Das Verständnis des Selbst
hinge im Zen-Buddhismus auch unmittelbar mit der Fähigkeit zur Erlangung
von Satori22 zusammen. Die Einsicht in
die Natur des Selbst sei geradezu deren
Voraussetzung, da diese eine
„Emanzipation des Bewußtseins von einer
illusionären Auffassung des Selbst sei (Geleitwort von Jung, Suzuki 2003: 15).“
Dieses Verständnis von Erleuchtung
(Satori) als ein „Durchbruch eines in
der Ichform beschränkten Bewußtseins
in die Form des nicht-ich-haften Selbst
(Geleitwort von Jung, Suzuki 2003:
16)“ findet sich ebenso wieder in der
Mystik des Meister Eckhart, welcher mit
seinen Worten ein ähnliches Erlebnis
der Ablösung des Ich durch das Selbst
beschreibt:
„<<Als ich aus Gott heraustrat, da
sprachen alle Dinge: Es gibt einen Gott!
Nun kann mich das nicht selig machen,
denn hierbei fasse ich mich als Kreatur.
Aber in dem Durchbruch, da ich ledig
stehn will im Willen Gottes, und ledig
82
auch von diesem Gotteswillen, und aller
seiner Werke, und Gottes selber - da bin
ich mehr als alle Kreatur, da bin ich
weder Gott noch Kreatur: ich, was ich
war und was ich bleiben werde, jetzt und
immerdar! Da erhalte ich einen Ruck,
daß er mich emporbringt über alle Engel.
In dem Ruck werd‘ ich so reich, daß Gott
mir nicht genug sein kann, nach allem,
was er als Gott ist, nach allen seinen
göttlichen Werken: denn ich empfahl in
diesem Durchbruch, was ich und Gott
gemeinsam sind. Da bin ich, was ich war,
da nehme ich weder ab noch zu, denn ich
bin da ein Unbewegliches, welches alle
Dinge bewegt. Hier findet Gott keine
Stätte mehr im Menschen, denn hier hat
der Mensch durch seine Armut wieder
errungen, was er ewiglich gewesen ist und
immer bleiben wird” (Meister Eckhart
1912:176 zitiert nach Jung in Suzuki
2003:176).
4. Schlussbetrachtung
Interkulturelle Managementkompetenz
bewegt sich ergo in und zwischen den
fünf Dimensionen Haben von Erfahrung, Sensibilität, Fertigkeit, Wissen
und Metafähigkeit in interkulturellen
Handlungskontexten, und präsentiert
sich somit als strategische Handlungskompetenz in internationalen Unternehmenskontexten. Der Interkulturelle
Manager als Grenzgänger strategischer
Unternehmens- und Personalentwicklung vereint in sich folglich eine
Vielzahl an Aufgaben und Funktionen, persönlichen Einstellungen und
Haltungen sowie Formen interdisziplinärer Ausrichtung, welche wiederum
den Prinzipien der Dezentralisierung,
der Reperspektivierung, der Transkulturalisierung und der Dialogisierung
entsprechen. Dezentralisierung insofern,
als sich der interkulturelle Manager stets
der Möglichkeit und Gefahr der Dominanz monokulturalistischer Ansätze,
welche seine Arbeit direkt oder indirekt
beeinflussen, bewusst sein sollte. Die
Erkenntnis der Notwendigkeit der Dezentralisierung von Konzepten und Terminologien geht folglich damit einher.
Eine Reperspektivierung der Position,
der Inhalte und der Anwendung interkulturellen Managements hängt mit der
Aberkennung limitierender hermeneutischer Positionen zusammen, welche sich
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
gegen eine Anzahl unterschiedlicher
Auffassungen und Stimmen diesbezüglich wenden und im Gegensatz dazu
ein einzig valides Modell in den Vordergrund stellen. Durch die Suche nach
einer Diskussionsebene jenseits kulturell
konditionierter Einstellungen, bildet
eine Transkulturalisierung der Debatte
um interkulturelle Managementkompetenz eine weitere Möglichkeit Räume
für interdiskursive Rationalität zu
öffnen und zu gestalten. Zuletzt bietet
die Dialogisierung des Diskurses die
Möglichkeit alternative Antworten zu
entwickeln und zuzulassen. Dies gelingt
u. a. durch eine stärkere Einbindung der
Methode der kulturellen oder historischen Kontextualisierung (z. B. die
Hinterfragung heutiger Kooperationsstrukturen vor dem Hintergrund von
Kolonialgeschichte).
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Endnoten
1. Der Managementbegriff kann etymologisch von dem lateinischen Begriff manum
agere (mit der Hand leiten, lenken) abgeleitet werden.
2. Die Begriffe Unternehmenskultur und
Organisationskultur sollen in diesem Beitrag synonym verwendet werden.
3. Es hat „sich bislang kein Modell als
unisono akzeptiertes durchsetzen können“
(Bolten 2006 zitiert nach Rathje 2006:2).
Wie bereits erwähnt erscheint die Auseinandersetzung mit der Entwicklung und
gegenwärtigem Verständnis des Begriffs
der Interkulturellen Kompetenz eine große
Rolle. Im Jahr 1962 wurde das Konzept
der Interkulturellen Kompetenz von dem
Sozialpsychologen Gardner eingeführt. Er
propagierte das Bild eines universalen Kommunikators, Individuen, die eine bestimmte
interkulturelle Kommunikationskompetenz
87
besitzen. Charakteristika einer interkulturell
kompetenten Person nach Gardner waren
u. a. Integrität, Stabilität, Extrovertiertheit,
eine an universellen Werten orientierte
Sozialisation, telepathisches und intuitives
Wissen (Gardner 1962:248). Im Anschluss
gab es vor allem in den Disziplinen der Sozialpsychologie, der Anthropologie, der Kulturwissenschaft, der Erziehungswissenschaft,
der Philosophie, der Linguistik und der
Wirtschaftswissenschaft, eine große Anzahl
weiterer Forschungen, Studien und Analysen, die den Versuch unternommen hatten,
das mit dem neuen Namen ausgestattete
Feld zu definieren und zu beschreiben.
4. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Diversitätsansätze (u. a. Triandis /
Berry 1980, Hofstede 1980, Trompenaars
1993, Hall 1983, Inglehart 1997, Schwartz
/ Bilsky 1987, Triandis / Bhawuk 1997,
etc.) sowie die Similaritätsansätze (geprägt
durch Begriffe wie third culture, synergistische Kultur, mentale Modelle, hybride und
transkulturelle Kultur – zu nennen seien
hier Graen / Hui 1996, Graen / Wakabayashi 1994, Adler 1991, Earley / Ang
2003, etc.), welche die heutige Diskussion
im Bereich des Interkulturellen Managements bestimmen, ist für das Verständnis
dieses Beitrags zu erwähnen, dass „im
vorliegenden Zusammenhang die kulturellen Orientierungen von Individuen und
nicht die (vermeintlichen) Eigenschaften
von Kollektiven (Volkscharakter, Nationalcharakter) den Ausgangspunkt der
Überlegungen bilden“ (Flechsig 2000:1).
Grundlegend wird hier von Flechsig zum
einen der Gedanke vertreten, dass sich der
Ansatz des interkulturellen Dialogs auf die
Veränderung und Entwicklung der kulturellen Orientierungen von Individuen bezieht,
welche sich natürlich auch auf Kollektive
auswirken können, was aber nicht der Fall
sein muss, zum anderen: „[...] wird damit
die immer noch weit verbreitete Auffassung,
daß die kulturellen Orientierungen von
Menschen aus ihrer Zugehörigkeit zu nur
einem kulturell homogenen Kollektiv abgeleitet werden können [...] Sie können sich
gleichzeitig auch einer Generationskultur,
einer Organisationskultur, einer Weltanschauung, einer Religionsgemeinschaft oder
einer Profession zugehörig fühlen [...] Dies
aber bedeutet, daß in konkreten Situationen
internationaler Zusammenarbeit nicht nur
Interessen und Aufträge von Organisationen aufeinandertreffen, sondern immer
auch – oder gar in erster Linie – Personen
als komplexe kulturelle Persönlichkeiten“
(Flechsig 2000:1).
88
5. Das wäre zum einen das QFD, Quality Function Deployment, das sich mit
kundenorientierter Produktplanung (im
Produktionsprozess) beschäftigt, zum
anderen die FMEA Failure Mode and Effect
Analysis, eine Methode zur Aufdeckung von
Schwachstellen (z. B. Prozessfähigkeit).
6. Bolten (2005) unterscheidet bei der
Beschreibung interkultureller Kompetenz
sogenannte Listen-, Struktur- und Prozessmodelle, die sich in den vergangenen vierzig
Jahren herausgebildet haben. Hervorzuheben seien an dieser Stelle die Strukturdimensionen interkultureller Kompetenz,
welche sich in affektive, kognitive und
verhaltensbezogene untergliedern lassen:
Affektive Dimension – Interkulturelle
Sensibilität: bezieht sich auf die Entwicklung des Bewusstseins für die kulturelle
Bedingtheit von – fremdem und eigenem –
menschlichen Verhalten und die Schärfung
der Wahrnehmung für kulturelle Differenzen, aber zugleich für Gemeinsamkeiten, aus
denen sich Möglichkeiten wechselseitigen
Lernens und produktiver Kooperation
ergeben. Kognitive Dimension – Interkulturelles Wissen: bezieht sich auf praktisches
und theoretisches Wissen; zum Beispiel auf
Kenntnisse über Land und Leute, Informationsquellen und Referenzen, auf kultur- und
kommunikationstheoretische Kenntnisse,
auf Einstellungen und Bewertungen, und
auf Wissen, das für selbsttätiges Weiterlernen benötigt wird. Verhaltensbezogene
Dimension – Interkulturelle Fähigkeit:
beschreibt Fähigkeiten, Verhalten und
Können. Wie andere Kompetenzen auch,
so lassen sich interkulturelle Kompetenzen gliedern in: Sachkompetenzen (z. B.
Alltagskompetenzen oder kulturstrategische
Kompetenzen), Sozialkompetenzen (z. B.
interkulturelle Teamfähigkeit, Empathie,
kommunikative Kompetenz, Expressivität,
etc.) sowie Selbstkompetenzen (z. B. kulturelle Selbstreflexion und Selbstregulierung
in interkulturellen Kontexten).
7. So erläutert Bolten exemplarisch: „Unter
Bezugnahme auf die Grafik von Müller /
Gelbrich wären z. B. ‚Offenheit‘, ‚Flexibilität‘ oder ‚kulturelles Bewusstsein‘ Merkmale
der Selbstkompetenz, während ‚Einfühlungsvermögen‘ und ‚Kommunikationsfähigkeit‘ der sozialen Kompetenz zugeordnet
werden müssten“ (Bolten 2007:25).
8. „Ability to foresee the synergistic
potential of diverse cultural perspectives in
problem solving, ability to envision viable
mutually acceptable alternatives, ability to
tap into diverse cultural sources for inspiration” (Koehn / Rosenau 2002:114).
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
9. Weitere genannte Kompetenzen: Analytische Kompetenz, Emotionale Kompetenz,
Verhaltensbezogene Kompetenz (Koehn /
Rosenau 2002:114).
10. Im Original: „Imaginative competence
is acquired through transnational experience that enable individuals to participate
effectively in activities that cut across two
or more national boundaries” (Koehn /
Rosenau 2002:114).
11. Die vier interdependenten Prinzipien
sind Relationalität, Korrespondenz, Komplementarität und Reziprozität.
12. Guru Paramahansa Yoganandaji bezeichnet Intuition als Seelenqualität (soul
quality), welche das menschliche Bewusstsein mit dem höherem Bewusstsein verbinde. Er geht davon aus, dass Intuition durch
folgende Prozesse entwickelt werden könne:
1. Übung und Anwendung des Common
Sense, 2. Introspektion und tägliche Analyse, 3. Konzentration und Gedankentiefe,
4. Ruhe, 5. Meditation (vgl. Nireshwalia
2003:2).
13. Die Umfrage wurde im Zeitraum
Februar-August 2010 in Indien und
Deutschland durchgeführt. Zu den Befragten zählten Mitarbeiter der Firmen Siemens,
Bosch, Daimler und Infineon. Insgesamt
wurden mit 52 Personen aus dem mittleren
und höheren GSD-Management Gespräche
geführt. Die Befragen gehörten folgenden
Nationen an: Deutschland, Indien, Schweiz,
Brasilien, Kroatien. Die ausführliche Evaluation erfolgt derzeit in Zusammenarbeit mit
dem MPI Max Planck Institut für Bildungsforschung Berlin.
14. Vorteilhaft sind technologische Verbesserungen, reduzierte Entwicklungskosten
(vgl. Carmel / Agarwal 2001, Damian
et al. 2003) und Zeitersparnis durch das
‚followthesun’ Software Development (vgl.
Herbsleb / Grinter 1999, Carmel 1999). Zu
den besonderen Vorzügen zählen zudem das
GSD Wissensmanagement (vgl. Dingsøyr
/ Rolland Jaccheri 2004), die Zeitzonen Effektivität (vgl. Ebert / de Neve, 2001) sowie
der Zugang zu einem gut-ausgebildeten Entwicklerpool (vgl. Damian et al. 2003).
15. Da GSD verschiedene Stakeholder
unterschiedlicher Kulturen (nationaler,
regionaler, organisationaler, altersgruppenspezifischer, etc. Art) hat, welche an
unterschiedlichen Standorten sitzen und
andere Zeitfenster kennen, verwenden sie
oftmals unterschiedliche Informations- und
Kommunikationstechnologien für die
Zusammenarbeit. Diese Aspekte bergen ein
Risiko für den Erfolg von Projekten, da sie
signifikante Herausforderungen hinsichtlich
der Teamkommunikation, -koordination
und -kontrolle mit sich bringen (vgl. Ågerfalk et al. 2005). Die Verwendung asynchroner Kommunikationsmedien kann unter
Umständen zu Missverständnissen und
Fehlinterpretationen führen (vgl. Damian
/ Zowghi 2002). Geographische Distanz
kann zudem zu einer Verringerung informeller Kommunikation und somit zu einer
Behinderung der Entwicklung persönlicher
Beziehungen, Teamgeist und Teamgefühl
führen (vgl. Herbsleb / Grinter 1999). Hinsichtlich der Bedeutung von Raumnähe und
geographischer Distanz für das Team gibt es
sehr unterschiedliche Sichtweisen. Distanz
in virtuellen Teams kann sehr unterschiedlich erlebt werden; daher unterteilt man in
subjektive und kognitiv-affektiv bewertete
Distanz sowie in objektive und sachlich
beschriebene Distanz (vgl. Wilson / Boyer
O’Leary / Metiu / Jett 2005). Ein weiterer
Punkt, dem es im Kontext von Wissensteilungsprozessen in virtuellen Teams Beachtung zu schenken gilt, ist jeder der Differenzierung von explizitem und schweigendem
Wissen (explicit and tacit knowledge) (vgl.
Subramaniam / Venkatraman 2001). Die
Notwendigkeit, dass eine effektivere GSD
Kooperation auf eine Verbesserung von
Tools der Zusammenarbeit und Bewusstseinsschaffung angewiesen ist, wird vielfach
betont (vgl. Cataldo et al 2006, Martinez /
Carlos Jarillo 1989).
16. Intuitive Synthese bezeichnet die Fähigkeit sich auf in der Vergangenheit Erfahrenes und Erlerntes zu beziehen und dieses
Wissen auf die Lösung eines Problems in
der Gegenwart anzuwenden.
17. Heuristik (griech. „Εὑρίσκω“ heurísko
‚ich finde‘) bezieht sich auf erfahrungsbasierte Techniken des Lernens, des Problemlösens und des Entdeckens.
18. „Diese epistemologische Differenz in
ihrer Erkennbarkeit“ sei nach Thaliath jedoch eine rein formale, keine substantielle“
(Thaliath 2011:7).
19. Im indischen philosophischen System
des Advaita Vedanta wird beispielsweise
zwischen materiellem Wissen (apara vidya)
und spirituellem Wissen (para vidya) unterschieden, wobei der erstere dem Bereich
der Wissenschaft, der letztere jenem der
Religion zuzuordnen ist. Schlussfolgernd
kann behauptet werden, dass deliberative
Entscheidungsfindung apara vidya, während
intuitive Entscheidungsfindung para vidya
zuzuordnen ist.
89
20. Diese Logik der Unschärfe lässt sich
auch auf den Ausdruck kulturelle Fuzzyness
beziehen.
21. Chatterjee ist ein Vertreter der monistischen Philosophie des Yogacara Buddhismus, welcher im Ergebnis der tat twam asi
– Lehre der Upanishaden nahe kommt. Von
den Upanishaden sagte Arthur Schopenhauer, dass sie „der Trost meines Lebens
gewesen“ seien und „der meines Sterbens
sein“ würden (vgl. Schopenhauer 1977).
22. Satori bezeichnet im Zen einen Weg
der ‚Erleuchtung’. Jung schreibt in seinem
Geleitwort: „Von der Erleuchtung (Satori) sagt Kaiten Nukariya, welcher selber
Professor am So-To-Shu Buddhist College
in Tokyo ist (vgl. sein Buch: The Religion
of the Samurai 1913:133f.): „Wenn wir
uns vom Mißverständnis des Selbst befreit
haben, so müssen wir unsere innerste, reine
und göttliche Weisheit aufwecken. Diese
nennen die Zen-Meister den Buddhageist
(Mind of Buddha) oder Bodhi (das Wissen,
durch das man Erleuchtung erfährt) oder
Prajna (höchste Weisheit). Sie ist das
göttliche Licht, der innere Himmel, der
Schlüssel zu allen Schätzen des Gemütes,
der Mittelpunkt von Denken und Bewußtsein, die Quelle von Einfluß und Macht,
der Sitz der Güte, der Gerechtigkeit, des
Mitfühlens, des Maßes aller Dinge. Wenn
dieses innerste Wissen völlig erwacht ist, so
sind wir imstande zu verstehen, daß jeder
von uns identisch ist, im Geiste, im Wesen
und in der Natur, mit dem universalen
Leben oder Buddha, daß jeder mit Buddha
lebt von Angesicht zu Angesicht, daß jeder
die überquellende Gnade des Geheiligten
(Buddha) empfängt, daß Er unsere moralischen Kräfte erweckt, daßEr uns das geistige
Auge öffnet, daß Er unser neues Vermögen
entwickelt, daß Er uns Sendung gibt, und
daß das Leben kein Meer von Geburt,
Krankheit, Alter und Tod, auch nicht ein
Tal der Tränen ist, sondern vielmehr Buddhas heiliger Tempel, das <<Reine Land>>
(Sukhavati, das Land der Seligkeit), wo wir
die Wonne des Nirvana genießen können.
Dann wir unser Geist völlig verwandelt.
Wir sind nicht mehr gestört von Zorn und
Haß, nicht mehr verwundet von Neid und
Ehrgeiz, nicht mehr gekränkt von Sorge
und Kummer und nicht mehr überwältigt
von Traurigkeit und Verzweiflung“ ( Jung in
Suzuki 2003:10f.).
90
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91
92
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Rezension Review
Esther Braunwarth
„Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der
Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“
Olga Sacharowa
Doktor in Kulturgeschichte,
Moskauer Städtische Pädagogische Universität, Sprachlehrerin
und Multiplikatorin des GoetheInstitus Moskau
Eine Forschung, die im Titel den Begriff
interkulturelle Kooperation inklusive
hat, kann – mit Berücksichtigung von
zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema – damit rechnen
auf Interesse zu stoßen, wenn sie nicht
als einzelfachlich gedacht war und im
Ergebnis eine Mehrschichtigkeit bietet,
was dem aktuellen Trend entsprechen
würde.
Die vorliegende Publikation versucht
dem Trend in komplexeren Forschungen nachzugehen und die Kombination
von Begriffen jüdisch – christlich – interkulturell soll für interdisziplinäres Herangehen sorgen. Die Autorin stellt sich
die Hauptfrage, ob „Menschen verschiedener Religionen, auch missionierender
Religionen, überhaupt kooperieren
können, ohne dass kulturelle Konkurrenz entsteht“ (Braunwarth 2011:13)
– und betritt damit unermessliche
Weiten voller Vorurteile, gegenseitiger
Unakzeptanz und Skepsis, obwohl das
Streben nach der Liebe zu dem Nächsten in diesem Fall fast wortwörtlich
ein Ariadnefaden sein kann. Allein der
Versuch sich in diesem Bereich sachlich
zu vertiefen und die bestehende Skepsis analytisch zu verarbeiten ist schon
lobenswert.
Umso lobenswerter ist es, wenn man
entdeckt, dass der Band sehr umfassende und detailreiche Informationen
zur Entwicklungsgeschichte und dem
aktuellen Stand im Bereich christlichjüdische Kooperation bietet. Er lässt
sich thematisch in vier größere Bereiche
gliedern, nämlich:
I.
Die Entstehungsgeschichte
derchristlich-jüdischen Gesellschaften (GcjZ) und deren Koordinierungsrat (DKR) in Deutschland
inklusive genauer Darstellung von
einzelnen Gesellschaften wie die
in München, in Stuttgart und in
Freiburg.
II. Analyse von Funktionen und
Tätigkeitsbereichen von GcjZ und
DKR
III. Beschreibung von konkreten Tätigkeiten der GcjZ und DKR
IV. Stellungnahme zu den Veränderungen im christlich-jüdischen Dialog
und der gewonnenen Erfahrungen
für interkulturelles Zusammenleben.
Anschließend folgen ein Ausblick in die
möglichen Entwicklungen der analysierten Kooperation und eine kurze
Zusammenfassung von Ergebnissen der
durchgeführten Forschung. Im Anhang sind Transkriptionen von einigen
Interviews der Autorin mit führenden
93
Personen der analysierten Kooperation,
sowie deren Biografien zu finden.
Die Forschung knüpft zwar an wesentliche Publikationen in dem gewählten
Forschungsgebiet an, aber ein klarerer
Hinweis darauf, von welcher konkreten
Definition des Begriffs interkulturell
die Autorin ausgeht und wie sich die
erforschte Art der Kooperation in
den allgemeinen kulturellen Kontext
einbetten lässt, wäre wünschenswert.
Besonders wichtig erscheint uns in
diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit solchen Kategorien
wie Identitätsbildung und interkulturelle Bewältigungsstrategien wie z.B. bei
Leggewie/ Zifonun( Leggewie, C. /
Zifonun, D. 2010: 19-23).
Wie immer schon, aber bei so einer Themenformulierung besonders, spielt die
Abgrenzung von Aufgaben bzw. Themenbereichen und Zeitabschnitten eine
nicht zu unterschätzende Rolle. Die
Autorin versucht das durch die Angabe
eines konkreten Zeitraumes und durch
die Konkretisierung der schon oben
erwähnten Grundfrage zu erreichen. So
formuliert sie folgende Aufgaben:
I.
Wie intensiv ist der Austausch
unter christlichen und jüdischen
Mitgliedern?
II. Was unterscheidet die Gesellschaften von anderen Gruppen, so dass
eine Einheit in der Verschiedenheit
möglich wird?
III. Was bedeutet das für andere interkulturelle Initiativen?
IV. Welche Regeln und welche Basis
entwickelte die christlich-jüdische
Zusammenarbeit, die bis heute gelten? Kann man auch das Recht auf
Abweichung zur Regel machen?
V. Wie lassen sich die Anforderungen
der Moderne (Intergruppenkontakte, Flexibilität, rationales Handeln) mit traditionellen religiösen
und kulturellen Eigenheiten auf
harmonische Weise vereinbaren?
(Braunwarth 2011:12f.).
94
An diese konkreten Fragestellungen
werden zum Abschluss die Schlussfolgerungen geknüpft. Was die zeitliche
Abgrenzung betrifft, so erscheint die
angekündigte Zeitspanne der Analyse
ab 1948 unter dem Blickwinkel historische Periodisierung zwar logisch, kann
aber kaum eingehalten werden wegen
der zu nahen Zusammenhängen mit der
NS-Zeit. Die angeführten Beschreibungen und Erinnerungen der NS-Opfer
sowie Überlegungen der Autorin und
ihre oft emotionalen Einschätzungen
dieser Zeit, aus der die Wurzeln von
vielen Problemen des christlich-jüdischen Dialogs zu ersehen sind, kann
man einerseits als logische Brücke in
so einer Forschung anerkennen. Andererseits liegen in dieser Zeit nicht nur
die Ursachen der Unakzeptanz sondern auch die Anfänge der christlichjüdischen Kooperation wie das mit dem
GcjZ Freiburg der Fall war (Braunwarth
2011:7,67,236). Die Ereignisse aus dieser Zeit werden in der Publikation auch
als bedeutende für die Gründung von
GcjZs bezeichnet. Außerdem kann man
wegen der zu komplexen und komplizierten Problematik die großen Bereiche
Antisemitismus und Holocaust wie wohl
das Thema Vergangenheitsbewältigung
wahrscheinlich kaum so ad hoc allein
mit einer Zeitschranke abgrenzen. Eine
ausführlichere Begründung und Hinführung zu dem konkreten Forschungsbereich, die die erforschte Kooperation
in die historischen, kulturellen und
religiösen Zusammenhänge einreihen
würden, wären nicht fehl am Platze.
Hingewiesen sei hier auf die Forschungen, in denen auch positive Annäherungen thematisiert werden, z. B.: Madievski 2006.
Dieser Mangel wird durch gute Strukturiertheit und Ausarbeitung des ersten
und zweiten Themenbereichs ausgeglichen. Eine ausführliche Darstellung der
Entstehungsgeschichte von einzelnen
Gesellschaften sowie Zusammenfassung
von Zielen ergänzt die Analyse der Rolle
von einzelnen Persönlichkeiten, politischen Gemeinschaften und amerikanischen Vorbildgesellschaften wie zum
Beispiel Council of Christians and Jews.
Sorgfältig gesammelte Informationen
und Analysen decken die Wissenslücke
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
ab und leisten somit einen wesentlichen
Beitrag nicht nur zu der deutschen als
auch zu der internationalen Geschichte.
■■ Identifizierten sich die Juden aus der
ehemaligen Sowjetunion überhaupt
mit dem jüdischen Glauben?
■■ Wie viele von ihnen waren Christen
oder sogar Atheisten?
■■ Wie war das Verhalten von denen,
die sich als Vertreter des jüdischen
Glaubens rein formell gemeldet
hatten?
Aus demselben Grund erscheint die
Charakteristik dieser neuen Etappe
nicht so sehr überzeugend im Unterschied zu dem ganzen Themenbereich.
Braunwarth, Esther (2011):
Interkulturelle Kooperation
in Deutschland am Beispiel
der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. München: Herbert Utz
Verlag GmbH.
312 Seiten.
Preis: 49,00 EUR.
ISBN 978-3-8316-4087-4.
Fazitziehend lässt sich sagen, dass die
Publikation im Großen und Ganzen
eine gute Grundlage für Diskussionen
und Reflexionen bietet und den aktuellen Stand der Forschung widerspiegelt.
Literatur
Madievski, S. (2006): The Other Germans.
Rescuers` Resistance in the Third Reich. Moskau: Dom evreiskoi knigi.
Leggewie, C. / Zifonun, D. (2010): Was
heißt Interkulturalität? Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1(2010), S.11-32.
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interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Rezension Review
Jieting Kong
„Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“
Linda Schwarzl
Doktorandin der Linguistik und
wissenschaftliche Hilfskraft des
Austauschprojekts der Tsinghua
Universität, Peking, mit der Universität Duisburg-Essen
Muss ein Ratgeber für ChinesInnen in
Deutschland einen teils englischen Titel
haben? Vermutlich ja, denn Überlebensausrüstung oder Ratgeber klingt
umständlich und altmodisch. Und das
ist das „Survival Kit für Chinesen in
Deutschland. 中国人旅德生存手册“
mit Sicherheit nicht. Amüsant und bunt
bebildert, versucht Jieting Kong, eine
aus Shanghai stammende Chinesin, eine
erste Hilfestellung für ChinesInnen zu
bieten, die – mit oder ohne deutsche
Sprachkenntnisse – auf Herausforderungen und kulturelle Unterschiede
treffen, wenn sie zum ersten Mal in
Deutschland sind. Das Buch soll als
Unterstützung dienen, um den Kulturschock aufzufangen. Da Jieting Kongs
deutsche Heimat Hamburg ist, gibt es
speziell für die Hansestadt Tipps zu
Märkten, Fahrplänen für Bus und Bahn
etc.
Positiv hervorzuheben ist die durchgängige Zweisprachigkeit von Deutsch und
Chinesisch (chinesische Zeichen, kein
Pinyin). Selbst wenn ChinesInnen über
ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, können sie z. B. bei Bezeichnungen
für Lebensmittel noch große Schwierigkeiten haben. Nicht nur sprachlich,
sondern auch inhaltlich ist die Orientierung an der Zielgruppe eingehalten
worden. Diese Tatsache sollten sich
interessierte deutsche LeserInnen vor
Augen führen und über – aus deutscher
Perspektive möglicherweise zum Teil
vorhandene – Auffälligkeiten hinwegsehen, beziehungsweise das Survival Kit
vor diesem Hintergrund beurteilen.
Auf den ersten Blick erscheint das
Buch unterhaltsam und ansprechend.
„Nemo“, der Hauptakteur, ein Junge,
mit grünem T-Shirt und großem Mund,
der eher an einen Europäer als einen
Asiaten erinnert, führt uns durch den
Alltag und hilft bei Problemen, auf die
man als Neuling in Deutschland stößt.
Er und die anderen Charaktere sind
als Comicfiguren gestaltet und treten
durch ihre ausgefallene, teilweise verrückte, Zeichenart hervor. Der „Cast“
(Kong 2012:12f.) besteht u. a. aus „Dr.
Men“, der als Professor mit hellgelbem
Gesicht und großer Brille den Intelligenten repräsentiert, „Sarah“, einer
Afroamerikanerin mit tiefem Dekolletee, „Christian“, einem Südeuropäer mit
gelocktem, dunklem Haar und Oberlippenbart, der als Toilettenreinigungskraft
und Taxifahrer arbeitet, „Leo“, einem
Asiaten, und zwei korpulenten Deutschen: „dem Säufer“, ungepflegt und
mit nacktem Oberkörper, Bierbauch,
Zahnlücken, Vollbart, Bierglas und
Hakenhand sowie „Michael“, der als „typischer Deutscher“ mit großem Schnäuzer und Plauze leicht bayrisch aussieht
(Personenbezeichnungen sind Zitate).
Auffällig ist eine starke Stereotypenbildung, die aber im Rahmen eines solchen
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Buches wahrscheinlich schwer zu vermeiden ist. Für ChinesInnen, die noch
nicht in Deutschland waren und nicht
in Kontakt mit Deutschen stehen, ist
die Darstellung des Lebens in Deutschland anhand von Stereotypen vermutlich gewünscht, um kurz und bündig zu
informieren und nicht mit Details zu
langweilen.
Wirkt die Gestaltung des Buches aus
deutscher Sicht eher kindlich, mag es
für ChinesInnen aber durchaus ansprechend sein. Der Grund dafür liegt wohl
beim Herausgeber: In Zusammenarbeit
mit dem Buske Verlag bemühte sich eine
Werbeagentur um das Design. Die DFI
Agency Communication Design gestaltete das Survival Kit „kess und locker“
(DFI Agency), wobei das „Infodesign
[…] im Vordergrund [steht]. Schnelles
begreifen [sic!] durch einfachere Bebilderung des Sachverhaltes ohne das lesen
[sic!] langer Texte ist das Konzept dieses
Buches.“ (DFI Agency). Die Zeichnungen stammen – laut Angabe von DFI
Agency – von der Autorin Jieting Kong
selbst. Das Ziel der DFI Agency ist eine
schnelle und leichte Vermittlung der
dargebotenen Informationen.
Die farbigen Illustrationen im Buch
erinnern an Mangas, könnten sich aber,
allem Humor zum Trotz, bei einigen
(konservativen) Deutschen negativ
bemerkbar machen. Vor allem die
Erklärungen und Bebilderungen der
religiösen Bräuche fallen hier stark auf.
In der Rubrik Feiertage werden staatliche und kirchliche Fest- und Feiertage
kurz beschrieben. Die Darstellung eines
gekreuzigten Jesus Christus im Comicstil als Symbol für Karfreitag bietet
Angriffsfläche für Kritik. Da auch einige
ChinesInnen christlich sind, könnte
eine solche Gestaltungsart nicht nur für
Deutsche ein Problem darstellen.
Aufgeteilt ist das Survival Kit in die
Kapitel Leben, Essen & Trinken, Transport, Wohnen und Gesundheit. In den
einzelnen Kapiteln werden Probleme
behandelt, die vor und nach der Einreise
auftreten können.
Das erste Kapitel (Leben) beschäftigt
sich auf insgesamt 73 Seiten beispielsweise mit dem Visumsantrag,
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der Einrichtung eines Bankkontos in
Deutschland, Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen, Kleidung, Festen,
Bräuchen und alltäglichen Verhaltensweisen. Teilweise kommt es bereits
hier zu verwirrenden Bezeichnungen:
Hinter „Herren- oder Männertag“
(Kong 2012:51) verbirgt sich wohl der
Vatertag. Auf abweichende Benennungen, z. B der Festtage in Deutschland,
sollte im Hinblick auf Deutschlernende
als Zielgruppe verzichtet werden.
Sinnvoll wäre vor allem in diesem Kapitel der Verweis auf Internetquellen, da
sich die Bestimmungen zur Beantragung
eines Visums beispielsweise ändern und
die Informationen im Buch somit nicht
mehr aktuell sein können. Hinweise auf
die offizielle Homepage der Deutschen
Botschaft könnten hier z. B. Aktualität
gewährleisten. Bedenkt man die Rubrik
Visumsbeschaffung genauer, stellt sich
außerdem die Frage nach der Relevanz.
Für ChinesInnen, die sich in Deutschland befinden, könnte dies weniger von
Belang sein, da diese erste Hürde bereits
im Heimatland genommen wurde.
Das Kapitel Essen & Trinken (Kong
2012:88ff.) stellt die liebsten Speisen
und Getränke der Deutschen vor, wirft
einen Blick auf lokale Spezialitäten und
saisonale Speisen. Die Zusammenstellung von verschiedenen Kaffeegetränken und Cocktails wird erläutert – wobei hier sicher auch manche Deutsche
noch etwas lernen können. Besonders
amüsant ist u. a. die Erklärung, wie eine
Bierflasche mit Hilfe eines Feuerzeugs
zu öffnen ist (ebd.:94f.). Hier kommt
„der Säufer“ wieder zum Einsatz: In
Unterhose hüpfend freut er sich über
das korrekt eingeschenkte Weizen
(ebd.:95). Ob es nötig ist, auf vier
Seiten (ebd.:114ff.) unterschiedliche
Weinarten mit dazu passenden Speisen
darzustellen – und es nicht einfach bei
der Unterscheidung zwischen Weiß-,
Rotwein oder Rosé zu belassen – darüber lässt sich streiten. Hilfreicher wäre
meiner Einschätzung nach eine Erklärung der Aufschriften lieblich, halbtrocken, trocken auf den Weinetiketten im
Supermarkt.
Weiteren Anlass zu Kritik bietet die
Darstellung der Dim Sum (Kong
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2012:122f.). Sie ist diffus und die
Zuordnung von Bild und Bezeichnung
nicht immer passend. Zusätzlich stellt
sich die Frage, ob diese kleinen, meist
gedämpften oder frittierten Gerichte,
die ursprünglich aus der kantonesischen
Küche Chinas stammen, in einem Ratgeber für ChinesInnen einer Erklärung
bedürfen. Der Darstellung von Fast
Food in Deutschland werden gleich
mehrere Seiten gewidmet. Leider sucht
man eine hier weit verbreitete Speise, den türkischen Döner, vergebens.
Auch bei den unterschiedlichen Pizzen
fehlen die typischen Speisenamen
(Pizza Margherita, Pizza Hawaii etc.),
die bei der Bestellung im Restaurant
aufschlussreich wären. Dafür ist die Bezeichnung der verschiedenen Essbestecke sehr detailliert: Fischmesser/-gabel,
Steakmesser/-gabel etc. (ebd.:144f.).
An anderen Stellen im Buch wiederum mangelt es an Einzelheiten zur
Benennung, wie z. B. bei der Vorstellung des deutschen Weihnachtsmarkts
(ebd.:60f.). Hier wird gänzlich auf die
Beschriftung der abgebildeten Leckereien verzichtet.
Abschließend werden in diesem Kapitel
Restaurantmanieren und der Umgang
mit Trinkgeld erläutert, was dem Zweck
des Buches, ChinesInnen die kulturellen
Unterschiede aufzuzeigen, angemessen
erscheint, da man in China in der Regel
kein Trinkgeld gibt.
Öffentliche Transportmittel, Preise und
das Streckennetz von Hamburg, Hinweise zum Fahrradkauf etc. werden im
Kapitel Transport (Kong 2012:152ff.)
vorgestellt. Praktischer wäre auch hier
eine knappe Anleitung zum Umgang
mit der Homepage der Deutschen
Bahn, dem Ticketkauf und der Fahrplanauskunft, so dass Streckenfahrpläne
und Reisekosten selbst recherchiert
werden können.
Das vorletzte Kapitel befasst sich
mit dem Thema Wohnen (Kong
2012:172ff.) und bietet Tipps zu
Wohnungssuche und -besichtigung,
Kostenübersichten sowie Abkürzungen
in Wohnungsanzeigen. Im Anhang des
Buches finden sich Mustervordrucke
zur Wohnungsannonce und Kündigung. Außerdem werden Ratschläge
zur Renovierung, zum Putzen, zur
Mülltrennung sowie Erste Hilfe bei
Verletzungen gegeben. Ausführlicher
wird das Thema Gesundheit im letzten Kapitel (ebd.:216ff.) behandelt.
Entspannungsübungen (ebd.:228f.) und
Hausmittel (ebd.:230ff.) werden aufgezählt. Besonders interessant sind die in
der Rubrik Hausmedizin aufgeführten
Hilfsmittel: z. B. Cayennepfeffer bei
Herz-Kreislaufbeschwerden (ebd.:230),
Maiskolben bei schlechter Durchblutung, (ebd.:232), Weißkohl bei Furunkeln und Verstauchungen (ebd.:235).
Diese Zusammenstellung mag wohl
besonders für Deutsche eine Hilfe sein,
da das Wissen über Heilpflanzen in der
chinesischen Kultur weitaus größer ist.
Eine Auflistung sortiert nach Beschwerden würde sich hier anbieten, fehlt aber.
Auch das Thema Verhütung wird angesprochen. Kondome, Antibabypille, die
Pille danach und Schwangerschaftstests
werden kurz erläutert. Hinweise zur
Beschaffung gibt es allerdings nicht.
Beurteilt man das Survival Kit mit dem
Maßstab typisch deutscher Korrektheit,
werden einige Punkte auffallen, die
nicht ganz richtig dargestellt sind.
Besonders positiv zu bemerken sind die
kreative Gestaltung und die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Über
formale und teilweise auch inhaltliche
Fehler stolpert man zwar, diese sind aber
für das Verständnis nicht immer von
Belang. In allen Kapiteln werden neue
Vokabeln eingeführt, die – thematisch
gut geordnet – das Meistern des Alltags
erleichtern (wenn auch an einigen Stellen umgangssprachlich, z. B. Postmann
anstelle von Postbote (Kong 2012:37),
Bekanntschaften machen anstelle von Bekanntschaften schließen (ebd.:87)). Die
Verwendung von Umgangssprache muss
unbedingt markiert werden, um einem
fehlerhaften Gebrauch vorzubeugen.
Diese Kennzeichnung fehlt leider.
Als großes Manko des Ratgebers betrachte ich das Versäumnis der Autorin,
ein umfassendes Verzeichnis an Internetseiten bereitzustellen, das aktuelle
Hinweise zu den behandelten Themen
gibt und weitere Auskunft liefert.
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Lehrreich kann das Buch letztlich nicht
nur für ChinesInnen sein, sondern auch
für Deutsche, da die Informationen,
die von einer Chinesin zusammengestellt wurden, aussagekräftig sind und
darüber aufklären, was für Asiaten in
Deutschland neu und merkwürdig
erscheint. Damit ist es auch für Einheimische zur Vorbereitung geeignet, um
sich mit AnhängerInnen eines anderen
Kulturkreises auseinander zu setzen und
deren Sichtweise auf die eigene Kultur
zu betrachten. Diesem Thema widmet
sich auch Polfuß (2012) im Interculture
Journal Nr. 17, der mit einem Kulturassimilator für chinesische Teilnehmende
mit Zielland Deutschland anhand
authentischer Situationen die Hintergründe aus chinesischer und deutscher
Perspektive interkulturell beleuchtet.
Um die tatsächliche Brauchbarkeit
des Survival Kit festzustellen, bleibt es
abzuwarten, wie die Rezension einer
Chinesin / eines Chinesen ausfällt, die
/ der sich mit Hilfe des Ratgebers mehr
oder weniger erfolgreich in Deutschland
zurecht gefunden hat.
Trotz einiger Schwächen bewerte
ich das „Survival Kit für Chinesen in
Deutschland. 中国人旅德生存手册.“
abschließend als gelungen. Dem Ziel –
auf unterhaltsame Art zu informieren –
wird es meiner Meinung nach gerecht.
Literatur
DFI Agency (2011): Survival Kit für
Chinesen in Deutschland. URL: http://dfiagency.de/2011/10/survival-kit-chinesenin-deutschland/ [Zugriff am 28.08.
2012].
Polfuß, J. (2012): Kritischer Kulturassimilator. Deutschland für chinesische Teilnehmende. Interculture Journal 11 (17), S.
27-46.
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Kong, Jieting (2012):
Survival Kit für Chinesen in
Deutschland. 中国人旅德生
存手册. Hamburg: Helmut
Buske Verlag.
253 Seiten.
Preis 19,90 EUR.
ISBN 978-3-87548-629-2.
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Rezension Review
Adelheid Schumann
„Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule.
Zur Integration internationaler Studierender und Förderung
Interkultureller Kompetenz“
Alexandra Stang
Projektmitarbeiterin
Publikationen und Interkulturelle
Bildung an der TU Kaiserslautern
Die kulturelle Vielfalt der fortschreitenden Globalisierung ist im
hochschulpolitischen Gesamtkontext heute überall präsent aufgrund
weltweit mobiler Studierendenströme und Wissenschaftlerwanderungen (Hochschulrektorenkonferenz
2008). Diese Entwicklungen gehen
nicht spurlos an den deutschen
Hochschulen vorbei; sie ziehen
vielmehr einen komplexen langfristig
tiefgreifenden Veränderungsprozess
nach sich. Der Erwerb von Fremdsprachen, fachübergreifende interkulturelle Handlungskompetenz
und die Auseinandersetzung mit
unterschiedlichen Ausbildungssystemen gewinnen daher aus dieser
Perspektive zunehmend an strategischer Bedeutung.
Das von der Volkswagen Stiftung geförderte empirische Forschungs- und Entwicklungsprojekt MuMiS Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium
entstand zwischen 2008 und 2010 in
Kooperation mit der Universität Siegen.
Die Ergebnisse dieser Critical Incident
Untersuchungen bilden die Grundlage für die dazugehörige Datenbank
www.mumis-projekt.de/projekt/ und
Argumentation der sieben Aufsätze der
Autorinnen in dem vorliegenden Band.
Annelie Knapp betont zu Beginn die
Chancen, die sich im Rahmen von Auslandsaufenthalten durch internationale
Hochschulpartnerschaften und Austauschprogramme für junge Menschen
heute ergeben. Daran anschließend
stellt sie die Vorarbeiten, Teilprojekte
und Ziele des MuMiS-Projektes detailliert vor. Hierzu gehören Maßnahmen
zur Verbesserung der Fremdsprachenkompetenz in internationalen Studiengängen (Englisch und Deutsch als
Fremdsprache) genauso wie eine Sammlung studiumsspezifischer kritischer
Interaktionssituationen. Differenziert
wird zwischen vier Kategorien: a) Lehrveranstaltungen, b) Sprechstudenkontakt mit Dozenten, c) Kommunikation
in Arbeitsgruppen d) Kommunikation
unter Studierenden.
Der Aufsatz von Adelheid Schumann
thematisiert die Hintergründe, Zahlen
und Fakten, die der interkulturellen
Kompetenzentwicklung als zentrale
Schlüsselqualifikation zugrunde liegen.
Dazu beschäftigt sie sich im Fortgang
mit verschiedenen theoretischen Konzepten interkultureller Kompetenz, die
in der neueren Literatur kontrovers diskutiert werden. Des Weiteren stellt sie
die Bedeutung der akademischen Kultur
in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Zu Recht verweist sie auf die Tatsache, dass Forschung und Wissenschaft
in verschiedenen Ländern und Kulturen
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über Jahrhunderte hinweg eine unterschiedliche Entwicklung genommen
haben, die bis heute auf die Bildungssozialisation, Lehr- und Lernstilgewohnheiten, Verhaltensweisen sowie Rollenerwartungen Einfluss nehmen.
In ihrem zweiten Aufsatz begründet
die Herausgeberin der Publikation ihre
Entscheidung für die Critical IncidentMethode als Trainingsgrundlage wie
folgt:
„Critical Incidents bieten für interkulturelle Trainingseinheiten eine komplexe
Diskussionsgrundlage: Sie lösen Reflexionen über Differenzen in Akademischen Kulturen aus und fördern die
Entwicklung einer studiumsbezogenen
interkulturellen Kompetenz“ (2012:
70).
Im weiteren Verlauf ihrer trainingspragmatischen Argumentation greift
Schumann jedoch auch die kritischen
Positionen zu diesem methodischen
Ansatz und dem zugrunde liegenden
kohärenzorientierten Kulturverständnis
auf, das die Gefahr der Übergeneralisierung und Stereotypisierung birgt, die
in der neueren Fachliteratur eingehend
diskutiert werden (vgl. hierzu Hansen
2009, Rathje 2010, Bolten 2011). Dabei
weist die Autorin anhand von ihren
Beispielen explizit darauf hin, dass „es in
Trainingskonzepten für die Hochschule
nicht darum gehen [kann], Komplexität zu reduzieren, sondern vielmehr
darum, die verschiedenen individuellen und kollektiven Faktoren eines
interkulturellen Missverständnisses in
ihrer Komplexität zu begreifen“ (Schumann 2012:70). Abschließend folgt
eine Anleitung zur Arbeit mit Critical
Incidents im Hochschulkontext, am
Beispiel der MuMiS-Datenbank, die
kognitive, affektive und handlungsorientierte Dimensionen im Rahmen eines
konstruktivistischen Lernverständnisses
integrieren sollen.
Im zweiten Teil des Buches diskutiert
Eva Maria Hennig ausführlich das
konkret eingesetzte Verfahren zur Erhebung, Evaluation und Didaktisierung
der Critical Incidents im Rahmen dieser
Forschungskooperation. Katharina Moll
stellt anschließend die Einsatzformen
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von Critical Incidents, die Bedeutung
des damit verbundenen Lernziels und
die Analyse der Zielgruppe in dem Mittelpunkt. Hierzu zieht sie Beispiele aus
der Datenbank heran. Sonja Schöning
entwickelt ein Baukastenmodell, das
kontextspezifisch eingesetzt werden
kann, um für kulturelle Differenzen akademischer Lehr- und Lernkulturen zu
sensibilisieren. Abschließend präsentiert
Adelheid Schumann Arbeitsmaterialien,
Trainings- und Lösungsansätze für
Schulungsleiter, die Critical Incidents
im Rahmen von interkulturellen Sensibilisierungsmaßnahmen verwenden.
Der Buchtitel „Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und
Förderung Interkultureller Kompetenz“
macht neugierig. Werden jedoch die
Erwartungen einer breiten Leserschaft
diesbezüglich erfüllt? Die Antwort lautet ja und nein. Diejenigen Leser, die die
Methode Critical Incident in interkulturellen Trainings bevorzugt einsetzen,
erhalten Impulse und Hinweise für
deren Einsatzmöglichkeiten im Hochschulkontext. Die Erwartungen jener
Leser, die sich vom Titel der Publikation auch neue Ideenkonzepte erhofft
haben, die Interkulturalität nicht nur
thematisieren sondern durch Projektlernen und kollaborative Methoden auch
generieren, werden nicht erfüllt.
Positiv hervorzuheben ist das umfangreiche Bibliografie-Verzeichnis
zur Interkulturellen Kommunikation
in der Hochschule (2012: 241ff.), das
Neuerscheinungen und interdisziplinäre Perspektiven der letzten Jahre zu
diesem Thema einschließt. Dies bietet
den Lesern, die sich hierzu informieren
möchten, einen fundierten Überblick
auf relevante Literaturquellen.
Das Buch richtet sich primär an
diejenigen, die mit der umfangreichen
MuMiS-Datenbank im Rahmen ihrer
interkulturellen Trainingsmaßnahmen
arbeiten und einen Einblick in die Entstehungsgeschichte und Anwendungspraxis der Critical Incidents im internationalen Hochschulkontext erlangen
möchten. Darüber hinaus bietet die
vorliegende Publikation und dazugehörige Datenbank die Möglichkeit, das
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Bewusstsein für mögliche Stolpersteine
in der Kommunikation zu schärfen
und sich der Kulturspezifik der eigenen
Forschungstraditionen sowie Lehr-/
Lernmethoden zu stellen.
Trotz aller Herausforderungen, die
das mehrsprachige Umfeld mit sich
bringt, wäre es wünschenswert, künftig
kulturelle Differenz und interkulturelle
Kommunikation im Rahmen der Critical Incident-Analysen nicht per se als
primäre Quelle für Missverständnisse zu
betrachten. Die Heterogenität, wie sie
an Hochschulen heute Alltag ist, bietet
gleichermaßen die Chance für interaktiven kommunikativen Austausch und
Basis für das Lernen voneinander. Dies
ist wiederum Voraussetzung um Plausibilität, Normalität, Routinehandeln und
Vertrauen (Bolten 2003:108) in solchen
Kontexten im Sinne von „etwas gemeinschaftlich machen“ (Bolten 2000:114)
überhaupt herstellen zu können.
Literatur
Bolten, J. (2011): Unschärfe und Mehrwertigkeit „Interkulturelle Kompetenz“ vor
dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. In: Hößler, U. / Dreyer, W. (Hrsg.):
Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht Verlag. S. 55-70.
Bolten, J. (2003): Kultur und kommunikativer Stil. In: Wengeler, M. / Stötzel,
G. (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte
nach 19945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven: Beiträge zu
einer Tagung anlässlich der Emeritierung Georg Stötzels. Hildesheim: Olms
(Germanistische Linguistik, 169/170),
S. 103-124.
Bolten, J. (2000): Können internationale Mergers eine eigene Identität
ausbilden?. In: Wierlacher, A. (Hrsg.):
Kulturthema Kommunikation. Möhnesee: Résidence Verlag, S. 113-120.
Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz Verlag.
Schumann, Adelheid
(2012): Interkulturelle
Kommunikation in der
Hochschule. Zur Integration
internationaler Studierender
und Förderung Interkultureller Kompetenz. Bielefeld:
Transcript Verlag.
258 Seiten.
Preis 29,80 EUR.
ISBN 978-3-8376-1925-6.
Hochschulrektorenkonferenz (2008): Die
deutschen Hochschulen in der Welt und
für die Welt. Internationale Strategie der
Hochschulrektorenkonferenz – Grundlagen
und Leitlinien URL: http://www.projekt-q.
de/de/projekte_und_initiativen/5198.php
[Zugriff am 12. August 2012].
Rathje, S. (2010): Training / Lehrtraining.
In: Weidemann, A. / Straub, J. / Nothnagel,
S.(Hrsg.): Theorien, Methoden und Praxis
in der Hochschulausbildung. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 215-240.
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Rezension Review
Petia Genkova
„Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“
Stefan Strohschneider
Prof. Dr., Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation,
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Die Kulturvergleichende Psychologie
entstand in den 60er und 70er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts als Versuch, absolutistische Forschungstraditionen in der Psychologie aufzubrechen
und einem naiven Positivismus entgegenzuwirken, der die Ergebnisse einer
Untersuchung im heimatlichen (vor
allem US-amerikanischen) Labor ganz
unreflektiert als psychologisches Grundgesetz zu behandeln bereit war ( Jahoda
1990). Dementsprechend war eines der
vornehmsten Ziele dieses Unternehmens das Explorieren und Testen – das
Erkunden der Vielfalt menschlichen Erlebens und Verhaltens und die Prüfung
der Gültigkeit vermeintlich universeller
Gesetze in anderen kulturellen Kontexten. Diesem recht fröhlich vorgetragenen Angriff auf den kulturignoranten
Mainstream psychologischer Forschung
gelangen zunächst eine Reihe spektakulärer Erfolge, beispielsweise Marshall
Segalls Nachweis, dass die Müller-LyerTäuschung – eine der heiligen Kühe
der Wahrnehmungspsychologie – in
Lebenswelten, in denen es keine rechten
Winkel gibt, nicht nachweisbar ist (Segall / Campbell / Herskovits 1966). Das
machte Schule. Es folgten, wie üblich,
die Gründung einer Fachgesellschaft,
einer eigenen Zeitschrift, regionaler und
internationaler Kongresse usw.
Trotzdem gelang es der Kulturvergleichenden Psychologie nie, so richtig
ernst genommen zu werden. Das hatte
und hat verschiedene Gründe. Viele
Psychologen glauben, nur dann richtige Wissenschaftler zu sein, wenn sie
die Phänomene, die sie interessieren,
sauber messen können. Das Messen von
Einstellungen, Werten oder Verhaltensweisen ist aber schon im eigenen Labor,
wo man die meisten Störvariablen unter
Kontrolle hat, recht schwierig. Die
Schwierigkeiten potenzieren sich natürlich, wenn man mit Forschungspartnern
(wie das so schön heißt) arbeitet, die
noch nie ein Labor gesehen haben, die
nicht wissen, wie ein Fragebogen oder
ein Test funktioniert und die sich einfach weigern, bestimmte Verhaltensweisen aufzuführen, wenn ein Forscher mit
Kamera danebensteht. Kulturvergleichende Psychologie gilt daher methodischen Sauberkeitsfanatikern als inhärent
schmutzig. Ein zweiter Grund liegt
sicherlich in der aktuellen Dominanz
der neurowissenschaftlichen Perspektive
auch in der Psychologie. Für jemanden,
der Theorien über Aktivitätsmuster in
bestimmten Regionen des Neocortex
entwickelt, sind Kulturunterschiede
bestenfalls Oberflächengekräusel, das
man nicht wirklich ernst nehmen muss.
Und aus der Perspektive der Kulturwissenschaften schließlich macht sich die
Kulturvergleichende Psychologie trotz
allem der Sünde der unzulässigen Vereinfachung schuldig, indem sie hochkomplexe Bedeutungsstrukturen und
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Prozessdynamiken in billige, dekontextualisierte Variablen zu pressen versucht
(außerdem versteht man die Veröffentlichungen wegen vielen multivariaten
Statistik nicht)1.
Schade eigentlich. Aus der Sicht der Interkulturellen Kommunikation nämlich
hat die Kulturvergleichende Psychologie Vieles anzubieten, was weit über
die Hofstede’schen Wertedimensionen
hinausgeht. Das gilt beispielsweise für
Studien über das alte, bei weitem noch
nicht gelöste Problem des Verhältnisses
von Sprache und Denken, das gilt für
Untersuchungen zur Kulturabhängigkeit von Problemlösestilen, zur unterschiedlichen Wichtigkeit verschiedener
Motive, das Empfinden und Zeigen von
Gefühlen, die ganze Palette sozialen
Handelns, bis hin zur Frage ob es nicht
doch so etwas wie einen Nationalcharakter gibt (von dessen Existenz man
ja in außerwissenschaftlichen Kreisen
überzeugt ist). Theorie und Praxis der
Interkulturellen Kommunikation könnten von kulturvergleichenden Befunden
zu solchen und anderen Themen enorm
profitieren – wenn sie denn in griffiger
Form verfügbar wären. Zumindest im
deutschen Sprachraum allerdings ist die
Lage düster. Die äußerst verdienstvolle
„Kulturvergleichende Psychologie“ von
Alexander Thomas (1993) ist mittlerweile fast 20 Jahre alt und die rund
2000 Seiten der drei kulturvergleichenden Psychologie gewidmeten Bände
der Enzyklopädie der Psychologie2 sind
zwar deutlich jünger und ein immenser
Schatz, dürften aber für Nichtpsychologen eher abschreckend wirken
(im englischen Sprachraum sieht die
Situation übrigens nicht sehr viel anders
aus3). Umso erfreuter ist man also, wenn
nun in einem renommierten Verlag ein
neues Lehrbuch „Kulturvergleichende
Psychologie“ erscheint, dessen Untertitel „Ein Forschungsleitfaden“ Hilfe zur
Bewältigung der notorischen methodischen Probleme verspricht.
Petia Genkova hat ihr Buch in sechs
Hauptkapitel gegliedert, wobei das
erste naturgemäß der Gegenstandsbestimmung dient. Hier findet man
eine Zusammenstellung verschiedener
Definitionen von Kulturvergleichender
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Psychologie (KvP), den Versuch der
Abgrenzung von KvP und Kulturpsychologie (die, nicht vergleichend, nach
dem Verhältnis von Kultur und Psyche
fragt), man findet eine Diskussion des
Kulturbegriffs und schließlich eine
bunte Sammlung von Paradigmen und
Forschungsansätzen. Das sehr umfangreiche zweite Kapitel behandelt einige
der methodischen Probleme kulturvergleichender Forschung. Hier findet man
eine Diskussion der klassischen Gütekriterien, die Darstellung inferenzstatistischer Methoden in der kulturvergleichenden Forschung4, einige Aussagen
zu Problemen der Stichprobenzusammenstellung und eine Übersicht über
qualitative Verfahren. Die verbleibenden Kapitel sind dagegen eher inhaltlich
orientiert. Das dritte fragt nach der
Existenz universeller kultureller Muster
und man liest hier z. B. (wenig überraschend) von der Struktur von Wertsystemen, aber auch (eher überraschend)
über den Nationalcharakter. Das nächste Kapitel setzt sich – recht kritisch
– mit der in der kulturvergleichenden
Forschung dominierenden Dimension
von Individualismus und Kollektivismus
auseinander und dann folgt (sehr überraschend) ein Kapitel über Autoritarismus, ein Konzept, das vor 40 Jahren en
vogue war, in der aktuellen Forschungslandschaft aber überhaupt keine Rolle
mehr spielt. Das sehr kurze abschließende Kapitel schließlich beschäftigt sich
mit der „subjektiven Kultur“.
Eine Kritik des Bandes kann bereits an
der Gliederung ansetzen: Von einem
„Forschungsleitfaden“, wie es der Untertitel verheißt, würde man eigentlich eine
strukturierte Anleitung zur Durchführung empirischer Untersuchungen erwarten. Von der Auswahl und
Eingrenzung geeigneter Themen und
passender Forschungsstrategien bis hin
zur Interpretation empirischer Befunde
– und dies alles unter Berücksichtigung
der spezifischen Probleme kulturvergleichender Arbeit. Eine derartige Orientierung bietet der Band nicht, auch wenn
das Methodenkapitel dem statistisch
und messtheoretisch vorgebildeten
Leser einige Anregungen zumindest
zur Konstruktion von Messinstrumenten vermitteln wird. Ein „Lehrbuch“,
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wie es der Reihentitel verheißt, ist der
Band andererseits auch nicht. Von
einem Lehrbuch würde man ja neben
methodischen Handreichungen vor
allem einen Überblick über die wesentlichen Forschungsfelder und Befunde
erwarten. Die Autorin schreibt selbst
(Genkova 2012:49), dass die KvP in
den Forschungsfeldern „Entwicklung,
Intelligenz, Persönlichkeit, Kognition,
Sprache, Emotionen, Wahrnehmung,
soziales Verhalten, Motive [usw., S.S.]“
verankert wäre – nichts davon findet
sich im Text.
Nun wäre das vielleicht alles nicht so
schlimm, wenn die Darstellung der
theoretischen, konzeptionellen und
methodischen Grundlagen der KvP,
um die es der Autorin vor allem zu
gehen scheint, gelungen wäre. Hier
allerdings enttäuscht der Text, der sich
durchgängig als vollkommen unstrukturierte Nebenordnung von Themen,
Thesen und Inhalten erweist. Besonders
schmerzlich ist dies in der einleitenden
bunten Sammlung von Paradigmen
und Forschungsansätzen der KvP. Das
beginnt mit dem ethnografischen Ansatz
und geht über Soziobiologie, die soziokulturelle Schule, den ökokulturellen Ansatz
und vieles andere bis hin zu etwas, was
sich integrativer Ansatz nennt. Alles
dieses wird unverbunden nebeneinander gestellt, manchmal mit 10 Zeilen
abgehandelt, manchmal mit drei Seiten
und dürfte den Leser insgesamt ziemlich
ratlos zurücklassen. Eine vergleichende Betrachtung, eine Diskussion der
metatheoretischen Hintergründe der
verschiedenen Positionen, ihrer Stärken und Schwächen unterbleibt. Ihre
eigene Position präsentiert die Autorin
dann relativ unvermittelt am Ende das
Kapitels: „Der einzige Weg, diese Komplexität [von Kultur, S.S.] empirisch zu
verifizieren, ist, mit sehr genauen, konkreten, operationalisierbaren Konstrukten zu arbeiten. Dann [sic!, S.S.] sind
auch Vergleichbarkeit und Universalität
der Ergebnisse gewährleistet“ (Genkova 2012:50). Man fragt sich schon,
warum man sich durch die 50 Seiten
davor durchgekämpft hat, wenn das
Ergebnis ein derartig schlichter induktiver Positivismus ist, der die aktuellen
Diskussionen um den Kulturbegriff und
die Methoden der Kulturforschung, die
in der Ethnologie, der Kulturanthropologie und nicht zuletzt der Interkulturellen Kommunikation geführt werden,
auch nicht ansatzweise rezipiert5.
Die mangelhafte Strukturierung des
Textes zeigt sich auch in den reichlich
über den Text verstreuten grau unterlegten Kästen und Zwischentexten, deren
Funktion nicht klar wird. Manchmal
führen diese einen völlig neuen Sachverhalt ein, manchmal erklären sie einen
Begriff, manchmal fassen sie zusammen,
manchmal erläutern sie eine Untersuchung oder eine Methode. So findet
man rätselhafte Formulierungen wie
„Individualismus / Kollektivismus sind
Konstrukte auf Kulturebene, die eine
Rubrik von Mustermerkmalen repräsentieren“ (Genkova 2012:146) ebenso
grau unterlegt wie eine unkommentiert
dargebotene Serie von Programmanweisungen für das Statistikpaket SPSS
(ebd.:79). Dazu gesellen sich verschiedene inhaltliche Probleme. Beispielsweise ist die Frage nach der Zusammenstellung vergleichbarer Stichproben
– anders als auf Seite 88 behauptet
– eines der größten Rätsel inferenzstatistisch angelegter kulturvergleichender
Forschung überhaupt. Viele empirische
Untersuchungen arbeiten mit Studenten in ihren ersten Studiensemestern als
Probanden. Das mag bei einem Vergleich Deutschland – Großbritannien
akzeptabel sein, da in beiden Ländern
ein ähnlicher Prozentsatz an jungen
Menschen eines Jahrgangs die Universität besucht. Im Vergleich Deutschland
– USA wird das schon schwieriger und
bei einem Ländervergleich, bei dem
in einem Land nur 4 Prozent (statt 40
Prozent) eines Jahrganges eine Hochschule besuchen, sinnlos. Man könnte
über Strategien nachdenken, wie man
mit solchen forschungspraktischen Problemen umgeht, man könnte Anleihen
bei empirisch arbeitenden Nachbardisziplinen (kognitive Anthropologie,
Linguistik, Volkskunde / Kulturgeschichte) machen, man könnte die
relativen Erkenntnisbeiträge qualitativer
und quantitativer Verfahren in diesem
Zusammenhang neu interpretieren –
aber man findet nichts davon in diesem
107
Buch; Genkova bleibt innerhalb ihrer
sehr engen disziplinären Grenzen.
Matsumoto, D. (2012): Culture and Psychology. New York: Oxford University Press.
Vollends ärgerlich schließlich wird das
Buch durch die bestenfalls als schlampig
zu bezeichnende Lektorierung: Man
findet falsch geschriebene Fachbegriffe („Substentiell“, Genkova 2012:35,
„dichotomische Daten“, ebd.:77), man
liest auf S. 11 oben und S. 13 unten
zweimal denselben Absatz (wobei aber
offenbar copy-and-paste-Fehler passiert
sind), man stolpert immer wieder über
sinnlose Sätze („Die adäquate Repräsentation einer Population vermutet
Stratifikation“, ebd.:88) oder zumindest
stilistisch grob fehlerhafte („Eine der
wichtigsten Methoden, um Kulturen
zu analysieren, stellt die Untersuchung
zur Überprüfung der Art und Weise
der wertenden oder konnotativen
Meinungen der Menschen, wie Wörter
gebraucht werden, dar.“ ebd.:138). Es
handelt sich bei diesen Zitaten keineswegs um böswillig herausgepickte
Einzelfälle, derartige Verschwurbelungen durchziehen den gesamten Text. Es
ist dem Rezensenten unverständlich,
warum ein als „Lehrbuch“ beworbenes
Werk verlagsseitig offenbar nicht einmal
ansatzweise korrigiert worden ist.
Matsumoto, D. (2001): Handbook of culture
and psychology. New York: Oxford University Press.
Der Band „Kulturvergleichende Psychologie – ein Forschungsleitfaden“
wird wegen derartiger Mängel auch bei
eingefleischten Statistikfreunden wenig
Freude erzeugen, auf Studierende, Forscher und Praktiker der Interkulturellen
Kommunikation wird er abschreckend
wirken. Schade – Chance vertan.
Literatur
Berry, J. W. / Poortinga, Y. H. / Pandey,
J. (1997): Handbook of Cross-Cultural
Psychology. Boston: Allyn & Bacon.
Genkova, P. (2012): Kulturvergleichende
Psychologie: Ein Forschungsleitfaden. Wiesbaden: Springer Lehrbuch, VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
Jahoda, G. (1990): Variables, systems and
the problem of explanation. In: van de
Vijver, F. J. R. / Hutschemaekers, G. J. M.
(Hrsg.): The investigation of culture. Current
issues in cultural psychology. Tilburg: Tilburg
University Press, S. 115-130.
108
Segall, M. H. / Campbell, D. T. / Herskovits, M. J. (1966): The influence of culture
on visual perception. Indianapolis: BobbsMerrill.
Thomas, A. (1993): Kulturvergleichende
Psychologie: Eine Einführung. Göttingen:
Hogrefe.
Trommsdorff, G. / Kornadt, H.-J. (2007):,
Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich
C, Serie VII: Kulturvergleichende Psychologie. Band 1: Theorien und Methoden der
kulturvergleichenden Psychologie; Band
2: Erleben und Handeln im kulturellen
Kontext; Band 3: Anwendungsfelder der
kulturvergleichenden Psychologie. Göttingen:
Hogrefe.
van de Vijver, F. J. R. / Leung, K. (1997):
Methods and data analysis for cross-cultural
research. London: Sage.
Endnoten
1. Wenigstens der ebenfalls oft erhobene
Vorwurf, die kulturvergleichende Psychologie setze Kultur ganz unhinterfragt
mit Nation gleich und müsste eigentlich
ländervergleichende Psychologie heißen trifft
nicht mehr ganz zu. Hier ist ein vorsichtiges
Umdenken zu beobachten, demzufolge
auch Untersuchungen an subnationalen
Kollektiven kulturvergleichend sein können.
2. Gisela Trommsdorff und Hans-Joachim Kornadt (Hrsg.), Enzyklopädie der
Psychologie, Themenbereich C, Serie VII:
Kulturvergleichende Psychologie. Band 1:
Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie; Band 2: Erleben und
Handeln im kulturellen Kontext; Band 3:
Anwendungsfelder der kulturvergleichenden Psychologie. Göttingen: Hogrefe 2007.
3. Der einschlägige Klassiker stammt aus
dem Jahre 1997 ( J.W. Berry, Y.H. Poortinga
& J. Pandey (Eds). Handbook of CrossCultural Psychology. Boston: Allyn &
Bacon; 3 Bände); ebenfalls weitverbreitet
ist das Handbuch von David Matsumoto
(Matsumoto, D. (Ed.). Handbook of culture
and psychology. New York: Oxford University Press), ursprünglich 2001, in der 5.
Auflage 2012 unter dem Titel „Culture and
Psychology“.
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
4. In diesem Abschnitt lehnt sich die
Autorin sehr eng an eine vielzitierte Arbeit
von van de Vijver und Leung an (van de
Vijver, F. J. R. & Leung, K. (1997). Methods
and data analysis for cross-culturalre-search.
London: Sage.)
Genkova, Petia (2012):
Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden.
Wiesbaden: Springer Lehrbuch, VS Verlag für Sozialwissenschaften.
238 Seiten.
Preis 24,95 EUR.
ISBN 978-3-531-18117-2.
5. Vielleicht hat das auch damit zu tun,
dass das Buch vor allem auf Arbeiten
basiert, die von den Vorreitern des Faches
(Berry, Triandis, Segall und anderen) in den
80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts
publiziert wurden. Eine Durchsicht des Literaturverzeichnisses zeigt, dass es nur ganz
vereinzelt Referenzen gibt, die eine 2 als
erste Ziffer des Erscheinungsjahres haben.
Die oben erwähnten Enzyklopädiebände
scheinen der Autorin entgangen zu sein.
109
110
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Rezension Review
Hilal Sezgin
„Deutschland erfindet sich neu. Manifest der Vielen“
Susanne Stemmler
„Multikultur 2.0. Will-kommen im Einwanderungsland
Deutschland“
Sara Dirnagl
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
an der Professur für interkulturelle Kommunikation und Konfliktforschung an der Universität
der Bundeswehr München
Im Jahr 2010 löste Thilo Sarrazin mit
seinem Buch „Deutschland schafft sich
ab“ eine Debatte in Deutschland aus,
deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer
sich häufig in die Fangemeinde einreihten, weil endlich jemand den Mut habe,
die Dinge zu benennen wie sie sind.
Wie aber kann es sein, dass ein deutlich
auf Rassismen beruhendes Buch derartigen Zuspruch und größte Aufregung
verursacht? Wie kommt es, dass gerade
dieses Werk eine Migrationsdebatte auslöst? Spiegelt es tatsächlich die Meinung
einer Mehrheit und welche Alternativen
gibt es in der Beschreibung von kultureller Vielfalt?
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich zwei Sammelbände, die
die gängigen Diskussionen um Migration und Integration aufgreifen und aus
verschiedenen Perspektiven beobachten
und analysieren.
Wie schon der Titel „Deutschland
erfindet sich neu“ suggeriert, ist der von
Hilal Sezgin herausgegebene Band dabei
als Antwort auf Sarrazins Thesen und
die dadurch offenbar werdende Debatte
zu verstehen. Diese sei, so die Autorinnen und Autoren, einseitig polemisch
und zeichne sich insbesondere durch
pauschale Kategorisierungen und eine
fehlende Gleichberechtigung innerhalb
der Diskussion aus.
Wenn in der Öffentlichkeit eine Diskussion über bestimmte Mitglieder der
Gesellschaft geführt wird und dabei
essentialistische Gruppen- und Fremdzuschreibungen zu einer verstärkten
Abgrenzung führen, dann ist es von
besonderer Bedeutung auch diejenigen
zu Wort kommen zu lassen, die jene
Fremdzuschreibung selbst erfahren. Das
Buch setzt sich daher aus unterschiedlichsten Artikeln einer Autorenschaft
zusammen, die sich als „im weitesten
Sinne muslimische Intellektuelle“
(Peters 2011:9) vorstellt. Autorinnen
und Autoren aus Kultur, Wissenschaft
und Politik kommen zu Wort, um ihre
eigene Sicht zu beschreiben. Dabei
zeigen viele das Dilemma auf, in dem sie
sich immer wieder befinden: die Diskrepanz zwischen einer ihnen auferlegten
Fremdzuschreibung und tatsächlicher
Individualität. Das Ergebnis ist eine
umfangreiche Sammlung persönlicher
Erfahrungen und Reflektionen der
durch die genannte Debatte entstehenden oder in ihr sichtbar werdenden
Probleme. Begründete Kritik äußern
sie insbesondere an der diffusen Nutzung von Begrifflichkeiten und die
dadurch entstehende Reduzierung von
Individuen auf einzelne Merkmale. So
beispielsweise die Gleichsetzung von
Kultur, Religion und Ethnizität oder
von Migrant und Muslim. Des Weiteren
wird die Unmöglichkeit eines Vergleichs
zwischen etischen, zumeist negativ
111
besetzten Beschreibungen des Islams einerseits und einer emischen Definition
des Deutschseins andererseits aufgezeigt. Mittels einer mediengestützten
Popularisierung von Ängsten würden
Mitglieder der Gesellschaft auf diese
Weise herabgesetzt und ihr produktiver
Einfluss auf die Gemeinschaft missachtet. Integration erschiene so als leerer
Begriff, der lediglich eine einseitige
Assimilation an die Mehrheit fordert.
Die Motivation zum von Susanne
Stemmler herausgegebenen Buch
„Multikultur 2.0. Willkommen im
Einwanderungsland Deutschland“
entstand ursprünglich bei dem 2009
durchgeführten internationalen Kongress „Beyond multiculturalism? Fragen
an die Einwanderungsgesellschaft“ des
Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.
Die nun vorliegende zweite Auflage fügt
sich zeitlich und thematisch passend in
eine Zeit, in der das Thema Migration
in Deutschland besonders intensiv
diskutiert wird. Im Vergleich zum
eben vorgestellten Werk, ist sie stärker
wissenschaftlich ausgerichtet und stellt
eine differenziertere Sicht auf Deutschland als Einwanderungsland und die
Entwicklung und Nutzung des viel
diskutierten Begriffs der Multikultur
dar. Es finden sich theoretische Diskussionen neben konkreten Handlungsvorschlägen und vielen Beispielen aus
Deutschland sowie im internationalen
Vergleich. Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Artikel gibt so einen
Überblick über die bisherige Forschung
und zeigt mögliche Anknüpfungspunkte für künftige Projekte auf. Auch hier
werden die Schwierigkeiten der aktuellen Debatte analysiert und versucht,
neue Konzepte des Zusammenlebens zu
entwerfen. So scheint es insbesondere
an einem zu statisch und essentialistisch
ausgelegten Kulturbegriff sowie einer
uninformierten Kategorisierung zu
liegen, dass sich Debatten dauerhaft
durch eine festgeschriebene Dichotomie
von Wir und die Anderen auszeichnen.
Der Multikulturalismus als politisches
Programm nach US-amerikanischen
Vorbild sei weder vollständig umgesetzt
worden noch seien die entsprechenden
Erfolge der heutigen Zeit angemessen.
Soziale Gerechtigkeit, gleichberechtigte
112
Teilhabe und Partizipation müssten genauso in der Gesellschaft implementiert
werden, wie ein grundlegendes Umdenken hinsichtlich der Diversität im eigenen Land. Ein geschlossener Blick auf
Migration, der dieses Phänomen stets
als regionales Phänomen verstehe, ließe
kein Umdenken dabei zu.
Obwohl sich die zwei vorgestellten
Sammelbände thematisch stark ähneln
und gemeinsame Argumentationstendenzen aufweisen, so unterscheiden sie
sich doch in der Form. Während Hilal
Sezgin mit ihrem Buch ein emotionsgeladenes Werk präsentiert, in dem
viele Autorinnen und Autoren zu Wort
kommen, die sich selbst direkt von der
gegenwärtigen Situation in Deutschland
betroffen fühlen, so ist „Multikultur
2.0“ mit mehr emotionalem Abstand
und wissenschaftlicher Klarheit geschrieben. Das begründet sich in den
jeweils verschiedenen Intentionen und
findet dementsprechend seine Berechtigung. Es lässt sich jedoch fragen, ob
es zielführend ist, einerseits die essentialistischen Kategorien der Debatte zu
enttarnen, andererseits jedoch ein Buch
zu veröffentlichen, in welchem lediglich
muslimische Autorinnen und Autoren
zu Wort kommen. Denn genau genommen handelt es sich dabei wieder um
eine Reproduktion der kategorischen
Einteilung und somit um eine implizite
Unterstützung des kritisierten Machtdiskurses.
Das Vorstellen neuer Forschungsansätze und Perspektiven ist in beiden
Büchern relevant, scheint aber nicht
das zentrale Anliegen zu sein. So soll im
„Manifest der Vielen“ denjenigen ein
medialer Raum gegeben werden, die
nach Meinung der Autorenschaft in der
öffentlichen Debatte eher marginalisiert
werden. In Susanne Stemmlers Buch
hingegen findet sich ein Überblick
über ein weitgefasstes Forschungsfeld,
das interdisziplinär und international
Beachtung findet und unter anderem
eine veränderte Wahrnehmung der Gegenwart anstrebt. Beide Werke können
einige namhafte Autorinnen und Autoren aufweisen und geben gemeinsam aus
unterschiedlichen Perspektiven einen
guten Überblick über eine aktuelle
interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 )
Sezgin, Hilal (2011):
Deutschland erfindet sich
neu. Manifest der Vielen.
Berlin: Blumenbar Verlag.
232 Seiten. Preis: 12,90
EUR.
ISBN 978-3-936738-74-2.
Stemmler, Susanne (2011):
Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungsland
Deutschland. Göttingen:
Wallstein Verlag. 336 Seiten.
Preis: 19,90 EUR.
ISBN 978-3-8353-0840-4.
Debatte. Sie ermöglichen es dem Leser
/ der Leserin den Blick zu öffnen und
können sehr gute Diskussionsimpulse
für verschiedene Themen der interkulturellen Kommunikation liefern (so
beispielsweise zu den Themen Selbstund Fremdbild, Migration, Identitäten,
Kultur und Religion, Multikultur,
Transkultur, Postkolonialismus, Medienkommunikation, Grenzen, Kulturwandel, u. v. m.). Beschäftigt man sich
mit der Migrationsdebatte in Deutschland, so sollten diese beiden Bücher
Beachtung finden.
Literatur
Peters, C. (2011): Geleitwort. In: Sezgin,
H. (Hrsg): Deutschland erfindet sich neu.
Manifest der Vielen. Berlin: Blumenbar
Verlag, S.7-10.
113
interculture j ourna l
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2012
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11
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19
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jürgen bolten
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