Beitrag lesen - Hebezeuge Fördermittel
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FLURFÖRDERZEUGE FLURFÖRDERZEUG-ENTWICKLUNG Bedienkonzepte in Virtueller Realität Neue, effektivere Bedienkonzepte für Flurförderzeuge können zur Erhöhung der Arbeitsleistung beitragen. Ob sie in der Praxis auch angenommen werden, ist im Vorfeld jedoch schwer einzuschätzen. Gewissheit bringen nur Probandentests, die allerdings erst bei Vorliegen eines Prototyps möglich sind. Um den Entwicklungsprozess schneller, aber auch sicherer zu gestalten, kommt zunehmend das Verfahren der Virtuellen Realität (VR) zum Einsatz. ➋ Staplersimulator: Steuerrechner und ■ Dr.-Ing. Carsten Harnisch Besondere Herausforderungen Trotz offenkundig ausgereizter Technik wird beim Blick auf die Details eines Gabelstaplers deutlich, dass auch heute noch echte Innovationen hervorgebracht werden. Mit solchen Innovationen kann die Umschlagleistung eines Staplers erhöht werden, ohne an der grundlegenden Fahrzeugkonzeption etwas zu verändern. In diese Kategorie fallen beispielsweise neue Bedienkonzepte, die einen einfacheren und effizienteren Einsatz der Geräte ermöglichen. Als einer der Vorreiter auf diesem Gebiet wird in der Fachwelt immer wieder die Jungheinrich AG genannt. In der Praxis bewährte Innovationen des in Hamburg ansässigen Unternehmens sind bei den Bedienelementen z. B. der JetPilot (Kommissionierer) und der Multipilot (Schubmaststapler). Hinzu kommen der auf der CeMAT 2005 vorgestellte weltweit erste elektromotori- Sichtrechner sche Gabelstapler mit Drehkabine sowie ein Prototyp des neuen JetPilot zur Bedienung von Gegengewichtstaplern. Wird die Entwicklung neuer Bedienkonzepte mit anderen Entwicklungsaufgaben verglichen, so ist hier eine besondere Herausforderung erkennbar. Neben den allgemein üblichen Aspekten, wie technische Realisierbarkeit, Sicherheit, gesetzliche Vorgaben oder Herstellungskosten, spielen menschliche Eigenarten, im Positiven wie im Negativen, eine entscheidende Rolle. Ein noch so gutes System benötigt im Markt die Akzeptanz des Anwenders – im Fall der Bedienkonzepte die des Staplerfahrers. Im Gegensatz zu den meisten anderen Entwicklungsaufgaben wird die Akzeptanz in diesem Feld weniger von objektiven Gesichtspunkten, sondern mehr von den individuellen geleitet. Die Vorteile eines neuen Bedienkonzeptes lassen sich schlecht an Hand technischer Daten erfassen. Sie er- schließen sich im Normalfall erst auf den zweiten oder dritten Blick. Erschwerend kommt hinzu, dass jedes neue Bedienkonzept vom Anwender eine Umgewöhnung erfordert. Daher werden viele Ansätze, althergebrachte Lösungen zu ersetzen, zunächst äußerst kritisch betrachtet. Umso mehr kommt es für den Hersteller darauf an, möglichst frühzeitig im Entwicklungsprozess den Kundennutzen zu optimieren, zu verifizieren und die Akzeptanz im Feld zu untersuchen. Um hier zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen, ist die Anwendung wissenschaftlicher Methoden unabdingbar. Für das Ergebnis ist es wesentlich, mit einer hinreichend großen Anzahl von Probanden unter reproduzierbaren und realitätsnahen Bedingungen zu arbeiten. Gleichzeitig besteht die Schwierigkeit, dass ein gefahrloser Probandentest erst bei einem hohen Reifegrad des Produktes gewährleistet werden kann. Dieser Reifegrad wird typischerweise aber erst gegen Ende der Entwicklung erreicht, wenn alle grundlegenden konzeptionellen Entscheidungen getroffen worden sind. Für größere Änderungen ist es dann meist zu spät. Bewertung des subjektiven Empfindens ist wichtig Im Jungheinrich-Konzern ist der Entwicklungsprozess klar gegliedert und verläuft in vorgegebenen Stufen von der ersten Planungsidee mit Pflichtenheft, über Handskizzen, grafische Computermodelle, Handlingmodelle bis hin zum funktionsfähigen Prototypen. Auf diesen Prototypen – unter Berücksichtigung von Feinkorrekturen – basiert schließlich die Serienentwicklung. Es ist offensichtlich, dass sich mit diesem konventionellen Ansatz wesentliche Eigenschaften erst mit dem Prototypen testen und optimieren lassen. Hier besteht ohne Zwei- ➊ Staplersimulator: Projektionssystem mit Fahrzeug 498 www.hebezeuge-foerdermittel.de · Hebezeuge und Fördermittel, Berlin 46 (2006) 10 FLURFÖRDERZEUGE fel ein hohes Entwicklungsrisiko, das sich mit den herkömmlichen Methoden kaum reduzieren lässt. Bei primär technisch geprägten Fragestellungen im Entwicklungsprozess haben sich Simulationsverfahren etabliert. Mit ihrer Hilfe lassen sich wesentliche Produkteigenschaften bereits in einem frühen Entwicklungsstadium verifizieren. Die größte Verbreitung haben die Finite-ElementeMethode (FEM), die Mehrkörpersimulation (MKS), aber auch universelle Simulationstools, wie Matlab/Simulink, gefunden. Allerdings versagen diese Methoden in den Bereichen, in denen subjektives menschliches Empfinden eine Rolle spielt. Eine Bewertung dieses subjektiven Empfindens auf Basis von Messwerten oder Simulationsdaten ist nur mit Einschränkungen möglich. So existiert bis heute kein Modell des Menschen, das geeignet wäre, alle individuellen Gesichtspunkte in geeigneter Weise zu berücksichtigen. Faktisch existieren zwischen den einzelnen Individuen erhebliche Unterschiede, die gerade auch im Hinblick auf die Bediensicherheit berücksichtigt werden müssten. Dazu gehören u. a. Alter, Ausbildung, körperliche Merkmale, motorische Fähigkeiten, persönliche Präferenzen u.v.a.m. Diese Schwierigkeiten sind seit langem bekannt und werden durch die immer kürzeren Entwicklungszeiten und den hohen Kostendruck weiter verschärft. Ein Lösungsansatz, der speziell in der Automobilindustrie mittlerweile eine hohe Bedeutung hat, ist der Einsatz von Verfahren der Virtuellen Realität (VR). Die grundlegende Idee ist dabei, eine direkte Interaktion zwischen dem virtuellen Prototypen und dem Menschen zu ermöglichen. Eine spezielle Klasse stel- ➌ Screenshots der Datenbasis (Beispiele) len hierbei die Fahrsimulatoren dar, die in vielfältiger Hinsicht genutzt werden. Beispiele für deren Einsatzmöglichkeiten sind u. a. der Test und die Optimierung von Bedienelementen und Fahrerassistenzsystemen, die Beurteilung der Sichtverhältnisse oder Beleuchtungseinrichtungen sowie die Einschätzung des Fahrverhaltens. Der wesentliche Fortschritt der Ergonomieentwicklung bei Flurförderzeugen unter Nutzung von Fahrsimulatoren liegt darin, dass sehr frühzeitig im Entwicklungsprozess auf interaktive Modelle zurückgegriffen und der Mensch als späterer Nutzer in den Prozess integriert werden kann. Hebezeuge und Fördermittel, Berlin 46 (2006) 10 · www.hebezeuge-foerdermittel.de Entwicklung und Einsatz eines Fahrsimulators Jungheinrich hat diesen Trend aufgegriffen und erstmalig einen Fahrsimulator im Rahmen der Vorentwicklung des neuen JetPilot für Gegengewichtstapler eingesetzt. Im Rahmen des Projektes „JetPilot“ wurde im Auftrag des Unternehmens am Institut für Fahrzeug- und Antriebssystemtechnik (IFAS) der Helmut-Schmidt-Universität (HSU) Hamburg ein Gabelstapler-Fahrsimulator entwickelt und aufgebaut. Dieser Simulator besteht aus drei wesentlichen Elementen (Bilder ➊ und ➋ ): 499 FLURFÖRDERZEUGE einer Verladerampe, vor der ein zweiter LKW zur Beladung bereitsteht. Alle Regale sowie die LKW können nach Belieben mit Paletten beladen werden. Außerordentlich erfolgreich und zugleich spektakulär war der Einsatz des Simulators auf der CeMAT 2005 zur Präsentation des neuen JetPilot (Bilder ➍ und ➎ ). Das neue Bedienkonzept von Jungheinrich konnte im Simulator einer großen Anzahl von Besuchern nahe gebracht werden, die so die Vorteile des neuen JetPilot selbst „erfahren“ konnten. Der Simulator erwies sich zudem als wertvolles Hilfsmittel, um ein erstes Feedback durch potenzielle Kunden zu erhalten. Die Besucher wurden im Anschluss an die Testfahrten im Simulator gebeten, ➍ Attraktion: Staplersimulator auf der CeMAT 2005 䉴 Sichtsystem Steuerrechner 䉴 Originalfahrzeug mit JetPilot. Die Berechnung der Grafik erfolgt über sechs Sichtrechner. Drei der so berechneten Teilbilder werden über professionelle Auflichtprojektoren, die einen Sichtbereich von 180° (dreimal 60°) abdecken, auf eine kugelförmig gekrümmte Leinwand projiziert. Dadurch wird auch der so genannte periphere Sichtbereich abgedeckt, der für die Geschwindigkeitswahrnehmung entscheidend ist. Ein vierter Projektor wird dazu genutzt, den Bereich der Gabeln abzudecken. Im Gegensatz zu konventionellen Fahrsimulatoren muss beim Gabelstapler auch der Bereich unten vor dem Fahrzeug sichtbar sein, um bei der Lastaufnahme die Gabelspitzen sehen zu können. Die verbleibenden Sichtkanäle werden für einen Rückspiegel und eine Außenansicht des Fahrzeugs genutzt. Als Steuerrechner wird ebenso wie bei den Sichtrechnern ein handelsüblicher PC verwendet. Da die Berechnung der Kollisionen in Echtzeit sehr aufwändig ist, kommt hier ein leistungsfähiges 3,4-GHz-System zum Einsatz. Neben der Fahrdynamikberechnung, der Ansteuerung des Sichtsystems und der Kommunikation mit dem Fahrzeug wird hier auch der Sound berechnet. Basierend auf dem Verfahren der Wavetable-Synthese werden für die Simulation aufgezeichnete Geräusche (Samples) des Originalfahrzeugs verwendet. Die Kommunikation zwischen Fahrzeug und Steuerrechner erfolgt bidirektional über eine CAN-Schnittstelle. Dazu ist im Steuerrechner eine handelsübliche CAN-Karte eingebaut. Die aktuellen Stelldaten der Bedienelemente (Lenkradwinkel, Fahrpedalstellung usw.) werden vom Fahrzeug an den Fahrdynamikrechner übertragen. Umgekehrt werden aktuelle Zustandsgrößen des Fahrzeugs, wie die Fahrgeschwindigkeit oder die Mastposition, an das Steuergerät 䉴 500 und damit auch an die Anzeigeinstrumente des Fahrzeugs übergeben. Grundsätzlich bestand der Anspruch, alle Interaktionsmöglichkeiten zwischen Gabel und Palette abzubilden. Dies erfordert zum einen ein umfassendes Kollisionsmodell, bei dem alle relevanten Kontakte (GabelLast, Gabel-Regal, Last-Boden, Gabel-Boden usw.) erkannt und korrekt behandelt werden, zum anderen ein physikalisches Modell, bei dem Stoß- und Kontaktkräfte (z. B. Reibung) in einer angemessenen Form berücksichtigt werden. Die besondere Schwierigkeit bestand darin, dass alle Vorgänge in Echtzeit berechnet werden müssen. Das zu simulierende Jungheinrich-Originalfahrzeug, ein Elektrofrontstapler vom Typ EFG 425s mit JetPilot, verfügt über ein Steer-by-Wire-System, bei dem die Lenkübersetzung dynamisch an den Fahrzustand (Fahrgeschwindigkeit) angepasst wird. Zur Beurteilung des Lenkverhaltens ist daher eine realitätsnahe Abbildung sowohl der Fahrdynamik als auch der Lenkung notwendig. Dies umfasst die Simulation der geschwindigkeitsabhängigen Lenkübersetzung und die Abbildung des Zeitverhaltens des Lenksystems. Präsentation des neuen JetPilot Neben der Simulation des Fahrzeugs spielt schließlich auch die virtuelle Umgebung, in der sich der Stapler bewegt, eine wichtige Rolle. Die Datenbasis wurde speziell für die Anforderungen an eine Staplersimulation erstellt. Dargestellt wird ein virtuelles Betriebsgelände, auf dem typische Betriebssituationen nachgestellt werden können (Bild ➌ ). So existiert ein Außenbereich mit Freiflächen und einem quer zu beladenden LKW. Hinter einem automatischen Rolltor befindet sich eine Rampe, über die eine Halle mit Regalen befahren werden kann. Der Innenbereich bietet den Zugang zu www.hebezeuge-foerdermittel.de ➎ JetPilot mit den wesentlichen Bedienfunktionen (Bilder: Jungheinrich) verschiedene Fragen zu beantworten. Am Ende der Messe lagen so fast 100 Kundenbefragungen aus allen relevanten Zielgruppen vor. Der Simulator bot zudem die Möglichkeit, den Besuchern bei der Bedienung direkt „auf die Finger zu schauen“. Auf der Basis der Befragung sowie umfangreichen Beobachtungen konnten ein umfangreiches Stimmungsbild sowie eine Reihe von Erkenntnissen gewonnen werden, die helfen, Details für das spätere Serienprodukt zu optimieren. Trotz der Nutzung der Verfahren der Virtuellen Realität wird auch in Zukunft im Entwicklungsprozess nicht auf Prototypen verzichtet werden können. Der Jungheinrich-Elektrofrontstapler mit JetPilot wird seit der CeMAT 2005 in diversen Feldversuchen bei unterschiedlichen Kunden intensiv auf seine Akzeptanz im Markt getestet. Bei weiterhin sehr guter Resonanz wird die Studie voraussichtlich im Jahr 2007 zur Serienreife entwickelt werden. ■ Dr.-Ing. Carsten Harnisch ist Gruppenleiter Test und Nachweise bei der Jungheinrich AG in Hamburg · Hebezeuge und Fördermittel, Berlin 46 (2006) 10