Niederlage - Sieg - Neubeginn. Frühjahr 1945
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Niederlage - Sieg - Neubeginn. Frühjahr 1945
Rolf-Dieter Müller Endkampf im Reichsgebiet? Die Bedeutung der Oderlinie im Frühjahr 1945 Auch diese Veranstaltung ist Teil des Gedenkens an das Kriegsende vor 60 Jahren. Es ist meist die Stunde der Zeitzeugen und ihrer persönlichen Erinnerungen sowie ein Nachdenken über die Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Ich möchte die Position des Historikers einnehmen, der sich nüchtern um eine Rekonstruktion und Deutung der Ereignisse bemüht und sich besonders herausgefordert fühlt, wenn Geschichtsbilder erstarren oder gar zu Klischees und Legenden zerfließen. Vertraute Bilder der Vergangenheit in Frage zu stellen, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Historikers. Das besinnliche Gedenken an einem solchen Jahrestag wird – davon bin ich überzeugt – durch eine solche Herangehensweise nicht gestört, sondern eher inspiriert und vertieft. Welche Vorstellung haben wir eigentlich von den militärischen Ereignissen im Frühjahr 1945? Gerade in den Gedenkreden und in den von Zeitzeugen geprägten Fernsehdokumentationen dieser Tage wird der Eindruck einer Gewaltorgie vermittelt, die insbesondere über den Osten Deutschlands hinwegbrauste, ein sinnloses Blutbad, in dem Soldaten von verantwortungslosen Offizieren in den Tod gehetzt wurden und die Zivilbevölkerung hilflos zwischen die Räder einer mörderischen militärischen Maschinerie geriet. Der erfolgreiche Spielfilm „Der Untergang“ fokussierte vor wenigen Monaten dieses Bild auf die letzten Tage Hitlers in der Reichskanzlei. Dass der Diktator am liebsten alle mit in den Tod gerissen hätte, die Wehrmacht und das ganze deutsche Volk, ist wohl wahr. Was hatte er denn mit seiner immer wieder öffentlich verkündeten Parole, ein November 1918 werde sich nicht wiederholen, gemeint? Mit der Beschwörung des „Endsiegs“ und der Ankündigung von „Wunderwaffen“ konnte er sich vielleicht Zeit verschaffen, aber auch die „treuesten“ Führeranhänger waren sich seit dem Scheitern der Ardennenoffensive darüber im klaren, dass der Schlußakt des Krieges begonnen hatte. Natürlich konnte man das Nachdenken über den Tag X verdrängen. Aber jeder, der nicht wie Hitler insgeheim an einen Selbstmord dachte, musste eine Vorstellung vom Überleben entwickeln, sei es eine bloße Hoffnung als Lichtblick im täglichen Kampf ums Überleben oder sogar konkrete Planungen. Industriefirmen z.B., wir wissen es schon lange, bereiteten sich auf diesen Tag vor, wer konnte, suchte einen Ort im Windschatten der bevorstehenden Schlacht, einen idyllischen Kurort im Schwarzwald vielleicht. 10 Als Militärhistoriker frage ich natürlich zuerst nach der Haltung der Generalität. Für sie galt, wie für alle „Volksgenossen“, dass anders als im Ersten Weltkrieg eine offene Diskussion über die Beendigung des Krieges nicht möglich gewesen ist. Aber keine Armee der Welt hat sich je bis zum letzten Mann aufgeopfert, und die meisten Offiziere hatten ein Kriegsende bereits 1918 erlebt. Damals hatte man mit dem Rückzug auf die Reichsgrenze den Kampf beendet. Sollten sie wirklich glauben, dass die Fortsetzung auf deutschem Boden, zwischen Oder und Rhein, doch noch das Blatt wenden könnte? In ihren Memoiren haben sie jedenfalls meist den Eindruck erweckt, daß der Kampf zumindest im Osten mit aller Härte bis zum letzten Tag des Krieges geführt worden ist, um die ostdeutsche Bevölkerung zu retten. Ich möchte meine Überlegungen am Handeln von zwei Männern festmachen, Protagonisten des NS-Regimes, die gleichwohl nach Kriegsende eine gewisse Wertschätzung behalten haben. Einer ist Heinz Guderian, der letzte Generalstabschef des Heeres und in dieser Funktion im Frühjahr 1945 militärisch verantwortlich für die Ostfront. Er verkörpert jene Offiziere, die im Spielfilm Hitlers Erwartungen manchmal widersprechen, sich ihm letztlich aber immer wieder beugen. Der andere ist Albert Speer, Liebling des Führers und Schöpfer des Rüstungswunders, der scheinbar einzige sympathische Nazi in Hitlers Umgebung. Nach der Darstellung in seinen Memoiren hat er im Frühjahr 1945 mit einigen Mühen erfolgreich verhindert, dass Hitler sein Vorhaben, aus Deutschland „verbrannte Erde“ zu machen, verwirklichen konnte. Der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann hat dagegen kürzlich in der ZEIT behauptet, Speer hätte sich aber für einen fanatischen Endkampf auf dem Reichsgebiet eingesetzt, für ein „unermessliches Blutbad, die Vernichtung von Millionen Menschen an Rhein und Oder“. Er sei also schlimmer noch als Himmler und Goebbels gewesen, die für sofortige Verhandlungen mit dem Westen plädierten. Dieses – wie er meint – letzte Geheimnis glaubt er einer Denkschrift vom 18. März 1945 entnehmen zu können, mit der Speer für Hitler die Endphase des Krieges zu beschreiben versuchte. Wir werden sehen, dass es sich um eine klassische Fehlinterpretation handelt. In dem Papier geht es vielmehr darum, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Ostfront zu stärken und dem Volk einen glimpflichen Übergang in die Nachkriegszeit zu ermöglichen. Was steckt hinter diesem Unternehmen „Schlussstrich“, wie Speer seine Überlegungen seit Beginn der sowjetischen Weichsel-Oder-Operation Mitte Januar 1945 bezeichnet? Meine Absicht ist es, in einer Skizze aufzuzeigen, welche Bedeutung die Oderfront für das von allen Seiten bedrängte „Dritte Reich“ einnahm. War der militärische Einsatz eine sinnlose Operation von verantwortungslosen Generalen, die insgeheim hofften, den Kampf nach dem zu erwartenden Tod Hitlers womöglich mit den Westmächten fortsetzen 11 zu können – das Halten der Oderfront also als Voraussetzung für eine Umkehr der Koalitionen? In der wissenschaftlichen Literatur finden wir kaum überzeugende Deutungen. Andreas Hillgruber, der 1989 verstorbene große Weltkriegshistoriker, hat in seiner umstrittenen Schrift „Zweierlei Untergang“, mit der er programmatisch eine nie vollendete Darstellung des Kriegsendes ankündigte, erklärt: Für den deutschen Patrioten blieb angesichts der alliierten Kriegsziele nach dem Scheitern des Staatsstreiches vom 20. Juli 1944 nur noch der Verzweiflungskampf zur Rettung des Reiches – trotz Hitler. Meine ehemaligen Kollegen Jürgen Förster und Manfred Messerschmidt sehen wie andere Historiker die militärische Führungselite der Wehrmacht in einer ausweglosen Lage, und sie organisierte den Untergang fanatisch und gewissenlos. Sie können auf eine Reihe von Ansprachen und Befehlen höchster Militärs verweisen, die von diesem Geist zeugen. Lässt sich das verallgemeinern, oder starren wir womöglich nur auf eine rhetorische Fassade? Neuere Forschungen zeigen den Auflösungsprozeß innerhalb der Wehrmacht, die Entmachtung der Militärelite und ein Kampfgeschehen, hinter dem keine irgendwie sinnvolle Strategie zu erkennen sei. Tatsache ist jedenfalls, dass die Wehrmacht trotz Hitlers Haltebefehle nicht bis zum letzten Mann kämpfte, weder an Oder und Rhein noch im Inneren Deutschlands, sondern sich bei feindlichen Großangriffen meist zurückzog, im Westen rasch auflöste und nach Aufgabe der Oderfront danach trachtete, die Elbe zu erreichen, sich insgesamt einzuigeln versuchte und dort, wo intakte Strukturen erhalten werden konnten, geordnet durch Teilkapitulationen der Vernichtung zu entgehen verstand. Der befürchtete „Endkampf“ zwischen Oder und Rhein reduzierte sich auf relativ schnelle Vorstöße der Roten Armee sowie der Anglo-Amerikaner, die nach Hitlers Tod innerhalb weniger Tage die Gesamtkapitulation brachten. Ich möchte zunächst in einem kurzen Überblick die Entwicklung militärischer Planungen zur Reichsverteidigung im Osten betrachten und dazu weiter zurückgreifen, um den Erfahrungshorizont der militärischen Führungselite zu erfassen. Daraus möchte ich im zweiten Teil die konkrete Situation im Frühjahr 1945 entwickeln und Strategien der Kriegsbeendigung aufspüren, die hinter dem allgemein verbreiteten Bild eines blutigen Zusammenbruchs verschwunden sind. Krieg im eigenen Lande ist für jedes Volk eine traumatische Erfahrung. Für Deutschland bildete der 30jährige Krieg in dieser Hinsicht das schlimmste Beispiel. Die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts hatten einen völlig anderen Charakter, und auch der Befreiungskrieg gegen die 12 napoleonische Fremdherrschaft hielt sich in Grenzen. Ansätze von Landwehr und Landsturm, orientiert am spanischen Beispiel, währten nur kurze Zeit. Danach war Deutschland für ein Jahrhundert „feindfrei“. Woher kam die Bedrohung des Reiches? Die Westgrenze am Rhein war tausend Jahre lang, blickt man auf die Römerzeit sogar zweitausend Jahre, heftig umkämpft. Unzählige Burgen und Festungen künden noch heute von dieser früheren „Erzfeindschaft“. Im Osten dagegen wurde Deutschland niemals elementar bedroht. Selbst den Einmarsch der russischen Armee im 7jährigen Krieg kann man nicht darunter zählen. Mit der Erweiterung Preußens auf Kosten polnischer Gebiete behielten die alten Ordensfestungen und die neuen Garnisonen eine gewisse Bedeutung. Das deutsch-russische Bündnis im Rahmen der Heiligen Allianz machte Festungsbau überflüssig. Überall in Europa wurden die alten Stadtbefestigungen aufgelassen. Wegen der französischen Gefahr baute man dagegen im Rhein neue Festungsanlagen, z.B. in Koblenz. Eine Veränderung im Osten erfolgte erst nach der Reichsgründung, als sich der Generalstab auf die Möglichkeit eines deutsch-russischen Krieges einstellen musste. Eine systematische Befestigung der Ostgrenze schien aber nicht erforderlich zu sein. Lediglich Königsberg und Lötzen wurden als Reduit in Ostpreußen ausgebaut bzw. modernisiert. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sorgte man für einfache Grenzsicherungen und plante die Reaktivierung der alten Festungsstädte. Im Schlieffen-Plan war bekanntlich vorgesehen, das Problem eines Zweifronten-Krieges so zu lösen, daß man zeitweilig im Osten zur Verteidigung übergehen wollte, um mit einer Offensive im Westen die eigentliche Entscheidung des Krieges herbeizuführen. Das Russlandbild der deutschen Militärs ließ im Osten eine starke Defensive als überflüssig erscheinen. Die Zarenarmee galt nicht als ernsthafter Gegner. Der Verlauf des Ersten Weltkrieges entsprach im wesentlichen diesen Erwartungen. Der erste Ansturm der Russen konnte bei Tannenberg mit einem grandiosen Sieg gestoppt werden. Durch eine offensive Kriegführung wurde Rußland bis 1917 geschlagen. Im Westen dagegen scheiterte der deutsche Angriff und lief sich in Grabensystemen fest, die erst 1918 von den Westmächten mit Hilfe der Amerikaner zerbrochen wurden. Die im Osten siegreiche Armee zog sich auf die Rheingrenze zurück und gab den Kampf auf. Im Sommer 1919 wurde die Fortsetzung des Kampfes von Teilen der Militärelite erwogen, wobei man sich auf die ostelbischen und ostdeutschen Gebiete stützen wollte. Die Oder hätte die Verteidigungslinie gegen die Franzosen bilden sollen. Der Versailler Vertrag setzte solchen Illusionen ein Ende. Im Westen wurde eine entmilitarisierte und entfestigte Zone festgelegt - ein breites Einfalltor für westliche Invasoren. An den übrigen Grenzen war der 13 Ausbau von Festungen verboten, mit Ausnahme eines Reduits für die Reichsmarine in der Ostsee und im Oder-Warthe-Gebiet gegenüber Polen. Die Krise von 1923 zeigte, dass die Reichswehr im Westen keinen Verteidigungskrieg mit Aussicht auf Erfolg führen konnte. Doch der Osten bot Bewegungsspielraum. Das geheime Bündnis mit Sowjetrussland bot Rückhalt gegenüber Polen. Im Kriegfalle würde die Reichswehr im Westen zu halten versuchen, im Osten aber eine Entscheidung mit Hilfe der Roten Armee erzwingen können. 1924 entwickelte Joachim v. Stülpnagel im Truppenamt sein Konzept des „Flächenkrieges in tiefsten Räumen“. Er warb für einen „Befreiungskrieg“ auf deutschem Boden zwischen Rhein und Oder nach dem Vorbild von 1813. Mit Hilfe einer Ermattungsstrategie sollte Zeit gewonnen werden, bis das Eingreifen der Briten oder Russen eine Rückkehr zur klassischen Vernichtungsstrategie möglich machen würde. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte im Hinterland des Feindes ein Volkskrieg entfesselt werden, notfalls auch mit Gas und Bakterien. Das Konzept eines Verzweiflungskampfes zwischen Oder und Rhein, mit der Hoffnung auf Hilfe von außen, hatte sicher wenig Attraktivität. Bei ihrer systematischen Kriegsvorbereitung seit 1925 setzte die Reichswehr auf das Konzept „Innerdeutschland“. Hier zwischen Elbe und Oder sollte künftig der Schwerpunkt der Reichsverteidigung liegen. Durch eine Konzentration der Rüstungsindustrie hoffte man den Raum für längere Zeit halten zu können. Gegenüber Polen sicherte man sich mit dem Bau des Ostwalls der Oder-Warthe-Linie sowie dem Pommernwall. Gegenüber den Franzosen konnte man sich letztlich nur auf die Elbe-Linie abstützen. Wenn es gelang, die Zufuhr über See dank britischer Neutralität offen, Polen mit Hilfe der Sowjetarmee in Schach zu halten, dann ließe sich vielleicht die Zeit bis zum Eingreifen des Völkerbundes überbrücken. Für das Nazi-Regime konnten solche Lösungen nur die Schwächephase der stürmischen Kriegsvorbereitung ab 1933 überbrücken. Das Kriegsdenken jener Zeit blieb aber stark am Beispiel der Maginot-Linie orientiert. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges schienen Festungslinien einen sicheren Rückhalt zu bieten. Der Gedanke einer offensiv geführten Schlacht setzte sich auch in Deutschland erst allmählich durch. Bei seinem Kurs in den Krieg wollte Hitler auf neue Befestigungslinien im Osten und Westen daher nicht verzichten. Das Vertrauen in die Blitzkriegstaktik eines Guderian entwickelte sich erst mit ihrem Erfolg. Bis Ende 1941 hielt keine Befestigungs- oder Verteidigungslinie den Attacken deutscher Panzerkorps stand. Nach einem Siegeszug ohnegleichen brachte erst der russische Winter Guderian zum Stehen. Als er Hitlers Haltebefehl ignoriert, fiel er in Ungnade. Nun zeigte sich, dass der Diktator in der Krise mit Risikoscheu und Sturheit reagierte, im Zweifel die Rückkehr zum Stellungskrieg bevorzug- 14 te, ohne Vertrauen zu seinen Generalen, die für eine bewegliche Verteidigung plädierten, in der Hitler aber stets nur einen Vorwand für den Rückzug erkennen wollte. Diese Konstellation prägte das Verhältnis zwischen dem Obersten Befehlshaber und seinen Operateuren bis in die letzten Kriegstage hinein. Selbst in der Phase der Blitzfeldzüge investierte Hitler enorme Mittel zur Absicherung seiner Eroberungen. Er blieb bei seinem Festungsdenken und machte einen bezeichnenden Unterschied. Seine „Festung Europa“ sollte gegenüber den angelsächsischen Mächten durch einen „Atlantikwall“ verteidigt werden, in Beton gegossener Anspruch auf Unbezwingbarkeit und Ewigkeit. Nach Osten aber folgte seinen Armeen die Vorstellung eines neuen Ostwalles, der, anders als das Vorbild an der alten deutschen Grenze, nicht aus ständigen Befestigungen bestehen sollte. Gedacht war an eine Kette von Stützpunkten und Garnisonen am Ural, von denen aus Expeditionen ins wilde Sibirien unternommen werden konnten. Der unerwartete Rückschlag vor Moskau im Dezember 1941 machte solche Utopien hinfällig. Hitler reagierte bekanntlich mit sturen Haltebefehlen und glaubte sich durchaus im Recht mit seiner Auffassung, dass ein Rückzug nur auf vorbereitete Linien sinnvoll ist. Der Generalstab des Heeres, ab sofort nur noch für die Ostfront zuständig, blieb gleichwohl beim Prinzip der beweglichen Verteidigung. Hitler dagegen drängte immer stärker auf den Aufbau fester Fronten, allerdings ohne den Rückhalt ausgebauter Linien. Das Jahr 1943 brachte insofern die Wende, da sich die Wehrmacht außerstande zeigte, die vermeintliche Festung Stalingrad zu entsetzen, und sich auch beim „Unternehmen Zitadelle“ erwies, dass Guderians Panzertruppen nicht mehr die Fähigkeiten hatten, tiefgestaffelte Verteidigungslinien zu durchbrechen. Dieses Scheitern der letzten deutschen Großoffensive im sowjetischen Abwehrfeuer bestärkte Hitler in seiner Auffassung, dass eine starre Verteidigung durchaus erfolgreich sein kann. Mit dem Entschluss, den Schwerpunkt jetzt auf die Abwehr einer Invasion im Westen zu legen, musste der Generalstab eine Ausdünnung der Ostfront und der operativen Reserven hinnehmen. Dennoch kämpfte er darum, nicht alle Kräfte in starren Verteidigungslinien zu binden. Unter Ausnutzung von Flußläufen und ausgebauten Feldstellungen sollte versucht werden, mögliche sowjetische Offensiven aufzuhalten, um dann nach einer erfolgreichen Invasionsabwehr größere operative Kräfte wieder für einen Gegenschlag zur Verfügung zu haben. Der Generalstab plädierte vergeblich für eine Verkürzung der Front, um Reserven für den Fall feindlicher Durchbrüche bilden zu können. Als Generalinspekteur der Panzertruppen drängte Guderian darauf, die festgelegten Verteidigungslinien so stark wie möglich auszubauen und zu befestigen, um mehr Kräfte als Reserven freizubekommen. Hier 15 stimmte Hitler im Prinzip zu, doch neigte er dazu, solche Reserven gleich wieder für andere Zwecke einzusetzen. Wenn Guderian, der bislang selbst alle feindlichen Verteidigungslinien durchstoßen hatte, plötzlich für den massiven Ausbau von Stellungen eintrat, dann bedeutete das keineswegs einen völligen Sinneswandel. Er dürfte sich keine Illusion darüber gemacht haben, wie belastbar ein solcher provisorischer Ostwall sein würde. Wichtiger wären eben ausreichende Reserven, um feindliche Durchbrüche abzufangen und zurückzuwerfen. Guderian wollte zudem die alten deutschen und russischen Festungen reaktivieren und rückwärtige Verteidigungszonen weit im Hinterland errichten, auf die durchbrochene Frontverbände zurückweichen könnten. Hitler lehnte noch im Januar 1944 solche eindeutig Vorstellungen ab: „Glauben Sie mir! Ich bin der größte Festungsbauer aller Zeiten. Ich habe den Westwall errichtet; ich habe den Atlantikwall errichtet. Ich habe so und so viel Tonnen Beton eingebaut. Ich weiß, was Festungsbauen bedeutet. Für den Osten fehlt es an Arbeitskräften, an Material, an Transportmitteln. Die Eisenbahn reicht schon jetzt nicht aus, um die Front zu versorgen. Da kann ich nicht auch noch die Züge mit Baustoffen an die Front transportieren.“ Im Übrigen würden seine Generale zu schnell an Rückzug denken, wenn er hinter ihrer Front feste Stellungen oder Festungen bauen ließe. Im Westen hatte Hitler von vornherein alles auf die Verteidigung des Atlantikwalles gesetzt. Über den Ansatz operativer Reserven wurde lange gestritten, und es war Rommel, der andere Haudegen von 1940, der im Widerspruch zu seinem Kameraden Guderian darauf drang, die Reserven möglichst dicht hinter der Front zu dislozieren und alle Kräfte darauf zu richten, die erste Linie am Strand zu verstärken – ein Konzept, das auch Hitlers Vorstellungen entsprach, freilich nur zu einem Kompromiss führte. Zumindest ein Teil der Panzerverbände wurde weit im Hinterland für einen möglichen operativen Gegenschlag stationiert. Das Scheitern der Invasionsabwehr bewies, das auch dies kein Patentrezept war, weil unter den Bedingungen der alliierten Luftherrschaft eine weiträumige bewegliche Verteidigung nicht erfolgreich geleistet werden konnte. Rommel sah nur noch den Ausweg, Hitler zu einer politischen Lösung des Krieges aufzufordern. Gleichzeitig brach bekanntlich durch die „Operation Bagration“ die Heeresgruppe Mitte im Osten zusammen, eine Megakatastrophe für die Wehrmacht, mit der die Reichsgrenze unmittelbar in Gefahr geriet. Jetzt fehlte es sowohl an operativen Reserven, die im Westen nicht freigeworden waren, als auch an ausgebauten rückwärtigen Sicherungen. Die Truppen fluteten zurück und wurden von der russischen „Dampfwalze“ förmlich überrollt. Die Idee Hitlers, sog. „Feste Plätze“ einzurichten, Städte also im Kampfgebiet zu benennen, auf die sich Truppen zurückziehen konnten um gleichsam Wellenbrecher zu bilden, erwies sich als nutzlos. 16 Rommel hatte kurz vor seiner Verwundung beabsichtigt, die Front im Westen zu öffnen und die Ostfront unbedingt zu halten, ähnlich wie der militärische Widerstand um Stauffenberg. Das bedeutete eine vergleichbare Strategie zur Kriegsbeendigung wie Ende 1918, vorausgesetzt, die Alliierten würden einen geordneten Rückzug der Wehrmacht auf den Westwall zulassen und zu einer Verhandlungslösung bereit sein. Das mag aus heutiger Sicht unrealistisch erscheinen, doch die Handelnden klammerten sich an diese Hoffnung. Nach dem Scheitern des Staatsstreiches hatte Guderian als neuer Generalstabschef des Heeres auf politischer Bühne eine unrühmliche Rolle gespielt. Aber gleichzeitig entwickelte er fieberhafte Aktivitäten, um die Ostfront zu stabilisieren und die alte Weichsel-Linie von 1940 zu reaktivieren. Offenbar hing auch er der Vorstellung an, dass man die Ostgebiete des Reiches unbedingt schützen und einen Einmarsch der Roten Armee verhindern müsste. Dafür sei notfalls die Westfront zu entblößen, was einen Sonderfrieden mit den Alliierten erleichtern könnte. Jedenfalls berichtet er in seinen Memoiren, dass Hitler nicht an die Chance eines Sonderfrieden glaubte und daher auf eine Entscheidungsschlacht im Westen setzte. So konnte Guderian zwar die längst aufgelöste Festungsabteilung des Generalstabs wieder einrichten, die Aufstellung von speziellen Festungstruppen organisieren und die alten Bauwerke an der Ostgrenze des Reiches reaktivieren. Doch Hitler schickte die neuen Truppen sogleich nach Westen in Marsch, um dort die Front zunächst zu stabilisieren und dann eine Gegenoffensive zu führen, mit der Absicht, die Alliierten in den Atlantik zu werfen. Das Ergebnis ist bekannt: Der Westwall hielt den späteren Vormarsch der Alliierten nicht auf und im Osten blieben die Festungslinien bis zum letzten Augenblick unbesetzt. Der Diktator setzte also ganz auf eine Entscheidung im Westen und erwartete von der Ostfront weiteres Ausharren an festen Fronten, die es nur auf dem Papier gab. Alle weiteren Vorbereitungen zur Verteidigung der Reichsgrenze litten am Mangel vorhandener Kräfte. Lediglich der Bau eines neuen Führerhauptquartiers in Jonastal/Thüringen erhielt höchste Priorität und sollte bis zum 20. April 1945 fertiggestellt sein. Hitler blieb bei seinem Konzept, keinen Meter Boden preiszugeben, die Truppen notfalls wie in den sog. Atlantikfestungen, im Kurland und in der Ägäis zurückzulassen und so – wie er meinte – Faustpfänder in der Hand zu behalten. Lediglich die Idee einer Alpenfestung nahm Gestalt an, auf die sich die Truppen südlich der Donau und aus Südosteuropa sowie Italien zurückziehen könnten. Auch hier blieb es im wesentlichen bei Erkundungen, weil Hitler dem Gedanken an einen möglichen „Endkampf“ auswich und deshalb ein rechtzeitiges Ausweichen der Truppen auf vorbereitete Stellungen untersagte. Freilich, an der Option, nach einem Zusammenbrechen der Ost- und Westfront und der 17 Besetzung der Mitte Deutschlands von dieser ominösen Alpenfestung aus fortzusetzen, hielt Hitler bis zum April 1945 fest. Es schien lange die wahrscheinlichste Variante für die Schlußphase des Krieges zu sein. Der Generalstabschef der Luftwaffe hatte im Herbst 1944 in einer Denkschrift verdeutlicht, dass ein Festklammern an Rhein und Oder nur bei einem Vorrang für die Luftverteidigung gewisse Erfolgsaussichten haben würde. Ohne ein schützendes Dach würde das Kerngebiet Deutschlands den Abwehrkampf an den großen Flüssen nicht unterstützen können. Koller wusste, dass Hitlers Versprechungen nicht viel Wert waren und demissionierte. Inzwischen konnten die alliierten Bomber jeden Punkt in Deutschland pulverisieren. Auf die Aussicht vertröstet, nach einem Erfolg in den Ardennen die strategischen Panzerverbände wieder zur Stützung der Ostfront zur Verfügung zu stellen, ließ Guderian zur Sicherung der Reichsgrenze ein tiefgestaffeltes Stellungssystem an Weichsel-Narew-Oder errichten. Die relative Ruhe im Mittelabschnitt über fast vier Monate bot die Chance, mit eigenen Kräften durchgehende Feldbefestigungen anzulegen. Es handelte sich meist nur nur um mehrere Schützengraben-Linien und Drahtverhaue, dennoch hoffte Guderian darauf, dem Feind auf diese Weise verlustreiche Durchbruchsschlachten aufzwingen und Einbrüche durch operative Gegenstöße beseitigen zu können. Die Kräfte dafür blieben ihm freilich verwehrt, im Gegenteil, mühsam zusammengefasste Reserven wurden für andere Fronten abgezogen, z. B. für den Kampf um Budapest. So blieb nur die Besetzung einer dünnen Hauptkampflinie. Die bis in 300 km Tiefe erkundeten Stellungen waren meist nur Striche auf den Lagekarten. In seinem Misstrauen gegenüber den Generalen bestand Hitler wie stets darauf, alle greifbaren Reserven zur Verteidigung der vordersten Linie einzusetzen, so daß der rückwärtige Verteidigungsraum leer blieb. Guderian wollte die frontnahen Reserven in einem Mindestabstand von 20 km hinter der Front bereithalten, um sie der feindlichen Feuerwirkung zu unterziehen. Hitler beharrte dagegen auf einem Abstand von 2 km, wo sie naturgemäß schon bei der Abwehr des ersten Angriffs verbraucht wurden. Die Planung und Vorbereitung rückwärtiger Stellungen folgte womöglich auch anderen Absichten, so meine These, die ich im folgenden skizzieren möchte. Am 28.11.1944 befahl Guderian bereits die Vorbereitung eines letzten Rückhalts, die Erkundung der „Nibelungen“-Stellung entlang der Linie Pressburg-Brünn-Olmütz-Glatz-Frankfurt/Oder-Küstrin-Stettin. Außerdem reaktivierte er den Oder-Warthe-Bogen und den Pommernwall aus 20/30er Jahren. Sie erhielten zumindest Vorfeldstellungen. Die längst desarmierten Befestigungen neu mit schweren Waffen auszustatten, ließ die Rüstungslage nicht zu. Sollte die Weichsel-Stellung nicht zu 18 halten sein, konnten aber die Verbände des Ostheeres mit dem Ziel, diese neuen Stellungen rechtzeitig besetzen zu müssen, um von dort den Abwehrkampf weiter zu führen, rechtzeitig und intakt ausweichen. Das bedeutete eine mögliche Entschärfung des ewigen Ringens zwischen Hitlers Haltebefehlen und dem Interesse des Generalstabs um Rettung des Ostheeres, vor allem sicherte sich Guderian damit persönlichen Spielraum. Mit der weiträumigen Planung von Stellungssystemen und dem Drängen des Generalstabs, diese rückwärtigen Linien zumindest mit Ersatztruppenteilen zu besetzen, demonstrierte Guderian einerseits gegenüber dem Diktator glaubwürdig die Entschlossenheit, die gestellte Aufgabe – das Halten der vordersten Linie – lösen zu wollen. Andererseits sorgte er dafür, dass die Himmler als neuem Befehlshaber des Ersatzheeres unterstehenden Einheiten nach vorn in den Verantwortungsbereich des Feldheeres verlegt wurden. Damit entzog er dem „treuen Heinrich“ die Kräfte für einen möglichen totalen Krieg innerhalb des Reichsgebietes und blockierte eine Machtübernahme durch die SS mit Hilfe des Ersatzheeres. Als Hitler seinen Vorschlag, die Idee eines Landsturmes wiederzubeleben, aufgriff, den sog. Volkssturm aber der Partei unterstellte, fand Guderian Wege, um auch diese Kräfte in den „Schutz“ des Feldheeres zu ziehen. Da die Ausrüstung des Ersatzheeres alle verfügbaren Waffen verschlang, konnten nur wenige Volkssturm-Bataillone des 1. Aufgebots ausgerüstet und bewaffnet werden. Sie wurden der Wehrmacht eingegliedert, der Rest blieb waffenlos eine gewisse Verfügungsmasse für die Gauleiter. Es war vorgesehen, sie erst im letzten Augenblick aufzurufen. Der Volkssturm löste sich dann aber bei Annäherung des Feindes meistens auf und spielte militärisch keine große Rolle in der Schlussphase des Krieges. Ein weiterer Punkt in diesem Kräftespiel kam hinzu. Mit der Benennung von Festungsbereichen und Festungen übernahm die Wehrmacht die höchste Gewalt auch im eigenen Hinterland, eigentlich gegen die ursprüngliche Absicht Hitlers und der Gauleiter. Es verschaffte den einzelnen Befehlshabern und Kommandanten einen gewissen Spielraum, die Kontrolle über die Mobilisierung der Bevölkerung auszuüben und dann bei feindlichen Angriffen mit den unterstellten Truppen so rechtzeitig zu kapitulieren, dass große Verluste, auch unter der Zivilbevölkerung, vermieden wurden. In den zahlreichen Richtlinien und Befehlen des OKH wurden notwendige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verteidigung genannt (Bevorratung, Ausrüstung, Stellungsbau, Besatzung etc.), die ein Kommandant aber selten vorfand. Für eine Übergabe ließen sich dann genügend Gründe anführen – wenn man nur wollte und das Spiel gegen Partei und SS riskierte. Beispiele für unterschiedliches Verhalten zeigten sich in Königsberg und Breslau, wobei anzumerken ist, daß die 19 schlesische Hauptstadt nur deshalb gehalten werden konnte, weil Hitler – entgegen seiner Gewohnheit – alle Anstrengungen unternahm, um die Besatzung zu verstärken. Ob Guderian und der Generalstab wirklich an einen Erfolg der Ardennen-Offensive und eine Wende des Krieges geglaubt haben, sei dahingestellt. Der anfängliche deutsche Erfolg hatte insofern fatale strategische Auswirkungen, weil sich damit der alliierte Angriff auf das Reich um mehr als drei Monate verzögerte. Eine wie auch immer vorstellbare Öffnung der Westfront würde damit erst im Frühjahr 1945 möglich sein. Das letztliche Scheitern der Offensive wiederum band die operativen Panzerverbände unerwartet lange, so dass die sowjetische Schlussoffensive gegen das Reich von den bestehenden schwachen Verteidigungslinien im Osten aufgefangen werden musste. Weil sich – wie zu erwarten – bei dem Ansturm Mitte Januar 1945 die Weichsellinie innerhalb weniger Tage auflöste und es an operativen Reserven mangelte, begann der Rückzug auf die Oderlinie. Der schnelle sowjetische Vormarsch überflügelte nicht selten die deutschen Verbände und schuf bedrohliche Brückenköpfe. Der Generalstab drängte Hitler, die frei werdende 6. SS-Panzerarmee zur Stärkung der Oderlinie einzusetzen, doch der „Führer“ hatte andere Pläne. Er wollte sich durch eine Offensive am Plattensee Entlastung verschaffen. Die zeitweilige Verlegung dieser Verbände in den Raum Cottbus mag aber dazu beigetragen haben, dass Stalin einen möglichen Durchmarsch unterließ. Um so mehr musste der Generalstab darum bemüht sein, aus der Oderlinie als Auffanglinie eine belastbare Hauptkampflinie zu machen. Daher erklären sich die fieberhaften Bemühungen, aus allen Richtungen Kräfte zu mobilisieren. Noch waren die Amerikaner und Briten nicht imstande, ihrerseits den weiten Vormarsch auf Berlin anzutreten. Guderian verfolgte seine Strategie weiter und hatte bereits zum 1. Januar 1945 Dresden zum Festungsbereich erklären. Noch sah es so aus, dass möglicherweise die „Festung“ Breslau und damit die Oderlinie schon bald fallen könnten. Wer einen selbstzerstörerischen totalen Kampf im Herzen Deutschland verhindern wollte, musste mit einer Strategie der Kriegsbeendigung darauf zielen, im Osten solange zu halten, bis ein alliierter Vormarsch im Westen den Kampf beenden würde, notfalls die Masse des Ostheeres zu retten und zur Westfront zurückzuführen. So begann der Generalstab noch im Februar mit dem Ausbau eines Verteidigungsstreifens unter dem bezeichnenden Namen „Hagen“-Stellung, in Anlehnung an die Elbe von Prag über Dresden, Magdeburg nach Stendal. Beiderseits der Elbe sollte eine 30 km tiefe Sperrzone errichtet werden, auf die sich das Feldheer notfalls zurückziehen konnte. Auf Fragen nach dem Verhalten gegenüber dem aus Westen anrückenden Feind, hielt sich das OKH bedeckt. Gleichwohl wurde z.B. in Dresden 20 eine Rundumverteidigung mit 4 Divisionen vorbereitet, und die Verantwortlichen im Festungsbereich hofften selbstverständlich darauf, dass die Amerikaner vor den Russen die Stadt erreichen würden. Seit dem 21. 2. 45 wurde der Verteidigungsbereich Dresden zusammen mit den Brückenköpfen Riesa, Torgau, Wittenberg direkt vom OKH geführt. Daneben zeichnete sich ein böhmisches Refugium unter Schörner als Vorfeld einer möglichen Alpenfestung ab. Hitler selbst hätte sich zu diesem Zeitpunkt entschließen können, das bedrohte Berlin zu verlassen und den Kampf von der Alpenfestung aus weiterzuführen. Die schnelle Reparatur der Fernmeldeverbindungen, die durch den schweren Luftangriff auf Dresden zerstört worden waren, sorgte dafür, dass Hitler in den nächsten Wochen von Berlin aus die Kontrolle über den Südraum behielt. Sein Ausweichen in die Alpen hätte einen schnellen Vormarsch der Alliierten im Westen blockieren und zu endlosen Kämpfen im süddeutschen Raum führen können. Guderian ergriff nun die Initiative und verbündete sich mit Albert Speer, zu dem schon seit langem enge Kontakte bestanden. Speer hatte, wie Guderian auch, Ende Januar 1945 bei einem Besuch an der zerbrechenden Front in Oberschlesien verstanden, dass nun der Schlußakt des Krieges begonnen hatte. Im engen Schulterschluss mit der Industrie hatte er dafür gesorgt, daß größere Zerstörungen unterblieben. Seine gegenüber Hitler unverdächtige Taktik entsprach der Guderians im militärischen Bereich. Speer konnte argumentieren, dass seine Rüstungsfabriken möglichst bis zur letzten Minute produzieren sollten, um die Front unterstützen zu können. Im Falle einer drohenden Besetzung sollten durch den Ausbau wichtiger Teile nur Lähmungsmaßnahmen durchgeführt werden. Denn wenn Hitler an eine Wiedereroberung dachte, dann mussten die Fabriken schnell wieder in der Lage sein, ihre Produktion erneut aufzunehmen. Für die Industrie hatte das den Vorteil, daß die wertvolle Stammbelegschaft nicht für Stellungsbau oder den Volkssturm durch die Partei abgeordert werden konnte und die Rüstungsstellen in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht arbeitsfähig blieben. Es ging für Speer hierbei nicht um taktische Maßnahmen, sie waren Teil einer Operation „Schlussstrich“, die über einen Zeitraum von mehreren Monaten angelegt gewesen ist. Zunächst stimmte er Hitler mit einer Denkschrift darauf ein, dass nach dem Fall Oberschlesiens die deutsche Rüstungsproduktion nach wenigen Wochen zum Erliegen kommen würde. Er leitete damit den Erwartungsdruck des Diktators von sich ab und liquidierte im Stillen sein „Rüstungswunder“, das Hitler in den letzten drei Jahren zum Durchhalten motiviert hatte. Speer löste seine zentrale Rüstungsorganisation auf und übertrug die Verantwortung auf Männer der Wirtschaft, die in Erwartung des Kriegsendes möglichst autarke Regionen schaffen sollten. Es ist die Inselbildung, die sich auch im militärischen Bereich abzeichnete. Speer stattete 21 seine Regionalbeauftragten mit umfassenden Vollmachten aus und setzte die Sorge um das Überleben der Bevölkerung an erste Stelle. Außerdem ermutigte er den Diktator ausdrücklich, unbedingt in Berlin zu bleiben und von dort aus die Abwehr an der Ostfront zu organisieren. Hitler schien die Macht zu entgleiten, denn es begannen schon hinter den Kulissen geheime Verhandlungen zwischen Wehrmacht, SS sowie den Alliierten um eine Teilkapitulation in Norditalien. Als Anfang März 1945 die Plattensee-Offensive scheiterte und die Alliierten am 7. März über die Brücke von Remagen zum Sprung über den Rhein ansetzten, kam es zum Schwure. Guderian und Speer drangen gemeinsam auf Hitler ein, um Handlungsfreiheit zu bekommen. Der Generalstabschef plädierte im Zeichen des bevorstehenden Kriegsendes für die Räumung der unhaltbaren Außenposten in Italien, Nordjugoslawien, im Baltikum und in Norwegen. Vordergründig würde durch die Evakuierung der Truppen natürlich die Reichsverteidigung gestärkt werden können. Da die Russen keine Eile zeigten, den direkten Vorstoß auf Berlin wieder aufzunehmen, konnte die Oderlinie weiter ausgebaut und so womöglich verstärkt werden. Schon jetzt wurde die Rheinfront systematisch geschwächt und der Ostfront fast 30 Divisionen zugeführt. Unterstützend legte Speer eine neue Denkschrift vor, die natürlich dafür plädierte, die bestehenden Fronten zu verteidigen, um Zeit zu gewinnen für einen irgendwie „günstigen“ Ausgang des Krieges (auch so eine Formulierung, die Schwendemann im Sinne von „Endsieg“ missversteht). Speer machte aber zugleich deutlich, daß der Kampf nur noch für etwa vier Wochen materiell unterstützt werden könnte. Guderian und Speer hatten eine Vollmacht Hitlers vorbereitet, um nach einem Durchbruch der Fronten Zerstörungen der zivilen Infrastruktur nur auf taktisch zwingende Ausnahmen zu begrenzen und im Reichsgebiet keine „verbrannte Erde“ herbeizuführen. Auch die bereits begonnene Evakuierung der Bevölkerung aus dem Rheingebiet, die im Zentrum Deutschlands das Chaos verstärken würde, sollte gestoppt werden. Speer beschwor die historische Verantwortung der politischen Führung für das Überleben des Volkes und rechnete sich wahrscheinlich aus, dass ihm der väterliche Freund die Abwicklung des Krieges übertragen könnte. Ribbentrop, Goebbels, Himmler, Göring – sie alle suchten bereits eifrig nach Kontakten mit den Westmächten, doch nur Speer verfügte über eine Reputation, die ihn in den Augen der Alliierten zum Liquidator des Krieges befähigen könnte. Hitler freilich war noch nicht zur Aufgabe bereit. Guderian wurde seines Postens enthoben, jeder – und gehörte er zur höchsten Führungsriege – der künftig davon sprach, dass der Krieg verloren sei, wurde vom „Führer“ mit der Todesstrafe bedroht. Er wies auch Speer brüsk zurück und erließ nach Absprache mit Bormann den berüchtigten „Nero“Befehl, der unter maßgeblicher Verantwortung der Partei für eine völlige 22 Zerstörung der zivilen Lebensgrundlagen im Reichsgebiet sorgen sollte. Die Verteidigungsbereiche und Festungen an der Elbelinie wurden jetzt vom Führerhauptquartier direkt geführt. Ihnen versprach man die Zuführung starker Kräfte. Dresden z.B. sollte 120 Pakgeschütze 8,8 cm erhalten, Pionier-Erkundungs- und Ausbaustäbe sowie ein Sammelsurium unterschiedlichster Truppenteile. Nur mit allerlei psychologischen Tricks gelang es Speer, Hitler zu besänftigen. Er durfte die Ausführungsanordnung erlassen, die ganz in seinem Sinne ausfiel und den Industriellen einen maßgeblichen Einfluß sicherte, um in Absprache mit den örtlichen Wehrmachtkommandeuren unnötige Zerstörungen zu verhindern. Einem mörderischen Endkampf zwischen Oder und Rhein waren damit die wesentlichsten Grundlagen entzogen. Mochten auch andere Maßnahmen Hitlers noch in diese Richtung zielen: die Organisation „Wehrwolf“ zum Partisanenkrieg, die Aufstellung sog. Selbstopfer-Verbände der Luftwaffe, die Evakuierung der gefährlichsten Giftgasbestände usw., mit seiner Duldung der Aktivitäten Speers hatte sich der Diktator im Grunde genommen innerlich damit abgefunden, dass sich sein Schicksal in Berlin entscheiden würde. Auch bei den anderen Einzelmaßnahmen für ein mörderisches Armageddon innerhalb des Reichsgebietes fanden sich hinter den Kulissen verantwortliche Offiziere, die eine Realisierung blockierten. Kolberg setzte ein bemerkenswertes Signal. Seit langem hatte Goebbels einen aufwändigen Spielfilm vorbereitet, der unter Verfälschung der historischen Tatsachen suggerierte, dass der entschlossene Kampf von Bevölkerung und Armee das Blatt wenden könnte. Als der Spielfilm in die Kinos kam, lag die alte Festungsstadt Kolberg bereits im Feuer feindlicher Geschütze. Die verantwortliche Kriegsmarine organisierte den Widerstand nur solange, bis die Bevölkerung und die Besatzung über See evakuiert worden war. Am 18. März rückte die Rote Armee in die leere Stadt ein und Hitler tobte. Seine Maßnahme, Heinrich Himmler zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel zu machen und ihm die Verteidigung Pommerns zu überlassen, blieb ohne Wirkung. Ohne Unterstützung seiner Offiziere und ausreichender Kräfte konnte auch er kein Wunder vollbringen. Himmlers Auftrag, „hinter der gesamten Ostfront auf deutschem Boden die nationale Verteidigung“ zu gewährleisten, machte ihn zu einem gefährlichen Konkurrenten für den Generalstab, doch der Reichsführer SS war nach dem schmählichen Scheitern seiner besten Truppen am Plattensee in Hitlers Ansehen gewaltig gesunken. Die bemerkenswert lange Vorbereitungszeit der Roten Armee für den Stoß ins Herz des Feindes kam den Absichten des Generalstabs sehr entgegen. An der Oderfront konnten intensive Anstrengungen unternommen werden, um noch einmal das im Ersten Weltkrieg bewährte Großkampfverfahren einer beweglichen Abwehr innerhalb der Haupt- 23 kampfzone vorzubereiten und zu trainieren. Unterdessen strömten die Armeen Eisenhowers nach Westdeutschland hinein. Trotz Hitlers fanatischer Aufrufe und Befehle blieb es bei einer schwachen Gegenwehr. Von seinem besten Abwehrspezialisten, Feldmarschall Model, erwartete er eine entschlossene Verteidigung des Ruhrgebiets. Doch auch dieser Durchhaltefanatiker wurde in intensiven Gesprächen von Speer und seinen Industrieführern weichgeklopft. Die AngloAmerikaner wichen dieser mächtigsten Bastion der Westfront geschickt aus. Sie hatten ebenfalls kein Interesse daran, das größte deutsche Industriegebiet völlig zu zerstören. Es fiel ihnen ohnehin als reife Frucht in die Hände. Model beging Selbstmord, danach fiel der Ruhrkessel in sich zusammen. Auch die weiteren Kämpfe konzentrierten sich nur auf wenige Punkte, wo Hitler noch einmal eingreifen konnte. Im allgemeinen ließen sich die zusammengewürfelten Wehrmachtverbände überrollen. Wandernde Kampfgruppen suchten einen Rückhalt, um sich einzuigeln und dann geschlossen kapitulieren zu können. So bildeten die Verbände in Holland und Nordwestdeutschland eine solche Insel, in Norddeutschland gab es eine Ausweichbewegung in Richtung Schleswig-Holstein, dem künftigen „Nordraum“ des OKW, gestützt auf Dänemark und Norwegen. Damit öffnete sich die norddeutsche Tiefebene, in der lediglich die „Festung Harz“ einigen Widerstand leistete, den schnellen Vorstoß in Richtung Elbe aber nicht verhindern konnte. Im Südabschnitt wich die Wehrmacht in Richtung Alpenvorland aus, in den künftigen „Südraum“ des OKW, bzw. der Alpenfestung. Sie machte den Weg für Patton in Richtung Prag frei, was übrigens Speer in den letzten Kriegstagen zu dem Vorschlag inspirierte, tschechischen Unternehmern die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit den Amerikanern zu geben, um zu verhindern, dass die Tschechoslowakei zur Beute der Roten Armee wurde. Schörner leistete dazu mit seinem fanatischen Widerstand im Osten des Landes einen Beitrag. Das OKH setzte unverändert auf einen separaten Waffenstillstand im Westen, was manche nachgeordneten Offiziere zum selbständigen Handeln motivierte. So nutzte der neue Chef des Stabes im Verteidigungsbereich Dresden Anfang April eine Fahrt zur Verbindungsaufnahme in Westsachsen, um zu den Amerikanern überzulaufen. Die Verteidigung der Wehrmacht an der Oder war inzwischen tief gegliedert und organisiert. Als die Rote Armee am 16. April zum Angriff antrat, hatte sie trotz der Verluste im Raum Seelow kaum Mühe, die deutsche Verteidigung zu überrennen. Jetzt begann auch für den Generalstab die letzte Phase der Aktion Schlussstrich. Dass sich für beide Seiten ungewollt eine intensive Schlacht um Berlin entwickelte, war auf Hitler Einwirkung zurückzuführen. Während alle anderen Nazi-Größen den Diktator drängten, in letzter Minute auf die Alpenfestung auszuwei- 24 chen, ermutigte ihn Speer noch einmal nachdrücklich, unbedingt in Berlin zu bleiben. Aus seiner Sicht bedeutete das einen schnellen Tod seines früheren Übervaters, eine lang erwartete Erlösung. Speer hatte schon längst eine Rundfunkansprache an das deutsche Volk vorbereitet, um den Waffenstillstand einzuleiten. Abgesehen vom Fall Berlin entwickelte sich ein Wettlauf von der Oder an die Elbe, bei dem nicht alle Großverbände der Wehrmacht Glück hatten. Weidling mit seinem Panzerkorps geriet in den Sog Berlins, die 9. Armee hatte sich nicht rechtzeitig von der Oderfront gelöst und ging bei Halbe unter. Doch für die Masse des Ostheeres gelang der Frontwechsel. 1,8 Millionen Soldaten gelangten im April/Mai 1945 zu den alliierten Linien, ohne dass es dem in seinem Bunker tobenden Hitler gelang, diese Lawine aufzuhalten. Die Geschichte hat eine Schlusspointe, denn es war kein Zufall, dass der Diktator in seinen letzten Stunden immer wieder fragte, wo bleibt Wenck? Generalleutnant Walther Wenck hatte seit Juli 1944 als Chef der Führungsabteilung des OKH den Rückzug des Ostheeres organisiert. Insofern war es nur konsequent, dass er im April 1945 die letzte Neuaufstellung, nämlich der 12. Armee, selbst übernahm, vermeintlich nach Westen gerichtet, um die Amerikaner aufzuhalten, dann Hitlers Befehl, Berlin zu entsetzen, nutzen konnte, mit begrenzten Angriffsoperationen in Richtung Osten den zurückweichenden Truppen des Ostheeres eine Brücke zu bieten, um an die Elbe zu gelangen und damit den Ostkrieg zu liquidieren. Ergebnis: Die Oderfront entwickelte ihre stärkste Wirkung im Februar/März 1945, weil sie den Vormarsch der Roten Armee auf Berlin blockierte und den Einbruch der Alliierten in Westdeutschland erleichterte, damit zur Verkürzung des Krieges indirekt beitrug, in jedem Falle einen Beitrag dazu leistete, dass eine langwierige und blutige Auseinandersetzung auf deutschem Boden verhindert werden konnte. Das späte Antreten Eisenhowers, ein Ergebnis der Ardennen-Offensive, und die Politik des Obersten Alliierten Befehlshabers, den britischen Drang in Richtung Berlin zu bremsen, dafür den Vormarsch in Richtung Alpenfestung zu forcieren, machten den erbitterten Kampf an der Oderlinie am 16. April 1945 unausweichlich. Er war innerhalb weniger Tage entschieden und kostete große Opfer auf beiden Seiten. Es wurden damit sowjetische Kräfte gebunden und geschwächt, ein Beitrag dazu, dass die westlichen Alliierten ihre Position an der Elbe stark genug machen konnten, um Stalin zur Einhaltung der Verabredungen von Jalta zu veranlassen. 25 26 27