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64 Gastkommentar WOCHENENDE 29./30./31. JULI 2016, NR. 145 Friedrich Merz befürchtet, dass der US-Wahlkampf eine einzige Schlammschlacht wird. Jetzt geht es erst richtig los! A n alle, die jetzt schon genug haben: Es geht erst richtig los! Mit der Nominierung der Präsidentschaftskandidaten haben die Republikaner und die Demokraten in den USA nur ihre innerparteilichen Wahlkämpfe mehr oder weniger abgeschlossen. Ab sofort stehen die beiden Bewerber allein im Ring, und eines lässt sich bereits heute mit Gewissheit sagen: Das wird der schmutzigste und teuerste Wahlkampf um das Weiße Haus seit Jahrzehnten, ausgeführt von den beiden unbeliebtesten Kandidaten aller Zeiten. Zwei Drittel der amerikanischen Wählerinnen und Wähler sind unzufrieden mit diesen beiden Kandidaten – ein nie gekanntes Maß an Ablehnung des politischen Führungspersonals in den USA. Wie konnte es so weit kommen, was erwartet den interessierten Beobachter bis zum Wahltag am 8. November noch alles, und was folgt aus dem Wahlergebnis für Europa? Zunächst: Wir Europäer haben noch immer ein altes Bild von amerikanischen Wahlkämpfen im Kopf. Es wird zwar mit harten Bandagen gegeneinander gestritten, aber nach der Wahl gibt man sich die Hand, und spätestens mit der Vereidigung ist der gewählte Präsident der Präsident aller Amerikaner. Dieses Bild hat noch nie richtig gestimmt, aber es wurde von den Akteuren gern so verbreitet, um wenigstens ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten im Interesse des Landes zu zeigen und um auch bei entgegengesetzten parteipolitischen Mehrheiten im Kongress das politische System insgesamt funktionsfähig zu erhalten. Der erste große Bruch, der bis heute nachwirkt, war der massive Missbrauch der Amtsbefugnisse durch Präsident Nixon Anfang der 70erJahre, wie etwa der Einbruch in die Wahlkampfzentrale der Demokraten im Watergate-Hotel. Es folgten eine über Jahre andauernde Auseinandersetzung in der amerikanischen Innenpolitik um seine Amtsenthebung und schließlich sein Rücktritt am 9. August 1974. Ähnlich kontrovers, wenn auch nicht mit der Amtsenthebung oder dem Rücktritt endend, verlief die innenpolitische Debatte über die Affären von Bill Clinton gut 20 Jahre später. Beide Präsidenten haben das Vertrauen der amerikanischen Wähler in die Integrität ihres politischen Führungspersonals nachhaltig erschüttert und die Fronten zwischen den Parteien erheblich verhärtet. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, aber nicht weniger einschneidend für das politische System, wirken sich die seit Jahrzehnten immer wieder vorgenommenen, vollkommen willkürlich erscheinenden Änderungen der Wahlkreisgrenzen aus. Je nach politischen Mehrheiten werden in den Einzelstaaten die Wahlkreise so zurechtgeschnitten, dass entweder die Republikaner oder die Demokraten ihre Wahlkreise sicher gewinnen. Das führt dazu, dass die Abstände zum politischen Gegner immer größer werden, die wenigsten Wahlkreise folglich mit Kandidaten besetzt werden müssen, die erfolgreich Wechselwähler in der Mitte gewinnen können. Dies wiederum ermuntert beide Parteien, Kandidaten zu nominieren, die ganz besonders stramm die eigene ideologische Linie vertreten, denn entweder ist es ein sicherer Sitz oder eben ein aussichtsloses Rennen. Die gewählten Abgeordneten, und das gilt für Senatoren und Kongressabgeordnete gleichermaßen, setzen diese Polarisierung dann in Washington fort – wenn sie sich denn dort überhaupt noch aufhalten. Denn die radikalisierte Basis fordert vor allem von den Kongressabgeordneten eine ständige Präsenz in den Wahlkreisen, nicht zuletzt, um die Finanzierung des nächsten, in zwei Jahren dann schon wieder anstehenden Wahlkampfs vorzubereiten. In Washington ist über die Jahre ein vergiftetes politisches Klima entstanden, das die Zahl der frustrierten Wähler weiter in die Höhe treibt. Schon bei den Vorwahlen für die Präsidentschaftswahl 2016 haben sich so wenige Mitglieder registrieren lassen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Zahl der Wähler, die sich selbst als unabhängig sehen, liegt mittlerweile bei 43 Prozent, 2004 waren es nur 31 Prozent. Kandidaten, die bei den Vorwahlen also 30 bis 50 Prozent der Stimmen bekommen, repräsentieren nur noch drei bis fünf Prozent der gesamten Wähler. Diese Entwicklung hat ganz besonders Donald Trump genutzt, der nacheinander 16 zum Teil sehr erfahrene und ernsthafte Kandidaten der republikanischen Partei aus dem Rennen geworfen hat – ein noch vor Jahr und Tag unvorstellbarer Durchmarsch durch eine von der Tea-Party radikalisierte Partei, die als solche kaum noch existiert. Die Lage bei den Demokraten ist nicht viel besser. Die Partei ist von Bernie Sanders und von links so unter Druck gesetzt worden, dass Hillary Clinton ihre Nominierung nur um den Preis durchsetzen konnte, dass sie etliche ihrer politischen Positionen, etwa in der Handelspolitik, aufgeben musste, um wenigstens einen Teil der Sanders-Wähler für sich zu gewinnen. Damit konnte beiden Kandidaten, Trump und Clinton, das nicht gelingen, was neben der formalen Nominierung und der geschlossenen Mobilisierung der eigenen Anhänger bei solchen Parteitagen eigentlich immer gelingen muss, nämlich die behutsame Öffnung zur politischen Mitte hin. Das haben ein Teil der Anhänger von Bernie Sanders bei den Demokraten trotz dessen engagierter Unterstützungsrede für Hillary Clinton und Ted Cruz bei den Republikanern erfolgreich verhindert – wenn Donald Trump denn überhaupt jemals zu einer solchen Hinwendung zur politischen Mitte hin bereit gewesen wäre. Den vielen früheren Anhängern beider Parteien bleibt nur, resigniert festzustellen: „I didn’t leave my party, my party left me.“ Stellen wir uns also auf einen Wahlkampf ein, der alles in den Schatten stellt, was wir bisher aus amerikanischen Wahlkämpfen ohnehin schon gewöhnt waren: Es wird eine einzige Schlammschlacht um den Einzug ins Weiße Haus geben, es wird verbale Entgleisungen und gegenseitige Beleidigungen geben, die bis weit in den privaten Bereich hineinreichen, es wird kein Thema und kein Vorwurf ausgelassen werden. Selbst wenn Hillary Clinton am Ende gewinnt, was derzeit trotz ihrer geringen Beliebtheitswerte möglich, aber keinesfalls sicher erscheint, wird aller Voraussicht nach der Kongress weiterhin von einer republikanischen Mehrheit bestimmt sein – die Konfrontation endet also auch am Wahltag nicht. Das alles sind keine guten Aussichten für Amerika und für die Funktionsfähigkeit seines politi- In Washington ist über die Jahre ein vergiftetes politisches Klima entstanden, das die Zahl der frustrierten Wähler weiter in die Höhe treibt. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de. schen Systems. Das kann uns Europäern nicht vollkommen gleichgültig sein. Denn die westliche Staatengemeinschaft ist mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die weder die Europäer noch die Amerikaner allein bestehen können. Unsere freiheitlichen Gesellschaften sind durch den islamistischen Terrorismus in einem hohen Maße gefährdet. Gehen wir realistisch davon aus, dass diese Gefährdung noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte andauern wird. Die Ursachen dieses Problems bekämpfen zu wollen klingt schön, dürfte sich aber als ziemlich schwierig erweisen, denn wir wissen ja noch nicht einmal genau, was denn eigentlich die Ursachen sind. Eine der Ursachen dürfte die instabile Lage des gesamten Mittleren Ostens sein, einschließlich einer sich weiter destabilisierenden Türkei, die aber wenigstens bisher auch ein Ordnungsfaktor innerhalb der Nato und an deren Südostflanke war. Was machen wir, wenn dies nicht länger richtig ist? Und wie gehen Amerikaner und Europäer mit einer Volksrepublik China um, die zunehmend aggressiv im Südchinesischen Meer operiert und die Entscheidungen internationaler Schiedsgerichte nicht akzeptiert? Wie entwickelt sich unser Verhältnis zu Russland, und welche Antworten gibt der Westen auf die immer dreister werdenden Angriffe auf unsere Datennetze, offensichtlich von russischen und chinesischen Geheimdiensten gesteuert? Last, but not least: Wer bestimmt eigentlich die Regeln des freien Welthandels in der Zukunft, wenn Europäer und Amerikaner sich so erkennbar schwertun, wenigstens ein bilaterales Handelsabkommen noch vor dem Regierungswechsel in Washington zum Abschluss zu bringen? Bei aller berechtigten Kritik an der amerikanischen Politik und ihren gegenwärtigen Erscheinungsformen sollten wir daher nicht vergessen: Europa braucht verlässliche Partner in der Welt, und bei allen Unterschieden und Meinungsverschiedenheiten stehen sich Europäer und Amerikaner immer noch am nächsten, wenn es um freie und offene Gesellschaften geht, wenn Grundwerte und Bürgerrechte den Stellenwert unseres Lebens in Freiheit und Sicherheit zugleich bestimmen. Gerade jetzt sind der Dialog und der ständige Austausch mit Amerika und seinen Repräsentanten auf allen Ebenen wichtig: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind gleichermaßen in der Pflicht, diesen Austausch zu suchen. Auch ein Präsident Trump wird Amerika nicht wieder stark machen, wenn die internationalen Institutionen und ihre Regeln immer schwächer werden. Darüber müssen wir Europäer uns selbst im Klaren sein, darüber müssen wir aber auch mit den Amerikanern reden. Die groben politischen Vereinfacher, die es beileibe nicht nur in Amerika gibt, hätten sonst ein zu leichtes Spiel, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die politischen und ökonomischen Koordinaten auf der Welt neu vermessen werden. Der Autor ist Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke e. V. Sie erreichen ihn unter: gastautor@handelsblatt.com