YXK-Reader

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YXK-Reader
1. READER DER YXK
2015
«DENN AUF DEN SOZIALISMUS ZU
BESTEHEN BEDEUTET AUF DAS
MENSCHSEIN ZU BESTEHEN.»
A. ÖCALAN
HERAUSGEBERIN
YXK - Verband der Studierenden aus Kurdistan
e.V.
c/o ISKU
Spaldingstraße 130, 20097 Hamburg
www.yxkonline.de
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INHALT
1
35
Ein Interview mit Cemil Bayik, dem stellvertretenden
Vorsitzenden der KCK, im September 2012
(Teil I - III)
Eine neue Form der internationalen Solidarität
ͧͧ Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrates der KCK
40
«Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden»
ͧͧ Hüseyin Çelebi im Interview mit der Zeitung CLASH
56
Ein Interview mit Riza Altun, dem Leitungsmitglied
der PJAK, im September 2012 (Teil I - II)
68
Rede der YXK auf dem Jugendpolitischen Ratschlag
der DKP, 26.01.2013, Hannover
ͧͧ YXK
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II
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Ein Interview mit Cemil Bayik, dem stellvertretenden
Vorsitzenden der KCK, im September 2012 (Teil I - III)
Teil I - Kurdische Bewegung, Demokratischer Konföderalismus und die
Rolle Abdullah Öcalans
«Denn auf den Sozialismus
zu bestehen bedeutet auf das
Menschsein zu bestehen.»
Cemil Bayık gründete zusammen mit Abdullah
Öcalan 1978 die PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiter_innenpartei Kurdistans). Heute ist
er stellvertretender Vorsitzender des Exekutivrats der KCK. Die KCK (Koma Civakên Kurdistan)
ist die Union der Gemeinschaften Kurdistan, sie
stellt die Dachorganisation zur Umsetzung des
von Abdullah Öcalan entwickelten Konzeptes des
demokratischen Konföderalismus dar.
Das Interview setzt sich mit der Ideologie des
demokratischen Konföderalismus, der Rolle des
Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan, der Tagespolitik der kurdischen Freiheitsbewegung
und vielen weiteren Fragen auseinander. Das
Gespräch wurde im September 2012 im Qandil-Gebirge geführt und ist die komplette Übersetzung eines 6-stündigen Gesprächs. Es wird in
drei aufeinander folgenden Teilen veröffentlicht.
Dabei wurde die Reihenfolge der Fragen nicht
geändert, sodass das vorliegende Interview
dem tatsächlich geführten Gespräch entspricht.
Die Mitschrift versucht durchgängig in einer geschlechtersensiblen Schreibweise zu formulieren, die der geschlechtsunspezifichen Form im
Türkischen entspricht.
Bei der Übersetzung wurde die Bezeichnung von
Abdullah Öcalan als „Serok“, „Apo“ oder „Serok
Apo“ beibehalten und nicht übersetzt, da die
wörtliche Übersetzung ins Deutsche mit „Führer“, „Anführer“ stark konnotiert erschien und
um eine sprachliche Gleichsetzung zu vermei-
den. Der Begriff „Anführer“ bezieht sich in der
kurdischen Bewegung unter anderem auf die
politische Schlüsselposition, die Abdullah Öcalan
für den Prozess zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat innehat sowie auf seine ideologische Vorreiterrolle.
Öcalan wurde durch ein Referendum von Millionen Kurd_innen als legitimer Vertreter der kurdischen Bewegung anerkannt.
Die PKK, 1978 gegründet, befindet sich seit
mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten im
Kampf gegen den türkischen Staat, bezeichnet
sich aber als eine Bewegung der Jugend. Was ist
damit gemeint?
Zuallererst ist die PKK-Bewegung in Form einer
Bewegung von Studierenden entstanden. Sie hat
sich in Form einer Studierendenbewegung entwickelt und setzt sich in Form einer Studierendenbewegung weiter fort. Zu keiner Zeit will die
PKK ihre Form als Studierendenbewegung aufgeben. Deshalb hat PKK- Vorsitzender Abdullah
Öcalan gesagt: „Wir haben jung angefangen, wir
machen jung weiter und werden es jung zu Ende
bringen.“ Das drückt die Realität der PKK-Bewegung aus. Wieso wollen wir immer jung bleiben?
Weil wir eine Lösungskraft sein wollen, deshalb.
Jung zu sein bedeutet eine Lösungskraft zu sein.
Eine Bewegung, eine Partei und deren Anhänger_innen, die aufhört eine Lösungskraft zu sein,
kann keine Probleme mehr lösen, kann keine
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Erfolge erzielen und kann die Befreiung nicht
verwirklichen. Eine Bewegung, die die Freiheit
als Ziel hat, sei es als persönliche Freiheit oder
gesellschaftliche Freiheit, muss jung sein. Denn
Freiheit bedeutet die Probleme zu verstehen
und zu lösen. Anders gibt es keine Freiheit.
Die Jugend ist voller Energie, verfolgt ständig das
Neue, ist stets lebendig, lehnt das Alte ab, hat
sich den Erfolg als Prinzip gesetzt und ist zudem
bereit, dies alles bedingungslos zu verwirklichen.
Jede_r, _dessen Ziel die Freiheit ist, muss sich die
Jugend und ihre Besonderheiten als Grundlage
nehmen. Vor allem um das Problem der Freiheit
des kurdischen Volkes zu lösen, muss mensch
eine Lösungskraft sein, also eine junge Kraft darstellen. _Er muss sich ständig als Lösungskraft
weiter vertiefen. Nur so kann _er die Probleme
verstehen, lösen, Entwicklung und Erfolg hervorbringen und die Befreiung verwirklichen. Zum
Beispiel bestehen meine ganzen Bemühungen
darin, mich selbst jung zu halten, nicht alt zu
werden, also nicht aufzuhören eine Lösungskraft
zu sein, sich ständig als Lösungskraft neu zu erschaffen und dadurch jung zu bleiben. Denn alt
werden bedeutet, dass mensch keine Lösungskraft mehr darstellt. Wer keine Lösungskraft
mehr darstellt, kann kein Problem mehr verstehen, lösen und damit auch keinen Erfolg erzielen
und die Befreiung nicht verwirklichen. Deshalb
ist die PKK eine Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, immer jung zu bleiben. Sie lehnt das
Altwerden, also aufzuhören eine Lösungskraft zu
sein, ab.
sität. Wir haben uns bei Auseinandersetzungen
mit Faschist_en kennen gelernt. So hat unsere
Freundschaft angefangen. Und später hat mich
Kemal Pir mit Abdullah Öcalan bekannt gemacht.
Bei unserem ersten Treffen hat der Vorsitzende
fünf Stunden lang mit mir eingehend über Kurdistan diskutiert. Ich hörte das erste Mal solche
Einschätzungen. Danach verwandelte sich die
Freundschaft mit Kemal Pir und Abdullah Öcalan
in eine politische Freundschaft. Und danach hat
dann sowieso die Formierung der Bewegung begonnen. Diese Formierung der Gruppe fand zum
einen durch ideologische Vertiefung statt und
zum anderen durch Kämpfe gegen Faschist_en in
den Stadtvierteln und Schulen. Der ideologische
Kampf wurde erweitert und im Zuge dessen haben wir uns mit den anderen Organisationen und
Gruppen erfolgreich auseinandergesetzt. Denn 3
es gab keine Kräfte, die in der Lage gewesen sind,
sich ideologisch mit uns auseinanderzusetzen.
Wir waren stark und deshalb haben die ideologischen Auseinandersetzungen, die ideologische
Weiterbildung der Gruppe und die Organisierung
im Kampf gegen die Faschist_en die Organisation
in kurzer Zeit stark gemacht.
Später haben wir uns zum Ziel gesetzt, nach Kurdistan zu gehen und dort zu arbeiten. Als wir
diese Entscheidung getroffen hatten, waren wir
mit sehr vielen Problemen konfrontiert. Ein Teil
der Gruppe, der sich in Ankara angeschlossen
hatte, fand die Entscheidung, nach Kurdistan zu
gehen und dort zu arbeiten, verfrüht und gefährlich. Sie wollten, dass wir in Ankara bleiben.
Wie bist du damals politisiert worden in den Sie wollten, dass wir so arbeiten wie alle ande70er Jahren, als es in den Städten heftige Aus- ren Gruppen und Bewegungen. Das haben wir
einandersetzungen zwischen Linken und Fa- nicht akzeptiert. Daraufhin haben sich einige von
uns getrennt. Ich kann sagen, dass dies fast der
schist_en gegeben hat?
größte Teil der Gruppe war. Trotzdem sind wir
Als wir nach Ankara gegangen sind, kannten wir diesen Schritt gegangen. Wir haben es geschafft,
die türkische und kurdische Realität nicht. Da nach Kurdistan zu gehen und dort zu arbeiten.
ich vom staatlichen türkischen Bildungssystem Ich bin zusammen mit Kemal Pir einer der ersten
unterrichtet worden war, hatte ich selbst auch gewesen, die nach Kurdistan gegangen sind und
keine Ahnung von der Realität. Ich konnte nicht dort in Antep (Eine Stadt im Südosten der Türkei,
mal kurdisch sprechen, ich hatte es vergessen. In Anm. d. Red.) gearbeitet haben. Wir sind die ersAnkara habe ich durch die Bekanntschaft mit Ab- ten Freunde, die nach Kurdistan gekommen sind.
dullah Öcalan die Realität von Kurdistan kennen- Und so hat die Entwicklung bis zu ihrem heutigen
gelernt. Der Freund Kemal Pir hatte mich ihm vor- Tage ihren Lauf genommen.
gestellt. Kemal Pir war nicht aus Kurdistan, er war
auch kein Kurde, er kam aus dem Schwarzmeergebiet. Wir studierten an der gleichen Univer2
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
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vWie schätzt die PKK die bisherigen sozialistischen Versuche ein?
den sozialistischen und kommunistischen Parteien, die den Realsozialismus unterstützt haben,
deutlich gemacht, und dieser Unterschied ist
immer deutlicher zu Tage getreten. Der spätere
Paradigmenwechsel hat sich auf dieser Grundlage entwickelt. Der Paradigmenwechsel ist also
nicht, wie viele annehmen, durch die Gefangennahme Abdullah Öcalalans entstanden.
Seit der Gründung und Entwicklung der PKK hat
der Realsozialismus zwar einen Einfluss auf uns
gehabt, wir haben ihn aber immer auch sehr kritisch betrachtet. Als die PKK entstand, waren die
Zentren des Realsozialismus schon entstanden.
Es gab Spaltungen zwischen Russland, China und
Albanien. Das hatte auch Auswirkungen auf die
Bewegungen in der Türkei und Kurdistan. Fast
alle Organisationen hatten sich für ein Zentrum
entschieden. Sie haben den Sozialismus jeweils
nur in einem dieser Zentren gesehen. Aber die
PKK hat sich niemals an diesen Zentren orientiert.
Sie sah weder Russland, China, noch Albanien
als Zentrum an. Sie begegnete dem Sozialismus
respektvoll, aber mit einer kritischen Haltung.
Sie hat von Anfang an ihren Unterschied deutlich gemacht. Um diesen Unterschied deutlich zu
machen, haben wir gesagt, dass für uns der wissenschaftliche Sozialismus im Mittelpunkt steht.
Damit haben wir bei allen Diskussionen klargestellt, dass wir weder Russland, China noch Albanien als Zentrum sehen. Noch später, als wir die
Praxis entwickelten, haben wir daraus weitere
Schlussfolgerungen ziehen können. Uns darauf
stützend konnten wir unsere Unterschiede zum
Realsozialismus noch deutlicher und offener darstellen.
Schon im Jahr 1984 auf einer zentralen Versammlung hat Abdullah Öcalan den bestehenden
Realsozialismus und seine sozialistischen und
kommunistischen Parteien sehr stark kritisiert.
Er hat deutlich gemacht, dass die existierenden
Parteien den Sozialismus nicht mehr vertreten,
und dass sie sich entweder auflösen oder sich
neu organisieren sollten. Die 1 984 von Abdullah
Öcalan an den Tag gelegte Einschätzung, wurde
1 989 in die Praxis umgesetzt. Als wir uns auf
diesen Weg begaben, haben wir gesehen, dass
unsere Ziele und unsere zentralen Mittel nicht
übereingestimmt haben. Wir haben gesehen,
dass die Prinzipien des Realsozialismus und dessen entwickelte Mittel in sich widersprüchlich
waren. Wir haben begonnen diese zu hinterfragen, dabei jedoch nie den Sozialismus verleugnet. Wir sind ihm mit Respekt begegnet, haben
uns aber die Hinterfragung zum Prinzip gemacht.
Dies hat den Unterschied zwischen der PKK und
Du hast gerade den Paradigmenwechsel angesprochen. Vielleicht können wir uns etwas darin
vertiefen. Was bedeutet dieser? Und was waren
die Reaktionen seitens der Türkei und der anderen Staaten?
Seit Anbeginn der PKK waren die Grundlagen
dieses neuen Paradigmas vorhanden. Vielleicht
war dies am Anfang nicht allzu deutlich, im Laufe
der Zeit wurde dies jedoch deutlicher und 1984
tritt dies noch offener zu Tage. 1993, zusammen
mit dem ersten Waffenstillstand, wurde die neue
Strategie des Paradigmas festgelegt. Aber da die
Partei und das Volk nicht genügend darauf vorbereitet worden waren, konnte diese Strategie
nicht verwirklicht werden. 1998, bei den Feierlichkeiten zum 15. August, hat Serok Apo dies
noch deutlicher gemacht und gesagt, dass der
Strategiewechsel mit Entschiedenheit umgesetzt
werden wird. Mit dem Waffenstillstand zum 1 .
September 1 998 wollte er diesen in die Praxis
umsetzen. Als die kapitalistische Moderne und
deren Vertreter_innen sich diesen Umstandes
bewusst wurden und erkannten, dass dieser für
sie gefährliche Entwicklungen bringen könnte,
wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen
und der internationale Komplott verwirklicht.
Diese Zeit war gleichzeitig der Beginn des 3.
Weltkrieges seitens der Vertreter_innen der kapitalistischen Moderne gegen den Mittleren Osten. Der internationale Komplott wurde in einer
Zeit verübt, als die PKK ihren Paradigmenwechsel
vertieft umsetzen wollte und der 3. Weltkrieg im
Mittleren Osten in die Praxis umgesetzt werden
sollte. Das Ziel des internationalen Komplotts
war, Serok Apo bewegungsunfähig zu machen,
die PKK unter großen Druck zu setzen, den Paradigmenwechsel zu verhindern und damit das
größte Hindernis, den größten Widerstand bei
der Umsetzung des 3. Weltkrieges im Mittleren
Osten zu neutralisieren um den Krieg somit beginnen und mit Erfolg führen zu können. In die3
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1. YXK-Reader | 2015
sem Zustand sollte die PKK eliminiert werden,
so wie dies auch mit der Sowjetunion gemacht
wurde. Vor dem Hintergrund des 3. Weltkrieges
und des Paradigmenwechsels der PKK sollte diese eliminiert werden. Dadurch wollte die kapitalistische Moderne sicherstellen, dass sie im Mittleren Osten Ergebnisse erzielt.
der Frauen und der Jugendlichen gestellt. Er hat
also in der Frage der Avantgarde diese Änderung
vollzogen. Die Prinzipien des neuen Paradigmas
wurden auf diese Weise zusammengesetzt. Und
damit ist ein neues Sozialismus-Verständnis verbunden, dessen Grundlage die demokratische
Moderne ist.
Woraus besteht das neue Paradigma, was sind Wer aufpasst kann feststellen, dass die kapitaseine Grundlagen? Welche Kritik hat Abdullah listischen Moderne die Philosophie, die Moral
Öcalan dabei am Realsozialismus zum Ausdruck und die Politik angreift. Dadurch werden die
Menschen, die Gesellschaft gespalten, sie wergebracht?
den von sich selbst entfremdet, das GeschichtsNachdem Serok Apo im Zuge des internationalen bewusstsein wird ausgelöscht, das Gehirn und
Komplotts gefangen genommen wurde, hat er das Herz werden geblendet und auf diese Weise
den Paradigmenwechsel unter den sehr harten kann sich das System selbst aufrechterhalten.
Bedingungen von İmralı (İmralı ist die Gefängni- Der größte Angriff findet statt, indem behauptet
sinsel, auf der Abdullah Öcalan seit 1999 in Ein- wird, dass die Zeit der Ideologien vorbei ist. Dazelhaft sitzt, Anm. d. Red.) vorangetrieben. Er mit sollen alle unterdrückten Völker entideolohat einige Prinzipien des alten Paradigmas, wir gisiert, von Ideologie, von Philosophie und vom
nennen sie die Prinzipien des Realsozialismus, Denken ferngehalten werden. Eine Gesellschaft,
durch neue Prinzipien ersetzt. Er hat ein neues die nicht in der Lage ist zu denken, bringt einen
Paradigma des Sozialismus in den Mittelpunkt nichtdenkenden Menschen hervor. Eine nichtgestellt. Was sind die grundlegenden Prinzipien denkende Gesellschaft, einen nichtdenkenden
des neuen sozialistischen Paradigmas? Es nimmt Menschen zu regieren ist sehr leicht, denn ein_e
die Demokratie als System. Im alten Realsozia- Nichtdenkende_ ist ein Mensch, _die nichts in
lismus war die Demokratie kein eigenes System: Frage stellt. Deshalb ist es sehr angenehm, eine
es gab das Verständnis, dass die Demokratie ein solche Gesellschaft zu regieren. Jedoch gibt es
Mittel sei, die dem Staat und der Herrschaft zu auf dieser Welt nichts ohne Ideologie, in allem
dienen habe. Die Demokratie wurde als Teil des steckt Ideologie. Die Propaganda der kapitalistiStaates gesehen.
schen Moderne entbehrt jeder Grundlage. Es ist
Deshalb hat Serok Apo als Prinzip nicht den Staat eine Propaganda, um die Völker, die Arbeiter_inund die Herrschaft genommen, sondern die De- nen, die Unterdrückten von Ideologie, vom Nachmokratie in den Mittelpunkt gestellt. Er sieht den denken fernzuhalten, sozusagen der Gesellschaft
Staat als eigenes System und die Demokratie als und den Menschen das Dasein als Gesellschaft
eigenes System an. Er hat die Prinzipien des So- und Mensch an sich zu nehmen. Im Kampf gegen
zialismus von Freiheit und Gleichheit mit dem die Entideologisierung hat Serok diese Ideologie
Sozialismus selbst vereint. Er hat die Demokratie und Philosophie entwickelt.
ebenfalls mit dem Sozialismus vereint. Er hat die Die kapitalistische Moderne greift die Politik an.
Prinzipien des neuen sozialistischen Paradigmas Sie will die Gesellschaft, den Menschen in der
zu unserem Fundament gemacht. Er hat ein au- Politik außen vor lassen. Sie will komplett nur
ßerstaatliches System vorgesehen, das von einer mit sich selber Politik betreiben. Politik ist Orgademokratischen Gesellschaft ausgeht. Dessen nisierung und Kampf, also die Organisierung und
Grundlagen sind die Demokratie, die Ökologie der eigene Kampf der Völker, der Unterdrückten,
sowie die Freiheit der Frau. Um dieses politische das ist Politik. Wieso greift die kapitalistische
und gesellschaftliche System verwirklichen zu Moderne die Politik an? Damit die Völker, die
können, hat er die Philosophie, die Moral und Unterdrückten sich nicht selbst organisieren und
die Politik als Grundlage genommen. Das System für ihre Rechte kämpfen. Das Ziel ist eine unorbasiert auf diesen
ganisierte, eine nicht kämpfende Gesellschaft.
drei Säulen. An Stelle der Avantgarde des Prole- Die kapitalistische Moderne greift auch die Motariats im Realsozialismus hat er die Avantgarde
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
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ral an. Es entwickelt sich eine Unmoral. Warum?
Da das, was die Gesellschaft erst zu einer Gesellschaft werden lässt, sie aufrechterhält, die Moral
ist. Wenn eine Gesellschaft ihre Moral verliert,
dann wird diese Gesellschaft ausgelöscht. Denn
das, was die Gesellschaft zur Gesellschaft werden lässt, die Gesellschaft am Laufen hält, ist
weder das Recht noch etwas anderes, sondern
die Moral. Die Moral anzugreifen, eine Unmoral zu entwickeln, bedeutet, der Gesellschaft
das Dasein zu nehmen, also den Menschen vom
Menschsein zu trennen. Eine Gesellschaft zu regieren, die ihre Menschlichkeit verloren hat, ist
sehr angenehm. Wenn die kapitalistische Moderne die Moral angreift, die Unmoral entwickelt, die Gesellschaft zerstört, die Gesellschaft
von ihrem Dasein als Gesellschaft ebenso wie
den Menschen vom Menschsein trennt, benutzt
sie dazu Dinge wie Sex, Sport und ähnliches. Sie
legt ihren Schwerpunkt auf diese Dinge.
Das heißt nicht, dass wir gegen Sex und Sport
sind. Wir sind dagegen, dass diese Dinge von der
kapitalistischen Moderne dazu benutzt werden
um den Menschen leichter regieren zu können.
Damit trennt sie den Menschen vom Menschsein. Wenn ein System den Menschen vom
Menschsein trennt, kann dieses System niemals
menschlich sein. Wenn ein System den Menschen
mit Hunger bändigt, kann es nicht menschlich
sein. Wenn ein System das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft angreift, sie entwurzelt, sie
von ihrer Vergangenheit abtrennt, kann es nicht
menschlich sein. Eine Gesellschaft von ihrer Vergangenheit abzutrennen bedeutet, ihre Zukunft
zu verbauen. Wir stellen fest, dass die kapitalistische Moderne versucht sich selbst am Leben zu
halten, indem sie die Ideologie, die Philosophie,
die Moral und die Politik angreift. Das von Serok
Apo entwickelte sozialistische Verständnis, das
neue sozialistische Paradigma stellt die Ideologie, die Philosophie, die Moral und die Politik in
den Mittelpunkt. Damit wird gegen die kapitalistische Moderne angekämpft.
sehr leicht gewesen. Wenn diese Bewegung nicht
von Anfang an ihre Unterschiede zum Realsozialismus betont hätte und diese immer mehr vertieft hätte, dann wäre dieser Paradigmenwechsel
niemals möglich gewesen. Das sowjetische System hat sich aufgelöst und ebenso haben es die
existierenden kommunistischen und sozialistischen Parteien getan, von denen viele daraufhin
der kapitalistischen Moderne hinterhergelaufen
sind und sich selbst verleugnet haben. Der PKK
ist es anders ergangen. Es lässt sich feststellen,
dass mit der Auflösung des sowjetischen Systems die PKK sich nicht wie die existierenden
kommunistischen und sozialistischen Parteien
aufgelöst hat, sich nicht selbst verleugnet hat.
Ganz im Gegenteil konnte die PKK in dieser Zeit
ihr Wachstum und ihre Entwicklung ausbauen.
Und sie hat klargestellt, dass sie die Fahne des
Sozialismus mit Ehre weiter tragen wird. Das hat
damals Abdullah Öcalan von Rom aus im Fernsehen ganz offen deutlich gemacht. In einer Zeit, in
der alle den Weg des Sozialismus verließen, ihn
beschimpft haben, hat Serok Apo selbst während
des internationalen Komplotts im Fernsehen
deutlich gemacht, dass er die Fahne des Sozialismus mit Ehre trägt.
Die PKK hat ihren eigentlichen Aufschwung nach
dem Zusammenbruch des Realsozialismus erlebt. Unter den Bedingungen des 3. Weltkrieges,
unter den Bedingungen des Paradigmenwechsels und noch dazu an einem Ort wie İmralı, war
die mutige Entwicklung des neuen Paradigmas
natürlich nicht sehr leicht. Wären die Grundlagen nicht schon vorher gesetzt worden, wäre es
nicht möglich gewesen den Wechsel unter diesen Bedingungen zu vollziehen. Wenn wir, ohne
die Grundlagen dazu zu haben, versucht hätten
den Wechsel zu vollziehen, wäre bei uns wie bei
der Sowjetunion ein Auflösungsprozess eingeleitet worden. Auch in der Sowjetunion sollte ein
Paradigmenwechsel umgesetzt werden, was jedoch nicht geschafft wurde und die Sowjetunion
ist untergegangen. Wenn man die Bedingungen
Die Grundlage der PKK war bis zum neuen Para- und Möglichkeiten der Sowjetunion nimmt und
digma der Marxismus-Leninismus. Konnte das dazu die inneren Bedingungen und Möglichkeineue Paradigma nach ausführlichen Diskussi- ten der PKK ansieht, kann man diese nicht mal
onen denn so einfach in der Partei umgesetzt miteinander vergleichen, so ungleich waren die
Bedingungen. Aber trotzdem hat die PKK das
werden?
Schwierige geschafft. Sie hat unter schwersten
Natürlich ist dieser Paradigmenwechsel nicht
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Bedingungen den Paradigmenwechsel vollzogen.
Das hat von Anfang an mit der Art der Gründung
und Entwicklung der PKK zu tun. Denn sie ist
von Anbeginn an eine Bewegung gewesen, die
sich unter den schwersten Bedingungen entwickelt hat, die in ständiger Auseinandersetzung
mit verschiedensten Problemen stand. Sie ist als
eine Bewegung des Willens entstanden. Deshalb
ist der Wille bei der PKK sehr stark. Keine Kraft
konnte und kann die PKK im Krieg des Willens besiegen. Sie ist die Bewegung der schwersten Bedingungen. Und genau deshalb konnte sie unter
den schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen den Paradigmenwechsel vollziehen. Wenn
von Anfang an ihre Geburt und ihre Entwicklung
nicht auf diese Weise vonstatten gegangen wäre,
sie bei den Kriegen des Willens nicht gewonnen
hätte, hätte sie unter den Bedingungen des 3.
Weltkrieges, unter den Bedingungen des internationalen Komplotts, unter den Bedingungen
der Gefangenschaft von Serok den Paradigmenwechsel niemals realisieren können.
sein kann. Keiner gibt der PKK Kraft. Sie gibt sich
mit ihrer eigenen Mentalität, also ihrer eigenen
Philosophie und Ideologie und ihrer eigenen Art
ständig Kraft und Energie und hält damit den
Kampf am Laufen. Sie erzeugt ihre eigenen Kraftquellen. Wenn man die positiven und negativen
Dinge als Fundament der Entwicklung und des
Erfolgs nimmt, entwickelt sich die Bewegung
ständig. Wenn eine Bewegung die Jugendlichen
und die Frauen, ihre Besonderheiten und Charakteristika als Avantgarde und Mittelpunkt ansieht,
erfährt sie eine ständige Entwicklung. Deshalb ist
die PKK eine Bewegung, die sich ständig selbst
erneuert, die sich ständig am Leben erhält, die
die Entwicklung und den Erfolg als maßgeblich
ansieht und dafür ihre eigenen Kraftquellen erzeugt. Die Unbesiegbarkeit der PKK ist darin begründet. Das ist auch die Realität, die viele nicht
verstehen.
Liegt darin der Unterschied zu bisherigen sozialistischen Staaten und Parteien?
Die PKK hat eine Dialektik und diese steht seit der
Gründung der PKK im Mittelpunkt. Sich ständig
selbst erneuern, das Alte, das nicht mehr Nützliche abwerfen, sich selbst ständig lebendig zu
halten. Das ist die Dialektik der PKK. Deshalb reinigt die PKK ständig ihre Struktur von nicht mehr
Nützlichem, Zurückbleibendem und löst sich von
diesen Dingen. Deshalb gibt es in der PKK keinen
Konservatismus, keinen Dogmatismus. Eine Bewegung, die den Sozialismus umsetzt, kann nicht
konservativ und dogmatisch sein. Darin liegt einer der größten Fehler des Realsozialismus. Dogmatismus und Konservatismus widerspricht den
ureigenen Grundbedingungen des Sozialismus.
Eine Bewegung, die sich ständig selbst erneuert,
die sich ständig am Leben hält, kann keinen Dogmatismus und Konservatismus beinhalten.
Eine Bewegung, die den Sozialismus als Bezugspunkt sieht, muss sich dafür geeignete Mittel erschaffen. Die Mittel müssen den Zielen dienen.
Wenn die Mittel nicht den Zielen dienen, also
der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit,
der Gerechtigkeit, dem Frieden, dann sind diese
demzufolge nicht richtig. Dann dürfen wir diese
Mittel nicht anwenden. Dann müssen wir andere
Mittel entwickeln, die den Zielen dienen. Die Ziele des Realsozialismus waren großartig und stark.
Es waren die Ziele des Sozialismus, der Mensch-
Worauf beruht der Erfolg der PKK? Seit Jahrzehnten steht sie nicht nur im Konflikt mit der
Türkei sondern mit den Hauptakteur_innen der
kapitalistischen Moderne, wie der USA, und deren Projekt zur Umstrukturierung des Mittleren
Ostens.
Man muss die Linie der PKK, die Linie von Serok
Apo gut verstehen. Was ist deren Linie? Die
Schwierigkeiten besiegen und beseitigen und
den Erfolg herbeiführen. Was würde Apo auf İmralı sagen? „Wer mich nicht umbringt, lässt mich
am Leben“. Also allein einen Atemzug zu tun ist
die Bedingung zum Erfolg des Lebens. Bei der
PKK steht folgende Linie im Mittelpunkt: Zum einen die positiven Eigenschaften der PKK in den
Vordergrund zu stellen und sie zum Ziel zu führen und zum anderen die Bedingungen für die
Überwindung aller möglichen negativen Dinge,
Barrieren, Schwierigkeiten und Erfolglosigkeiten
zu schaffen und somit zur Entwicklung der PKK
beizutragen. Das ist die Linie der PKK. Wenn eine
Bewegung die positiven und negativen Dinge
zur Grundlage ihrer erfolgreichen Entwicklung
macht, dann entwickelt sie sich und dies kann
keine andere Kraft verhindern.
Viele fragen sich zum Beispiel, wer der PKK Kraft
und Unterstützung gibt, wie sie so erfolgreich
6
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
lichkeit. Aber die Mittel standen im Widerspruch
zu den Zielen, sie haben den Zielen nicht gedient
und deshalb war der Sozialismus erfolglos. Zum
Beispiel hatten sie Freiheit, Demokratie und
Gleichheit auf ihre Fahnen geschrieben, setzten
aber den Staat in den Mittelpunkt. Den Staat in
den Mittelpunkt zu stellen heißt, die Demokratie, die Freiheit und die Gleichheit aus dem Fokus zu rücken. Mensch kann so viel _er will für
Demokratie, Freiheit und Gleichheit kämpfen wer den proletarischen Staat in den Mittelpunkt
stellt, kann diese Ziele nicht verwirklichen. Darin
liegt der größte Fehler des Realsozialismus. Deshalb konnte er seine
Ziele nicht verwirklichen.
Für die PKK ist ihre Ideologie, also ihre Theorie
und Praxis am wichtigsten. Die Ideologie kommt
nicht vor der Praxis, aber auch die Praxis kommt
nicht vor der Ideologie. Sie denkt nach und handelt und handelt und denkt nach. Das bildet zusammen eine Einheit. Das ist die Dialektik der
PKK. So lebt und wendet sie die Dialektik an. Sie
ist eine Bewegung, die Theorie und Praxis vereint. Es kann nicht alles durch Ideologie gelöst
werden, es muss durch die Praxis gelöst werden.
Aber auch die Praxis kann nicht alles lösen, es
muss durch Ideologie gelöst werden. Deshalb
muss mensch die Ideologie und die Praxis zusammen in die Hand nehmen und darf keinem
einen Vorrang geben. Also zum einen Denken
und Machen und zum anderen Machen und
Denken. Mensch muss beides gemeinsam realisieren. Wer dies macht, erkennt _seine Fehler und Unzulänglichkeiten auf der Stelle. Dann
kann mensch, ohne größere Verwüstungen und
Verluste zu erleiden, seine Fehler überwinden
und Entwicklung und Erfolg erleben. Da die PKK
die Dialektik auf diese Weise im Leben umsetzt,
ist sie eine Bewegung, die Theorie und Praxis
vereint. Und deshalb ist sie eine Bewegung, die
Ergebnisse erzielt.
gespalten haben und ihn von seiner eigenen
Realität ferngehalten haben. Auf andere Weise
hätten sie ihre Herrschaft nicht aufrechterhalten
können. Eine Bewegung, die die Gesellschaft, die
Geschichte, die Menschlichkeit und die Grundlagen des Menschen als Mittelpunkt sieht, kann
sich nicht konträr zur Realität der Geschichte, der
Menschheit und der Gesellschaft entwickeln. Sie
kann deshalb die Wahrheit nicht aufteilen. Wenn
sie dies tun würde, würde sie auf die Linie der
Herrschenden verfallen. Solch eine Bewegung
kann niemals die Demokratie, die Freiheit und
die Gerechtigkeit verwirklichen.
Die Wahrheit als Schwerpunkt zu nehmen bedeutet sich der Gesamtheit der Geschichte, der
Gesellschaft und des Menschen zu nähern. Das
bedeutet, die Gesellschaft, die Geschichte und
den Menschen auf Basis der wesenseigenen
Grundlagen neu aufzubauen. Das bedeutet, die
Ideale und Ziele des Sozialismus ernst zu nehmen und zu verwirklichen. Die kapitalistische
Moderne und der Realsozialismus nahmen die
Geschichte und die Gesellschaft von einem bestimmten Punkt an auf, nicht in ihrer Gesamtheit und nicht von Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Wir jedoch nehmen die Menschheit
von ihrem Anbeginn an auf. Deshalb lehnen wir
auch die existierende Geschichtsschreibung ab
und entwickeln eine eigene. Dadurch lässt sich
noch besser feststellen, an welchem Punkt der
Geschichte der Mensch sich von seinen Wesensgrundlagen entfremdet hat. Das haben wir in
den Mittelpunkt gestellt, als wir das neue Paradigma, die neue Linie, die neuen Prinzipien des
Sozialismus entwickelt haben.
Serok hat noch vor dem internationalen Komplott das neue Paradigma verwirklichen wollen,
aber die internationalen Akteur_innen des kapitalistischen Systems haben dies nicht zugelassen. Sie wollten die Umsetzung des neuen Paradigmas mit Hilfe des internationalen Komplotts
Kannst du etwas näher auf die Philosophie der verhindern. Aber Apo hat unter den schweren
Bedingungen von İmralı diesen ParadigmenBewegung eingehen?
wechsel mit Hartnäckigkeit fortgesetzt. Denn die
Die Wahrheit ist eine Gesamtheit und kann nicht Verteidigung der Erfolge der Bewegung, die Umzerteilt werden. Wenn mensch die Wahrheit setzung ihrer Ziele war damit verbunden, das inzerlegt, ist die Wahrheit keine Wahrheit mehr. ternationale Komplott ins Leere laufen zu lassen.
Sämtliche Herrscher_ haben ihre Herrschaft in Weil wir dies geschafft haben, konnten wir uns
der Geschichte aufrechterhalten, indem sie die auf den Beinen halten, können wir nun weiter
Gesellschaft gespalten haben, den Menschen
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
kämpfen. Im gegenteiligen Fall wären auch wir
eliminiert worden.
das Volk und die Kader, die sich Serok verpflichtet fühlten, haben sich zusammen den inneren
und äußeren Angriffen entgegengestellt und
die Auflösung verhindert. Zum einen wurde der
Paradigmenwechsel verwirklicht, zum anderen
wurde die Elimination verhindert. Damit sind wir
in eine neue Etappe des Kampfes eingetreten.
Der heute geführte Kampf und die erreichten Ergebnisse sind damit verbunden.
Die Strategie der PKK während der Zeit des Komplotts ist eine andere als die heutige Strategie. In
der PKK fand in diesem Zusammenhang eine große Erneuerung statt. Die PKK ist eine Bewegung,
die von ihrer Gründung bis heute den Sozialismus
zum Ziel hat. Eine Bewegung, die auf den Sozialismus besteht. Denn auf den Sozialismus zu bestehen, bedeutet auf das Menschsein zu bestehen. Aber die PKK ist nicht mehr so, wie sie vor
dem internationalen Komplott war. Denn bis zu
diesem Komplott stand für die PKK die Diktatur
des Proletariats, der Staat und die Herrschaft im
Mittelpunkt. Der ganze Kampf fand für diese Ziele statt. Zusammen mit dem Paradigmenwechsel
nimmt die PKK nun den Staat und die Herrschaft
nicht mehr als Basis für ihren Kampf. Die PKK
hat ihre Strategie geändert. Sie hat ihre Ideologie vertieft und erneuert. Es gab Veränderungen
im Organisations- und Aktionsverständnis. Die
Veränderungen in der PKK sind sehr tief. Sie hat
das Staats- und Herrschaftsverständnis des Sozialismus hinter sich gelassen. Anstelle von Staat
und Herrschaft nimmt sie die Demokratie als ein
System zum Ziel. Sie sieht ein neues gesellschaftliches und politisches System vor, das sich nicht
am Staat orientiert, sondern an der Demokratie, der Ökologie und der Freiheit der Frau. Ein
System, das die Moral und die Politik weiterentwickelt. Sie will ein System erschaffen, das eine
demokratische Gesellschaft als Mittelpunkt hat.
Ein einschneidender Wendepunkt in der Bewegung war die Gefangennahme Abdullah Öcalans
im Frühjahr 1999. Wie hat sich das auf die Umsetzung des neuen Paradigmas ausgewirkt?
Wurde versucht, die Bewegung zum Aufgeben
zu bringen?
Weil der Paradigmenwechsel unter solch schweren Bedingungen angegangen wurde, gab es eine
sehr vorsichtige Annäherungen an den Wandel
um nicht das gleiche Schicksal wie die Sowjetunion zu erleiden. Dies war der Grund für einige Verschiebungen und Verspätungen bei der
Umsetzung des neuen Paradigmas. Die Vertreter_innen der kapitalistischen Moderne haben
unsere Schwächen ausgenutzt und wollten von
der Verzögerung der Umsetzung des Paradigmas
profitieren. Sie wollten verhindern, dass die Bewegung den Paradigmenwechsel zur richtigen
Zeit vollzieht und damit sicherstellen, dass sie
sich wie die Sowjetunion auflöst. Darauf haben
sie hingearbeitet.
Während sich deshalb eine Säule des internationalen Komplotts mit der Gefangenschaft Apos
auf İmralı von außen gegen die Bewegung richtete, sollte die zweite Säule gegen die Bewegung
aus dem Inneren der Organisation entwickelt
werden. Das internationale Komplott wollte sich
selbst in die Organisation hineintragen, sich dort
organisieren und von dort aus die Organisation
angreifen. Während zum einen von außen angegriffen wurde, sollte zum anderen von innen angegriffen werden. Das war noch gefährlicher als
der Angriff von außen, denn es wurde versucht
die Bewegung von innen heraus zu zerstören. Die
äußeren und inneren Kräfte wollten sich vereinen
und damit den internationalen Komplott vollenden. Das war sehr gefährlich, das hat ernsthafte
Zerstörungen hervorgerufen.
Aber da die erste Säule des internationalen Komplotts verwirklicht wurde und daraus Erfahrungen gezogen wurden, war die zweite Säule, soviel Zerstörungen sie auch angerichtet hat, nicht
erfolgreich. Wenn aus dem ersten Teil des Komplotts keine Erfahrungen gemacht und daraus
Lehren gezogen worden wären, hätten die inneren Aktivitäten des zweiten Teils des Komplotts
nicht aufgehalten werden können. Serok Apo,
Inwiefern hat sich das Organisationsverständnis
der Partei verändert und welche Schwierigkeiten gab es bei der Umsetzung? Inwiefern haben
sich diese Veränderungen auf die Ziele der Partei ausgewirkt?
Es gab Veränderungen zum einen im Organisationsverständnis der Partei und zum anderen
in den Vorstellungen darin, was für ein System
erschaffen werden soll. Früher war die PKK ein
Instrument zur Erzeugung von Staat und Herr8
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
schaft. Auf dieser Grundlage wurde die Organisierung betrieben. Deshalb hatte sie sich auch
nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus organisiert. Heute organisiert sich die PKK
als Partei nicht mehr nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus. Wir sind auch keine
Partei mehr, die für die Diktatur des Proletariats
kämpft. Wir sind eine Partei, die dafür kämpft
eine außerstaatliche demokratische Gesellschaft
zu erschaffen. Wir sind eine Partei, die die Organisierung der demokratischen Nation zum Ziel
hat und auf dieser Grundlage auch die kurdische
Frage lösen will. Es gibt ein von der Partei angestrebtes gesellschaftliches, politisches System,
und zwar das System des demokratischen Konföderalismus. Also kein System, das sich auf Staat
und Herrschaft stützt, das die Herrschaft einer
Partei vorsieht.
Im alten Paradigma des Realsozialismus war die
Herrschaft der Partei maßgeblich. Die Partei setzte sich an die Stelle des Staates, der Gesellschaft,
der Herrschaft, also an die Stelle von allem. Das
trifft für die PKK nicht mehr zu, denn sie hat den
Staat und die Herrschaft nicht mehr als Ziel. Sie
will der Gesellschaft dienen und deshalb gibt es
auch in ihrer Organisierung tiefgehende Veränderungen. Denn eine Partei organisiert sich entsprechend ihrer Ziele und nach der Linie, wie
diese Ziele zu erreichen sind. Die Ziele der PKK
haben sich nicht geändert. Wie im alten Paradigma kämpft sie im neuen Paradigma immer noch
für den Sozialismus. Es gibt aber Veränderungen
bei den Mitteln, die sie verwendet, um das Ziel zu
erreichen. Deshalb gibt es Veränderungen in der
Linie der Partei. Zum Beispiel sollte die kurdische
Frage früher durch Krieg und die Errichtung der
Diktatur des Proletariats gelöst werden, also den
Staat stürzen und einen anderen Staat errichten.
Das ist aber nicht mehr der Weg der PKK. Stattdessen ist eine demokratische Gesellschaft und
eine demokratische Nation ihr Ziel. Sie will die
kurdische Frage mithilfe der demokratischen Autonomie lösen. Sie will das gesellschaftliche und
politische System in Form des demokratischen
Konföderalismus entwickeln. Die demokratische
Autonomie stellt die Lösung der kurdischen Frage dar, und der demokratische Konföderalismus
die Organisierung der Gesellschaft Kurdistans.
Die demokratische Autonomie regelt die politi-
sche Beziehung zwischen dem kurdischen Volk
und dem türkischen Staat. Sie sagt nichts darüber aus, auf was für einer Grundlage die kurdische Gesellschaft sich organisieren und was für
ein gesellschaftliches und politisches System sie
sich geben wird. Dies ist eine Frage, die nur die
Kurd_en betrifft. Was die Türkei und die Kurd_innen gemeinsam angeht, ist, auf welcher Grundlage die kurdische Frage gelöst wird.
Wir sehen die Lösung in Form der demokratischen Autonomie und in der Erschaffung einer
demokratischen Nation. In Kurdistan selbst wollen wir ein gesellschaftliches und politisches
System in Form des demokratischen Konföderalismus erschaffen. Dieser bedeutet, dass alle Gesellschaften, alle Völker, alle Unterdrückten, alle
Religionen und Konfessionen Kurdistans sich in
Freiheit, mit ihrem eigenen Willen, ihren eigenen Identitäten auf der Basis von Freiheit und
Demokratie organisieren können und sie sich
gleichzeitig dem Ganzen gegenüber verpflichtet
fühlen. Die Einheit muss auf der freiwilligen Basis von Freiheit, Gleichheit und Demokratie erfolgen. Kein Teil der Gesellschaft darf aus dieser
ausgeschlossen und verdrängt werden. Das ist
wichtig.
Wie wird denn die Wirtschaft im demokratischen Konföderalismus organisiert sein?
Wenn ein System es nicht schafft eine eigene
Ökonomie aufzubauen, kann es gar nicht zum
System werden beziehungsweise wird es nicht
lange existieren. Wenn wir den demokratischen
Konföderalismus in Kurdistan entwickeln wollen,
müssen wir auch eine entsprechende Ökonomie
aufbauen und eine Politik der Ökonomie entwickeln. Geschieht dies nicht, werden wir mit dem
bisher existierenden Ökonomieverständnis an
die Sache herangehen und dies würde dazu führen, dass wir den demokratischen Konföderalismus nicht umsetzen könnten. Das ökonomische
System des demokratischen Konföderalismus
beinhaltet nach unserer Vorstellung eine gemeinschaftliche Ökonomie. Das ist die Grundlage unserer ökonomischen Politik. Gegen die Monopolisierung und für die Selbstorganisierung
der Ökonomie durch alle Teile der Gesellschaft.
Damit der demokratische Konföderalismus in
Kurdistan verwirklicht und lebensfähig werden
kann, muss dieses ökonomische Verständnis ent9
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
wickelt werden.
Der demokratische Konföderalismus hat drei
Grundlagen, auf denen er beruht. Erstens die
vom Volk selbst organisierte Ökonomie, zweitens das Rätesystem, das die Selbstverwaltung
des Volkes darstellt, und drittens Akademien
der Volksbildung. Wenn eine dieser Grundlagen
nicht verwirklicht wird, kann der demokratische
Konföderalismus als Ganzes nicht verwirklicht
werden. Die Aufgabe der Akademien ist es, die
Gesellschaft zu einer bewussten Gesellschaft zu
machen. Die ganze Gesellschaft zu politisieren,
zu organisieren, zum Kämpfen zu bringen und
eine bewusste Gesellschaft zu erschaffen. In den
Räten soll sich das Volk selbst organisieren und
selbst regieren. Angefangen von den Dorfkommunen, über die Stadträte zu den Gebietsräten
bis hin zum „Kongre Gel“, dem höchsten Willensausdruck aller Räte (Kongra Gel ist die Bezeichnung für den höchsten Rat, den Volkskongress, Anm. d. Red.). Auf diese Weise organisiert
und regiert sich das Volk selbst. Und zuletzt die
Ökonomie des Volkes, die die eigenen Bedürfnisse des Volkes befriedigt. Wenn mensch das
gesellschaftliche und politische System auf diese
Art entwickelt, wird es überhaupt erst zum System. Wenn nicht, kann der demokratische Konföderalismus nicht zu einem System werden.
schen Staaten im Westen getan haben.
In unserer ökonomischen Politik gibt es keinen
Industrialismus, keine Monopolisierung, keine
grenzenlose Beherrschung und Zerstörung der
Natur. Deshalb ist ein ökologisches Bewusstsein
für uns so wichtig, denn damit nimmt man das
menschliche Leben auch wichtig. Für uns sind
der Nationalstaat und der Industrialismus nicht
das Ziel. Das muss gut verstanden werden. In unserem Paradigma gibt es dafür keinen Platz. Wir
sehen die kapitalistische Ökonomie auch nicht
als Ökonomie an.
Abdullah Öcalan spricht in seinen Schriften nicht
von der sofortigen Abschaffung der kapitalistischen Moderne, sondern davon sie langfristig
zu verdünnen und zu verkleinern. Was meint er
damit? Denkst du, dass der Kapitalismus, der
sich derzeit in einer tiefen Krise befindet, die
Möglichkeiten hat sich zu erneuern?
Eigentlich ist die Zeit der kapitalistischen Moderne vorbei. Sie befindet sich in einem großen Chaos. Aber dieses System hat eine Eigenschaft: es
reproduziert sich durch Krisen. Wenn dieses System keine Krise hervorbringt, kann es gar nicht
funktionieren. Es ist sein Prinzip. Allein schon das
ist nicht menschlich. Ein System, dass nur durch
Krisen funktioniert, ist wild und unmenschlich.
Das ist eine Realität des Kapitalismus. Die kapitaUnd welche konkreten Eigentumsformen wird listische Moderne kann ohne Krisen nicht existiees im demokratischen Konföderalismus geben? ren. In diesem System gibt es keine Kontinuität.
Es wird Privateigentum geben, allerdings kei- Die kapitalistische Moderne nimmt sich niemals
ne Monopolisierung. Es wird kollektives und Kontinuität als Maßstab, sondern immer nur Kripersönliches Eigentum geben. Aber es werden sen. Sie existiert nur in der Krise. Und deswegen
niemals die Monopole im Mittelpunkt stehen. ist sie unter allen Systemen, die es auf der Welt
Es wird auch nicht der Industrialismus im Mit- gab und gibt, das gefährlichste, unmenschlichstelpunkt stehen. Dies ist zum Beispiel einer der te. Die Krisen dienen zur Anhäufung von Profit.
größten Fehler des Marxismus. Er ist gegen den Das fügt der Menschheit großen Schaden zu, es
Kapitalismus aber er ist nicht gegen den Industri- ist unmenschlich, und dem muss und wird genau
alismus. Lenin geht noch weiter und bindet den deswegen ein Ende folgen.
Erfolg der Sowjetunion an die Industrialisierung, Ob dieses System durch die aktuelle Krise weian die Elektrifizierung des Landes. Genauso wie ter existieren wird oder nicht, hängt von den
im Kapitalismus die Natur und die Gesellschaft Revolutionär_innen, von den Sozialist_innen ab.
zerstört wurden, ist auch in der Sowjetunion Wenn sie sich genug anstrengen, können sie dem
ähnliches geschehen. Das sind die Ergebnisse System ein Ende bereiten. Der Realsozialismus
des Industrialismus. Wer die Natur zerstört, zer- hat hier den Fehler gemacht, indem er gesagt
stört gleichzeitig auch die Gesellschaft, nimmt hat, dass die Menschheit sich sowieso vorwärts
dem Menschen die Lebensgrundlagen. Das ist in in Richtung Sozialismus entwickelt. Dass dem
der Sowjetunion gemacht worden, in manchen nicht so ist, hat der Niedergang der SowjetuniGebieten noch schlimmer als es die kapitalisti- on bewiesen. Das zeigt uns, dass diese Annahme
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
nicht richtig ist. Was wir brauchen ist ein starker Wille. Wenn Sozialist_innen sich anstrengen,
wenn die Wissenden sich anstrengen und dieses
unmenschliche System abschaffen wollen, sich
aus dieser Wildnis und aus diesem Nichtsein befreien wollen, dann können sie das auch. Denn
dieses System ist eigentlich in aller Hinsicht am
Ende. Zu seinem Beginn war das nicht so. Als der
kapitalistische Handel sich entwickelte war das
nicht der Fall. Als die Phase der kapitalistischen
Industrie erreicht wurde, war es auch nicht so.
Aber in Zeiten des Finanzkapitals hat das System sein Ende erreicht. So sehr es auch weiter
existieren will, kann es das nicht wie früher tun.
Seine Probleme werden immer größer, es ist am
Ende. Jetzt müssen dies die Revolutionär_innen
und Sozialist_innen vollenden. Es ist falsch zu
denken, da das System am Ende ist, wird es automatisch abgeschafft werden. Nur wenn mensch
es selbst abschafft, verschwindet es. Wenn man
nicht selbst anpackt, läuft es von alleine weiter.
Zu einem anderen Punkt: Im Prinzip sind wir gegen den Staat. Wir sind gegen Herrschaft. Wir
sind gegen die kapitalistische Moderne. Aber
es ist wichtig zu wissen, wie mensch mit _ihren
Prinzipien _ihr Leben innerhalb dieser Realitäten
fortführen kann. Es gibt eine Realität. Das heißt
aber nicht, dass mensch diese Realität nicht kritisieren darf. Damit diese Realität geändert werden kann, müssen wir uns nach ihr richten. Ort,
Zeit, Mühe, Art und Weise muss genau ausgewählt werden, um dadurch zur Wahrheit gelangen zu können. Du kannst zur Sprache bringen,
was du für richtig hältst. Das heißt aber nicht,
dass daraus folgend deine Praxis dann die Wahrheit ist. Damit du deine Prinzipien auch verwirklichen kannst musst du den richtigen Zeitpunkt im
Leben finden, die Maßnahmen richtig auswählen
und dich am richtigen Ort anstrengen. Die Alternative kannst du dann durch deine Praxis zur
Realität machen. Wir sind in unseren Prinzipien
gegen den Staat und gegen den Kapitalismus.
Aber das in die Praxis umzusetzen ist nicht so
einfach. Dieses System herrscht überall auf der
Welt. Wir sprechen hier von Bio- Macht (Cemil
Bayık bezieht sich hier auf die Analytik der Macht
von Michel Foucault, Anm. d. Red.). Das System
der kapitalistischen Moderne organisiert sich bis
in die Individuen hinein, hat sich im Gehirn und
Blut der Menschen etabliert. Der Finanzkapitalismus hat diese Ebene erreicht, diesen abzuschaffen geht sicher nicht von heute auf morgen. Wir
brauchen nicht träumen. Um dieses System
abschaffen zu können, müssen wir uns eben
anstrengen. Dieses aus der Welt zu schaffen ist
nicht so einfach und geschieht auch nicht in kurzer Zeit. Das ist es, was die PKK sagt.
Auch aus dem Realsozialismus müssen wir Lehren ziehen. Dieser stand an der Front, die Welt
war zweigeteilt. Beide Seiten wollten sich gegenseitig vernichten. Der Realsozialismus hatte
einige Defizite, und hat deswegen die Schlacht
verloren. Allein an der Front dem Feind gegenüberzustehen reicht heute nicht mehr aus. Wir
sind gezwungen innerhalb des Systems gegen das
System zu kämpfen. Das aber ist nicht einfach,
das ist das Schwierige. Trotzdem müssen wir es
tun. Zu Zeiten des Realsozialismus gab es zwei
verschiedene Systeme, in denen diese Frontstellung möglich war, doch heute ist es anders. Du
lebst im System und bist gezwungen im System
unter ihrem Bombardement durch Fernsehen,
Medien, Internet Widerstand zu leisten. Das ist
nicht einfach. Und wer diesen Kampf bestreiten
will, muss sich komplett von diesem System lossagen. Sowohl als Person, als auch als Bewegung
muss mensch sich davon lossagen, um dagegen
kämpfen zu können. Ja, das ist etwas sehr schweres. Es ist schwieriger als zu Sowjetzeiten. Aber
es gibt auch einige Vorteile im Vergleich zu früher. Die Erfahrungen des Realsozialismus haben
der Idee des Sozialismus Klarheit gebracht und
erleichtern damit die Arbeit.
11
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Teil II - Rolle der Jugend und Frauen, die kurdische Bewegung in Europa
und politische Situation der Türkei und Syrien
Der erste Teil des Interviews behandelte die politischen
Grundlagen des Paradigmenwechsels der PKK, die Ideologie des demokratischen Konföderalismus und die Rolle des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan.
Im zweiten Teil spricht Cemil Bayık über die Rolle der
Jugend und der Frauen als Vorreiter_innen der Revolution, über die Situation und Potentiale der kurdischen
Bewegung in Europa sowie über die politische Lage in
der Türkei, besonders bezüglich der aktuellen Entwicklungen in Syrien und Nordkurdistan.
Welche Rolle haben die Jugend und die Frauen ten in der Gesellschaft sagen uns das ebenfalls.
im neuen Paradigma?
Schon seit ihrem Beginn sieht sich die PKK als
In unseren Paradigmen haben die Jugend und eine Bewegung der Freiheit. Dafür haben wir uns
die Frau eine herausragende Rolle. Im Gegensatz auf die Geschichte unserer Gesellschaft bezogen,
zum Realsozialismus sind nicht die Proletarier_ haben uns diese als Grundlage genommen. Und
die Avantgarde der Revolution, sondern die Ju- je mehr wir darin die Wahrheiten unserer Gegend und die Frau. Das ist ein Unterschied. Des schichte erkannt und verstanden haben, desto
Weiteren sehen wir uns als eine Frauenbewe- mehr haben wir die Wahrheiten der Frau erkannt
gung, die zuallererst die Befreiung der Frau vor- und somit auch die Wahrheiten der Menschheit.
sieht. Die PKK ist eine Frauenbewegung. Die Be- Darauf aufbauend haben wir uns entwickelt. Das
freiung der Frau ist die Grundlage ihres Kampfes. hat uns eigentlich den Charakter einer FreiheitsEin freies Individuum und eine freie Gesellschaft bewegung gegeben. Und dafür müssen wir die
ist nur über die Befreiung der Frau möglich. Wer Männlichkeit im Mann vernichten. Nur wenn wir
nicht die Befreiung der Frau vorsieht, kann kei- diese töten, ebnen wir den Weg zur Freiheit. Denn
ne Freiheitsbewegung werden. Diese Bewegung die Männlichkeit im Mann zu vernichten bedeukann kein freies Leben, kein freies Individuum tet gleichzeitig auch die Rückständigkeit der Frau
zu vernichten, in ihr Kraft und Hoffnung zu erweoder eine freie Gesellschaft schaffen.
Jede Unfreiheit ist mit der Versklavung der Frau cken, das Ungleichgewicht zwischen Mann und
verbunden. Jede Sklaverei und Unterdrückung Frau aufzuheben. Auch das Ungleichgewicht zwiauf dieser Erde ist eine Folge der Versklavung schen Mensch und Natur hat seinen Ursprung im
der Frau. Wenn die Frau ihre Freiheit verliert, Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau. Der
verlieren auch der Mann, die Gesellschaft und Anfang aller Gleichgewichte besteht zwischen
die Menschheit ihre Freiheit. Die Entfremdung Mann und Frau. Jedes Ungleichgewicht stammt
des Menschen von sich selber beginnt in der Ge- vom Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau,
schichte mit der Versklavung der Frau. Jede Skla- davon dass der Mann eine stärkere und die Frau
verei und Unterdrückung baut darauf auf. Der eine schwächere Position einnimmt, sowohl in
Weg zu einer freien Gesellschaft und zu einem der Natur, als auch in der Menschheit.
Aufheben können wir dieses Ungleichgewicht
freien Mann läuft über eine freie Frau.
Das ist unsere Grundlage. Schon beim 3. Kon- nur, wenn wir das Ungleichgewicht zwischen
gress der PKK (Dieser fand 1986 statt. Anm. d. den Geschlechtern aufheben. Nur so können wir
Red.) hat Serok Apo das festgestellt. Die Realitä- zu einer Freiheitsbewegung werden. Wir kön12
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
nen so viel Widerstand leisten, wie wir wollen,
aber wenn wir dieses Ungleichgewicht nicht abschaffen, können wir unser Ziel niemals erreichen. Die Praxis der Sowjetunion beweist uns
das. Deswegen muss sich die Jugend dieses Ungleichgewicht vornehmen. Das ist nämlich ein
Teil unserer Bewegung. Nur wenn die Jugend
diese Aufgabe übernimmt kann sie ihre Rolle als
Vorreiterin spielen, nicht anders. Dafür muss die
Jugend gegen den gesellschaftlichen Sexismus
kämpfen und ihn aufhalten. Sie darf nicht meinen, dass das die alleinige Aufgabe der Frau ist.
Das ist eigentlich vor allem die Aufgabe der Männer. Weil der gesellschaftliche Sexismus durch
die Männer geschaffen wurde. Dieser bedeutet,
die Frau nach den Vorstellungen des Mannes zu
formen. Das bedeutet die Versklavung der Frau.
Der Mann wird zum Unterdrücker. Das führt zur
Spaltung und Entfremdung. Freiheit, Demokratie, Gleichheit, alles verschwindet durch diese
Ungleichheit. Die Einheit von Mann und Frau auf
der Basis der Gleichheit entsteht nur, wenn wir
gegen den gesellschaftlichen Sexismus ankämpfen. Das muss vor allem von den Männern vorangetrieben werden. Aber der Mann ist raffiniert
und sagt, dass das eigentlich die Aufgabe der Frau
sei. Doch das ist falsch. Hier muss dieser Kampf
richtig geführt werden. Das ist unsere Linie. Nur
so können wir die Männlichkeit im Mann und
die Sklavenmentalität der Frau vernichten und
auf einer gleichgestellten Basis die Einheit von
Mann und Frau bilden. Das ist die Voraussetzung
für die Abschaffung von Sklaverei und Unterdrückung in der Gesellschaft und die Schaffung einer
gesellschaftlichen Einheit.
So muss die Jugend die Bewegung auch auffassen, sie so leben und fortentwickeln. Auch die
Jugend hat ihre Eigenheiten. Damit die Jugend
ihre Vorreiterinnenrolle erfüllen kann, muss sie
ihre Eigenheiten mit den Eigenheiten der Frau
verbinden. Wenn sie jeweils nur sich selbst im
Mittelpunkt sehen, können sie ihre Vorreiterinnenrolle nicht erfüllen. Vorreiter_innen sind diejenigen, die die gesamte Gesellschaft organisieren und sie in Bewegung setzen. Es sind die, die
die Probleme der Gesellschaft als ihre eigenen
Probleme sehen und diese lösen. Es sind die, die
Möglichkeiten für Widerstand schaffen. Es sind
die, die der Gesellschaft Lebendigkeit geben und
damit den Willen der Gesellschaft nach Freiheit
vergrößern. Vorreiter_innen sind nicht nur auf
die eigenen Probleme fixiert. Niemensch akzeptiert die, die sich nur um die eigenen Probleme
kümmern. Für wen willst du ein Vorreiter_in
sein? Wenn mensch das für die gesamte Gesellschaft machen will, dann muss mensch die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen und nicht
die eigenen Interessen. Wie du dich selbst organisierst, so musst du auch die gesamte Gesellschaft organisieren. Wie du deine eigenen Probleme lösen willst, so musst du auch die Probleme
der gesamten Gesellschaft lösen wollen.
Die Jugend sieht sich zwar als Vorreiterin, hält
diese Linie aber nicht ein. Das System, das die
PKK entwickeln will, nimmt die Jugend nicht an,
obwohl sie eigentlich die Vorreiterin dieses Systems sein sollte. Die Bewegung will die konföderale Demokratie erschaffen, das ist unser politisches System. Die Aufgabe der Vorreiter_innen
ist hier, sich zu organisieren und dadurch größer
zu werden, sich weiterzuentwickeln und jede_n
in dieses System zu ziehen, so dass niemensch
außerhalb bleibt. Das ist die Pflicht der Vorreiter_innen. Aber wir sehen, dass die Jugendlichen
nicht mal selber ein Teil dieses Systems werden,
nicht diesem System beitreten, sondern außerhalb davon bleiben. Dass sie die Organisierung
nicht als ihre eigene Aufgabe sehen und sich im
Namen der Eigenständigkeit außerhalb des Systems stellen. Und trotzdem behaupten sie danach immer noch, dass sie die Vorreiter_innen
sind. Das geht nicht. Diesen Irrsinn muss die Jugend hinter sich lassen. Wenn nicht die Jugend in
das System eintritt, es erneuert und vergrößert,
dann macht es niemensch.
Wer soll denn den demokratischen Konföderalismus organisieren, natürlich die Frauen und
die Jugend! Weil sie die Vorreiter_innen dieses
Systems sind. Die Pflicht der Vorreiter_innen
gibt allem eine Dynamik. Du kannst doch nicht
zu_r Vorreiter_in werden, wenn du deine Pflichten der Organisierung, Weiterentwicklung und
Erneuerung nicht erfüllst. Was sollst du denn
sonst machen? Unser System hat so viele Institutionen, deren Vorreiterin die Jugend ist und
die durch die Jugend weiterentwickelt werden.
Das meine ich mit „Dynamik geben“. Aber die Jugend selbst erfüllt ihre Aufgabe nicht. Sie küm-
13
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
mert sich nur um sich selbst und organisiert sich
selbst. In Europa zum Beispiel nehmen sie nicht
an Versammlungen teil. Wenn sie kritisiert werden, stehen sie auf und gehen. Sie behaupten,
dass sie eigenständig sind. Das verstehen sie unter Eigenständigkeit. Sich von allem abzuschneiden und bei allem außen vor zu bleiben. Das ist
ein großer Missstand. So kann die Jugend nicht
ihre Pflicht erfüllen. Niemensch akzeptiert eine
solche Jugend. Die Jugend muss diese falsche
Mentalität hinter sich lassen und die Linie des
Systems verstehen, diese weiterentwickeln. Und
jede_n mit sich ziehen.
Niemensch denkt an _die andere_n. Jede_r verbringt _seinen Tag für sich. Jede_r ist entfernt
von Ideologie und von Politik. In diesem System
lässt es sich bequem leben und deshalb entwickelt sich auch keine Alternative. Die Gesellschaft von ihrem Dasein zu entfremden, bedeutet gleichzeitig auch den Menschen von seinem
eigenen Dasein zu entfremden. Nachdem das
kapitalistische System die Menschen vom Dasein
entfremdet hat, kann es sie wie eine Herde Schafe führen. Genau das macht das System in Europa. Und deswegen gibt es in Europa ein ernstes
Problem des Menschlichseins. Viele Menschen,
die Europa verlassen, verlassen es aus diesem
Wie schätzt du die Gesellschaften in Europa ein Grund – bewusst oder unbewusst. Sie ziehen in
irgendwelche exotischen Länder, obwohl dort
und was für eine Rolle kommt der Jugend zu?
der Lebensstandart eigentlich viel niedriger ist.
Die Jugend in Europa lebt im Zentrum der ka- Aber sie bevorzugen die Menschlichkeit. Die
pitalistischen Moderne. Vielleicht wird dieses Menschlichkeit, die sie suchen, finden sie in dieSystem durch die USA vorangetrieben, aber das sen Ländern. Das ist wichtig.
Zentrum der kapitalistischen Moderne ist Europa. Europa hat das kapitalistische System entwi- Das System macht die Menschen für die gesamckelt. Das Bindeglied zwischen Europa und der te Menschheit absolut gleichgültig. Egal, was
USA ist England. Lange Jahre war England der passiert und gesagt wird. Sie werden taub und
Vorreiter dieses Systems, nach dem 2. Weltkrieg stumm. Sie verstehen nichts und leisten deshalb
hat die USA diese Rolle übernommen. Aber den- keinen Widerstand. Sie richten sich an den Staat
noch gibt es hier eine starke Verbindung. Die und halten sich an die Bedingungen, die dieser
kapitalistische Moderne bombardiert ununter- ihnen stellt. Weil sie abhängig sind vom Staat.
brochen die Geister und Köpfe der Menschen Der Mensch ist so einsam und schwach, dass er
mit ihrer Propaganda, pflanzt in ihre Köpfe ihre ohne Staat nicht überleben kann. Das ist die Reeigene Mentalität und Lebensweise ein und bil- alität des Systems. Und für die, die keine Europädet damit ein Individuum nach ihren eigenen er_innen sind, aber in Europa leben, betreiben
Bedürfnissen. Im Namen der Integration assimi- sie eine Politik der Assimilation. Das ist nichts
liert sie alle Nicht-Europäer_innen und stellt sie anderes, als sie von ihrer Herkunft und von ihdamit in ihren Dienst. Das ist keine Integration: rem Volk zu entfremden. Sie psychisch von ihrem
umformen, sie anpassen und danach in ihren ei- zu Volk trennen und sie nach ihren eigenen Begenen Dienst stellen. Aber das wird nicht nur mit dürfnissen zu formen, sie in sich zu verschmelzen
Nicht- Europäer_innen gemacht, sondern auch und in den eigenen Dienst zu stellen. Das ist die
mit der europäischen Jugend und der gesamten größte Gefahr für die kurdischen Jugendlichen.
Gesellschaft. Die Gesellschaft wird gespalten, Sie besuchen dort die Schulen und Universitädie Gesellschaft wird von ihrem Dasein als Ge- ten, die die Mentalität und die Lebensweise der
sellschaft entfernt, der Individualismus wird vor- Menschen komplett nach den Bedürfnissen des
angetrieben, sogar Familien werden abgeschafft. Staates formen. Wer diesen Weg durchgeht, hat
Jeder wird vereinsamt und geschwächt, damit gar keine psychischen Verbundenheit mehr zu
diese Menschen vom Staat abhängig werden. Kurdistan, denn sie werden von allem getrennt.
Ohne den Staat können diese Menschen dann Aber gleichzeitig können sie auch nicht wie Euronicht mehr leben. Schaut, bei euch in Europa ist päer_innen werden. Dadurch erleben sie große
die Gesellschaftlichkeit, die Menschlichkeit ab- Identitätsprobleme. Sie leben weder die kurdigeschafft.
sche Identität noch die europäische, stehen ir14
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
gendwo dazwischen. Sie wollen dieses Dilemma
zwar durchbrechen, wissen aber nicht, wie. Was
bietet ihnen das System an? Drogen und andere
verrückte Sachen mit denen sie dann komplett
ihren Verstand verlieren.
Wenn die Jugend das begreift, kann sie vielen einen Weg aus diesem Dilemma bieten. Die Jugend
hat eine besondere Eigenschaft: Sie ist mit dem
Existierenden niemals zufrieden, sie will immer
Neues sehen. Sie wollen aus dem Dilemma entkommen und, wenn wir ihnen einen Weg geben,
dann schaffen sie es. Noch sind wir dazu nicht
in der Lage, wir müssen es aber versuchen. Und
damit wir das machen können, müssen wir uns
ideologisch immer mehr vertiefen und erneuern.
Wir müssen uns kulturell stark machen, damit
wir gegen das System standhalten können und
die Assimilation verhindern können. Das muss
beides gemacht werden. Manche Sachen gibt es,
wogegen wir nur mit ideologischer Überzeugung
Widerstand leisten können, bei anderen Sachen
können wir es nur mit kultureller Stärke. Das System greift deswegen zum einen die Ideologien
an, lässt die Menschen ohne Ideologie und setzt
ihnen dann ihre eigene in den Kopf und zum anderen zwingt es den Menschen die Lebensweise
des Systems auf. So assimiliert es die Menschen.
Wir müssen mit Ideologie und Kultur dagegen
Widerstand leisten. Es ist notwendig, dass die
Freund_innen in Europa das fördern.
phisch den Menschen entwickeln, damit er anfängt zu denken, zu hinterfragen und Schlechtes
und Gutes zu erkennen, was menschlich ist und
was nicht. Andererseits braucht es Leute, die wie
Apo den Blick der Menschen in Richtung Kurdistan lenken können, also in Richtung des Freiheitskampfes. Nur dann kann mensch vorwärts
kommen. Wenn Menschen sich ideologisch und
philosophisch nicht weiterbilden, dann gelangen
sie nicht zur Erkenntnis. Ihre Herangehensweise
wird dann eine unbewusste Herangehensweise
sein. Deswegen ist Ideologie notwendig, damit
die Menschen überhaupt verstehen, wie sie die
Probleme lösen können. Wenn wir die ideologische Bildung voranbringen, dann geschieht das.
Und wenn mensch dabei die Realitäten in Kurdistan aufzeigt, werden sie nicht in Europa bleiben.
Wenn wir das nicht machen, dann schluckt das
System die Menschen.
Ich war auch bis zum Ende meiner Studienzeit
immer in staatlichen Einrichtungen. Der Staat
hat meine Identität nach seinen Bedürfnissen geformt und mich dadurch von Kurdistan entfernt.
Ich hatte die kurdische Sprache und Kultur vergessen. Und ich habe Schritte in Richtung Türkisierung gemacht. Eine Person, die komplett dem
Staat dient, wurde geschaffen. Das Bildungssystem hatte genau das zum Ziel. Erst als ich den
Sozialismus kennen gelernt habe und mit AbdulKönntest du näher auf die Anpassung der Ju- lah Öcalan in Kontakt kam, habe ich den Staat,
gend an den Staat eingehen? Was genau meinst Kurdistan und alles weitere erkannt und dann
du damit? Was sind die Gegenmaßnahmen, die die Universität verlassen. Ich bin nach Kurdistan
gegangen und habe hier mit der Arbeit begondie Bewegung unternimmt?
nen. Ich war einer der ersten, die anfangs nach
Damit die Freund_innen verstehen, was ich ge- Kurdistan gekommen sind. Und das müssen wir,
nau meine, gebe ich ein Beispiel von mir: Als wir natürlich auf Europa angepasst, auch in Europa
von Kurdistan nach Ankara zum Studieren gegan- machen. Es gibt dort momentan keine ideologigen sind – unsere Familien wollten, dass wir stu- sche und philosophische Bildung. Und deswegen
dieren – haben wir dort den Sozialismus kennen erkennen die Menschen dort auch nicht die Regelernt. Darauf
alitäten Kurdistans. Wie soll es die Jugend dann
aufbauend hat Apo uns die Realität in Kurdistan verstehen? Das System bombardiert sie dazu
nahe gebracht. Durch den Sozialismus haben wir noch jeden Tag mit seinem Fernsehen, seinen
Kurdistan erst kennen gelernt und somit auch Schulen und so weiter. Die Jugend wird von allem
uns selbst. Und deswegen führte unser Weg getrennt, ist hin und her gerissen und wird letztdann zurück nach Kurdistan. Wenn Serok Apo endlich dadurch gebrochen. Diese ideologische
unseren Blick nicht nach Kurdistan gerichtet hät- und philosophische Bildung könnt ihr betreiben.
te, wäre der Weg zurück sehr schwer gewesen. Die Freund_innen an den Universitäten, die HüUnd für euch in Europa könnt ihr dasselbe sagen: seyin Çelebi (in Hamburg geboren, war viele JahEinerseits müsst ihr ideell, ideologisch, philoso15
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
re in Deutschland für die kurdische Bewegung
aktiv, 1 992 in Kurdistan im Guerillakampf gefallen; Anm. d. Red.) als Vorbild nehmen, können
diese Arbeit machen. Ihr habt natürlich auch einen Vorteil dadurch, dass ihr in Europa studiert.
Ihr kennt die Sprache, ihr kennt die Staaten, ihr
versteht sie. Diese Vorteile könnt ihr mit kultureller und ideologischer Vertiefung ausnutzen
und sie in den Dienst der Völker stellen. Ihr könnt
Kontakte mit Europäer_innen knüpfen, mit ihnen
zusammenarbeiten, ihnen die Bewegung näher
bringen, Freund_innenschaften knüpfen, politisch zusammenarbeiten, und Europäer_innen
zu Freund_innen der PKK, des kurdischen Volkes
und der Freiheitsbewegung machen.
uns in der Gesellschaft zu ändern. Ein Beispiel
aus Deutschland: Dort hat der türkische Staat
den Sozialdemokrat_innen ihre Unterstützung
zugesichert, falls diese ihre Interessen verfolgen.
Daraufhin wurde die kurdische Tageszeitung Özgür Politika verboten.
Wir sind zwar in Deutschland auch stark und können viele Gefahren vorbeugen, aber es gibt eine
Faulheit und die Freund_innen engagieren sich
nicht. Der türkische Staat, die Konsulate und ihre
Verbündeten dort arbeiten alle gegen die Bewegung, machen Antipropaganda, sodass die europäischen Völker, die europäische Gesellschaft,
sogar Demokrat_innen, Sozialist_innen und
Kommunist_innen die Bewegung nicht richtig
kennen. Wir haben diesbezüglich große Defizite,
Wie kann das Bild von der PKK, das seitens der das dürfen wir nicht verschweigen. Wir müssen
Türkei und anderer Staaten propagiert wird, ge- uns in Europa vorstellen und uns zu verstehen
geben. Das geht nicht von alleine. Sonst werden
ändert werden?
die Menschen uns nur über die schlechten Dar(In den folgenden Ausführungen richtet sich Bay- stellungen des türkischen, iranischen oder syriık auch direkt an die im Gespräch anwesenden schen Staates kennen. Hier haben wir ernsthafte
Aktivist_innen aus Europa.)
Defizite. Die Freund_innen dort sind faul, arbeiten nicht und schaffen es nicht, die Bewegung
Ihr könnt das Bild von den Kurden und der Be- richtig darzustellen. Wir sind eine große Bewewegung, welches vom türkischen Staat, von den gung und haben es trotzdem noch nicht mal geeuropäischen Staaten und von den USA geprägt schafft, die Verteidigungsschriften zu übersetzen
wurde, ändern. Ihr könnt starke diplomatische (Gemeint sind die geschichtsphilosophischen
und politische Arbeit betreiben. An den Univer- und politischen Schriften von Abdullah Öcalan,
sitäten habt ihr viele Kontakte, Verbindungen die er in Isolationshaft geschrieben hat. Sie beinund Möglichkeiten. Ihr könnt Informationsarbeit halten umfangreiche Darstellungen der Philosomachen, in Zeitungen, in Zeitschriften, im TV und phie und Politik der PKK und der kurdischen FreiRadio. Die Realitäten in Kurdistan, das, was die heitsbewegung. Von sechs Büchern sind bisher
Unterdrücker_innen
nur zwei ins Deutsche übersetzt worden: „Gilgamachen, alles könnt ihr berichten, zu verste- meschs Erben“ und „Jenseits von Staat, Macht
hen geben. Ihr könnt auch bürokratische Ar- und Gewalt“; Anm. d. Red.). Allein diese Überbeit machen, denn viele unserer Freund_innen setzung würde vieles erklären. Die Wahrheiten
haben Schwierigkeiten dabei. Staaten knüpfen über Serok Apo und die PKK ließen sich besser
mit Staaten Kontakte und wollen uns dadurch verstehen. Unsere Student_innen könnten zum
vernichten. Sogar internationale Organisationen Beispiel diese Übersetzung machen. Es gibt keiwie die UN und zivile Organisationen nutzen sie ne wichtigere Aufgabe. Wenn die Verteidigungsaus um uns zu vernichten, von oben und unten schriften übersetzt und unter die Bevölkerung
greifen sie uns an und zeichnen von uns das Bild gebracht werden, dann werden sich die Dinge
einer Terrororganisation. Die Realität der PKK ändern. Darauf aufbauend kann mensch viel arwird nicht gesehen. Die Freund_innen können beiten. Es gibt in Europa genug zu tun.
zum Beispiel in solchen zivilen Organisationen Wenn eine Demonstration stattfindet mit hunarbeiten. Nicht in staatlichen Institutionen, aber derttausend Teilnehmer_innen und davon zehnes gibt sehr viele zivile Organisationen, in denen tausend Deutsche sind, dann hat das schon eine
die Freund_innen arbeiten können, um eine Ge- ganz andere Wirkung. Wenn es nur Kurd_ingenöffentlichkeit zu schaffen und das Bild von
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
nen sind, dann hat das keine große Wirkung.
Die Kurd_innen können durch den deutschen
Staat ignoriert werden. Aber wenn zehntausend
Deutsche dabei sind, kann der Staat diese nicht
so einfach ignorieren. Ein anderes Beispiel: Es
werden in Europa auf den Demonstrationen türkische und kurdische Slogans gerufen. Wer soll
das denn bitte verstehen? Warum werden diese Demos denn gemacht? Damit der deutschen
Gesellschaft etwas mitgeteilt wird. Wie soll das
denn auf türkisch und kurdisch geschehen? Die
Slogans müssen auf deutsch und kurdisch sein.
Die Reden müssen auf deutsch und kurdisch
sein. Damit das deutsche Volk uns verstehen
kann. Sogar das wird falsch gemacht. In unserer
Arbeitsweise gibt es also viele Defizite.
lichkeit muss ausgenutzt werden.
Als Serok nach Syrien ging, kannte er dort nur
eine Familie über einen Freund. Als diese den
Freund fragten, wer Abdullah Öcalan sei, sagte
er, dass er ein Verwandter aus der Türkei sei. Sie
kannten Serok nicht. Er wollte dann diese Familie gewinnen. Er hat es vollbracht und gewann
dadurch mit der Zeit die gesamte Region für die
Bewegung. Er hat aus einer kleinen Möglichkeit
etwas Großes geschaffen. Das ist die Arbeitsmoral der PKK. So müssen die Freund_innen in Europa arbeiten. Vielleicht hat mensch irgendwo
nur eine kleine Anzahl von Freund_innen. Wenn
mensch sich aber anstrengt, dann wird mensch
größer. Alles hängt mit der eigenen Arbeit zusammen. Auch die PKK war zu Beginn eine kleine
Gruppe aus fünf, sechs Menschen. Heute sind
Es gibt einige Kritik an der Arbeit der kurdischen wir Millionen. Das heißt, dass alles mit Mühe
Bewegung in Europa. Gibt es denn auch positive zusammenhängt. Als die PKK entstand, gab es
viele Bewegungen. Heute gibt es keine ernstzuBeispiele?
nehmende Bewegung außer der PKK. In der PKK
Ich hatte zum Beispiel gelesen, dass ihr eine Kon- sind geringe Möglichkeiten der Ansporn dafür,
ferenz ausgerichtet habt. Das war gut. Das lässt durch Arbeit und Mühe die Möglichkeiten zu
sich an vielen Universitäten machen: über die vergrößern. Hindernisse sind dafür da, um überPKK, über unser Paradigma, über Kurdistan und wunden zu werden. Wir sollten uns nicht das
über die Unterdrückung. Darüber kann mensch Einfache vornehmen. Wenn ihr das macht, dann
viele Seminare und Diskussionsveranstaltungen findet ihr immer irgendwelche Ausreden. Wenn
ausrichten. Die kurdischen Studierenden sollten ihr euch aber den Erfolg vornehmt, dann kommt
nicht nur Kontakte zu kurdischen Jugendlichen ihr vorwärts.
aufbauen, sondern auch zu europäischen. Wer
die Jugend für sich gewinnt, gewinnt die gesamte Gesellschaft für sich. Wenn die Freund_innen Könntest du auf die Situation von Abdullah
der Bewegung gute Arbeit machen, die Jugend- Öcalan eingehen? Seit fast eineinhalb Jahren ist
lichen aus Kurdistan erreichen, die Jugendlichen er in vollständiger Isolation. Wie ist seine Geaus Europa erreichen, dann können sie vieles fangennahme vor mehr als 13 Jahren einzuordändern und viele Meinungen ändern. Vielleicht nen?
ist die Mehrheit der Jugendlichen fern von Poli- Zu glauben, dass die Politik gegen Serok Apo von
tik, aber es gibt viele gewissenhafte Jugendliche, der Türkei entwickelt worden ist, ist falsch. Diese
die das nicht sind, die sich sehr wohl mit Politik Politik wurde von den USA, Großbritannien, Israbeschäftigen. Wenn wir diese erreichen, können el und der NATO entwickelt und von der Türkei in
wir viel ändern. Alles hängt mit der Mühe zusam- die Praxis umgesetzt. Mensch muss die Gründe
men, die sich die Freund_innen machen. Zahlen, für die Isolierung von Apo und die Inhaftierung
Größe, etc. sind unwichtig. Wenn du dir Mühe seiner Anwält_innen inklusive Kontaktverbot gut
gibst, dann wächst du automatisch. Es gibt ein verstehen. Serok Apo wollte ein neues Paradigkurdisches Sprichwort: „Wenn ein_e Bäuer_in es ma verwirklichen und wenn dies damals gelunwirklich will, kann _sie sogar einen Bullen mel- gen wäre, hätte es eine ernsthafte Gefahr für das
ken. Wenn _sie nicht will, kann _sie nicht mal kapitalistische System dargestellt. Damit dies
eine Kuh melken.“ Die PKK-Kader holen nicht aus nicht geschieht, musste er handlungsunfähig geder Kuh die Milch, sondern aus dem Bullen. Das macht werden. Zu welcher Zeit ist der internaist unsere Herangehensweise. Die kleinste Mög- tionale Komplott umgesetzt worden? Genau zu
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
der Zeit als Serok Apo ein neues Paradigma entwickelt hatte und der 3. Weltkrieg im Mittleren
Osten begonnen wurde.
Wir befinden uns im Mittleren Osten gerade im
3. Weltkrieg. Das ist die Strategie von Brzeziński,
einem bedeutenden Strategen der USA. Er hatte
Anfang 2000 ein Buch geschrieben, in dem er die
Strategie offen legte, nach der heute der Krieg
geführt wird. Das Ziel des 3. Weltkrieges ist, die
Hegemonie der USA weltweit zu konsolidieren
und zu stärken. Alle Hindernisse bei der Verwirklichung dieses Zieles sollten aus dem Weg geräumt werden, egal ob dies ein Staat oder eine
Organisation ist. Dieser Krieg findet überall statt,
aber sein Schwerpunkt liegt im Mittleren Osten
und in Asien und dort muss er zu Ende gebracht
werden. Das Zentrum des Krieges liegt hier. Afghanistan und der Irak wurden angegriffen. Afghanistan ist aufgrund seiner geographischen Lage
zu China und Indien wichtig. Der Irak ist aufgrund
seiner Lage im Mittleren Osten wichtig. Die Realisierung des 3. Weltkrieges fand in diesem Gebiet auf diese Weise statt. Zur gleichen Zeit als
der 3. Weltkrieg im Mittleren Osten gegen den
Irak konkretisiert wurde, wurde der internationale Komplott gegen Serok Apo und die Bewegung durchgeführt. Denn um den 3. Weltkrieg
im Mittleren Osten zum Erfolg führen zu können,
mussten Serok Apo und die PKK als Hindernis
aus dem Weg geschafft werden. Sie stellten das
größte Hindernis dar. Ohne dieses Hindernis zu
beheben, hätte dieser Krieg nicht erfolgreich begonnen und verwirklicht werden können.
Wieso wird dieser 3. Weltkrieg überhaupt geführt? Nachdem sich die Sowjetunion aufgelöst
hat, gab es eine Leere, und diese musste gefüllt
werden. Das System befindet sich in einer Krise, die es versucht, in den Griff zu bekommen,
und deshalb wird der 3. Weltkrieg geführt. Eine
Macht, die auf der Welt hegemonial werden will,
muss im Mittleren Osten hegemonial werden,
dies wird durch die Geschichte bestätigt. Wieso ausgerechnet der Mittlere Osten? Er ist das
Rückgrat der Welt. Dort ist der Ort, von dem ursprünglich alle Völker stammen. Die Geschichte fängt im Mittleren Osten an. Die Grundlage
der heutigen Zivilisation liegt dort. Wenn eine
Macht die ganze Welt beherrschen will, muss
sie den Mittleren Osten beherrschen. Wenn
sie ihn nicht in der Hand hat, kann sie auch die
Welt nicht beherrschen. So wie der Mittlere Osten das Rückgrat der Welt ist, ist Kurdistan das
Rückgrat des Mittleren Ostens. Wer Kurdistan
nicht beherrscht, kann den Mittleren Osten nicht
beherrschen und damit auch die Welt nicht. Als
Amerika, die kapitalistische Moderne und seine
Institutionen, wie zum Beispiel die NATO, den
3. Weltkrieg begonnen haben, wurde der internationale Komplott ausgeführt. Durch die Neutralisierung Seroks wurde die PKK unter großen
Druck gesetzt. Damit wurde versucht zu verhindern, dass die PKK in der Lage ist, weitere Schritte zu unternehmen. Um sicherzustellen, dass der
Krieg im Mittleren Osten erfolgreich begonnen
und geführt werden kann und die eigenen Ziele
realisiert werden können. Denn die PKK haucht
den Völkern im Mittleren Osten Leben ein. Dies
musste unbedingt verhindert werden. Außerdem
wollte die PKK zu dieser Zeit ein neues Paradigma umsetzen, ein alternatives System erschaffen, und auch das musste unbedingt verhindert
werden. Deshalb wurde der internationale Komplott entwickelt.
Du bist jetzt schon ein bisschen auf die Lage im
Mittleren Osten eingegangen. Kannst du deine
Gedanken dazu noch weiter ausführen?
Der Krieg, der im Irak begonnen und dann über
Libyen, Ägypten, Tunesien und den Jemen weitergeführt wurde, soll nun in Syrien beendet
werden. Der Krieg in Syrien ist der letzte auf arabischem Boden. Es ist der Ort, der den geführten
Krieg zu einem Ergebnis bringen kann. Je nachdem, wie am Ende die Lage Syriens sein wird,
wird der Mittlere Osten neu geordnet werden
können. Von dort aus wird zum Iran übergegangen werden. Dieser wird im Kriegsfall vermutlich in vier bis fünf einzelne Staaten aufgeteilt
werden. Noch später wird sich dann, über Afghanistan gehend und mit dem Mittleren Osten
im Rücken, darauf orientiert, China, Indien und
Russland zu neutralisieren. Das ist die Strategie
und deshalb erleben wir momentan diesen großen Krieg. Wir müssen Folgendes beachten: Als
der Krieg im Mittleren Osten begonnen wurde,
wurde gegen Serok Apo vorgegangen und heute,
da der Krieg in Syrien zu Ende gebracht werden
soll, wird wieder gegen ihn und die
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Bewegung vorgegangen. Der Grund für den Abbruch aller Gespräche mit ihm, für die Inhaftierung seiner Anwält_innen, für die Unterbindung
jeglichen Kontakts mit der Außenwelt, für die
Einsperrung tausender demokratischer Politiker_innen, für die Verwendung jeglicher Art von
Waffen gegen die Guerilla, für den andauernden
Druck ist der 3. Weltkrieg.
Es sind die Bemühungen unserer Bewegung,
eine Alternative zum kapitalistischen System zu
erschaffen. Während der 1. und 2. Weltkrieg
im Mittleren Osten geführt wurde, gab es keine Organisierung und keinen Kampf seitens der
Kurd_innen. Deshalb konnte die Aufteilung Kurdistans durch die Verleugnung der Existenz der
Kurd_innen erfolgen. (1 923 wurden beim Vertrag von Lausanne zwischen der Türkei und den
Besatzungsmächten Italien, Frankreich und dem
Vereinigten Königreich die heutigen Staatsgrenzen festgelegt, die das kurdische Siedlungsgebiet
durchziehen; Anm. d. Red.) Dadurch konnte der
Status Quo aufrechterhalten werden. Doch dieser funktioniert heute nicht mehr. Mit dem 3.
Weltkrieg soll der gesamte Mittlere Osten, natürlich inklusive Kurdistan, von Neuem geordnet
werden. Da der durch den 1. und 2. Weltkrieg
zustande gekommene Status nicht mehr funktioniert, dem kapitalistischen System nicht mehr
dient, soll eine neue Ordnung geschaffen werden, die dem System dient. Auch wenn der Krieg
im Irak begonnen hat und über die arabischen
Länder nach Syrien gebracht wurde, geht der eigentliche Krieg um Kurdistan. Der 3. Weltkrieg
hat sich zu einem Krieg entwickelt, der in Kurdistan geführt wird.
Momentan hat die PKK Erfolge zu verzeichnen,
sei es im syrischen Teil Kurdistans oder auch in
Nordkurdistan, wo große Gebiete von der türkischen Armee nicht mehr betreten werden können. Wohin werden diese Erfolge führen?
Wir halten momentan die Initiative auf politischer und militärischer Ebene in der Hand. Wir
haben die USA, die Türkei und die KDP (Kurdische Demokratische Partei; auf kurdisch PDK,
Partîya Demokrata Kurdistan; Regierungspartei in der kurdischen Autonomieregion im Irak;
Anm. d. Red.) momentan in die Enge gedrängt.
Diesen Zustand müssen wir weiter vertiefen.
Wenn uns das gelingt, wird dies die Freiheit
von Abdullah Öcalan und die Freiheit des kurdischen Volkes zur Folge haben. Dies ist der Weg
zur Freiheit. Der Kampf, den wir bisher geführt
haben, ist noch nicht auf die Ebene gekommen,
dass er die Freiheit von Öcalan und des kurdischen Volkes bewirken könnte. Erst wenn er auf
einer entsprechenden Ebene ankommt, werden
Serok Apo und das Volk befreit werden. Bis unser
Kampf auf diese Ebene kommen wird, werden
sie ihre Politik gegen Serok Apo, gegen das Volk,
gegen die demokratische Politik und die Guerilla
fortführen. Da müssen wir realistisch sein.
Das System hat entschieden, Apo jeden Tag umzubringen. Das ist die Politik, die sie anwenden.
Dies ist auch die Politik, die gegen das kurdische Volk angewendet wird. Nicht töten, nicht
am leben lassen, sondern einen Zustand dazwischen, der jeden Tag den Tod bedeutet. Das ist
der schwerste und schlimmste Tod. Das ist eine
unmenschliche Politik, es gibt keine unmenschlichere Politik auf der Welt als diese. Wenn
mensch es dem System überlassen würde, würde Serok Apo İmralı (die Gefängnisinsel, auf der
Abdullah Öcalan seit 1999 inhaftiert ist; Anm. d.
Red.) nicht mehr lebendig verlassen können. Nur
die Standhaftigkeit und der Kampf der Bewegung
kann ihn lebendig aus İmralı befreien. Erst wenn
der Kampf der Bewegung ihnen die Nase bricht,
ihnen jegliche Hoffnung auf Vernichtung nimmt,
dann sind sie gezwungen ihre
Politik zu ändern, dann kann Serok Apo befreit
werden. Deshalb wird die Isolation von ihm weitergehen bis wir es schaffen, dass sie keine Erfolge mehr erzielen.
Wir hatten die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan und den internationalen Komplott
schon kurz angesprochen. Könntest du etwas
näher darauf eingehen?
Wir konnten beobachten, als Syrien auf die Tagesordnung gesetzt wurde, dass sämtliche Verhandlungen mit Öcalan abgebrochen und seine
Anwält_innen inhaftiert wurden. Sie haben ihn
komplett von der Außenwelt abgeschnitten, damit sie ein Ergebnis erzielen können, damit Serok
dem Volk und der Bewegung keine Perspektiven
mehr geben kann. Wir führen diesen Kampf,
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
um diese Politik ins Leere laufen zu lassen, also
damit das System, der türkische Staat und die
kurdischen Kollaborateur_innen kein Ergebnis
erzielen können. Wir müssen den Kampf erst
auf dieses Niveau bringen. Dann können sie ihre
Politik nicht fortführen, die Isolation Apos wird
beendet werden und er kann befreit werden.
Natürlich wissen wir nicht, was er alles durchmachen muss, ob er lebt oder nicht. Schon als die
Verhandlungen noch geführt wurden, konnten
wir sehen, dass er vergiftet wird, dass sie ihm
zwangsweise die Haare geschnitten haben, dass
sie ihn gefoltert haben und wir wissen nicht, was
sie jetzt gerade mit ihm machen. Sie können die
Folter jetzt noch verstärkt ausüben. Wenn wir
Serok aus dieser Situation befreien wollen, müssen wir eine entsprechende Praxis entwickeln.
Einen anderen Weg gibt es nicht.
Als einmal ein türkischer General nach Europa
gekommen ist, wurde er gefragt, wieso sie Abdullah Öcalan nicht hingerichtet haben. Er antwortete, dass er es, wenn sie ihn hingerichtet
hätten, zu schnell hinter sich gehabt hätte. „Wir
richten ihn jeden Tag hin.“ Das war die Antwort,
die der General gegeben hatte. Sami Türk, ehemaliger Justizminister unter Ministerpräsident
Ecevit, hat im Fernsehen ganz offen gesagt, dass
er alle rechtlichen Mittel verhindert habe, die
Abdullah Öcalan und seine Anwält_innen hätten
anwenden können, und Gesetze verabschiedet
haben, die verhindern, dass er jemals lebend
aus dem Gefängnis kommt. Damit sagt er ganz
offen, dass sie ihn dort umbringen wollen und er
nur als Leichnam aus diesem Gefängnis kommen
wird. Das ist die Politik, die sie anwenden, und
etwas anderes können wir von ihnen auch nicht
erwarten.
Wer Serok Apo aus diesem Zustand befreien will,
muss einen entsprechenden Kampf führen, damit sie ihre Hoffnungen auf Auslöschung verlieren. Nur dann kann Serok Apo befreit werden.
Er leistet auf İmralı den größten Widerstand in
der Geschichte. Dieser Widerstand wird nicht
nur gegen den türkischen Staat geleistet, sondern gleichzeitig auch gegen die kapitalistische
Moderne. Alles in allem wird dort eine Politik
gemacht, die darauf ausgerichtet ist, den Willen
Seroks zu brechen, um dadurch den Willen des
Volkes und der Bewegung zu brechen, um ihnen
den eigenen Willen aufzwingen zu können. Dagegen leistet Serok seinen Widerstand. Er will
ihren Willen brechen, damit sie den Willen des
Volkes akzeptieren. Deshalb erleben wir dort gerade einen großen Krieg. Wer wird wessen Willen brechen? Wem dies gelingt, der wird seinen
Willen dem anderen aufzwingen können.
Das System versucht Apo seine Rolle als Vorreiter, seine Rolle als politische Persönlichkeit zu
nehmen und ihn in einen „normalen“ Häftling
umzuwandeln, so wie es tausende andere Häftlinge gibt. Deshalb wollen sie auch, dass seine
Familienanwält_innen ihn besuchen. Dies akzeptiert Apo nicht, denn wenn er dies tun würde,
würde genau das passieren, was sie wollen: Er
wäre ein Gefangener unter vielen, der von seinen Familienanwält_innen Besuch bekommt.
Deshalb lehnt Serok auch Gespräche mit seinen
Familienanwält_innen ab. Er sagt, dass er nichts
mit ihnen zu bereden hätte, denn sein Gesprächspartner sei der Staat. Denn die Lösung der kurdischen Frage ist nur mit dem türkischen Staat
möglich, nicht mit Familienanwält_innen. Und
da der türkische Staat die Vernichtung will und
keine Lösung, gibt es momentan keine Gespräche. Abdullah Öcalan hat selbst gesagt: wenn der
Staat wirklich eine Lösung will, dann wäre er bereit, Verhandlungen zu führen. Wenn nicht, ziehe er sich zurück. Der Staat ist noch nicht bereit
für eine Lösung. Serok Apo hat seine Protokolle
dem Staat überreicht und dieser hat sie abgelehnt, also blieb Serok nichts anderes übrig, als
sich zurückzuziehen. Diesen Zustand wollte der
Staat mithilfe der Familienanwält_innen durchbrechen, aber Serok Apo hat gesagt, dass er so
nicht verhandeln wird.
Die von Serok entwickelte Ideologie stellt eine
große Alternative dar und diese Alternative soll
verhindert werden, darauf ist diese Politik ausgerichtet. Serok will diese Alternative unbedingt
realisieren, da wir momentan im Mittleren Osten und in Kurdistan eine revolutionäre Situation erleben, die zu noch größeren Revolutionen
führen könnte, wie damals 1789 in Frankreich
und 1 905/1 91 7 in Russland (Französische Revolution und Oktoberrevolution; Anm. d. Red.).
Das Gebiet wird von Neuem geordnet. Dies sind
laut Serok die momentanen Bedingungen und er
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
hat die PKK kritisiert, dass sie nicht bereit ist und
Angst hat, Schritte in Richtung der Revolution zu
gehen. So wie in Frankreich zu Zeiten der europäischen Krise die Revolution gemacht wurde,
so wie im 1 . Weltkrieg während einer großen
Krise Lenin die Revolution in Russland realisiert
hat, so erleben wir auch in der heutigen Welt
eine große Krise, in dessen Zentrum der Mittlere
Osten steht, und in dessen Zentrum wiederum
Kurdistan ist. Die PKK will dazu ein Alternative
entwickeln und muss deshalb in Richtung Revolution voranschreiten. Nachdem Serok diese Einschätzungen getroffen hatte, hat der Staat jegliche Verhandlungen abgebrochen, damit die PKK
keine revolutionäre Alternative entwickelt und
er das Gebiet Kurdistans nach den eigenen Wünschen formen kann. Das ist der Kern der Sache.
Momentan hat die PKK an der Grenze von
Süd- zu Nordkurdistan große Gebietsgewinne
zu verzeichnen und auch in Syrien sind viele
Grenzposten unter der Kontrolle der YPG, der
bewaffneten kurdischen Volksverteidigungseinheiten. Wie reagieren die Türkei und auch die
USA darauf?
Wir haben die Türkei durch unseren Kampf im
syrischen Teil Kurdistans und in Nordkurdistan
umzingelt. Dies kommt auch einer Umzingelung
der USA gleich und deshalb sind US- Amerikaner_innen vor kurzem in die Türkei gekommen,
um über die aktuelle Lage in Syrien und die PKK
zu reden, wie sie aus dieser Gefahr herauskommen können, welche Roadmap sie wählen. Deshalb bedrohen sie uns. Diese Bedrohungen haben zwei Ziele: Zum einen uns zu erschrecken,
uns zum Rückzug zu bewegen und zum anderen
einen neuen Angriff gegen uns vorzubereiten. Es
wird aber kein Zurückweichen geben, die Revolution wird weiter entwickelt werden. Der Westen und der Norden Kurdistans ergänzen sich
gerade gegenseitig. Die Entwicklungen auf der
Linie Şemdinli, Hakkâri und Çukurca (die eingenommenen Gebiete an der Grenze zwischen
Nord- und Südkurdistan; Anm. d. Red.) und die
Entwicklungen in Westkurdistan beleben sich
gerade gegenseitig und drängen gleichzeitig die
KDP (Kurdische Demokratische Partei, Regierungspartei in der Kurdischen Autonomieregion
im Nordirak, die wirtschaftlich und politisch mit
den Nato-Staaten kooperiert, Anm. d. Red.) und
die Türkei in die Enge. Je weiter diese Entwicklungen fortschreiten, umso näher rückt die Befreiung Seroks.
Wie schätzt du die aktuelle politische Situation
des türkischen Staates ein?
Die innenpolitische und außenpolitische Situation der Türkei ist momentan nicht sehr gut. Die
türkische Mittelost-Politik ist fehlgeschlagen. Die
Türkei hat sich selbst für den Mittleren Osten als
Modell vorgeschlagen. Doch sie wird als Modell
nicht akzeptiert, da dahinter der Herrschaftsgedanke des Osmanischen Reiches steckt. Zuerst
haben die islamischen Bewegungen in Tunesien
und Ägypten gegen die AKP (Adalet ve Kalkinma
Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung;
Regierungspartei in der Türkei, die stark auf eine
staats-islamische Politik setzt; Anm. d. Red.) Stellung bezogen. Sie haben gesagt, dass die Türkei
unter dem Banner des Osmanischen Reiches die
Region von neuem erobern und sie versklaven
will. Diese Politik ist also nicht aufgegangen.
Die Türkei hat über den syrischen Markt den
arabischen Mark erobert und dort großen Handel betrieben, von dem die türkische Wirtschaft
profitiert hat. Als zweiter Schwerpunkt wurde
der Handel mit der kurdischen Autonomieregion in Südkurdistan und dem Irak betrieben, der
der türkischen Wirtschaft ebenfalls Aufschwung
gegeben hat. Während es auf der Welt eine
Wirtschaftskrise gab und nach wie vor gibt, hat
die Türkei mit ihrer stabilen Wirtschaft angegeben, da sie in der Region mit viel Geld Handel
betrieben hat. Aber als Syrien auf die Tagesordnung kam, ist der syrische Markt und damit der
arabische Markt zusammengebrochen. Das hat
die türkische Wirtschaft stark getroffen und ins
Wanken gebracht. Der südkurdische und irakische Markt allein deckt nicht die Kapazität der
türkischen Wirtschaft ab.
Der Plan der Türkei war, in kurzer Zeit das syrische Regime zu stürzen, die Muslimbrüder (Diese politischen Interessengruppen versuchen,
im Zuge der Neustrukturierung der arabischen
Länder, den politischen Islam mit neoliberaler
Wirtschaftspolitik zu verbinden; Anm. d. Red.)
an die Macht zu bringen, Syrien komplett unter
eigene Kontrolle zu bringen und von dort aus
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
den Mittleren Osten zu kontrollieren. Und damit in ökonomischer Hinsicht den syrischen und
arabischen Markt in den Dienst der türkischen
Wirtschaft zu stellen. Sie wollten politisch und
ökonomisch Profit aus der Situation schlagen.
Sie nahmen an, dass das syrische Regime sehr
schnell zusammenbrechen würde. Wir konnten
feststellen, dass sich die türkische Regierung vor
allen anderen und in kürzester Zeit gegen das
syrische Regime positioniert hatte. Aber auch
diese Politik ist nicht aufgegangen. Das syrische
Regime ist nicht schnell zusammengebrochen, es
zieht sich weiter in die Länge und dies schadet
der türkischen Wirtschaft und Politik. Außerdem
können es Europa, Nordamerika und die arabischen Staaten nicht hinnehmen, wenn die Muslimbrüder als Alleinherrscher an die Macht kommen und Syrien als weitere Region an die Türkei
angebunden wird. Dadurch ist die Syrien- und
Mittelost-Politik der Türkei fehlgeschlagen.
Um diesem Dilemma zu entfliehen, hat die Türkei einige Taktiken entwickelt. Sie hat ein Flugzeug geschickt, das von Syrien abgeschossen
wurde. Damit wollte die Türkei die NATO in einen
Krieg gegen Syrien einbinden. Das hat die NATO
nicht akzeptiert. Daraufhin hat die Türkei die eigenen Flugzeuge zurückgezogen und begonnen
die Freie Syrische Armee zu unterstützen. Das
Ziel war, Westkurdistan unter die Kontrolle der
Freien Syrischen Armee, also unter die Kontrolle
der Türkei zu bringen. Wenn dies gelungen wäre,
hätten die Kurd_innen in Syrien keinen Erfolg gehabt. Wir sind aber rechtzeitig dahinter gekommen und haben die kurdischen Städte sofort befreit und damit den Plan der Türkei verhindert.
Jetzt hat sie einen neuen Plan. Sie will von neuem eine Puffer-Zone in Westkurdistan errichten,
damit die Kurd_innen wieder außen vor gelassen werden können. Sie versuchen, die Kurd_innen zu hintergehen, indem sie sagen, dass sie
gar nicht gegen einen Status für die Kurd_innen
sind, sondern gegen den Einfluss der PKK dort.
Dadurch wollen sie die dortige Einheit der Kurd_
innen zerstören und sie spalten.
Denn wenn die Kurd_innen dort unter dem Einfluss der PKK einen Status erlangen, dann kann
die Vernichtungspolitik der Türkei in Nordkurdistan nicht mehr fortgeführt werden. Dann müssten sie auch dort die kurdische Frage lösen und
wenn diese gelöst wird, dann nur mit der PKK,
da diese in Nordkurdistan sowie in Syrien hegemonial ist. Daraus folgend würde auch das kapitalistische System in Gefahr geraten. Dies muss
von ihnen verhindert werden und der Weg führt
über Westkurdistan. Wir haben ihre Pläne zu
einer für sie unerwarteten Zeit durcheinander
gebracht. Alle sind schockiert. Nicht nur dort,
sondern auch im Gebiet Hakkâri, Şemdinli und
Çukurca haben wir eine neue Taktik begonnen.
Früher hatte die Guerilla immer zugeschlagen
und sich danach zurückgezogen. Jetzt schlägt sie
zu und behält das Gebiet unter ihrer Kontrolle.
Sie entzieht der Türkei die Kontrolle über diese
Gebiete und sperrt sie in ihre eigenen Militärstützpunkte ein, sodass sie diese nicht mehr verlassen können. Die Wege werden abgeschnitten
und die Stützpunkte sind nicht mehr handlungsfähig. Die Soldat_en können diese weder verlassen, noch von aussen Unterstützung bekommen.
Diese Entwicklung bringt die Türkei ziemlich in
Bedrängnis.
Und wie sieht es innenpolitisch in der Türkei
aus?
Während sie außenpolitisch komplett versagt
hat, gibt es auch innenpolitische Entwicklungen
der Türkei. Die Fetullah-Gülen- Bewegung (politisch-islamische Bewegung um den in Texas, USA
lebenden Prediger Fetullah Gülen, der große
Teile der Medienlandschaft in der Türkei gehören, unter anderem die Tageszeitung „zaman“,
und gesellschaftlich-politische Institutionen, beispielsweise Schüler_innen-Nachhilfe-Institute;
Anm. d. Red.) und die AKP sind mit Unterstützung
der USA zusammen an die Macht gelangt. Jetzt
findet zwischen ihnen ein Machtkampf statt. Es
geht darum, wer wie viel Macht erhält. Das sind
typische Machtverteilungskämpfe, die es überall
gibt. Fetullah Gülen will die Macht nicht mit der
AKP teilen und andersherum dasselbe. Die AKP
hat versucht, mithilfe einer Taktik Fetullah Gülen
aus den USA in die Türkei zu bringen, aber er ist
nicht gekommen und die Taktik der AKP ist nicht
aufgegangen. Es gibt momentan einen Machtkampf zwischen der AKP und Fetullah Gülen,
der sich stetig verschärfen wird. Das liegt allein
schon in der Logik der Macht begründet.
Zum einen bringt diese Situation die AKP gegen-
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
über Fetullah Gülen in eine unglückliche Lage.
Zum anderen wurden die AKP und Fetullah Gülen, als sie sich zusammengeschlossen hatten,
um an die Macht zu kommen, von den Demokrat_innen, den Liberalen und den Intellektuellen in der Türkei erfolgreich unterstützt. Ihre
ideologische Unterstützung haben sie von dort
bezogen. Sie haben die AKP unterstützt, weil sie
gedacht hatten, dass diese die kurdische Frage
lösen wird, den Demokratisierungsprozess der
Türkei vorantreiben und eine neue Verfassung
auf den Weg bringen wird. Aber mittlerweile haben sie realisiert, dass keine dieser Fragen von
der AKP gelöst werden wird. Dass dies also nicht
das Ziel der AKP war. Aufgrund dessen hat ein
Teil der Liberalen und Demokrat_innen ihre Unterstützung zurückgezogen und stellt sich jetzt
gegen die AKP und kritisiert diese. Das ist wichtig. Eine andere wichtige Sache ist, dass es in der
Armee, unabhängig davon wie weit die aktuelle
Regierung die oberste Generalität schon unter
ihre Kontrolle gebracht hat, drei Gruppierungen
gibt. Das ist eine ernste Situation für die AKP und
Fetullah Gülen. Wir konnten feststellen, dass
Tayyip Erdoğan (der türkische Ministerpräsident
von der AKP; Anm. d. Red.) in der letzten Zeit
gegen die Inhaftierung von Ilker Basbug (ehemaliger 1. General der türkischen Armee: Anm. d.
Red.) aufgetreten ist. Damit will er die Gruppen
im Militär, die gegen ihn auftreten, besänftigen,
da er in diesen eine Gefahr sieht. Gleichzeitig ist
das Justizwesen in der Türkei in einem noch nie
dagewesenen Maße politisiert. Das schafft nach
innen und nach außen eine bedeutende Ungerechtigkeit. Das ist ebenfalls eine ernsthafte Situation für die Regierung.
relang gefahren und waren in großen Teilen auch
erfolgreich. Aber durch unseren Widerstand in
den Zap- Gebirgen (die Erlangung der Kontrolle über südöstliche Gebirgszüge des türkischen
Staatsgebietes durch die PKK seit dem Sommer
2012; Anm. d. Red.) haben sich die Umstände
geändert. Ihre Strategie hat Rückschläge erlitten.
Wir haben bei den Regionalwahlen ein Bündnis
mit türkischen Sozialist_innen, Demokrat_innen
und Linken geschlossen, das zu guten Ergebnissen geführt hat. Der Kampf in Kurdistan wird
langsam auch in der Türkei deutlich. Dadurch haben die türkischen Demokrat_innen und Linken
sich wieder etwas aufrappeln können. Deshalb
haben wir auch den Demokratischen Kongress
der Völker (HDK) entwickelt. Ziel ist es, sowohl
das Bündnis zwischen den Völkern zu stärken,
als auch eine Alternative zur jetzigen Herrschaft
darzustellen. Auch diese Entwicklung stellt eine
Gefahr für die AKP dar. Wenn diese Entwicklungen weiter voranschreiten, kann es die Strategie
der AKP komplett in Gefahr bringen. Außerdem
gibt es die neue Entwicklung, dass linksorientierte, demokratische und liberale sowie islamischantikapitalistisch denkende Menschen beginnen,
die kurdische Freiheitsbewegung und die PKK als
demokratische Kraft zu sehen, und erkennen,
dass ein gemeinsames Leben in der Türkei nur
über Verhandlungen mit uns erreicht werden
kann. Wenn wir all diese Punkte zusammen betrachten, dann ist auch die innenpolitische Lage
der AKP nicht sehr gut. Wenn diese Lage sich mit
der außenpolitischen Situation verknüpft und
noch dazu der Kampf in West- und Nordkurdistan sich weiter entwickelt, ist der türkische Staat
in ernsthafter Gefahr.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit linken, demokratischen türkischen Kräften aus?
Wir konnten beobachten, dass die CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, Republikanische Volkspartei;
kemalistisch-nationalistisch- laizistische Partei,
gegründet von Mustafa Kemal „Atatürk“; Anm.
d. Red.) und die AKP sofort zusammengekommen sind und behaupteten, die kurdische Frage
lösen zu wollen. Wer ist die CHP und die AKP?
Die CHP ist die Gründungspartei der Ersten Türkischen Republik und die AKP ist die Gründungspartei der Zweiten Republik. Diese beiden Parteien sind also in aller Eile zusammengekommen,
um die Republik zu retten. Doch allein das reich-
Es gibt eine Strategie gegen die Kurd_innen
und die PKK, die seit Jahren entwickelt worden
ist. Diese besteht darin, dass das türkische und
kurdische Volk sich nicht verbünden, der Kampf
sich in der Türkei nicht entwickelt, er nur auf die
Grenzen Kurdistans und auf die Berge Kurdistans
beschränkt bleibt, die türkische Bevölkerung gegen die Kurd_innen und die PKK aufgehetzt wird
und somit dieser Kampf zu keiner ernsthaften
Bedrohung wird. Diese Strategie haben sie jah-
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
te nicht aus und Erdoğan hat vorgeschlagen,
die kurdische Sprache als Wahlunterricht in den
Schulen anzubieten, um damit die Kurd_innen zu
beeinflussen. Doch auch das hat nicht gereicht.
Sie wollten noch weitere Schritte gehen, doch
dies hat nicht geklappt, weil die Bewegung sie
durch die Entwicklungen in Westkurdistan und in
Şemdinli-Hakkâri-Çukurca bloßgestellt hat. Die
Türkei sieht sich selbst nun in Gefahr. Wenn wir
diese Entwicklungen noch weiter vorantreiben,
wird die Türkei noch mehr in Schwierigkeiten
kommen, ihre bisherige Politik wird ihre Gültigkeit verlieren. Wenn die Türkei sich retten möchte, muss sie die kurdische Frage lösen und Serok
Apo freilassen. Geschieht dies nicht, droht die
Teilung der Türkei, wie zum Ende des Osmanischen Reiches. In diese Richtung entwickelt sich
die Türkei.
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Teil III - Europäische Union und internationales Kräfteverhältnis, Rolle der
Religion und die Praxis der Kritik und Selbstkritik
Der erste Teil des Interviews behandelte die politischen
Grundlagen des Paradigmenwechsels der PKK, die Ideologie
des demokratischen Konföderalismus und die Rolle des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan. Im zweiten Teil spricht
Cemil Bayık über die Rolle der Jugend und der Frauen als
Vorreiter_innen der Revolution, über die Situation und Potentiale der kurdischen Bewegung in Europa sowie über die
politische Lage in der Türkei, besonders bezüglich der aktuellen Entwicklungen in Syrien und Nordkurdistan.
Im dritten Teil äußert sich Cemil Bayık über die Europäische
Union und das internationale Kräfteverhältnis, über die Rolle der Religion, besonders des politischen Islam, und erläutert die Praxis der Kritik und Selbstkritik innerhalb der PKK.
Wie schätzt du die Rolle der Europäischen Union ein? Siehst du sie auch als Demokratisiererin oder nur als eine Vertreterin der kapitalistischen Moderne?
Das kurdische Problem selbst wurde von der kapitalistischen Moderne erzeugt. Und zwar durch
die Ordnung des Mittleren Ostens nach dem 1.
und 2. Weltkrieg seitens Großbritanniens und
Frankreichs durch die Aufteilung Kurdistans
unter den Kolonialstaaten und durch ihre Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegenüber
den Kurd_innen. Somit ist es Europa selbst, also
Frankreich und Großbritannien, das die kurdische
Frage überhaupt erst erzeugt hat. Als nach dem
2. Weltkrieg die USA zu den Hauptvertretern des
Systems geworden ist, hat es diese Politik fortgesetzt. Diese Politik ist bis heute aufgrund des
kurdischen Kampfes nicht aufgegangen und die
USA müssen jetzt gezwungenermaßen einige Änderungen an ihrer Politik vornehmen. Das ist die
Realität. Der Grund, weshalb die kurdische Frage
bisher nicht gelöst werden konnte, ist die kapitalistische Moderne, nicht die
Türkei. Das System will keine Lösung, die eine_n
freie_n Kurd_in beinhaltet. Früher wollte es gar
keine Lösung der kurdischen Frage, es unterstützte die Vernichtungspolitik gegen die Kurd_
innen. Da diese Politik aufgrund des kurdischen
Freiheitskampfes nicht aufgegangen ist, setzt es
nun auf kurdische Kollaborateur_innen und will
das Problem mithilfe dieser lösen, da Kurdistan
dadurch weiterhin im Dienst des Systems bleiben wird. _Die freie Kurd_in entzieht Kurdistan
dem Einfluss des Systems und versucht noch
dazu, eine Alternative zum System zu erschaffen.
Deshalb ist das System dagegen, das Problem
mit der PKK, mit _der freien Kurd_in zu lösen. Es
will das Problem mit der KDP lösen (Kurdische
Demokratische Partei, Regierungspartei im kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak; Anm. d.
Red.), denn dies bedeutet, dass Kurdistan weiterhin dem System dienen wird, dass Kurdistan sogar gegen die Völker in der Region benutzt werden kann. Die kapitalistische Moderne gibt der
Türkei im Kampf gegen _die freie_ Kurd_in dabei
die Kraft, denn es ist nicht die Türkei selbst, es ist
das System und seine NATO, die gegen uns Krieg
führen. Die Türkei alleine hätte unserem Kampf
nicht standhalten können und wäre längst untergegangen. Der Kampf der PKK ist also nicht ein
Kampf, der nur im Norden für Kurdistan geführt
wird. Es ist ein Kampf des gesamten Mittleren
Ostens, ein Kampf der Menschheit. Ein Kampf
gegen die kapitalistische Moderne. Und deshalb
ist die PKK das Ziel aller systemrelevanten Kräfte.
Von hier komme ich nun zu Europa. Vielleicht
wollen in Europa einige eine Lösung, aber die
Mehrheit ist gegen eine Lösung, vor allem gegen
eine Lösung zusammen mit der PKK. Europas
Politik bezüglich der Kurd_innen ist zwiespältig.
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Zum einen wird betont, dass sie auf der Seite
der Kurd_innen sind, zum anderen unterstützen sie die Unterdrücker_innen. Europa will auf
keinen Fall, dass sich hier ein freies Leben, eine
freie Gesellschaft entwickelt, weil es dem Profitdenken des Systems widerspricht. Und deshalb
erfolgt die Annäherung Europas nicht auf Basis
von Demokratie und Freiheit. Die Begriffe „Demokratie“ und „Freiheit“ benutzen die USA und
Europa sehr häufig, auch wir benutzen sie sehr
häufig. Aber es kommt auf die Bedeutung an, die
wir diesen Begriffen geben. Die kapitalistische
Moderne begeht unter dem Banner der „Demokratie“, der „Freiheit“ und der Menschenrechte
die größten Ungerechtigkeiten, die größten Massenmorde, die größten Menschenrechtsverletzungen. Ist denn Saudi-Arabien etwa eine Demokratie, wenn es dabei unterstützt wird, Syrien
oder sonstige Länder zu zerstören. Die Situation
in Saudi-Arabien ist noch schlimmer als in Syrien.
Es ist eine Monarchie, es gibt keinerlei Freiheiten. Im Vergleich dazu ist Syrien frei. Das Maß
sind also nicht Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, sondern inwiefern mensch den USA
dient oder nicht. Wenn mensch ihnen dient, gibt
es keine Probleme und wenn nicht, wird mensch
von der Landkarte getilgt.
Es gibt auch Widersprüche zwischen Europa und
den USA, und zwar wirtschaftliche. Das sind keine Widersprüche, die das System als solches betrifft, denn Europa ist keine Kraft, die grundsätzlich gegen die Politik der USA ist. Europa ist der
Ursprung des Kapitalismus, es würde niemals
dem System als solches schaden wollen. Trotzdem muss mensch sich bewusst sein, dass Europa bei der Lösung der kurdischen Frage eine Rolle spielt, denn es hat das Problem überhaupt erst
erzeugt. Wenn Europa keine Lösung will, wird die
Türkei dieses Problem niemals lösen. Das müssen wir wissen. Europa würde aber eine Lösung
nur akzeptieren, wenn es zum eigenen Vorteil
wäre, sonst nicht. Deshalb darf mensch sich bei
der Annäherung der EU an die Kurd_innen nicht
viel Positives erhoffen. Das bedeutet aber nicht,
dass wir keine Beziehungen zur EU haben sollten, keine Gedanken austauschen sollten, uns
nicht gegenseitig beeinflussen sollten. Genau im
Gegenteil: Das ist notwendig. Aber hier muss vor
allem der Kontakt zu und die Unterstützung von
den Völkern Europas, von den zivilgesellschaftlichen Organisationen im Mittelpunkt stehen und
ihnen die Situation deutlich gemacht werden.
Wir müssen die Unterstützung der demokratischen und linken Kräfte gewinnen.
Wenn dies gelingt, wird der Druck auf die einzelnen Staaten größer und die kurdische Frage kann
gelöst werden.
Wie steht die PKK denn zur Frage der Religion?
Wie geht sie als sozialistische Bewegung mit der
Religiösität vieler Menschen im Mittleren Osten
um?
Die Religion ist eine Lebensphilosophie, deren
Einfluss im Mittleren Osten besonders groß ist.
Wir müssen die Natur, den Ursprung der Religion verstehen. In der Philosophie der Religion
gibt es Gerechtigkeit, Widerstand gegen Unterdrückung, Gleichheit und Frieden. Das sind gemeinsame Werte der Menschheit, die wir verteidigen müssen. Jede religiöse Bewegung ist eine
ideologische Bewegung. Und alle haben zum
Ziel, Schlechtes aus dem Weg zu schaffen. Die
Annahme war, dass die Menschheit verschmutzt
sei und die Religionen entstanden sind, um diese Verschmutzung zu bereinigen. Je mehr die
Religionen diese Werte vertreten haben, desto
wirkungsmächtiger wurden sie auch. Einige Religionen waren politischer, einige waren ideologischer. Eine andere Eigenschaft von Religionen
ist, dass sie gesellschaftliche Bewegungen sind.
Das war im Islam, im Christentum und im Judentum so. Wer die Gesellschaftlichkeit fördert und
sich danach richtet, fördert die Menschlichkeit,
da der Mensch erst durch Gesellschaftlichkeit
zum Menschen wird. Auch das ist ein gemeinsamer Wert der Menschheit, den wir verteidigen
müssen. Eine revolutionäre Bewegung muss dies
berücksichtigen.
Deshalb ist es notwendig, dass mensch sich der
Religion kulturell nähert und ihre Werte, die sie
mit der gesamten Menschheit teilt, beachtet.
Das ist eine kulturelle Herangehensweise. Eine
kulturelle Herangehensweise entgegen einer
politischen und ökonomischen Herangehensweise an die Religion. Mensch kann nur mit einem kulturellen Islam gegen den politischen
Islam vorgehen. Wenn wir uns wie der Realsozialismus oder die kapitalistische Moderne an
die Religion nähern, würden wir als revolutio-
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
näre Bewegung verlieren. Wenn wir Werte, die
die gesamte Menschheit teilt, dem System, den
Herrschenden überlassen, dann wird dies den
politischen Islam stark machen. Eben auch hier
ist die Herangehensweise von Abdullah Öcalan
progressiv, indem er eine Synthese aus den gemeinsamen Werten der Menschheit bildet. Die
sozialistischen Bewegungen haben viele Werte den Herrschenden überlassen, die eigentlich
nicht die Werte der Herrschenden sind. Gerade
das wollen ja die Herrschenden: Alles als ihre
eigenen Errungenschaften darstellen. Wenn wir
die Werte der Völker und der gesamten Menschheit ihnen überlassen, können wir im Kampf gegen sie nicht erfolgreich sein. Die Herrschenden
haben der Menschheit ihre Werte gestohlen. Der
Sozialismus muss sich diese zurückerobern.
Zum Beispiel haben wir die Epoche der Renaissance anfangs als eine Epoche der Bourgeoisie
interpretiert. Das war falsch. Die Bourgeoisie hat
sich diese Epoche angeeignet. Doch eigentlich
steckt in ihr ein großer Kampf der europäischen
Völker. Die Epoche beinhaltet große Werte, die
die Linke verteidigen muss. Wenn wir das nicht
machen, dann machen es die Herrschenden. Wir
würden uns dadurch selbst entwaffnen und alles den Herrschenden übergeben. Das darf nicht
sein. Sozialismus heißt Menschlichkeit, Gesellschaftlichkeit und eben die Verteidigung ihrer
Werte. Und deswegen ist das beste Mittel im
Kampf gegen den politischen Islam, der Macht
und Profit zum Ziel hat, der kulturelle Islam. Genau dieses Mittel nutzt die PKK. Der politische
Islam ist die stärkste Waffe des Systems, mit der
es den Nahen Osten beherrschen und dadurch
kontrollieren will. Das ist die Strategie. Es bedeutet gleichzeitig eine Aushöhlung der Natur der
Religion und die Verwendung der Religion gegen
diese Natur.
er und der Besitzer des TV-Senders TGRT, Enver
Ören, eine Vorreiterrolle gespielt. Es ist auch
kein Zufall, dass heute TGRT und „Voice of America“ gemeinsam Sendungen produzieren. Damals
wurden diese Sender gegen die Sowjetunion und
für den Kampf gegen den Sozialismus in den jeweiligen Ländern aufgebaut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde allerdings die
gesamte Organisierung umstrukturiert und auf
eine neue Strategie ausgerichtet. Und zwar nach
der Strategie des politischen Islams. Die gesamte
Finanzierung läuft über die USA. Die Gülen-Bewegung organisiert sich ja nicht nur in der Türkei,
sondern auf der ganzen Welt. Dass der deutsche
Staat sagt, er arbeite mit der Gülen-Bewegung
zusammen, ist deshalb keine Überraschung. Der
deutsche Staat hat als NATO-Mitglied die Aufgabe, die Politik dieses Bündnisses auszuführen,
und das bedeutet eben, den politischen Islam zu
fördern. Fetullah Gülen ist ein Teil dieser Strategie und deswegen sieht der deutsche Staat auch
keine Gefahr in ihm. Mit dieser Strategie geht
der deutsche Staat auch im eigenen Land gegen
Demokrat_innen, Sozialist_innen und Revolutionär_innen vor. Das ist ja das Ziel dieser Strategie. Jeden in den Dienst des Systems zu stellen.
Jede_r, _der sich dagegen wehrt, befindet auf
einer Zielscheibe: Umweltaktivist_innen, Feminist_innen, Sozialist_innen.
Auch die AKP wurde durch die USA aufgebaut,
um dadurch die Türkei kontrollieren zu können.
Der Grundstein wurde mit dem Militärputsch am
1 2. September 1 980 gelegt. Damals hat mensch
die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und
der Türkei entwickelt.
Eine Menge Kapital ist aus Saudi-Arabien in die
Türkei geflossen und das sogenannte grüne Kapital hat sich in der Türkei entwickelt. Der MÜSIAD (Muslimischer Arbeitgeber_innenverband;
Die Führungsfigur im politischen Islam ist Fetul- Anm. d. Red.) wurde gegründet. Zu der Zeit hat
lah Gülen, der in den USA lebt. Seine Bewegung sich in der Türkei die Zahl der Imam-Hatip-Gymkontrolliert maßgebliche Teile der AKP- Regie- nasien (Gymnasien, die streng nach religiöser
rung. Wie wird seine Bewegung im Kampf ge- Weltanschauung lehren; Anm. d. Red.) verdreifacht. Necmettin Erbakan (Gründer der islamistigen die PKK in Stellung gebracht?
schen Bewegung Milli Göruş, die die Einführung
Fetullah Gülen ist ein Lakai der CIA. Er hat in den der Scharia als Ziel hat; Anm. d. Red.), der in die
70er Jahren in der Türkei, in Erzurum, die ersten Schweiz geflohen war, wurde durch die Generäantikommunistischen Vereine gegründet, die von le zurückgeholt und durfte eine Partei gründen.
den USA für den Kampf gegen die Sowjetunion Turgut Özal wurde Ministerpräsident und daunterstützt und aufgebaut wurden. Hier haben
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
nach Staatspräsident. Alles, damit die Grundlage
für den Strategiewechsel gebildet werden konnte. Als Ergebnis kam die AKP im Jahr 2001 an die
Macht. Nach dieser Strategie wird heute die Türkei und Fetullah Gülen im Nahen Osten benutzt.
Deshalb geht vom politischen Islam die größte
Gefahr aus. Auch die Mitglieder der türkischen
Hizbollah (Die türkische Hizbollah wurde für den
Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung
aufgebaut, sie sind verantwortlich für Morde an
hunderten Kurd_innen in den neunziger Jahren;
Anm. d. Red.) wurden aus den Gefängnissen entlassen. Mit Hilfe der AKP gründete die Hizbollah
den TV-Sender Çaĝri TV.
Für den Kampf gegen die PKK wird die Hizbollah wieder aufgebaut. Ihr wird bewusst ein
kurdisch-islamisches Profil verpasst, weil viele
Kurd_innen religiös sind. Das ist im Gesamten
eine Taktik der CIA. Anders können sie gegen
die PKK nicht vorgehen. In Israel wurde dieselbe Strategie verfolgt: Gegen die Fatah wurde von
Israel die Hamas entwickelt. Auch Osama Bin Laden wurde von den USA unterstützt und danach
erledigt, weil er außer Kontrolle geraten ist und
den Interessen nicht mehr gedient hat. Die Anti-Bin-Laden- Haltung und Anti-Hamas-Haltung
sind Lügen und dienen nur zur Manipulation.
Was denkst du über die Situation an der Peripherie Europas, also Griechenland, Portugal
und den Widerstand der Bevölkerung gegen die
„Sparmaßnahmen“, die aktuelle Wirtschaftspolitik? Gleichzeitig nehmen auch faschistische
Tendenzen in Europa zu. Wie schätzt du diese
Entwicklungen ein?
Der Nationalstaat ist in Europa etwas geschwächt. Früher gab es Tendenzen zur Vergrößerung der Nationalstaaten und deshalb gab es
Kriege zwischen ihnen, die teilweise in Form von
Religionskriegen ausgetragen wurden. Auch die
späteren Kriege zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren Kriege, die zum
Ausbau des jeweils eigenen Nationalstaats geführt wurden. Aber mit der Entwicklung der Europäischen Union sind die Nationalstaaten in Europa etwas schwächer geworden. Mensch muss
die Europäische Union deshalb als eine Schwächung der Nationalstaaten sehen, als eine Form
Wo ist der Standpunkt von Russland und China der supranationalen Einheit in Richtung eines
im internationalen Kräftegleichgewicht?
Konföderalismus. Aber auch dort sind jetzt einiRussland, Indien und China haben im internatio- ge Probleme zu Tage gekommen und wie diese
nalen Kräfteverhältnis eine gewisse Wichtigkeit. gelöst werden, ist noch unklar. Zeiten der Krise
Vor allem das sich ökonomisch entwickelnde Chi- sind immer auch Zeiten der Revolution und Konna ist ein ernsthaftes Problem für die USA. Auch terrevolution. In Europa gibt es eine ernsthafte
auf militärischer Ebene entwickelt sich China ökonomische Krise, die alle Gesellschaften Euweiter. Deshalb stehen für die USA die Entwick- ropas trifft und dabei vor allem in Griechenland,
lungen in China im Mittelpunkt. Russland und Spanien und Irland am meisten zu spüren ist,
Indien hingegen stellen für die USA aus militäri- aber auch Auswirkungen auf Italien und Frankscher Sicht keine größeren Probleme dar. Jedoch reich hat. In Krisenzeiten entwickeln sich immer
aus ökonomischer Sicht ist auch Indien als sich rassistische Bewegungen, aber auch Entwickentwickelndes Land für die USA ein Problem. lungsmöglichkeiten für linke Kräfte nehmen zu.
Aber am meisten wird die USA durch die öko- Die Entwicklung von faschistischen Bewegunnomischen und militärischen Entwicklungen in gen in solchen Zeiten ist auch immer teilweise
China beunruhigt. Deshalb will sie dieses Gebiet auf staatliche Bemühungen zurückzuführen. Die
niederhalten und keine_n neue_n Gegenspieler_ rassistischen Bewegungen in Europa werden von
aufkommen lassen. Dies ist auch ein Grund da- den Staaten und seinen Geheimdiensten gefür, weshalb Russland, China und der Iran hinter nährt. Das machen sie aus zwei Gründen: Zum eidem Regime in Syrien stehen. Denn wenn dieses nen benutzen sie diese Bewegungen als Reserve
fällt, kommt der Iran an die Reihe und danach gegen alle Nicht-Europäer_innen, Ausländer_insind sie selbst dran.
nen und andere Völker und zum anderen, um die
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
linken Bewegungen in Europa schwach zu halten.
Die rassistischen Bewegungen in Europa können
niemals ganz ausgeschaltet werden, da die Staaten diese immer als Reserve in der Hinterhand
halten. In gefährlichen Zeiten stärken die Staaten
diese Bewegungen und lassen sie gewisse Rollen
spielen und in ungefährlichen Zeiten werden sie
schwach und als Reserve gehalten.
Nun befindet sich Europa gerade in einer Krise
und die Gesellschaften sind in Unruhe, es entwickelt sich Widerstand und die linke, demokratische Opposition kann jeden Moment gestärkt
werden und genau deshalb werden jetzt die rassistischen Bewegungen gestärkt. Revolutionäre
Bewegungen können sich in Krisenzeiten am besten entwickeln, da die Widersprüche in den Gesellschaften zunehmen, die Suche nach Alternativen größer wird und die Linke darauf Antworten
geben und sich entwickeln kann. In Griechenland
zum Beispiel ist die linke Bewegung stark, sie hat
sich zur stärksten Partei im Land entwickelt. Das
hat natürlich auch eine
historische Grundlage, aber die Kräfte der Linken waren nicht mehr so stark wie sie jetzt zu
Zeiten der Krise wieder sind. Sie hätte fast zur
alleinigen stärksten Partei werden können, doch
dies wurde verhindert, da es für das System hätte gefährlich werden können. Denn die Partei
hatte radikale Forderungen, wie zum Beispiel die
Möglichkeit des Ausstiegs aus der Währungsunion oder komplett aus der Europäischen Union.
Diese Äußerungen stellten eine Gefahr dar und
mussten verhindert werden, genauso wie in der
Vergangenheit in Italien die Machtübernahme
der Kommunistischen Partei durch die NATO und
den CIA verhindert wurde. Die Konterguerilla und
Gladio (paramilitärische Geheimorganisation der
CIA, der NATO und der britischen M1 6 während
des Kalten Krieges; Anm. d. Red.) waren in Italien
sehr stark und haben damals die Machtübernahme verhindert. Mensch muss auch dies deutlich
machen: Wir befinden uns in Zeiten des globalen
Kapitalismus und dagegen müssen wir eine globale Demokratie entwickeln.
Ein ehemaliger Parteivorsitzender einer linken
türkischen Partei hat uns vor kurzem einen Brief
geschrieben. In dem sagt er, dass die PKK eine
Vorreiter_innenrolle der internationalen, demokratischen Bewegungen innehaben sollte, deren
Zentrum Europa sein könnte. Er sagt, dass die
PKK eine solche Arbeit in Europa beginnen sollte
und er sich auch daran beteiligen würde. Vielleicht sagt er das bezogen auf die Vergangenheit
der ersten und zweiten Internationalen in Europa
und der dritten Internationalen in Russland, dass
es jetzt einer Organisierung der sozialistischen
Bewegung bedarf, die die der früheren Internationalen übertrifft. Wir haben es heute mit einem
globalisierten Kapitalismus zu tun, der die Organisationsweise der bisherigen Internationalen in
den Schatten stellt und wir müssen deshalb eine
globale demokratische Bewegung entwickeln.
Dies ist auch das Ziel der PKK. Denn es ist möglich, dass die sozialistische Bewegung in Europa
wieder gestärkt wird. Die Schaffung einer globalen demokratischen Bewegung gegen den globalen Kapitalismus muss in der europäischen Linken auf die Tagesordnung gesetzt und diskutiert
werden. Vielleicht hätte eine solche Diskussion
vor ein paar Jahren in Europa zu keinem Ergebnis
geführt, aber wenn wir die jetzige Krise in Europa mitberücksichtigt, könnte es eine Diskussion
zum richtigen Zeitpunkt sein.
In Europa gibt es die Partei der Europäischen
Linken. Die prokurdische Partei BDP (Partei des
Friedens und der Demokratie) diskutiert gerade
eine mögliche Mitgliedschaft. Was hältst du von
der Vereinigung der Linken?
Wir wollen gerade unter dem Namen Demokratischer Kongress der Völker (HDK) eine ähnliche
Dach-Bewegung in der Türkei auf die Beine stellen. Unter dessen Schirm sollen alle Linien der
Linken, der Demokrat_innen und sogar einiger
Liberalen gesammelt werden und zu einer organisierten Kraft werden. Etwas Ähnliches muss
und kann auch in Europa geschaffen werden. So
wie die Herrschenden, die Staaten unter dem
Namen der Europäischen Union zusammen gekommen sind, um die eigene Herrschaft abzusichern, den eigenen Profit zu sichern, sollten
auch die demokratischen Kräfte in Europa zusammen kommen. Nur so können sie stärker
werden. Deshalb sind auch die Entwicklungen in
Lateinamerika wichtig, die wir unbedingt berücksichtigen sollten und daraus lernen. Sie müssen
nicht in ihrer Gesamtheit richtig sein, sie können
auch Fehler enthalten, Dinge enthalten, die wir
nicht richtig finden oder die nicht auf die europä-
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
ischen Bedingungen passen. Aber trotzdem sind
die Entwicklungen in Lateinamerika sehr wichtig,
sie können uns viel lehren und wir können daraus einen Nutzen ziehen.
In der PKK gibt es eine starke Praxis der Kritik
und Selbstkritik. Was bedeutet das in der Umsetzung?
Die von der PKK entwickelten Vorstellungen sind
Was kann die türkische Linke für eine Rolle im sehr stark. Ich kann sagen, dass es die stärksKampf gegen die AKP- Regierung und gegen die ten Vorstellungen auf der Welt sind und dieser
sogenannte kapitalistische Moderne spielen?
Tatsache muss mensch Rechnung tragen. Wie
Die türkische Linke ist momentan sehr schwach werden diese Vorstellungen in Kurdistan und auf
und zersplittert. Wir versuchen sie zu unterstüt- internationaler Ebene in die Praxis umgesetzt?
zen, damit sie wieder stärker wird. Ohne unse- Das ist sehr wichtig. Ihr seid zwar aus Kurdisre Bemühungen und Unterstützung kommt die tan, aber ihr lebt in Europa. Ihr tragt zum einen
türkische Linke nur sehr schwer wieder auf ei- Verantwortung gegenüber Kurdistan, aber auch
gene Beine, denn sie hat den Glauben an sich gegenüber der internationalen Ebene. Wir sind
verloren. Die Unterdrückung der Linken durch eine Bewegung, für die nicht Kurdistan im Mittelden 1 2ten-September-Faschismus (Gemeint ist punkt steht. Das haben wir überwunden. Für uns
der Militärputsch vom 1 2. September 1 980, in steht die komplette Welt im Mittelpunkt. Die Kadessen Verlauf mehr als 60.000 Sozialist_innen der dieser Bewegung müssen sich dieses Niveau
und Demokrat_innen inhaftiert wurden; Anm. d. als Ziel vornehmen und dementsprechend PoliRed.) und dann auch noch die Auflösung der Sow- tik machen. Zum einen Kader dieser Bewegung
jetunion hat sie psychologisch belastet. Um sich sein und zum anderen seine eigene Welt stark
vor staatlicher Repression zu schützen, waren sie einengen: dies befindet sich im Widerspruch mit
lange Zeit auf Distanz zur kurdischen Bewegung den Zielen und Vorstellungen der Bewegung.
und Kurdistan, doch das hat sie noch mehr ge- Vielleicht haben wir in Kurdistan begonnen,
troffen und das haben sie mittlerweile verstan- doch wir sind zum Mittleren Osten übergeganden. Jetzt versuchen sie durch Anlehnung an die gen und haben diese Ebene auch überwunden
PKK stärker zu werden und das ist eine gute Sa- und befinden uns jetzt auf einem internationache. Denn wir wollen sie unterstützen, damit die len Level. Und das ist auch die Ebene, die Serok
türkische Linke wieder zu Kräften kommt. Das ist Öcalan zum Ziel hat. Jede_r muss sich die Frage
zum einen für die Türkei notwendig, zum ande- stellen, wie _er dieses Paradigma in Kurdistan,
ren auch für uns. Denn dies ist notwendig, da- im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt ummit der Kampf in Kurdistan erfolgreich sein kann. setzen kann. Als Serok diese Thesen entwickelt
Wenn sich in der Türkei die Demokratie- Bewe- hat, verlangte er, ihm alle Vorschläge und Kritigung nicht entwickelt und die Türkei nicht demo- ken zukommen zu lassen. Für uns als Bewegung
kratisiert wird, ist die Lösung der kurdischen Fra- ist seit Beginn Kritik und Selbstkritik sehr wichge sehr schwer. Das ist keine neue Feststellung, tig. Wir haben zweimal in unserer Geschichte
sondern stand schon seit der Gründung der PKK die Praxis der Kritik und Selbstkritik in einer sehr
im Mittelpunkt. Der Erfolg des Freiheitskampfes tiefen Form angewendet. Einmal während unsein Kurdistan ist an die Entwicklung des demo- rer Entstehung und einmal während des Paradigkratischen Kampfes in der Türkei gebunden. Wir menwechsels. Kritik und Selbstkritik sind unsere
haben an der türkischen Front ständig versucht, Prinzipien. Dies ist auch ein Grund dafür, wieso
die linke und demokratische Bewegung zu stär- wir unbesiegbar sind.
ken. Aber unsere Anstrengungen haben nicht Wenn eine Bewegung ständig Kritik und Selbstausgereicht, da es auch von ihrer Seite her nicht kritik durchlebt, verliert sie nie ihre Ziele und
genügend Anstrengungen gab, um sich selbst zu Absichten aus den Augen. Es entsteht kein Dogstärken. Doch auch heute sind sie noch schwach matismus, Fundamentalismus, sie erneuert sich
und sie müssen unbedingt stärker werden. Der ständig und bleibt lebendig. Außerdem bleibt
„Demokratische Kongress der Völker“ (HDK) diese Bewegung rein und wird nicht schmutzig.
stellt einen Versuch dar, eine gemeinsame Front Denn wo entsteht Verschmutzung in einer Bewegung? Dort wo keine_r nach Rechenschaft gefragt
gegen den AKP-Faschismus zu bilden.
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
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wird und diese nicht ablegen muss. Dort kann es
auch keine Gerechtigkeit geben. Gerechtigkeit,
Gleichheit, Demokratie und Freiheit gibt es nur
dort, wo nach Rechenschaft verlangt und diese
auch abgelegt wird. Anders geht es nicht. Deshalb müssen die Kader dieser Bewegung für Kritik
und Selbstkritik offen sein. Sie müssen das leben
und ständig Rechenschaft über ihre Tätigkeiten
ablegen. Sie müssen die Kritiken und Vorschläge
von anderen über ihre Arbeitsweise annehmen.
Das stärkt. _Derjenige, _der schwach ist und kein
Vertrauen in sich selbst hat, wird sich der Kritik
und Selbstkritik nicht nähern. Schwache und Versklavte können keine Selbstkritik üben. Nur _diejenige, _die Selbstvertrauen hat und sich _ihren
Zielen bewusst ist, kann Kritik und Selbstkritik
üben. Wir sind eine Bewegung, die sich niemals
vor Kritik und Selbstkritik scheut. Wir haben ein
Prinzip und das ist Transparenz. Die PKK wendet
diese nach innen und nach außen an. Wer dieses
Prinzip nicht anwendet, kann kein_e PKKler_in
sein. Dieses Prinzip in der Praxis anzuwenden,
bedeutet Rechenschaft fordern und ablegen, Kritik und Selbstkritik üben. Nun ist es leicht, Kritik
und Selbstkritik zu fordern und auf Wunsch oder
zwangsweise diese durchzuführen. Aber das
wichtige ist, dass die Kritik und Selbstkritik unaufgefordert gelebt wird. Sonst wird das Ganze
zum Zwang, ohne dass wirklich daran geglaubt
wird. Das hat keinen Wert. Keine_r verlangt von
Serok unter den Bedingungen von İmralı eine
Kritik und Selbstkritik, aber er lebt dieses Prinzip
der Bewegung trotzdem.
Wir als Parteiführung haben den Beschluss
gefasst, dass alle Mitglieder des Exekutivrats
Selbstkritik-Berichte schreiben müssen, und
dies wurde auch in die Tat umgesetzt. Diese
haben wir allen PKK-Kadern weitergeleitet und
mit ihnen diskutiert: welche sie als hinreichend
finden, welche sie nicht als ausreichend finden
und welche sie überhaupt nicht akzeptieren. Das
haben wir zum einen gemacht, damit die Leitung innerhalb der PKK bekannter wird, dass klar
wird, unter welcher Führung der Kampf geführt
wird. Denn es ist das gute Recht der Kader zu
wissen, unter welchem Vorstand sie den Kampf
führen. Zum anderen haben wir diese Selbstkritik- Berichte schreiben lassen, damit die einzelnen Mitglieder des Vorstandes daraus lernen
können. Aus diesen Berichten konnten sie auch
die Situation der Organisation kennen lernen,
Fehler und Unzulänglichkeiten sehen und diese
verbessern. Diese Berichte haben zum aktuellen
Zeitpunkt alle GenossInnen bekommen, die in
der Bildung tätig sind. Wieso haben sie nicht alle
Freund_innen bekommen? Das liegt daran, dass
viele Freund_innen momentan in der Praxis tätig
sind, sich im Krieg befinden und dafür keine Zeit
haben. Diese Berichte werden aber alle zu lesen
bekommen, vom Mitglied, das sich erst vor kurzem angeschlossen hat, bis zum Mitglied, das am
längsten dabei ist. Das gibt den Freund_innen
Vertrauen. Sie werden von den Kritiken in den
Berichten nicht entmutigt, sondern im Gegenteil
positiv bestärkt. Das ist die Methode in der PKK.
Zum Beispiel kam einmal ein alter Schulfreund
von mir, der jetzt im Vorstand einer linken türkischen Organisation ist, vorbei. Wir hatten uns fast
40 Jahre nicht gesehen und er genoss in unseren
Einrichtungen unsere Bildung. Als er unsere Diskussionen, unsere Kritiken und Selbstkritiken gesehen hat, sagte er, dass wenn sie dies in seiner
eigenen Organisation machen würden, nicht mal
eine Person übrig bleiben würde. Aber ihr macht
das und ich bewundere euch dafür, sagte er. Das
hängt mit der Struktur und Form der PKK zusammen. Es gab auch zum Beispiel in der Türkei den
alten Kommunisten Mihri Belli, der vor kurzem
gestorben ist. Er sagte zu mir, dass er die PKK
dafür bewundere, dass sie alles offen und ohne
Zurückhaltung schreiben würde. Das habe keine
Kommunistische Partei eines sozialistischen Landes geschafft und dafür bewundere er die PKK.
Das stimmt, wir genieren uns nicht,
denn wir vertrauen unserer Ideologie, unserer
Linie, uns selbst, unseren Genoss_innen, unserem Volk. Wenn wir kein Vertrauen hätten, könnten wir dies alles nicht machen.
Für uns ist Kritik und Selbstkritik ein sehr wichtiges Prinzip. Es ist ein Prinzip, das die PKK erst
zur PKK macht. Es wird seit so langer Zeit ein psychologischer Krieg gegen uns geführt, der aber
zu keinem Ergebnis führt, da die PKK nichts zu
verheimlichen hat. Die PKK steht zu allem, was
sie macht, sei es schlecht oder sei es gut. Sie ist
keine Bewegung, die nur zu ihren guten Seiten
steht.
Wie nähert sich die türkische Gesellschaft der
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ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
kurdischen Frage?
Die Mehrheit der türkischen Gesellschaft will
eigentlich, dass die kurdische Frage gelöst wird.
Der türkische Staat aber ist ein Staat, der auf
Grundlage des „Spezialkrieges“ aufgebaut ist.
Das ist der Charakter des türkischen Staates.
Wenn dieser Staat keinen Krieg führt, kann er
nicht überleben. Er gibt die Ziele vor und setzt
die Gesellschaft für seine Zwecke in Bewegung.
Er hat viele Institutionen, auch zivile, deren Aufgabe es ist, den Chauvinismus in der Gesellschaft
und die Feindschaft gegenüber den Kurd_innen
zu stärken. Aber trotzdem will die Mehrheit der
Gesellschaft, dass diese Frage gelöst wird. Bis vor
kurzem wurde die Realität der Kurd_innen und
Kurdistans der türkischen Gesellschaft vorenthalten. Aber nun ist es unmöglich, diese Realität
zu leugnen. Es wird nun schon von Rechten, die
auch die Kurd_innen haben sollen, gesprochen,
allerdings noch sehr unkonkret. Das ist grob die
Situation der türkischen Gesellschaft.
Es gibt auch innerhalb der türkischen Gesellschaft immer mehr Menschen, die gegen diesen
Krieg sind. Immer weniger Eltern, die wie früher
ihre Kinder stolz begruben, die in diesem Krieg
gestorben sind. Wenn wir uns mehr Mühe geben,
können wir dieses Potential besser ausschöpfen.
Zurzeit befinden sich in unseren Händen Polizist_en, Soldat_en und Landrät_e. (Gemeint sind
die kurzzeitigen Entführungen von politischen
Akteur_innen des Kriegs gegen die Kurd_innen,
die nach Gesprächen nach einigen Tagen wieder freigelassen werden; Anm. d. Red.) Die Regierung hat bis heute kein einziges mal eine Erklärung diesbezüglich abgegeben. Das verärgert
natürlich deren Familien. Diese Reaktionen sind
verständlich und gut. Es ist der Staat, der keine
Lösung des Problems will und der den Faschismus und Chauvinismus fördert. Weil dieses Regime ein Teil des Systems der kapitalistischen
Moderne ist, das den Kurd_innen-Konflikt nicht
lösen will, bleibt er ungelöst. In den Medien wird
massive Propaganda gemacht, dass zum Beispiel
„das Volk“ Gebäude der BDP angreift und anzündet. Wenn mensch es aber näher betrachtet,
sind es immer nur einige Faschist_en, die diese
Angriffe machen. Die Polizei steht daneben und
mischt sich nicht ein. Sie lässt diese Angriffe geschehen. Danach wird behauptet, dass diese
Angriffe vom Volk ausgehen. Das ist ein Teil der
psychologischen Kriegsführung. Das Problem ist
also nicht das türkische Volk, sondern der Spezialkrieg, auf dem die Existenz des türkischen
Staates beruht.
Was waren Schwierigkeiten im Rahmen des Paradigmenwechsels in Bezug auf die Kultur der
Selbstkritik?
Die Kultur der Selbstkritik ist nicht etwas, das wir
erst nach dem Paradigmenwechsel entwickelt
haben. Wir leben diese Kultur seit unserer Gründung. Allerdings gab es natürlich viele andere
Probleme, die während des Paradigmenwechsels entstanden sind, die auch ich selbst durchlebt habe. Wir vollzogen diesen Wechsel in einer
sehr schwierigen Phase. Da war die Verschleppung Serok Apos, die großen Angriffe auf die
Guerilla mit dem Ziel, die Bewegung zu zerschlagen, die Erfahrungen des Zusammenbruchs der
Sowjetunion und die Vorsicht, nicht das gleiche
Schicksal zu erleiden. Es gab Kräfte, die gegen
den Wandel waren, und wiederum andere, die
dafür waren, aber Schwierigkeiten bei der
Umsetzung hatten. Einerseits mussten wir gegen
die Feind_innen außerhalb der Bewegung kämpfen, andererseits musste der innere Wandel vorangetrieben werden. Die USA, die Türkei, die KDP
und die PUK hatten uns von allen Seiten angegriffen. Es gab also viele Schwierigkeiten in dieser Phase. Das ist nicht gerade einfach. Es musste alles mit Vorsicht angegangen werden. Wenn
eine Organisation die inneren Strömungen nicht
berücksichtigt, zerfällt sie. Während wir das alles
berücksichtigen mussten und gleichzeitig gegen
äußere Feinde kämpfen mussten, haben wir den
Wandel in der Bewegung vollzogen. Auch der
Fall Osman Öcalan (ehemaliges Leitungsmitglied
der PKK und Bruder Abdullah Öcalans, der in den
90er Jahren entgegen von Absprachen mit der
USA kooperierte; Anm. d. Red.) bereitete uns damals einige Sorgen. Ich kann mich an Zeiten erinnern, an denen ich drei Nächte am Stück nicht
geschlafen habe und mich die ganze Zeit mit mir
selbst auseinandergesetzt habe, ja fast schon mit
mir selber gestritten habe. Ernsthaftigkeit ist bei
der PKK sehr wichtig. Nur wer Ernsthaftigkeit mit
sich bringt, kann Verantwortung übernehmen
und die eigenen Pflichten erfüllen.
Unsere Mitglieder kommen aus einer Gesell-
32
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
schaft, die ihnen ein bestimmtes Bewusstsein,
eine Kultur, ein Weltbild und bestimmte Maßstäbe mitgegeben hat. Die PKK will diese Eigenschaften durch Bildung verändern. Sie will aus
diesen Menschen völlig neue Menschen schaffen. Deshalb können Menschen, die nicht in der
Lage sind, sich zu ändern, nicht lange bei der PKK
sein.
Was empfehlt ihr den Freund_innen für ihre Arbeit in Europa?
Eines muss gut verstanden werden. Ein_e PKKler_in arbeitet nicht nur mit PKKler_innen, sondern mit jede_m. Gerade das macht uns stark.
Wir haben immer sowohl mit PKKler_innen als
auch mit Nicht- PKKler_innen gearbeitet. Denn
jede_r kann bei uns _seinen Platz, _ihre Aufgaben finden: auf den Bergen, in den Städten oder
in Europa. Die Arbeit der PKK bezieht sich nicht
nur auf eine Ebene. Die PKK befindet sich und arbeitet auf allen Ebenen. All diese Arbeiten ergänzen sich gegenseitig. Jede Arbeit hat ihre eigenen
Herausforderungen. Das heißt nicht, dass wir
unterteilen zwischen wichtiger und unwichtiger
Arbeit. Jede Arbeit und Mühe ist für uns wichtig. Die PKK zwingt niemals jemensch PKKler_in
zu werden. Das ist immer die Entscheidung _der
Einzelnen. Mensch kann für die PKK als Kader,
Mitarbeiter_in, Sympathisant_in oder Freund_in
arbeiten. Es ist deswegen falsch, irgendwem die
Mitgliedschaft aufzudrängen. Wenn mensch die
Ziele und Arbeitsweise der PKK richtig darstellt
und vorlebt, dann entscheiden sich die Menschen sowieso von selbst PKKler_in zu werden.
Die PKK arbeitet und entwickelt sich auf diese
Weise. Viele Menschen haben sich deswegen für
die PKK entschieden. Diese Arbeitsweise müsst
ihr auch auf die Jugend anwenden. Wer von sich
behauptet PKKler_in zu sein, muss natürlich die
Prinzipien und die Ideologie der PKK vertreten.
In Europa wird das sehr individuell interpretiert,
was fatal ist. Es kann nicht sein, dass mensch sich
nur die Seiten aneignet, die einem passen. Natürlich gibt es auch bei der PKK Probleme und negative Seiten. Wer aber in die PKK eintritt, muss
gegen die negativen Seiten der PKK ankämpfen.
Von eine_m Kader werden die Maßstäbe der
PKK erwartet, von eine_r Sympathisant_in oder
Freund_in kann das nicht erwartet werden. Das
wird oft falsch umgesetzt und darf nicht ver-
mischt werden. Das schadet der PKK. PKKler_in
zu sein bedeutet, den Menschen ins Zentrum zu
stellen. Alles wird durch und für den Menschen
errungen. Deshalb müssen wir uns Mühe geben,
die Menschen, die ein sehr unterschiedlich ausgeprägtes Abstraktionsvermögen, eine unterschiedliche Schnelligkeit und Klassenzugehörigkeit haben, zu gewinnen. Dafür gibt es nicht ein
einziges richtiges Mittel. Einige brauchen vielleicht zwei Wochen, andere vielleicht drei Jahre
bis sie überzeugt werden. Geduld, Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit macht einen richtigen
PKK-Kader aus. Kemal Pir sagte vor dem Gericht
in Amed (Metropole in Nordkurdistan, auf türkisch „Diyarbakir“; Anm. d. Red.): „Wenn wir
für die Überzeugung eines Menschen zwei Stunden benötigen, dann setzen wir uns diese zwei
Stunden als Maßstab, wenn wir 200 Stunden
benötigen, dann setzen wir uns 200 Stunden als
Maßstab.“ Das ist die Arbeitsethik der PKK. Die
Ethik, wie sie sich dem Menschen nähert. Ähnlich sagt es auch Serok Apo: „Wenn es nur eine
einprozentige Chance auf Erfolg gibt, dann setzen wir uns dieses eine Prozent als Maßstab.“ So
versuchen wir die Menschen zu gewinnen. Indem
wir uns nach dem Positiven richten und versuchen, das Negative abzuschaffen. Die Freund_innen in Europa dürfen deshalb nicht oberflächlich
an die Arbeit herangehen. Das erfordert Vielseitigkeit und ein sehr hohes Maß an Bewusstsein.
Die Engstirnigkeit muss überwunden werden. Ein
Mensch ist, wenn _er es will, in der Lage sich neu
zu schaffen und _seine Kraft um ein Vielfaches
zu erhöhen. Der Entfaltung sind niemals Grenzen
gesetzt.
Wir sind eine Bewegung, die niemals einen
schwachen Menschen akzeptiert. Der Mensch
hat keine Schwäche verdient. Schwäche ist
ein Grund dafür, sich zu stärken. Damit unsere
Freund_innen in Europa erfolgreich sind, müssen sie sich vorerst vollständig von der kapitalistischen Moderne lossagen, sowohl in ihrer Lebensweise als auch in ihrer Denkweise. Nur dann
können sie durch die kapitalistische Moderne
nicht beeinflusst werden. Nur dann können sie
eine Alternative zu diesem System bilden. Die
Freund_innen müssen hier ihre größte Selbstkritik entwickeln. Habt ihr eine Kritik an mich, einen
Vorschlag für mich?
33
ͧͧ Interview mit Cemil Bayik
1. YXK-Reader | 2015
Hast du denn eine Frage an uns?
Da ich eine Zeit lang in Europa gearbeitet habe,
kenne ich ein wenig die Realitäten in Europa.
Eure Arbeit ist eine sehr wertvolle Arbeit. Sie ist
schwieriger als unsere hier in den Bergen. Ihr
lebt im Zentrum des Kapitalismus und kämpft
dort gegen ihn. Hier in den Bergen sind wir freier.
In Europa zu leben und sich zu schützen bedarf
einer großen Standhaftigkeit. Das schätzen wir
sehr.
Während wir hier unseren Kampf führen, macht
ihr das in Europa. Beides ergänzt sich. Aber ihr
müsst eure Arbeit immer als unzureichend sehen, damit ihr euch selber immer zwingt mehr
zu tun. Ihr dürft nichts leugnen, aber auch nicht
selbstverliebt sein. Ihr dürft euch nicht nur an
die kurdische Jugend richten, sondern an alle Jugendlichen und müsst ihnen die Wahrheiten Kurdistans und der PKK aufzeigen. Nicht nur mit der
Jugend, sondern mit allen Teilen der Gesellschaft.
Ihr seid Vorreiter_innen einer Gesellschaft und
müsst deshalb alle Probleme der Gesellschaft als
eure eigenen sehen und sie lösen.
34
ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität
1. YXK-Reader | 2015
DEMOKRATISCHE AUTONOMIE VERSUS NATIONALSTAAT
Eine neue Form der internationalen Solidarität
ͧͧ Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrates der KCK
Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrates der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), erläutert in einem Gespräch für den Kurdistan Report
das System der Demokratischen Autonomie, des
Demokratischen Konföderalismus.
Was können wir unter Demokratischer Autonomie oder dem Demokratischen Konföderalismus
verstehen? Ist dieses System regional begrenzt
und wird damit nur die kurdische Bevölkerung
angesprochen?
Die Demokratische Autonomie kann ich, indem
ich einen historischen Abriss mache, wie folgt erklären: Früher gab es die Bezeichnung einer außerstaatlichen Gesellschaft, die später auch als
Zivilgesellschaft bekannt wurde. Sie stand auch
für demokratische Errungenschaften. Gewisse
Teile der Gesellschaft haben durch eine Form der
Selbstorganisierung gewisse ökonomische und
demokratische Rechte errungen. Vor einiger Zeit
waren beispielsweise in Westeuropa die Gewerkschaften sehr stark. Ihnen gelang es innerhalb ihres Systems, einen gewissen Lebensstandard für
ihre Mitglieder zu gewährleisten.
Die Demokratische Autonomie bedeutet eigentlich, Strukturen dieser Art zu stärken und
in verschiedenen weiteren Bereichen auszubauen. Das heißt, demokratische Errungenschaften
in eine außerstaatliche demokratische Gesellschaftsorganisierung umzuwandeln. Das System (in Westeuropa) basierte mehr auf Klassenkampf. Die ArbeiterInnen versuchen, mit ihren
Gewerkschaften und Parteien durch Streiks oder
Lohnverträge Rechte zu erlangen, zu festigen.
Die Demokratische Autonomie bedeutet, dies
auf alle Teile der Gesellschaft auszuweiten. Nicht
nur die ArbeiterInnen und ihre gewerkschaft-
liche Organisierung, sondern die Jugend, die
Frauen, alle Teile der Gesellschaft können sich
in ähnlicher Form organisieren, ihr eigenes demokratisches und wirtschaftliches Leben planen
und in ihr tägliches Leben implementieren. Ohne
den Staat zu zerschlagen, aber auch ohne ihre
Rechte dem Staat zu überlassen, können wir das
machen. Mit dem Staat wird dadurch eine neue
Vereinbarung, ein neuer [Gesellschafts-]Vertrag
geschaffen. Die Demokratische Autonomie oder
der Demokratische Konföderalismus haben eine
solche Vereinbarung als Ziel. In diesem Sinne ist
die Demokratische Autonomie nicht ein System,
das allein für die KurdInnen gedacht ist. Alle unterdrückten und ausgebeuteten Teile der Gesellschaft können mit diesem System unter den
gegebenen Bedingungen in den Regionen der
Welt ihre eigenen kulturellen, politischen und
wirtschaftlichen Rechte erringen. Darauf aufbauend lässt sich auch die Geschlechterfrage lösen.
Darauf aufbauend lassen sich auch die Probleme
der ArbeiterInnenschaft lösen. Oder darauf aufbauend lässt sich auch die Frage der Selbstbestimmung der Jugend lösen. Dasselbe gilt auch
für die ökologische Frage. Letztlich, wenn die
Menschen aus den verschiedenen Teilen der Gesellschaft sich organisieren, können sie ihre eigenen Fragen besser lösen. Zugleich wird dadurch
auch eine lokale Selbstorganisierung und Selbstverwaltung zutage treten.
Nun aber hat der Staat durch die Bildung des
Nationalstaats – gemeinsam mit einer Faschisie-
35
ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität
1. YXK-Reader | 2015
rung – einen extremen Zentralismus etabliert.
Er will über alles bestimmen. Wenn jedoch eine
Organisierung im Sinne der Demokratischen Autonomie vorangetrieben würde, könnte die Basis
der Menschen über sich selbst bestimmen. So
kann beispielsweise ein Dorf, eine Kleinstadt, ein
Stadtteil oder eine Stadt sich selbst verwalten.
Die Formel lautet: »Staat plus Demokratie« – mit
dem Ziel, den Staat zu verkleinern und die demokratische Gesellschaft auszuweiten.
Dies ist zunächst ein Modell für die Lösung der
kurdischen Frage. Nationale Fragen können auf
diese Weise gelöst werden. Auch religiöse Fragen lassen sich so lösen. Das gilt vor allem, wenn
verschiedene Religions- und Volksgruppen miteinander leben. Was vielleicht noch wichtiger ist,
auch wirtschaftliche Fragen lassen sich auf diesem Wege lösen. Unterdrückung und Ausbeutung werden bekämpft. Denn wenn eine zentralistische und auf Ausbeutung fußende Wirtschaft
durch eine Wirtschaft abgelöst wird, die sich an
den Bedürfnissen der Menschen an der Basis
orientiert, können Lösungen für bestehende Fragen auf der Grundlage des benannten Modells
geschaffen werden. Das ist das Ziel des Demokratischen Konföderalismus. Auch für Teile der
Gesellschaft, die unter dem Problem einer fehlenden Demokratie leiden, ist dieses System eine
Perspektive, ebenso auch, wie schon gesagt, für
die Befreiung der Frau.
Deshalb kann aus meiner Sicht dieses System
genauso ein Lösungskonzept für die kapitalistische Metropole im Westen darstellen wie für
die wenig kapitalistisch ausgebildeten Regionen
des Ostens. Wenn wir uns Europa ansehen, gibt
es ohnehin die Ansätze für solch eine Organisierung. Ich sprach schon von der gewerkschaftlichen Organisierung der ArbeiterInnen. In manchen Dörfern haben sich die BewohnerInnen
autonom organisiert. Es gibt in der Tradition
der Pariser Kommune eine solche Form der Organisierung. Die Demokratische Autonomie ist
eine gegen das Ziel der Hegemonie der kapitalistischen Moderne und deren Versuch, die Gesellschaft ganz in ihre Fänge zu bekommen, gerichtete Organisierung. Wirtschaft, Gesundheit,
Bildung, Kultur und andere Bereiche werden in
diesem System selbst organisiert. So kann die
kapitalistische Ausbeutung umzingelt und einge-
grenzt werden. Dadurch kann auch das staatliche
System, das hinter der kapitalistischen Ausbeutung steckt, eingegrenzt und die demokratische
Gesellschaftsorganisierung gestärkt werden. Die
Pariser Kommune und die sozialistisch-demokratischen Revolutionen müssen als ein Erbe
betrachtet werden. Ausgehend von dieser Basis
muss die Organisierung in alle Teile der Gesellschaft übertragen werden, so dass eine demokratische Autonomie der Gesellschaft geschaffen
wird. Das ist möglich. Ein solcher Kampf ist in der
Lage, große Teile der Gesellschaft miteinzubeziehen. Es ist ein Kampf, der das herrschende System einzugrenzen versucht – und er ist dazu in
der Lage.
Anders als bei der Oktoberrevolution, die den
herrschenden Staat abschaffte und an dessen
Stelle einen neuen errichtete, der vermeintlich
alle Probleme der Gesellschaft lösen konnte, gibt
es ein anderes Verständnis. Warum? Erstens hat
dieser Weg ohnehin nicht funktioniert. Den alten Staat durch einen neuen abzulösen ist keine Lösung. Denn der Staat an sich ist ein Mittel
der Ausbeutung. Mit ihm kann mensch keine
Demokratie bringen, keine Freiheit und Gleichheit schaffen. Am Ende kehrt er sich in Unterdrückung und Ausbeutung. Staat bleibt Staat, egal
in wessen Hand er sich befindet. Am Ende wird
er uns zum selben Punkt zurückführen. Deswegen war dieses Paradigma keines der Lösung.
Zweitens ist es unter den heutigen Bedingungen
ohnehin nicht möglich, eine solche Vorstellung
umzusetzen – selbst wenn es gewollt ist. Es ist
einfach unrealistisch zu glauben, das herrschende Staatssystem könne zerschlagen und so Demokratie, der Sozialismus aufgebaut werden.
Aber nehmen wir mal an, die Revolution wäre
36
ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität
1. YXK-Reader | 2015
doch erfolgreich, dann könnte auf diesem Weg
keine nachhaltige Lösung herbeigeführt werden.
Das hat der Realsozialismus unter Beweis gestellt.
So ist der Aufbau des Demokratischen Konföderalismus oder der Demokratischen Autonomie unter den Bedingungen, unter denen wir leben, für
alle, die Frauen, die Jugend, die ArbeiterInnen,
die Umsetzung einer demokratischen und sozialistischen Revolution. Nicht einen neuen Staat
zu erschaffen, sondern eine demokratische Gesellschaft zu bilden; nicht den aktuellen Staat zu
zerschlagen, sondern gegen ihn eine organisierte
demokratische Gesellschaft zu schaffen, die den
Staat eingrenzt – das ist das Ziel. So erschafft
mensch das, was wir mit der Formel »Staat plus
Demokratie« bezeichnen. So werden im Demokratischen Konföderalismus dem Staat die Kompetenzen, die er zuvor allein an sich gebunden
hat, einzeln entrissen und hinein in die Gesellschaft getragen. Und die Gesellschaft übt diese
Kompetenzen in ihrer demokratischen Organisierung selbst aus. So verstehen wir den Demokratischen Konföderalismus. Und dies kann überall auf diese Weise umgesetzt werden. Also, das
ist kein Konzept, das auf einen geographischen
Raum begrenzt ist. Wir begreifen es als Weg, um
alle gesellschaftlichen Fragen lösen zu können.
Das ist also auch kein Modell, das allein für die
Lösung ethnischer oder religiöser Probleme gedacht ist. Alle Fragen der Freiheit und der Demokratie können mit diesem System gelöst werden.
Wenn jede gesellschaftliche Gruppe sich selbst
organisiert und selbst für ihre Interessen eintritt,
dann wird sie auch für die Probleme, die sie im
kapitalistischen System erlebt, Lösungen finden
können.
Es ist zwar ein System, das vor allem im Osten
für nationale, religiöse und ethnische Fragen
Lösungen darbieten kann. Aber auch im kapita-
listischen Zentrum kann es umgesetzt werden.
Denn auch dort herrscht das Problem des Zentralismus. Auch dort werden immer größere Teile der Gesellschaft vom System ausgeschlossen
oder von ihm brutal ausgebeutet und unterdrückt. Auch dort bedroht das System die Köpfe,
die Herzen, das gesamte Leben der Menschen
immer stärker. Das System versucht diese Menschen zu lenken, wie es will. Deshalb besteht
ein ernstzunehmender Widerspruch zwischen
diesen Teilen der Gesellschaft und dem von der
kapitalistischen Moderne geschaffenen Staat.
Das bietet die Möglichkeit, dass auf Fragen von
Unterdrückung und Ausbeutung, von Freiheit
und Gleichberechtigung auf der Grundlage der
Demokratischen Autonomie Lösungen gefunden
werden können. Wenn sich die Ideen und Gedanken der Demokratischen Autonomie und des
Demokratischen Konföderalismus verbreiten,
glauben wir, dass auch in der kapitalistischen
Moderne in diesem Sinne neue Strategien und
Organisierungsformen zur Überwindung der Probleme gefunden werden.
Ist das System auch eine zeitgemäße Antwort
auf den proletarischen Internationalismus?
Zunächst einmal will ich sagen, dass der Demokratische Konföderalismus das Lösungsmodell
für die gesellschaftlichen Probleme darstellt, die
die kapitalistische Moderne im Zeitalter des imperialistisch globalen Finanzkapitals geschaffen
hat. Diese Probleme gibt es sowohl in Ländern,
die der Kapitalismus als entwickelt bezeichnet,
als auch in Ländern, die durch ihn ausgebeutet
werden. Es gibt diese Probleme also überall.
Das geht von Arbeitslosigkeit weiter über ethnische und kulturelle Probleme. Es gibt sogar das
Problem, dass die Menschen ihres Verstandes
beraubt werden. Sie können ihre eigene Realität nicht mehr begreifen. Sie können sich nicht
mit ihrem eigenen Bewusstsein organisieren. Es
gibt das Problem des Militarismus. Es gibt staatliche Probleme. Es ist die Rede von einem dritten
Weltkrieg. Jederzeit könnte ein neuer weiterer
Krieg ausbrechen. Es gibt also die Frage von Krieg
und Frieden. Das sind Probleme, die die gesamte
Menschheit betreffen. Mancherorts zeigen sich
Probleme schärfer und andernorts sind es wieder andere. Aber diese Probleme sind allesamt
Menschheitsprobleme. Und ihre Ursache ist ein
37
ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität
1. YXK-Reader | 2015
5 000-jähriges andauerndes staatliches System.
In der heutigen Zeit werden sie auf ein nie dagewesenes Niveau gehoben; sie erscheinen
praktisch als unüberwindbar. Und dafür ist die
kapitalistische Moderne verantwortlich, also der
500-jährige Kapitalismus.
Das System des Demokratischen Konföderalismus ist der Ausdruck eines Lösungsweges für
diese Probleme. Und das gilt für alle gesellschaftlichen Bereiche. Egal, in welchem Bereich diese Probleme auftauchen, ihnen kann mit einer
demokratischen Organisierung der Gesellschaft
begegnet werden. Wenn wir dem folgen, dann
können wir, auch wenn an verschiedenen Orten
unterschiedliche Probleme vorherrschen, ihnen
mit dem Modell der demokratischen Moderne
Abhilfe leisten.
Unter den gegebenen Bedingungen haben die
herrschenden Kräfte, die Bourgeoisie, die VertreterInnen der kapitalistischen Moderne in ihrem
Sinne eine Organisierung etabliert, die dem Rest
der Gesellschaft vorschreibt, dass sie nach ihren
Vorstellungen, also nach den Vorstellungen der
Herrschenden, zu sein und zu leben haben. Sie
drängen sozusagen ihr System der Gesellschaft
auf. Demgegenüber sagt das System der Demokratischen Autonomie: »Nein, Ihr müsst nicht
wie sie sein. Ihr seid ein Teil der Gesellschaft. Ihr
habt eine eigene Kultur, Euer eigenes Verständnis von Moral und ein eigenes Lebenssystem. Ihr
könnt Eure eigenen Probleme selbst lösen. Deshalb müsst Ihr Eure eigene Moderne, Eure eigene
Organisierung und Euer eigenes Lebensverständnis entwickeln und umsetzen.« Der Vorsitzende
Apo hat dies als die Demokratische Moderne
bezeichnet und in seinen Verteidigungsschriften
den Aufruf an die gesellschaftlichen Gruppen,
egal wo auf der Welt, gemacht: Organisiert Eure
eigene demokratische Moderne. Ihr seid nicht
gezwungen, den Kapitalismus zu leben. Ihr könnt
auch die Demokratie leben. Deswegen könnt Ihr
ein freies, auf Pluralismus beruhendes, gleichberechtigtes und solidarisches System aufbauen.
Ihr könnt Euch also selbstständig organisieren
und, ohne ein Staat zu werden, Euer Leben gemeinsam aufbauen. Und so könnt Ihr das vom
Kapitalismus geschaffene Problem der Unterdrückung und Ausbeutung überwinden.
Wenn mensch dieses Lösungsmodell für sich be-
reit ist anzunehmen, dann kann es überall auf
der Welt umgesetzt werden. Mit dem realsozialistischen Verständnis von Revolution hieß es,
die Revolution wird zuerst in Europa stattfinden.
Dann hieß es, nein, nicht in Europa, sondern in
Asien. Oder nein, zuerst in den Kolonien oder den
wenig entwickelten Staaten. Das Verständnis der
demokratischen Moderne überwindet eine solche Auffassung. Die demokratische Moderne ist
Organisierung, den demokratischen Sozialismus
mit Leben füllen. Unser Vorsitzender hat das als
eine Lehre formuliert und gesagt, dass die demokratische Moderne das System für den demokratischen Sozialismus darstellt. Überall auf der
Welt gibt es dringende Probleme. Dagegen kann
auch überall auf der Welt revolutionärer Widerstand geleistet und eine revolutionäre demokratische Organisierung geschaffen werden. Und
dadurch können die gesellschaftlichen Probleme
überwunden werden. Das gilt von Amerika bis
Europa, von Asien bis Afrika. Aber alle müssen
das den eigenen Problemen entsprechend angehen.
Wenn das so ist, dann bekommt natürlich der Internationalismus eine neue Bedeutung. Früher
war es so, dass, wenn irgendwo eine Kraft vorausging und es ihr gelang, einen Staat zu gründen, der dann auch die Vorreiterrolle des Internationalismus übernahm. Diese Kraft verbreitete
dann den Internationalismus überallhin. Das hat
mit der Zeit seine Funktion als Internationalismus verloren und sich in eine Form der Hegemonie transformiert. So wurde beispielsweise
die Sowjetunion noch vor ihrem Zerfall aufgrund
dessen von anderen SozialistInnen kritisiert. Sie
sagten, dass das, was sie tue, kein Internationalismus sei, sondern eine neue Form der Hegemonie im Namen des Sozialismus.
Durch dieses Verständnis hat sich der Internationalismus nicht entwickeln können. Aber mit dem
Verständnis der demokratischen Moderne wird
der Weg für den Internationalismus neu geöffnet. Überall dort, wo sich das System der Demokratischen Autonomie entwickelt, dort, wo sich
gegen den Staat eine demokratische gesellschaftliche Organisierung auftut, zwischen all diesen
Organisierungen überall auf der Welt können
solidarische Beziehungen aufgebaut werden. So
entwickelt sich die internationale Solidarität. Für
38
ͧͧ Eine neue Form der internationalen Solidarität
1. YXK-Reader | 2015
ein freies, pluralistisches und gerechtes Leben
aller Unterdrückten, aller ArbeiterInnen, eigentlich aller gesellschaftlichen Kreise, die von ihrer
eigenen Arbeit leben, müssen diese Kreise in einer Art Beziehung zueinander stehen, eine Solidarität untereinander aufbauen. Und das würde
selbstverständlich zu einer neuen Form der internationalen Solidarität führen. Das ist eine Solidarität, die nicht darauf abzielt, andere von sich
abhängig zu machen oder die eigene Hegemonie
zu erweitern, sondern eine internationale Solidarität im wahrhaftigen Sinne. Denn das System
selbst ist ein demokratisches, das auf gegenseitiger Solidarität beruht. Und deswegen ist es egal,
wo auf der Welt wir uns gerade befinden, diese
Solidarität wird auf den Werten der Freiheit und
der Gerechtigkeit beruhen. Niemand wird die
Möglichkeit bekommen, die anderen unter seinen Einfluss zu bekommen, sie zu kontrollieren
oder sie einem selbst anzugleichen.
In diesem Sinne ist die Frage richtig. Das alte an
den Staatsgedanken gebundene Paradigma des
Sozialismus, oder besser der Versuch des Sozialismus, hat es nicht geschafft, einen Internationalismus aufzubauen. Er hat stattdessen neue
Hegemonien hervorgebracht. Die demokratische
Moderne bzw. der Demokratische Konföderalismus unterbinden demgegenüber die Bildung
neuer Hegemonien. Es sollen in diesem System
ausschließlich Beziehungen, Bündnisse und solidarische Verhältnisse auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Freiheit entstehen. Und das ist
eine neue Form des Internationalismus.
zuerst erschienen im Kurdistan Report
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ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden
1. YXK-Reader | 2015
EIN INTERVIEW MIT HÜSEYIN ÇELEBI
«Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden»
ͧͧ Hüseyin Çelebi im Interview mit der Zeitung CLASH
Das folgende Interview führte die Zeitung CLASH (Zeitung für den
Widerstand in Europa) im Juni 1990 mit Hüseyin Celebi vom Kurdistan Komitee Köln. Hüseyin äußert darin eine Kritik und Bewertung
der Solidaritätsbewegungen und der allgemeinen Linken der BRD,
die noch heute an Aktualität nichts verloren hat.
Hüseyin ist in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen und
hat sich hier an vielen politischen Initiativen beteiligt. Er war selbst
Gefangener im Düsseldorfer Prozess, nach einem Angriff der Bundesregierung gegen die zu der Zeit noch nicht verbotenen PKK. Zur
Gründung der YXK im Jahr 1991 hatte er maßgeblich beigetragen,
weshalb ihn der Verband posthum zum Ehrenvorsitzenden ernannt
hat. Hüseyin ist 1992 im Südkrieg, dem großen Krieg zwischen der
PKK und der KDP, der PUK und türkischen Armee in Südkurdistan
gefallen.
,,Die revolutionäre Perspektive müssen wir jetzt neu aufbauen. Was in der Sowjetunion derzeit
passiert, das ist es auf jeden Fall nicht!
Wir müssen die großen Chancen, die diese Situation mit sich bringt, nutzen. Wir müssen unsere
eigenen Modelle, unsere eigenen Vorstellungen versuchen durchzusetzen und zu realisieren. Wir
müssen die große Chance, neue Perspektiven mitentwickeln zu können nutzen. Wir müssen die
neue Perspektive selbst sein, anstatt immer nur andere Perspektiven darzustellen.
Und wir müssen aus den Fehlern lernen, um sie nicht noch einmal zu begehen und das anhand
unserer eigenen konkreten Bedingungen.“
Verhaftung und Knast
Vorwort
In dieser Broschüre dokumentieren wir ein Interview, das die Zeitung CLASH (Zeitung für den
Widerstand in Europa) im Juni 1990 mit Hüseyin
Celebi vom Kurdistan Komitee Köln führte. Wir
denken, es beinhaltet wichtige Gedanken zu Fragen, Verständnis und Perspektiven im Verhältnis
zwischen Solidaritäts- und Widerstandsbewegungen in den imperialistischen Metropolen im
Norden und den im Süden kämpfenden Befreiungsbewegungen, also zu revolutionärer und
internationaler Solidarität. Diese Diskussion zu
führen ist nicht nur notwendig in der BRD, sondern zumindest europaweit. Daher erscheint
auch diese Broschüre in zwei Sprachen: englisch
und deutsch.
Frage: Ende 1987 begann die Bundesanwaltschaft unter Federführung von Generalbundesanwalt Rebmann mit einer massiven Welle der
Kriminalisierung gegen kurdische Organisationen vorzugehen, die den Unabhängigkeitskampf
in Nordwest-Kurdistan unterstützen. Es gab Bespitzelungen, Angriffe auf eure Feste, zahlreiche
Hausdurchsuchungen und die Beschlagnahme
von Geld und Schriften. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Kampagne am 15. Februar 1988 mit Deiner Verhaftung und der von
19 weiteren Kurden und Kurdinnen. Grundlage
hierfür war der § 129a. Hüseyin kannst du erzählen, wie es Dir damals ergangen ist und was
dir vorgeworfen wurde? Welcher Zweck wurde
40
ͧͧ Luftröhre der Bewegung ins Ausland abschneiden
1. YXK-Reader | 2015
deiner Meinung nach mit dieser sehr breit angelegten Repressionswelle verfolgt?
Hüseyin Celebi: Diesen 15. Februar 1988 werde
ich so schnell sicherlich nicht vergessen. Aber ich
will etwas weiter ausholen: die Repressionswelle begann zwar insoweit 1987 als sie besonders
verstärkt wurde, aber die eigentliche Verfolgung
ging schon etwas länger. Schon Mitte der 80er
Jahre hatte es sehr heftige Hetzkampagnen gegeben mit dem Ziel, uns zu kriminalisieren. Das
war in Schweden so, aber auch hier in der BRD.
Das ging soweit, daß Komplotte organisiert wurden - ich erinnere da an die Sache mit Faruk Bozkurt in Hamburg - und so wurde eine Atmosphäre geschaffen, die zusammen mit der rechtlichen
Erweiterung des § 129a auf ausländische Organisationen dazu führte, daß am 1. Januar 1987 ein
Ermittlungsverfahren gegen die PKK eingeleitet
wurde. Aber es hat schon, ich glaube im Jahre
1983, Drohungen vom Innenministerium gegeben, daß man die PKK verbieten werde, wenn
es sein müsse. Das war kurz nach dem Verbot
von Dev Sol/Halk Der (nach der Besetzung des
türkischen Konsulats in Köln, Anm. d. Red.) und
schon 1984 wurde immer wieder geäußert, daß
man uns beobachte usw. Der Beginn des Ermittlungsverfahrens war verbunden mit einem Haufen von Repressionen, die den Zweck hatten, uns
erstemal auszuforschen. Es sollte eine Grundlage geschaffen werden, wie man uns angreifen
könne und diese Vorbereitungen endeten dann,
vorläufig, mit dieser Verhaftungswelle im Februar 1988. Wenn wir uns diese ganze Zeitspanne
ansehen, dann wird klar, daß dahinter viel mehr
Sachen stecken, als das, was uns da jetzt konkret
vorgeworfen wird.
Es gibt 3 Grundsäulen dieses Projektes ,,Angriff
auf die PKK“: die erste, wesentliche Grundsäule ist die Entwicklung in Kurdistan, d.h. die Entwicklung eines Befreiungskampfes, der den Nato-Partner Türkei, die Südostflanke der Nato, in
Bedrängnis bringt und wodurch eine Lösung der
kurdischen Frage im imperialistischen Sinne zunehmend verhindert wird. Ein Befreiungskampf,
der dieses kolonialistische Gebilde im Nahen
0sten, das den Interessen des Imperialismus
entsprach und entspricht, angreift und versucht,
auseinanderzunehmen. In dieser Situation war
es für sie ganz wichtig, einen Einhalt zu gebieten.
Die Türkei hat in diesem Krieg die verschiedensten Methoden angewandt. 1984 (Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK in
Nordwest-Kurdistan) wurde der Beginn dieser
Entwicklung noch mit ziemlichem Schulterzucken quittiert, sie sagten, das ist eine Frage von
72 Stunden und dann haben wir das hinter uns.
Aber der Befreiungskampf entwickelte sich zunehmend, es wurden neue Stufen erreicht und
sie kamen schließlich an den Punkt, wo sie sagen
mußten, so wie bisher, so schaffen wir das nicht.
Das Problem konnte für sie nur in einem letzten
Schlag gelöst werden, den sie dann vorbereite.
1988 ist von ihnen daher als ,,Schicksalsjahr“
bezeichnet worden, was auch mit den Beschlüssen des 3. Kongresses der PKK 1986 zusammenhängt, wo wichtige Entscheidungen für die Weiterentwicklung des Befreiungskampfes getroffen
wurden. Während 1987 die Vorbereitungen für
die Umsetzung dieser Beschlüsse getroffen wurden, mit mehr oder weniger erfolgreichen Aktionen, sollten sie im Jahr 1988 umgesetzt werden.
Dem türkischen Staat war diese Planung natürlich bekannt und er hat alles daran gesetzt, diese
Entwicklung zu verhindern. In diesem Kontext
müssen wir diese Offensive 1988 sehen.
3 Standbeine hatte ich gesagt, einmal also der
militärische Angriff der Türkei Ende 1987 gegen
die Guerilla ziemlich verstärkte. Diese Vorgehensweise entsprach der militärischen Lösung
des ,,Problems“. Das zweite Standbein waren
die Angriffe in der BRD. Es wurde ganz deutlich
gesagt, daß man die Luftröhre der Bewegung ins
Ausland abschneiden müsse. Damit sollte die
Unterstützung gekappt werden und der Schlag
sollte so endgültig sein, daß die Bewegung auch
durch Öffentlichkeitsarbeit nichts mehr dagegen
unternehmen könne.
Zum Hintergrund muß man auch sagen, daß die
Türkei schon seit 1985 immer wieder die verschiedensten Regierungsvertreter in die BRD
schickte und ein Ende der sog. ,,separatistischen
Aktivitäten im Ausland forderte. Gerade hier in
der BRD gibt es ca. 400 Tausend Kurden und Kurdinnen, von denen ein beträchtlicher Teil den
Befreiungskampf massiv unterstützt, sowohl ideell als auch materiell. Das wollen sie verhindern.
Die BRD, deren Interessen sich mit denen der
Türkei decken, hat dann ohne viel Federlesen
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Vorbereitungen getroffen, deren vorläufiges
Ende die Verhaftungen 1988 gewesen sind.
Das dritte Standbein des Projekts ,,Angriff auf
die PKK“ war ein Angriff aus dem Innern der PKK,
dessen gesamtes Ausmaß bis heute noch nicht
geklärt werden konnte. Es gab Infiltration durch
den türkischen Staat, die, vermischt mit politischen Differenzen, dazu führten, daß eine Clique
innerhalb der Organisation versuchte, die Organisation zu liquidieren. Die mittlerweile verfaulende Losung von der Schaffung einer ,,demokratischeren PKK“ sollte durchgesetzt werden. Diese
Angriffe waren tatsächlich auch zeitlich ziemlich
gut aufeinander abgestimmt: die militärische Offensive im Winter 1987/88, im Frühjahr 1988 die
Verhaftungen und im Herbst 1988 der Vorstoß
dieser Gruppe. Objektiv gehören diese Angriffe
alle zusammen und haben alle das gleiche Ziel
verfolgt. Und es wird auch subjektiv Zusammenarbeit gegeben haben. In diesem Schicksalsjahr
ging es also darum, die Entscheidung zu fällen.
Das ist, grob geschildert, der Hintergrund zu diesem Verfahren.
Wie es mir dann speziell ergangen ist? Ja, ich
habe also hier im Kurdistan-Komitee gesessen,
als das SEK auf seine ,,liebenswürdige“ Art hier
hereingestürmt kam und wir wurden mit aufs
Polizeipräsidium genommen. Uns wurde nicht
gesagt, worum es ging. Am nächsten Morgen
kam dann mein Anwalt, aber der war auch kaum
informiert, er sagte nur, wir würden nach Karlsruhe geflogen, es sei ein Verfahren der Generalbundesanwaltschaft und er rechne damit, daß
ein Haftbefehl erlassen würde. Wir sind dann
nach Karlsruhe geflogen worden und kamen vor
den Haftrichter. Es war noch ein Vertreter der
Bundesanwaltschaft anwesend. Der Haftrichter
verlas den Haftbefehl und auch die konkreten
Vorwürfe gegen mich: Mitgliedschaft in einer
,,terroristischen“ Vereinigung, § 129a, Freiheitsberaubung und versuchter Mord. Was den anderen im einzelnen vorgeworfen wurde, wußte
ich damals noch nicht, die Trennung voneinander war spätestens seit unserer Ankunft in Karlsruhe perfekt. Ich war sehr erstaunt über diese Vorwürfe, besonders über die Formulierung,
die der Vertreter der BAW betonte, nämlich daß
ich Mitglied einer ,,terroristischen“ Vereinigung
innerhalb der PKK“ sein solle. Naja, mit diesem
Haftbefehl kam ich dann nach Wuppertal in den
Knast. Ich muß sagen, daß es einige Tage gedauert hat, bis ich den ersten Schock hinter mir hatte, bis ich mal verstanden hatte, was passiert war.
Ich hab den Haftbefehl unzählige Male durchgelesen und konnte es immer noch nicht begreifen.
Das hatte sicherlich damit zu tun, daß ich völlig
unvorbereitet von dieser Verhaftung getroffen
wurde.
Frage: Du hast gerade gesagt, ihr seid sofort
in Karlsruhe voneinander getrennt worden.
Kannst du zu Euren und zu Deinen Haftbedingungen etwas sagen?
Hüseyin: Getrennt wurden wir eigentlich schon
in dem Moment, in dem wir festgenommen wurden. Hier im Büro gibt es ja recht viele Räume
und wir wurden schon hier jeder in einen Raum
gesteckt. Ich wurde dann allein ins Polizeipräsidium gefahren, wo ich einige Leute sehen konnte,
die noch aus anderen Büros und Räumen dorthin
gebracht worden waren. Das Interessante im Polizeipräsidium war, daß alles ablief wie in einer
Maschine: ich kam meine Tür, wo ich stehenbleiben mußte. Dort konnte ich sehen, wie jemand
anders von uns dort drin durchsucht wurde und
ein Dritter bereits aus dem Raum zur nächsten
Maßnahme geführt wurde. Dann kam ich in den
Raum zur Durchsuchung, der vor mir wurde weitergeführt und hinter mir wartete der nächste
- das war wie in einer Maschine. Offensichtlich
war, daß wir uns nicht sehen und nicht miteinander reden sollten. Wenn wir uns doch trafen
wurden wir sofort voneinander weggezogen.
Dann kam ich in eine Einzelzelle. Später, bei einer Gegenüberstellung kamen einige von uns, so
ca. 8 Personen, noch mal zusammen Wir haben
erst aus den Akten, erfahren, daß es sich um eine
Gegenüberstellung gehandelt hatte, es lief alles
verdeckt ab. Das waren natürlich nur ein paar
Minuten, aber ich schildere das so ausführlich,
weil es selbst diese paar Minuten später für lange
lange Zeit nicht mehr gegeben hat. Auf dem Weg
nach Karlsruhe kamen wir noch einmal zusammen. Wir wurden auf dem Weg zum Hubschrauber in so eine Wanne verfrachtet, wo zwischen
den Einzelzellen so Fensterscheiben waren, daß
wir uns sehen und ein bißchen miteinander reden konnten. Da hab ich auch einige getroffen,
von denen ich bis dahin nicht wußte, daß wir
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Opfer desselben Schicksals geworden waren. Im
Hubschrauber waren wir auch zusammen, aber
Reden war da nicht möglich, es war einfach zu
laut. Danach war Schluß, bis zum Prozeß haben
wir uns nicht mehr gesehen. Ich weiß noch, daß
ich in Karlsruhe, als ich mit dem Haftbefehl weggebracht wurde, an einer Tür, die ungefähr 100
m weit weg war, den Selman gesehen hab, wie er
weggebracht wurde. Das war das letzte Bild im
Hinterkopf, was ich noch mitgenommen habe.
Im Knast selber war es die absolute Isolation. 24
Stunden war ich allen, 23 Stunden allein auf der
Zelle, 1 Stunde allein Hofgang. Menschen sah
ich, wenn überhaupt, nur in Uniformen, meist
drei bis vier. Als besonders gefährlicher Gefangener wirst du stigmatisiert, du hast drei bis vier
Schließer um dich herum. In der ersten Phase der
Verhaftung hast du ja auch nichts, keine Zeitungen, keine Bücher, kein Radio. Du wirst also völlig
von der Umwelt abgeschnitten. Es hat dann ungefähr 3 Monate gedauert bis es erste Veränderungen gab: Zeitungen, gemeinsamer Hofgang.
Ich bekam keine türkischen Zeitungen, weil ich
der deutschen Sprache so mächtig bin, daß ich
deutsche Zeitungen zu lesen hatte.
daß dann plötzlich zwei politische Gefangene in
einem Raum sind. Die merken das meistens nach
ein paar Minuten und dann ist sofort Schluß.
Aber ein-, zweimal hab ich den Hafiz so gesehen und wir haben ein bißchen geredet. Später,
nachdem die Anklageschrift gekommen war, gab
es ein umfangreiches Haftstatut, das aus 57 Einzelpunkten bestand. Diese Einzelpunkte waren
so ein richtig auf uns als ausländische politische
Gefangene abgestimmtes Programm. Kurdische
Zeitungen wurden einfach verboten, türkische
Zeitungen wurden reduziert auf drei Boulevardblätter, die man wirklich nicht lesen konnte; Radio wurde dahingehend zensiert, daß wir keine
Kurzwellen und keine UKW-Sender hören durften und das bedeutete, daß es keine Sendung
gab, die wir überhaupt hören konnten in einer
Sprache, die wir verstanden - also wenn wir kein
deutsch konnten. Dann gab es noch einige Spezialitäten, z.B. daß wir zum Gemeinschaftshofgang
herausgehen durften, aber nicht mit Gefangenen
kurdischer Volkszugehörigkeit, wie sie sich ausdrückten, zusammenkommen durften. Es gibt
selten Situationen für Kurden, wo es gut ist, daß
sie keinen Paß haben, aber in dieser Situation
Frage: Du hast eben gesagt, daß ihr nach drei war das schon ganz gut, denn die Knastleitung
Monaten die Möglichkeit gemeinsamen Hof- konnte zwischen Türken und Kurden nicht richtig
gangs hattet, aber das mit anderen Gefange- unterscheiden und so ließ sich dieser Beschluß
praktisch nicht durchsetzen. Ein sehr starkes Mitnen, nicht mit deinen Freunden?
tel der Isolation, das sehr oft mit den verrücktesHüseyin: Ja natürlich, ich vergaß das immer zu ten Begründungen angewendet wurde, war die
sagen, es ist ganz klar, daß politische Gefange- Zensur. So wurden politische Äußerungen ohne
ne nie Zusammen-kommen. In diesem Knast gab Maßstäbe, z.B. in Briefen angehalten, zerschnipes sowieso, außer mir nur noch einen anderen pelte Zeitungen kamen rein usw. usf.
politischen Gefangenen. Das änderte sich allerdings, als ein weiterer Genosse von mir, der in Frage: Ihr habt zwischendurch ja Hungerstreiks
einem ganz anderen Trakt gewesen ist, den ich gemacht, um bessere Haftbedingungen durchnie zu Gesicht bekommen habe; der ist dann kur- zusetzen. Hat sich dadurch denn irgend etwas
ze Zeit später auch entlassen worden. Aber auch spürbar für euch verändert?
das habe ich erst sehr viel später über Beschlüs- Hüseyin: Es gab minimale Veränderungen. Es gab
se mitgekriegt, in denen stand, daß ich nicht mit diese ganz verrückten und harten Beschlüsse,
ihm zusammengebracht werden dürfte. Dann wie z.B. daß wir ein Radio haben durften, das wir
kam später noch ein palästinensischer Genos- aber nicht verstehen konnten, oder Zeitungen
se, der lange Zeit dort war, der Hafiz, mit dem lesen zu müssen, die man sonst im normalen Leaber auch kein Kontakt möglich war. Ab und zu ben nicht mal anfassen würde - also solche Dinpassiert ein Versehen, wenn sie uns zum Einkau- ge wurden schon geändert. Auch gemeinschaftfen führen, politische Gefangene werden allein lichen Hofgang machen zu können wurde erst
zu einer bestimmten Zeit dorthin gebracht, und nach einem Hungerstreik eingeführt. Und auch,
zwar nacheinander. Und wenn sie dann die Ko- daß wir sog. Gemeinschaftsveranstaltungen beordination nicht genau hinkriegen, passiert es, suchen durften, wobei gesagt werden muß, daß
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1. YXK-Reader | 2015
bei diesen Gemeinschaftsveranstaltungen Bedingungen vorgeschrieben wurden, die wirklich
menschenunwürdig waren. So erlaubten sie einem z.B. an einem Gottesdienst teilzunehmen
- was vom Inhalt her ziemlich uninteressant ist,
aber es ist gut, mit anderen zusammenzukommen. Deswegen gehen auch die meisten Gefangenen dorthin. Sie sagten also, man durfte am
Gottesdienst teilnehmen, aber müsse irgendwo
so abseits gesetzt werden, daß man mit keinem
anderen Gefangenen direkten Kontakt bekommen könne und Schließer müßten dabei sitzen.
Das wollten wir so natürlich nicht machen, das
ist doch absolut sinnlos.
Ich möchte noch ausdrücklich betonen, daß zu
dieser gesamten Situation der Isolation kommt,
daß wir die Sprache nicht können; außer mir
und einem anderen Genossen können alle anderen kein deutsch sprechen. Selahattin Erdem
beschrieb in einem Brief an mich das mal so: er
meinte, „Du bist ein Gefangener, aber ich bin ein
doppelter Gefangener.“ Er konnte noch nicht mal
diesen Schließern irgend etwas sagen oder irgend etwas verstehen, was sie ihm sagten.
dieses ständige Schikanieren, diese ständigen
willkürlichen Beschlüsse, das ständige Hin und
Her, dieser ständige Druck, der auf dich ausgeübt wird, die absolut kalte Umwelt, die absolute
Abschottung von jeder Form von Menschlichkeit,
von jedem Kontakt - das alles hat genau dasselbe Ziel. Nach 3 Monaten Totalisolation kommen
plötzlich so BKA-Typen zu dir und fragen, ob du
denn nicht endlich eine Aussage machen willst.
Damit nutzen sie eine ganz bestimmte Situation
aus, nachdem du 3 Monate lang mit niemandem geredet hast, hast du ein ganz natürliches
Verlangen egal mit wem, egal aber was, mit irgendwem zu reden. Das ist eine gezielte Politik.
Das, was die türkischen Folterer versuchen, an
einem Tag zu erfahren, versuchen hier die Folterer mit 3 Monaten Isolationshaft zu erreichen.
Der Unterschied ist erstemal, daß es keine offen
physische Folter ist, aber wenn ich mir ansehe,
was es für Spätfolgen bei Menschen gibt, die in
der Türkei gefoltert wurden und den Menschen,
die hier gefoltert wurden, dann sehe ich da keine
großen Unterschiede. Im Endeffekt geht es darum, wie es die Menschen prägt, daß man in ganz
Frage: Diese Haft wird ja international als ,,wei- bestimmten Situationen immer noch unter dem
ße Folter“ bezeichnet. Warst du in irgendeiner Eindruck dieser Folter steht, das sind vor allen
Weise auf solche Haftbedingungen vorbereitet, Dingen psychische Folgen.
hattest du dich irgendwie und irgendwann mal Frage: Für die politischen Gefangenen in der
damit auseinandergesetzt oder war das eine BRD ist die Isolationshaft seit 20 Jahren, d.h.,
völlig neue Erfahrung für dich?
seitdem es hier politische Gefangene gibt, eine
Hüseyin: Es war eine völlig neue Erfahrung für Realität. Am 1. Februar 1989 begannen die Gemich, was nicht heißt, daß ich nicht schon einmal fangenen aus der RAF den 10. Hungerstreik für
davon gelesen hatte, aber wenig. Ich möchte das ihre Zusammenlegung und die Freilassung der
Wort Erfahrung betonen, man kann soviel lesen haftunfähigen Gefangenen.
darüber, wie man will, ohne die praktische Erfahrung glaube ich nicht, daß du einen wirklichen
Sinn dafür bekommen kannst, was es ist. Ich kann
das absolut unterstreichen, wenn gesagt wird,
das ist die ,,weiße Folter“, die saubere, unblutige
Form von Folter. Denn im Endeffekt, was die Zielsetzung und die langfristigen Schmerzen betrifft,
hat es denselben Effekt. Einen, den du physisch
folterst, dem bereitest du kurzfristig, in dem Augenblick der Folter, schwere Schmerzen mit dem
Ziel, etwas aus ihm herauszupressen oder ihn zu
brechen. Es bleiben aber die langfristigen Schäden. Und hier, bei der Isolationshaft, ist es genau
dieselbe Sache, nur daß es alles langfristiger geplant ist. Dieses ständige Alleingelassen werden,
Gefangene aus dem revolutionären Widerstand
schlossen sich ebenfalls dieser Hungerstreikkette
an. Nach und nach haben sich dann noch andere Gefangene diesem Hungerstreik mit eigenen
Forderungen angeschlossen oder sie haben sich
einfach solidarisiert. Hast du zu diesem Hungerstreik irgend etwas mitbekommen und wie war
dein eigenes Verhältnis dazu?
Hüseyin: Mitbekommen habe ich den Beginn und
den Verlauf des Hungerstreiks schon. Authentisches habe ich nicht mitbekommen, denn alles,
was hierzu an mich geschickt wurde, wurde konsequent angehalten. Jede Seite, auf der etwas
ausführlicher über den Hungerstreik berichtet
worden ist, jeder Artikel, jede kleine Nachricht
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weggeschnitten, die Zensur war absolut. Auch
das, was wir oder was ich je dazu geschrieben
habe, wurde, soviel wie ich weiß nicht durchgelassen. Sie haben wirklich alles daran gesetzt,
zu verhindern, daß wir mitbekommen, was dort
abläuft. Meine anderen Genossen, also da muß
ich sagen, daß einige, also diejenigen, die der
Sprache überhaupt nicht mächtig sind, lange Zeit
überhaupt nichts von dem Streik mitgekriegt haben. Bei uns gab es während des Hungerstreiks
ganz andere Diskussionen, über ganz andere Sachen.
Diese Auseinandersetzung um die Zusammenlegung kannte ich schon von früher, ich war auch
informiert über die konkrete Realität der Gefangenen, erst recht noch mal durch unsere eigene
Situation und damit war für mich klar, daß die
Forderung nach Zusammenlegung und alle anderen Forderungen auch unsere Forderungen waren. Auch wenn wir sie nie so formuliert haben,
dann ist es für uns doch ganz klar, daß die Forderungen der politischen Gefangenen dieselben
sind, wie unsere, denn es geht um dieselben Sachen. Es lief bei uns während dieser Zeit ja auch
ein Hungerstreik, mitten in dieser Phase, gegen
diese verschärften Haftbedingungen, das war sicherlich ein unglücklich gewählter Zeitpunkt.
Ich habe in meiner Erklärung zu unserem Hungerstreik auch einen konkreten Bezug hergestellt
zu dem Hungerstreik der Gefangenen hier und
erklärt, daß ich mich solidarisiert habe. Ich weiß
nicht, ob dies je bekannt geworden ist, soviel ich
weiß, wurden meine Erklärungen dazu alle beschlagnahmt und nicht herausgelaufen.
Prozessverlauf und Verteidigungsrede
Frage: Aufgrund der Isolationshaft konntet Ihr
euch ja nicht gemeinsam auf den Prozeß vorbereiten, trotzdem vermittelt ihr während des
Prozesses eine Stärke und Einheit, die uns alle
wirklich sehr beeindruckt hat. Was macht diese
gemeinsame Stärke und Verbundenheit unter
Euch aus?
Hüseyin: Erst einmal das, worum wir kämpfen.
Das ist wohl eines der wichtigsten Bindeglieder
zwischen uns. Die Situation von Menschen, die
ein Sklavendasein führen, in einem Kampf als
Menschen gegen dieses Sklavendasein für eine
Befreiung, ja für Freiheit. Das ist unser Ziel - und
diese Vorstellung der Ziele ist sicherlich ein Bindeglied zwischen uns macht und gibt uns unsere
Stärke. Auch, weil wir davon ausgehen, daß wir
im Recht sind und einen gerechten Kampf führen.
Auf der anderen Seite haben wir eine lange
Kampferfahrung, was Gefangenschaft betrifft,
Kämpfe in Knästen, Prozesse - es gibt genug
PKK-Prozesse in der Türkei und wir stellen uns
auch ganz klar und konkret in die Tradition der Erfahrungen unserer Genossen in der Türkei und in
Kurdistan in den Knästen. Diese beiden Sachen,
das gemeinsame Ziel und die enge menschliche
Verbundenheit, daß wir bereit sind, für einander
dazu sein, nach der bekannten Losung: Einer für
alle, alle für einen, das sind wohl die wichtigsten
Gründe, daß wir viel Stärke und Verbundenheit
zum Ausdruck bringen. Wobei ich dazu auch sagen muß, wir kennen uns alle mehr oder weniger, wir haben vieles gemeinsam gemacht und
das schweißt uns auf jeden Fall zusammen.
Frage: Diese Bedingungen im Prozeßbunker waren von Anfang an so extrem, daß eine rechtmäßige Verteidigung ausgeschlossen war. Kannst
du vielleicht was sagen über diese Bedingungen
im Prozeßbunker, sie genauer beschreiben und
was, denkst du, sollte mit diesen Bedingungen
erreicht werden?
Hüseyin: Es ist ja bekannt, daß dieser Bunker für
ungefähr 8 Millionen Mark umgebaut worden
ist, extra für diesen Prozeß. Im Keller sind neue
Hafträume eingerichtet worden. Wenn ich mich
nicht irre, dürften 50 Hafträume dort unten sein.
Allein dort, wo 5 oder 6 von uns sind, waren 13
Haftzellen, aber dieser Teil ist nur einer von mehreren Zellenteilen dort unten. Das macht klar,
worum es hier geht, nämlich die Vorbereitung
eines dieser Prozeßbunker - es gibt ja mehrere,
Stammheim z.B. noch - für Massenprozessen.
Und alle Möglichkeiten, die für kleine Gruppen
von Gefangenen gelten, oder auch für einzelne, haben sie hiermit auch für große Prozesse
vorbereitet. Die Abteilungen sind voneinander
abgeschottet und es ist ein richtiges Labyrinth
dort unten. Ich war ja 4 Monate dort und hab
in dieser nicht kapiert, wie wir dahin kamen, wo
wir hinkamen. Es ist aufgebaut wie in einen Labyrinth, damit du es nicht durchschaust. Wenn
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wir z.B. zum Prozeßsaal gebracht wurden, wurde
jedesmal ein anderer Weg genommen, und so
verstehst du nie so genau, wo du gerade bist.
Oben im Prozeßsaal ist dieses Aquarium, dieser
Käfig das erste gewesen, was sofort ins Auge
stach. Eine Plexiglaswand, die uns, die Angeklagten, von der Verteidigung abschottete ebenso wie
vom Rest des Prozeßsaals. Es gab sog. Sprechstellen, 3 Löcher in dieser Plexiglasscheibe, wo wir,
wenn wir wollten, mit unseren Anwälten sprechen konnten. Die Anwälte selber saßen ziemlich weit entfernt, z.T. bis zu 16 Meter. Um mit
ihnen sprechen zu können, mußten wir auf einen
Knopf drücken, der auf so einem Schaltbrett vor
uns war, wenn wir darauf gedrückt haben, leuchtete bei ihren ein rotes Lämpchen auf. Das klappte aber hinten und vorne nicht, weil schon am
2. Tag des Prozesses, das gesamte Schaltsystem
zusammenbrach. Diese Trennscheibe selber, ein
Novum in der Prozeßgeschichte der BRD, hängt
auch mit dem zusammen, was da unten im Keller
gemacht worden war, eben der Versuch, einen
Massenprozeß als Pilotprojekt durchzusetzen
und durchzuführen. Hier haben sie mal ausprobiert, inwieweit das klappt und wie man das machen kann. Heute ist diese Glaswand ja abgebaut
worden, aber ich glaube trotzdem, daß sie schon
einige Erfahrungen mit diesem Ding gesammelt
haben und das nächste Mal werden sie es wahrscheinlich besser machen, schlauer angehen. Ich
glaube einfach nicht, daß sie das Projekt aufgegeben haben. Wenn sie die Glaswand abgebaut
haben, dann hat das sicherlich viele andere
Gründe, aber nicht den, daß sie tatsächlich Abstand davon genommen haben. Alle Bedingungen in diesem Prozeß, z.B. auch das Problem mit
den Dolmetschern, alles hat in erster Linie einen
Propagandazweck. Diese zweijährige Hetze als
sogenannte ,,gefährlichste Terroristen“, als die
neue, eigentliche Gefahr für die innere Sicherheit der BRD mußte in ansprechenden Bild auch
dargestellt werden. Was bietet sich da besser, als
so eine Glasscheibe, so ein Käfig, der ja auch bestimmte Assoziationen hervorruft, nämlich daß
dahinter Ungeheuer, Monster sitzen müssen, die
so gefährlich sind, daß sie hinter Scheiben von
dem Rest der Menschheit abgeschottet werden
müssen. Alles das mußte noch mal zum Ausdruck
gebracht werden und wenn diese Scheibe heu-
te weg ist, dann hat das auch damit zu tun, daß
eben diese Propaganda in diesem Punkt nicht geklappt hat, daß dieses Bild von den ,,gefährlichen
Terroristen“ einfach nicht durchzusetzen war.
Frage: Du hast ja schon gesagt, die Trennscheibe steht heute nicht mehr, und ich teile aber
Deine Einschätzung, daß es sich nicht um eine
Liberalisierung handelt. Gegen zwei von Euch
wurde das Verfahren eingestellt, sieben sind
gegen Kaution freigelassen worden. Was denkst
Du waren die Gründe für diese Veränderungen?
Hüseyin: Also sie sagen ihre Gründe dafür ganz
offen: Rebmann sagte ja, die deutsche Justiz ist
mit diesem Verfahren überfordert. Wenn er das
sagt, dann hat das weniger damit zu tun, daß
irgendwelche Gesetzeslücken vorhanden sind,
sondern es hat damit zu tun, daß die BRD noch
ziemlich unerfahren ist in dieser neuen Rolle,
die sie mit diesem Prozeß als Weltpolizist spielen will. Schwierigkeiten hat sie also einmal mit
der propagandistischen, aber auch mit der realen Abwicklung dieses Prozesses. Dieses Bild, das
sie versucht hat, mit diesem Prozeß zu schaffen,
hat sich umgekehrt. Der Versuch, 20 Menschen
als Ungeheuer hinter eine Glasscheibe zu stellen,
hat sich umgekehrt. Selbst aus liberalen Kreisen
kam Kritik, daß man das so doch hier nicht machen könne. Ein Massenprozeß, der Assoziationen zu den schlimmsten Massenprozessen in
der Türkei hervorrief, sollte hier nicht geführt
werden. Der Schauprozesses kam deutlich zum
Ausdruck. Jeder, der in diesen Prozeßsaal hereinkam, hat gesehen, hier läuft eine Show ab.
Diese Scheibe, hinter der wir steckten, war das
Sinnbild dieser Show, die große Anzahl von Leuten - das war schon technisch eine Show, dieses
Ausgestelltsein zwischen den Schließen. All das
hat doch zu deutlich gemacht, was hier ablief,
das mußte also geändert werden. Mit der Freilassung von sieben der Gefangenen und der Einstellung von zwei Verfahren haben sie jetzt erst
mal versucht, sich neue, günstigere Bedingungen
zu schaffen. Die Ziele sind geblieben.
Was haben sie mit der Entlassung von 9 Leuten
erreicht? Sie haben erst mal in ganz bestimmte
Schichten der liberalen Öffentlichkeit gewirkt,
die jetzt sagen: na also, was wollt ihr denn, die
Gerechtigkeit hat zum Schluß doch gesiegt! Und
alles, woran sich äußerlich die Kritik festgemacht
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hat, wie z.B. die Scheibe, wurde beseitigt. Aber
inhaltlich, die Punkte der Anklagen, der Versuch,
zum ersten Mal eine Befreiungsbewegung in der
BRD als ,terroristisch‘ zu verurteilen und der Versuch, der BRD eine Gerichtsbarkeit im Ausland
einzuräumen, mit, also die Libanon-Anklage, daran hat sich nichts geändert. Sie brauchen Ruhe,
um genau diese Punkte durchzusetzen.
Prozessen ist und es viele andere Bewegungen
auf der Welt tun, begreifen wir diesen Prozeß als
Tribunal.
Hüseyin: Für einen Revolutionär ist der Ort, an
dem er sich aufhält, absolut unwichtig. Das heißt,
ein Revolutionär ist überall Revolutionär. Dieser
Gerichtssaal ist also kein Ort, an dem wir uns anders verhalten sollten oder wollen wie in einer
anderen Situation in Freiheit oder sonstwo. Wir
sagen das auch ganz offen, daß wir diesen Prozeß als eine Bühne betrachten. Auf dieser Bühne
wollen wir ganz konkret darstellen, warum wir
was, wann und wo und wie wir es machen. Das
ist in unseren Erklärungen ja sehr ausführlich
dargelegt worden. Da geht es um die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Hintergründe unseres
Kampfes. Das ist der eine Teil unser Erklärungen.
Dazu möchte ich Ismail Besikci zitieren, der gesagt hat, daß im Prozeß die Möglichkeit besteht,
einen differenzierten Einblick in unseren Kampf
in Kurdistan zu geben, denn wir können dort
auftreten und erklären, worum es uns geht. Der
andere Punkt ist, daß wir den Prozeß als einen
Teil unseres Kampfes gegen Imperialismus, Kolonialismus und feudale Reaktion begreifen. Entsprechend müssen wir anklagen, was der Imperialismus und Kolonialismus den unterdrückten
Schichten unseres Volkes antut. Wir klagen sehr
konkret an, an welchen Verbrechen Imperialismus und Kolonialismus beteiligt sind, wo sie zusammenarbeiten. Wie es wohl immer bei diesen
durch, dann kann jede Äußerung zu den Befreiungsbewegungen als Unterstützung gewertet
werden und entsprechende Konsequenzen nach
sich ziehen. Dann wird es einen massiven Angriff
gegen alle Aktivitäten von uns geben. Klar ist,
daß damit der Boden für die Arbeit mit den 400
Tausend Kurden, die hier leben, entzogen wird.
Durch Kriminalisierung soll die politische Arbeit
und Organisierung bei einem großen Teil unserer
Menschen, die hier leben, unmöglich gemacht
werden. Für andere Befreiungsbewegungen gibt
es da erst mal überhaupt keinen Unterschied,
denn wenn das hier durchkommt, kann es morgen jede andere Befreiungsbewegung treffen.
Wenn die Libanonanklage durchkommt, wird es
ein leichtes Spiel für die BRD sein, morgen angebliche Straftaten in irgendeinem anderen Teil
dieser Welt, von denen die BRD ausgeht, daß es
sich ,nicht um einen Rechtsstaat handelt, anzuklagen. Wenn das durchgeht, bedeutet das, jeder ist dran!
Frage: Zum ersten Mal soll ja mit diesem
§129a-Verfahren und dem Mammutprozeß,
der zwei Jahre und möglicherweise auch noch
länger dauern wird, gegen eine ausländische
Befreiungsbewegung vorgegangen werden.
Frage: In den ersten Wochen wurde ein umfang- Welche Bedeutung hat das deiner Ansicht nach
reicher Einstellungsantrag von der Verteidigung für die weitere Entwicklung in der BRD sowohl
vorgebracht. Einen großen Teil dieses Antrages für euch als Kurden, als auch für andere Befreinimmt eure Darstellung des Befreiungskampfes ungsbewegungen?
in Kurdistan ein. Ihr begründet sehr ausführlich Hüseyin: Mit diesem Pilotprojekt wird eine ziemwarum es im Rahmen deutscher Gesetze nicht lich gefährliche Geschichte gebastelt. Gelingt es
möglich sein kann, den nationalen Befreiungs- der BRD, diese Kriminalisierung und Stigmatisiekampf eines Volkes zu kriminalisieren und zu rung als „Terroristen“ juristisch festzuklopfen und
verurteilen. Du hast zu den Zusammenhängen es zu einer Verurteilung nach dem 129a kommen
ja schon einiges gesagt, kannst du noch mal sa- sollte, darin fängt ihr Repressionsapparat ja erst
gen, wie ihr eure eigenen Aufgaben in diesem an zu laufen. Noch muß, zumindest dem AnProzeß bestimmt im Verhältnis zum Befreiungs- schein nach, eine ,,terroristische Vereinigung“ ja
kampf.
erst einmal festgestellt werden. Kommt das aber
Frage: Anfang Februar diesen Jahres wurde der
Einstellungsantrag als ,,derzeit unbegründet“
vorläufig zurückgewiesen. Nun hat die Beweisaufnahme begonnen. Da sich die Anklageschrift
hauptsächlich auf die Aussagen von 3 Kronzeugen stützt, kommt ihnen eine besondere Bedeu-
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tung für den weiteren Prozeßverlauf zu. Welche
Bedeutung meßt ihr von eurer Seite diesen Zeugen zu?
Hüseyin: Erstmal wollen wir uns die Gegenseite
angucken. Die mißt diesen Kronzeugen eigentlich eine sehr wichtige Bedeutung zu und zwar
dahingehend, daß sie sagt, diese Anlage fällt und
steht mit der Aussage dieser Typen. Ganz speziell
bei dem einen richtigen Kronzeugen, also dem,
der auch einen Rabatt gekriegt hat (Ali Cetiner,
Anm. d. Red.), sieht es so aus, daß die gesamte ,,mutige Indizienkette“ (Zitat BAW Senge) erst
durch ihn ,,rund gemacht“ wird. Die beiden anderen Zeugen hatten erstemal die Aufgabe, Leute
in den Knast zu bringen. Diesen Leuten im Knast
eine Struktur überzustüpeln, diese Aufgabe hat
Ali Cetiner übernommen.
Grundsätzlich ist für uns die politische Seite des
Verfahrens wichtiger.
Wir wissen natürlich, und das haben wir von Anfang an gesagt, daß wir keine Angst vor diesen
Zeugen haben. Es macht uns keine Schwierigkeiten, unter den richtigen Bedingungen, diese Zeugen auseinanderzupflücken. Für uns haben diese
Zeugen eine geringere Brisanz, als für die BAW.
Inzwischen scheint die BAW allerdings zu den
gleichen Erkenntnissen zu kommen. Die Aussagen bzw. die Nicht-Aussagen des ersten Kronzeugen in der vergangenen Woche (Hasan Dogan,
Ende Mai in Düsseldorf, Anm. d. Red.) hat dies
ganz deutlich gemacht. Einer jener Kronzeugen,
der über Jahre als das Beweisstück überhaupt
gilt, weigert sich auszusagen. Er beruft sich auf
den § 55, weil er sich angeblich selbst belasten
könne, denn er hat noch ein eigenes Ermittlungsverfahren laufen. Dieses umfassende Aussageverweigerungrecht wurde ihm vom Vorsitzenden
des Strafsenats gewährt. Er weigert sich auszusagen und klopft damit aber die umfangreichen
Aussagen, die er vor der Polizei gemacht hat, fest.
Im Gerichtssaal gibt es jetzt nur noch die Möglichkeit, daß die Polizeibeamten diese Aussagen
bestätigen, aber sie sind nicht überprüfbar, denn
eine Befragung des Zeugen ist nicht möglich. Uns
geht es nicht darum, irgendeine Kritik am § 55
zu üben, der ist richtig, wichtig und notwendig.
Aber es ist für uns natürlich interessant, mitzukriegen, mit welchen Methoden hier gearbeitet
wird. Warum gibt es ein Ermittlungsverfahren
gegen H. Dogan? Aus den zwei Akten an Aussagen, die er gemacht hat, geht hervor, daß dieses
Ermittlungsverfahren gegen ihn immer wieder
als Druckmittel eingesetzt worden ist. Er ist ein
sehr labiler Mensch und er wird durch Versprechungen einerseits, dann wieder durch Drohungen richtiggehend erpreßt. Während all seiner
Aussagen hat ihm nie jemand was vom § 55 erzählt, das ist in den Akten nachzulesen. Ständig
ließ man ihn sich selbst belasten und erpreßte
gleichzeitig Aussagen von ihm gegen uns. Und
jetzt, wo er vor der Öffentlichkeit seine Aussagen praktisch wiederholen soll, wo sie überprüft
werden sollen, da braucht er auf einmal nicht
mehr zu reden. Ich glaube das sagt viel.
Es gibt noch einen weiteren Zeugen, Nusret
Arslan, der demnächst, nach den Sommerferien
auftreten wird. Der wird wohl in die Geschichte
dies Prozesses als der Baron von Münchhausen
eingehen, denn der hat viele Lagen aufgetischt,
womit er ziemlich baden gehen wird. Er hat kein
Ermittlungsverfahren und kann sich nicht auf den
§ 55 berufen. Dann bleibt noch Ali Cetiner, der
eigentliche Kronzeuge, mit dem hier sehr viel gespielt worden ist und wo wir noch lange darum
werden kämpfen müssen, daß wir ihn befragen
können, wie wir das wollen. Doch auch hier sehen wir keine Schwierigkeiten, denn Ali Cetiner
ist ein ,,verbrauchter“ Zeuge. Schon in Schweden
ist er als Zeuge in dem Olof Palme - Verfahren
aufgetreten und hat dort der schwedischen Regierung viele Schwierigkeiten gebracht, einen
Skandal nach dem anderen. Nach den Geschichten in Schweden kam er in Abschiebungshaft, er
sollte abgeschoben werden und die BRD hat sich
diesen Zeugen dann geangelt.
Frage: Kannst du vielleicht noch eine allgemeine Prognose für den weiteren Prozeßverlauf
abgeben und wie wird eure weitere Verteidigungsstrategie aussehen?
Hüseyin: In diesem Prozeß Prognosen abgeben
zu wollen, ist wirklich schwierig. Nichts läuft so,
wie es laufen soll, alles ist hier drin ein Novum.
Entsprechend schwierig ist es auch, für die Zukunft eine Prognose abzugeben.
Was gesagt werden kann ist, daß das Ende dieses Prozesses noch völlig offen ist. Bezüglich
dem § 129a sind noch beide Möglichkeiten offen. Die BRD hat feststellen müssen, daß es mit
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dem Prozeß nicht so einfach läuft, wie sie sich
das vorgestellt haben, sie müssen sich nach neuen Methoden umsehen. Das neue Ausländerrecht ist dafür ein neues Mittel, womit sie ihre
Ziele durchsetzen können. Große Prozeßkosten
werden wegfallen, und das „Problem“ wird sich
viel leichter, viel ruhiger lösen lassen, z.B. über
Abschiebungen, Verbote politischer Betätigungen usw. Natürlich stellt sich die Frage nach dem
Nutzen des Prozesses, den er jetzt noch hat. Es ist
schwierig, hier eine klare Prognose abzugeben.
Aufgrund der Tatsache, daß der Ausgang noch
offen ist, kann unsere Verteidigungsstrategie
nur offensiv aussehen. Wir werden das tun, die
BAW wird sich noch wundern, was wir noch alles
aufdecken werden, vor allem bei der Befragung
ihrer Kronzeugen. Die BAW wird von uns noch
viele Schwierigkeiten in diesem Prozeß bekommen. Sie hat ihn zwar propagandistisch ausgeschlachtet, aber juristisch nicht gut vorbereitet.
Das weiß die BAW auch selber, weswegen unsere
Verteidiger immer wieder zum Ziel von Angriffen
ihrerseits werden. Es geht ja sogar soweit, daß
einige unserer Anwälte Verfahren haben, ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoß gegen die Geheimhaltung von Akten (Kamalatta-Flugschrift 1)
oder zwei Ehrengerichtsverfahren gegen einen
Anwalt und eine Anwältin. Weil sich die BAW in
die Enge getrieben fühlt, versucht sie sich mit
solchen schmutzigen Methoden zu wehren. Damit werden sie uns jedenfalls nicht einschüchtern können.
Hintergrund und Solidaritätsbegriff
Frage: Welche Rolle wird die BRD im Konflikt
zwischen der Türkei und Kurdistan einnehmen?
Um welche Interessen geht es da? Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Prozeß und
der Entwicklung des Befreiungskampfes in Kurdistan?
Hüseyin: Die BRD ist Partei in dieser Auseinandersetzung. Sie ist Partei auf der Seite der Türkei
oder besser gesagt, auf der Seite der herrschenden Klasse in der Türkei. Die BRD ist konkret auf
allen Ebenen der Auseinandersetzung beteiligt.
Es sind ihre Interessen, die Angriffsziele des Befreiungskampfes sind, es sind ihre Interessen,
die die Unterdrückung durch den kolonialisti-
schen türkischen Staat ausmachen, es sind ihre
Waffen, die in dem Krieg benutzt werden, es
ist ihr Geld, was hier investiert wird. Das macht
auch ihre Rolle in der konkreten Auseinandersetzung aus. Seitdem sich der Befreiungskampf
in NW-Kurdistan sowie jetzt aktuell entwickelt,
versuchen in Westeuropa und die verschiedenen Großmächte der imperialistischen Staaten
eine ganz bestimmte Kurdistan-Politik zu entwickeln. Es gibt verschiedene Versuche der Befreiung und hier muß man ganz klar sehen, daß die
BRD bei dem Versuch, eine neue Politik zu entwickeln, die reaktionärste Position einnimmt und
vertritt. Viele versuchen durch Umarmen und
Erdrücken Kurdistan zu befrieden, die BRD aber
versucht es über den direkten Angriff. Die BRD
übernimmt ganz klar die Rolle eines Mitkämpfers, eines Bündnispartners in diesem Krieg. In
diesem Kontext sehe ich den Prozeß, der ist ganz
klar Teil dieser Position. Wenn man sich die offiziellen Verlautbarungen der westeuropäischen
Länder zur Kurdistan ansieht und dann, was hier
in der BRD, gerade in der Aktuellen Stunde jetzt
im Bundestag gesagt wird, darin wird deutlich-.
die Koalitionsparteien stehen auf der Seite der
Türkei und das, was die SPD gesagt hat, fällt weit
weit hinter das zurück, was andere sozialdemokratische Parteien in Europa inzwischen dazu
sagen. Die BRD verficht eine Position, die inzwischen überholt ist.
Frage: Du meinst die reale Situation, die Entwicklungen in Kurdistan haben diese Haltung
überholt? Die Politik der BRD ist veraltet, wie
die der Türkei?
Hüseyin: Genau so meine ich das. Die BRD hat
uns mit diesem Prozeß angegriffen, es ging um
die Liquidierung der PKK. Das ist ihnen aber nicht
gelungen, das Gegenteil ist eingetreten. Eine Liquidierung auf diesem Wege ist nicht möglich,
das weiß die BRD ebenso wie die Türkei. Es gibt
keine militärische Endlösung mehr gegen uns,
das sind Realitäten, die sie anerkennen müssen.
Wenn sie aber trotzdem auf dieser Politik der
militärischen Endlösung beharren, dann kann ich
nur sagen, diese Politik ist überholt und wird von
den Realitäten entsprechend beantwortet werden. Man muß schon sehen, daß nach den letzten Entwicklungen in Osteuropa sich die Situation ziemlich rasant verändert, aber das bedeutet
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nicht, daß die BRD ihr Interesse für unsere Region jemals aufgeben wird, Das Verhältnis wird
sich verändern. Die Türkei wird ihre alte Stellung
als die Südostflanke der Türkei, als das einzige
Nato-Land mit einer direkten Grenze zur Sowjetunion nicht mehr so behalten, die Bedeutung
ändert sich. Diese gewichtige Rolle, die sie in der
Phase des Status-Quo hatte, verliert sie damit.
Das will sie aber nicht. Mit allen möglichen Methoden versucht sie an ihrer alten Rolle festzuhalten, was sie aber immer weiter in Bedrängnis
bringt, zunehmend auch zu den anderen Regimen in der Region. Seit den neuen Entwicklungen in Osteuropa hat sich die Türkei ja von einem Fettnäpfchen ins andere gesetzt, was ihre
diplomatischen und auswärtigen Beziehungen
betrifft. Einerseits sollten die USA bei der Stange gehalten werden, indem sie Israel unterstütze
bei der Einwanderung sowjetischer Juden nach
Israel, die über die Türkei reisen konnten, sie hat
versucht, Druck auf den Irak und Syrien mit der
Wasserzufuhr auszuüben und dadurch Staaten,
die eigentlich natürliche Bündnispartner der Türkei sind, vor den Kopf gestoßen. Die veränderte
Situation in Bulgarien hat sie als Ventil genutzt,
um türkisch-nationalistische Gefühle, die sog.
türkisch-islamische Synthese, noch weiter anzuheizen, was Bulgarien erst einmal in Angst und
Schrecken versetzt hat und im Endeffekt gerade den türkischstämmigen Bulgaren sehr viele
Schwierigkeiten bereitet hat. Aber trotz all dieser Entwicklungen - und gerade das macht wohl
die besondere Beziehung zwischen der Türkei
und der BRD aus - steht die BRD immer noch zur
Türkei. Wahrscheinlich soll das so bis zum bittren
Ende bleiben. Das muß schon eine sehr innige Liebe sein, denn mit Vernunft ist das nicht mehr zu
erklären. Hier müßte die BRD eigentlich wirklich
mal neu nachdenken. Die neue Marktsituation
in Osteuropa, der Zusammenschluß der gesamten Nordhalbkugel unter völliger Herrschaft des
Weltimperialismus ist die derzeit bestimmende
Politik. Das bedeutet einerseits, daß die Länder
des Trikont außen vorgelassen werden und die
Machtkonzentration im Norden eine zunehmende Gefahr für die Trikontländer bedeutet. Andererseits ist die Situation aber auch eine Chance,
hier einen Zusammenschluß gegen den reichen
Norden anzustreben. Der Druck in manchen
Regionen ist etwas zurückgegangen, was auch
Möglichkeiten in ganz bestimmten Regionen für
die Durchsetzung revolutionärer Umgestaltung
schafft. Länder wie Kuba, Nikaragua usw, werden
natürlich Angriffsziele des Imperialismus bleiben. Aber es entstehen natürlich Lücken, die wir
erkennen müssen und nutzen sollten.
Frage: Das ist ein wichtiges und umfangreiches
Thema, über das wir sicherlich noch länger
reden könnten und auch müssen. Aber noch
einmal zu eurem konkreten Kampf: kurz nach
Beginn der Wiederaufnahme des bewaffneten
Kampfes in Kurdistan begann in einigen Ländern Westeuropas eine beispiellose Hetze- und
Diffamierungskarnpagne gegen die PKK als die
führende Kraft des Befreiungskampfes. In allen
Medien wurde sie als „terroristisch“ bezeichnet,
die in Kurdistan Frauen und Kinder massakriert
und in Europa angebliche Abweichler mit dem
Tode bestrafen. In Schweden hat man sogar versucht euch den Mord an Ministerpräsident Palme anzuhängen.
Kannst du etwas zu diesen Vorwürfen sagen?
Wer waren die Drahtzieher dieser Kampagne
und welche Interessen wurden damit verfolgt?
Hüseyin: Sehr viele verschiedene Sachen kamen
da zusammen und haben ein gemeinsames Interesse ausgemacht und daran hat sich eine Politik
der Hetze festgemacht. Erstmal gibt es das Interesse des türkischen Staates, dann gibt es das Interesse des BRD-Imperialismus, das muß man sehen. Wieso aber, und das ist doch die eigentliche
Frage - haben sich denn Linke und Fortschrittliche
an dieser Kampagne beteiligt? Und hier sehe ich
ein Bündnis von ganz bestimmten Kräften aus der
türkischen und aus der BRD-Linken, die bei dieser Kampagne zusammengearbeitet haben. Viele haben es als Nebenkriegsschauplatz genutzt,
um von ihrer eigenen Situation abzulenken. Für
die türkische Linke war das der Zusammenbruch
seiner Strategien, ihre Perspektivlosigkeit, in die
sie geraten waren. Da, wo sie selber keine Lösung hatten, versuchten sie andere anzugreifen.
Für die BRD-Linke möchte ich sagen, daß sie von
einer sehr stark eurozentristischen, metropolenchauvinistischen Haltung geprägt ist, die konkret
den Leuten vielleicht noch gar nicht einmal bewußt ist, wie überheblich, was für eine.... ich finde fast schon keine Worte mehr für dieses Aus-
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maß an Anmaßung, was in dieser Haltung steckt.
Sie haben gar nicht mehr mitgekriegt, wie sehr
ihnen der Imperialismus schon die Köpfe gestohlen und das, was hier als Metropole bezeichnet
wird, in ihre Köpfe hereingemauert hat. Ich habe
bei einigen Gruppen noch nie so viel Energie feststellen können im Kampf gegen die Hauptwidersprüche, wie sie in die Hetzkampagne gegen die
PKK eingebracht haben. Ganz konkretes Beispiel
sind dafür mich die Hamburger Grünen, die GAL,
die im Jahre 1987 zwei Broschüren herausgebracht haben, die beide Teil dieser Hetzkampagne gegen die PKK waren. Diese Hetzkampagne
nutzte dann auch sehr stark den Komplotten, die
es gegeben hat - unsere Geschichte ist eine Geschichte von Komplotten, das kann man schon so
sagen. Schon vom 1. Tag unserer Entstehung an
waren wir mit solchen Sachen konfrontiert, daß
es uns z.T. heute noch wundert, daß noch immer
manche Menschen darauf hereinfallen. Noch
mal zusammengefaßt, was da zusammenkommt:
einmal diese Niedergeschlagenheit der Linken,
diese Perspektivlosigkeit plus das nicht Anerkennen wollen der eigenen Fehler, was dann überging in die Auseinandersetzung gegen eine Kraft,
die einen anderen Weg eingeschlagen hat. Andererseits ist es bei der BRD-Linken dieser tiefe
Ausdruck, wie sehr es dem Imperialismus schon
gelungen ist, die Köpfe der Menschen einzubetonieren. Was nicht heißt, daß es auf unserer Seite
keine Fehler gegeben hat.
Frage: Ja, Du hast die Hetzkampagnen, an denen sich viele linke und fortschrittliche Kreise
der BRD beteiligt und diese widerspruchslos
übernommen haben jetzt schon sehr deutlich angesprochen. Das ist sicherlich auch ein
Grund, warum sich bis heute keine breite Solidarität gegen diesen Prozeß und mit dem Befreiungskampf in Kurdistan hier durchgesetzt
hat. Ich möchte da noch einmal nachfragen, ob
es auf Eurer Seite nicht auch Fehler im Umgang
mit den Linken hier gegeben hat?
Hüseyin: Ja, natürlich, auch auf unserer Seite hat
es viele Fehler gegeben, kleine und große, Wir
können und wollen sie nicht bestreiten. Wichtig ist weniger, ob wir das nun anerkennen oder
nicht, sondern wichtig ist, was lernen wir daraus?
Wir haben einen Prozeß durchgemacht, den ich
gern als einen Prozeß des Erwachsenwerdens
bezeichne. Ein Prozeß, bei dem wir aus unseren
Kinderschuhen langsam herausgewachsen sind,
ein Prozeß, bei dem wir unsere Kinderkrankheiten durchgemacht haben und heute in eine neue
Phase eintreten. Ich will betonen, daß wir das natürlich nicht alles einfach so als Kinderkrankheiten abtun können, daß es jetzt vorbei und alles
wieder gut ist. Ich sehe da in vielen Vorkommnissen, die es gegeben hat, auch eine gewisse
Gesetzmäßigkeit Wir sind eine Bewegung gewesen, die in einer äußerst schwierigen Situation
entstanden ist, mit schwierigsten Bedingungen
konfrontiert, einen äußerst schwierigen Kampf
geführt hat. Noch dazu ohne jegliche Erfahrung
und in einer Situation der absoluten Verfolgung.
Die PKK und das ist bekannt, ist der eigentliche
Staatsfeind innerhalb der Türkei schon immer
gewesen. Nun, daß es in einer solchen Situation zu etlichen Fehlern gekommen ist, das ist für
mich klar, und ich denke, das gehört auch mit zur
Einschätzung.
Heute gibt es eine andere Seite der Geschichte, heute versuchen wir, aus unseren Fehlern zu
lernen, sie möglichst nicht zu wiederholen - und
ich glaube auch, daß uns das gelingen wird - und
damit haben wir bewiesen, daß wir lernfähig
sind. Und jetzt fordern wir einen eben solchen
Lernprozeß bei genau denjenigen, die lange Zeit
an diesem Konflikt beteiligt waren. Es gibt, das
sehen wir, einen gewissen Lernprozeß, Denkveränderungen, es gibt keine offenen Angriffe
mehr; die, die früher am lautesten diese Angriffe
geführt haben, schweigen heute. Und viele, die
damals die Angriffe mitgeführt haben, haben ihr
Schweigen gebrochen und reden jetzt auch wieder. Das ist gut und das müssen wir auch weiter
vorantreiben. Das ist die Basis, auf der ein Dialog entstehen könnte und auf beiden Seiten, das
möchte ich betonen, auf beiden Seiten zu gucken, was falsch gelaufen ist, um daraus für die
Zukunft für beide Seiten zu lernen. Wer versucht,
nach wie vor alle Schuldauf. uns abzuwälzen ,
den werden wir einfach nicht ernst nehmen, mit
denen werden wir darüber auch nicht weiter diskutieren, das ist für mich ganz klar.
Frage: Ich möchte noch einmal auf diesen Vorwurf des Eurozentrismus zurückkommen, denn
ich denke, daß ist ein sehr wesentlicher Punkt,
dieses metropolenchauvinistischen Denkens
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bei vielen Linken hier, das ihnen möglicherwei- die eigenen Entwicklungen, die die Menschen
se nicht bewußt ist, wie Du gesagt hast. Sag hier durchgemacht haben, assoziiert. Mit den
doch mal so ein Beispiel dafür.
Vorwürfen gegen die K-Gruppen-Mentalität, die
Hüseyin: „Ich möchte nicht wissen, wie es der K-Gruppen-Strukturen, mit den Vorwürfen gekurdischen Bevölkerung ergehen wird, wenn die gen die Parteistrukturen usw. usf., schlechte ErPKK an der Macht ist“, das ist konkret so ein Satz, fahrungen, die hier Realität sind. Und aufgrund
den ich vor einigen Tagen gehört habe und der dieser Basis hat man eine ganz bestimmte Auffür mich ein Ausdruck für dieses absolut über- fassung von innerer Demokratie, von Struktur.
hebliche Denken ist. Es ist dumm, was sie sagt Und jetzt zu versuchen, aus diesem Blickwinkel
(es war eine Frau, die das sagte), einfach, weil etwas zu betrachten und sogar zu bewerten,
es ausdrückt, daß sie nichts weiß. Sie weiß nicht, was sich ganz woanders entwickelt, ist für mich
daß die Kurden noch nie „an der Macht“ gewesen metropolenchauvinistisch. Wer von denen, die
sind, noch nie strukturelle Macht hatten, mit der sowas sagen, kennt auch nur einen Aspekt der
sie was falsch machen konnten. Was da zum Aus- kurdischen Geschichte, der kurdischen Parteidruck kommt ist, daß diese Frau die Menschen geschichte, der kurdischen Entwicklung?! Doch
in Kurdistan für dumme Leute hält, die irgendei- wohl niemand. Und trotzdem versuchen eine
ner Kraft zur Macht verhelfen und sich dann wie Bewertung unserer Bewegung - das ist für mich
Blinde unter deren Fittiche stellen. Das heißt das Ausdruck von Metropolenchauvinismus.
doch: Wie wird die PKK denn - wenn - die an die
Macht kommen? Doch nicht über einen Putsch
oder sonstwie! Nur über den Befreiungskampf,
an dem die Bevölkerung sich aktiv beteiligt! Das
weiß sie auch, daß das so ist. Und das heißt, sie
assoziiert mit dem Kampf der Bevölkerung den
Kampf eines dummen, armen, kleinen Negerleins, des armen, kleinen, dummen Asiaten, der
irgendwelchen schlauen Demagogen hinterherläuft und denen, die gute Missionarin aus dem
Land der Weißen erst einmal klarmachen muß,
was für eine Dummheit die Menschen dort begehen. Das drückt sich darin aus. Wenn ich ihr
das so ins Gesicht sagen würde, ich glaube, sie
würde umfallen. So denken die Menschen auch
nicht, ich glaube auch kaum, daß sie es mit bösem Willen gesagt hat, jedenfalls kann ich mir
nicht vorstellen, daß sie die Türkei näher kennt.
Ich mache ihr das auch nicht zum Vorwurf, vielleicht ist sie auch aufgehetzt. Ich mache ihr nur
zum Vorwurf, daß das, was in diesem Satz steckt,
viel tiefer, etwas in ihr selber ist. Aber das ist nur
einer solcher Sprüche, es gibt ganz viele in diesem Zusammenhang. Das drückt sich auch immer wieder bei der Kritik unserer Struktur aus:
„Wie sieht es denn mit der inneren Demokratie
der PKK aus?“ Das war auch so eine Frage, die
ich in den letzten Tagen gehört habe. Jemanden,
der draußen steht, den weißen Mann sozusagen
oder die weiße Frau, geht diese Frage erst einmal gar nichts an. Mit dieser Frage werden doch
Frage: Ende der 60er Jahre, zur Zeit des Vietnamkrieges hat eine sehr breite internationale
Solidarität auch in der BRD in dem Kampf des
vietnamesisch Volkes gegen die USA gegeben
Massaker in Kurdistan, auf den Philippinen
oder in Palästina scheinen die Menschen heute nicht mehr zu erschüttern. Kannst da Gründe
vorstellen, warum es ein internationalistisches
Bewustsein auch bei den Linken hier der BRD
nicht mehr gibt? Wie würdest Du die politische
Situation hier in der BRD und Westeuropa definieren? Siehst Gefahren für die Zukunft?
Hüseyin: Ich glabe, die Solidatätsbewegung von
damals hat bei der Definition des klassischen
Imperialismus einen wichtigen Aspekt vergessen, nämlich die unglaubliche Flexibilität und
Lernfähigkeit, die der Imperialismus inzwischen
gewonnen hat. Der sog. sterbende Kapitalismus ist kein alter krank Mann, sondern ist eine
junge Entwicklung, die zwar objektiv sich in einem Prozeß des Sterbens befindet, die aber aus
diesem Wissen heraus alles dazu tut, den Zeitpunkt des Todes so weit wie möglich hinauszuzögern. Und in dies Kampf ist der Kapitalismus
unglaublich dynamisch. Das ist die Situation des
Imperialismus heute. Die Vietnam-Bewegung
war eine sehr starke und wichtige Bewegung bezüglich bestimmter Entwicklungsprozosse hier.
Und sie war auch ein wichtiger Bestandteil des
Kampfes in Vietnam, diese Bewegung hat den
Vietnamesen sehr viel geholfen. Die Lehre, die
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der Imperialismus aus dieser Etappe gezogen hat
ist, das solche Bewegungen wie zur Zeit des Vietnam-Krieges nicht wieder entstehen dürfen. Um
das zu verhindern, wird alles getan. Auf der anderen Seite, und das ist eine Frage des Bewußtseinstandes hier, war die Vietnam-Bewegung
das Ergebnis einer Entwicklungsgeschichte hier
in der BRD. Wesentlicher Bestandteil für die damalige Solidaritätsbewegung war sicherlich der
Kampf des armen, kleinen vietnamesischen Volkes gegen den bösen, großen imperialistischen
Yankee. Die Widersprüche waren so kraß, daß es
leicht war, sich auf die eine Seite gegen die andere zu stellen. Gleichzeitig wurde der vietnamesische Kampf zu etwas, was man zwar selber wollte, die Ungerechtigkeit nämlich zu bekämpfen,
aber nicht schaffte. Diese kleinen Vietnamesen,
in allem klein, also wirklich ein kleines Volk, auch
als Menschen sind sie ja klein, schafften es, dem
Imperialismus derart die Stirn zu bieten. Das rief
einfach Bewunderung hervor. Insbesondere nach
dem zweiten Weltkrieg hatten die Menschen mit
dem Neuaufbau Europas ja mitgekriegt, daß es
nichts anderes war als die Neuauflage von dem,
was es schon immer gewesen war, nur in einer
anderen Farbe. Man hatte gemerkt, daß man betrogen und belogen worden war. Und dort war
das vietnamesische Volk, daß sich alledem entgegenstellte. Mit diesem Kampf konnte man sich
identifizieren. Aber, und das ist ein Grund dafür,
daß es heute diese Bewegung nicht mehr gibt,
damit wurde vieles verbunden, was mit der Realität nichts zu tun hatte. Die Vietnam-Bewegung
war stark geprägt von Utopie und Euphorie, die
einfach nichts mit der Realität Vietnams zu tun
hatten. Vietnam braucht gerade heute z.B. nach
1975 eine ebenso starke Solidarität. Aufgrund
der unglaublichen Folgen des Krieges, an denen
das Volk heute noch zu leiden hat, klappt eben
auch vieles nicht so, wie es klappen sollte. Natürlich liegt das auch an Fehlern, die politisch
gemacht werden, aber auch an der wirtschaftlichen und ökologischen Situation. Diese Solidaritätsbewegung hörte auf, als die USA vertrieben
waren und das vietnarnesische Volk den Alltag
versuchte zu organisieren. Ich möchte noch ein
bißchen zu diesem Begriff „Utopie“ sagen: es
fehlte die Vorstellung, daß auch die Vietnamesen nur mit Wasser kochen. Aufgrund der Ent-
fernung und daß man nicht sehr viel über die
konkrete Situation im Trikont weiß, gibt es die
Vorstellung, diese Menschen seien mit irgendwelchen Zaubertränken ausgestattet. Das ist natürlich nicht so, wir kämpfen mit den Mitteln, die
wir haben und versuchen, mit dem, was wir erkämpfen, etwas Neues aufzubauen. Niemand im
Trikont hat Wundermittel. Die Kämpfe im Trikont
wurden und werden leicht idealisiert. Und dann,
wenn gemerkt wird, daß auch dort nur mit Wasser gekocht wird, gibt es den abrupten Abbruch
der Solidarität. Hätte die Vietnam-Bewegung auf
einer realistischen Grundlage gestanden, auf der
Grundlage des konkret Möglichen und des konkret Machbaren, dann hätte diese Bewegung
nicht zusammenbrechen dürfen. Die Nicaragua-Bewegung hat daraus ein bißchen gelernt,
auch wenn sie nie das Ausmaß der Vietnam-Bewegung erreichte. Nicaragua hatte ja vor der Revolution kaum Solidarität, wer kannte schon die
Sandinisten 1978? Doch nur wenige. Danach hat
sich das dann geändert, obwohl auch hier Fehler gemacht wurden. Darauf einzugehen würde
jetzt wohl zu weit führen, nur soviel, die Herangehensweise an ein die Situation Nicaraguas
wie an ein Sozialprojekt, wurde den Problemen
überhaupt nicht gerecht. Im Endeffekt müssen
die Veränderungen in großem Maßstab erfolgen,
um sich wirklich auf die konkrete Situation der
Menschen auswirken zu können.
Frage: Sprichst du auf die Projektepolitik in Nicaragua an?
Hüseyin: Ja, das auch, aber ich will auf keinen
Fall sagen, daß das alles falsch gewesen ist. Es
kommt auf die Situation drauf an, z.B. dieses
Projekt der Kaffeernte war eine ziemlich internationalistische Bewegung in einer Situation, wo
diejenigen, die eigentlich den Kaffee pflücken,
in den Krieg ziehen mußten. Das war schon eine
sehr konkrete Form des Intemationalismus.
Interessant ist hier bei den europäischen Solidaritätsbewegungen auch, daß sie sich mit Entwicklungen beschäftigen, die sehr weit von ihnen entfernt passieren. Sachen, die sozusagen vor ihrer
Nase passieren, werden von ihnen nicht besonders stark aufgegriffen. Das hat wohl auch sehr
viel damit zu tun, daß Internationalismus und
Solidaritätsbewegung stark romantisiert wird.
Der Papa fährt nach Mallorca und Fritzchen fährt
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nach Nicaragua - und beides ist Urlaub. Was fehlt
ist das Bewußtsein über den charakteristischen
Unterschied, daß es um die konkrete Veränderung der Situation der Menschen dort geht, um
eine andere Politik. Ich glaube auch, daß das viel
damit zu tun hat, daß es hier keine revoltionäre
Perspektive gegeben hat. Das heißt, daß es um
Machtergreifung, die Veränderung der Machtverhältnisse geht. Die Veränderung der Struktur
ist nur mit der Veränderung der Machtverhältnisse zu erreichen. Wer von den Menschen, die hier
von der Revolution irgendwo schwärmen, kann
sich schon vorstellen, morgen irgendein Minister zu sein? Und jetzt muß man mal versuchen,
sich in die Köpfe von Ortega, Borge oder anderen
hineinzuversetzen. Das war doch auch nur eine
ganz bestimmte Szene in der Linken, die unter
den konkreten Bedingungen dort, die Macht erreicht bzw. die Macht erhalten hat Daß also revolutionäre Perspektiven hier gefehlt haben, ist für
mich mit ein wichtiger Grund, daß es hier keine
Solidaritätsbewegung geben kann. Das Fehlen
einer hiesigen Organisierung (Organisation, die
ihre eigenen Interessen formuliert und umsetzt
in konkrete revolutionäre Politik, ist der Grund,
daß es keine starke internationalistische Bewegung gibt -das bedingt sich gegenseitig.
das ist hier so gut wie gar nicht bekannt. Insofern
würde ich auch nicht sagen, ob ich eine Gefahr
sehe, denn ich lebe in dieser Gefahr, sie ist schon
da.
Bei der Linken hier herrscht derzeit eine ziemliche Niedergeschlagenheit, Perspektivlosigkeit.
Es besteht die große gefahr, im Selbstmitleid zu
versinken und nur noch die eigenen Wunden zu
lecken. Das kann man natürlich machen, eine
Zeitlang mag das ja auch ganz schön sein, aber
wenn das nicht aufhört, dann geht die Bewegung und die Perspektive hier für immer kaputt.
Dann wird es im Endeffekt darauf hinauslaufen,
daß es vielleicht noch einige guten Kabarettisten
mehr gibt, die die Situation in Ironie und Karikatur darstellen können und der Rest wird sich ins
normale Leben zurückziehen. Hier gilt es, im Namen des Trikonts zu sagen: Hört auf mit diesem
verdammten Selbstmitleid! Hört auf, die eigenen
Wunden zu lecken! Gut, ihr müßt eure Wunden
schon verbinden, aber dann könnt ihr euch nicht
wochen- oder jahrelang in irgendwelche Lazarette legen und warten, bis es auskuriert ist. So
lange kann die Welt nicht warten, angesichts der
vielen Probleme! Und egal, wie schwierig diese
Situation für euch heute ist, egal wie perspektivlos ihr seid, eins ist doch klar: das, was die
Frage: Welche Gefahren siehst du jetzt in den da oben an Wiedervereinigung vollziehen oder
Entwicklungen in Westeuropa, auch für die nicht, das passiert auch ohne euch. Ihr spielt
darin überhaupt keine Rolle, mit deren InteresMenschen und Völker im Trikont?
se habt ihr doch nichts zu tun! Wer immer noch
Hüseyin: Also, da entstehen viele Gefahren, das von der Mitgestaltung dieser neuen Situation
sehen wir hier in der BRD am besten: es gibt nur träumt, der ist schon verloren. Wir können nur
noch Deutschland und der Rest der Welt ist zu- sagen: eure Interessen und unsere Interessen,
sammengebrochen. In dieser Situation der Na- das sind gemeinsame Interessen! Unsere Intebelschau, der Kraftmeierei, die hier betrieben ressen im Trikont, die gefährliche Situation die
wird, fallen viele wichtige Sachen weg. Der hie- jetzt schon besteht durch die große konterrevosigen Linken fehlt auch hier eine Alternative. Ein lutionäre Bewegung, sind bedroht. Dieser Kampf
anderes Informations- und Nachrichtensystem wird verschärft, wird mit allen Mitteln gegen uns
fehlt, wo wirkliche Nachrichten aus aller Welt geführt. Und die Menschen hier müssen erkenzusammengeholt und weitergegeben werden, nen, was ihre wirklichen Interessen sind, wo ihre
denn auch die Linken hier kriegen nur wenig von wirklichen Bündnispartner sitzen.
dem mit, was wirklich in der Welt passiert. Dieses letzten Massaker z.B. in Palästina, das größte Frage: Kannst du jetzt zum Schluß noch einmal
wohl seit es die Intifada gibt, hat zu gar keinen sagen, z.T. zieht es sich ja immer wieder durch
Reaktionen geführt, oder die aktuellen Entwick- deine Stellungnahmen, die neue Politik der relungen in der Türkei, kein Mensch kriegt das so al-sozialistischen Staaten und ihre weltweiten
richtig mit, daß es dort in Kurdistan einen Volks- Auswirkung. Kannst noch mal was dazu sagen,
aufstand gibt, der von Tag zu Tag in die verschie- welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf
denen Orte schwappt, sich ständig entwickelt - die Perspektiven von nationalen Befreiungsbe54
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wegungen haben?
Hüseyin: Mittlerweile gibt es ja aus verschiedenen Teilen der Welt Thesenpapiere dazu. Einige
kommunistische Parteien Lateinamerikas haben
dazu z.B. eine Erklärung abgegeben. Wir können
sagen, daß wir die Entwicklung in den sozialistischen Staaten nicht völlig ablehnen. Wir sehen
die Notwendigkeit von Veränderungen in diesen
Staaten. Wir sehen die Stagnation, wir sehen die
unglaublichen Folgen der Staatsbürokratie, diese Auswirkungen des administrativen Sozialismus. Wir sehen die Notwendigkeit der Öffnung
und der Umgestaltung. Wir sehen gleichzeitig
die unglaubliche Macht des imperialistischen
Weltmarktes und die Auswirkungen der jahrzehntelangen Einkesselung der UdSSR durch diesen Weltmarkt. Und wir sehen dies alles auch
als Ergebnis der falschen Politik der friedlichen
Koexistenz. Die lenin‘sche Taktik der friedlichen
Koexistenz wurde zueiner chruschtschow‘schen,
schon einer stalin‘schen Strategie der friedlichen
Koexistenz, die die Interessen der Völker des
Trikonts außer acht läßt. D.h. die Interessen der
eigentlichen Bündnispartner wurden nicht mehr
beachtet, mit denen ein revolutionäres rollback
hätte geschafft werden können. Das, was man
die Notwendigkeit einer permanenten Revolution nennt, Hierfür gibt es eine Mitschuld der real-sozialisti schen Staaten, man kann nicht sagen,
die Schuld für diese Situation käme nur von außen. Aus diesem Grund sagen wir, mit der Veränderung muß endlich angefangen werden. Die alten Denkstrukturen müssen aufgegeben und die
große Chance muß genutzt werden, daß wir uns
zusammensetzen, ausdiskutieren, weiche Fehler
wir wirklich gemacht haben und welche Perspektiven wir für uns entwickeln können. Gerade das
ist heute wichtig. Derzeit betreibt die Sowjetunion eine Politik, die sowohl lang- als auch kurzfristig gesehen, ziemlich schädlich für sie selbst
ist und natürlich auch für die anderen Länder in
dieser Region. Andererseits aber dürfen wir uns
aufgrund dieser Entwicklungen nicht in irgendeine Resignation treiben lassen, wie das in der BRD
sehr stark der Fall ist. Revolutionsimporte mögen
noch so gut gemeint sein, sie helfen nicht. Wir
wußten schon immer, daß die Revolution nur das
Werk unserer eigenen Hände sein kann. Aus diesem Grund kann es für uns nur eine Perspektive
geben: unsere revolutionäre Perspektive weiterzuentwickeln und voranzutreiben.
In dem Zusammenbruch des reellen Sozialismus
sehen wir einen großen Verlust aber auch einen
großen Gewinn. Wir haben schon viele wichtige
Dinge damit verloren, aber auch viel Schlechtes,
und das ist jetzt er daraus lernen und das Positive heraus zu ziehen. Das heißt für mich, anzuerkennen, daß eine falsche Politik gegenüber dem
Imperialismus betrieben wurde und damit verbunden auch eine falsche Politik nach innen. Die
revolutionäre Perspektive müssen wir jetzt neu
aufbauen. Was in der Sowjetunion derzeit passiert, das ist es auf jeden Fall nicht!
Wir müssen die großen Chancen, die diese Situation mit sich bringt, nutzen. Wir müssen unsere
eigenen Modelle, unsere eigenen Vorstellungen
versuchen durchzusetzen und zu realisieren. Wir
müssen die große Chance, neue Perspektiven
mitentwickeln zu können, nutzen. Wir müssen
die neue Perspektive selbst sein, anstatt immer
nur andere Perspektiven darzustellen.
Und wir müssen aus den Fehlern lernen, um sie
nicht noch einmal zu begehen und das anhand
unserer eigenen konkreten Bedingungen.
Das sind die wichtigsten Lehren die wir aus dieser Entwicklung ziehen. Und das wir mit dieser
Haltung richtig liegen, das zeigen die aktuellen
Entwicklungen in Nordwest-Kurdistan jetzt.
zuerst veröffentlicht von ISKU (Informationsstelle
Kurdistan, nadir.org/nadir/initiativ/isku)
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
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Ein Interview mit Riza Altun, dem Leitungsmitglied
der PJAK, im September 2012 (Teil I - II)
Teil I - Demokratischer Konföderalismus in Europa
Das KCK-System beschränkt sich nicht nur auf Kurdistan, sondern kann auch ein
Wegbereiter für eine türkische Revolution, für eine arabische Revolution, für eine
kaukasische Revolution sein.
Die Mitschrift und das Interview sind durchgängig in einer geschlechtersensiblen Schreibweise
formuliert, die der geschlechtsunspezifischen
Form im Türkischen entspricht.
Welche Analysen sind grundlegend, um eine
zielführende, politische Organisierung in Europa – und Deutschland im Speziellen – zu entwickeln?
Riza Altun ist Leitungsmitglied der PJAK (Partiya
Jiyana Azad a Kurdistanê, Partei für ein freies
Leben Kurdistan). Die PJAK ist die politische Vertretung der kurdischen Freiheitsbewegung in
Ostkurdistan/Iran, zu der auch die bewaffneten
Volksverteidigungskräfte HRK (Hezin Rojhilatê
Kurdistan, Kräfte des Ostens Kurdistans), die
Frauenorganisierung YJRK (Yekitiya Jinên Rojhilatê Kurdistan, Vereinigung der Frauen Ostkurdistans) und die Jugendbewegung KCR (Komalên
Ciwanên Rojhilatê, Jugendverbände Ostkurdistans) gehören. Riza Altun ist Gründungsmitglied
der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiter_innenpartei Kurdistans) und war jahrelang für die
kurdische Freiheitsbewegung in Europa aktiv,
davon zwei Jahre lang in Paris. Das Gespräch
wurde in den Qandil-Bergen Kurdistans im September 2012 geführt. Es handelt sich beim ersten
Teil des vorliegenden Textes um im Nachhinein
ausformulierte Gesprächsnotizen. Somit sind die
Formulierungen nicht als Originalaussagen von
Riza Altun zitierfähig.
Der zweite Teil ist die Übersetzung aus dem Türkischen der Transkription des Originalinterviews.
Zunächst ist es notwendig, sich der herausragenden Rolle Deutschlands bewusst zu werden. Zu verstehen, welche politische Kultur dort
vorherrscht und woher sie ihre Ursprünge hat.
Deutschland ist als eines der letzten europäischen Länder zum Nationalstaat geworden und
es gibt dort eine sehr dynamische, ständige Weiterentwicklung des Geistes des Kapitalismus. Mit
Hegels ideologischer Legitimation für den Nationalstaat und Kants Argumentation für Rechtsstaatlichkeit sind im deutschsprachigen Gebiet
grundlegende Beiträge für die Ideologie des Kapitalismus verwurzelt. Was der politischen Kultur
dort zu Grunde liegt, ist die Überzeugung vom
Staat als Souverän, der durch den Rechtsstaat legitimiert ist. Das folgt einem ideologischen Muster, in dem der Staat als Gott funktioniert, dessen
Prophet das Recht ist. Die Rolle Deutschlands im
Kapitalismus ist seit Bismarck beständig wichtiger geworden und führte zu zwei Weltkriegen
und zum Faschismus. Der historische Werdungsprozess ist sehr wichtig, um die Ideologie hinter
der Politik Deutschlands zu verstehen. Dort ist es
am wenigsten möglich, als freie Menschen zu leben.
Was wir bezüglich der kurdischen Freiheitsbewe-
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
gung beobachten ist, dass seit Abdullah Öcalans
Verhaftung Deutschland Vorreiter der Kriminalisierung der Bewegung ist.
grundsätzlich überwunden werden. Im neuen Paradigma organisieren sich alle selbst. Jede Schicht
der Gesellschaft bildet ein selbstorganisiertes
Welche neuen Entwicklungen sind in der politi- politisches Organ, das sich nach seiner selbstbestimmten ideologischen, politischen, kulturellen,
schen Kultur zu beobachten?
wirtschaftlichen Zugehörigkeit selbst verwaltet.
Das Ende des Realsozialismus hat die Wege für Es gibt viele Zentren, die Unterschiedlichkeiten
ein radikales Neudenken geebnet. Es gibt Strö- organisieren sich dezentral. Kein politischer Ormungen, die ein Neudenken vorantreiben und ganisierungsprozess sollte sich demnach auf die
die eurozentrische Sicht reflektieren, wie anar- Zentren konzentrieren. So sollte eine politische
chistische Ansätze, Postmodernismus (Dekon- Kraft, die das neue Paradigma vorantreiben will,
struktivismus) und Postkolonialismus. Diese sich als Initiatorin einer breiten SelbstorganisieStrömungen müssen zusammen gedacht wer- rung der gesellschaftlichen Gruppen sehen. Zum
den, sodass eine produktive Synthese entstehen Beispiel sollte sich eine Studierendenorganisatikann. Es ist sehr wichtig zu reflektieren, dass die on als Initiatorin der breiten Selbstorganisierung
bestehenden politischen Bewegungen in Wohl- der Studierenden verstehen. Dabei geht es dastandsgesellschaften geboren sind und vieles rum, sie zur autonomen Selbstorganisierung zu
überwinden müssen.
leiten und keinesfalls an sich selbst zu binden.
Jede_r politische Aktivist_in muss die aktuellen Das ist das konföderale Paradigma. Und durch
soziopolitischen Zustände analysieren, ihre his- meine Erfahrung der letzten Jahre bei der
torische Einordnung verstehen und die eigene Umsetzung dieser Form von gesellschaftlicher
politische Praxis dementsprechend überden- Selbstverwaltung frage ich mich heute nur noch:
ken. Bei Betrachtung der politischen Kultur in Wie soll das denn sonst funktionieren? Dabei ist
Deutschland wird deutlich, dass die bestehenden es bei der anleitenden Funktion durch eine InitiRahmen keine Motivation, keine Anreize bieten, atorin wichtig zu beachten, dass die Selbstorgaum sich zu engagieren. Die Festgefahrenheit der nisierung anderer nicht vorgeplant werden kann,
politischen Organisierung bietet nicht den Reiz die Selbstorganisierung und Selbststrukturierung
zur eigenen Initiative. Und was besonders für muss von vornherein nach den Bedürfnissen der
die Organisierung der Jugend zu betonen ist: Wo Mitglieder der gesellschaftlichen Gruppe geformt
bieten die bestehenden Rahmen eine alternative werden. Grundlegend für ein demokratisches
Lebensperspektive? Hier setzt die Bewusstwer- konföderales Verständnis ist, dass Unterschiede
dung der eigenen gesellschaftlichen Rolle ein. als gesellschaftliche Realität anerkannt werden.
Die eigene gesellschaftliche Rolle bei der Ent- Vereinheitlichend zu organisieren widerspricht
wicklung einer persönlichen Zukunftsperspekti- der Dynamik der Gesellschaft und besonders der
ve wird erkannt und anerkannt. Eine politische Impulsivität der Jugend. Hier muss ein UmdenJugend kann in dieser Gesellschaft nicht nur auf ken stattfinden, das abgrenzende Betonen der
äußere Einflüsse und Angriffe reagieren, sondern Unterschiede gesellschaftlicher Gruppen muss
sie muss ihre eigenen Ziele und ihre eigene Im- überwunden werden, um stattdessen eine kolpulsivität entwickeln. Diese sollten nicht unver- lektivierende Strukturierung nach Gemeinsambindlich und wechselhaft umgesetzt werden, keiten zu entwickeln. Eine gemeinsame Philososondern in einer neuen Zielstrebigkeit.
phie organisiert gesellschaftliche Unterschiede,
Wie ist die politische Kultur in Europa und dementsprechend kann ein Dach gebildet werDeutschland bezüglich des neuen Paradigmas den, unter dem sich die Unterschiede organisieren: Die Austauschplattform gesellschaftlicher
zu betrachten?
Gruppen, in der Gemeinsamkeiten produktiv geDie politische Organisierung nach dem neuen
nutzt werden können. Gesellschaftliche DynamiParadigma ist auf jede Gesellschaft übertragbar.
ken werden durch enge Rahmen eingeschränkt,
So lassen sich die Prinzipien des Demokratischen
jede_r muss sich selbst unter dem Dach wiederKonföderalismus auch für Europa denken. Die pofinden, diese Struktur darf niemals aufgedrückt
litische Tradition einer Partei, die alle eint, muss
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
sein. Grundlage demokratischer Politik ist es,
wirklich selbst wählen zu können und für die
Wahlen anderer Verständnis zu entwickeln und
sie verstehen zu lernen. Bei der gesellschaftlichen Organisierung ist es wichtig, eine moderne
Mentalität zu entwickeln, die der Zeit entsprechende Vernetzungen anstrebt, wobei ich auch
explizit auf das Internet verweisen will.
Ich möchte noch auf die Grundlage der autonomen Initiative für eine demokratisch konföderale
Organisierung eingehen. Wir sollten freiheitlich
und undogmatisch denken, autonome Initiative
entwickeln. Niemenschem sollte die Identität
einer Gruppe aufge- drückt werden, wie es die
Ideologie des Nationlalstaats und sein assimilierender Charakter vorsieht. Persönlichkeiten
gliedern sich nicht in eine Partei ein, sondern sie
bilden sie. Eine gemeinsame Weltanschauung,
ein gemeinsames Wertegerüst und Ziele binden
Persönlichkeiten. Dabei möchte ich die Wichtigkeit der Selbst_bildung betonen.
Die Entwicklung von Eigeninitiative ist nötig.
Ein_e Sympathisant_in ohne Eigeninitiative ist
nur Aufgabenerfüller_in der Bewegung. Es sollen revolutionäre Persönlichkeiten aus der Selbstorganisierung heraus entstehen. Wichtig ist es,
persönliche Impulse zu setzen. Eine intensive
Selbst_bildung muss stattfinden, um ein Selbstbewusstsein im Denken und Handeln zu entwickeln. Eine Selbstorganisierung lebt von _den
Einzelnen, die selbst-bewusst initiativ sind und
Verantwortung mutig übernehmen. Nur so kann
eine Organisierung gesund und organisch wachsen und eine eigene Produktivität entwickeln.
Niemensch sollte einer bestehenden Bewegung
„beitreten“, um den Herausforderungen der
Selbstorganisierung zu entgehen, denn die Bewegung sollte für jede_n einzelne_n Ansporn
zur Selbstorganisierung sein. Eine revolutionäre
Persönlichkeit sollte selbstbewusst grenzüberschreitend handeln.
Jede_ sollte _ihr demokratisches Bewusstsein
analysieren und im eigenen Leben weiterentwickeln. Antipathie entsteht, wenn Theorie und
Praxis auseinandergleiten. Daher muss die Analyse ehrlich und schonungslos sein und die Praxis
selbstkritisch weiterentwickelt werden. Das Außenbild und die Außenwirkung wie Name, Flagge
und „Programm“ können nicht für sich sprechen:
sie müssen immer wieder aktiv mit Inhalt gefüllt
werden. Es kommt auf die Selbst_bildung der
Persönlichkeiten einer Bewegung an. Entscheidend ist ein politisches Selbstbewusstsein, ohne
Selbstbewusstsein ist ein politisches Bewusstsein abstrakt und konsequenzlos, da die eigene
Rolle nicht erkannt wird. Das ist der Unterschied
zwischen einer potentiell revolutionären politischen Persönlichkeit und einer vermeintlich politischen Identität.
Die Dynamik der Jugend widerspricht der klassischen Parteiorganisierung, mit diesen Rahmen
und Denkmustern müssen wir brechen. Entscheidend ist das intellektuelle Potential einer
suchenden Jugend bei der Entwicklung einer demokratischen Moderne. Wir müssen die Potentiale einer Gesellschaft genau
analysieren. Die Jugend ist auf der Suche und
auf vielfältige Weise rebellisch gegenüber dem
Bestehenden und seinen Zukunftsperspektiven.
Intellektuelle hinterfragen das Bestehende und
erforschen seine Systematik. Intellektuell und
militant, das sind die Potentiale, mit denen eine
neue Gesellschaft erkämpft werden kann, wie es
auch seit den Anfängen in der PKK der Fall ist.
Maßgeblich für die Entwicklung eines Selbstbewusstseins der Jugend ist ein Bewusstwerden
der Geschichte der Jugend. Mit der Geschichte
der Jugend erkennen wir das Potential der Dynamik der Jugend, wie es z.B. 1929, 1968 sowie
heute unter anderem in UK, Chile, Griechenland
und den nordafrikanischen Ländern der Fall ist.
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
Teil II - Demokratischer Konföderalismus im Mittleren Osten
Wie ist die PJAK organisiert? Was ist ihre Aufgabe?
Es gibt in allen vier Teilen Kurdistans Organisationen, die für die Befreiung Kurdistans kämpfen. Die PJAK (Partiya Jihana Azad ya Kurdistanê,
Partei für ein freies Leben in Kurdistan; Anm. d.
Red.) ist verantwortlich für die kurdische Revolution in Ostkurdistan, also dem Iran. Diese Organisation steht in der Tradition der PKK (Partiya
Karkerên Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans;
Anm. d. Red.), sie wurde durch den Einfluss der
PKK Anfang des Jahrtausends überhaupt erst gegründet, sie ist aber nicht identisch mit der PKK.
Denn während
diese sich eher auf Nordkurdistan konzentriert,
ist das Organisationsgebiet der PJAK der Osten
Kurdistans. Sie kommen aus der gleichen Tradition. Sie haben zwar unterschiedliche Richtungen,
die der PJAK zugrundeliegende Weltanschauung
ist jedoch ebenfalls das Paradigma von Abdullah
Öcalan. Sie wendet dieses Paradigma auf die Bedingungen Ostkurdistans an. Sie organisiert sich
dort zum einen als Guerilla, aber auch als politische Partei. Es gibt eine an sie angegliederte
Frauenbewegung, eine Jugendbewegung, eine
Kulturbewegung, eigene Presse- und Informationsstrukturen, also alle notwendigen Teile einer
politischen Partei.
Über all diesem steht ein Hauptquartier, das die
Arbeit koordiniert. Die beiden wichtigsten Positionen nehmen die Frauen- und die Jugendstrukturen der Partei ein, die auch nicht vom
Organisationszentrum geleitet werden – sie sind
unabhängiger als andere Teile der Partei. Sie
organisieren und leiten sich selbst. Abgesehen
von den genannten Bereichen, gibt es noch den
militärischen Arm, die Guerilla. Ein Teil dieser
Kräfte ist außerhalb der Grenzen des Irans und
ein Teil ist innerhalb der Grenzen des Irans auf
dem dortigen kurdischen Gebiet verteilt. Diese
Kräfte kämpfen im Kriegsfall, im Falle eines Waffenstillstands verteidigen sie sich nur selber und
verteidigen ihre Positionen. Die PJAK ist somit
nicht nur eine politische Partei, sondern gleichzeitig eine Organisation, die einen bewaffneten
Kampf führt. Dies ist der Aufbau der PJAK und
gleichzeitig sind die gesamten Strukturen Teil
des KCK-Systems (Koma Ciwakên Kurdistan, die
Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans ist
die Dachorganisation aller Kräfte, die sich auf
den Demokratischen Konföderalismus berufen;
Anm.d.Red.). Eine Besonderheit des KCK-Systems ist es, dass es keine Partei ist, sondern eine
Bewegung der Vielfalt, deren Gemeinsamkeiten
die Akzeptanz des von Abdullah Öcalan entworfenen Paradigmas sind. Das KCK-System ist nicht
auf das Parteiensystem begrenzt und versucht
die Revolution nicht ständig mit dem gleichen
Prinzip umzusetzen, sondern sie will das System
des neuen Paradigmas umsetzen, das eine internationale Ausrichtung hat. Das Paradigma beschränkt sich nicht nur auf den Mittleren Osten,
sondern hat einen internationalen Anspruch.
In den vier Teilen Kurdistans hat sich das System
organisiert. In der Türkei als PKK, in Syrien als
PYD (Partiya Yekitiya Demokrat, Partei der demokratischen Einheit; Anm. d. Red.), in Südkurdistan als PÇDK (Partiya Çariseriya Demokratik a
Kurdistanê; Anm. d. Red.) und in Ostkurdistan als
PJAK. Das KCK-System besteht aus diesen unterschiedlichen Organisationen. Den Frauen- und
Jugendstrukturen kommt dabei eine besondere
Bedeutung zu.
Das KCK-System beschränkt sich nicht nur auf
Kurdistan, sondern kann auch ein Wegbereiter
für eine türkische Revolution, für eine arabische Revolution, für eine kaukasische Revolution sein. Der internationalistische Charakter der
KCK ermöglicht es, dass sich all diese Kämpfe im
KCK-System wiederfinden können. Das System
ist für jede_n offen, _der die Grundsätze des Paradigmas akzeptiert. Es ist kein zentralistisches
System. Natürlich gibt es eine Leitung der KCK,
aber eben keine zentralistische. Diese Überwindung des Zentralismus ermöglicht es, an jedem
Ort eine eigene Revolution unter freien Bedingungen zu erreichen.
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
Die PJAK gehört zu diesem System. Sie kämpft
politisch und militärisch, je nach den Bedingungen.
In welchem Kontext kämpft die PJAK? Wie bewertest du die aktuelle Lage im Mittleren Osten?
Die jetzigen Bedingungen müssen zusammen
mit den derzeitigen Zuständen im Mittleren Osten analysiert werden. Es ist eine Frage der Strategie und Taktik. Mensch kann keine Politik machen, ohne den Zustand der Region und der Welt
und dessen Auswirkungen auf das KCK-System
zu beachten. Und während die PJAK zum einen
den Kampf gegen den Iran führt, ist sie weiterhin sensibel für die Entwicklungen im gesamten
Mittleren Osten und innerhalb der KCK. Um die
heutige Politik der PJAK verstehen zu können,
muss mensch die aktuelle Situation im Mittleren
Osten beachten, das ist sehr
wichtig. Zuerst muss mensch einige Feststellungen treffen. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ist klar geworden, dass die kapitalistische Moderne sich nicht mehr auf die alte Art
und Weise am Laufen halten konnte. Es kann sogar gesagt werden, dass der Realsozialismus der
kapitalistischen Moderne ständig Lebensenergie
gegeben hat und mit dem Zusammenbruch desselbigen, die nackte Form des Kapitalismus in all
seiner Realität zutage getreten ist. Und deshalb
war sich das kapitalistische System bewusst, dass
es nicht mehr so weiter machen konnte wie zuvor.
Das System war vor die Wahl gestellt: Entweder
es erneuert sich selbst oder es würde im Chaos
aufgelöst werden. Um die Auflösung zu verhindern, ist das System dazu übergegangen, eine
neue Weltordnung zu schaffen, eine eigene Modernisierung des kapitalistischen Systems. Wir
bezeichnen dies als neue Weltordnung, nämlich
dass sich der Kapitalismus von neuem organisiert.
Wer die Geschichte des Kapitalismus kennt,
weiß, dass er sich zu Beginn seiner Entstehung,
also sozusagen während der ersten Etappe, eine
Zeit lang über den Merkantilismus definiert hat,
in einer Zeit, in der der internationale Handel und
der Austausch von Kapital stark zugenommen
haben. Die zweite Etappe war geprägt von der
Industrialisierung. Also, dass die Kapitalakkumu-
lation sich auf die Industrialisierung konzentriert
hat. Die dritte Etappe ist in ihrem Schwerpunkt
eine Finanzetappe. Die kapitalistische Moderne
hält sich durch diese ständige Erneuerung selbst
am Leben. Jede einzelne dieser drei Etappen hat
eine spezielle gesellschaftliche und politische
Formierung mit sich gebracht. Und diese Formierungen sind derzeit allesamt überlebt. Die
Epoche des Finanzkapitalismus ist massiv ins
Stocken geraten, sie befindet sich in einer Krise.
Diese Krise ist so stark, dass sie den Einsturz und
die Fäulnis der Gesellschaft des Kapitalismus zur
Folge haben kann. Und deswegen gibt sich der
Kapitalismus gerade große Mühe aus dieser Krise herauszukommen. Er versucht neue Modelle
zu entwickeln, um die Krise zu überwinden. Er
versucht sich selbst zu erneuern. Dies wird durch
die Schaffung einer neuen Weltordnung deutlich.
Die Europäische Union ist eines dieser Modelle.
Dieses stellt den Versuch des Kapitalismus dar,
sich zu erneuern, indem mensch den Nationalstaat schwächt, Grenzen abbaut, Zölle aufhebt
und mehr soziale Teilhabe anbietet. Dies stellt
einen Versuch des kapitalistischen Systems dar,
die Krisen und das alte System zu überwinden.
Wenn ich sage, das alte System überwinden,
dann meine ich damit nicht den Kapitalismus
zu überwinden, sondern die Fäulnis des Kapitalismus aus sich selbst heraus zu überwinden.
Allerdings spielt dieses Modell momentan keine
aktive Rolle mehr auf der Weltebene, es ist ein
langfristig ausgelegtes Modell. Das aktivere Modell ist die von den USA bevorzugte und von der
EU unterstützte Errichtung einer neuen Weltordnung. Das Grundelement dieser neuen Weltordnung besteht in der Aufhebung der Grenzen und
Hindernisse der internationalen Finanzmonopole, sowie die politischen Systeme noch weiter
in den Dienst der Finanzmonopole zu stellen.
Aufgrund dessen wird eine bestimmte Politik gegenüber dem Mittleren Osten praktiziert. Diese
Politik hat mit der Intervention gegen den Irak
begonnen. Wir müssen uns dieser bestehenden
Realität der Intervention in den Mittleren Osten,
in den Irak bewusst sein. Seit dieser Zeit gab es
verschiedene Schritte. Einer bestand in der militärischen Besatzung des Iraks und als realisiert
wurde, dass dies nicht erfolgreich sein würde,
wurde diese Politik geändert. Die Ziele allerdings
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
sind gleich geblieben. Die eigenen militärischen
Kräfte wurden abgezogen und es wurde dazu
übergegangen die regionalen Kräfte im Mittleren
Osten gegeneinander aufzuhetzen und dadurch
zu einem Ergebnis zu kommen. Heute besteht
die grundsätzliche Politik der USA in der Erschaffung der neuen Weltordnung darin, die regionalen Mächte gegeneinander aufzuhetzen, damit
zu schwächen und so die eigene Macht aufrecht
erhalten zu können. Betrachtet mensch das letzte Jahr, gibt es eine Entwicklung, die von allen
als „Arabischer Frühling“ bezeichnet wird. Also
während es auf der einen Seite die militärischen
Interventionen der USA gibt, gibt es auf der anderen Seite Aufstände der Völker der arabischen
Länder. Wir bezeichnen es zwar als „Arabischen
Frühling“, als Aufstand der Völker, aber dies müssen wir tiefer
analysieren. Welchen Anteil haben die Völker
wirklich bei den begonnenen Revolutionen? Wie
viel davon ist durch internationalen Komplott
und Aufmischung geschehen? Das ist es, was
wir betrachten müssen. Wenn mensch sich die
Realität des Mittleren Ostens anschaut, bestehen zwischen diesen beiden Polen interessante
Schnittpunkte. Zum einen der Einfluss der im
Rahmen der Interventionen seitens der internationalen Monopole entwickelten Propaganda;
zum anderen die Unzufriedenheit der Völker und
deren darauf folgende Reaktionen aufgrund der
bestehenden Regime. Während die kapitalistische Moderne die Ablehnung der Regime durch
die Völker anheizt und ausnutzt, verhindert sie
zugleich, dass diese sich selbst organisieren und
der Kapitalismus seine neue Weltordnung durchsetzen kann. Wenn mensch sich Tunesien anschaut, gab es auf der einen Seite internationale
Einmischung und auf der anderen Seite den Aufstand des Volkes. Die Gemeinsamkeit bestand
darin, dass sich das dortige Regime nicht mehr
am Leben halten können sollte. Doch die Frage,
was an seiner Stelle folgt, muss diskutiert werden. Das Regime, das die USA aufbauen wollen,
ist ein Regime, das den Menschen einige soziale und politische Rechte zugesteht, eine Art lockereres Staatsmodell, dass aber nichts anderes
darstellt, als die Fortsetzung des Staates an sich.
Die Forderungen des Volkes bestehen allerdings
darin, die 40-50 Jahre währenden Diktaturen zu
überwinden, politische Freiheit zu gewinnen und
gleiche Rechte für alle zu erhalten. Es ist deutlich
geworden, dass sich die stärkere Kraft, die von
der kapitalistischen Moderne bevorzugte neue
Weltordnung, durchgesetzt hat. Den Forderungen des Volkes wird nur sehr begrenzt entgegen
gekommen. Es ist nicht das herausgekommen,
was die Sehnsüchte des Volkes nach Freiheit sich
gewünscht haben. Das ist in Tunesien passiert.
Ein altes Regime ist zusammengebrochen und
ein neues Regime ist an seine Stelle getreten. Es
gab keine grundlegenden Veränderungen. Außer
einer etwas sanfteren Art der Regierung, gibt es
keinen Unterschied zum Regime davor.
In Ägypten ist letztendlich das gleiche passiert.
Dort gab es auch verschiedene Interventionen,
einmal seitens der USA, sowie seitens der traditionellen religiösen Fundamentalist_en in
Gestalt der Muslimbrüder (Diese politischen
Interessengruppen versuchen, im Zuge der Neustrukturierung der arabischen Länder, den politischen Islam mit neoliberaler Wirtschaftspolitik
zu verbinden; Anm. d. Red.). Dann gab es auch
noch die Forderungen des Volkes. Die USA sahen die Notwendigkeit ein, die 40-jährige diktatorisch-faschistische Herrschaft Hosni Mubaraks
und das dadurch ausgelöste Chaos durch einen
politischen Regimewechsel mit Hilfe des Militärs durch eine „sanftere“ Regierung abzulösen.
Die Muslimbrüder haben sich zum einen mit der
kapitalistischen neuen Weltordnung verbunden
und dafür ihr eigenes Islamverständnis etwas
aufgeweicht, um an die Macht zu kommen. Das
Volk hingegen will politische Freiheit und ökonomische Gleichheit. Der gemeinsame Schnittpunkt
dieser drei Seiten war die Verbündung gegen das
alte bestehende Regime und ist unter dem Namen „Arabischer Frühling“ bekannt geworden.
Nachdem das Mubarak-Regime gestürzt worden
war, wurden die Probleme wieder nicht gelöst.
Die Forderungen des Volkes bestehen weiterhin
und dafür geht es auf die Straße. Gleichzeitig versuchen die Muslimbrüder, die Macht zu ergreifen. Doch die USA halten weiterhin die Armee
in ihrer Hand und kontrollieren damit das Land.
Auch hier hat der „Arabische Frühling“ dem Volk
keine wirkliche Freiheit gebracht. All die Länder
in denen es Aufstände gegeben hat, gleichen
sich in ihrem Ergebnis, auch Libyen. Die alten Re-
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
gimes, die sich stärker gewehrt haben, wurden
mit militärischer Macht gestürzt, diejenigen die
sich weniger gewehrt haben, wurden mit politisch- gesellschaftlichen Aktionen gestürzt. In Tunesien und Ägypten ist es durch den Widerstand
des Volkes, durch politischen Druck und Embargos gelungen. Aber da der Widerstand des Regimes in Libyen stark war und die Opposition und
das Volk dieses nicht aus eigener Kraft stürzen
konnten, haben sich internationale Kräfte, vor allem Frankreich, eingemischt und das Regime von
oben bombardiert und von unten die Opposition
mit Waffen und Geld ausgestattet. Während sich
die USA und Frankreich darauf geeinigt haben,
die Ressourcen Libyens untereinander aufzuteilen, befindet sich die Opposition in einem Bürgerkrieg darum, wer die Macht erhält. Die
Veränderungen in Tunesien, Ägypten und Libyen
sind durch die Intervention des kapitalistischen
Systems vonstatten gegangen. Die berechtigten
Forderungen der Völker wurden nicht erfüllt,
auch deshalb, weil diese zu wenig organisiert
waren, um die politische Macht erringen zu können. Die jetzigen Ergebnisse stellen keine Lösung
dar. Die neuen politischen Regime sind keine Lösung, weder für die Anforderungen des kapitalistischen Systems und seiner neuen Weltordnung,
noch für die Forderungen des Volkes nach Freiheit und Gleichheit. Allerdings wurde der alte
Status quo im Mittleren Osten gebrochen. Im Jemen, in Bahrain, in Saudi-Arabien, in Kuwait und
Dubai gab es ähnliche Versuche der Opposition,
die allerdings zu keinem Ergebnis gekommen
sind. Die Regime dort sind nicht gefallen, da es
nicht im Interesse der internationalen Gemeinschaft war.
Kommen wir nun zu Syrien, das eine Schlüsselposition inne hat. Denn wenn die Versuche des
Regimewechsels dort erfolgreich sind, hat das
Ausstrahlungskraft auf alle vorhin genannten
Länder, in denen die Opposition noch nicht erfolgreich war. Die Vorgänge und Ergebnisse in
Syrien werden direkten Einfluss auf Palästina,
Israel, Libyen und den Iran haben. Diese Länder stellen die Hälfte des Mittleren Ostens dar.
Deshalb ist die Syrien-Krise eine sehr tiefgehende. Sie hat die Schlüsselrolle für die zukünftigen
Entwicklungen im Mittleren Osten inne. Deshalb
sind die Kämpfe in Syrien auch besonders grau-
sam. Es kämpfen dort sehr unterschiedliche Kräfte. Zum einen die Kräfte, die die kapitalistische
neue Weltordnung im Mittleren Osten durchsetzen wollen und diese vertreten. Dies sind Kräfte,
die sich nicht unmittelbar politisch organisieren
und ausdrücken. Sie tun das hinter den Kulissen.
Wenn mensch sich zum Beispiel fragt, durch wen
die US-amerikanischen Interessen dort vertreten
werden, kann mensch auf Anhieb keine konkrete
Kraft benennen. Aber trotzdem besitzen sie eine
versteckte Kraft, die Opposition zusammen mit
internationalem Druck in Syrien zu vereinen.
Deswegen spielt hier Syrien eine Schlüsselrolle. Wie weit wird das Regime in Syrien, das den
Status quo erhalten will, seine Existenz wahren
können, wenn die global hegemonialen und regionale Kräfte dessen Sturz wollen? Wie weit werden wir den dritten Weg, den wir gegen Widerstand des Systems, aber mit einer großen Basis
in der Bevölkerung eingeschlagen haben, weiter
fortführen können und unser Paradigma auf den
Mittleren Osten ausweiten? Falls wir keinen Widerstand leisten können, ist die Frage, welchen
Platz wir im neuen Regime, das sich bilden wird,
einnehmen werden.
Welche zukünftigen Entwicklungen ergeben sich
deiner Meinung nach aus der Umgestaltung des
Mittleren Ostens? Was ist die Rolle des Krieges
in Syrien, was bedeutet der Fall des Regimes?
Das jetzige Regime in Syrien wird sich langfristig nicht erhalten können, weil von seiner
Transformation die Existenz der gesamten kapitalistischen Moderne abhängt. Denn wenn die
veraltete Form des Kapitalismus es nicht schafft,
sich im Nahen Osten zu erneuern und zu stärken, bedeutet das die Spaltung der Welt. Auf
der anderen Seite gibt es in Syrien ein großes
Freiheitsstreben der Völker. Dieses Streben ist
dort im Vergleich zu anderen Staaten wie Libyen,
Ägypten und Tunesien sehr gut organisiert. Diese
Organisierung wird die Entwicklungen im Irak, im
Iran und in der Türkei beeinflussen und deshalb
in Zukunft eine große Rolle bei der Neugestaltung des Mittleren Ostens spielen. Dieser dritte
Weg der Völker muss politisch ernst genommen
werden. Gegen diese beiden Kräfte, die kapitalistische Moderne und die demokratischen Kräfte,
kann das jetzige Regime in Syrien nicht langfristig standhalten. Entweder wird es einen Kompro-
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
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miss geben und Assad wird die Macht Schritt für
Schritt abgeben oder er wird komplett gestürzt
werden. Ob das ein oder zwei Jahre dauern wird,
können wir heute nicht sagen. Es stellen sich viele Fragen. Wie wird das neue Regime aussehen?
Wie werden die internationalen Kräfte in diesem
Regime ihre Rolle spielen? Welche Rolle werden
der Iran und China im neuen Syrien spielen? Das
neue Regime muss auf viele Kräfte
eingehen. Auf der einen Seite auf die Überbleibsel des Assad- Regimes, auf der anderen Seite
auf den sich neu formierenden dritten Weg und
gleichzeitig auch noch auf die internationalen
Kräfte, die versuchen wollen, in Syrien ihre Position zu stärken. Was werden die Widersprüche
unter diesen sein? All diese Fragen warten auf
Antworten. Allgemein können wir sagen, dass
die Phase der Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten anhält, in Syrien ihren schärfsten Zustand erreicht hat und darüber hinaus sich noch
vergrößern wird. Das wird auch den Iran betreffen. Der Sturz Syriens wird den Beginn des Krieges mit dem Iran mit sich bringen. Deswegen will
der Iran diesen Sturz mit allen Mitteln verhindern. Falls nicht anders möglich, ist der Iran auch
bereit einen regionalen Krieg dafür zu beginnen.
Es besteht also die Wahrscheinlichkeit, dass sich
der Graben zwischen der Türkei und dem Iran
speziell, den Schiit_innen und den Sunnit_innen im allgemeinen vertieft. Deshalb können wir
auch sagen, dass die Umstürze in Ägypten, Tunesien oder Libyen keine strategischen Umbrüche
waren. Der große Umbruch wird erst mit dem
Sturz des syrischen Regimes kommen. Derzeit
befinden wir uns kurz vor diesen Umbrüchen,
die zweifellos auch große Kriege mit sich bringen
werden. Wie sich diese Kriege entwickeln, hängt
von der Politik der einzelnen Akteur_innen ab.
All diese Bedingungen muss die PJAK berücksichtigen.
Die PJAK hat ihr Paradigma, das universell ist.
Wenn sie diesen Anspruch von Universalität
erfüllen will, dann muss sie auch die regionalen Entwicklungen in ihrer Politik berücksichtigen. Während die Welt ihr eigenes Schicksal
schreibt, muss sich die PJAK darin Platz verschaffen. Gleichzeitig muss sie die Revolution im Iran
vorantreiben. Sie darf sich nicht marginalisieren
lassen, sondern mit ihrem universellen Paradig-
ma den weltweiten Konflikten Antworten geben.
Und während sie all das berücksichtigen muss,
muss sie sich mit dem KCK-System, dem sie angehört, koordinieren. Das benötigt politischen
Scharfsinn.
Beispielsweise hat die PYD in Syrien große Errungenschaften erlangt. Das sind sehr strategische
Errungenschaften. Wer Syrien nicht richtig analysiert hat, beging auch große Fehler in der gesamten Nahostpolitik. Viele haben auch von einem
Frühling der Völker geredet und den Einfluss imperialistischer Mächte übersehen. Das ist eine
populistische Herangehensweise und legitimiert
den Eingriff imperialer Mächte im Nahen und
Mittleren Osten, weil diese mit der Begründung,
dass sie die Aufstände unterstützen erst recht in
den Prozess einschritten. Dass dem nicht so war,
haben wir gesehen, als innerhalb von zehn Tagen
die Aufstände niedergeschlagen wurden. Und all
die, die von einem Frühling der Völker sprachen,
verschwanden von einem Tag auf den anderen.
Die Bewertung war nämlich eine falsche. Als es
in Syrien zu den Aufständen kam, sprachen alle
vom Sturz des Regimes. Niemensch hat allerdings
hinterfragt, wer diese Opposition eigentlich ist,
wer sie finanziert oder wie ihre Verbindungen
zu internationalen Mächte sind. Niemensch hat
nachgefragt, wer nach einem Sturz kommen könne. Obwohl die neuen ‚Herr‘scher das internationale Finanzkapital, die Monopole und in ihrer
regionalen Version die Muslimbrüder sein werden, hat niemensch nachgebohrt. Den Konflikt
schwarz-weiß zu malen und in Assad-Regime
und Opposition aufzuteilen ist eine blinde Herangehensweise.
Welche Kräfte wirken noch in Syrien? Welche
Rolle spielt die PYD? Warum unterstützt sie
nicht die Opposition?
Wir müssen beide Seiten analysieren. Auf der
einen Seite haben wir das seit 40 Jahren diktatorisch herrschende Regime. Es ist ein repressives
Regime, das auf die Leugnung der Völker und Religionen aufgebaut ist. Niemensch kann das leugnen. Dieses Regime muss weg. Auf der anderen
Seite sind aber die, die dieses Regime stürzen
wollen, die Monopole und das internationale Finanzkapital. Wir wollen uns nicht zwischen dem
alten Regime und dem Finanzkapital, das eine
neue Weltordnung schaffen will, entscheiden.
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ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
Dazwischen gibt es die legitimen Rechte und Forderungen der
Völker, die jedoch unorganisiert sind. Diese Forderungen sollen für die Ziele des internationalen
Finanzkapitals organisiert und missbraucht werden. Die Muslimbrüder sollen durch die Unterstützung der Türkei und der USA diese Funktion
erfüllen. Das Regime soll sich ändern und an ihre
Stelle soll eine Herrschaft der Muslimbrüder zusammen mit dem internationalen Finanzkapital
kommen.
Um die beiden Alternativen, die geboten werden, besser zu kennen, müssen wir sie uns genauer anschauen. Das jetzige Regime verleumdet die Völker. Die Muslimbrüder: haben sie ein
Programm, das wir demokratisch nennen können? Nein, das haben sie nicht. Und haben die
internationalen Kräfte ein Programm, das die
Demokratisierung Syriens vorsieht? Auch das
gibt es nicht. Hier sehen wir, dass die Opposition
genauso die Realitäten der Gesellschaft leugnet
wie das Regime. Eine Seite ist die, die dich seit
Jahrzehnten tötet, die andere, die dich nach dem
Sturz des Regimes ebenfalls töten wird. Deshalb
stellen sich die Kurd_innen nicht auf die eine
oder andere Seite, sondern bilden nach ihren eigenen Paradigmen ihre eigene organisatorische,
politische und ideologische Haltung in Form eines dritten Weges. Diesen Auftrag hat die PYD
innerhalb Syriens. Ihre Position beruht auf der
Selbstbestimmung aller Völker. Das heißt auch,
dass die PYD nur mit denen zusammenarbeitet,
die demokratisch sind, die die Existenz der Völker anerkennen und die ein freiheitliches Leben
aufbauen wollen. Als sich die PYD diesbezüglich
mit der Opposition in Verbindung gesetzt hat,
sah sie, dass diese viel rückständiger ist als das
Regime und, dass sie mit der Unterstützung der
Türkei im Namen des Islam zu großen Barbareien imstande ist. Ihre ‚Herr‘schaft wäre nichts anderes als ein Scharia-Regime. Ihre gemäßigtere
Form wäre eine Synthese mit den internationalen Mächten. Auch diese akzeptieren keine Demokratie. Hier kann es keine gemeinsame Politik
der PYD mit der Opposition zum Sturz des Assad-Regimes geben. Ganz im Gegenteil, sie muss
dieser Entwicklung entgegenwirken. Und hier
bezieht sie deshalb gegen die Opposition ideologisch Stellung, was gleichzeitig auch eine Stel-
lung gegen die kapitalistische Moderne ist.
Viele verstehen diese Stellung nicht. Sie machen
es der KCK zum Vorwurf, dass sie die entstandene Opposition in Syrien nicht unterstützen. Die
KCK wolle nicht, dass das Regime gestürzt werde.
Sie arbeite mit dem Baath-Regime zusammen.
Das ist die Bewertung derer, die sich an der wirklichen Revolution nicht beteiligen, die sich als
pseudointellektuell geben und dadurch eigentlich zu_r Sprecher_in der kapitalistischen Moderne werden. Sie haben die Realität in Syrien nicht
erkannt, die PYD schon. Die PYD kämpft einerseits gegen das Regime, aber andererseits auch
gegen diese Opposition. Einerseits kämpft sie für
den Sturz des Regimes, andererseits drängt sie
durch ihre eigene politische und diplomatische
Organisierung die Opposition im Falle der Machtübernahme zur Demokratisierung. Beide Seiten
haben deshalb die PYD nicht anerkannt. Jedoch
haben beide Seiten den Einfluss der PYD berücksichtigt und sich bisher nicht gegen sie gestellt.
Die PYD hat hier eine kluge Politik betrieben, indem sie sich nicht in militärische Auseinandersetzungen verwickelt und sich auf der Basis der
kurdischen Identität organisiert hat. Dadurch hat
sie sich als einen Faktor, den es zu berücksichtigen gibt, in Syrien etabliert. Während sich die
kämpfenden Seiten schwächen, etabliert die PYD
Schritt für Schritt ihr eigenes System. Innerhalb
dieses Jahres schaffte es weder die Opposition,
die Kurd_innen zu übergehen, noch schaffte es
das Regime, sich gegen die Opposition durchzusetzen. Gleichzeitig konnten aber die Kurd_innen
das Vakuum füllen, das durch den Kampf des
Regimes gegen die Opposition entstand, indem
sie ihren Status in Syrien aufbauten. Dadurch ist
eine historisch einmalige Situation entstanden.
Zum ersten Mal in der Geschichte konnten die
Kurd_innen einen so großen Freiheitsgrad erreichen und unser Paradigma so sehr entfalten. Das
ist ein großer Erfolg. Dies hielt bisher so an. Das
ist kein Endergebnis. Was in Zukunft passieren
wird, wissen wir noch nicht. Aber diese Entwicklung wird zur Folge haben, dass, egal wer sich in
Zukunft durchsetzen wird, die Kurd_innen unmöglich übergangen werden können. Diese Entwicklung kann zu einem
föderalen Syrien führen, in dem sich alle Kräfte
auf einen Kompromiss einigen. Sie kann aber
64
ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
auch zu einer noch größeren Welle an Massakern
führen. Deshalb betreibt die PYD eine Politik, die
auf der Basis der Selbstorganisierung und der
Selbstverteidigung aufbaut. In einem föderalen
Syrien würde sich dann auf kurdischem Gebiet
das Paradigma der KCK etablieren. Und wenn ein
erneuter Angriff auf Kurd_innen beginnt, dann
wären sie auch in der Lage, sich selbst zu verteidigen.
wahrscheinlichsten erreichen. So bewertet die
KCK Syrien. Die gesamte Kraft wird sich auf diese Strategie aufbauen. Zur Türkei: Auch die Türkei hat mit großen Schmerzen große Umbrüche
durch die Entstehung der islamischen Bewegung
und dem Wachsen der kurdischen Freiheitsbewegung erlebt. Das, was in den arabischen Staaten gerade geschieht, ist auf eine andere Art zur
Überwindung der 80- jährigen ‚Herr‘schaft des
Wie könnte ein zukünftiges Syrien aussehen? Kemalismus (Staatsideologie des ersten PräsiIst es realistisch, dass eine Seite eine neue He- denten der Türkei Mustafa Kemal „Atatürk“, die
gemonie etablieren kann? Welchen Einfluss hat ein zentralistisches, nationalistisches und laizistisches Herrschaftskonzept vorsieht; Anm. d. Red.)
die Türkei?
in der Türkei ebenfalls geschehen. Und durch
Wenn wir uns die Eigenheiten näher anschauen, diese Umbrüche will auch die Türkei im Nahen
dann scheint ein föderales System für Syrien nä- Osten eine größere Rolle spielen. Auch internaher zu liegen, weil in Syrien auf der einen Seite tionale Kräfte geben ihr hierbei eine ähnlich Roldie USA und Europa ihre Finger im Spiel haben le. Deswegen ist die Türkei wichtig. Jede Rolle,
und auf der anderen Seite der Iran, Russland die eine_r Akteur_in gegeben wird, muss jedoch
und China mitspielen. Die ‚Herr‘schaft einer die- zur richtigen Zeit gespielt werden. Die Türkei ist
ser Blöcke alleine könnte nur über einen großen noch nicht so weit, um die Rolle, die ihr gegeben
Krieg, einen 3. Weltkrieg etabliert werden. Der wird zu spielen. Weil sie im Nahen Osten aktiv
Iran wird niemals auf seine großen Quellen in Politik betreiben will, will mensch weder eine zu
Syrien verzichten. China will in der Weltpolitik starke Türkei, noch eine zu schwache Türkei. Desseine Position gegen die USA stärken. Russland halb sind viele widersprüchliche Prozesse in der
sieht sich in der Konkurrenz zu den USA und hat Türkei zu beobachten. Einerseits gibt es Prozesse
große Investitionen in Syrien, die es nicht ver- der Transformation, die sich an die Umbrüche im
lieren will. Investitionen in die Baath-Partei, in Nahen und Mittleren Osten anpassen, vor allem
die Wirtschaft und, überaus wichtig, die militä- im Bezug auf die sogenannte Kurd_innenprobrischen Stützpunkte an der Küste zum Mittel- lematik, andererseits gibt es Kräfte, die auf den
meer, besonders auch in Tunesien. Der Kampf Status Quo beharren.
um Syrien ist eher ein Kampf um mehr Einfluss Wir haben die Situation in Syrien analysiert.
als ein Kampf um die ‚Herr‘schaft. Deswegen Jetzt gehen wir auf die Türkei ein. Die Türkei leiwird es notwendig sein, dass diese Kräfte sich det seit Jahrzehnten unter den Schmerzen des
auf Kompromisse einigen müssen. Eine Einigung Krieges gegen die Kurd_innen. Genauso wie es
könnte dazu führen, dass in Syrien ein gemäßig- auf der ganzen Welt zu Umbrüchen kommt, wird
teres Regime an die Macht kommt. Deswegen es auch in der Türkei, aufgrund des Aufdrängens
ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Syrien ein der Kurd_innen zu Umbrüchen kommen. Allerzu vier bis fünf Teilen geteiltes föderales System dings sehen wir, dass der türkische Staat sich
bekommt. Die Kurd_innen, die Alevit_innen, die weigert diesen Konflikt an den Wurzeln zu löSunnit_innen in Damaskus und Qamislo und die sen. Er macht nur oberflächliche Reformen um
Drus_innen im Süden könnten jeweils ein Teil die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen.
dieses föderalen Systems bilden. Die PYD würde Das führt nicht zur
in einem solchen Regime eine sehr fortgeschrit- gewünschten Demokratisierung der Türkei. Dietene Position innehaben. Deshalb hat für das se Herangehensweise sieht auch die KCK und
KCK-System Syrien eine strategische Bedeutung. entwickelt deshalb Strategien, um gegen diesen
Denn revolutionäre Bewegungen führen ihren Plan vorzugehen und dem Staat die DemokratiKampf nicht überall auf der gleichen Stufe fort, sierung aufzudrängen. Sie hat die Kapazitäten,
sondern konzentrieren sich dorthin, wo es die in der Türkei gesellschaftliche und politische
meisten Umbrüche gibt und wo sie ihre Ziele am
65
ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
Umschwünge herbeizuführen. Das sieht auch
der türkische Staat und macht deshalb zwar gewisse Reformen, die aber, wie gesagt, nur das
Ziel haben, die kurdische Freiheitsbewegung zu
zerschlagen. Hier sehen wir zwei gegenläufige
Strategien. Die türkische mit dem Ziel, die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen, und
die Strategie der KCK mit dem Ziel, der Türkei die
Demokratisierung aufzudrängen. Genauso wie
die KCK umfassende Analysen zu Syrien gemacht
hat, muss sie das auch zu Nordkurdistan/Türkei
machen und den zweiten Schwerpunkt ihrer Arbeit hierhin verlagern. Der militärische und politische Kampf muss verstärkt und die Organisierung vorangetrieben werden, um die Strategie
des türkischen Staates ins Leere laufen zu lassen
und ihn zur Änderung seiner Strategie zu zwingen, damit sie auf Demokratisierung und Lösung
der kurdischen Frage hinführt. Wenn die KCK das
nicht schafft, dann wird der Kampf um Demokratisierung in der Türkei einen herben Rückschlag
erleiden. Jede Demokratisierung in Nordkurdistan wird automatisch alle anderen Teile Kurdistans und somit den gesamten Mittleren Osten
beeinflussen. Sie würde den Status der Kurd_innen in Syrien und im Irak bestärken und den Iran
zur Lösung des Kurd_innenkonflikts verurteilen.
Wenn das in der Türkei aber nicht erreicht wird,
ist sogar die Zukunft aller kurdischen Parteien
ungewiss. Die Türkei ist deswegen sehr strategisch. Wenn das so ist, muss mensch gleichzeitig
mit allen Kräften im Nahen und Mittleren Osten
in taktische Beziehungen treten und den Widerstand in der Türkei und in Syrien vergrößern. Das
sehen wir auch in der Realität. Derzeit gibt es die
größten Kämpfe der Parteigeschichte. Gerade
dort, wo der Staat dachte, die Partei zerschlagen und besiegt zu haben, hat mensch gesehen,
wie schwach der Staat eigentlich dasteht. Diese
Schwäche führt die Türkei zur internationalen
Isolation. Während mensch davon spricht, dass
die Türkei Hegemoniebestrebungen im Nahen
Osten hat, fällt sie gleichzeitig in einen Zustand,
in dem sie sich nicht mal selber schützen kann.
Die innere Gefahr des Machtverlustes, der droht,
sofern dieser Konflikt nicht gelöst wird, ist offensichtlich. Wenn wir also in der Türkei/Nordkurdistan die Demokratisierung herbeiführen können, bedeutet das gleichzeitig die Festigung des
KCK-Paradigmas im Mittleren Osten. Während
das die Strategie in West- und Nordkurdistan ist,
wird natürlich auch die PJAK in Ostkurdistan ihre
eigene Strategie haben, die sie aber auf die anderen Teile abstimmt. Das Regime in Syrien und die
Kurd_innen dort haben zwar keine Vereinbarung,
aber es besteht ein Nicht-Angriffs-Konsens. Das
verschafft den Kurd_innen dort Luft zum Aufbau
des KCK-Systems. Der Iran weiß auch, dass, wenn
die Kurd_innen sich ebenfalls mit Gewalt gegen
Assad erheben, sich dann das Regime nicht mehr
lange halten wird und der Iran deswegen einen
strategischen Verbündeten verlieren würde.
Deswegen gibt es auch keine offensiven Kämpfe
in Ostkurdistan. Die Strategie der PJAK wird sein,
durch Errungenschaften in West- und Nordkurdistan in Ostkurdistan verstärkt Druck auf das iranische Regime auszuüben. Die Aggressionen der
Türkei gegen Syrien führen zu Uneinigkeiten zwischen der Türkei und dem Iran. Wenn die PJAK
jetzt aggressiv gegen den Iran ankämpft, werden
diese Uneinigkeiten geringer und es würde dazu
führen, dass beide wieder gemeinsam gegen die
PKK, PJAK und die PYD kämpfen. Hier müssen wir
statt aktiv in Kampfhandlungen mit dem Iran zu
geraten, die Türkei und den Iran sich selbst ihren Uneinigkeiten überlassen. Deshalb hat die
PJAK mit dem Iran einen Waffenstillstand ausgehandelt, um ihre Energie vermehrt in die gesellschaftliche Etablierung und Organisierung in Ostkurdistan zu stecken und sich auf einen größeren
Krieg in der Zukunft vorzubereiten. Der Waffenstillstand der PJAK mit dem Iran muss deshalb als
Taktik interpretiert werden. Aber was wird in den
nächsten Jahren passieren? Was passiert, nachdem das Regime in Syrien gestürzt ist, womit wir
fest rechnen? Wie werden sich die Konflikte zwischen dem Iran und der Türkei vertiefen? Wenn
diese Phasen kommen und sich neue Umstände
entwickeln, wird sehr
wohl auch die PJAK ihre Taktik überdenken. Einige Kurd_innen verstehen das nicht. Sie betrachten diese Taktik als eine Endphase und nähern
sich sehr nationalistisch an die Sachen. Während
hier die Rede von der Umgestaltung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens ist, beschweren
sich besonders Kurd_innen in Ostkurdistan darüber, warum ein Hügel hier und ein Dorf dort
„aufgegeben“ wurde. All unsere Guerilla-Einhei-
66
ͧͧ Interview mit Riza Altun
1. YXK-Reader | 2015
ten in Ostkurdistan sind nicht im Kriegszustand,
sondern in Verteidigungsposition. Sie betreiben
politische Arbeit und organisieren sich, versuchen dies ohne militärische Angriffe zu vertiefen.
Ich kann jetzt nicht sagen, wie erfolgreich sie das
machen. Für einen größeren Krieg in der Zukunft
muss jedoch auch die Gesellschaft einen hohen
Bewusstseinsgrad erreicht haben. Dieses Bewusstsein darf nicht auf Nationalismus, sondern
muss auf demokratischen Prinzipien beruhen.
Die kurdische Identität muss auf einem demokratischen Bewusstsein beruhen. Die politischen
Aktivitäten in den Jugendstrukturen, den Frauenstrukturen und allen anderen gesellschaftlichen Strukturen müssen auf die Schaffung dieser
demokratischen Identität abzielen. Nur dadurch
kann die PJAK in einem größeren Krieg eine starke Position beziehen.
zuerst erschienen in der Ronahî
67
ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP
1. YXK-Reader | 2015
Rede der YXK auf dem Jugendpolitischen Ratschlag
der DKP, 26.01.2013, Hannover
ͧͧ YXK
«Die Jugend gibt sich nie mit dem Existierenden zufrieden!»
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
wir, Delegierte des Verbandes der Studierenden
aus Kurdistan – YXK, möchten euch, Teilnehmende am Jugendpolitischen Ratschlag, vor allem als
Jugendliche begrüßen.
An dieser Stelle möchten wir der DKP danken,
dass sie uns als YXK im Besonderen, aber auch
als Jugendliche generell diese Möglichkeit bietet, zusammenzukommen, uns auszutauschen,
uns kennenzulernen und unsere Anliegen an einer Stelle vorzutragen, an der sie auch Gehör zu
finden scheint.
Die Angriffe des Systems auf die Gesellschaft
sind nicht zuletzt Angriffe auf die Jugend. Unsere
Gesellschaft durchlebt eine Zeit des verschärften
Angriffs von Seiten des Kapitals und derjenigen,
die hinter dem Kapital stehen. Es ist auch eine
Zeit des Angriffs auf die Jugend. Gerade jetzt –
im Zuge der Krise – entledigt sich das Kapital vieler erkämpfter Klassenkompromisse. Viele dieser
sozialen Errungenschaften, die aus Jahrzehnte-,
wenn nicht sogar Jahrhundertelangen Kämpfen
hervorgegangen sind, werden innerhalb weniger
Jahre eingestampft.
Diese Angriffe setzen bei der Ausschlachtung der
öffentlichen Bildungs- und Sozialsysteme an. Je
nachdem, welchen Zahlen mensch folgen möchte, ist etwa jedes fünfte Kind in der BRD arm,
jede oder jeder vierte im Alter zwischen 16 und
24 Jahren lebt in materieller Not oder ist davon
betroffen. Die Perspektiven dieser – nicht nur
materiellen (!) – Armut zu entkommen sehen
sehr düster aus.
Jugendlichen wird dann die großzügige Möglich-
keit eröffnet, Teil des bundesdeutschen Militärs
zu werden, wenn sie keinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz gefunden haben und von
irgendetwas leben müssen. Die fortschreitende
Militarisierung der gesamten Gesellschaft betrifft zuallererst die Jugend, welche für die Interessen von Kapital und Herrschaft in den Krieg
ziehen soll.
Sexistische und rassistische Übergriffe sowie
strukturelle sexisitische und rassistische Gewalt
treffen zumeist Jugendliche und Kinder, die vielleicht (noch) nicht die Möglichkeit haben, sich
zur Wehr zu setzen. Solche Gewalt gehört zum
Alltag der Jugend in der BRD einfach dazu, sei
es in der sog. Leitkultur, der Familie, im direkten
Kontakt mit dem Staat in Form von Schule oder
Polizei, im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz
oder sonst wo.
Richten sich Jugendliche aber entschlossen gegen Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung, hat
das System seine wirkungsvollen Mechanismen
der Sanktionierung bis hin zur Verurteilung des
Widerstandes, wie sie dem Genossen Deniz K.
oder kurdischen JugendaktivistInnen in der BRD
droht, oder gar seiner physischen Vernichtung,
wie sich an der Ermordung unserer Genossin
Leyla Şaylemez vor zweieinhalb Wochen in Paris
zeigt. Gegen diese aktuellen Angriffe im Zuge der
Verschärfung der weltweiten Krise, aber auch
gegen das kapitalistische System rassistischer,
patriarchaler und gerontokratischer Herrschaft
an sich, müssen wir als Jugend in Europa und
der BRD gemeinsam Widerstand leisten. In einer
Zeit, in der sich das vorherrschende System reorganisiert und wiedererstarkt ist dies keine Option, sondern eine Notwendigkeit.
68
ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP
1. YXK-Reader | 2015
Was bedeutet für uns „Jugend“?
Wir begreifen „Jugend“ vor allem als eine politische Kategorie. Eine politische Kategorie, an der
sich Herrschaft ausrichtet: die „Gerontokratie“,
also die „Herrschaft der Alten“. Die Kategorien
„Jugend“ und „Alte“ verstehen wir allerdings
nicht nur als zählbares Maß an Lebensjahren,
das festschreibt, wann mensch jugendlich ist
oder nicht, sondern als Kategorien, die sich an
der Mentalität der Einzelnen festmachen lassen.
So können Menschen mit 15 Jahren schon viel
weniger jugendlich sein, als Andere mit 60 Jahren. Die Mentalität der Jugend äußert sich in der
Haltung, offen zu sein für neue Entwicklungen.
Die Jugend – als politisches Subjekt – gibt sich
nie mit dem Existierenden zufrieden. Sie will immer etwas Neues, nämlich etwas besseres. Sie
ist noch nicht dermaßen abgestumpft, dass sie
gelernt hat, Fehler – vor allem die eigenen Fehler
– hinzunehmen, sondern sucht immer nach Antworten auf bestehende Fragen und Probleme.
Dabei richtet sich die Jugend immer nach einem
ganz menschlichen Verlangen nach Freiheit und
Gerechtigkeit. Selbst Kinder, die ihre Gedanken
und Gefühle noch nicht artikulieren können, haben sehr wohl ein Verständnis von Freiheit und
Gerechtigkeit; vor allem, wenn sie merken, in ihrer Freiheit und in ihrem Recht eingeschränkt zu
werden. Dieses Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit treibt die Jugend auch an, Wahrheiten und Lösungen zu finden. Das macht sie aus,
das macht sie stark und das macht sie vor allem
gefährlich. Gefährlich ist diese Haltung nämlich
für die Herrschaft und ihre Ausbeutung und deshalb wird die Jugend – wie selbstverständlich – in
ein System von Zwangseinrichtungen gesteckt, in
dem es gilt sie zu erziehen. Die Jugend soll dahingehend erzogen werden, dass sie die Werte
und Regeln des Systems derart verinnerlicht, bis
sie als eigene Vorstellungen aufgefasst und reproduziert werden. An dieser Stelle lässt sich beweisen, wie „alt“ junge Menschen sein können:
jugendliche Konservative? Das ist ein Oxymoron!
Indem Jugendliche den Anspruch auf Herrschaft
übernehmen, unterwerfen sie sich dem System
der Ausbeutung und beuten sich zuallererst
selbst aus.
Es wäre allerdings ein sehr großer Fehler die Ju-
gend losgelöst von der Gesellschaft zu betrachten. Wenn Jugend eine Vorreiterinnen-Rolle in
der Linken und der Gesellschaft einnehmen will,
muss sie sich zunächst selbst, aber davon ausgehend die gesamte Gesellschaft organisieren und
in Bewegung setzen. Es reicht nicht, wenn wir die
Alten in bestimmten Punkten kritisieren, denn
wir müssen zuerst diese Punkte bei uns ändern,
sie als unsere eigenen Probleme begreifen, um
dann unsere Forderungen und Lösungsansätze
in die allgemeinen Strukturen der Linken und die
Gesellschaft zu tragen. Es kann also nicht darum
gehen, nur die eigenen Probleme in Angriff zu
nehmen, sondern sich der gesamtgesellschaftlichen Probleme als eigene Herausforderungen
anzunehmen und somit eine VorreiterInnen-Rolle für die gesamte Gesellschaft einzunehmen.
Wenn wir uns als Jugend organisieren, dürfen
wir das nicht losgelöst von der Gesellschaft oder
der allgemeinen Linken machen. Wir müssen
uns in diese Gefüge einordnen und versuchen
als treibende Kraft Einfluss zu nehmen und mehr
Jugendliche für die fortschrittliche Veränderung
der Gesellschaft zu gewinnen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir als Jugend
ein gemeinsames „Wir“ entwickeln, eine gemeinsame widerständige Identität. Wir verorten
uns dann mit unserer widerständigen jugendlichen Identität innerhalb der Linken und als Teil
der Gesellschaft. Aus dieser Identität erwachsen
unsere Perspektiven und Ansätze für politische
Praxen.
Unsere radikale Demokratie und Internationale
Solidarität gegen ihre liberal-bürgerliche Demokratie und Staat
Wir müssen uns als Jugend vor der Vereinnahmung des Staates und der Herrschaft schützen.
Für uns als kurdische Freiheitsbewegung ist der
Staat mehr, als ein hierarchisches Gerüst zur
Verwaltung der Gesellschaft. Für uns bedeutet
„Staat“ zuallererst eine Mentalität von Herrschaft, die gesellschaftliche Fragen und Konflikte
nicht im Dialog miteinander, sondern durch den
Gebrauch von Macht versucht zu lösen. In diese Mentalität versucht das System uns Jugendliche hinein zu erziehen und unsere progressiven und produktiven Eigenschaften für sich
69
ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP
1. YXK-Reader | 2015
zu missbrauchen. Dazu wird den Jugendlichen
Mitbestimmung und Teilhabe vorgegaukelt. Wir
werden mit SchülerInnen-Vertretungen, Studierenden-Parlamenten oder Allgemeinen Studierenden Ausschüssen, den Jugend-Parlamenten
und Jugend-Ringen oder Auszubildenden-Vertretungen abgespeist, die im Grunde auch nur das
Ziel haben, Jugendliche in das System parlamentarischer Schein-Demokratie hinein zu erziehen.
Die Regierung der Herrschenden stellt sich dabei
als Retterin der Jugend dar, wenn sie Programme
zur Ausbildungsförderung oder das Ziel der Bildungsrepublik ausruft. Ziel bleibt allerdings die
Kontrolle und Verwertung der Jugend innerhalb
des kapitalistischen Systems. Wir erwarten keine
Lösungen vom Staat und den Herrschenden, wir
müssen die Lösungen selbst herbeiführen, die
Lösungen selbst sein.
tive begrüßen wir den Jugendpolitischen Ratschlag erneut und sehen sehr großes Potential
in ihm für den Aufbau einer Jugendbewegung in
Europa.
Vor allem für uns als überwiegend migrantische,
nicht-weiße Organisation ist es wichtig den notwendigen internationalistischen Charakter einen
erfolgreichen Jugendbewegung herauszustellen.
Dieser Internationalismus darf sich allerdings
nicht auf reine Solidaritätsarbeit oder den Austausch von Standpunkten durch Besuche anderer Länder beschränken, sondern muss vor allem
die Herausbildung einer gemeinsamen, internationalen Perspektive in seinen Fokus rücken.
Voraussetzung dafür ist der (selbst-) kritische
Umgang mit Eurozentrismus, Orientalismus, Kolonialismus und nicht zuletzt Nationalismus.
Auch innerhalb der BRD zeigt sich sehr deutlich
Wie bereits dargestellt begreifen wir die libe- wie wichtig der internationalistische Anspruch
ral-bürgerliche Demokratie als ein Versuch der an linke Politik sein muss. Die bundesdeutsche
Herrschenden ihren politischen Gegner – näm- Integrations- und Migrationspolitik zielt auf die
lich uns – zu umarmen, um uns die Bewegungs- Homogenisierung der Gesellschaft ab und setzt
freiheit zu nehmen. Vielleicht – wenn wir uns den tiefsitzenden deutschen Nationalismus in
daran erinnern, dass selbst diese parlamentari- neuem Gewand fort. Integration bedeutet nach
sche Demokratie hart erkämpft werden musste der Definition der Regierenden Assimilation und
– können wir dieser westlichen Demokratie noch nicht Anerkennung. Am Besten sind diejenigen
das positive Attribut eines Klassenkompromisses integriert, die sich anpassen, nicht diejenigen,
abgewinnen. Liberal- bürgerliche Demokratie ist die sich mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten
und bleibt jedoch reinster Zynismus, indem prin- in die Gesellschaft einbringen. Genau das gleiche
zipiell das Wort „Demokratie“ seiner Bedeutung gilt für die Jugend, die es gilt, in das kapitalistientledigt und vollkommen ausgehöhlt wird. Die sche System hinein zu erziehen, also zu integliberal- bürgerliche Demokratie ist Herrschaftssi- rieren. Dieser Chauvinismus, der sehr tief in der
cherung und als solche sollte sie auch benannt Gesellschaft sitzt, öffnet dann Tür und Tor für Powerden.
sitionen, die nach rechts-außen offen sind.
Unsere Antwort darauf sollte radikale Demokratie sein. Diese radikale Demokratie beginnen Unsere Antwort auf gesellschaftlichen Chauviwir mit dem gleichberechtigten Dialog unter uns nismus muss die Solidarität sein. Solidarität, die
selbst, hier und heute – ein nicht zu verachten- sich nicht darauf beschränkt, Wohlwollen für
der, wichtiger Schritt. Die kurdische Freiheitsbe- bestimmte Kämpfe auszudrücken, sondern die
wegung spricht von Demokratischer Autonomie, durch die Gleichwertigkeit aller Beteiligten eine
womit sie meint, dass jede Identität sich im ei- Begegnung auf Augenhöhe möglich macht. „Sogenen politischen und gesellschaftlichen Bereich lidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ verstehen
organisiert, um die eigenen Bedürfnisse selbst wir vor allem als das Eingestehen der eigenen
zu definieren und Lösungen für die sich daraus Verletzlichkeit und Wichtigkeit eines behutsaergebenden gesellschaftlichen Fragen zu finden. men Umgangs miteinander. Solidarität kann
Diese Zusammenhänge treten untereinander in nicht in dem paternalistischen Helfen eines Teils
Dialog und Kooperation, um ihre Anliegen ge- des Verhältnisses bestehen, sondern bedarf der
meinsam anzugehen. Auch aus dieser Perspek- ehrlichen Offenlegung der eigenen Schwächen
70
ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP
1. YXK-Reader | 2015
aller Beteiligten. In diesem Sinne verstehen wir
Solidarität nicht nur als Zustand oder punktuelle
Haltung, sondern als Prozess, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und gemeinsame Handlungsperspektiven zu eröffnen.
Sachzwänge und das Diktat des kapitalistischen
Systems, welches uns umgibt und durchdringt,
bestimmen nicht nur unseren Alltag, sondern
auch unsere politische Arbeit. Wir passen uns
der politischen Realität an, indem wir uns an
das System anlehnen, nicht indem wir radikale
Alternativen hervorbringen. Dabei wollen und
können wir uns als YXK alles andere als ausnehmen, sondern wollen bekräftigen, dass wir in
diesem Punkt gemeinsame Lösung entwickeln
und uns gemeinsam Mut machen müssen, diese Lösungen umzusetzen. Nur gemeinsam können wir dieser scheinbaren Allgegenwärtigkeit
des Kapitalismus entkommen, nur zusammen
werden wir den Kampf gegen die Windmühlen
gewinnen können. Aus der Auseinandersetzung
mit den vorangegangenen Überlegungen heraus
haben wir vier Punkte herausgearbeitet, die wir
für gemeinsame Perspektiven auf eine zukünftige Jugendbewegung in der BRD wichtig halten:
1. Organisierung
Sich zu organisieren bedeutet nicht nur, sich als
Individuen strukturell zusammenzuschließen,
sondern vor allem auch, seine eigene Kraft aus
sich selbst hervorzubringen. Zentral, aber nicht
ausschließlich sind dabei 1. das Gewinnen neuer
Mitglieder, neuer Menschen, die ein Bewusstsein entwickeln, dass dieses vorherrschende kapitalistische System überwunden werden muss
und es an uns selbst liegt, dies zu tun, 2. der Aufbau einer eigenen Infrastruktur wie etwa die Vernetzung untereinander, der Ausbau bestehender
und der Aufbau neuer Jugendorganisationen und
-zusammenhänge oder die selbstständige Finanzierung und Sicherung der materiellen Grundlage unserer Arbeit, 3. eine eigene Bildungsarbeit,
die uns hilft, unser politisches Bewusstsein als
Jugendliche herauszubilden, zu verbreiten und
zu festigen, und 4. eigene politische Perspektiven, die sowohl Grundlage als auch Resultat der
drei vorangegangenen Aspekte von eigenständiger Organsierung als Jugend sind. Nur so können
wir als Jugend eine tatsächliche Unabhängigkeit
behaupten und darüber hinaus einen tatsächlich
eigenständigen Beitrag zu gesellschaftlichen Veränderungen leisten.
2. Selbstverteidigung
Die Vorstellung von körperlicher Selbstverteidigung – etwa linker Kampfsportgruppen – greift
hier viel zu kurz. In unserem Verständnis ist eine
selbstständige Organisierung der Jugend nicht
ohne eine funktionierende Selbstverteidigung
möglich. Selbstverteidigung bedeutet für uns,
die Möglichkeit sich gegen Angriffe, vor allem
ideologische Angriffe der Gerontokratie und der
herrschenden Ideologien zur Wehr zu setzen. Die
eigene Selbstverteidigung beginnt also mit der
Herausbildung eines politischen Bewusstseins
und dem Werden eines politischen Subjektes. Sie
ist notwendig, um im ideologischen Kampf bestehen zu können. Natürlich resultiert dies auch
in konkreten Handlungen wie der Durchsetzung
und Verteidigung von Demos, Freiräumen, eignen Alternativen zum Bestehenden, Projekten
und Perspektiven. Sowohl die Gesellschaft als
auch die Jugend müssen sich gegen Angriffe des
Alten und der Herrschenden verteidigen können,
damit die zaghaften Schritte, welche wir in die
richtige Richtung unternehmen, nicht gleich wieder zurückgeschlagen oder vereinnahmt werden
können.
3. Ideologie
Als Ideologie begreifen wir nicht die Dogmatik,
die wir unseren Klassikern und VordenkerInnen
entnehmen und die wir unhinterfragt reproduzieren. Uns wurde das Ende der Geschichte und
zugleich das Ende der Ideologien angedreht,
nachdem die realsozialistischen Versuche größtenteils scheiterten oder vernichtet wurden.
Dass dem nicht so ist und Ideologie nach wie vor
hochaktuell ist, ist in unseren Augen eine Tatsache.
Alle unsere Entscheidungen, bewusst oder unbewusst, richten sich nach ideologischen Gesichtspunkten. Ideologie entwickelt sich aus unserer Sozialisation, unserer politischen Bildung
und nicht zuletzt aus unserer politischen Praxis;
dabei darf weder die Ideologie, noch die Praxis
71
ͧͧ YXK-Rede auf jugendpolit. Ratschlag der DKP
1. YXK-Reader | 2015
Überhand gewinnen, sondern beide müssen ein
Dialektisches Verhältnis der Selbstreflexion und
des Ausprobierens eingehen. Unserer Ideologie müssen wir uns bewusst sein und sie aktiv
gestalten: dynamisch, offen, selbstkritisch in
einem ständigen kollektiven Prozess. Die kurdische Frauenbewegung nennt dies „organisiertes
Bewusstsein“. Diese Klarheit im eigenen Denken
muss die Grundlage für die Bestimmung und
Ausrichtung der eigenen Kämpfe sein.
sen lassen können. Dazu würden wir gerne drei
praktische Schritte zur Diskussion stellen. Der Jugendpolitische Ratschlag möge beschließen:
4. Eigenes Bewusstsein
2. Gemeinsame und einzelne Treffen der verschiedenen beteiligten Organisationen auf regionaler und vor allem lokaler Ebene, um sich
intensiv kennen zu lernen und gemeinsame
politische Praxen zu entwickeln. Hierbei können die heutigen Diskussionen als Grundlage
genommen werden, um sich lokal konkret
auftretenden Fragen und Kämpfen zu widmen
und diese gemeinsam aufzugreifen.
Zuletzt genannt, aber Voraussetzung für eine
eigenständige Organisierung, effektive Selbstverteidigung und eine selbstkritische Ideologie
ist ein eigenes Bewusstsein. Wir müssen ein Bewusstsein als politische Subjekte, auch als politisches Kollektiv der Jugend entwickeln, indem wir
uns die Geschichte fortschrittlicher Kämpfe der
Jugend aneignen. Auf diese Geschichte aufbauend gilt es die Kultur der Jugend fortzuführen.
Jugendkultur ist keine Subkultur oder Szene; Jugendkultur ist widerständig, produktiv und kreativ. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie vereinnahmt und vermarktet wird. Sie ist eine wichtige
Trägerin unserer Kämpfe und Vorstellungen, die
wir nutzen und entwickeln müssen. Sie ist eine
wichtige Garantin, uns vor dem alltäglichen Angriff des kapitalistischen Systems auf die Jugend,
zu schützen, die jugendliche Haltung und Mentalität aufrecht zu erhalten und auszubilden, um
nicht aufzuhören zu fragen warum und wie.
Ein Schlüssel zur Aneignung unserer Geschichte
und zur Herausbildung unserer Kultur ist Bildung.
Selbstverständlich nicht die Bildung, welche der
Staat offeriert und die uns eine gute Karriere
sichern soll, sondern unsere eigene und selbstbestimmte Bildung mit dem Ziel ein eigenes Bewusstsein zu schaffen und uns letztendlich vom
Kapitalismus zu emanzipieren.
1. Die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission, die einen weiteren Jugendpolitischen
Ratschlag vorbereitet, auf dem die heutigen
Diskussionen weitergeführt und vertieft werden können, damit sich alle teilnehmenden
Organisationen selbstkritisch hinterfragen
und einander annähern können.
3. Gegenseitige Besuche von Veranstaltungen
der einzelnen Organisationen, insbesondere
die Camps und Bildungsveranstaltungen, um
den Austausch fortzuführen, aber auch der
Demos, Vorträge u.ä. und natürlich auch der
Feiern und Feste.
In dem Sinne einer solidarischen Jugend möchten wir alle Jugendlichen und Jugendorganisationen einladen, sich an den angestoßenen Diskussionen zu beteiligen und einen politischen
Prozess gemeinsam zu gestalten.
Mit solidarischen Grüßen,
Verband der Studierenden aus Kurdistan – YXK
Hannover, 26.01.2013
zuerst erschienen in der Ronahî
Um heute möglicherweise einen ersten kleinen
Schritt hin zur Organisierung, Selbstverteidigung,
Entwicklung einer eigenen Ideologie und Herausarbeitung eines eigenen Bewusstseins einer
Jugendbewegung in der BRD zu machen, unterbreiten wir dem Jugendpolitischen Ratschlag den
Vorschlag, eine Resolution zu verabschieden, an
der wir uns und unsere Arbeiten in Zukunft mes72
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