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Menschen _Joanna Thomas Sehnsucht nach der südenglischen Küste Joanna Thomas ist Kuratorin auf der «SS Great Britain», einem bedeutenden Museumsschiff in Bristol. 2015 hat sie zudem mit ihrer Dissertation in maritimer Geschichte, einer Studie über britische Seefahrer im 19. Jahrhundert, begonnen. Ein aussergewöhnlicher Werdegang für eine junge Frau, die zwischen den Bergen des Berner Oberlandes dem Thunersee. Als Teenager war ich hauptsächlich auf einem Laser anzutreffen. Und später gab es eine Zeit, in der ich versuchte, mit meiner Schwester 420er Jolle zu segeln. Aber es blieb beim Versuch (lacht). Wir harmonierten nicht gut zusammen. Segeln Sie heute noch? Ich bin Mitglied in einem Segelklub hier in England. Allerdings gehe ich nicht wöchentlich raus aufs Meer. Wir organisieren fünf Törns pro Jahr. Da bin ich ab und zu selber mit an Bord. Regelmässig an Ostern chartern wir Yachten in Schottland und segeln der schottischen Küste entlang oder hinüber nach Norwegen. Das ist wunderschön. Also bevorzugen Sie die raue See? Generell bringe ich die Stichworte «Meer», «Küste» und «Strand» mit der Wildheit des Atlantiks hier in England in Verbindung. Mir liegt diese Gegend viel mehr am Herzen als die mediterranen und eintönigen Strände Südeuropas. Meine Entscheidung für England hat also auch mit der Sehnsucht nach der südenglischen Küste zu tun. Sie hat mich nach B ristol geführt. Diese Gegend ist eine Art Heimat für mich. Mein Vater stammt aus Cornwall. Cornwall ist eine Halbinsel und damit fast ganz von Wasser umgeben. Ihre Küsten gehören zu den längsten hier. Kommen Sie oft in die Schweiz? Ich versuche, jedes Jahr an Weihnachten meine Familie in Interlaken zu besuchen. Ich freue mich dann jeweils sehr auf die Berge und den Schnee – sofern es welchen hat. Es tut immer wieder gut, die Alpen zu sehen. Und wenn Sie in der Schweiz sind, freuen Sie sich w ieder aufs Meer? Genau (lacht). Beide Länder bedeuten mir sehr viel. Sie arbeiten als Museumskuratorin auf einem alten Dampfschiff, der SS Great Britain. Die Great Britain ist nun ein Museumsschiff. Sie wurde 1843 in Bristol gebaut. Zu jener Zeit hatte man extra für sie neue Dampfmaschinen entwickelt. Die Technologie machte also dank der Great Britain gehörig Fortschritte. Wie genau sahen diese technischen Fortschritte aus? Die Great Britain war das erste Dampfschiff aus Eisen, das mit Propeller statt mit Schaufelradantrieb die See von Liverpool nach New York überquerte. Wofür wurde die SS Great Britain eingesetzt? Sie fuhr zuerst als Passagierschiff und danach, als der Eigner Konkurs anmelden musste, als Emigranten schiff um die ganze Welt. Einsätze als Truppentransporter im Krimkrieg 1855-56 hatte sie auch. Später wurde sie zu einem Segelschiff umgebaut und trug _Die SS Great Britain – das Museumsschiff, auf dem Joanna Thomas Kuratorin ist. aufgewachsen ist. Tania Lienhard Gasson, Lewis, Reynolds Sie leben seit acht Jahren in England, in der Nähe von Bristol. Was führte Sie hierher? Ich wollte unbedingt maritime Geschichte s tudieren. Das kann man in der Schweiz nicht, weshalb ich nach England ging – und auch blieb. Ich habe inzwischen hier geheiratet. Wieso gerade England? Mein Vater ist Engländer. Ich hatte also schon vor Beginn meines Studiums einen starken Bezug zur britischen Insel. Und was fasziniert Sie an maritimer Geschichte? Ich habe in Basel mit einem Geschichts- und Ethno logiestudium begonnen. Mit der Zeit merkte ich, dass ich mein historisches Wissen gerne mit meiner Freude am Nautischen kombinieren möchte. Was verstehen Sie unter «Freude am Nautischen»? Mein Vater hat eine kleine Werft in Interlaken. Ich bin mit Schiffen aufgewachsen. Ich liebe den Geruch von Schiffsmotoren und Holz und habe diese Düfte immer noch oft in meiner Nase. Dann ist Wasser Ihr Element? Naja, ich fühle mich deutlich wohler auf dem W asser als im Wasser. In welcher Form am liebsten? Ich segle schon lange. Bereits mit sieben Jahren habe ich angefangen, Optimist zu segeln. Ich war sehr viel im Boot unterwegs und genoss die Momente auf 6 marina.ch_Dezember_2015 / Januar_2016 marina.ch_Dezember_2015 / Januar_2016 7 Menschen _Joanna Thomas _01 _02 _01 Propeller statt Schaufelradantrieb. _02 Joanna Thomas pflegt sorgfältig ein Schiffsmodell. 1886 etliche Beschädigungen aus einem heftigen Sturm d avon. Danach überliess man die Great Britain auf den Falklandinseln lange ihrem Schicksal und verwendete sie als Kohlenhulk, also einfach als schwimmendes Kohlendepot. Wie kam die Great Britain dann zurück nach Bristol? In den 1960er Jahren kam ein Schiffbauingenieur auf die Idee, das Schiff zu retten und zurück in seinen «» Meine Entscheidung für England hat also auch mit der Sehnsucht nach der süd englischen Küste zu tun. Heimathafen zu bringen. Er realisierte, wie wichtig es für die Geschichte maritimer Technologie ist. Nun liegt es im selben Trockendock, in dem es damals gebaut worden war. Und dient nun als Museum. Ja. Einerseits ist das Schiff selber ein Museums objekt: Die Kabinen, die Küche, die Speisesäle, alles ist restauriert. Andererseits präsentieren wir verschie dene nautische Sammlungen in einem Museum n eben dem Schiff. Welches ist Ihre Aufgabe als Kuratorin? Ich bin verantwortlich für die Sammlungen und das Schiff, das ja wie gesagt Museum und gleichzeitig 8 marina.ch_Dezember_2015 / Januar_2016 Teil der Sammlung ist. Neben der Great Britain sind Tagebücher von Menschen ausgestellt, die mit eben diesem Schiff nach Australien ausgewandert sind. Es gibt auch Bücher, Logbücher und alte Fotografien eines Sammlers, der alle seine Dokumente unserem Museum überlassen hat. Diese Dokumente zeigen Daten und Bilder alter Segelschiffe, die als Frachtschiffe Waren auf der ganzen Welt verteilt haben. Das Material muss untersucht, aufgelistet und doku mentiert werden. Die Sammlung ist enorm. erarbeitet. Oft starteten sie als arme Bäckerssöhne oder kamen von einem anderen Handwerk, das kaum Geld einbrachte. Wie also schafften sie es, reiche Seefahrer zu werden? Das klingt nach viel Arbeit. Ja, das ist es. Viel – aber auch interessant. Seit e inigen Wochen arbeite ich jedoch nur noch zwanzig P rozent für das Museum. Ein interessantes Forschungsthema… Finde ich auch. Ich bin darauf gekommen, weil ich bereits für meine Masterarbeit zu einem ähnlichen Thema geforscht habe: Ich schrieb über Frauen auf hoher See. So kam ich in Berührung mit den Besatzungen auf Schiffen im 19. Jahrhundert. Warum? Ich habe mit meiner Doktorarbeit an der Universität in Exeter angefangen. Mein Ziel war es schon i mmer, eine Dissertation zu verfassen. Nach meinem Master-Abschluss brauchte ich eine Pause von der Uni. Mein Job auf der Great Britain war da eine willkommene Abwechslung – auch deshalb, weil ich dort meine Ausbildung zur Museumskuratorin machen konnte. Nun habe ich glücklicherweise ein voll bezahltes S tipendium für mein Doktorat erhalten. Wie lautet das Thema Ihrer Forschungsarbeit? Ich mache eine soziale und ökonomische Studie über britische Seefahrer im 19. Jahrhundert: Wer waren sie? Wie viel Segelerfahrung hatten sie? Welche Schiffe nutzten sie? In wessen Auftrag fuhren sie zur See? Einige der Seefahrer haben sich Reichtum Wie schafften sie es? Kurz: Schiffe wurden zu 64 Teilen in Aktien verkauft. Clevere Seefahrer kauften sich solche Anteile, während sie weiterhin zur See fuhren. Und verdienten sich eine goldene Nase damit. Liebe Frau Thomas, besten Dank für das Gespräch und alles Gute. marina.ch Ralligweg 10 3012 Bern Joanna Thomas Joanna Thomas, 1985 geboren, ist Kuratorin auf dem Museumsschiff SS Great Britain. Sie ist in Interlaken aufgewachsen und hat auf dem Thunersee segeln gelernt. Seit acht Jahren lebt sie in England und hat dort 2015 geheiratet. Joanna Thomas arbeitet zurzeit an ihrer Dissertation in maritimer Geschichte. Tel. 031 301 00 31 marina@marina-online.ch www.marina-online.ch Tel. Abodienst: 031 300 62 56