Der Mord an psychisch kranken und behinderten

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Der Mord an psychisch kranken und behinderten
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Der Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen.
Eine Forschungsbilanz
Hans-Walter Schmuhl
Langfassung des Artikels in Dr. med. Mabuse Nr. 165,
Januar/Februar 2007, S. 45-48
Seit sechzig Jahren ist der Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen im nationalsozialistischen Deutschland Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung –
Grund genug, einmal innezuhalten, Trends und Tendenzen nachzuzeichnen, Bilanz zu ziehen.
Mehr noch: Die Forschung zur NS-„Euthanasie“ ist selbst schon ein Stück deutscher Zeitgeschichte geworden. In ihrer eigentümlichen Wellenbewegung spiegeln sich die Gezeiten deutscher Vergangenheitspolitik wider. Ein erster Wellenkamm ist bereits in den Jahren von 1945
bis 1949 zu erkennen – Ausdruck einer intensiven Auseinandersetzung mit den Staatsverbrechen des Nationalsozialismus und des Willens zu einem grundlegenden Neuanfang in der
Medizin. Dann folgte in den 1950er Jahren ein tiefes Wellental. In diesem Jahrzehnt der „gesellschaftlichen Stille“ (Hermann Lübbe) geriet die NS-„Euthanasie“ fast völlig in Vergessenheit, fiel die Forschung weit hinter den bis 1949 erreichten Stand zurück. Ab den 1960er
Jahren baute sich allmählich ein neuer Wellenberg auf. Hier deutete sich bereits der gesellschaftliche Um- und Aufbruch von 1968 an, der auf dem Feld der Psychiatrie in den 1970er
Jahren in einen langfristigen Reformprozess einmündete, in dessen Gefolge wiederum seit
den 1980er Jahren eine regelrechte Flut neuer, kritischer Forschungen zur NS-„Euthanasie“
erschien. Folgen wir diesem Gezeitenwechsel.
Bereits in den ersten Nachkriegsjahren setzte eine intensive Forschung zum Mord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen im Nationalsozialismus ein. Die in dieser
Zeitspanne entstandenen Arbeiten stammten fast ausschließlich von Ärzten, die zunächst von
den alliierten, später von den deutschen Gerichten und Behörden zur Mitarbeit an der strafrechtlichen Verfolgung der für die NS-„Euthanasie“ Verantwortlichen herangezogen wurden.
An erster Stelle sind hier die Veröffentlichungen zu nennen, die im Zusammenhang mit dem
Ärzteprozess standen, der vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 vor dem Ersten
Amerikanischen Gerichtshof hier in Nürnberg stattfand. Das Verfahren wurde von einer deutschen Ärztekommission beobachtet, bestehend aus Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und
Alice Platen-Hallermund.1 Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der im Auftrag der
1
Drei weitere Kommissionsmitglieder sprangen rasch ab. Zum Hintergrund: Jürgen Peter, Unmittelbare Reaktionen auf den Prozeß, in: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hgg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger
Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2002, S. 452-475.
2
Westdeutschen Ärztekammern die Leitung dieser Kommission übernommen hatte, gab noch
während des Prozesses – gemeinsam mit Fred Mielke – eine Broschüre mit dem Titel „Das
Diktat der Menschenverachtung“ heraus. Obwohl diese Schrift in der Ärzteschaft als Nestbeschmutzung heftig angefeindet wurde, beauftragte der 51. Deutsche Ärztetag, der am 16./17.
Oktober 1948 in Stuttgart tagte, die Verfasser, einen ausführlichen Abschlussbericht vorzulegen. Er erschien unter dem Titel „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ im Jahre 1949 in einer
Auflage von 10.000 Exemplaren, die für den Gebrauch der Ärztekammern bestimmt waren.
Im Gegensatz zur ersten Fassung wurde diese Veröffentlichung in der Ärzteschaft totgeschwiegen – das Buch verschwand ganz einfach in der Versenkung. Nachweislich hat es nur
dem Weltärztebund vorgelegen, der es zum Anlass nahm, die deutsche Ärzteschaft wieder in
seine Reihen aufzunehmen. Erst eine Neuausgabe im Jahre 1960 – nunmehr unter dem Titel
„Medizin ohne Menschlichkeit“ – fand in der Öffentlichkeit weitere Verbreitung.2
Aus der Deutschen Ärztekommission beim Nürnberger Ärzteprozess ging auch die Arbeit
über „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ von Alice Platen-Hallermund hervor, die
erstmals – unter besonderer Berücksichtigung des Gaus Hessen-Nassau – eine geschlossene
Darstellung der Kinder-„Euthanasie“ und der „Aktion T4“ vorlegte. Es blieb über zwei Jahrzehnte hinweg die einzige und dann noch lange Zeit unübertroffene Gesamtdarstellung im
deutschen Sprachraum. Lange Zeit auch war das Buch aus den Regalen der deutschen Bibliotheken nahezu verschwunden und für die nachwachsende Forschergeneration kaum greifbar.
Erst durch den Reprint im Jahre 1993 wurde es für breitere Leserschichten erreichbar.3
In den frühen Nachkriegsjahren entstanden auch erste Regional- und Lokalstudien. Dazu
gehörte die von Robert Poltrot unter dem in Frageform gekleideten Titel „Die Ermordeten
waren schuldig?“ herausgegebene Dokumentation der französischen Militärregierung, die
schwerpunktmäßig die „Euthanasie“ im südwestdeutschen Raum beleuchtete – aufgrund einer
fragwürdigen Quellenauswahl unter einem ungewollt apologetischen Akzent.4 Von bleibendem Wert dagegen war der Bericht des im Juni 1945 zum Kommissarischen Leiter der Anstalt
Eglfing-Haar bei München bestellten Psychiaters Gerhardt Schmidt über die „Selektion in der
Heilanstalt 1939 – 1945“, der einerseits bereits quantifizierende Daten, etwa zu den Selektionskriterien, bot, andererseits – besonders wertvoll – in Form von Interviews mit überleben2
Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und
seine Quellen, Heidelberg 1947; dies., Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege
unter Diktatur, Bürokratie und Krieg, Heidelberg 1949; dies., Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des
Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt 1960/14. Aufl. 1997.
3
Alice Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Aus der Deutschen Ärztekommission
beim amerikanischen Militärgericht, Frankfurt 1948/ND Bonn 1993/5. Aufl. 2005.
4
Robert Poltrot, Die Ermordeten waren schuldig? Amtliche Dokumente der Direction de la Santé Publique der
französischen Militärregierung, Baden-Baden 1947/2. Aufl. 1949.
3
den Patienten Einblicke in die Erlebniswelten der Gequälten und Gedemütigten gab. Obwohl
diese Arbeit bereits im Jahre 1946 fertig gestellt wurde, fand sich erst 1965 ein Verleger zur
Veröffentlichung bereit.5 Selbst unverdächtige Psychiater lehnten eine Veröffentlichung des
Manuskripts ab. So meinte Kurt Schneider, „dass man dem Stand des Psychiaters, ja des
deutschen Arztes überhaupt, und dem Wiederaufbau und der Bemühung um neues Vertrauen
einen schlechten Dienst erweist, wenn man diese Dinge so mit Einzelheiten aufrollt.“6 Deutlich erkennbar ist hier das Bemühen, zunächst einmal Zeit zu gewinnen, um das zerstörte Vertrauen in die Psychiatrie wiederaufbauen zu können. 1983 wurde die Studie von Schmidt als
Taschenbuch neu herausgegeben und fand endlich die Beachtung, die sie verdient.
Obwohl diese frühen Arbeiten als Dokumentationen angelegt waren, gingen sie weit über
das Sammeln von Faktenwissen hinaus – sie suchten nach Deutungen des Geschehens und
eröffneten dabei Horizonte und Perspektiven, die über die bloße moralische und juristische
Schuldzuweisung hinauswiesen. In diesem Zusammenhang sind auch die Schriften „Um die
Menschenrechte der Geisteskranken“ von Werner Leibbrand und „’Euthanasie’ und Menschenversuche“ von Viktor v. Weizsäcker zu nennen.7 Weizsäckers Schrift war symptomatisch
für eine Interpretation, die lange Zeit vorherrschend blieb. Sie führte die Medizinverbrechen
unter der Herrschaft des Nationalsozialismus darauf zurück, dass die Medizin zu Beginn des
20. Jahrhunderts allzu sehr „naturwissenschaftliche Technik“ geworden sei, die den Menschen nur noch als „Objekt“ behandelt habe. Diese „Denkweise einer Medizin, welche den
Menschen betrachtet wie ein chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein Versuchskaninchen“ habe, so Weizsäcker, der „moralische[n] Anästhesie gegenüber den Leiden der zu Euthanasie und Experimenten Ausgewählten“8 Vorschub geleistet. Viktor v. Weizsäckers Beitrag kann man als versteckte Selbstrechtfertigung lesen. Als Verfechter einer psychosomatischen Medizin schob er den Schwarzen Peter einer streng naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin zu und verschwieg dabei, dass er selber, seit 1941 Ordinarius für Neurologie an
der Universität Breslau, Gehirne und Rückenmark von Kindern, die in der „Kinderfachabteilung“ Loben in Oberschlesien ermordet worden waren, in dem ihm unterstehenden Neurologischen Institut hatte untersuchen lassen.9
5
Gerhard Schmidt, Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Stuttgart 1965/Frankfurt 1983.
Kurt Schneider an Gerhard Schmidt, 16. März 1947, zit. nach Dirk Blasius, Psychiatrischer Mord in der Zeit
des Nationalsozialismus. Perspektiven und Befunde, in: Christina Vanja/Martin Vogt (Bearb.), Euthanasie in
Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Kassel 1991, S. 51-58, Zitat: S.
54.
7
Werner Leibbrand, Um die Menschenrechte der Geisteskranken, Nürnberg 1946; Viktor v. Weizsäcker, „Euthanasie“ und Menschenversuche, Heidelberg 1947.
8
v. Weizsäcker, „Euthanasie“, S. 15, 39.
9
Karl Heinz Roth, Psychosomatische Medizin und „Euthanasie“: Der Fall Viktor v. Weizsäcker, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1 (1986), S. 65-99.
6
4
Unter dem Eindruck des Kalten Krieges kam die strafrechtliche Verfolgung der NS„Euthanasie“, nunmehr den deutschen Gerichten übertragen, weitgehend zum Erliegen. Auch
die Forschung zur „Euthanasie“ lag in den 1950er Jahren brach – ja, die Verdrängung des
Geschehenen ging so weit, dass der längst erreichte Wissensstand wieder in Vergessenheit
geriet. Erst zu Beginn der 1960er Jahre kam die Diskussion wieder in Gang. Anlass war die
Enttarnung des unter einem Falschnamen in der Bundesrepublik praktizierenden ersten ärztlichen Leiters der „Euthanasie“-Zentrale, Werner Heyde, im Jahre 1959 – er beging kurz vor
der Eröffnung der Hauptverhandlung gegen ihn im Jahre 1964 unter ungeklärten Umständen
in der Untersuchungshaft Suizid.10 Hinzu kamen die apologetischen Traktate
eines der
Hauptbeteiligten an der „Kindereuthanasie“, des Pädiaters Werner Catel, zu Beginn der
1960er Jahre.11
Das Diskussionsniveau war jedoch im Vergleich zu den ersten Nachkriegsjahren deutlich
gesunken. Juristisch orientierte Arbeiten – etwa die von dem Ostberliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul vorgelegte Gesamtdarstellung der „Nazimordaktion T4“12 – entbehrten, da sie
primär um den Nachweis von Schuld und Mitschuld bemüht waren, eines übergeordneten
Deutungsrahmens. In der medizinischen Literatur hatte sich inzwischen eine apologetische
Tendenz durchgesetzt, welche die NS-„Euthanasie“ nicht von innen her – aus Entwicklungen
innerhalb des gesellschaftlichen Subsystems Medizin –, sondern von außen her, als „Einbruch
der Unmenschlichkeit und des Ungeistes in die Medizin“,13 verstand. „Die missbrauchte und
geschändete Psychiatrie“ sei „Opfer der Partei- und Staatsdoktrin“ geworden. Die Psychiater,
die als „Schrittmacher oder Vollzugsgehilfen“14 an dem Massenmord beteiligt gewesen seien,
wurden als „beruflich unerfahrene, politisch zuverlässige Ärzte“ abgestempelt und als
schwarze Schafe aus der ärztlichen Zunft ausgegrenzt. „Die Hauptbeteiligten sind tot, suizidiert, hingerichtet.“15 Auf diese Weise glaubte man, das Kapitel Psychiatrie im Nationalsozialismus abschließen zu können. Indem man die „Euthanasie“ aus ihren gesellschaftlichen Zu10
Vgl. Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Die Heyde/Sawade-Affäre. Wie Juristen und Mediziner den NSEuthanasieprofessor Heyde nach 1945 deckten und straflos blieben, Baden-Baden 1998; Thomas Vormbaum
(Hg.), „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Dr.
Werner Heyde u.a. vom 22. Mai 1962, Berlin 2005.
11
Werner Catel, Grenzsituationen des Lebens. Beitrag zum Problem der begrenzten Euthanasie, Nürnberg 1962;
ders., Leidminderung richtig verstanden, Nürnberg 1966.
12
Friedrich Karl Kaul, Die Psychiatrie im Strudel der „Euthanasie“. Ein Bericht über die erste industriemäßig
durchgeführte Mordaktion des Naziregimes, Köln u.a. 1979.
13
Walter Ritter v. Baeyer, Die Bestätigung der NS-Ideologie in der Medizin – unter besonderer Berücksichtigung der „Euthanasie“, in: Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966, S. 63-75, hier: S. 63.
Vgl. auch Franz-Werner Kersting, Vor Ernst Klee. Die Hypothek der NS-Medizinverbrechen als Reformimpuls,
in: ders. (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 63-85.
14
Hans Jörg Weitbrecht, Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus, Bonn 1968, S. 9.
15
Walter Schulte, „Euthanasie“ und Sterilisation im Dritten Reich, in: Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, hg. v. Andreas Flitner, Tübingen 1965, S. 73-89, Zitate: S. 81, 84.
5
sammenhängen riss, erklärte man sie zu einer Episode, schrecklich zwar, aber einmalig und
unwiederholbar, der Geschichte gleichsam entrückt. Auch die – ansonsten vorzügliche – Arbeit von Helmut Ehrhardt über „Euthanasie und Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aus
dem Jahr 1965 ist nicht frei von solchen Tendenzen.16
Weite Horizonte – sowohl im Hinblick auf die der Medizin der 1920er/30er Jahre innewohnende „imperialistische Denkstruktur“ als auch in Richtung einer Einbettung des „Euthanasie“-Geschehens in die Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus – eröffnete 1967 Klaus
Dörner mit seinem originellen Aufsatz „Nationalsozialismus und Lebensvernichtung“.17 Obwohl dieser Beitrag in den renommierten „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ erschien,
wurde er in der Historikerzunft nur zögerlich aufgenommen – einige kluge Bemerkungen von
Martin Broszat über den Zusammenhang von Vernichtungspolitik und Herrschaftsstruktur,
die brillante Studie von Lothar Gruchmann über „Euthanasie und Justiz“ und ein paar biedere
Beiträge von Karl Dietrich Erdmann, das war vorerst alles.18 Auf dem Feld der kirchlichen
Zeitgeschichte setzte der Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak mit seiner theologischen
Dissertation aus dem Jahr 1971 einen Markstein – er räumte endgültig mit den Legenden der
„Kirchenkampfgeschichtsschreibung“ auf.19
Es dauerte dann aber noch bis zum Ende der 1970er Jahre, bis die Forschung auf breiter
Front in Bewegung kam. Die entscheidenden Impulse kamen aus der Psychiatrie. Unter dem
Eindruck des niederschmetternden Berichts der Enquêtekommission der Bundesregierung zur
Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und der mühsam ins Rollen kommenden Psychiatriereform begannen psychiatrisch Tätige, die Geschichte ihres Fachs im Nationalsozialismus kritisch zu reflektieren. Genannt sei nur die Denkschrift der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie zum vierzigsten Jahrestag des Beginns der NS-„Euthanasie“
am 1. September 1979. Kurz zuvor, im Mai 1979 tagte im Psychiatrischen Krankenhaus Rickling in Schleswig-Holstein eine Arbeitsgruppe, deren Ergebnisse in dem viel beachteten
Sammelband „Der Krieg gegen die psychisch Kranken“ veröffentlicht wurden.20 Kräftige
16
Helmut Ehrhardt, Euthanasie und Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens, Stuttgart 1965.
Klaus Dörner, Nationalsozialismus und Lebensvernichtung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967),
S. 121-52.
18
Martin Broszat, Der Staat Hitlers, München 1969, S. 398-403; Karl Dietrich Erdmann, „Lebensunwertes Leben“. Totalitäre Lebensvernichtung und das Problem der Euthanasie, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 26 (1975), S. 215-225; ders., Judenvernichtung und „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“, in: KarlDietrich Bracher u.a. (Hg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933 – 1945, Bonn 1983, S. 529-538; Lothar
Gruchmann, Euthanasie und Justiz im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 235279.
19
Kurt Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und
katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und der „Euthanasie“-Aktion,
Göttingen 1978/3. Auflage 1984.
20
Klaus Dörner u.a. (Hg.), Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Nach „Holocaust“: Erkennen – Trauern –
Begegnen, Rehberg-Loccum 1980.
17
6
Impulse gingen auch von dem parallel zum 83. Deutschen Ärztetag im Mai 1980 stattfindenden Berliner Gesundheitstag aus, der unter dem Motto „Medizin und Nationalsozialismus.
Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition“ stand.21 Viele Initiativen dieser Art
folgten. Seitdem ist, angeregt auch durch den Paradigmawechsel in der Geschichtswissenschaft hin zur Alltagsgeschichte und die Bewegung der Geschichtswerkstätten, eine Vielzahl
von teilweise vorzüglichen Lokal- und Regionalstudien von psychiatrisch Tätigen erschienen,
die sich mit der Vergangenheit ihrer eigenen Einrichtung befassten, so dass es heute – was die
„Euthanasie“-Forschung angeht – nur noch wenige weiße Flecken auf der Landkarte gibt –
und wo es sie noch gibt, vor allem im Osten des früheren Deutschen Reiches, da füllen sie
sich in rasantem Tempo.
Durch die Impulse aus der Psychiatrie – und auch mächtig vorangetrieben durch das enorme
Echo auf die Studien des Journalisten Ernst Klee in den 1980er Jahren22 – haben sich auch die
allgemeine Geschichtswissenschaft und die Medizingeschichte dem Thema „Euthanasie im
Nationalsozialismus“ zugewandt. Dirk Blasius hat im
ereich der allgemeinen Geschichte
mit seinen psychiatriegeschichtlichen Arbeiten bahnbrechend gewirkt,23 und auch meine eigene Dissertation mag in der Zunft das eine oder andere angestoßen haben.24 War die „Euthanasie“ noch zu Beginn der 1980er Jahre in den Standardwerken zum „Dritten Reich“ in die
Fußnoten verbannt – wenn sie denn überhaupt vorkam –, so nimmt sie in neueren Überblicksdarstellungen – so etwa bei Ludolf Herbst – den ihr gebührenden Raum ein.25 Auch der vierte
Band von Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“26 berücksichtigt die NS„Euthanasie“, wenn diese auch meines Erachtens in ihrer Bedeutung verkannt wird – denn der
Mord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen ist für eine Gesellschaftsgeschichte des „Dritten Reiches“ zentral, stellt er doch nichts weniger dar als den Versuch,
durch eine groß angelegte Biopolitik die Gesellschaft und ihren Aufbau von Grund auf umzugestalten.
Es würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen, wollte ich versuchen, alle Erkenntnisfortschritte der letzten zweieinhalb Jahrzehnte nachzuzeichnen. Kaum ein Feld der Zeitgeschichte
ist zuletzt so intensiv bearbeitet worden, und die Spezialliteratur über die NS-„Euthanasie“ ist
21
Gerhard Baader/Ulrich Schultz (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?, Berlin 1980.
22
Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, Frankfurt 1983/8. Aufl. 1997; ders. (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt 1985/4. Aufl. 1997; ders., Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte
am Kranken- und Judenmord, Frankfurt 1986/10. Aufl. 1998.
23
Dirk Blasius, „Einfache Seelenstörung“. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, Frankfurt 1994.
24
Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung
„lebensunwerten Lebens“, 1890-1945, Göttingen 1987/2. Aufl. 1992.
25
Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Frankfurt 1996, S. 271-274.
7
selbst für Fachleute kaum noch zu überblicken.27 Es fehlt im Grunde genommen eine neue
Gesamtdarstellung, die die Befunde der letzten zweieinhalb Jahrzehnte bündelt. Ich will mich
an dieser Stelle darauf beschränken, sieben große Linien anzudeuten, die mir besonders bedeutsam erscheinen:
Erstens hat die Forschung der letzten fünfundzwanzig Jahre gezeigt, dass die Dimensionen des Massenmordes an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen noch viel
größer waren, als früher angenommen wurde. Die Forschung im Gefolge des Nürnberger Ärzteprozesses erfasste nur einen Ausschnitt des furchtbaren Geschehens. Heute unterscheiden
wir zu analytischen Zwecken sechs verschiedene Formen und Phasen der „Euthanasie“:
•
die Erschießung und Vergasung von polnischen und deutschen Patienten in den
Reichgauen Danzig-Wartheland und Westpreußen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs;
•
die Erfassung, Begutachtung und Ermordung von mindestens 5.000 Kindern und Jugendlichen in 38 „Kinderfachabteilungen“ unter der Regie des „Reichsausschusses zur
wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in den
Jahren von 1939 bis 1945;
•
die „Aktion T4“, die Vergasung von etwa 70.000 Patienten aus den deutschen Heilund Pflegeanstalten in sechs mit Gaskammern ausgerüsteten Anstalten von Januar
1940 bis August 1941, die von der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ in Verbindung mit der Kanzlei des Führers und der Unterabteilung Erb- und Rassenpflege des Reichsinnenministeriums ins Werk gesetzt wurde;
•
die „Sonderaktion“ gegen 1.000 bis 2.000 jüdische Patienten im Jahre 1940;
•
der „regionalisierte Patientenmord“28 d.h. die Fortführung der „Euthanasie“ nach dem
Stopp der „Aktion T4“ in vielen Heil- und Pflegeanstalten, die nun nicht mehr zentral
gesteuert, sondern von den Mittelinstanzen – den Landes- und Provinzialverwaltungen
– getragen wurden;
•
und schließlich den Versuch der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten
im Sommer 1943, die „Aktion Brandt“ zur Errichtung von Ausweichkrankenhäusern
26
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur
Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949, München 2003, S. 664-675.
27
Bis Mitte der 1990er Jahre wird der Forschungsstand zuverlässig erschlossen durch die Bibliographie von
Christoph Beck, Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung „lebensunwerten“
Lebens. Eine Bibliographie zum Umgang mit behinderten Menschen im „Dritten Reich“ – und heute, Bonn
1992/2. Aufl. 1995. – Aus der internationalen Literatur: Robert Proctor, Racial Hygiene. Medicine under the
Nazis, Cambridge/Mass. u.a. 1988; Michael Burleigh, Death and Deliverance. ‚Euthanasia’ in Germany 19001945, Cambridge u.a. 1994; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung,
Berlin 1997.
28
So der von Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und
Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939 – 1945, München 2003, S. 311-350.
8
in Heil- und Pflegeanstalten abseits der luftkrieggefährdeten Gebiete zu nutzen, um
die dadurch notwendig gewordenen großräumigen Verlegungen von Psychiatriepatienten in die noch bestehenden „Euthanasie“-Zentren zu lenken und damit den weiter andauernden Massenmord wieder zentraler Kontrolle zu unterwerfen.
Die Gesamtzahl der Opfer musste in den letzten Jahren stetig nach oben korrigiert werden.
Während meine eigene, freilich sehr konservative Schätzung Mitte der 1980er Jahre von mindestens 100.000 Opfern ausging, beläuft sich die neueste, von Heinz Faulstich vorgelegte,
empirisch fundierte Schätzung auf 196.000 Opfer in den Grenzen des Deutschen Reiches
(einschließlich der annektierten Gebiete) zwischen 1939 und 1945. Hier zeichnet sich ab, dass
die Mehrzahl der Opfer nach dem August 1941, also nach dem offiziellen Stopp der „Aktion
T4“ ums Leben kam. Rechnet man die etwa 80.000 Toten in polnischen, sowjetischen und
französischen Anstalten sowie die etwa 20.000 in den „Euthanasie“-Anstalten ermordeten
KZ-Häftlinge hinzu, erhöht sich die Opferzahl auf fast 300.000 – eine schier unfassbare
Zahl.29
Zweitens hat sich gezeigt, dass die „Euthanasie“ nicht das Ergebnis eines Master-Plans war,
den die Nationalsozialisten von langer Hand entworfen und Zug um Zug in die Wirklichkeit
umgesetzt hätten. Vielmehr stand der Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen am Ende eines Prozesses kumulativer Radikalisierung, der sich aus der spezifischen Herrschaftsstruktur des NS-Regimes ergab. Dabei griffen ein charismatischer Legitimitätsanspruch, der sich mit einer biopolitischen Utopie verband, und ein polykratisches
Herrschaftssystem ineinander, in dem der überkommene Staat in eine Vielzahl von konkurrierenden Machtzentren zerfiel, die nur durch die Integrationsfigur des charismatischen Führers
zusammengehalten wurden. Die Folge war, dass diese konfligierenden Machtzentren in einem
im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Konkurrenzkampf versuchten, sich in Verfolg
der biopolitischen Leitutopie an Radikalität gegenseitig zu überbieten. Dieses Interpretationsmuster, das ich seinerzeit in Anlehnung an Theorieangebote von Ernst Fraenkel, Franz
Neumann, Martin Broszat und Hans Mommsen entwickelt habe,30 hat in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten nach meinem Eindruck seine Erklärungskraft bewiesen – bis hin zu den
jüngsten Forschungen zur Rolle der Provinzial- und Landesregierungen in den späten Phasen
der „Euthanasie“. Die neuesten Studien – vor allem Winfried Süß großes Buch „Der Volkskörper im Krieg“ verweisen allerdings auf die Notwendigkeit, den Zweiten Weltkrieg als ent29
Heinz Faulstich, Die Zahl der „Euthanasie“-Opfer, in: Andreas Frewer/Clemens Eickhoff (Hg.), „Euthanasie“
und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, S. 218–234.
30
Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt 1974; Franz Neumann, Behemoth, Köln 1977; Broszat, Staat Hitlers; Hans Mommsen, Ausnahmezustand als Herrschaftstechnik des NS-Regimes, in: Manfred Funke (Hg.),
Hitler, Deutschland und die Mächte, Düsseldorf 1976, S. 30-45.
9
scheidende Rahmenbedingung der „Euthanasie“ weiter in den Vordergrund zu rücken und die
besondere Ausprägung des „Kriegsnationalsozialismus“ schärfer herauszuarbeiten, als wir
dies bislang getan haben.
Drittens ist seit Anfang der 1980er Jahre der überaus enge Zusammenhang zwischen „Euthanasie“ und „Holocaust“ deutlich geworden. Die großen Verbindungslinien – die gezielte
Ermordung der jüdischen Psychiatriepatienten, die „Sonderaktion 14f13“, bei denen die jüdischen KZ-Häftlinge in das Fadenkreuz der selektierenden T4-Ärzte gerieten, und schließlich
der Transfer der Vergasungstechnik und des Personals hin zu den Vernichtungsstätten im Osten, nach Chelmno, Belzec, Treblinka und Sobibor – sind immer deutlicher herausgearbeitet
worden. Heute besteht weithin Einigkeit darüber, dass die „Euthanasie“ die Vorstufe zum
Holocaust war. Was aber bedeutet das für die Genesis der „Endlösung“? Die zeitgeschichtliche Forschung ging lange Zeit davon aus, dass die Judenvernichtung bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beschlossene Sache war. Vor diesem Hintergrund wäre der
„Euthanasie“-Aktion die Funktion einer Generalprobe zuzuschreiben. Die neuere Zeitgeschichtsforschung neigt dagegen der Ansicht zu, dass die „Endlösung der Judenfrage“ in der
NS-Ideologie zwar als logische Konsequenz, nicht aber als praktischer Plan angelegt war. Sie
datiert den Wendepunkt, an dem die Judenverfolgung in die Judenvernichtung umschlug, in
das Jahr 1941. Die meisten Autoren vermuten, dass Hitler im Zeitraum von September bis
Dezember 1941 einen mündlichen Geheimbefehl zur Judenvernichtung gab. Dagegen haben
zwei renommierte deutsche Zeithistoriker, Martin Broszat und Hans Mommsen, die These
aufgestellt, „daß es überhaupt keinen umfassenden allgemeinen Vernichtungsbefehl gegeben
hat, das Programm der Judenvernichtung sich vielmehr aus Einzelaktionen heraus bis zum
Frühjahr 1942 allmählich institutionell und faktisch entwickelte.“31 Diesem Deutungsansatz
zufolge wurde im Sommer und Herbst 1941 die Deportation der europäischen Juden in die
Wege geleitet, ohne dass man sich über ihre letzten Zwecke und Ziele im Klaren war. Dahinter standen Pläne, die Juden in Lagern östlich des Urals unterzubringen, um sie durch Arbeit
zu vernichten. Parallel dazu existierten aber auch immer noch Pläne, die Juden zunächst in die
Ostgebiete zu deportieren, um sie nach Kriegsende nach Madagaskar zu verschiffen. Im
Herbst 1941 hatten sich die Verantwortlichen auf jeden Fall so weit auf ihr Deportationsprogramm festgelegt, dass sie die Deportationen auch dann nicht abbrachen, als der deutsche
Vormarsch im Winter 1941 ins Stocken geriet. Weil der für die deportierten Juden zur Verfü31
Martin Broszat, Hitler und die Genesis der „Endlösung“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S.
739-75, Zitat: S. 753, Anm. 26. Vgl. Hans Mommsen, Die Realisierung des Utopischen: Die „Endlösung der
Judenfrage“ im „Dritten Reich“, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 381-420. Vgl. Peter Longerich,
Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S.
419-72.
10
gung stehende Raum immer enger wurde, entstand im Reichsgau Wartheland, im Generalgouvernement und in den besetzten Gebieten der Sowjetunion eine katastrophale Situation,
die gegen Ende des Jahres 1941 Entschlüsse heranreifen ließ, zumindest kranke und arbeitsunfähige Juden zu töten, um in den Ghettos Platz für weitere Deportationen zu schaffen.
Dieser Erklärungsansatz kann – wie auch alle anderen von der Zeitgeschichtsforschung bereitgestellten Deutungsmuster zur Entstehung der „Endlösung“ – weder bewiesen noch widerlegt werden. Er kann jedoch ein hohes Maß an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen,
denn die vorhandenen Quellen fügen sich recht gut in dieses Interpretationsmodell. Wenn die
Massenmorde an Juden aber tatsächlich zunächst eine Art von Verlegenheitslösung darstellten, musste es sich als verhängnisvoll herausstellen, dass infolge der „Euthanasie“-Aktion
eine perfekte Liquidierungsmaschinerie zur Verfügung stand. Dieser Umstand trug entscheidend zur Verselbständigung der Vernichtung bei, so dass schließlich das ursprüngliche Deportationsprogramm ganz in den Dienst des Völkermordes gestellt wurde. Im Radikalisierungsprozess der NS-Judenpolitik spielte die „Euthanasie“-Aktion am Wendepunkt von der
Verfolgung zur Vernichtung mithin die Rolle eines Katalysators – und wie in der Chemie
manche Reaktion ohne Katalysator nicht zustande kommt, so kann man die These wagen,
dass die „Euthanasie“ vielleicht die entscheidende Bedingung der Möglichkeit für den Holocaust war.
Viertens: Ein großer Erkenntnisgewinn hat sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten daraus ergeben, dass die NS-„Euthanasie“ in den Kontext der deutschen Psychiatriegeschichte
gestellt wurde.32 Es hat sich gezeigt, dass im Ideenhaushalt der an der „Euthanasie“ beteiligten wissenschaftlichen Funktionseliten Heilen und Vernichten eng miteinander verschränkt
waren. In den 1920er/30er Jahren gab es in der psychiatrischen Praxis einen starken Entwicklungsschub. Durch die Einführung neuartiger Therapiemethoden, namentlich der Aktiveren
Krankenbehandlung nach Hermann Simon, der Offenen Fürsorge nach dem Erlanger Modell,
der Insulinschock- sowie der Cardiazol- und Elektrokrampftherapie, schienen überraschende
Heilerfolge erzielt worden zu sein. Man war zuversichtlich, die Grenzen zwischen heilbarer
und unheilbarer Geisteskrankheit in absehbarer Zeit entscheidend verschieben zu können.
Allenthalben herrschte Aufbruchstimmung. Auf der anderen Seite waren die Anstalten hoffnungslos überfüllt. Gleichzeitig nahm der Anteil der Langzeitpatienten zu. Die Pflegesätze
wurden gesenkt. Die Bettenkapazität stagnierte. Dies alles zusammengenommen warf eine
furchtbare Frage auf: Wenn die Möglichkeiten der Anstaltspsychiatrie kaum ausreichten, um
32
Wegweisend: Hans-Ludwig Siemen, Menschen blieben auf der Strecke... Psychiatrie zwischen Reform und
Nationalsozialismus, Gütersloh 1987. Vgl. auch Franz-Werner Kersting/Hans-Walter Schmuhl (Hgg.), Quellen
zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen, Bd. 2: 1914 – 1955, Paderborn 2004.
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denjenigen Patienten, die man heilen zu können glaubte, wirksam Hilfe zu leisten, war es
dann eigentlich zu verantworten, dass Arbeitskraft und Anstaltsraum verschwendet wurden,
um unheilbar Kranke und dauernd Behinderte zu verwahren? Die „Euthanasie“-Psychiater,
die überwiegend zu den Befürwortern der innovativen Therapieformen gehörten, waren davon
überzeugt, dass die Verwahrung der Unheilbaren auf Kosten der Behandlung der Heilbaren
ging. Durch die Beseitigung der chronisch Kranken und Behinderten wollten sie den Weg zu
einer ambitionierten Psychiatriereform freimachen. Die Heilanstalt der Zukunft, wie sie sie
sich vorstellten, war ein räumlich großzügig angelegtes, mit modernsten Apparaten ausgestattetes, mit geschultem Pflegepersonal besetztes, von hochqualifizierten Psychiatern geleitetes
Therapiezentrum. Die unheilbaren Patienten störten dabei nur, sie sollten in „Absterbeanstalten“ abgeschoben werden.
Schon der Nürnberger Ärzteprozess hat das hohe Maß an Enthusiasmus und Eigeninitiative
bei den „Euthanasie“-Ärzten deutlich herausgearbeitet. Ihr „therapeutischer Idealismus“ blieb
allerdings weitgehend im Dunkeln. Der Prozess war einer juristischen Sichtweise verpflichtet
– es ging primär um Schuld und Verantwortung, die Frage nach den Motiven war sekundär.
Von daher erklärt es sich, dass interessantes Material aus dem Nachlass des zweiten ärztlichen
Leiters der „Euthanasie“-Aktion, Hermann Paul Nitsche, das zur Vorbereitung des Verfahrens herangezogen worden war, im Prozess selber keine Rolle mehr spielte. Dieses Material,
das an das amerikanische Hauptquartier in Heidelberg weitergeleitet wurde und deshalb als
die „Heidelberger Dokumente“ bekannt geworden ist, umfasste Briefwechsel und Denkschriften der „Euthanasie“-Ärzte, in denen die medizinischen Motive des Genozids deutlich zum
Ausdruck kamen. Indem er diesen Aspekt der Täterpsychologie weitgehend ausklammerte,
legte der Nürnberger Ärzteprozess eine Deutung nahe, die von einer Dopplung der medizinischen Täter ausgeht, von der Herausbildung zweier verschiedener Persönlichkeiten, einem
„Heiler-Selbst“ und einem „Mörder-Selbst“, die sich zu einer Dr. Jekyll-und-Mr.HydePersönlichkeit ergänzten. Diese Deutung, die vor ein paar Jahren von Robert J. Lifton auf den
Punkt gebracht worden ist, übersieht freilich, dass bei den „Euthanasie“-Ärzten das Vernichten zum integralen Bestandteil des Heilens geworden war – von einer Spaltung oder Dopplung ihrer Persönlichkeit kann – im Unterschied zu anderen NS-Tätertypen – keine Rede
sein.33
In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten hat sich, fünftens, gezeigt, wie eng die humanwissenschaftliche Forschung in den Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten
Menschen eingebunden war. Dieser wurde wissenschaftlich geplant, organisiert und evaluiert.
12
Um nur ein Beispiel zu nennen: Hunderte von Gehirnen, die „Euthanasie“-Opfern entnommen
worden waren, wurden im Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch und in
der
Deutschen
Forschungsanstalt
für
Psychiatrie
in
München
neuropathologisch-
hirnanatomisch untersucht, um das Wissen über das organische Substrat von geistigen Behinderungen, Epilepsien und psychischen Krankheiten zu mehren.34
Sechstens: Die Einsicht in die wichtige Rolle der Reformpsychiatrie und der Humanwissenschaften bei der Vernichtung geistig behinderter und psychisch kranker Menschen hat den
Blick dafür geschärft, dass der Begriff des „Zivilisationsbruchs“ im Hinblick auf dieses einzigartige Staatsverbrechen mehr verdunkelt als erhellt. Tatsächlich handelte es sich mitnichten
um einen „Einbruch der Barbarei in die Moderne“. Die NS-„Euthanasie“ stellt vielmehr selber
eine Möglichkeit der Moderne dar, sie war nach allem, was wir heute erkennen können, Kernstück einer biopolitischen Entwicklungsdiktatur, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Kontrolle über Geburt und Tod, Sexualität und Fortpflanzung, Körper und Keimbahn, Variabilität
und Evolution des Menschen zu gewinnen. Die „Euthanasie“ muss im Gesamtzusammenhang
der nationalsozialistischen Erbgesundheits- und Rassenpolitik betrachtet werden.
Siebtens schließlich hat das von Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll und Petra Fuchs geleitete
Heidelberger Großprojekt zur stichprobenartigen Auswertung der etwa 30.000 Krankenakten
aus der „Aktion T4“, die nach der Wende in den Aktenbeständen des Ministeriums für Staatssicherheit wiederaufgetaucht sind, neue, bedeutsame Aufschlüsse über die Selektionspraxis
erbracht. Bislang konnten wir nur – auf der Basis der von Philipp Bouhler und Karl Brandt
ausgegebenen Richtlinien – etwas über die normative Ebene sagen, über Kriterien, an die sich
die Gutachter halten sollten. Das Heidelberger Forschungsprojekt kann nun statistisch unterbaute Aussagen über die bei der „Aktion T4“ tatsächlich zur Anwendung gekommenen Selektionskriterien machen. Dabei zeigt sich etwa, dass die Arbeitsleistung der zu begutachtenden Frauen von den Gutachtern im Durchschnitt weniger wertgeschätzt wurde als die der
Männer, mithin ein geschlechtsspezifischer Aspekt bei der Selektion eine Rolle spielte, dass
der Faktor „Erblichkeit des Leidens“ bei der Selektion kaum ins Gewicht fiel, während Arbeitsunfähigkeit und störendes Verhalten viel stärker gewichtet wurden, dass Patienten, die im
Zuge großräumiger Verlegungen in eine andere Heil- und Pflegeanstalt gelangt waren, ein
33
Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988; Hans-Walter Schmuhl, Die Selbstverständlichkeit
des Tötens. Psychiater im Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 411-439.
34
Jürgen Peiffer, Neuropathologische Forschung an „Euthanasie“-Opfern in zwei Kaiser-Wilhelm-Instituten, in:
Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme
und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, Göttingen 2000, S. 151-173; Volker Roelcke, Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik und „Euthanasie“. Zur Rolle von Ernst Rüdin und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie/Kaiser-Wilhelm-Institut, in: ebd., S. 112-150; Hans-Walter Schmuhl,
13
erheblich höheres Risiko liefen, aussortiert zu werden, als Patienten, die sich seit langem in
einer Anstalt befanden etc.
Die Befunde des Heidelberger Projekts, die bisher publiziert wurden und demnächst publiziert werden,35 verweisen auch auf eine Ebene, die in früheren Forschungen zumeist kaum
ausgeleuchtet wurde: auf den Alltag in der Anstalt und auf die Menschen, die darin lebten.
Hier zeichnet sich nach meinem Eindruck, nicht zuletzt aufgrund der Arbeit in den Gedenkstätten in den ehemaligen T4-Mordanstalten, ein neuer Forschungsschwerpunkt ab. Bei der
Täterforschung etwa geraten neben den Ärzten, die bislang zu Recht im Mittelpunkt des Interesses standen, zunehmend auch die untergeordneten Tätergruppen – Schwestern und Pfleger,
Bürokräfte, Fahrer, Photographen, „Brenner“, Bauleute – in den Blick. Bei ihnen greifen die
für die ärztliche Elite entwickelten Erklärungsmuster nicht. Zu fragen ist, aufgrund welcher
sozialer Rahmenbedingungen und mentaler Prägungen diese ganz normalen Männer und
Frauen zu Handlangern eines Massenmordes wurden. Auch die Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer werden mehr und mehr zum Gegenstand der Forschung. Hier ergibt sich noch kein
einheitliches Bild, das Spektrum reicht von beherzten Rettungsaktionen und vehementem Protest über Gleichgültigkeit bis hin zur offenen Zustimmung und sogar der vorauseilenden Forderung, psychiatrisierte Angehörige zu töten.36 Und schließlich bekommen ganz allmählich
auch die Opfer der „Euthanasie“ ein Gesicht.37 Auch hier hat das Heidelberger Projekt Wegweisendes geleistet, indem es, methodisch reflektiert, aus Krankengeschichten Lebensschicksale rekonstruiert hat.38 Auf diesem Weg gilt es weiter voranzuschreiten. Denn mit den Menschen ist zugleich auch die Erinnerung an sie ausgelöscht worden. Sie dem Vergessen zu entreißen, heißt, Empathie für sie zu wecken. Auch auf diese Weise kann die historische Forschung zur „Euthanasie“ einen Beitrag zur aktuellen medizinethischen Debatte leisten.
Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937-1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 559-609.
35
Gerrit Hohendorf/ Maike Rotzoll/ Paul Richter/ Christoph Mundt/ Wolfgang U. Eckart, Die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie-Aktion T4“ – Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin, in: Der Nervenarzt 73 (2002), S. 1065-1074; Annette HinzWessels, Annette/ Petra Fuchs/ Gerrit Hohendorf/ Maike Rotzoll, Zur bürokratischen Abwicklung eines Massenmords – Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion im Spiegel neuer Dokumente, in: Vierteljahrshefte
für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 79-107; Petra Fuchs/ Gerrit Hohendorf/ Maike Rotzoll/ Annette Hinz-Wessels/
Philipp Rauh/ Paul Richter, Die NS-„Euthanasie“-Aktion-T4 im Spiegel der Krankenakten – Neue Ergebnisse
historischer Forschung und ihre Bedeutung für die heutige Diskussion medizinethischer Fragen, in: Jahrbuch
Juristische Zeitgeschichte 2006 (im Druck).
36
Vgl. z.B. Hans-Joachim Lang, Weggeworfen wie ein angebissener Apfel. Von einem Psychiater, der seinen
Bruder dem Krankenmordprogramm auslieferte, in: Roland Müller (Hg.), Krankenmord im Nationalsozialismus.
Grafeneck und die „Euthanasie“ in Südwestdeutschland, Stuttgart 2001, S. 55-67.
37
Vgl. z.B. Boris Böhm/ Ricarda Schulze (Hg.), „…ist uns noch allen lebendig in Erinnerung“. Biographische
Porträts von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Anstalt Pirna-Sonnenstein, Dresden 2003.
38
Dazu demnächst: Petra Fuchs/ Maike Rotzoll/ Ulrich Müller/ Paul Richter/ Gerrit Hohendorf, „Das Vergessen
der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“ – Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen
„Euthanasie“, Göttingen 2007 (im Druck).
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Verfasser:
Hans-Walter Schmuhl, geb. 1957, freiberuflicher Historiker (Agentur ZeitSprung) und Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität
Bielefeld.