03.04.2015 Der INION RAN-Direktor , ordentlicher
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03.04.2015 Der INION RAN-Direktor , ordentlicher
03.04.2015 Der INION RAN-Direktor , ordentlicher Akademiemitglied Yuri Pivovarov hat dem Internet-Media „Lenta.ru“ und der Zeitung „Moskovskij komsomolez“ über die Situation nach dem Großbrand und über die Arbeit zur Beseitigung von Brandfolgen erzählt: Welche Bedeutung hat das INION und seine Bibliothek für die russische und Weltwissenschaft? Was wurde im Institutsgebäude vor dem Brand aufbewahrt? Die Bibliothek ist ein inhärentes Teil unseres Instituts. Sie wurde 1918 gegründet und nach dem Modell der amerikanischen Kongressbibliothek organisiert. 1969 wurde auf dieser Grundlage entsprechend dem gemeinsamen Beschluss des ZK der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR das Informationsinstitut für Gesellschaftswissenschaften gebildet. Das zeugt davon, dass der Staat damals die Bedeutung der Humanwissenschaften verstand. INION war die einzige Institution im Lande, die von der Zensur befreit war. Dabei wurden bestimmte Ausgaben nur für internen Bedarf vorgesehen, d.h. für die Partei-Nomenklatura. Was wurde in der Bibliothek aufbewahrt? Es gab Gerüchte, dass im Brand antiquarische Bücher untergegangen sind, man sprach sogar von Shakespeares Manuskripten! Das stimmt aber ganz und gar nicht! Alle antiquarischen Ausgaben, darunter auch die berühmte Bibliothek zu Gotha sind gerettet worden. Die absolute Mehrheit des Bücherbestandes gehört zur wissenschaftlichen Literatur aus der 2.Hälfte des 20. – dem Anfang des 21. Jh. und betrifft alle Wissenschaftszweige – von der Wirtschaftswissenschaft bis zur Literaturwissenschaft. Obwohl diese Bücher am meisten gelitten haben, kann ein bedeutender Teil von ihnen wiederhergestellt werden. Auf welche Weise? Erstens gibt es in Moskau und in Russland Zweitexemplare von vielen untergegangenen Dokumenten. Zweitens gibt es im Westen viele digitalisierte wissenschaftliche Texte. Unsere Hauptaufgabe ist heute, einen Zugang zu diesen Datenbanken zu bekommen. Erzählen Sie bitte von Ihren einzigartigen Datenbanken. An denen wurde seit Ende der 70-er Jahre gearbeitet, sie betragen über 4 Mio. Eintragungen. Das sind gleichzeitig auch elektronische Fachkataloge. Sie sind alle erhalten geblieben sowie auch unser automatisiertes Informationssystem für Gesellschaftswissenschaften. Und wie sieht es mit der Digitalisierung aus? Dazu ist die Finanzierung nötig, wir haben aber keinen Heller bekommen –weder in den 90-er Jahren, noch in den Nulljahren, noch in den zehner Jahren. Da mit der staatlichen Unterstützung nicht zu rechnen war, haben wir aus eigenen Mitteln finanziert, vor allem die von unseren Lesern am meisten gefragten Bücher. Anfang der Nulljahre haben wir damit aufhören müssen, da nachdem das neue Zivilrecht angenommen wurde, Probleme mit dem Autorenrecht entstanden sind. Bis zu der Zeit sind von 14 Mio. Büchern über 100000 digitalisiert worden. Seit 2006 beteiligen wir uns am Programm „Wissenschaftliches Erbe Russlands“, das der damalige RAN-Präsident Juri Osipov initiiert hat. Seine Idee war, die besten wissenschaftlichen Publikationen russischer Gelehrten Ende des 19. Jh. bis 1929 allgemein zugänglich zu machen, damit keine Probleme mit Autorenrecht entstehen. Für diese Riesenarbeit (einscannen, annotieren, Autorenbiographien schreiben, Bibliographien zusammenstellen) haben wir nur 22 Mio. Rubel bekommen. In welchem Zustand war das Feuerlöschsystem? Das hat wieder mit dem Finanzierungsproblem zu tun. Als ich 1998 Direktor wurde, schrieb ich regelmäßig an die Akademie von unseren Problemen: ich bat um 60 Mio. – bekam 2, bat um 70 Mio. – bekam 3. Voriges Jahr haben wir gar nichts bekommen. Natürlich war das Feuerlöschsystem alt, wie haben es nach Möglichkeiten aufrechterhalten, aber sein Niveau entsprach den heutigen Forderungen nicht. Die Zivilschützer, die beim Brand eingesetzt wurden, haben mir aber gesagt, es war in einem viel besseren Zustand, als von ihm zu erwarten war, wenn man das Budget und den Verschleiß bedenkt. Übrigens muss man wissen, woraus das Budget eines akademischen Instituts besteht. Etwa 90% machen die Gehälter aus, alles Andere Kommunalzahlungen, Betriebskosten usw. Und nicht mal dafür reicht das Geld aus! Wissenschaftler sind die Ärmsten in Russland! Das Gehalt des Direktors eines akademischen Instituts beträgt ohne Einkommensteuer 34000 Rubel! Kann heute der wirkliche Maßstab der Tragödie eingeschätzt werden? Genau eingeschätzt werden kann er erst, nachdem alle Bücher evakuiert sind. Die Bücherverluste können sich auf etwa 2,3 Mio. Exemplare belaufen, das sind etwa 15% des Bücherbestandes. Aber das sind vorsichtige Schätzungen. Wie sieht es mit dem „feuchten“ Bücherbestand“ aus? Der wir in die Kühlhausanlagen überführt. Wird das Institutsgebäude wiederaufgebaut werden? Man hat uns versprochen, das auf derselben Stelle wiederaufzubauen. Darüber hat der Premierminister Dmitrij Medvedev, der Vizepremier Arkadij Dvorkovitsch, der FANO-Leiter Kotyukov gesprochen. Dazu rufen auch russische und ausländische Architekten auf, denn das Gebäude ist als ein Meisterwerk der sowjetischen Avantgarde 1960-1970 anerkannt. Ich halte das für eine prinzipielle Frage für uns. Wo arbeiten jetzt die Mitarbeiter des Instituts? In einem fünfstöckigen Gebäude (Baujahr 1956), dessen Zustand entsetzlich ist. Uns steht nur die Hälfte des Hauses zur Verfügung, was natürlich zu wenig ist. Uns wurde das ganze Gebäuden versprochen, aber jetzt ist die Situation wieder nicht ganz klar. Effektiv funktionieren kann das Institut aber nur, wenn die wissenschaftlichen Mitarbeiter unter einem Dach sind. Wie stehen Sie zur Hetzjagd, die nach dem Brand von einigen Massenmedia und einzelnen Duma-Abgeordneten gegen Sie entfesselt wurde? Ist das mit Ihren kritischen Äußerungen über die Innen- und Außenpolitik der heutigen Macht verbunden? Gar nicht stehe ich zu ihnen. Ich weiß nicht, was „Äußerungen“ bedeutet. Ich habe 14 Bücher und hunderte von Aufsätzen verfasst. Ich bin Wissenschaftler, Universitätsprofessor und Administrator, ich kann wohl als Experte meine Meinung sagen. Wenn meine Stellungnahmen verdreht und kontextwidrig interpretiert werden, gefällt es mir, wie einem jeden normalen Menschen, nicht, aber ich verfolge das nicht. Das interessiert mich nicht. Was mich sehr traurig stimmt, ist die Leichtgläubigkeit, mit der man jeder nichtgeprüften Information und sehr oft Lügen glaubt. Und die Schuldvermutung, die für die heutige soziale Atmosphäre so typisch ist. Schadet dieser negative Informationshintergrund Ihren Bemühungen um die Wiederherstellung des Instituts? Weiß ich nicht. Das ist schwer zu sagen. Natürlich ist das ist mir peinlich, weiter nichts. Ich arbeite unter den bestehenden Bedingungen. Ja, das ist wahrscheinlich eine organisierte Hetzjagd, all diese Gerüchte über das Institut und über mich – das ist nichts als Lügen. Wenn ich sage, dass die Politik unseres Staates in irgendeinem Bereich falsch ist, so habe ich wohl das Recht, das zu sagen! Damit verstoße ich doch nicht gegen die Verfassungsnormen und gegen die Gesetzgebung! Funktioniert das Institut weiter? Natürlich. Unsere Druckerei funktioniert, unsere Verlagstätigkeit geht weiter, unsere Bibliographen machen ihre Arbeit, obwohl es immer schwieriger wird. Unsere Angestellten bekommen nur ihre Grundgehälter, ohne Zuschüsse. Wir bekommen kein Mietsgeld, das 11-12 Mio. pro Jahr betrug. Wird das Institut genug seitens des Staates unterstützt? Ich weiß nicht, was „staatliche Unterstützung“ bedeutet. Es gibt FANO – eine Organisation, der unser Institut untersteht und die sehr viel für die Beseitigung der Brandfolgen unternimmt. Wir werden von der AdW unterstützt, aber das alles reicht nicht aus. Deshalb musste ich mich an den Premierminister Dmitrij Medvedev wenden. In seiner Antwort bittet er um entsprechende Vorschläge meinerseits. Um was für Vorschläge? Ich glaube, es muss eine Regierungskommission gebildet werden. Das Problem muss auf einem höheren Niveau gelöst werden. Gab es eine Reaktion seitens des Präsidenten? Nein. Soviel ich weiß, war die Regierung mit der Lösung dieses Problems beauftragt. Damit befasst sich Arkadij Dvorkovitsch, der für die Wissenschaft in ganz Russland zuständig ist. Aber es gibt immer noch keinen konkreten Regierungsentschluss. Wer kann Ihnen bei der Wiederherstellung des Bücherbestandes außer der Regierung helfen? Ausländische Staaten haben versprochen zu helfen: die USA, Italien, Frankreich, Polen, die Slowakei. Unsere Bürger haben sich bereit erklärt, uns ihre Bücher zu übergeben. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Vladimir Tschurov hat uns Bücher aus seiner privaten Bibliothek angeboten. Wir hoffen also, nicht nur unsere Verluste nachzuholen, sondern auch Neulieferungen zu bekommen. Brauchen Sie jetzt Hilfe von Freiwilligen? Vorläufig nicht, solange die abgestürzten Bauteile nicht weggeräumt sind und es gefährlich ist, ins Gebäude reinzugehen. Wir werden die Information auf unserer Webseite bringen. Ich muss aber sagen, diese Situation hat gezeigt: es gibt in Russland eine Bürgerrechtsgesellschaft. Das sind nicht nur Freiwillige. Das sind Studenten, Institutsmitarbeiter, vor allem im fortgeschrittenen Alter. Und ich muss gestehen: ich bin stolz auf meine Kollegen. Außerdem hat sich herausgestellt: unsere Macht, die wir (auch ich) so oft völlig berechtigt kritisieren, kann, wenn sie es will, sehr effektiv arbeiten. Interview gemacht von Andrej Mozshuchin