Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und - Inter
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Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung 1. Zusammenfassung Mobbing und unter Jugendlichen das Cyber-Mobbing sind heute weit verbreitet. MobbingOpfer erleiden grosse gesundheitliche Beeinträchtigungen, verlieren ihr Selbstvertrauen und oft auch Ihre Lebensfreude. Deshalb stellt sich die Frage, was gegen die verschiedenen Formen von Mobbing unternommen werden kann. 2. Mobbing Karl E. Dambach (2011:13) hat darauf hingewiesen, dass das Wort „Mobbing“ aus dem Englischen stammt, und zwar von „to mob“ im Sinne von anpöbeln, und von „the mob“, also „Mob, Gesinde, Bande, Sippschaft, Pöbel[haufen]“ (Wolmerath 2013:23). Verwandt damit ist im Englischen der Begriff „mob law“ (Lynchjustiz) (vgl. Wolmerath 2013:23). Im englischen Sprachraum ist das Wort „Mobbing“ wenig bekannt, in den angelsächsischen Ländern Spricht man von „Bullying“. Bekannt geworden ist der Begriff „Mobbing“ durch Leymann: „Der Begriff Mobbing beschreibt negative kommunikative Handlungen, die gegen eine Person gerichtet sind (von einer oder mehreren andern) und die sehr oft über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen und damit die Beziehung zwischen Täter und Opfer kennzeichnen“. Quelle: Leymann 1993:21. Mobbing kann definiert werden als „fortgesetztes Schikanieren eines anderen Menschen“ (vgl. Siewior 2012:23). Im Mobbing werden Menschen gezielt versteckter Gewalt ausgesetzt mit dem Ziel, das Opfer klein zu machen, zu bekämpften oder sonstwie zu schädigen. Das Besondere am Mobbing liegt darin, dass die Gewalthandlung meist nicht offen erkennbar ist, sondern versteckt erfolgt und durch Dritte kaum zu identifizierende Täter und Täterinnen. 1 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Dorothee Döring (2012:19) hat darauf hingewiesen, dass Frauen anders mobben als Männer – doch die Auswirkungen für die Opfer sind in beiden Fällen vernichtend. Frauen sprechen eher hinter dem Rücken der Opfer schlecht über diese, kritisieren sie oder machen sie schlecht aufgrund ihrer Kleidung, Frisur oder ihres äusseren Verhaltens, machen indirekte Anspielungen, lassen sie nicht mehr zu Wort kommen oder schneiden sie. Männer mobben aktiver und aggressiver: Sie geben den Opfern undankbare Aufgaben, lassen sie im Unklaren, was sie von ihnen erwarten, setzen manchmal sogar Gewalt ein, spotten über ihre Lebensweise, lassen sie nicht zu Ende reden oder schotten sie von Kollegen ab (vgl. Döring 2012:19/20). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was unter Gewalt zu verstehen ist. Martin Kohn (2012:15) hat Mit Blick auf die Schule folgende Arten von Gewalt: Art der Gewalt Physische Gewalt Psychische Gewalt: - Verbal - nonverbal - indirekt Geschlechterfeindliche Gewalt Sexuelle Gewalt Fremdenfeindliche Gewalt Vandalismus Schwere Gewalt Quelle: Kohn 2012:15. Beispiel Körperlicher Angriff - Beschimpfung, Beleidigung - Blick, Geste (z.B. Zeigen des Mittelfingers) - Person ignorieren, Gerüchte streuen Diskriminierung des anderen Geschlechts Erzwingen eines intimen Körperkontakts Gewalt gegen Personen aus anderen Kulturkreisen Zerstörung, Beschädigung oder Beschmieren von Dingen Amoklauf Mobbing kann in diesem breiten Spektrum von Gewalt sehr unterschiedliche Formen annehmen, je nach Situation und Beteiligten. Doch lösen wir uns etwas vom schulischen Feld. Mobbing ist auch häufig gegen einzelne Mitarbeitende in grossen oder kleinen Unternehmen anzutreffen. Von Mobbing am Arbeitsplatz wird dann gesprochen, wenn erstens ein Kollege oder Mitarbeiter, bzw. eine Kollegin oder Mitarbeiterin am Arbeitsplatz über längere Zeit hinweg schikaniert und gedemütigt wird, zweitens wenn die Angriffe systematisch erfolgen, und drittens wenn die 2 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Attacken das Opfer vom Arbeitsplatz verdrängen versuchen (vgl. Werner/Tödter 2012:117). Ist das Mobbing-Opfer ein Untergebener, der Täter ein Vorgesetzter, dann spricht man auch von Bossing (vgl. Werner/Tödter 2012:117). Den umgekehrten Fall, also wenn Untergebene einen Vorgesetzten mobben, nennt man auch „Staffing“ (Wolmerath 2013:29). Mobbing am Arbeitsplatz ist offenbar vor allem in kleinen und mittleren Betrieben verbreitet. So stammten etwa laut einer deutschen Studie die erfassten Anfragen zu Mobbing zu 81% aus Kleinst-, Klein- und mittleren Betrieben (KMU) und nur gerade 18,9% aus Grossbetrieben (vgl. Wolmerath 2013:37). Allerdings könnte es auch sein, dass grössere Betriebe eher über die Möglichkeit verfügen, mit Mobbingsituationen professionell umzugehen (eigene Personal- oder Human Resource-Abteilungen), weshalb Mobbing-Fälle häufiger betriebsintern gelöst werden als in Kleinbetrieben. Das heisst aber noch nicht, dass Mobbing in Grossbetrieben seltener vorkommt als in kleineren Unternehmen. Opfer von Mobbing können Beamte, Angestellte und Arbeiter werden (vgl. Wolmerath 2013.39), also letztlich alle Mitarbeitenden. Fallbeispiel: Mobbing am Arbeitsplatz „Nach meinem Umzug habe ich einen neuen Job als Krankenschwester in einer Privatklinik gefunden. Mit einigen Kolleginnen kam ich aber von Anfang an nicht klar. Ich wurde gemieden, und hinter meinem Rücken wurde über mich permanent gelästert. Das hat mich richtig krank gemacht. Ich habe dann die Pflegedienstleiterin um Hilfe gebeten, aber die wollte sich raushalten und hat nur gesagt, dass wir die Probleme untereinander lösen sollten. Sie wolle sich da nicht einmischen. So bleibe ich den Mobberinnen weiter schutzlos ausgesetzt. Jeden Abend weine ich mich nach Stunden erschöpft in den Schlaf. Oft wache ich nachts auf und grüble stundenlang. Morgens ist es dann eine Qual für mich, aufzustehen, mich anzuziehen und zur Arbeit zu fahren. Ich habe Angst vor neuen Angriffen, leide unter Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und Übelkeit. Selbst meine Familie und meine Freunde erkennen mich nicht wieder. Sie beklagen sich darüber, dass ich mich so verändert hätte, depressiv geworden wäre und mich bei der kleinsten Kleinigkeit angegriffen fühle. Ich will das nicht mehr. Das alles muss ein Ende haben, sonst ende ich eines Tages in der Psychiatrie. Ich habe keine Kraft mehr“. Quelle: Döring 2012:23/24. Laut Döring (2012:30) enden mehr als die Hälfte – laut einer Studie: 52,8% - der Mobbingfälle in Unternehmen mit der Kündigung, und 14,6% mit einer Versetzung der 3 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Mobbing-Opfer. Insgesamt verlieren als mehr als zwei Drittel der Mobbingopfer ihren Arbeitsplatz. Mobbingsituationen entstehen häufig – aber nicht nur – in Krisen- und Umbruchsituationen, bei Umstrukturierungen und bei problematischen personellen Situationen. In einem Bericht über Mobbing in Deutschland (2002) wurde die betriebliche Situation zum Zeitpunkt des Mobbings wie folgt umschrieben (auch Mehrfachnennungen): Schlechtes Arbeitsklima Mangelnde Gesprächsbereitschaft des Vorgesetzten Von Termindruck, Stress und Hektik geprägter Arbeitsalltag Unklarheiten in der Arbeitsorganisation/in den Zuständigkeiten Fehlende Transparenz wichtiger Entscheidungen Starre Hierarchien Eher konfliktscheue Vorgesetzte Angst vieler Mitarbeitenden um ihren Arbeitsplatz Umstrukturierungen von Abteilungen oder Betriebsbereichen Vorgesetztenwechsel Schlechte wirtschaftliche Situation des Betriebs Einführung neuer technischer Systeme (EDV, Maschinen usw.) Auslagerung oder Fremdvergabe von Arbeitsaufgaben an Fremdfirmen Langweilige und monotone Arbeit Einführung von Team- oder Gruppenarbeit Privatisierung des Betriebs Autoritärer Vorgesetzter Schwacher Vorgesetzter Übernahme des Betriebs Generationenwechsel im Betrieb Sonstiges Quelle: Wolmerath 2013:42/43, leicht redigiert durch CJ. 65,5% 60,9% 55,1% 55,0% 50,4% 46,4% 42,2% 36,9% 32,5% 27,5% 21,8% 19,1% 14,0% 10,6% 8,7% 3,0% 2,7% 1,3% 1,0% 0,4% 3,9% Laut Döring (2012:63) wurden in den letzten Jahren immer mehr Fälle bekannt, in denen Mobbing von Unternehmensleitungen gezielt eingesetzt wurde, um Personalbestände abzubauen, ohne ordentliche Kündigungen aussprechen oder Abfindungen bezahlen zu müssen. Walker (2011:51) hat Mobbing für den schulischen Kontext wie folgt definiert: „Mobbing ist ein zielgerichtetes Verhalten; es hat sich ein Konflikt verfestigt und wird zu Mobbing. 4 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Mobbing ist die im Jugendalter am häufigsten erlebte Form von Gewalt. Sie wird sowohl als traditionelles, direktes Mobbing als auch als Cybermobbing erfahren – und zwar sind beide Formen etwa gleich häufig (vgl. Avanzino in Neue Zürcher Zeitung vom 6.5.2015:16; ausführlich zum Cybermobbing vgl. Kapitel 2.2). Kennzeichen von Mobbing ist die asymmetrische Beziehung. Der oder die Gemobbte wird vorsätzlich und systematisch über einen längeren Zeitraum angegriffen oder drangsaliert und kann sich nicht aus eigener Kraft aus dieser Situation befreien“. Im schulischen Umfeld kann laut Dambach (2011:14) dann von Mobbing gesprochen werden, „wenn sich eine Gruppe in der Klasse – und zwar eine, die das Sagen hat – gegen einen Einzelnen (in manchen Fällen auch gegen zwei oder drei Schüler) über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) ausgrenzend verhält“. Man sieht daraus, dass es auch mehrere Mobbing-Opfer geben kann – das gilt auch für Mobbing am Arbeitsplatz. Mobbing ist eine „soziale Aggression“, aber auch „eine Strategie zur Bewältigung sozialer Konflikte“ (Wolmerath 2013:25). So kann es etwa bei der Besetzung einer vorgesetzten Position zu einer Konkurrenz zweier Mitarbeitenden kommen. Wenn dann einer davon beginnt, den Konkurrenten zu schikanieren, um ihn schlecht zu machen und um seine Chancen zu verringern, kann der Konkurrenzkonflikt in ein Mobbing kippen. Allerdings kann Mobbing in den verschiedensten Situationen und aus den verschiedensten Gründen entstehen. In Mobbingsituationen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen kommt es oft zu einem Missbrauch des Weisungsrechts. So werden dem Mobbing-Opfer Arbeitsaufträge zugewiesen, die es in der vorgegebenen Zeit nicht erledigen kann. Oder dem Mobbing-Opfer werden unpassende Aufträge zugewiesen, z.B. Anspitzten von Bleistiften durch Sachbearbeiterinnen, nicht im Arbeitsverhältnis eingeschlossene Reinigungsaufträge usw. (vgl. Wolmerath 2013:29). Oft werden Mobbing-Opfer auch als Kern des Problems dargestellt, so im Stil: „Du bist das Problem – bist Du weg, so ist das Problem gelöst“ (Wolmerath 2013:29). Sozusagen spiegelverkehrt erleben sich Mobbing-Opfer als ausgegrenzt, abgewertet und abgelehnt. Äusserungen wie „mit mir spricht niemand mehr“, 5 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch „ich werde wie Luft behandelt“, „mir hört keiner zu“, „meine Anweisungen werden ignoriert“ sind typische Aussagen von Mobbing-Opfern (vgl. Wolmerath 2013:29). Es gibt vier wichtige Unterschiede zwischen einem „normalen“ Konflikt und einer Mobbingsituation: Erstens sind in einem Konflikt beide Parteien aktiv Handelnde, also sozusagen Täter und Opfer, während in einer Mobbing-Situation klar zwischen der Opferund der Täterrolle unterschieden werden kann. Zweitens sind in „normalen“ Konfliktsituationen in der Regel die Konfliktparteien mehr oder weniger klar erkennbar. Und drittens lassen sich Konflikte – zumindest solange sie nicht eine bestimmtes Ausmass überschritten haben (vgl. dazu ►Lerneinheit K6: „Konfliktmanagement“ und ►Lerneinheit K30: „Interkulturelle Mediation, Verhandlungs- und Schlichtungsverfahren“) – durch Mediation lösen, was in einer fortgeschrittenen Mobbing-Situation wie in anderen TäterOpfer-Konstellationen normalerweise nicht möglich ist. Oft – aber nicht immer – besteht in Mobbing-Situationen auch ein zahlenmässiges Ungleichgewicht zwischen Tätern und Opfer: Während das Opfer (fast) immer eine Einzelperson ist, kann es einen oder mehrere Täter/innen geben. Auf einen wichtigen Aspekt hat Wolmerath (2013:26/27) hingewiesen: Mobbing-Handlungen sind für das Opfer oft destruktiver als ein „normaler“ Konflikt. Dabei spürt das MobbingOpfer Mobbing-Handlungen unmittelbar und sofort, doch die Systematik der Handlungen erkennt das Opfer oft erst sehr viel später. 2.1 Auswirkungen von Mobbing Wie wirkt sich Mobbing bei den Opfern aus? Ähnlich wie Rassismus, Diskriminierung oder andere Ausgrenzungsformen wirkt sich auch Mobbing auf die Opfer verheerend aus. Mobbing führt beim Opfer zu psychischem Stress, und die Folgen sind Angst, die Situation nicht mehr bewältigen zu können. Oft kommt es zu einem Blackout oder es entwickeln sich psychosomatische Symptome. Sowohl das Selbstvertrauen als auch das Vertrauen in die Gemeinschaft – zum Beispiel in das Arbeitsteam, in die Schulklasse usw. – werden zerstört (vgl. Walker 2011:52). 6 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch „Roy Baumeister, ein angesehener Sozialpsychologe in den USA, suchte Studenten für eine wissenschaftliche Untersuchung, ohne allerdings den eigentlichen Zweck seines Vorhabens offen zu legen (Ernst 2002:8). Dann teilte er der Hälfte der Bewerber mit, die ohne ihr Wissen zufällig ausgewählt wurden, er könne sie nicht gebrauchen, da andere es ablehnten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er schuf also künstlich Aussenseiter – und beobachtete sie verdeckt weiter. Baumeister berichtet, dass sie durch die vermeintliche Zurückweisung schwieriger, unhöflicher und unfreundlicher wurden. Der Teufelskreis setzt ein: Abgelehnte verhalten sich weniger sozial und werden dadurch von ihren Mitmenschen als weniger sympathisch empfunden. Dies wurde von ihm bei Erwachsenen nachgewiesen; man kann sich vorstellen, um wie viel schlimmer es Kinder und Jugendliche trifft, die in dieser Entwicklungsphase auf die notwendige Anerkennung der Gleichaltrigen verzichten müssen“. Quelle: Dambach 2011:46. Weil sich die Opfer von Mobbing mehr und mehr zurückziehen oder sich selber aggressiv verhalten – aber auf keinen Fall ihr Leiden zeigen wollen, um nicht noch mehr ausgegrenzt zu werden -, führt Mobbing zu einem Teufelskreis. Die Gruppenmitglieder, die das Opfer mobben, sind aufgrund dessen zunehmend asozialen Verhaltens überzeugt, dass das Opfer selber schuld sei, und Vorgesetzte oder Lehrkräfte suchen die Schuld bei den MobbingOpfern statt bei den Tätern. Bei vielen Mobbing-Opfern entsteht so nach einiger Zeit lebenslange Angst vor Sozialkontakten, oder sie werden physisch oder psychisch krank. Walker (2011:52) unterscheidet vier Mobbingphasen in einer Klasse: 1. Ein asymmetrischer Konflikt entsteht, es kommt zu unverschämtem und gemeinem Verhalten. 2. Die psychische Verfassung des Opfers wird immer schlechter, es ist permanent in einer Verteidigungshaltung, sein Verhalten wird auffällig und gibt selber immer neue Anlässe zur Ausgrenzung. 3. Das Opfer fängt an, sein eigenes Fehlverhalten und seine Fehlleistungen als seine Schuld zu deuten und es glaubt, was ihm vorgeworfen wird. Es kann sich nicht mehr aus eigener Kraft aus der Situation befreien. 4. Am Schluss ist das Opfer hilflos und demoralisiert, es wechselt die Schule, nicht selten zur Überraschung von Mitschülern und Lehrpersonen. Die Mobbingtäter haben ihr Ziel erreicht, das Opfer auszuschliessen oder „fertigzumachen“ (nach Walker 2011:52). 7 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Nicht zu unterschätzen sind auch die Vorbilder in den Medien. Wenn – was immer mehr geschieht – akzeptiert wird, dass Menschen öffentlich beschimpft und fertig gemacht werden, wie die etwa in der TV-Sendung mit Dieter Bohlen „Deutschland sucht den Superstar“ geschieht, kann man nicht erwarten, dass sich Jugendliche anders verhalten als ihre Vorbilder. Wenn Bohlen junge Leute vor einem Millionenpublikum beleidigen darf, dann gibt es keinen Grund, warum das die Jugendlichen selber nicht auch tun sollen. Dambach (2011:48) schreibt dazu zu Recht: „Für die minderjährigen Fernsehzuschauer ist das Vorbild und Entlastung vom Mobbing-Vorwurf: So geht man mit Aussenseitern um“. 2.2 Cyber- oder Internet-Mobbing Internet-Mobbing oder Cyber-Mobbing, auch englisch Cyber-Bullying genannt, meint den Einsatz verschiedenster Internet-Plattformen und –tools, um jemanden schlecht zu machen. Dazu gehören Verunglimpfungen in Chatrooms, beleidigende eMails oder verunglimpfende Webseiten mit entsprechenden Fotomontagen, Karikaturen oder verbalen Beleidigungen usw. Dambach (2011:15) umschreibt Internet-Mobbing wie folgt: „Bei Cyber-Mobbing [und Cyber-Bullying] geht es darum, dass neue Techniken, wie z.B. E-Mail, Chats, Instant Messaging Systeme (wie z.B. ICQ oder MSN) oder auch Handys eingesetzt werden, um immer wieder und mit voller Absicht andere zu verletzen, sie zu bedrohen, sie zu beleidigen, Gerüchte über sie zu verbreiten oder ihnen Angst zu machen“. Damit ist das Cybermobbing eine besondere Form von Mobbing, das insbesondere über elektronische Medien geschieht. Die Formen von Cybermobbing reichen von beleidigenden oder bedrohlichen Inhalten oder von Unwahrheiten in den sozialen Netzwerken wie Facebook bis hin zu kompromittierenden Videoaufnahmen auf öffentlichen Internetplattformen wie Youtube. Während laut einer Studie etwa im Kanton Zürich zwischen 1999 und 2014 jeder zweite Jugendliche schon eine Form von Cybermobbing erfahren hat, ist regelmässiges Cybermobbing jedoch deutlich seltener. So sollen rund 1% der 15-jährigen Jugendlichen von wöchentlichem Cybermobbing betroffen sein (vgl. Avanzino in Neue Zürcher Zeitung vom 6.5.2015:16) – aber das ist immer noch sehr viel. 8 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Zusammenfassend meinen Pieschl und Porsch (2012:15): „Cybermobbing sind alle Formen von Schikane, Verunglimpfung, Betrug, Verrat und Ausgrenzung mithilfe von Informationsund Kommunikationstechnologien, bei denen sich das Opfer hilflos ausgeliefert und (emotional) belastet fühlt oder bei denen es sich voraussichtlich so fühlen würde, falls es von diesen Vorfällen wüsste“. Fallbeispiel: Internet-Video und Cyber-Mobbing Auf einem Video-Clip von 1 Min. 44 Sekunden – wie es Tausende im Internet gibt – äussert sich ein 14-jähriger Jugendlicher über das Fastfood, das er gerade isst. Der Junge sieht nicht sehr gesund aus, wirkt etwas aufgedunsen. Doch kaum ist der Clip im Netz, tauchen die ersten Kommentare auf: „Das fette Schwein, wie der frisst, der Idiot“; „das sollte man das Jugendamt einschalten“ und vieles mehr. Dabei kann das Video als lustig verstanden werden oder nachdenklich stimmen – oder aber zu Äusserungen von Hass, Abscheu, Wut, Gemeinheit usw. führen. Immer mehr Nutzer äussern sich im letzteren Sinn – im Jahr 2010 sind es Tausende. Dabei hat der Jugendliche aufgrund seiner Krebskrankheit Medikamente einnehmen müssen, die als Nebenwirkungen unter anderem zu Gewichtszunahme geführt hatten. Der Junge kämpft nun sozusagen an zwei Fronten: gegen die Krankheit und gegen das Mobbing im Internet. Er verliert an beiden Fronten. Im Herbst 2010 schreibt der Junge: „ich bin bereit“ – gemeint ist: bereit zum Sterben. Der Junge stirbt im November 2010. Quelle: Nach einem Bericht in der Neuen Luzerner Zeitung vom 6.1.2014:22. Laut Pieschl und Porsch (2012:23) besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Mobbing – zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in der Schule – und Cybermobbing darin, dass im Mobbing der oder die Täter dem Opfer bekannt sind, im Cybermobbing jedoch nicht. Aus der Sicht des Opfers besteht ein wesentlicher Unterschied der beiden Mobbing-Formen darin, dass im direkten Mobbing meist nur ein kleiner Personenkreis vom Mobbing überhaupt weiss, während im Cybermobbing – etwa wenn ein für das Opfer peinlicher Film ins Internet gestellt wird – eine viel grössere öffentliche Reichweite hat und darum grössere soziale Konsequenzen für das Opfer nach sich zieht. Allerdings – um nicht missverstanden zu werden – beide Formen von Mobbing sind für das Opfer sehr schlimm. Slawomir Siewior (2012:13) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Cyber-Mobbing im Zusammenhang mit dem sogenannten „Happy Slapping“ gesehen werden muss. Dabei handelt es sich meist um willkürliche Angriffe auf andere Personen – meist Jugendliche – die mit Handy-Kameras gefilmt und ins Internet gestellt oder direkt an andere Handys weiter 9 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch verbreitet werden. Dabei wird unterstellt, dass es sich dabei um eine Art Scherz handle, wodurch die Gewalthandlung verharmlost und sozusagen medialisiert wird. Dabei werden die Opfer zusammengeschlagen und liegen gelassen, in mehreren Fällen starben die Opfer sogar (vgl. Siewior 2012:13). Weil im Internet nie ganz klar ist, ob die Information wahr oder falsch ist, ein Bild oder ein Videoclip die Wirklichkeit darstellt oder „gefaked“, also gefälscht ist („Snuff“-Filme), verwischt sich die Grenze zwischen wirklicher und angeblicher Gewalt immer mehr. Gleichzeitig sinkt die Hemmschwelle gegen Gewalt mehr und mehr, bei gleichzeitiger Aufzeichnung durch Medienträger. Es gab und gibt Dutzende von Fällen. So vergewaltigten 2005 zum Beispiel in Hildesheim Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren ein Mädchen mehrfach und filmten die Gewalttat. Im August 2006 machten Mitschüler eine Kollegin betrunken, vergewaltigten sie und filmten ihre Handlungen (vgl. Siewior 2012:13). Als Gründe für solche Gewalthandlungen werden Langeweile, Erlebnismotive, die Suche nach Anerkennung oder Abschreckung und Provokationslust genannt (vgl. Siewior 2012:14). Im Unterschied zu „Happy Slapping“ ist das Internet-Mobbing oft Ausdruck eines längeren, vorangehenden Konflikts. Doch wo liegen die Grenzen des Internet-Mobbings, was ist nicht mehr Internet-Mobbing? Dambach (2011:10) schreibt dazu: „Der Begriff ‚Internet-Mobbing’ ist in manchen Fällen nicht zutreffend… Wenn ein einzelner Schüler einen Lehrer im Internet beleidigt, verleumdet, blossstellt, ist die nach der herkömmlichen Definition kein Mobbing.“ Von Mobbing spricht man, wenn eine länger dauernde Phase von gezielten offenen oder versteckten Aktionen gegen eine Person erfolgen, welche darauf abzielen, die gemobbte Person zu verletzen, zu demütigen und abzuwerten. Es ist umstritten, ob Cyber-Mobbing immer schädigende Absichten zugrunde liegt (vgl. Pieschl/Porsch 2012:15). So könne es sein, dass bei einem peinlichen Video eines Mitschülers, das auf YouToube gestellt werde, nur aus „Spass“ gehandelt werde – weil es „lustig“ sei oder damit andere darüber lachen könnten. Doch, so würde ich entgegnen, wird – zumindest implizit – ein schädigender Effekt immer in Kauf genommen, denn der „Spass“ besteht ja gerade darin, jemanden als dumm oder als ungeschickt erscheinen zu lassen (AusLach-Effekt, Schadenfreude). 10 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Eine besondere Form von Cyber-Mobbing ist das so genannte „public shaming“, also der Versuch, andere Menschen zu „entblössen“, zu demütigen. So werden etwa homosexuelle Praktiken ohne Wissen der Betroffenen ins Internet gestellt, Vergewaltigungsfotos im Netz veröffentlicht oder die Opfer auf eine Internet-Porno-Seite gestellt und an ihre FacebookFreunde weitergeschickt (vgl. Köhler in Neue Zürcher Zeitung vom 3.8.2015:31). Dabei werden vor allem Angehörige von Minderheiten (z.B. Homosexuelle) und Frauen zum Opfer: So kommen laut der Organisation Working to Halt Online Abuse 72,5% der Klagen über Online-Belästigung von Frauen. Bei einem Experiment mit fiktiven Adressen in Chatrooms erhielten weibliche Namen rund 100 explizit sexuelle Beschimpfungen oder Droh-Mails pro Tag (!), die männlichen Namen nur 3,7. Internet-Shaming hat also eine starke misogyne (= frauenfeindliche) Seite, wobei das nicht bedeutet, dass nicht auch Frauen diese Art von Gewalt anwenden (vgl. Köhler in Neue Zürcher Zeitung vom 3.8.2015:31). Eduard Kaeser (in Neue Zürcher Zeitung vom 21.9.2015:10) hat darauf hingewiesen, dass bestimmte Formen von „public shaming“ heute eine ähnliche Funktion wie der mittelalterliche Pranger angenommen haben – nur dass dieser jeweils lokal begrenzt war, heute aber public shaming allüberall vorkommt. So löste etwa die PR-Managerin Justine Sacco mit einem anti-afrikanischen Twittereintrag zu Aids einen derartigen „Shitstorm“ aus, dass sie sozial abstürzte und ihren Job verlor. Kaeser (in Neue Zürcher Zeitung vom 21.9.2015:10) schreibt dazu: „Im Netz spielt … die Anonymität eine wesentliche Rolle. Hätte Justine Sacco im herkömmlichen sozialen Medium einer Parte das Gleiche geäussert, dann hätten sich die anderen Gäste wohl kaum zu einem Mob vereinigt. Jemand hätte sie eher diskret beiseitegenommen und unter vier Augen auf den Fauxpas hingewiesen…“. Im Netz wird die Kritik und die Beschämung ungehemmter, mitleidloser und gemeiner – es fehlt die direkte persönliche Nähe face to face. Ausserdem ist niemand haftbar für – oft grundlose – public shaming-Aktionen. Zusätzlich zu „normalen“ Strafverfahren führt das sogenannte „shaming punishment“ im Internet zu einer mitleidlosen Blossstellung – was oft auch einen echten Lernprozess verhindern kann. 11 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Vom Cyber-Mobbing und vom „public shaming“ zu unterscheiden ist das „Flaming“, das heisst die aggressive Beschimpfung des Opfers, meist mit vulgären und beleidigenden Worten. Laut Siewior (2012:29) kann Flaming überall dort auftreten, wo Menschen miteinander kommunizieren, zum Beispiel in sozialen Netzwerken, Diskussionsforen, bei SMS-Kontakten usw. In einer 2009 durchgeführten Studie wurde festgestellt, dass das Problembewusstsein der Jugendlichen für Internet-Mobbing durchaus besteht, dass die Jugendlichen jedoch darauf sehr unterschiedlich reagieren. Einige Jugendliche ziehen sich nach Mobbing-Attacken aus den Netzwerken zurück, andere wehren sich und wieder andere werden selbst zu MobbingTätern (vgl. Dambach 2011:31). Interessant ist, dass Opfer von Cyber-Mobbing neunmal häufiger zu Mobbing-Täter/innen werden als Jugendliche ohne Mobbing-Opfer-Erfahrung (Siewior 2012:45). Cyber-Mobbing kann sensible Jugendliche oder Jugendliche in einer schwierigen Lebenssituation in bis in den Suizid führen. Gemobbte Jugendliche verlieren oft ihre Lebenslust, werden depressiv oder krank. Laut Siewior (2012:39) sind typische MobbingOpfer ängstlicher und unsicherer als andere Jugendliche. Sie sehen sich als Versager/innen, halten sich für weniger intelligent und weniger anziehend. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass verminderte Selbstwertgefühle auch erst als Folge von Mobbing auftreten können. Das ist im Einzelfall schwierig abzuschätzen. 2.3 Was tun bei Mobbing? Nichts ist falscher als die Meinung von Lehrkräften oder Vorgesetzten, dass das Mobbing von selbst aufhöre, wenn sich das Opfer anders verhalten würde. Selbst Personen – Dritte –, die nichts mit dem Mobbing zu tun haben, erhalten oft den Eindruck, das Mobbingopfer sei selber schuld, weil es sich unmöglich verhalte. Dabei hat das Mobbing-Opfer keine Chance, durch anderes Verhalten das Mobbing zu stoppen – Mobbing-Opfer erhalten auch bei best möglichem sozialen Verhalten keine soziale Anerkennung in der Gruppe. Ausserdem werden Mobbing-Opfer mit der Zeit empfindlicher, weil sie immer wieder verletzt werden. Damit wird das Mobbing-Opfer – so Dambach (2011:54) – „in seine Rolle geradezu einbetoniert“. 12 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Averdijk und Eisner (2015:90) sind der Ansicht, dass „wissenschaftlich abgestützte und gut umgesetzte Programme bedeutsame Effekte auf die Verringerung von Viktimisierung und Mobbing an Schulen haben“. Die positiven Effekte sind am grössten, wenn sie folgende Aspekte oder Elemente einschliessen: „Bessere Pausenaufsicht, Disziplinarmethoden, Klassenführung und –regeln, Lehrertraining, schulweite Anti-Mobbing-Politik, Elterninformation sowie Elternschulung oder –treffen“ (Averdijk/Eisner 2015:90). Um sich möglichen Mobbing-Situationen bewusst zu werden, schlägt Dambach (2011:59ff.) für den schulischen Kontext die nicht mehr ganz neue, aber immer noch gute SoziogrammMethode vor, um das soziale Gefüge in der Klasse wahrzunehmen. Ein einleitender Fragebogen über das soziale Klima in der Klasse und über das Wohlbefinden („Wie geht es dir?“) könnte – immer laut Dambach (2011:60) folgt aussehen: Quelle: Dambach 2011:60. 13 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Wenn auch dieser rudimentäre Fragebogen eine ungefähre Übersicht über die Position eines Schülers oder einer Schülerin in einer Klasse gibt, geht daraus nicht hervor, ob tatsächlich eine Mobbingsituation besteht oder ob die betreffende Schülerin oder der betreffende Schüler sich einfach als Aussenseiter/in in der Klasse empfindet. Auch die von Dambach (2011:61-63) empfohlene Soziogramm-Methode macht im Prinzip auch nur die soziale Gruppen-Struktur sichtbar. Sie kann zwar Hinweise auf eine mögliche Mobbing-Situation geben, ist aber noch kein Beweis dafür. Beide Methoden können – sinngemäss – auch in Arbeitsteams oder anderen Gruppen eingesetzt werden. Was können Opfer, Beteiligte und Drittpersonen in Mobbingsituationen tun? Das Opfer sollte in jedem Fall versuchen, mit einer Vertrauensperson über die Situation zu reden. Falls vorhanden, kann es sich auch an eine Mobbingberatungsstelle wenden. Aus Studien ist bekannt (vgl. Pieschl/Porsch 2012:37) dass sich jugendliche Opfer von Cybermobbing nur in 6% der Fälle einer Lehrperson anvertrauten, jedoch 71% Freundinnen und Freunden vom Mobbing erzählten. Das bedeutet, dass Drittpersonen, die von Mobbing oder Cybermobbing hören, auf jeden Fall etwas unternehmen sollten. Sie können bei einer Fachstelle oder bei Vertrauenspersonen Hilfe suchen. Wichtig ist auch, dass die informierten Drittpersonen ihr Wissen nicht einfach wahllos an weitere Personen weitergeben – immerhin könnte eine dieser Personen selber am Mobbing beteiligt sein. Mir scheint wichtig, neben technischen oder organisatorischen Strategien (vgl. Pieschl/Porsch 2012:38) wie Passwortschutz der Opfer-PCs, Austragung bestimmter Personen aus dem Verteiler (Facebook, eMails usw.) zu versuchen, das Mobbing-Setting in ein offenes Konfliktsetting umzuwandeln: Durch Thematisierung, Solidarisierung von Drittpersonen mit dem Opfer und gezieltes Ansprechen von allenfalls bekannter Täter/innen kann – sozusagen als erster Schritt – das Täter-Opfer-Mobbing-Setting in ein 14 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch ausgewogeneres Konfliktsetting umgewandelt werden, was eine ganze Reihe von neuen Konfliktlösungs-Strategie-Möglichkeiten eröffnet ► (vgl. Lerneinheit K6: „Konfliktmanagement“). Damit ist vorerst erreicht, dass das klassische Mobbing-Gefälle durch ein Konfliktsetting ersetzt wird, das dem Opfer deutlich bessere Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Damit wird das Mobbing-Opfer in die Lage versetzt, selber zu handeln – es verlässt die passive Opfer-Rolle. Mobbing-Opfer sollten auch versuchen, Verbündete zu gewinnen. Es geht aber nicht darum, „zurück-zu-mobben“, sondern den Konflikt anders anzugehen – oder allenfalls zu thematisieren. Etwas vage erscheinen die Handlungs-Vorschläge von Pieschl und Porsch (2012:41) im Falle von Cybermobbing: „Nie ,zurückmobben‘, manchmal nichts tun, manchmal Nachrichten blockieren, manchmal eigene Konten und Benutzernamen wechseln, manchmal den Täter von Cybermobbing zum Aufhören auffordern, manchmal Kontakt im realen Leben suchen, manchmal zur Polizei gehen, immer Beweise sichern, immer den Täter beim Anbieter melden, immer Hilfe holen, immer Erwachsenen davon erzählen“. Sehr wichtig ist der Hinweis, immer Beweise zu sichern: Das gilt für jedes Mobbing. Werner/Tödter (2012:122/123) schlagen in Mobbing-Situationen verschiedene Abwehrmassnahmen vor: Am besten sei es, den Mobber vor aller Augen zu entlarven, indem er zum Beispiel auf frischer Tat ertappt wird. Die Gemobbten sollten auf jeden Fall ein detailliertes Tagebuch, um sämtliche Handlungen zu dokumentieren. Auf keinen Fall genügt es, passiven Widerstand zu leisten – es braucht aktive Abwehrmassnahmen. Betroffene können sich wie folgt gegen Mobbing wehren: „- Gegenwehr frühzeitig organisieren - Vorfälle genau dokumentieren - Vertrauenspersonen einbeziehen - professionelle Berater hinzuholen - klare Aussagen an den Mobber richten 15 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch - Verharmlosungen energisch zurückweisen - Scham und Selbstvorwürfen entgegentreten - dem Mobber vor Augen führen, in welches unterstützendes Netzwerk man eingebunden ist - verbale Angriffe schlagfertig kontern - den Mobber bei seinem Tun öffentlich blossstellen“ (Werner/Tödter 2012:123). Für nicht beteilige Drittpersonen schlägt Walker (2011:53) folgende Schritte in Mobbingsituationen vor: - In die Auseinandersetzung eingreifen und Gewalthandlungen stoppen, - sich einen Überblick über die Lage verschaffen, - Konfliktparteien beruhigen, - Opferhilfe leisten. - klare Signale an die Täter/innen geben, - weitere Schritte überlegen, wie etwa den Konflikt aufarbeiten und Konsequenzen zu ziehen Allerdings ist dazu zu sagen, dass diese Interventionen eher für einen „normalen“ Konflikt geeignet sind, nicht aber für Mobbing. Dies darum, weil Mobbing meist versteckt geschieht und oft nicht als solches erkannt wird („Fehlverhalten“ des Opfers, das angeblich selber schuld ist usw.). Aber es stimmt, wenn Walker (2011:53) verlangt, dass Interventionen in Mobbingsituationen eher unterstützend für das Opfer und eher konfrontativ für die Täter sein sollten. 3. Kontrollfragen 1. Was versteht man unter Mobbing? 2. Worin unterscheidet sich eine Mobbingsituation von einem Konfliktsetting? 3. Was ist mit Cybermobbing oder Internet-Mobbing gemeint? 4. Was bedeutet „Happy Slapping“? 5. Wie unterscheiden sich Mobbing und Cybermobbing? 6. Was ist mit „public shaming“ gemeint? 7. Welche Auswirkungen hat Mobbing auf das Opfer? 8. Was können Opfer und Drittpersonen in Mobbing-Situationen tun? 16 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch 9. Warum ist es wichtig, zu versuchen, das Mobbing-Setting in eine Konfliktsituation umzuwandeln? 3.1 Aufgabe 1: Bekannter Mobbingfall Wählen Sie einen Ihnen bekannten Fall von Mobbing oder lassen Sie sich eine Mobbingerfahrung durch eine betroffene Person erzählen. Skizzieren Sie die Entstehung und den Ablauf und allenfalls das Ende des Mobbingfalls. Überlegen Sie, wie das Mobbingopfer darauf reagiert hat, welche Lösungsstrategien das Mobbing-Opfer verfolgte. Setzen Sie sich an Stelle des Mobbing-Opfers und überlegen Sie, was Sie (anders oder gleich) gemacht hätten. Angenommen, Sie hätten vom Mobbing-Opfer von der Situation erfahren, was hätten sie gemacht, welche Schritte hätten Sie unternommen? Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation (Lösung / keine Lösung, wie geht es weiter? Falls Sie selber einmal ein Mobbing erlebten, können Sie auch den Verlauf des Mobbings, Ihre Gefühle, Ihre Versuche, etwas zu ändern, beschreiben. Überlegen Sie, was Sie aus heutiger Sicht anders machen würden. 3.2 Aufgabe 2: Drittperson Nehmen wir an, ein Kollege/eine Kollegin (oder falls Sie Lehrer/in sind: ein/e Schüler/in) kommt zu Ihnen und berichtet Ihnen, dass er/sie gemobbt wird. Skizzieren Sie, wie Sie darauf reagieren. Welche Fragen stellen Sie im Gespräch, wie führen Sie das Gespräch (in Stichworten). Was raten Sie dem Mobbing-Opfer? Welche Schritte unternehmen Sie nach dem Gespräch? 4. Links Was ist Mobbing? http://www.mobbing-info.ch/ Mobbing-Zentrale Schweiz http://www.mobbing-zentrale.ch/ Mobbing-Beratungsstelle http://mobbing-beratungsstelle.ch/mobbing-beratungsstelle/ Mobbing-Studie http://www.seco.admin.ch/themen/00385/02747/02752/02792/index.html?lang=de Mobbing – früh erkennen, Verantwortung wahrnehmen www.seco.admin.ch/themen/00385/02747/02752 17 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Präventionskampagne: Stopp Cyber-Mobbing http://www.projuventute.ch/Kampagnen.1803.0.html 5. Angeführte und weiter führende Literatur Averdijk, Margit / Eisner, Manuel 20152: Wirksame Gewaltprävention. Eine Übersicht zum internationalen Wissensstand. Im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), des nationalen Programms Jugend und Gewalt sowie des Schweizerischen Fonds für Kinderschutzprojekte. Bern: BBL. Brodnig, Ingrid 2016: Hass im Netz. Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können. Wien: Brandstätter. Dambach, Karl E. 2011: Wenn Schüler im Internet mobben. Präventions- und Interventionsstrategien gegen Cyber-Bullying. München / Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Döring, Dorothee 2012: Nie wieder Mobbingopfer! Wie Sie sich gegen Psychoterror am Arbeitsplatz zur Wehr setzen können. Moers: Brendow Verlag. Jäger, Reinhold S. 2014: Mobbing am Arbeitsplatz Schule. Frühzeitig erkennen, analysieren und Lösungsansätze finden. Köln: Link. Kiel, Ewald / Kahlert, Joachim / Haag, Ludwig / Eberle, Thomas 2011: Herausfordernde Situationen in der Schule. Ein fallbasiertes Arbeitsbuch. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Kirchhart, Stefanie 2014: Mobbing in der Schule sicher begegnen. Handlungsstrategien und Werkzeuge für die Klasse und die gesamte Schule. Berlin / Stuttgart: Raabe. Kohn, Martin 2012: Tatort Schule. Hannover: Humbolt. Langenegger, Caroline / Sieber, Anja 2014: Cybermobbing - ein Buch zur Prävention. Entwicklung und Gestaltung des Kinder- und Jugendbuches: Max’ Hirn ist so dünn wie seine Oberarme. PH Zug. Leymann, H. 1993: Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann, Reinbek: rororo. 18 Unit P 4: Mobbing als gewaltsame und vereinnahmende Konfliktaustragung Autor: Christian J. Jäggi © I N T E R – A C T I V E / Bezugsadresse: www.verein-inter-active.ch Neue Luzerner Zeitung 6.1.2014: Boje, Johannes: Ein Ort für anonymen Hass. 22. Neue Zürcher Zeitung 6.5.2015: Avanzino, Natalie: Jeder Zweite leidet unter Cybermobbing. Studie der ETH Zürich zur Gewalterfahrung von Jugendlichen im Kanton Zürich. 16. 3.8.2015: Köhler, Andrea: Der digitale Mob. Hetzkampagnen im Internet: Woher kommt der Mangel an Empathie? 31. 21.9.2015: Kaeser, Eduard: Die Rückkehr des Prangers. 10. Pieschl, Stephanie / Porsch, Torsten 2012: Schluss mit Cybermobbing. Das Trainings- und Präventionsprogramm „SurfFair“. Weinheim / Basel: Beltz. Siewior, Slawomir R. 2012: Cyber-Bullying. Würzburg: Ergon-Verlag. Walker, Jamie 20116: Gewaltfreier Umgang mit Konflikten in der Grundschule. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor GmbH. Werner, Jürgen / Tödter, Ulf 2012: Konfliktmanagement. Prävention – Intervention – Konfliktlösung. Berlin: Corneisen Verlag. Wolmerath, Martin 20134: Mobbing. Rechtshandbuch für die Praxis. Baden-Baden: Nomos. 19