Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!
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Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?! Dr. Letizia Gauck Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie ZEPP Universität Basel Woche des Gehirns 16.03.2015 Inhalt - Fallbeispiel - Hochbegabung und Verhaltensauffälligkeiten im Allgemeinen - Hochbegabung und spezifische Auffälligkeiten: 1. Hochbegabung und Aufmerksamkeits-Defizit(Hyperaktivitäts-)Störungen 2. Hochbegabung und Autismus-Spektrum-Störungen 3. Hochbegabung und Depressionen - Fazit Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 2 Joel - - - - - - - Sehr aufmerksames, aufgewecktes Kleinkind Früh grosser Wortschatz Konnte mit 4 Jahren lesen Mit 7 Jahren einen Intelligenzquotienten (IQ) von 139 1. Klasse übersprungen Grosse Probleme in der 3. Klasse Vorstellung im Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (ZEPP) Bild by Lotus Carroll Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 3 Hochbegabt und verhaltensauffällig? Marburger Längsschnittstudie: Ø Hochbegabte sind nicht verhaltensauffälliger als durchschnittlich begabte. Studie an der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der Ludwig-Maximilians-Universität München: Ø Hochbegabte Kinder zeigen ähnliche Verhaltensauffälligkeiten, aber nur bei ihnen besteht ein Zusammenhang zur Schuleinstellung - - Rost (1993) Gauck & Trommsdorff (2006) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 4 Hochbegabt und verhaltensauffällig: „twice exceptional“ Hochbegabung Leistungsstörung - Das Kind muss seine Begabung einsetzen, um die Leistungsstörung zu kompensieren. - Durch die Hochbegabung erreicht das Kind oft durchschnittliche Leistungen. - Die Leistungsstörung verhindert die Umsetzung des Potenzials in Leistung. - Die Begabung wird häufig nicht erkannt. - Dabei werden die dafür nötigen Anstrengungen häufig nicht als solche erkannt. - Die Störung wird häufig spät oder nicht erkannt. - Das kann sozial-emotionale Schwierigkeiten zur Folge haben. - - - Baum, Cooper & Neu, 2001 Assouline, Foley, Nicpon & Whiteman, 2010; Berninger & Abbott, 2013 Dole, 2000 Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 5 Inhalt - Fallbeispiel - Hochbegabung und Verhaltensauffälligkeiten im Allgemeinen - Hochbegabung und spezifische Auffälligkeiten: 1. Hochbegabung und Aufmerksamkeits-Defizit(Hyperaktivitäts-)Störungen 2. Hochbegabung und Autismus-Spektrum-Störungen 3. Hochbegabung und Depressionen - Fazit Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 6 AD(H)S, Asperger oder Depression? Bitte schätzen Sie: Wie viele Kinder/ Jugendliche leiden unter... - AD(H)S? - Asperger-Syndrom bzw. Autismus-Spektrum-Störung ohne kognitive Beeinträchtigung? - Depression? Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Bitte schätzen Sie: Wie viele K Jugendliche leiden unter... Ø ca. 3-5% Ø ca. 0.01% Ø ca. 10% Universität Basel 7 AD(H)S oder hochbegabt und unterfordert? Symptome/Merkmale - Unruhe - Konzentrationsprobleme, Ablenkbarkeit - Impulsivität Bild by Michael Prince/Corbis Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 8 Gegen eine AD(H)S-Diagnose spricht: - Die Probleme treten nur in der Schule auf. - Das hyperaktive Verhalten ist nicht ziellos. - Das Kind hat mehr Aktivitäten als Kinder mit AD(H)S-Diagnose, bei denen es sich 45 Minuten auf eine Tätigkeit konzentrieren kann (ausser z.B. Fernsehen, Computerspiele). - Zwischenrufe sind meistens richtig. - Kann eine Aufgabe schnell wieder aufnehmen nach Ablenkung. - - - Lind & Silverman (1994) Webb et al. (2005) Lovecky (1994) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 9 Häufigkeit in Basel-Stadt (Grundgesamtheit: 200 000) Hochbegabte: 2% oder 4000 Menschen mit AD(H)S: 5% oder 10 000 Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Hochbegabte mit AD(H)S: 200 Personen (ca. 2 pro Jahrgang) Universität Basel 10 Hilfen für Hochbegabte mit AD(H)S - - - - - - Situationsgestaltung, u.a. Sitzplatz Arbeit mit Konsequenzen (Vorsicht Beziehung) Mit Bildern arbeiten Strukturierung, Techniken wie inneres Sprechen Passendes Anforderungsniveau Gute Beziehung Ø „das Kind muss spüren, dass der/die LehrerIn an ihn glaubt“ (Kerekjarto, 2004, S. 32) Ø „darauf achten, was die Kinder tun können, und nicht darauf, was sie nicht tun können“ (Freeman, 2004, S. 189) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 11 Joel: AD(H)S oder doch eher Asperger-Syndrom? - Aufmerksamkeitsproblematik dominiert nicht, beschränkt sich häufig auf Routineaufgaben, aber Joel ... - Geht kaum auf andere Kinder zu - Zeigt wenig Mitgefühl - Reagiert ablehnend bei spontanen Ideen, z.B. für Ausflüge - Ist sehr sensibel gegenüber lauten Geräuschen Bild by Lotus Carroll Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 12 Was ist das Asperger-Syndrom? - Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10, F84.5) - Das Asperger-Syndrom ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich auszeichnet durch 1. Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktion 2. Repertoire eingeschränkter, stereotyper, sich wiederholender Interessen und Aktivitäten 3. Fehlen einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung Bild by Mt. Carmel Films LLC Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 13 Neu: Autismus-Spektrum-Störung (DSM-V) - Abschaffung u.a. der Diagnose «Asperger-Syndrom»; statt dessen «Autismus-Spektrum-Störung» - Zwei Kernmerkmale: 1. Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation 2. Sich wiederholende Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen - Zusätzliche Codes für Schweregrad und z.B. Sprachstörung, Intelligenzminderung Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 14 Merkmale von Hochbegabten oder von Menschen mit Asperger-Syndrom? - - - - - - - - - - Ausgezeichnetes Gedächtnis Grosser Wortschatz Besorgt um Gerechtigkeit Mühe mit Veränderungen Ungewöhnlicher Humor Hypersensitivität Wird als „anders“ wahrgenommen Unausgewogene Entwicklung Halten sich nicht an soziale Spielregeln Webb et al. (2005) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 15 Unterschiede zwischen Hochbegabten und Menschen mit Asperger-Sydrom - - - - - - Hochbegabte können i.d.R. mit Veränderungen umgehen Sind mit anderen Begabten unauffällig im Sozialkontakt Zeigen Empathie und meist angemessene Emotionen Humor ähnelt demjenigen von Erwachsenen Verständnis von Redewendungen Kreativer, komplexer Umgang mit Spezialinteressen Schwizer (2010); Webb et al. (2005) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 16 Hilfen für Hochbegabte mit Asperger-Syndrom - Verständnis, Information - Geeignete Rahmenbedingungen bieten (Reize reduzieren): Ø Rückzugsraum Ø Geräuschpegel niedrig halten, Kopfhörer Ø Körperkontakt meiden Ø Redewendungen und Ironie vermeiden - Feste Strukturen Ø Transparente, konsequent eingehaltene Regeln Ø Rituale, Pläne (Änderungen ankündigen) - Mit Bildern arbeiten (z.B. Regeln) - Schwierige Situationen vor- und nachbesprechen Schwizer (2010); Webb et al. (2005) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 17 Hägar... Hargens (2013) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Folie 18 Universität Basel Hochbegabung und Depressionen - Hochbegabte leiden nicht häufiger an Depressionen. - Hinweise darauf, dass Hochbegabte ihre Depression verstecken. - Zu Risikofaktoren, die mit der Begabung verknüpft sind (u.a. asynchrone Entwicklung, hohe Erwartungen) fehlen Studien. - Es gibt einen Zusammenhang zwischen sprachlicher Intelligenz und der Neigung, über Vergangenes nachzudenken und sich Sorgen zu machen. - - - - Müller (2009); Cross (2008) Jackson & Peterson (2004) Neihart (2002) Penney et al. (2015); Bild siehe Psychologie heute, April 2015 Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 19 Hilfen für Menschen mit Depressionen - „Stille“ Anzeichen wie Rückzug und Interesselosigkeit können Vorboten sein; das Gespräch suchen - Wichtigste Botschaft: Du bist nicht allein, es gibt auch andere, die Ähnliches empfinden. - (Wieder) aktiver sein (v.a. Bewegung), Erfolgserlebnisse ermöglichen - Ausreichend schlafen, auf das Essen achten - Automatische, ungesunde Gedanken durch gesunde Gedanken ersetzen „Ich kann das alles nicht.“ Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 „Ich mache das, was möglich ist.“ Universität Basel 20 Joel Klassenübergreifendes Projekt „Filmdreh“ Familienberatung: Regeln, Rollen Abstimmung mit Lehrperson: Regeln, Klassenkreis Förderung im Unterricht: Weglassen von überflüssiger Übung, Arbeit am gemeinsamen Projekt etc. - Beratung Joel: Kontaktaufbau, Wirkung auf andere - - - - Bild by Lotus Carroll Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 21 Fazit: Beziehung und Förderung 1. Aufmerksam und informiert beobachten 2. „Erfolgreiche doppelt auffällige Kinder hatten mindestens eine Person in ihrem Leben, die sie bedingungslos akzeptiert hat.“ (Dole, 2000, S. 95, eigene Übersetzung) 3. Schwächen und Stärken fördern: Allen Erfolgsgeschichten gemeinsam ist eine hohe Individualisierung der Intervention. - - - - Dole (2000); Hattie (2012) Bianco (2005); Minner (1990) Speirs Neumeister et al. (2013); Hattie (2012) Assouline & Whiteman (2011); Gallagher & Gallagher (2002); Olenchak (1995) Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 22 „Diagnosen“ – Alis Sicht „Der coolste Spruch kam von Julia: Du siehst normal aus, du bist normal, du bist eben normal so“ Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 23 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Letizia Gauck Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (ZEPP) Universität Basel www.zepp.unibas.ch Literaturangaben Assouline, S. G., Foley Nicpon, M., & Whiteman, C. S. (2010). Cognitive and psychosocial characteristics of gifted students with written language disability. Gifted Child Quarterly, 55, 152-157. Assouline, S. 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The implications of the risk and resilience literature for gifted students with learning disabilities. Roeper Review, 23, 91-96. Freeman, J. (2004). Cultural influences on gifted gender achievement. High Ability Studies, 15, 7-23 Gallagher, S. A., & Gallagher, J. J. (2002). Giftedness and Asperger’s syndrome: A new agenda for education. Understanding our gifted, 14, 7-12. Gauck, L. & Trommsdorff, G. (2009). Probleme hochbegabter Kinder aus Sicht von Kindern, Eltern und Lehrern. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 56, 27-37. Hargens, J. (2013) Systemische Therapie ... Und gut. Ein Lehrstück mit Hägar. Dortmund: verlag modernes lernen. Hattie, J. (2012). Visible learning for teachers. New York: Routledge. Hochbegabt und/oder verhaltensauffällig?!, Dr. Letizia Gauck, 16.03.2015 Universität Basel 25 Literaturangaben (Fortsetzung) Jackson, P. S., & Peterson, J. (2004). Depressive disorder in highly gifted adolescents. Journal of Secondary Gifted Education, 14, 175–186. Kerekjarto, A. (2004). Schule und ADHS - Was muss getan werden? In T. Fitzner & W. Stark (Hrsg.), Genial, gestört, gelangweilt? (S. 18-40). Weinheim: Beltz. Lind, S., & Silverman, L. (1994). ADHD or gifted. Understanding our gifted, 6, 13-16. Lovecky, D. V. (1994). Exceptionally gifted children: Different minds. Roeper Review, 17, 116-120. Minner, S. (1990). Teacher evaluations of case descriptions of LD gifted children. Gifted Child Quarterly, 34, 37-39. Mueller, C. E. (2009). Protective factors as barriers to depression in gifted and nongifted adolescents. Gifted Child Quarterly, 53, 3-14. Neihart, M. E., Reis, S. M., Robinson, N. M., & Moon, S. M. (2002). The social and emotional development of gifted children: What do we know? Waco: Prufrock Press. Neumeister, K. S., Yssel, N., & Burney, V. H. (2013). The influence of primary caregivers in fostering success in twice-exceptional children. Gifted Child Quarterly, 57, 263-274. Olenchak, F. R. (1995). 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