Das vergessene Jubiläum
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Das vergessene Jubiläum
WELTMUSIK W 1 SONNA BEND /S O NNT A G , 3 . / 4 . M A I 2 0 0 8 TAZ TH EMA, D IE VER LAGSB EILAGE D E R T AGE SZE IT UNG, E -MAIL : ANZE IGE N@T AZ. DE , FAX : 030 - 2 5 1 06 94 A ls Madonna beim „LiveEarth“-Spektakel im vergangenen Juli auf die Bühne des Wembley-Stadions trat, hatte sie eine Überraschung mitgebracht: Der ukrainischstämmige Gitarrist Eugene Hütz und ein bärtiger Geiger von der New Yorker „Gipsy-Punk“Band Gogol Bordello kamen mit ihr, um ihren Hit „La Isla Bonita“ in eine wilde Balkanserenade zu verwandeln. Es war einer dieser Momente, die noch Wochen später auf YouTube Furore machen und mit hunderten von Kommentaren bedacht werden. Er zeigte, dass Madonna die Zeichen der Zeit zu lesen vermag. Denn Balkanmusik liegt derzeit fraglos im Trend. Wenn jemand heute wissen will, wo er mehr Musik von Gogol Bordello und verwandten Kapellen finden kann, braucht er nur in den nächsten Plattenladen zu gehen und in der Weltmusik-Abteilung im Osteuropa-Regal zu stöbern: Dort wird er fündig. Das war nicht immer so einfach. Denn der Begriff wurde erst vor rund zwanzig Jahren erfunden, um Musikstilen aus aller Welt den Weg in die Plattenläden zu bahnen. Aus diesem Grund trafen sich 1987 in einem Pub in London eine Handvoll Konzertveranstalter, Musikjournalisten und Labelchefs: Sie suchten einen Begriff, der es ihnen erleichtern sollte, so unterschiedliche Dinge wie bulgarische Frauenchöre, Soukous-Musik aus dem Kongo oder Dangdut-Pop aus Indonesien unter die Leute zu bringen. So kam das Wort von der „Weltmusik“ in die Welt. Dieser Sammelbegriff ist immer umstritten gewesen, selbst ein Szenepapst wie David Byrne hadert mit ihm. Doch die Schublade hat sich als ungemein praktisch erwiesen, um ganz unterschiedliche Musikstile zu popularisieren. Wer hätte gedacht, dass portugiesischer Fado und kubanischer Son, aber auch Blasmusik vom Balkan oder Afrobeat aus Nigeria plötzlich wieder so ein Comeback erleben, von DJs in den Mixer geworfen und weltweit ein neues, urbanes Publikum finden würden? In ihren jeweiligen Heimatländern waren sie schließlich schon abgeschrieben, galten als angestaubt und hoffnungslos altmodisch. Eigentlich gäbe es deshalb etwas zu feiern: Zwanzig Jahre Weltmusik, das ist eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur, weil lokale Stars wie Cesaria Evora, Youssou N’Dour oder der Buena Vista Social Club dadurch international Karriere gemacht haben. Oder, weil inzwischen jede Metropole ihre Tango-, Salsa- oder Balkanszene hat. Sondern auch, weil aus der urbanen Vermischung der Genres ständig neue Hybride entstehen; Elektro-Tango, Flamenco-Funk, Afro-House, LatinHiphop, Orient-Pop, MestizoRock oder eben Gipsy-Punk, um nur einige zu nennen. Die Entdeckung lokaler Popstile, das Revival und Recycling traditioneller Musiken sowie die lokale Adaption globaler Musiktrends, das war – neben der Ausdifferenzierung elektronischer Musik in ihre diversen Spielar- taz Verlags- und Vertriebs GmbH Kochstr. 18, 10969 Berlin V.i.S.d.P.: Bascha Mika Redaktion: Daniel Bax Ätsch! Madonna hat sich den Gipsy-Punker Eugene Hütz von Gogol Bordello geschnappt, um auf der Balkanwelle zu surfen FO TO : DDP Das vergessene Jubiläum Vor 20 Jahren wurde der Begriff „Weltmusik“ erfunden, um Musikstilen aus aller Welt den Weg zu einem urbanen Publikum zu ebnen. Daraus wurde einer der wichtigsten Trends der letzten Dekaden ten – vielleicht die wichtigste Bewegung, die die musikalische Entwicklung der letzten Dekaden geprägt hat. Offenbar gibt es ein Bedürfnis nach Geschichte, Tradition und, ja, auch Exotik – auch das Revival des Roots-Reggae muss man in diesem Zusammenhang sehen. Im Rückgriff auf die musikalische Vielfalt der Welt und „exotische“ Moden der Vergangenheit dürfte – neben der weiteren technologischen Entwicklung – deshalb auch der Schlüssel zu den musikalischen Trends der Zukunft liegen. Einen Vorgeschmack auf diese Entwicklung gab es vor zwanzig Jahren. Damals, 1988, stürmte eine Sängerin aus Israel namens Ofra Haza mit der Popversion eines jemenitischen Volkslieds an die Spitze der Charts, und der Lambada aus Brasilien avancierte für eine Saison zum Modetanz. Es folgte ein Griot-Sänger aus Mali namens Mory Kanté, dessen technoid aufgepumptes „Yeké Yeké“ zu einer frühen Ravehymne aufstieg: auch so ein Hybrid, bei dem elektronische Innovation und die Rückbesinnung auf das Erbe afrikanischer Griots Hand in Hand gingen. Pop ist eben ein gefräßiges Monster, das sich alles einverleibt, was es in die Hände bekommt. Dass die deutsche Musikpresse das runde Jubiläum verschlafen hat, ist allerdings symptomatisch: Was allzu sehr nach Weltmusik aussieht, wird geflissentlich ignoriert und fällt unter verschärften Folkloreverdacht. Auch im Radio und im Fernsehen sieht es, von ein paar Nischen abgesehen, nicht viel besser aus. Das liegt nicht nur am Fremdeln mit allem Fremden. Es liegt auch an der Segregation der Szenen, die in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Ein Festival wie im dänischen Roskilde, wie das Sziget in Budapest oder praktisch alle Festivals in Frankreich, wo Rockbands und Hiphop-Acts einträchtig neben afrikanischen Musikern, BalkanTrompetern oder Salsabands aufspielen, das gibt es hierzulande einfach nicht. Doch allmählich kommt Bewegung in die Fronten. Der Trend zur Vermischung lässt sich schließlich nicht mehr ignorieren, wenn sich britische Musiker wie Damon Albarn oder Björk und US-Bands wie Vampire Weekend in Afrika nach Inspiration umsehen, eine Band wie Calexiko mit Mariachi-Trompetern antritt oder sich ein Indie-Held wie Beirut aus Balkan-Traditionals bedient. Oder eben Madonna den Zigeunertanz übt. Klar, das hat mit der Globalisierung zu tun. Als Paul Simon in den Achtzigerjahren nach Südafrika fuhr, um dort sein „Graceland“-Album aufzunehmen, Peter Gabriel seinen Fans einen afrikanischen Freund namens Youssou N’Dour präsentierte oder David Byrne mit der Salsasängerin Celia Cruz im Duett sang, da ging es ihnen allen noch darum, diese Musik bekannter zu machen. David Byrne und Peter Gabriel gründeten zu diesem Zweck sogar eigene Plattenfirmen. Inzwischen hat sich die „Weltmusik“-Sparte etabliert, zugleich finden neue, hybride Musiktrends aus allen Ecken der Welt dank YouTube, MySpace & Co schnell weltweit ein wachsendes Nischenpublikum. Ob Reggaeton, Baile-Funk, japanischer Manga-Pop oder der Siegeszug des Bollywood-Kinos – die Tribalisierung der Szenen schreitet unaufhaltsam voran, und die Grenzen zwischen „hier“ und „dort“ verschwimmen. Von althergebrachten Vorstellungen von „Tradition“ und „Authentizität“ muss man sich da wohl verabschieden. Aber so gesehen, hat die Weltmusik nicht nur eine Vergangenheit. Sie hat auch noch eine glanzvolle Zukunft vor sich. Ach ja, und Madonna? Sie wählte Eugene Hütz von Gogol Bordello als Hauptdarsteller für ihren Film „Filth and Wisdom“ – ihr Regiedebüt, das sie im Frühjahr schon mal auf der Berlinale vorstellte. Sie hätte ihn auch für ihr neues Album „Hard Candy“ engagieren sollen: Dann wäre es vielleicht etwas aufregender geraten als der matte R -’n’-B-Abklatsch, den sie mit Hilfe von Starproduzenten wie Timbaland und Pharell Williams sowie Justin Timberlake als Duettpartner abgeliefert hat. DANIEL BAX ANZEIGE W 2 DIE TAGESZEITU N G 3./ 4. MAI 20 0 8 weltmusik Hüter des Garifuna-Erbes am Strand von Belize: Hier wurden ihre Vorfahren vor 200 Jahren an Land gespült E -MAIL : ANZE IGE N@ T AZ. DE FO TO : CU MBA NCHA Soul der schwarzen Karibik Vom Schiffbruch verweht: Die Kultur des Garifuna-Volks in Mittelamerika erlebt derzeit ein Revival. Das Garifuna Women’s Project und sein Album „Umalali“ bilden die Speerspitze dieser Bewegung VON KNUT HENKEL Im Licht der aufgehenden Sonne steht Sofia Blanco auf einem schmalen Steg im Hafen von Dangriga: eine Szene, wie einer kitschigen Postkarte entsprungen. Die 54-jährige Sängerin hält Ausschau – sie erwartet eine kleine Flottille von Fischerbooten, die in den Hafen der Kleinstadt im Süden von Belize einlaufen sollen. Leise summt sie eine Melodie vor sich hin. „Es ist ein altes Fischerlied, das die Frauen früher sangen, wenn die Männer in die Kanus stiegen und zum Fischen hinausfuhren“, erklärt Sofia Blanco. Das schwermütigswingende Stück stimmt Sofia Blanco heute noch an, wenn sie ihren Mann Gregorio morgens zum Boot begleitet. „Fischfang und Ackerbau, davon leben wir Garifuna traditionell“, erklärt die Frau, die selbst aus Guatemala stammt. Die Garifuna sind eine kleine Minderheit in Mittelamerika. Woher die schwarzen Kariben, wie sie auch genannt werden, ursprünglich stammen, ist umstritten. Neben vielen Mythen und Legenden ist die St.-Vincent-These die glaubwürdigste Variante. Danach sollen 1635 vor der Küste der gleichnamigen Karibikinsel zwei Sklavenschiffe gesunken sein. Dort ansässige karibische Stämme nahmen die Überlebenden des Unglücks auf, vermischten sich mit ihnen und entwickelten eine eigene Kultur, bis sie von der britischen Kolonialmacht von der Insel vertrieben wurden. „Damals begann unsere Odyssee, die uns über die Küsten Mittelamerikas verstreute“, glaubt auch Desere Diego, eine Freundin von Sofia Blanco. Vom Kleinstaat Belize, der im Süden der mexikanischen Halbinsel Yucatán liegt, die Karibikküste entlang bis nach Panama hat sich das kaum 300.000 Menschen zählende Volk auf fünf Staaten verteilt. Einige sind, wie Desere Diego, in Belize zu Hause. Sofia Blanco dagegen lebt mit ihrem Mann in Guatemala – in der Küstenstadt Livingstone, wo um 1802 die Garifuna in ihren Kanus gelandet sein sollen. „Am 26. November haben die ersten Familien dort ihren Fuß auf den Strand gesetzt“, ist Sofia Blanco überzeugt. In Dangriga, wo sie am heutigen Tag zu Gast ist, wird dagegen der 19. November als „Garifuna Settlement Day“ gefeiert. Schon sind am Horizont die ersten mit Palmwedeln und den großblättrigen Cassavapflanzen geschmückten Boote am Horizont zu sehen, während am Ufer polyrhythmische Trommelschläge erklingen. Die ganze Stadt scheint am Ufer versammelt zu sein. Rumgläser und Bierflaschen machen die Runde, das Stimmengewirr übertönt die Rhythmen der Trommeln. Fotohandys werden gezückt, um den Regenbogen festzuhalten, der sich am Himmel abzeichnet. Als die Boote den natürlichen Hafen von Dangriga, die Flussmündung, erreicht haben, hört man auch von dort die Trommelwirbel. Sofia Blanco und ihre Freundinnen Desere Diego und Chella Torres wiegen ihre Hüften im Takt. Nur Desere Diego stammt aus Dangriga, der heimlichen Hauptstadt der Garifuna. Chella Torres dagegen ist in Honduras geboren und später ausgewandert. Was sie verbindet, sind die gemeinsame Sprache, das Igñeri – ein Dialekt, der aus indigenen, europäischen und afrikanischen Sprachen geboren wurde –, und natürlich die Musik und die Rituale der Garifuna. Die Kultur der Garifuna ist längst zum Weltkulturerbe erklärt und in die berühmte Unesco-Liste aufgenommen worden. Doch ihre Sprache, das Igñeri, droht zwischen Englisch und Spanisch, den dominanten Sprachen der Region, zerrieben zu werden. „Viele Kinder lernen ihre Muttersprache kaum noch“, beklagt Sofia Blanco. Dem Untergang ihrer Kultur will sie jedoch nicht tatenlos zu sehen. So bilden die Garifuna-Frauen die Speerspitze einer Bewegung, die ihr Erbe bewahren möchte. Zum Garifuna Settlement Day schlängelt sich ein langer Prozessionszug im Rhythmus der Trommeln durch die Straßen von Dangriga zur Kirche. Im Zentrum der Zeremonie stehen die Insignien der Garifuna-Kultur: die schwarz-gelb-weiße Flagge, die Cassavapflanze und die beiden Trommeln, Primeiro und Segundo genannt. Von Belize bis Panama hat sich das Volk der Garifuna die Karibikküste entlang auf fünf Staaten verstreut Nicht nur in Belize, auch in Honduras und Guatemala feiert die Garifuna-Kultur ein Revival. Den ersten Schritt, um den Soul der schwarzen Kariben einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, unternahm der Garifuna-Botschafter und Musiker Andy Palacio. Mit dem Garifuna Collective scharte er die besten Musiker dieser Minderheit um sich und nahm, unter der Ägide des Musikproduzenten Ivan Duran, das Album „Wátina“ auf. Der Titel bedeutet so viel wie „Wir sind hier“ und war der klingende Appell, diese Minderheit und ihre Kultur endlich wahrzunehmen: ein musikalischer Weckruf. Dafür gab es einen der wichtigsten Weltmusikpreise, den Womex Award, und viel internationale Aufmerksamkeit dazu. Völlig überraschend erlag im Januar der Garifuna-Mentor Andy Palacio mit nur 47 Jahren einem Herzinfarkt. So kann er jetzt nicht mehr miterleben, wie sein Traum in die zweite Etappe geht. Denn mit den Frauen um Sofia Blanco nahm Ivan Duran im vergangenen Jahr „Umalali“ auf: ein Album, das beste Chancen hat, noch mehr Zuhörer für die Balladen der Garifuna zu begeistern. Jahrelang hatte Ivan Duran, als Sohn spanischer Eltern in Mexiko geboren und in Belize aufgewachsen, die passenden Stimmen für sein Projekt gesucht und war mit seinem Rekorder durch ganz Mittelamerika gereist. „Als er die Frauen dann beisammenhatte, haben wir nur einige Kilometer weiter von hier in einer kleinen Hütte ihren Gesang aufgenommen“, erinnert sich der Musiker Rolando Sosa, der seit Jahren mit Duran im Studio arbeitet. „Um unsere Stimmen haben die beiden ein Kleid geschneidert, das mir sehr gut gefällt“, fügt Desere Diego lachend hinzu. Für die 32-jährige Hausfrau, die sonst eher bei religiösen Feierlichkeiten die Stimme erhebt, wie auch für Sofia Blanco und Chella Torres war es die erste Studioerfahrung ihres Lebens. Bald folgten die ersten Auftritte in Belize, um nun „Umalali“ vorzustellen. „Hier in Dangriga standen wir noch im November mit Andy Palacio erstmals auf der Bühne“, erinnert sich Desere Diego an die Begeisterung eines durchweg jungen Publikums, das viele ihrer Songs mitsingen konnte. Ein Zeichen dafür, dass sich der Wunsch des Garifuna-Propheten erfüllen könnte. Denn Andy Palacio warb für die Wiederentdeckung der Garifuna-Roots, kämpfte für einen bilingualen Unterricht und sah die Musik als wichtigstes Medium kultureller Bewusstwerdung. Auf seinen Spuren wandeln nun Sofia Blanco und das Umalali-„Garifuna Women’s Project“. Umalali: The Garifuna Women’s Project (Cumbancha/Exil). Deutschlandtour: 1. 8. München, 2. 8. Karlsruhe, 3. 8. Nürnberg, 5. 8. Frankfurt FA X : O 3O - 25 10 6 9 4 weltmusik E- M A I L : A N Z E I G E N @ T A Z . D E S ONNABE ND/SONNT AG, 3. /4 . MAI 2008 DIE T AGE SZE IT UNG W 3 „Kokain heizt den Krieg an“ 20 JAHRE AFRICA FESTIVAL WÜRZBURG Seit seinem Hit „La Camisa Negra“ ist Kolumbiens Rockstar Juanes auch in Deutschland ein Begriff. Ein Gespräch über Ruhm, den Linksrutsch in Lateinamerika und Argumente für die Drogenfreigabe INTERVIEW ZONYA DENGI taz: Juanes, seit zehn Jahren leben Sie in den USA, doch Ihr neues Album ist in Ihrer Heimatstadt Medellín entstanden. Warum? Juanes: Weil es meine Heimatstadt ist. Ich bin dort geboren, aufgewachsen, habe Familie und Freunde dort. Und es ist eine wunderschöne Stadt. Medellín hat auch den Ruf, eine sehr gefährliche Stadt zu sein. Stimmt das nicht? Das ist leider das Image, das die meisten Leute von Kolumbien haben. Natürlich hatten wir unsere Probleme vor allem in den Achtzigerjahren, wegen der Drogenkartelle. Aber seither hat sich einiges geändert, auch in Medellín. Es gibt zwar immer noch Probleme mit dem Drogenhandel – die ganze Welt konsumiert Kokain, das ist unser Problem. Aber insgesamt sind die Menschen optimistisch. Doch der Bürgerkrieg mit der Farc-Guerilla hält an … Auch das hängt mit dem Drogenhandel zusammen. Die Paramilitärs wie die Milizen, sie haben alle einen Sponsor. All das Geld, das sie haben, stammt aus Drogengeschäften. Natürlich gibt es auch eine politische Dimension des Konflikts: Sie fordern Territorium und politische Mitspracherechte. Aber sie töten Menschen und finanzieren sich aus dem Drogenhandel. Das Ganze ist ziemlich kompliziert. Was ist Ihre Meinung dazu? Die einzige Lösung, die ich sehe, ist, den Drogenhandel zu legalisieren. Nur um diesem Krieg das Wasser abzugraben, damit sich die Mafia auflöst. Wie kann das aussehen? Ich bin nicht für eine totale Freigabe. Aber man könnte mit Marihuana anfangen, das wäre ein guter Start. Marihuana ist nicht schädlicher, als Zigaretten zu rauchen oder Whisky zu trinken. Nur gilt Marihuana nicht als so gesellschaftsfähig wie Alkohol und Nikotin. Bei Alkohol hat man immerhin die Chance, über die Gefahren aufzuklären. Bei illegalen Drogen dagegen hat man keine Kontrolle. Diese Ansicht ist weder in den USA noch in Kolumbien mehrheitsfähig. Natürlich – weil sie von dem gegenwärtigen System profitieren. Das macht mich pessimistisch. Denn wenn du mit jungen Leuten in Kolumbien sprichst, dann denken alle wie ich. Alle haben nach 50 Jahren genug von der Situation. Was hält denn diesen Krieg am Leben? Die Drogen. Dabei gibt es längst andere Ansätze. In Kalifornien oder in Holland kann man Marihuana auf Rezept in Drogerien kaufen. Das strikte Verbot bringt die Leute nur dazu, sich gegenseitig umzubringen. Es gibt doch gute Argumente, die für ein Verbot sprechen. Gerade im Showgeschäft kann Gib mir die Hand, Gringo! Juanes in Kumpelpose FOT O: UN I VE R SAL In Lateinamerika ist Juanes, 35, schon lange ein Idol. Weil er sich gegen Landminen und für Aidsprojekte einsetzt, gilt er als nachdenklicher Künstlertyp. Mit dem Album „La Vida Es Un Ratico“ kommt er im Sommer nach Deutschland. man ja sehen, wohin Drogenmissbrauch führen kann. Sind Sie trotzdem für die Freigabe? Ich bin der Ansicht, dass Leute, die ein Drogen- oder Suchtproblem haben, medizinische Hilfe brauchen und nicht ins Gefängnis gehören. Und Drogen sind ja auch nicht allein ein Problem im Musikbiz, sondern ein breites soziales Problem. Jemand wie Robbie Willliams würde auch Kokain schnupfen, wenn er Fußballspieler oder Journalist wäre. Es ist eine Sucht, und dagegen hilft nur Aufklärung. Stars wie Britney Spears oder Amy Winehouse haben jüngst spektakuläre Drogenabstürze hingelegt. Warum ist das in Ihrer Branche so verbreitet? Wenn du Drogen nimmst, fehlt dir etwas – wahrscheinlich Liebe. Das hat vielleicht auch etwas mit der Erziehung zu tun, mit dem familiären Hintergrund. Liegt es nicht auch am Stress, dem man als Musiker ausgesetzt ist? Ständig soll man kreativ sein, auf Tournee gehen. Verliert man da nicht die Bodenhaftung? Mag sein. Aber ich habe meine Familie, zwei Töchter, meine Frau, und ich liebe die Musik – das reicht mir. Ich bin Gott dankbar, dass er mir die Chancen gegeben hat, die ich hatte. Klar, ich trinke auch mal gerne Wein oder Whisky. Aber Exzesse sind nicht meine Sache. Natürlich kenne ich Leute im Musikgeschäft, die das tun. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Sie tragen ein Kreuz um den Hals. Sind Sie religiös? Ja. Aber ich glaube auf meine eigene Weise an Gott. Ich gehe nicht in die Kirche und brauche sie nicht als Institution. Aber ich respektiere sie, weil meine Familie katholisch ist. Sie sind als Musiker auch viel unterwegs. Wie halten Sie sich geistig gesund? Ich treibe viel Sport, stehe morgens um fünf auf und gehe ins Fitnessstudio: das ist meine Droge, sonst würde ich verrückt werden. Außerdem lese ich viel. Was lesen Sie zurzeit? Ein Buch von William Ury, das ist ein Anthropologe und Konfliktforscher. Er schreibt über die Bedeutung einer dritten Person für die Mediation von Konflikten. Das lese ich im Augenblick. Einer Ihrer Songs handelt vom Problem der Landminen. Haben Sie sich schon immer für solche Themen interessiert? Oder kommt das erst durch die sozialen Verpflichtungen, die Ihr Ruhm mit sich bringt? Eigentlich war ich schon immer sozial engagiert. Aber jetzt bin ich stärker mit solchen Themen befasst und kenne auch die Statistiken. Sehen Sie, in Kolumbien werden täglich drei Menschen Opfer von Minen – die meisten von ihnen sind Kinder. Mir scheint es, als ob sich niemand darum schert. Wenn ich einen Song darüber mache, ändert das wahrscheinlich auch nichts. Aber es ist wenigstens eine Möglichkeit, auf das Problem aufmerksam zu machen. Als Star Ihrer Größenordnung wird man bestimmt häufig gebeten, sich für wohltätige Zwecke zu engagieren, oder? Ja, ständig. In Lateinamerika gibt es derzeit ein ganz tolles Projekt, das sich Alas nennt: dort engagieren sich viele Künstler, Intellektuelle und reiche Sponsoren. Nach dem Erdbeben in Peru haben wir Geld gesammelt. Und auch nach dem Hochwasser in Mexiko wurde ich gefragt, ob ich dort auftreten könnte. Sooft es geht, versuche ich, meine Musik und meinen Einfluss positiv nutzbar zu machen. Welches ist Ihrer Meinung nach das größte Problem in Lateinamerika? Die soziale Ungleichheit. Viele Menschen besitzen nichts, einige wenige haben alles. Das zieht viele Probleme mit der Bildung oder der Ernährung nach sich. In den letzten Jahren erlebt Lateinamerika einen politischen Linksrutsch. Steht die soziale Frage dadurch nicht im Mittelpunkt der Agenda? Ich glaube, es wird lange dauern, bis man Ergebnisse sieht. Aber die Richtung stimmt. Ob Brasilien oder Argentinien, die Leute sind froh, dass sich etwas ändert, auch wenn der Wandel eine Weile brauchen wird. In Venezuela ist die Lage speziell: Das Land ist sehr polarisiert. Und auch in Kolumbien ist es etwas anders. Durch den Konflikt dort unterscheidet sich die Situation sehr vom übrigen Lateinamerika. Das Drogenproblem in Kolumbien haben Sie noch nie in einem Song angesprochen. Warum nicht? Es ist nicht leicht, darüber einen Song zu schreiben. Vielleicht finde ich eines Tages einen Weg. In Deutschland verstehen die meisten ja nicht, worum es in Ihren Songs geht. Ist das frustrierend? Ja, ziemlich – zumindest habe ich es am Anfang so empfunden. Aber mittlerweile denke ich, es hat auch sein Gutes: Die Leute singen die Songs phonetisch mit, tanzen dazu und lassen sich auf die Musik ein – das ist großartig. Stört es Sie, dass Musik aus Lateinamerika in Europa auf so viele Klischees trifft? Klar: Viele Leute glauben, diese Musik wäre ein einheitliches Genre. Du musst tanzen, lächeln, es geht um Sommerhitze – aber so einfach ist das nicht. Ich glaube aber, solche Klischees sind normal. Viele denken ja auch, dass Deutsche nur Bier trinken, und alle Spanier Toreros sind. Tour: 4. 6. Berlin, 5. 6. Köln, 22. 7. Stuttgart, 23. 7. München Weil sie keinen Veranstalter finden konnten, der ihre afrikanische Lieblingsband für ein Konzert nach Würzburg laden wollte, gründete Stefan Oschmann mit einem Freund flugs ein eigenes Festival. Zwanzig Jahre später ist das „Africa Festival“ in Würzburg nicht nur das dienstälteste seiner Art, sondern auch das größte in Europa. Zum Jubiläum befragte man die Fans nach ihren Favoriten. Auf diese Weise ist ein Programm zusammengekommen, das sich wie ein „Who is Who“ der afrikanischen Musikszene liest. So werden sich auf der Mainwiese in Würzburg verdiente Helden wie der Mbalax-Superstar Youssou N’Dour aus dem Senegal, Disco-Queen Angelique Kidjo aus Benin, der Jazz-Trompeter Hugh Masekela aus Südafrika und der Soul-Makossa-Man Manu Dibango auf der Bühne drängeln. Gespannt sein darf man auch auf Newcomer wie die Touareg-Band Toumast, den Songwriter Neco Novellas aus Mosambik, Mpho und Zvimba mit ihrem Topwnship-Jive aus Kapstadt sowie die franko-nigerianische Songwriterin Asa (Foto). Darüber hinaus wird es vom 22. bis 25. Mai eine Filmreihe, ein Kinderprogramm, einen Basar, Podiumsdebatten sowie DJ-Partys geben. BUNTE WELTKUNDE: 15 JAHRE PUTUMAYO Wenn es stimmt, dass viele potenzielle Kunden nicht mehr den Weg in die CD-Läden finden, weil ihnen das Angebot dort zu unübersichtlich geworden ist, dann müssen die CDs eben zu den Kunden kommen: das ist das Geschäftsprinzip der Firma Putumayo, die ihre Weltmusik-Compilations mit ihren kitschig-bunten Covern im Stil naiver Malerei vorzugsweise in Buchläden, Bio-Kaufhäusern und Dritte-Welt-Shops unter die Leute bringt – dort kann man die Musik meist auch gleich hören. Der Name Putumayo steht aber nicht nur für ein cleveres Geschäftsmodell, sondern vor allem für ein enorm gutes Händchen bei der Auswahl der Titel ihrer Compilations, die von „Music from the Coffeelands“ über „Euro Lounge“ bis „Arabic Groove“ für jeden Geschmack etwas zu bieten haben. Zum Jubiläum ist der Sampler „African Party“ erschienen, daneben gibt es noch die „Playground“-Reihe für Kinder. Weniger bekannt ist, dass Putumayo auch Solo-Künstler unter Vertrag hat, deren Karrieren es angestoßen hat: Der Songwriter Habib Koité aus Mali (Foto), dessen sanfte Balladen sich bestens ins Firmenprofil fügen, ist so ein Fall. BX ANZEIGE DI E TAGE S Z EI T UNG S O N N A B E N D / S ON N T A G , 3 . / 4 . MAI 20 0 8 weltmusik Köstlicher tazpresso aus Fairem Handel FAX : O3O - 2 5 1 06 94 E -MAIL : ANZE IGE N@ T AZ. DE Brüder im Geiste Samir, Wissam und Adnan sind Söhne eines Lautenbauers aus Nazareth. Als Trio Joubran revolutionieren die drei Palästinenser das Spiel der Oud Probieren Sie den tazpresso. Ökologisch angebaut und fair gehandelt. Mehr Infos und Bezugsadressen unter www.taz.de/tazpresso. Das weiße Band der Poesie: Adnan, Wissam und Samir (vorne) beim Fototermin am Strand VON DANIEL BAX „Wir wollen normale Musiker sein“, sagt Samir Joubran. „Aber das können wir erst, wenn die israelische Besatzung endet“, glaubt er. Mit dem Trio Joubran gönnt er sich eine kleine Flucht, indem er dessen Instrumentalmusik nicht mit politischem Anspruch überfrachtet. „Ich will frei sein in meiner Musik“, erklärt er dazu. „Und Musik sagt oft mehr als viele Worte.“ Das Trio Joubran ist eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur, weil es aus drei Brüdern besteht. Sondern auch, weil es sich aus drei Virtuosen an der Oud zusammensetzt – bislang war die arabische Laute vor allem als Soloinstrument berühmt. Kopf des Trios ist Samir, 35, der älteste der drei Brüder und Sohn eines Instrumentenbauers aus Nazareth. Obwohl in Israel geboren, kann er sich mit dem Staat nicht identifizieren. „In seiner Flagge und seiner Nationalhymne komme ich nicht vor“, stellt er fest. Deshalb bezeichnet er sich auch nicht als „israelischer Araber“, wie er offiziell heißt, sondern als Palästinenser. Mit den Paradoxien hat er zu leben gelernt: In den Neunzigerjahren hat er am Konservatorium in Kairo studiert, „als erster und letzter Palästinenser“, denn mit seinem israelischen Pass war er dort nicht gern gesehen: alle sechs Wochen musste er ausreisen, um sein Visum zu erneuern. Sein Bruder Wissam ist zehn Jahre jünger und ging zum Geigenbau-Studium ans renommierte Stradivari-Konservatori- um nach Cremona, bevor es sich seinem Bruder anschloss. Zuletzt kam noch Adnan dazu, mit 22 Jahren das Nesthäkchen der Familie. Wie sich die drei Brüder zu einem Trio zusammenrauften, hat der Filmemacher Raed Andoni in seiner Dokumentation „Improvisation“ für den TV-Sender Arte festgehalten. In Frankreich haben die drei Brüder inzwischen ihr Domizil aufgeschlagen, von hier aus koordinieren sie ihre Aktivitäten. Bislang haben sie in Frankreich mehr Konzerte gegeben als sonst wo, ihr Album „Majaz“ ist dort ein Bestseller. Doch wichtiger ist ihnen, dass sie auch in der Heimat ein Echo finden. Das Erscheinen von „Majaz“ feierten sie daher mit einem FO TO : SO NY/BMG bank erlebte er den Ausbruch der Intifada, die Ausgangssperren und die massive Gewalt der israelischen Armee. Zur Gewaltspirale im Nahostkonflikt mag er nur so viel sagen: „In Europa gibt es schon drei Generationen, die keinen Krieg mehr erlebt haben. Wir dagegen hatten nie eine längere Zeit des Friedens. Die Gewalt ist schon in unsere Gene übergegangen“, glaubt er und meint damit Araber, Israelis und Amerikaner gleichermaßen. „Es wird Generationen brauchen, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen“, fürchtet er. Dass sich ein junges Publikum für ihre Musik begeistert, ist für Samir Joubran der größte Erfolg. „Als ich 15 Jahre alt war, schämte ich mich, meiner Freundin zu sagen, dass ich Oud spiele“, erinnert er sich. „Die Mädchen in meiner Schule haben mich ausgelacht, weil sie mich für altmodisch hielten.“ Doch sein Ansatz ist nicht, arabische Traditionen wie im Museum auszustellen, sondern sie zu revolutionieren. Samir Joubran macht keinen Hehl daraus, dass ihn Al Di Meola, John McLaughlin und Paco de Lucia mit ihrem Gitarren-Livealbum „Friday Night in San Francisco“ zum flirrenden Sound des Trio Joubran inspiriert haben. Neben arabischen Oud-Stars wie Munir Baschir führt er aber auch indische Musik als Vorbild an. „Was heute geschrieben wird, ist die Tradition von morgen“, ist er überzeugt. Schon jetzt bietet das Trio Joubran eine Vision für all jene, die der Parolen in diesem Konflikt müde sind. Ihr Ramallah-Konzert wurde von al-Dschasira in alle arabischen Haushalte übertragen Freikonzert in Ramallah, im halbautonomen Westjordanland. Als Sponsor gewannen sie einen lokalen Telefonanbieter, der auch für die aufwendige Werbekampagne per Plakat und SMS-Rundmail aufkam – Samir Joubran war es wichtig, nicht auf die Unterstützung einer ausländischen Organisation angewiesen zu sein, die sonst das Kulturleben sponsern. Ihr Auftritt dort geriet zum Triumph, er wurde von al-Dschasira sogar live in die ganze arabische Welt übertragen. Sechs Jahre hat Samir Joubran selbst in Ramallah gelebt, von 1999 bis 2005, seine Ehefrau stammt von dort. In der West- Trio Joubran: „Majaz“ (Randana) WEST-ÖSTLICHE VIOLINENSUITEN: CLAUDE CHALHOUB Seine Geige hat Claude Chalhoub durch dunkle Jahre gerettet. Im Bürgerkrieg der Achtzigerjahre wuchs er im christlichen Teil Beiruts auf. Der Vater betrieb einen Friseursalon, war aber von Musik beseelt: jedes seiner elf Kinder bekam ein Instrument, für Claude war die Violine vorgesehen. „Sie wurde für mich zu einem Refugium, während um unser Haus die Bomben niedergingen.“ Wie viele junge Leute seiner Generation war Claude Chalhoub auf Autodidaktik angewiesen. Ein Stipendium am Londoner Royal College of Music katapultierte ihn in eine andere Welt, und 1999 FOT O: HERZOG REC. W 4 engagierte ihn Daniel Barenboim als Primusgeiger für sein „WestEastern Divan Orchestra“. Heute lebt Chalhoub wieder in Beirut. Auf seinem Soloalbum „Diwan“ (Herzog Records) hält sich Chalhoub fast ausschließlich in der Sphäre der klassischen Musik auf, Zwiesprache hält er mit den Streichern des Gewandhausorchesters Leipzig. Gruppiert sind die meisten seiner Kompositionen in Suiten, die mal an Bartók und Dvořák erinnern, dann wieder in barockem Vokabular schwelgen. Auch orientalische Stimmungen sind erkennbar, aber nur subtil. „Ich versuche nicht, meine Musik zu multikulturalisieren“, erklärt er. „Ich habe nun mal diesen kulturellen Hintergrund, das kommt völlig natürlich.“ SF FA X : O 3O - 25 10 6 9 4 weltmusik E- M A I L : A N Z E I G E N @ T A Z . D E SO NNABE ND/SONNT AG, 3. /4 . MAI 2008 DIE T AGE SZE IT UNG W 5 MUSIKALISCHE PASSAGEN ÜBERS MITTELMEER Erinnerungen an Andalusien In der Küche ihrer Mutter gelernt haben will Yasmin Levy die sephardischen Balladen, die sie heute für ein neues Publikum aufbereitet. Dieses Liedgut geht auf jene Juden zurück, die nach der Rückeroberung Spaniens durch die katholischen Könige 1492 mit den Mauren von dort vertrieben wurden und sich, von Marokko über Saloniki bis Istanbul, an den damals muslimisch beherrschten Küsten des Mittelmeers ansiedelten. Nur eine verschwindende Minderheit – in Israel und der Türkei – spricht heute noch das altertümliche Ladino. Doch in Wiegenliedern und liturgischen Gesängen hat sich das Erbe aus andalusischen Zeiten bewahrt. Verloren in Tel Aviv? Dafür haben die vier Jungs von Boom Pam den Weg nach Deutschland gefunden Kräuter der Provence Zum 60. Geburtstag Israels stellt das bundesweite Festival „ILanD“ die Musikszene des Landes vor. Kultbands wie Boom Pam oder das Girl-Trio HaBanot Nechama treffen dabei auf deutsche Partner Ein beliebtes Bonmot, das IsraelBesuchern entgegengebracht wird, lautet: Wer nach Israel reise, der könne viele Eindrücke sammeln und viel Neues entdecken. Am Ende aber fahre er nach Hause mit mehr Fragen als zuvor. Denn Israel ist ein kompliziertes, trotz seiner überschaubaren Größe bisweilen unüberschaubares Land. Diese Verwirrung spiegelt sich auch in der Musik von Boom Pam. Das Quartett aus Tel Aviv führt musikalisch zusammen, was im richtigen Leben nicht immer zusammenpasst. Den SurfTwang aus Kalifornien bringen sie im Gleichklang mit der traditionellen Hochzeitsmusik des Balkans, den Jazz versöhnen sie mit der Folklore, den Rockabilly mit arabischen Harmonien und einer bayerischen Tuba. Selbst die Melancholie des Klezmer findet man auf ihrem neuen, zweiten Album mit dem Nonsens-Titel „Puerto Rican Nights“ (Essay Records), das dieser Tage auch in Deutschland erscheint. Bislang hatten Boom Pam diese Musik, die wie keine andere im Ausland für das jüdische Erbe steht, demonstrativ ignoriert, weil sie den touristischen Blick auf ihr Land nicht bedienen wollten. Boom Pam gehören zu den Stars bei „ILanD“ – einer „Begegnung moderner Musik aus Israel und Deutschland“, wie es die Veranstalter formulieren. Denn von den Konflikten in Israel kann man jeden Tag in den Zeitungen lesen. Doch seine Musikszene ist im Ausland fast unbekannt. Um sie hierzulande vorzustellen, hat man drei deutsche und israelische Bands gepaart, die stilistisch zueinander passen. So adaptieren auch die 17 Hippies, die auf Boom Pam treffen werden, Folklore aus West und Ost und kreuzen sie mit der angloamerikanischen Pophistorie, um daraus etwas Neues zu schaffen. „Postpostpostpostpostmodern“, beschreibt Boom-Pam-Gitarrist Uri Brauner Kinrot den Ansatz seiner Band. Er könnte auch von den 17 Hippies stammen. Wenn Boom Pam den kulturellen Schmelztiegel Israel in Töne fassen, dann zeigen die anderen beiden israelischen Teilnehmer an „ILanD“, dass aus dieser Verwirrung längst ein modernes, westlich orientiertes Land gewachsen ist. Da ist zum einen das Trio HaBanot Nechama, bestehend aus den Sängerinnen Karolina, Dana Adini und Yael Deckelbaum. Die drei waren schon zuvor als Solo-Künstlerinnen bekannt und sind noch in anderen Bands beschäftigt (in der israelischen Musikszene hat fast jeder gleich mehrere Engagements). Das Frauen-Trio erinnert ein wenig an die Indigo Girls, dockt mit seinen berückenden, virtuos ineinander verwobenen VokalHarmonien (in Englisch und Hebräisch) über akustischen Gitarren aber auch schwerelos an das grassierende Folk-Revival an. In Israel haben sie damit einen Nerv getroffen: Ihr Debütalbum Yasmin Levy: „Mano Suave“ (H. Mundi) FOT O: E SSAY R E C. Der gelobte Sound VON THOMAS WINKLER Mit ihrem am Flamenco geschulten Gesang und einer bewusst türkisch-orientalisch gewählten Instrumentierung haucht Yasmin Levy diesen uralten Liedern wieder neues Leben ein. Mit ihrer Leidenschaft setzt sich die Sängerin aus Jerusalem an die Spitze eines Revivals sephardischer Klänge, das von Musikern in Spanien, Griechenland und der Türkei vorangetrieben wird. Ihr Vater, der 1976 verstarb, hatte sein Leben der Sammlung und Archivierung der sephardischen Überlieferungen gewidmet. Er wäre erstaunt, könnte er sehen, welche Blüten diese Musik heute wieder treibt. wurde im vergangenen Jahr nach nur drei Wochen vergoldet und räumte anschließend alle verfügbaren Musikpreise ab. Der Rapper Mook E wiederum gilt als Pionier des israelischen Hiphop. In diesem Genre spiegelt sich wie in keinem anderen der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern. Denn auch die Jugendlichen aus den von Arbeitslosigkeit geplagten arabischen Vierteln und Städten erzählen im Rap von ihrer Perspektivlosigkeit und dem Leben als Israeli zweiter Klasse. Andererseits feiert ein israelischer HiphopStar wie Sublimal mit patriotischen Texten und protzigem Davidstern um dem Hals große kommerzielle Erfolge. Den Boden für den HiphopBoom bereitete Mook E einst mit seiner Formation Shabak Samech: Als Schüler aus dem kleinen Städtchen Yavneh waren sie in den frühen Neunzigerjahren die Ersten, die auf Hebräisch zu rappen versuchten. Damals kopierten Shabak Samech noch die amerikanischen Vorbilder. Doch mittlerweile hat Mook E einen eigenen Stil entwickelt, der vor allem auf organische, akustische Klänge setzt, auch mal aus den musikalischen Einflüssen der Region schöpft, bisweilen sehr rockig und dann fast schon liedermacherhaft anmutet. Auf „Shabbat Night Fever“, einer neuen Compilation mit aktueller Popmusik aus Israel, gehört der Beitrag von Mook E zu den wenigen, die das multikulturelle Erbe des Landes ausdrücklich be- rücksichtigen: In „Shabak Music“ baut er aus Oriental-Samples ein flotten Dance-Track. Der Reggae von Funset, der Rap von Coolooloosh, der Dancehall der Soulico Crew oder die Breakbeats von The Apples dagegen orientierten sich an internationalen Vorbildern und klingen, als hätten sie auch sonst wo auf der Welt entstehen können. So sind es neben Boom Pam nur der Produzent Babaganooshkain (mit „Coombah Yeah“) oder die Band Hadag Nachash, die arabische Harmonien nutzt, die auf „Shabbat Night Fever“ eine Brücke schlagen zwischen Folklore und Pop, zwischen Ost und West. Natürlich kann man wie bei jeder Compilation über die Auswahl streiten. Auf „Shabbat Night Fever“ vermisst man bekannte Namen wie den Songwriter David Broza oder den EthnoReggae-Star Idan Raichel. Die Balkan-Polka-Kapelle TeaPacks, die Israel beim letzten Eurovision Song Contest vertreten hat, fehlt ebenso wie der Rapper Sublimal. Aber „Shabbat Night Fever“ erhebt nicht den Anspruch, ein repräsentatives Abbild der Musikszene zu liefern. Sie will lediglich einladen zu einer musikalischen Reise durch das moderne Israel, das komplizierteste Land der Welt. „ILanD“-Festival vom 29. Mai bis 1. Juni. Einzelne Bands machen in Cottbus, Brandenburg, Köln und Leipzig Station, in Berlin ist das Finale. Die Compilation „Shabbat Night Fever“ (Fly Fast) kommt am 31. 5. Infos: www.iland.de Kennen gelernt haben sich ihre Eltern in Israel, aufgewachsen ist Karine Hallakoun alias „Sista K“ aber in Marseille. So kommt es, dass sie mit ihrem Watcha Clan, dem sie als Frontfrau vorsteht, nicht nur aus sephardischen und algerischen Einflüssen schöpft, die sie einst von ihrem Vater mitbekommen hat, sondern auch aus vielen anderen Facetten ihrer so mediterranen wie multikulturellen Hafenstadt. Geprägt ist der Sound des Watcha Clans von den elektronischen Rhythmen des globalen Club-Undergrounds, von Jungle, Drum ’n’ Bass und anderen Breakbeats, ergänzt um die Farben des Maghreb und spezifische Kräuter der Provence. Balkan in Brooklyn Anders, als der Name vermuten lässt, stammt die Band Balkan Beat Box nicht aus Osteuropa, sondern aus New York. Hinter diesem Namen verbergen sich der gelernte Klezmer-Klarinettist Ori Kaplan und der PunkSchlagzeuger Tamir Muskat. Beide sind in Israel aufgewachsen, kennengelernt haben sie sich aber erst in Brooklyn. „Nu Med“, ein Kürzel für „New Mediterranean“, haben Balkan Beat Box ihren Bastard aus Klezmer und Balkan-Fanfaren mit Hiphop und Dub-Reggae getauft – was wohl heißen soll, dass bei ihnen irgendwie alles zusammenfließt. Ihr Album „Nu Made“ enthält nun vor allem Remixe bewährter Titel, gehört aber ab sofort auf jede Party von Welt. Auf „Diaspora Hi-Fi“ herrscht ein babylonisches Sprachgewirr aus Arabisch, Hebräisch und Englisch, wobei der Eindruck eines orientalischen Basars überwiegt. Dabei wirft „Supreme Clem“, der Programmierer des Watcha Clans, beileibe nicht nur Berbergesänge aus dem AtlasGebirge, sondern auch Samples von osteuropäischen Blaskapellen oder Klezmer-Bands in seinen Mixer. Damit knüpft der Watcha Clan an Londoner Bands wie die Asian Dub Foundation oder die Elektro-Klezmer-Pioniere von OiVaVoi an, erfindet aber seine ganz eigene Klangspur. Watcha Clan: „Diaspora Hi-Fi“ (Piranha) In den USA sind Balkan Beat Box das Zugpferd des kleinen Plattenlabels „JDub“, das neben Magazinen wie Heeb und JVibe für ein neues jüdisches Selbstverständnis steht. Zuvor hatten sie in der Balkan-Kapelle des ukrainischen Szene-Stars und Madonna-Freunds Eugene Hütz gespielt. Dessen „Zigeuner-PunkCabaret“ war ihnen dann wohl zu rockig, ihr eigenes Projekt kommt jedenfalls wesentlich elektronischer daher. Was nicht heißt, das man sich nun aus dem Weg geht: Unter dem Namen „Jewish-Ukrainische-Freundschaft“ arbeiten Eugene Hütz und Tamir Muskat noch immer zusammen. BX Balkan Beat Box: „Nu Made“ (Crammed) ANZEIGEN W 6 DIE TAGESZ EI T UNG S O N N A B E N D / S ON N T A G , 3 . / 4 . MAI 20 0 8 IM ORIENT-EXPRESS NACH KIEW UND ISTANBUL Rock der Karpaten Kobzar, so hießen jene Troubadoure, die im Mittelalter durch die Karpaten zogen. Mit ihrer Bandura, der ukrainischen Zither, trugen sie Hohelieder auf ruhmreiche Kosakenzeiten vor. Nach ihnen haben Haydamaky ihr Album benannt: ein Zeichen, dass sie sich diesen historischen Figuren verbunden fühlen. Nicht nur die Bandura haben Haydamaky in ihren Sound eingebaut, auch Mandoline, Trompete, Akkordeon und Flöte tauchen darin auf. Aus Ska, Reggae und Rock und der Folklore ihrer Region schaffen sie ihre eigene Fusion. Populär wurden Haydamaki im Zuge der „Orange Revolution“, weil sie ein neues Selbstbewusst- sein zu artikulieren schienen. Ein Faible für Outlaw-Romantik ist unverkennbar: Sie haben sich nach Rebellen benannt, die im 18. Jahrhundert gegen polnische Vorherrschaft kämpften. Ihr Pathos erinnert ein wenig an Bands wie System of a Down, auch runden sie ihre slawische Ästhetik gerne mit ein wenig Gothic-Grusel ab. Doch es wäre falsch, sie deshalb als Rammstein der Karpaten abzutun: Dafür sind sie zu vielseitig. Im Vergleich zum Vorgänger „Ukraine Calling“ haben sie auf „Kobzar“ einen Schritt nach vorne gemacht und auch für ruhigere Töne Platz gelassen. Haydamaky: „Kobzar“ (Eastblok) Ambient-Trip mit Mevlana Vor 800 Jahren wurde der Mystiker Jalaluddin Rumi, genannt Mevlana, geboren. Er begründete den Orden der tanzenden Derwische, die sich um ihre eigene Achse in Trance drehen, und gilt als einer der wichtigsten Poeten und Philosophen jener islamischen Spielart, die man Sufismus nennt. Sein Grab liegt in Konya, im Süden der Türkei, und ist dort bis heute eine Pilgerstätte. Grund genug für den Elektronik-Musiker Arkin Ilicali alias Mercan Dede, ihm zum Jubiläum eine Hommage zu widmen. Das kommt nicht von ungefähr, schließlich hat er sich bislang schon ausgiebig auf das spirituellen Erbe des Sufi-Meisters bezogen, seine Techno-Am- bient-Klänge mit Motiven aus der musikalischen Mevlana-Tradition kombiniert und sogar Derwisch-Tänzer zu sich auf die Bühnen gesellt. Für „800“ hat Mercan Dede Virtuosen an der Kanun-Zither, der Kniegeige Kemence und der indischen Tabla um sich geschart, außerdem den türkischen RapStar Ceza, während er selbst seine Beats nur subtil tuckern lässt. Es soll sein letztes Album sein: Nach 15 Jahren als Musiker will sich Mercan Dede künftig lieber der Malerei, dem Gartenbau oder der Kochkunst widmen. „800“ wäre jedenfalls ein würdiger Abschied. Mercan Dede: „800“ (Double Moon) Nachtflug über den Balkan Wer auch immer Lola sein mag: die Sampler aus dem Hause „Lola’s World“ sind eine Marke. Das gilt für die Compilation-Reihen wie „Latin Garden“, „Harem’s Secret“ oder „Made in Persia“, die von der Bremer DJane Gülbahar Kültür zusammengestellt werden und oft schon in die dritte Folgen gehen. Und das gilt für Titel wie „Afro Club Night“ oder jetzt die „Balkan Club Night“Doppel-CD, für die sich ihr Kollege Ralph „von“ Richthofen verantwortlich zeichnet. Seit über 25 Jahren legt Richthofen in Clubs und Diskotheken auf, außerdem ist er als Moderator beim WDR-Radio Funkhaus Europa zu hören. Seinen Spitznamen haben ihm US-amerikanische Musiker verpasst, mit deANZEIGEN nen er in den Siebzigerjahren als Produzent im Studio zusammenarbeitete, weil Richthofen damals ein rotes Fahrrad fuhr und zur Pilotenjacke eine Nickelbrille trug. Flugs griff er auf das „von“ als Künstlernamen zurück, als er sich als DJ zu betätigen begann. Glaubt man seinen Compilations, hat der „rote Baron“ eine Vorliebe für bollernde Beats. Auf „The Balkan Club Night“ lädt er zu einem ausgiebigen Nachtflug über Osteuropa ein. Der Sampler fährt alle Größen der Balkanszene auf, von Fanfare Ciocarlia bis Shantel oder dem Slowenen Magnifico, und stellt nur eine Bedingung: Hauptsache, es knallt. BX „Balkan Club Night“ (Lola’s World) weltmusik FAX : O3O - 2 5 1 06 94 E -MAIL : ANZE IGE N@ T AZ. DE Red Hot Balkan Peppers Beim Eurovision Contest in Kiew schlug eine Oma für sie auf die Pauke. Doch das war nur der Anfang. Nun wollen Zdob Si Zdub aus Moldawien mit ihrem Album „Ethnomecanica“ den Westen erobern VON THOMAS WINKLER Roman Iagupov sieht aus, wie Rockmusiker halt so aussehen nach einem Auftritt. Wirr hängt ihm das nasse halblange Haar ins Gesicht, die Augen sind gerötet, der Blick ist leer. Im Hintergrund dampft pappiger Kantinenfraß vor geleerten Bierflaschen. Roman Iagupov trägt eine Hose, die über den Oberschenkeln unnatürlich weit ist und weiter unten eng zuläuft. Das einzige Indiz dafür, dass Zdob Si Zdub mehr sind als nur eine weitere Rockband. „Unser Rock …“, stockt der Sänger und sucht in seinem eher rudimentären Englisch nach dem rechten Wort, „… ist eher ungewöhnlich.“ Das ist noch untertrieben. Denn das Sextett aus Moldawien klingt stellenweise, als wären die Beastie Boys auf einer Zigeunerhochzeit zu Gast: Hiphop-Einlagen wechseln bei ihnen mit Hirtenflöten, MetalGitarren mit Volkstanzrhythmen und Gipsy-Posaunen, traditionelle Trinklieder mit CountryPickung. Zwischendrin ein Geträller, das an bulgarische Frauenchöre erinnert, oder wehmütiger Balkangesang. Diese Mixtur wird allmählich auch im Westen immer populärer. Zdob-Si-Zdub-Sprachrohr Iagupov weiß nicht so recht, wie er die Musik seiner Band nennen soll. 14 Jahre gibt es sie schon, gerade wurde mit dem Album „Ethnomecanica“ ein repräsentativer Querschnitt für den westeuropäischen Markt zusammengestellt. „Ethno-Punk oder Balkan-Wave“, schlägt er vor. Doch dass Zdob Si Zdub bereits auf der allerersten „Russendisko“-Compilation des Berliner Vorzeigeosteuropäers Wladimir Kaminer mit einem Song vertreten waren, hat früh zu ihrem Ruhm beigetragen. Noch bekannter wurde die Band im Jahr 2005 durch einen „verfickten Gesangswettbewerb“, wie Iagupov sich ausdrückt: Beim Eurovision Song Contest in Kiew trat sie mit „Boonika Bata Doba“ (je nach Laune des Übersetzers: „Oma schlägt die Trommel“ oder „Schlagt die Oma!“) samt einer Rentnerin mit Rahmentrommel auf die Bühne. Am Ende erreichten Zdob Si Zdub damit einen respektablen sechsten Platz. Zu diesem Zeitpunkt waren Zdob Si Zdub zu Hause längst Stars. Ein Status, der auch bei ihrem Auftritt in Berlin offenbar wird. Das Publikum in der Kulturbrauerei setzt sich großenteils aus Mitgliedern osteuropäischer Exilgemeinden zusam- Psychedelisch: Bei Zdob Si Zdub verschmelzen traditionelle Muster mit modernen Motiven men. Mancher Text in Moldauisch, einem rumänischen Dialekt, wird Wort für Wort mitgesungen. Und in der ersten Reihe wird eine Besucherin nicht müde, die Natioonalfahne der Republik in die Luft zu recken. ANZEIGE Der Zwergstaat Moldawien liegt eingeklemmt zwischen der Ukraine und Rumänien. In diesen Nachbarländern touren Zdob Si Zdub regelmäßig: Mit Auftritten allein in ihrer kaum fünf Millionen Einwohner zählenden Heimat könnten sie kaum überleben. So haben sie sich auch in Russland mittlerweile eine Fangemeinde erspielt und treten auch in Moskau vor vollen Häusern auf. Ganz so viele kommen noch nicht, wenn Zdob Si Zdub im Westen unterwegs sind. Gern gebucht werden sie aber auf großen Festivals, die sich darauf verlassen können, dass die Band auch ein bis dahin indifferentes Publikum mit großer Wahrscheinlichkeit in Feierlaune versetzt. Die explosive Mischung aus osteuropäischer Folklore und Versatzstücken aus angloamerikanischem Funkrock hat schließlich längst ein Mainstreampublikum erreicht. Wenn Iagupov meint, die Musik, die er und seine Mannen spielen, sei ein „Experiment, ja sogar Avantgarde“, dann kommt er mit dieser Einschätzung jedenfalls einige Jahre zu spät. Als die Band gegründet wurde, war das natürlich noch anders. Den Anstoß, so erzählt die Legende, gab Anfang der Neunzigerjahre die Installation der allerersten Satellitenschüssel in Strășeni, einem Vorort der moldawischen Hauptstadt Chișinău. Mit der neuen Technik kam auch MTV in die Rock-Diaspora, und drei Schüler entdeckten Bands FO TO : LA W INE wie die Red Hot Chili Peppers, Faith No More und Pearl Jam. Damit war die Saat gelegt, 1994 wurde Zdob Si Zdub gegründet. Anfänglich war der Rockeinfluss dominant – so lange, bis die Band in Moskau im Vorprogramm von Hardcore-Bands wie Soulfly und der Rollins Band auftreten durfte. Nur zum Spaß stimmten sie auf ihren Gitarren eine Hardcore-Version eines moldawischen Volkslieds an – und erregten Begeisterung. Da, so Iagupov, wuchs die Erkenntnis, „dass wir uns unterscheiden und einen eigenen Stil entwickeln mussten, um zu bestehen“. Von Nutzen waren da die von Volksmusik geprägte eigene Kindheit und die Vergangenheit Moldawiens, aus der sie seitdem mit vollen Händen schöpfen. Die Pluderhose, da darf man sicher sein, wird noch eine Weile das Markenzeichen von Zdob Si Zdub bleiben. Zdob Si Zdub: „Ethnomecanica“, (Lawine/Sony BMG). Festivals: 13. 6. Regensburg, 7. und 8. 7. Ulm, 11. 7. Karlsruhe, 26. 7. München, 8. 8. Jena FA X : O 3O - 25 10 6 9 4 weltmusik E- M A I L : A N Z E I G E N @ T A Z . D E Pop treibt in China schillernde Blüten: Kultsängerin Sa DingDing vereint Avantgarde-Anspruch mit Tibet-Romantik SO NNABE ND/SONNT AG, 3. /4 . MAI 2008 DIE T AGE SZE IT UNG FOT O: WR ASSE Frühling in Peking Durch die Olympischen Spiele 2008 in China rückt auch die chinesische Musikszene ins Rampenlicht. Die Sängerin Sa DingDing möchte davon profitieren – wenn da nur nicht das heikle Thema Tibet wäre VON STEFAN FRANZEN Musik aus dem Reich der Mitte galt bislang als schwer zu vermarkten im Westen. Doch im Vorfeld der Olympischen Spiele, wo sich die Augen der Welt auf China richten werden, wittert so mancher chinesische Künstler die Chance, ins Blickfeld zu geraten. Das gilt für die Sängerin Sa DingDing, die zur jüngsten Generation chinesischer Popstars zählt: Mit gerade mal 25 Jahren hat sie aus Elementen der traditionellen Folklore ihres Landes und Lounge-Elektronika schon ihren ganz eigenen Stil entwickelt. Grund genug für ihre Plattenfirma, sie nun auch im Westen bekannt machen zu wollen. Das allerdings hatte man sich dann doch wohl ein wenig an- ders vorgestellt. Denn als Sa DingDing jüngst das erste Mal nach London flog, um dort gleich den World Music Award der BBC entgegenzunehmen, waren gerade die Proteste in Lhasa eskaliert. Die Presse stürzte sich mit Interviewanfragen auf sie, und plötzlich saß die Chinesin wie auf einem Nadelkissen. In ihren Interviews gab sie sich trotzdem selbstbewusst und versuchte englisch zu reden – und das heikle Thema Tibet zu umschiffen. Genug zu erzählen gibt es bei ihr allemal. Das fängt schon bei ihrem Namen an: „Sa ist ein alter mongolischer Klan-Name“, klärt sie über ihren familiären Hintergrund auf. „Ich bin bei meiner Großmutter in der Inneren Mongolei aufgewachsen. Es gab kein Zeitgefühl. Dafür wurde überall gesungen, die Lieder und der Klang der Pferdekopfgeige tönten weit über die Grassteppe. Seitdem bedeutet Musik für mich vor allem eines: Freiheit.“ Diese Freiheit nahm sie sich auch während ihrer gesanglichen Ausbildung. Im Jugendchor fiel sie auf, weil ihre Stimme so seltsam klang, dass sie nicht zu den anderen Mädchen passte. Später belegte sie Kurse in Musikphilosophie und klassischer Gesangstechnik und entdeckte ihre Lust an Experimenten mit Oper, traditioneller Musik und Pop. „I needed freedom. Freedom.“ Sie sagt es tatsächlich zweimal, mit Nachdruck. Kaum volljährig, bringt sie ihre Debüt-CD heraus, die sie in allen Altersgruppen populär macht. Von da an ist sie regelmäßig in den chinesischen Medien präsent und tritt in perfekt cho- ANZEIGE reografierten Shows auf den größten Bühnen des Landes auf. Dass sie ausgesprochen apart aussieht, sich ein exotisch-mysteriöses Image gibt und gerne extrem ausgefallene, selbst entworfene Kleider trägt, hat ihrem Erfolg sicher nicht geschadet. Jüngst hat Chinas Kultautor Cai Jun sie gar zur Titelheldin eines Serienthrillers erkoren, der sich bislang gut verkauft. Mit ihrem neuen Album „Alive“ will Sa DingDing nun erstmals auch im Westen auf sich aufmerksam machen. Ihr plakativer Ethnopop mit Klangtupfern aus verschiedenen chinesischen Provinzen und seinen Reminiszenzen an ihre nomadische Kindheit segelt hart am Wind zwischen kitschig und catchy. Geschickt sind FolkloreSchnipsel in die monströsen Rhythmusparts eingebettet, der Klang der Bambusflöte und der chinesischen Wölbbrettzither gu zheng verströmen zartes lokales Kolorit. Der chinesische Mandarindialekt ist nur eines der Idiome, derer sie sich bedient: Sie hat auch ihre eigene Kunstsprache entwickelt und sich fremde Sprachen angeeignet. So rezitiert sie im Titelstück das buddhistische 100Silben-Mantra. „Ich habe alte Bücher auf Sanskrit zur Hand genommen und gemerkt, dass beim Lesen ein sehr natürlicher Fluss, eine ursprüngliche Melodie entsteht“, behauptet sie. Der Videoclip zu dem Song wurde nahe bei Lhasa gedreht und zeigt eine farbenprächtige Szenerie aus dem alten Guge-Königreich: ein unverfänglicher Tibet-Romantizismus, der momentan bei vielen chinesischen Sängern und Filmemachern en vogue ist und auch bei der jungen Generation gut ankommt: Ein leicht konsumierbarer New-Age-Mystizismus hat inzwischen auch Chinas Mittelschichten erreicht. Solange sich die Begeisterung für Tibet nur an so harmlosen Dingen wie Sprache und Folklore festmacht, hat niemand in Peking etwas dagegen. Denn Tibets Kultur und Religion werden in China nicht unterdrückt, nur die Autonomiebestrebungen und der Dalai Lama sind den Autoritäten ein Dorn im Auge. Über die offizielle Position geht Sa DingDing nicht hinaus, wenn sie sagt: „Die tibetische Kultur ist ein sehr wichtiger Teil der chinesischen Kultur, denn sie ist geheimnisvoll, charmant und hat ihren eigenen Duft.“ Gleichwohl wolle sie gerne „eine Brücke sein zwischen Ost und West“. Das sind akkurat abgezirkelte Worte, so durchdacht wie ihr Umgang mit ihrem musikalischen Material. „Weil ich so viele verschiedene Sprachen benutze, die viele Leute nicht verstehen, konnte ich die Einmischung in meine Musik auf ein Minimum reduzieren“, sagt sie zum Thema Zensur. Und auch über Olympia lässt sie sich kaum ein Wort entlocken – außer, dass sie sich auf ihren Auftritt dort freut. Den Rest muss man, wenn man will, zwischen den Zeilen lesen. Sa DingDing: „Alive“ (Wrasse/Harmonia Mundi). www.sadingding.co.uk W 7 FOLK AUS CHINA Gong Linna ist eine stille Rebellin. In ihrer Kindheit lernte sie ihrer Heimat Guiyang im Südwesten Chinas die Lieder der verschiedenen Volksgruppen kennen, bevor sie in Peking Musik studierte. Nach ihrer Ausbildung überwarf sie sich allerdings mit dem herkömmlichen Musikbetrieb. „Vielen Komponisten, mit denen ich gearbeitet habe, kam es vor allem darauf an, viel Geld zu verdienen“, blickt sie zurück. „Das kann man in China vor allem mit Playback-Konzerten und musikalischen Massenspektakeln.“ Als Gong Linna einer solchen Karriere den Rücken kehrte, erklärten ihre Familie und viele Freunde sie für verrückt. Stattdessen reiste sie durch ganz China, erforschte traditionelle Idiome und entwickelte einen Gesangsstil, der virtuos Elemente verschiedenster Volkskulturen aufgreift: für chinesische Verhältnisse eine unerhörte Pioniertat, ihr Publikum rührte sie damit zu Tränen. Gut, dass sie damit auf den deutschen China-Experten Robert Zollitsch traf. Weil Zollitsch mit seinen kammermusikalischen Arrangements die Stereotype der Kunst- und Volksmusik aufbricht, wird er auch in Fernost als Erneuerer chinesischer Musik geschätzt. Er arrangierte auch zu Gong Linnas vielfältigen Vokaltimbres die passende Begleitung. Seit zwei Jahren lebt Gong Linna nun in Deutschland, in der Wahlheimat fühlt sie sich wie zu Hause: „Ich stamme aus der Stadt, doch die Natur hat einen tiefen Einfluss auf mich gehabt. Jetzt wohne ich im Bayrischen Wald und kann dort jeden Tag in die Berge gehen.“ In China haben Zollitsch und Gong Linna schon einiges Aufsehen erregt, hierzulande harren sie noch der Entdeckung. Mit ihrem hohen Anspruch werden sie nicht zu den Nutznießern einer „olympischen Breitenwirkung“ werden. Durch ihre Engagements in China wägen sie ihre Worte mit Bedacht. „Wir sind nicht berufen, die Situation in Tibet zu kommentieren“, erklärt Robert Zollitsch salomonisch. „Es wird ja auch nicht jeder US-Musiker nach seiner Meinung zu Guantánamo befragt. Wichtig ist, dass wir mit unserer Musik zu einem Wandel beitragen.“ SF Gong Linna: „Chinese Folk Songs“ (ARC); „Jing Ye Si“ (Kuku). www.gonglinna.com ANZEIGE W 8 DI E TAGE S Z EI T UNG 3 . / 4 . M A I 2 0 0 8 weltmusik E -MAIL : ANZE IGE N@ T AZ. DE Fühlen Sie den Ausschlag? „Feel the Rush“ heißt die EM-Hymne, für die Shaggy hier mit den beiden EM-Maskottchen „Trix“ und „Flix“ posiert FO TO : DDP Die Welt ist rund Wem Public Viewing zur Fußball-EM nicht reicht, der kann es ja mal mit Public Listening versuchen. Ein Überblick über die wichtigsten Open-Air-Festivals der Republik sowie die Highlights der Saison VON DANIEL BAX Was die Fußball-EM mit sich bringen wird, ist noch nicht abzusehen. Sicher ist nur, dass der Reggae-Star Shaggy mit „Feel the Rush“ den offiziellen Song zum Ereignis im Juni in Österreich und der Schweiz beisteuert. Nun ja, es gab schon Schlimmeres. Den Auftakt zur musikalischen Freiluftsaison macht, wie jedes Jahr, der Karneval der Kulturen (9. bis 12. Mai) an Pfingsten in Berlin; der eigentliche Umzug findet am Sonntag statt. Zur selben Zeit steigt in Moers das Festival für improvisierte Musik, als Highlight ist der Avantgarde-Star John Zorn aus New York angekündigt. Zwischen exotisch und experimentell klingen auch die Samúel Jón Samúelsson Big Band aus Island oder Avishai Cohen mit seinem Jazz-Vocal-Projekt. Oder der Auftritt der baskischen Schwestern Maika und Sara Gomez: Sie traktieren ein Instrument namens Txalaparta, das einst zur Kommunikation zwischen den Dörfern im Baskenland diente. Früh im Jahr startet das Weltnacht-Festival in Bielefeld, das sich vom 2. Mai bis 30. August mit 44 Konzerten über die ganze Region erstreckt. Neben der belgischen Band Think of One und ihrem Chaabi-Projekt stehen hier die Amsterdam KlezmerBand und der deutsch-nigerianische Reggae-Musiker Daveman auf dem Plan. Höhepunkt ist wie immer der Carnival der Kulturen am 7. Juni mit einer Parade durch Bielefelds Innenstadt. Zum Africa Festival in Würzburg (22. bis 25. Mai), das in diesem Jahr sein 20. Jubiläum feiert, ist weiter vorne schon alles gesagt worden. Hier noch einmal: Es lohnt sich! Wer dort Hugh Masekela verpasst hat, kann ihn noch beim Masala-WeltbeatFestival in Hannover (21. Mai bis 1. Juni) erleben. Außerdem dort: das Idan Raichel Project aus Israel, die Sängerin Lura und der Watcha Clan aus Marseille. Im Kulturzelt in Kassel (20. Juni bis 3. August) geben sich das Quadro Nuevo, die Latin-SkaBand Pantéon Rococo und die kapverdische Sängerin Mayra Andrade die Ehre. Die traditionelle Summerstage des WDR-Funkhauses Europa am Tanzbrunnen in Köln (22. Juni) steht diesmal unter dem Motto „London Crossing“: mit britischen Acts wie Mattafix, Transglobal Underground und Oi Va Voi ist zu rechnen. Zum Zeltival Karlsruhe (29. Juni bis 3. August) locken das Orchestra Baobab aus dem Senegal oder die Puppini Sisters und ihr Varieté-Programm, während das Stimmen-Festival in Lörrach (2. bis 27. Juli) mit großen Namen klotzt: die Neville Brothers, Leonard Cohen und Paul Simon werden erwartet. Daneben gibt es die mexikanische Sängerin Lila Downs, ein Taranta-Programm sowie, in der „Stimmband“-Reihe, etwa die Chinesin Gong Linna und Etta Scollo mit Italo-Chansons zu hören. Das 18. Tanz- und Folk-Festival Rudolstadt (4. bis 6. Juli) legt in diesem Jahr einen Schwerpunkt auf Israel, das durch Yasmin Levy und die palästinensische Sängerin Amal Murkus vertreten wird. Zudem werden die mehr als 20 Bühnen unter anderem von der Fanfare Ciocarlia und ihrem Aufgebot an „Gipsy Queens & Kings“, der TouaregBand Etran Finatava, Billy Bragg und dem englischen Folk-Projekt „The Imagined Village“ belegt. Der Reggae Summer Jam (4. bis 6. Juli) in Köln erweitert mit Shantel & dem Buvovina Club Orkestar sowie Miss Platinum sein Spektrum in Richtung Balkan. Neben Lokalmatadoren wie Mono & Nikitaman und Irie Revoltés tritt hier auch Shaggy an. Die Kulturarena in Jena präsentiert in diesem Jahr (10. Juli bis 24. August) Altmeister wie die US-Songrwiterin Joan Armatrading sowie Manfred Krug mit dem „Berlin Jazz Orchestra“. Der Yiddish Summer in Weimar (10. Juli bis 15. August) dagegen verspricht – wie immer unter der Ägide des Musikers Alan Bern – unter dem Titel „the other europeans“, die Verbindungslinien zwischen Klezmer- und Roma-Musik auszuloten. Ein neues Festival gibt es in Berlin: „Wassermusik“ (10. bis 27. Juli) hat man sich am Haus der Kulturen der Welt ausgedacht, um Kultur mit dem kühlen Naß zu kombinieren. Zur Premiere konzentriert man sich auf Surf-Musik (u. a. mit Marc Ribot), auf die Tiki-Mode, die durch Easy Listening und Lounge-Mode ein Revival erfahren hat (u. a. mit Don Tiki und Waitiki), sowie auf Lieder von Seefahrern und Fischern – hier sind Eliza Carthy und Juana Molina angekündigt. Warum nicht? Vom traditionsreichen Festival Viva Afro Brasil weiß man nur, dass es wieder nach Tübingen zurückkehren wird (18. und 19. Juli): Das Ausweichen nach Stuttgart hat sich nicht gelohnt. Bei Popdeurope in Berlin (26. Juli bis 2. August) steht dagegen schon fest, dass Massilia Sound System aus Marseille und die Mestizo-Band Amparanoia ihren Abschied von der Bühne feiern wollen. Schnief! Außerdem ist ein lokalpatriotischer Abend mit den Ohrbooten sowie den Bomberos de Monte Cruz angesetzt. Zum 33. Bardentreffen (1. bis 3. August) wurde unter anderem die Russen-Ska-Combo Apparatschik nach Nürnberg geholt, und etwas weiter südlich zum Chiemsee Reggae Summer (22. bis 24. August) neben lokalen Größen wie Culcha Candela, Patrice und Nosliw das allgegenwärtige Bucovina Club Orkestar von Shantel, Beenie Man aus Jamaika sowie die Otentikk Street Brothers aus Mauritius. Und wem das noch nicht reicht, der sollte selbst zu einem Instrument greifen und sich beim bundesweiten Weltmusikwettbewerb Creole bewerben, dessen Finale vom 2. bis 4. September 2009 in Berlin steigt. Mehr Infos unter www.creoleweltmusik.de.