Am Anfang war immer noch das Wort gewesen
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Am Anfang war immer noch das Wort gewesen
1 Am Anfang war immer noch das Wort gewesen– Religiöse Spuren in aktueller Kinder- und Jugendliteratur von Markus Tomberg „Der letzte Feind, der zerstört wird, ist der Tod.“ Die Internet-Recherche nach der Herkunft des Zitates führt nicht auf die Bibel (1 Kor 15,26), sondern mitten hinein in die Geschichte von Harry Potter auf der Suche nach den Heiligtümern des Todes. Harry findet im letzten der sieben Bände dieses Zitat auf dem Grabstein seiner Eltern, und er hat große Schwierigkeiten, es zu verstehen. „‚Der letzte Feind, der zerstört wird, ist der Tod …’ Ein schrecklicher Gedanke kam ihm, in einem Anflug von Panik. ‚Ist das nicht eine Vorstellung von den Todessern? Was hat das hier zu suchen?’ ‚Es bedeutet nicht, dass der Tod so besiegt wird, wie die Todesser es meinen, Harry’, sagte Hermine mit sanfter Stimme. ‚Es bedeutet … du weißt schon … über den Tod hinaus leben. Leben nach dem Tod.’“ (Rowling, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, 2007, 337). Religion und religiöses Wissen, hier in Form eines wörtlichen Zitates aus dem Ersten Korintherbrief, haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. Religiöse Symbole und religiöse Sprache sind missverständlich geworden, mehrdeutig, nicht mehr zweifelsfrei identifizierbar – und wuchern doch allerorten. Kein Wunder, dass sich, was längst gesellschaftliche Realität ist, auch literarisch niederschlägt: Religion vagabundiert in vielfältigen Formen durch literarische Welten. Doch scheint sie auch hier nach einem neuen Platz erst noch zu suchen: jenseits des christlichen Traditionsabbruchs und unterwegs zu einer pluralismusfähigen interreligiösen Kompetenz. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls zahlreiche Neuerscheinungen der letzten Jahre, in denen Religion für eine postchristlich aufwachsende Generation zum Thema wird. Frank Fischer zum Beispiel lässt Lena und Felix in der Bibelabenteuerreihe Tante Belindas geheimnisvollen Zimmern Zeitreisen in die ferne und fremde Welt der Bibel unternehmen. Ein merkwürdiger Paravent in einem der 28 Zimmer des Hauses von Tante Belinda entpuppt sich als Tür in die Vergangenheit. Wer eines der alten Gewänder, die griffbereit hängen, anzieht und in den Paravent blickt, findet sich per Zeitreise in einer biblischen Geschichte wieder. Die Kinder, die diesen Schritt wagen, bleiben indes Zuschauer, als sie beispielsweise auf Sara, Abrahams Frau, in Ägypten treffen: eingreifen, handeln und die Vergangenheit verändern können sie nicht. Zwar stehen Nebenpersonen Rede und Antwort, die Hauptpersonen lassen sich jedoch nur aus der Distanz betrachten. Spannung entsteht folgerichtig nur im Umfeld der Erstdruck in: kjl & m 60 (2009), S. 53-60. 2 biblischen Erzählung: wenn „der außerordentlich seltene Fall eintritt, dass der Paravent mitten in einer Zeitreise nicht funktioniert, weil er zum Beispiel zusammengelegt in einer Tasche steckt, kann auch niemand mehr aus der wirklichen Welt in die Geschichte reisen“ und den Kindern beistehen (Frank, Jakob und der Betrug im Beduinenzelt, 2007, 110). Lena und Felix finden nämlich in der Gegenwart sachkundige Begleitung: Tante Belinda weist ein längerer Auslandsaufenthalt in Ägypten als Expertin für lokale Besonderheiten in der Geographie der Bibel aus. Und auch der Vorbesitzer ihres Hauses, Hubertus von Knisterbusch, ein emeritierter Professor für Alte Geschichte, und der Nachbar von Tante Belinda, Graf Frederik August Gustav Maria Heinrich Ludwig von Trümmerbruch-Häsig, sind zur Stelle, wenn Fragen auftauchen. Graf Frederik ist es dann auch, der gleich im ersten Band die didaktische Absicht der Geschichte – der zugehörige Bibeltext findet sich im Anhang – in Worte fasst: „‚Ich glaube, ich muss mehr in der Bibel lesen!’, sagt Graf Frederik, ‚ich wusste gar nicht, dass die Geschichte von Abraham und Sara so spannend ist.’“ (Frank, Sara und der Palast in der Wüste, 2007, 119). Den Weg, Kinder handlungsorientiert mit der biblischen Überlieferung vertraut zu machen, wählt dagegen die Schweizer Religionspädagogin Vreni Merz in dem „Familienbuch“ Die Bibel an der Bettkante. Merz wendet sich an erwachsene Leserinnen und Leser, die Kindern biblische Geschichten näher bringen wollen. Einfach nacherzählte Vorlesegeschichten werden von praktischen Anregungen zur Vertiefung gefolgt. Dem Vorleseteil vorangestellt ist eine Einführung in das Verstehen biblischer Erzählungen, am Ende des Bandes steht eine „Kleine Bibelkunde“, die über das Erzählte hinaus in die Welt der Bibel einführt. Die Vorlesegeschichten sind entsprechend dem Lauf der Jahreszeiten gegliedert, wo es möglich ist, greifen die vertiefenden Hinweise jahreszeitlich passende kirchliche Riten auf. Anders als es die Überschrift verspricht finden sich allerdings nur Erzählungen aus dem Neuen Testament. Dagegen bietet das Bilderbuch Die großen Engelgeschichten aus der Bibel der österreichischen Autorin Lene Mayer-Skumanz, die auf eine englischsprachige Vorlage von Leena Lane zurückgreift, alt- und neutestamentliche Engelgeschichten wie die Geschichte von der Jakobsleiter, von Daniel in der Löwengrube oder von der Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis. Während die Erzählungen unbefangen von Engeln sprechen, bleiben die Illustrationen von Elena Baboni in der Darstellung der Engel äußerst zurückhaltend: die Engelfiguren wirken oft ornamental oder wie ein Teil der dargestellten Landschaft. Engel werden so imaginiert als hintergründige Erscheinungsformen Gottes, den Mayer-Skumanz regelmäßig mit seinem biblischen Namen „ICH-BIN-DA“ auftreten lässt. 3 Dass die zeitgemäße Darstellung religiöser Tradition ein riskantes Geschäft ist, lässt sich an der im Brunnenverlag erscheinenden Bibelgeschichten-Reihe von Sophie Piper und Estelle Corke (Ill.) für Kinder ab etwa 3 Jahren ablesen, die Irmtraut Fröse-Schreer aus dem Englischen übersetzt hat. Jesus erzählt von Gott führt zwei kurze Abschnitte (Mt 6,5-15 und Mt 7,24-27) aus der Bergpredigt zusammen. Trotz mehrerer Ausschmückungen hält sich der Text erfreulich nahe an den biblischen Vorlagen, die Illustrationen betonen das Motiv des „Kinderfreundes“. Neben den Erzähler Jesus stellt ein weiteres Bändchen den Wunderheiler. Jesus heilt einen Kranken erzählt die Geschichte von der Heilung eines Gelähmten aus dem Markus-Evangelium (Mk 2,1-12) nach, weicht aber an einer entscheidenden Stelle von der Vorlage ab. Nachdem dort nämlich Jesus, gleichsam als Bestätigung der Sündenvergebung zuvor (Krankheit gilt in der Welt des Neuen Testamentes als Folge der Sünde), den Kranken geheilt hat, rufen alle Beteiligten im Chor: „So etwas haben wir noch nie gesehen“ (Mk 2,12). Von diesem Chorschluss nimmt der Text von Piper die frommen Männer aus. Nur die Freunde Jesu, ein Mädchen und eine Mutter jubeln hier Jesus zu. Dass so religiöse Tradition sorglos unnötig verkürzt und bedenklich verändert wird – die „frommen Männer“ gehören unzweifelhaft ins Judentum – stimmt nachdenklich und mahnt zu größerer Sorgfalt im Umgang mit den religiösen Überlieferungen. Sorgfalt vermissen lässt auch das Bilderbuch Wo bitte geht’s zu Gott?, fragte das kleine Ferkel: Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke (Ill.). In dezidiert atheistischer Absicht setzt es sich mit den religiösen Traditionen Europas auseinander. Der umstrittene Band – ein Indizierungsantrag des Bundesfamilienministeriums wurde im Frühjahr 2008 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien abgewiesen – erzählt die Geschichte von Ferkel und Schwein, die sich auf die Suche nach Gott machen und bei den Protagonisten der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam um Rat fragen. Auf einem „Tempelberg“ finden sie „große Häuser“ und in ihnen Vertreter der drei Religionen. Der Reihe nach erkundigen sie sich bei einem Rabbi, einem katholischen Bischof und einem Mufti nach diesem Gott – und erfahren, dass alle drei Religionsvertreten in wenigen Sätzen von der Gottesfrage zur Gewaltandrohung gelangen. Ferkel und Igel fliehen heim und beschließen, diesen Gott nicht zu brauchen. Das reichlich platte Plädoyer für einen Atheismus, der den Namen aufgeklärt wohl nicht verdient, wird den Herausforderungen, in die die religiöse Pluralität Kinder und Jugendliche stellt, nicht gerecht. Ein Beispiel für Kinderbilderbücher, die die Gottesfrage thematisieren, ist der Band Bist du da, lieber Gott? Von Allia Zobel-Nolan und John Bendall-Brunello (Ill.). Der kleine Tiger fürch- 4 tet sich vor der Schule und fragt nach Gott. Und er erfährt: „Gott ist immer da und beschützt dich.“ Diese Auskunft der Mutter bewahrheitet sich dann in den Erlebnissen des kleinen Tigers am nächsten Tag und mündet in ein Dankgebet: „Lieber Gott … Danke dass du bei mir warst. Ich hatte echt Angst. Aber dann war es der schönste Tag meines Lebens. Amen.“ (Zobel-Nolan/Bendall-Brunello, Bist du da, lieber Gott?, 2007, unpaginiert) Dabei zeigt sich die Anwesenheit Gottes zwar durchaus zeitgemäß in der Interpretation des kleinen Tigers, der auf seine Frage nach Gott keine direkte Antwort erhält, wohl aber in bedrohlichen Situationen Rettung und Erfolg erfährt. Dennoch ist zu fragen, ob religiöse SiegerGeschichten sowohl biographisch als auch gesellschaftlich zukunftsfähig sein können. Keineswegs irritationsresistent ist dagegen ausgerechnet ein Jugendgebetbuch. In einer religiös pluralen und gewöhnlich auch spirituell toleranten Welt will der Band O Gott! Warum und wie wir beten oder auch nicht von Johann Hinrich Claussen, in der Reihe Hanser für Jugendliche ab 14 Jahren angeboten, an ein „letztes Tabu … bei uns in Deutschland“ heranführen: „das Gebet“ (Claussen, Warum wir beten, 2008, 5). Der Band versammelt Gebete von der Bibel über Rosenkranz und die Lauretanische Litanei bis hin zu spirituellen Texten der Gegenwart, moderne Lyrik und Aphorismen rund um das Thema Beten. Der Schwerpunkt liegt auf der christlichen Tradition, aber auch Texte aus anderen Religionen werden gleichberechtigt angeführt. In diesem „Sammelsurium“ (ebd., 7) verstreut finden sich kurze Überlegungen rund ums Beten: „Wie häufig soll man Beten“ (ebd., 79) wird ebenso erörtert wie die Frage, ob es „unverschämte Gebete“ (ebd., 158) gibt oder ob man selbst Psalmen schreiben kann (ebd. 218). Wohltuend ist das Plädoyer für eine unaufgeregte, zurückhaltende und nicht peinlich die Öffentlichkeit suchende Gebetspraxis, auch wenn der „Empfänger unbekannt“ bleibt (H.M. Enzensberger, vgl. ebd., 180). Angesichts unbekannter werdender religiöser Traditionen werden religiöse Sachbücher immer wichtiger. Der Band Jesus aus der Reihe Entdeckungsreisen von Armin Maiwald, Dieter Saldecki und Peter Brandt will versuchen „herauszufinden, wie es dazu gekommen ist, dass Millionen von Menschen heute glauben, dass dieser Jesus, [!] der Sohn Gottes, der Retter der Welt und nicht zuletzt der Erfinder der Nächstenliebe ist“ (Maiwald u.a., Jesus, 2007, 7). Der Band, im Stil der Sachgeschichten aus der Sendung mit der Maus erzählt, erkundet das Leben Jesu, spart so sperrige Themen wie Wunder und die Auferstehung nicht aus, bietet solide recherchierte Informationen und berücksichtigt dabei, dass sich Botschaft und Person Jesu nicht ohne das Judentum und das Alte Testament verstehen lassen. Selbst schwierige Fragen wie die nach dem, was Jesus eigentlich selbst glaubte, werden nicht ausgelassen. Im 5 Anhang finden sich synoptische Vergleiche des Stammbaums Jesu nach dem Matthäus- und dem Lukasevangelium sowie der Passionsgeschichte in der Luther-Übersetzung. Der Band ist reich bebildert, bietet umfangreiches Hintergrundwissen zur biblischen Zeitgeschichte und zeigt immer wieder auf, wie christliche Tradition bis heute weiterwirkt: etwa dann, wenn Fußballfans „Judas“ auf ein Tuch schreiben, weil sie sich verraten fühlen (Maiwald u.a., 126), und damit das biblische Bild des Verräters Judas aufgreifen. Dabei hält sich das Buch in der Bewertung der christlichen Tradition zurück und wechselt da, wo es aus christlicher Perspektive endgültig Ernst wird, in der Frage nach der Auferstehung Jesu, ausdrücklich die Textsorte: nicht objektivierende Information aus der Außenperspektive, sondern eine „Predigt à la Maus“ von Dieter Saldecki nähert sich dem Zentrum des christlichen Glaubens an – und betont, dass Glauben nicht im blinden Vertrauen aufgehen kann, sondern das Nachdenken, die Kritik, sogar den Zweifel benötigt. Zum Nachdenken lädt die von den Religionspädagogen Albert Biesinger und Helga KohlerSpiegel herausgegebene und von Mascha Greune illustrierte theologische „Kinder-Uni“ (Biesinger / Kohler-Spiegel, Gibt’s Gott, 2007, 7) Gibt’s Gott? Die großen Themen der Religion ausdrücklich ein: „Kinder sind oft selbst die besten ‚Theologen’. Diese Erfahrung haben wir immer wieder gemacht. Für uns Erwachsene erscheint oft vieles so selbstverständlich. Dabei ist der Anfang der Weisheit, dass man neugierig ist, dass man Fragen stellt und nicht mit der ersten Antwort zufrieden ist. Das können Kinder ganz hervorragend!“ (Biesinger / Kohler-Spiegel, 8) Die Beiträge fokussieren religiöse Fragestellungen konsequent interreligiös, verschweigen aber den christlichen Horizont der Fragenden (und wohl auch Lesenden) nicht und laden ein, selbst die religiöse Binnenperspektive auszuprobieren und zu reflektieren. So wird nicht nur die Frage nach Gott thematisiert oder die nach der Wahrheit der Bibel, sondern auch das Verhältnis von gutem Gott und menschlichem Leid, nach der religiösen Lebensführung und der religiösen Pluralität angesichts eines einzigen Gottes. Das Autorenverzeichnis listet beispielsweise mit Magnus Striet, Andreas Holzem, Reinhold Boschki oder Jochen Hilberath namhafte Vertreter der aktuellen deutschsprachigen Theologie auf, wobei nicht nur Religionspädagog/innen, sondern Vertreter aller theologischen Teildisziplinen zu Wort kommen. Jedem Abschnitt sind Impulse für das weitere Nachdenken angefügt, die mit der Einschätzung, dass Kinder selbst „die besten Theologen“ seien, Ernst machen. Neben dem Genre der explizit religiösen Kinder- und Sachbücher finden sich religiöse Spuren in der erzählenden Literatur. Und während bislang das Bemühen der Autorinnen und Autoren mehr oder weniger ausdrücklich der Bewahrung religiösen (Sach-) Wissens jenseits des Tra- 6 ditionsabbruchs galt, lässt sich hier nun so etwas wie eine neue Leichtigkeit im Umgang mit Religion feststellen: spielerisch inszeniert, beiläufig erwähnt, überrascht notiert oder konstruktiv in Gebrauch genommen. So im letzten Band von Cornelia Funkes Tintenherz-Trilogie: in Tintentod besetzt die Figur des Fenoglio endgültig die des Autor-Gottes, der sich über seine Macht und Ohnmacht in einer Welt der Freigelassenen seiner Schöpfung Rechenschaft geben will: „nur er, Fenoglio, konnte Männer wie den Schwarzen Prinzen und den Eichelhäher erschaffen. Nun gut, er musste zugeben, dass erst Mortimer den Häher zu Fleisch und Blut hatte werden lassen. Aber am Anfang war immer noch das Wort gewesen, und das war von ihm geschrieben worden, jedes einzelne!“ (Funke, Tintentod, 2007, 293) Und nicht genug mit dieser Anspielung auf den Prolog des Johannesevangeliums: auch das „Reich der Gerechtigkeit“, dass sich Fenoglio wenige Zeilen später ausmalt, gehört seit Röm 14,17 zum Kern christlich-endzeitlicher Erwartungen. Dabei wäre es reizvoll, diesen Spuren in der Trilogie, die sich spätestens ab der bedrohlichen Frage Fenoglios an Capricorn: „wer sagt, dass alle Götter gütig sind“ (Funke, Tintenherz, Hamburg 2003, 362) über die „Auferstehung“ Staubfingers immer wieder finden, genauer nachzugehen und zu überprüfen, ob sich Tintentod als säkulare Umspielung oder als Antitext auf die christliche Passionserzählung lesen lässt. Nicht verspielt, sondern als lebensbedrohender Ernst begegnet religiöse Pluralität in Kirsten Boies Zeitreiseroman Alhambra. Boston, ein deutscher Schüler mit amerikanischem Vater, wird während einer Sprachreise seines Spanischkurses aus der Gegenwart in das Spanien des Jahres 1492 geworfen. Im Granada der Vergangenheit gerät er mitten hinein in die Frontlinien zwischen den Religionen, die die christliche Rückeroberung Spaniens von den muslimischen Mauren und der Versuch der gewaltsamen Rechristianisierung der Stadt und des ganzen Landes aufgeworfen hatten. „Alles dieses Gerede über Religion, hatte Boston gedacht. Wen kümmert denn das.“ (Boie, Alhambra, 2007, 95) Jetzt gerät er zwischen die verfeindeten Gruppen und muss dazu erleben, dass sein eigenes Schicksal mit den historischen Ereignissen verwoben ist: nur, wenn Königin Isabella Kolumbus zu seiner Entdeckungsreise aufbrechen lässt, kann, so schließt er, die Geschichte jenen Verlauf nehmen, in dem er geboren werden wird, mehr als 500 Jahre später. „Amerika wird nicht entdeckt werden, dachte Boston. Nun steht es fest. Die Königin lässt Kolumbus ziehen, und ich kann nie mehr zurück. Mein Leben wird es nicht geben, und ich will nicht auf dem Scheiterhaufen sterben, jetzt erst jetzt nicht.“ (345) 7 Boston erlebt, wie postmoderne Identitäten mit religiöser Vergangenheit verwoben sind – und darüber hinaus lassen sich die historischen Religionskonflikte leider nur zu oft in der Gegenwart fortschreiben. Boie bietet kein anderes Rezept an als das aus Lessings Nathan, dessen Ringparabel sie eingangs zitiert – und Aufklärung: ein ausführliches Glossar und ein Nachwort der Autorin helfen, die historische, deshalb aber auch die gegenwärtige Welt der Religionen besser zu verstehen. Noch einmal konstruktiv anders mit religiöser Tradition geht ein Buch von Ulrich Hub und Jörg Mühle (Ill.) um, das aus einem Theaterstück entstanden ist. An der Arche um Acht sollen sich die beiden Pinguine, die gerade noch Karten für Noahs Schiff erhalten haben, einfinden – und damit beginnt eine überaus turbulente Geschichte. Was nämlich sollen die beiden mit dem dritten im Bunde, jenem Pinguin, der sich gerade schmollend ein paar Schritte von ihnen wegbewegt hat, anfangen? Sie beschließen, ihn mit auf die Arche zu schmuggeln, und befördern ihn, reichlich unsanft, im großen Koffer mit auf das Schiff. Immer wieder begegnet in dieser unkonventionellen Variation der biblischen Sintfluterzählung die Frage nach Gott – ohne dass diese bis zum Schluss eine endgültige Antwort findet. „‚Wenn wir uns streiten, gibt es gleich wieder eine Sintflut’, warnt der eine Pinguin. ‚Nein’, widerspricht der andere, ‚Gott hat doch hoch und heilig versprochen, nie wieder eine Sintflut zu schicken.’ ‚Vielleicht gibt es Gott gar nicht, und es hat einfach nur ungewöhnlich lange geregnet’, überlegt der verschleierte Pinguin. ‚Wenn es keinen Gott gibt, warum reden wir dann so viel über ihn?’, fragen die beiden anderen. ‚Damit wir uns nicht so alleine fühlen.’ Die beiden anderen kichern. ‚Du bist einfach übermüdet.’“ (Hub/Mühle, An der Arche um Acht, 2007, 62) Selbst dass am Ende ein totgeglaubter Schmetterling, der Auslöser des ersten Streits der drei Pinguine, – oder ist es doch ein anderer? – wieder auftaucht, lässt den jüdisch-christlichen Horizont, ohne den die Geschichte nicht denkbar ist, nur erahnen: gilt doch der Schmetterling seit Jahrhunderten als Auferstehungssymbol. Symbolische Anspielungen auf biblische Traditionen zuhauf bietet schließlich die Puppengeschichte Die wundersame Reise von Edward Tulane von Kate DiCamillo, illustriert von Bagram Ibatoulline: ein Hase auf einer Weltreise, die doch nur dazu dient, sich selbst zu finden. Schon der Name der Hauptperson, des Porzellanhasen Edward Tulane, enthält eine Anspielung auf das Psalmmotiv der zwei Wege (Ps 1,6), sein Zuhause in der Egypt Street erinnert an 8 die Knechtschaft Israels. Der selbstverliebte Porzellanhase fällt seiner Besitzerin Abilene – ähnlich dem Jona der Bibel – von einem Schiff ins Meer, wird dann allerdings nicht von einem Fisch, sondern einem Fischer gerettet. Von nun an wandert Edward von Hand zu Hand, erlebt Kränkung um Kränkung. „Das Leid war noch nicht vorüber. Die alte Frau fand einen Zweck für Edward. Sie hängte ihn an eine Stange in ihrem Gemüsegarten. Sie nagelte seine Samtohren an den Pfahl, streckte seine Arme aus, als ob er fliege, und befestigte seine Pfoten mit Draht am Holz.“ (DiCamillo, Die wundersame Reise von Edward Tulane, 2007, 77f.) Der gekreuzigte Hase – eindrucksvoll von Ibatoulline gemalt (ebd., 79) – erlebt eine Verwandlung. Nicht die in ein Warzenschwein, die er sich hönisch von den Raben wünscht, sondern die durch einen Jungen, der den Hasen aus seiner Lage befreit, und seine sterbende Schwester, die ihn als Geschenk erhält. Langsam und mühsam erlernt Edward das Mitgefühl und erlebt seine Ohnmacht, als er den Tod des Mädchens nicht aufhalten kann. Dieses Gefühl steigert sich bis in die Erfahrung des eigenen Nichtseins: Edward selbst wird erschlagen. Zusammengesetzt in einer Puppenklinik erlebt er die Demütigungen eines alten Ausstellungsstücks, doch voller Hoffnung: „Jemand wird kommen, sagte Edward, jemand wird mich mitnehmen“ (ebd., 134). Und tatsächlich: die inzwischen zur Großmutter gewordene Abilene betritt den Ausstellungsraum der Puppenklinik und entdeckt ihren alten Hasen wieder. Und er, der sich früher nie etwas aus dem Kind gemacht hatte, schenkt sich der alten Frau: „Ja, sagte Edward, ja, ja, ja. Ich bin’s.“ (ebd., 136) DiCamillos Buch inszeniert Edwards Geschichte unaufdringlich in der Grammatik christlichreligiöser Tradition: selbst die Kreuzigung des Hasen ist nicht zwingend als solche zu entdecken. Und doch lädt sie ein, in den Symbolen dieses Märchens zu stöbern und ihre Geschichten zu ergründen. Ob es unter den Bedingungen der Postmoderne noch möglich ist, Religion nicht nur symbolisch zu transformieren, sondern ein religiöser Mensch zu sein, fragt schließlich Alois Prinz in seiner Biographie Der erste Christ. Die Lebensgeschichte des Apostels Paulus. Die persönliche Frage nach der Möglichkeit eines religiösen Lebens sei einer der Beweggründe gewesen, sich mit Paulus zu beschäftigen, so erklärt Prinz, bevor er das Leben des jüdischen Römers nach den verfügbaren Quellen, vor allem der Apostelgeschichte und den Briefen des Apostels, nachzeichnet, für dort vage bleibendes zurückhaltend Ergänzungen vorschlägt und schließlich auf die eingangs gestellte Frage zurückkommt: Paulus, so schließt Prinz, habe sich 9 „Leser gewünscht, die sich nicht verstecken, sondern ihm entgegenkommen. Denn er wusste, dass nur das verstanden werden kann, was schon vorher in einem angelegt ist, und dass er nur den erreichen kann, der seine Fragen und Zweifel als die eigenen entdeckt.“ (Prinz, Der erste Christ, 2007, 227) Und zu diesem Selbstverstehen leistet auch die literarische Auseinandersetzung mit Religion(en) durchaus einen wesentlichen Beitrag. besprochene Bücher: Biesinger, Albert/Kohler-Spiegel, Helga (Hgg.) / Mascha Greune (Ill.): Gibt’s Gott? Die großen Themen der Religion. Kinder fragen – Forscherinnen und Forscher antworten. München: Kösel 2007. Boie, Kirsten: Alhambra. Hamburg: Friedrich Oettinger, 2007. Claussen, Johann Hinrich: O Gott! Warum und wie wir beten oder auch nicht. München: dtv. Reihe Hanser 2008. DiCamillo, Kate/Ibatoulline, Bagram (Ill.): Die wundersame Reise von Edward Tulane. Aus dem Amerikanischen von Siggi Seuß. München: dtv, 2008. Fischer, Frank/Birkenstock, Anna Karine (Ill.): Jakob und der Betrug im Beduinenzelt - Tante Belindas geheimnisvolle Zimmer. Neukirchen-Vluyn: aussaat, 2007. Fischer, Frank/Birkenstock, Anna Karine (Ill.): Sara und der Palast in der Wüste - Tante Belindas geheimnisvolle Zimmer. Neukirchen-Vluyn: aussaat, 2007. Funke, Cornelia: Tintentod. Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2007. Hub, Ulrich/Mühle, Jörg (Ill.): An der Arche um Acht. Düsseldorf: Sauerländer Verlag 2007. Maiwald, Armin/Saldecki, Dieter/Brandt, Peter: Jesus – Jeschua – Ieous. Entdeckungsreisen, Würzburg: Arena 2007. Mayer-Skumanz, Lene/Baboni, Elena (Ill.): Die großen Engelgeschichten aus der Bibel. Innsbruck: Tyrolia 2007 Merz, Vreni/Greune, Mascha (Ill.): Die Bibel an der Bettkante. Ein Familienbuch. Vorlesegeschichten – Erzählideen – Rituale, München: Kösel 2007. Piper, Sophie/Corke, Estelle (Ill.): Jesus besiegt den Tod. Ins Deutsche übertragen von Irmtraut Fröse-Schreer, Giesen: Brunnen Verlag, 2007. Piper, Sophie/Corke, Estelle (Ill.): Jesus erzählt von Gott. Ins Deutsche übertragen von Irmtraut Fröse-Schreer, Giesen: Brunnen Verlag, 2007. Piper, Sophie/Corke, Estelle (Ill.): Jesus heilt einen Kranken. Ins Deutsche übertragen von Irmtraut Fröse-Schreer, Giesen: Brunnen Verlag, 2007. Prinz, Alois: Der erste Christ. Die Lebensgeschichte des Apostels Paulus. Weinheim [u.a.]: Beltz & Gelberg, 2007. Schmidt-Salomon, Michael (Autor)/Nyncke, Helge (Ill.): Wo bitte geht’s zu Gott?, fragte das kleine Ferkel: Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen. Aschaffenburg: Alibri 2007. 10 Zobel-Nolan, Allia/Bendall-Brunello, John (Ill.): Bist du da, lieber Gott? Übersetzt von Annemarie Boudart. Pattloch: München 2007.