Das Blättchen, 17. März 2014. - Verlag für Berlin

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Das Blättchen, 17. März 2014. - Verlag für Berlin
Das
Blättchen
Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
In eigener Sache – Bilanz
Erhard Crome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pokerface oder Schach?
Holger Politt, Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die polnische Sicht auf die Ukraine
Rupert Neudeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein neues Gebot: Du sollst töten
Militärinterventionen – zur Debatte
Hans-Joachim Gießmann . . . . . „Wir wollen mitmischen.“ – Sollen wir wirklich?
Gerhard Röpcke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es doch fremdes Leid?
Claus-Dieter König, Dakar . . . . . . . . . . . . . . . . . Herrscht wieder Frieden in Mali?
Margit van Ham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonntagsruhe
Edgar Benkwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Millionen Wähler
Ulrich Busch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Gerechtigkeit und Steuereffizienz
Sarcasticus . . . . . Finanzdebil – oder: Kann Dummheit doch vor Strafe schützen?
Birgit Svensson . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsjournalismus im Zeitalter des Internets
Mathias Iven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefe in Zeiten des Krieges
Reinhard Wengierek Ein trotziger Genosse: der Theatermacher Fritz Marquardt
Erik Baron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga M. Novak „Im Schwanenhals“
Wolfgang Brauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radstädter Geschichtslektionen (2)
Alfons Markuske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelindes Grausen
Renate Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justizirrtum?
Erhard Weinholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgsgeheimnisse. Ein Werkstattbericht
Anja Finger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bewerbungsmanagement
XXL: Yavuz Baydar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Türkei – Putsch in Zeitlupe
Vor 90 Jahren: G.K. Chesterton . . . . . . . . . . . . . . . Preußen, England und Europa
NO 6
17. Jahrgang (XVII)
17. März 2014
Erscheint jeden zweiten Montag:
www.das-blaettchen.de
Des Blättchens 17. Jahrgang (XVII)
Berlin, 17. März 2014, Heft 6
In eigener Sache – Bilanz
Erhard Crome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pokerface oder Schach?
Holger Politt, Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die polnische Sicht auf die Ukraine
Rupert Neudeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein neues Gebot: Du sollst töten
Militärinterventionen – zur Debatte
Hans-Joachim Gießmann . . . . . . . . . . . . „Wir wollen mitmischen.“ – Sollen wir wirklich?
Gerhard Röpcke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es doch fremdes Leid?
Claus-Dieter König, Dakar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herrscht wieder Frieden in Mali?
Margit van Ham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonntagsruhe
Edgar Benkwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Millionen Wähler
Ulrich Busch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Gerechtigkeit und Steuereffizienz
Sarcasticus . . . . . . . . . . . Finanzdebil – oder: Kann Dummheit doch vor Strafe schützen?
Birgit Svensson . . . . . . . . Qualitätsjournalismus im Zeitalter des Internets – ein Plädoyer
Mathias Iven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefe in Zeiten des Krieges
Reinhard Wengierek . . . . . . Ein trotziger Genosse: der Theatermacher Fritz Marquardt
Erik Baron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga M. Novak „Im Schwanenhals“
Wolfgang Brauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radstädter Geschichtslektionen (2)
Alfons Markuske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelindes Grausen
Renate Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justizirrtum?
Erhard Weinholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgsgeheimnisse. Ein Werkstattbericht
Anja Finger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bewerbungsmanagement
Antworten | Bemerkungen
XXL: Yavuz Baydar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Türkei – Putsch in Zeitlupe
Vor 90 Jahren: G.K. Chesterton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preußen, England und Europa
Impressum
In eigener Sache – Bilanz
Liebe Leser,
unsere seit Ausgabe 1/2014 vorgetragene Bitte, zur finanziellen Absicherung des neuen
Blättchen-Jahrgangs beizutragen, ist einmal mehr auf ein hinreichend breites Echo gestoßen:
Die Finanzierung 2014 steht.
Dafür allen Spendern, Abo-Verlängerern und Neu-Abonnenten unseren herzlichen Dank!
Ihr Blättchen-Team
Margit van Ham
Wolfgang Brauer
Heinz Jakubowski
Wolfgang Schwarz
1
Pokerface oder Schach?
von Erhard Crome
Vor einigen Jahren war ich Teilnehmer eines sicherheitspolitischen Seminars in Moskau. Es
ging um den Iran und die Frage, ob der Westen nach dem Irak nun den Iran überfallen werde.
Da machte ein alter Professor vom Asien-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften
auf eine wichtige kulturelle Differenz aufmerksam: Bei aller Rhetorik müsse man bedenken,
dass die USA eine Nation von Pokerspielern seien; was immer für ein Blatt sie in der Hand hielten, sie müssten ein siegessicheres Gesicht machen und einen entschlossenen Eindruck vermitteln. Der Iran dagegen sei ein altes Volk, und es werde Schach gespielt, das heißt, die Akteure
hätten nicht nur den nächsten Zug, sondern auch noch einen sechsten und zehnten Zug im Kopf,
wenn sie das Spiel eröffnen.
Die Russen sind ebenfalls Schachspieler. Es war von Anfang an völliger Unsinn, wenn schon
nach wenigen Tagen im Westen verantwortliche Politiker jammerten, nun habe man so schöne
Sanktionen gegen Russland beschlossen, und der Putin lenke in der Krim-Sache immer noch
nicht ein. Auffällig ist, dass Leute, die bekanntermaßen von Strategie und Militärwesen etwas
verstehen, wie Henry Kissinger, Peter Scholl-Latour oder General a.D. Harald Kujat, ehemals
Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, den
Westen davor warnen, die Beziehungen mit Russland weiter zu verschlechtern und den Streit in
Sachen Krim zu eskalieren. Während eher naive Politiker, die heute eigentlich für Verantwortung zuständig sind, wie Rebecca Harms von den Grünen oder Frau von der Leyen und Herr
Steinmeier, ständig von „Sanktionen“ reden und die Eskalation befeuern wollen. Die Strategen
fordern, die Interessen Russlands tatsächlich zu analysieren, die des Westens zu definieren, und
dann eine Vereinbarung zu treffen. Auch Herfried Münkler, bekannter Professor für Bellizismus
und bisher immer für einen „kleinen Krieg“ gut, sagte auf die Frage, ob denn 2014 wie 1914
ausgehen werde, dass der Westen nicht wegen der Krim in den Krieg ziehen wird.
Versuchen wir einmal, die Sache aus russischer Sicht zu betrachten. Russische Nationalisten
schimpften schon Anfang der 1990er Jahre, dass es das größte Verbrechen der Kommunisten
gewesen sei, das Land in Republiken aufgeteilt zu haben, die nach nationalen Gesichtspunkten
definiert waren. Hätte man das Land in Gouvernements belassen, wie es beim Zaren war, die
nicht der Logik ethnischer Zugehörigkeiten folgten, hätte die Sowjetunion nicht entlang dieser
Linien auseinander fallen können. Ist sie aber, und seit der Stalinschen Verfassung von 1936
hatten die Republiken das Recht auf Austritt. So haben die politischen Spitzen 1991, die überwiegend aus der KPdSU-Nomenklatura kamen, das Land entlang dieser Linien zerlegt und sich
gegenseitig die territoriale Integrität auf dieser Grundlage zugesagt. Aber schon der im Westen
immer hochgelobte Alexander Solschenizyn, ebenfalls russischer Nationalist, bemerkte damals
zu den nunmehrigen Grenzen der Russischen Föderation, Russland sei auf die Grenzen zur Zeit
Iwans des Schrecklichen (1530-1584) zurückgeworfen und hätte alles Territorium verloren, das
Generationen seither für Russland erworben hatten.
Daraus folgte aber kein unbedingter Expansionsdrang Russlands nach 1991. Die Moskauer
Eliten hatten sich mit dem Ende der Sowjetunion abgefunden. Dass die anderen ehemaligen
Sowjetrepubliken als das „nahe Ausland“ im Unterschied zum „richtigen“ Ausland angesehen
wurden, hieß nicht, sie zurückzuerobern, sondern besondere Beziehungen zu ihnen zu unterhalten. Gewiss auch in dem Sinne, dort weiterhin einen bestimmten Einfluss auszuüben, so wie die
USA in Lateinamerika. Das waren jedenfalls Debatten der 1990er Jahre in Moskau.
Einige Politikwissenschaftler und Politiker im Westen, von den USA bis Polen und Estland,
meinen nun alarmistisch, Russland werde nach Abchasien und Südossetien nun die Krim und
dann weitere Teile der Ukraine und Kasachstans annektieren wollen. Ist das ernst zu nehmen?
Was aber ist mit der Krim? Gewiss, nach Auseinandersetzungen des ukrainischen Parteichefs
Nikita Chruschtschow mit dem georgischen Partei- und Regierungschef der Sowjetunion Jossif
Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg hat Chruschtschow, nun selbst KPdSU-Chef, nach Stalins
Tod 1954 die Krim der Ukraine überantwortet. Es war gewissermaßen ein Geschäft zu Lasten
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Dritter, nämlich des russischen Volkes. Und es war illegal, denn es gab weder einen Beschluss
des Obersten Sowjets der UdSSR, die Krim zu übergeben, noch des Obersten Sowjets der
Ukraine, die Krim zu übernehmen. Gleichwohl war die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine geübte Praxis. Und mit dem Budapester Memorandum zwischen Russland, den USA und Großbritannien einerseits und der Ukraine andererseits über die Übergabe der auf dem Territorium der
Ukraine befindlichen Atomwaffen der Sowjetunion an Russland vom 5. Dezember 1994 hatte
die russische Regierung die territoriale Integrität der Ukraine ausdrücklich anerkannt.
Der Westen aber hat viele seiner Zusagen seit dem Ende des Kalten Krieges nicht eingehalten. Das beginnt mit der ausdrücklichen Erklärung der Regierung Bush sen. vom Februar 1990,
die einzige NATO-Osterweiterung werde die um das Territorium der DDR sein, und reicht
jüngst bis zu der Unterschrift der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens unter
die Vereinbarung in Kiew zwischen der Janukowitsch-Regierung und der damaligen Opposition
über die geordnete Übergabe der Macht, die bereits Stunden später das Papier nicht mehr wert
war und zur Machtergreifung der jetzigen ukrainischen Regierung unter Einbeziehung der Faschisten führte. Durch die NATO-Osterweiterung ist der Ring um Russland in seinen jetzigen
Grenzen immer enger gezogen worden. Ein NATO-Beitritt der Ukraine wäre eine neue Qualität
dessen. Und Russland dürfte nicht fest damit rechnen, seinen Kriegshafen auf der Krim dauerhaft weiter nutzen zu können. Der aber ist essentiell für die wiedererstarkte geopolitische Rolle
Russlands. Dazu gehören die Aufrechterhaltung des russischen Seestützpunktes in Syrien und
Seemanöver gemeinsam mit der chinesischen Flotte im östlichen Mittelmeer. Insofern dürfte
das eigentliche strategische Ziel Russlands nicht der Besitz der Krim sein, sondern die Erhaltung des Kriegshafens Sewastopol und die Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine.
Die westliche Argumentation jetzt ist, die Grenzen in Europa dürften nicht einseitig verändert
werden. Das ist lächerlich. Der Westen hat sie geändert im Falle der Abtrennung des Kosovo
von Serbien in Verbindung mit einem Volksentscheid. Insofern wäre eine Abtrennung der Krim
von der Ukraine in Verbindung mit einem Volksentscheid qualitativ nichts anderes. Auch wenn
deutsche Völkerrechtler nicht müde werden zu erklären, der Kosovo sei ein Einzelfall, der nicht
verallgemeinerbar sei. Es war der Präzedenzfall.
Auf die Erklärung Russlands, es sei verpflichtet, in den Wirren in der Ukraine russische
Bürger zu schützen, entgegnete die US-Vertreterin im UNO-Sicherheitsrat, Samantha Power,
das sei ja gerade so, als wäre Russland die Polizeitruppe des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Wahrscheinlich ist Power (Jahrgang 1970) zu jung, um zu wissen, dass genau mit
diesem Argument die USA 1983 in Grenada und 1989 in Panama militärisch eingefallen waren,
um jeweils die dortigen Regierungen zu stürzen, die der Weltmacht nicht in den Kram passten.
So ist die derzeitige Krim- und Ukraine-Politik Russlands auch symbolisch gemeint: Wer strategische Atomwaffen hat, kann in seinem Umfeld machtpolitisch auch Schritte gehen, die sich
über das Völkerrecht hinwegsetzen, ohne dass er real daran gehindert werden kann.
Das Geschimpfe der US-Regierung bei gleichzeitiger Mitteilung, keine Truppen in die
Ukraine zu schicken, bestätigt genau dies. Dennoch sind schon jetzt NATO-Offiziere und Söldner der Privatfirma, die früher Blackwater hieß, in der Ukraine. Die USA haben sich die Herbeiführung der Situation dortzulande bisher fünf Milliarden Dollar kosten lassen. Sie wollen
die Ukraine nicht loslassen und gemeinsam mit der EU im westlichen Einflussgebiet haben und
gegen Russland positionieren. Russland aber will sich nicht weiter einkreisen lassen und hält in
der Krim-Frage dagegen.
Zugleich aber scheint es ein größeres Spiel zu geben. Die USA sind dabei, sich gegen China
zu wenden. Für diese pazifische Ausrichtung aber brauchen sie EU-Europa als Hinterland. Eine
EU, die wirtschaftlich eng mit Russland und mit China zusammenarbeitet, die gleichsam die
eurasische Verbindung herstellt, schwächt die US-Positionen in der pazifischen Ausrichtung.
Deshalb das Interesse der USA, die transatlantische Freihandelszone zu schaffen. Die würde die
Bindungen der EU in Eurasien schwächen und deren Abhängigkeit von den USA stärken. Wenn
es in Verbindung mit Krim und Ukraine tatsächlich zu ernsthaften Sanktionen gegen Russland
käme, wäre dies die Folge. Zugleich schwadroniert mancher im Westen, man könne Russland
dadurch in die Knie zwingen, dass seine Wirtschaft und der Rubel weiter geschwächt werden.
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China hat bereits deutlich gemacht, dies nicht zuzulassen. Gleichzeitig hat es angeboten, bei
westlichem Boykott russischen Erdgases dieses zusätzlich abzunehmen. Das aber würde bedeuten, dass Russland nicht mehr zwischen EU-Europa und China wählerisch Politik machen
könnte, sondern von China abhängt. Das heißt: die ukrainische Zuspitzung hätte das Ergebnis,
dass eine neuer Eiserner Vorhang zwischen der EU und Russland niedergeht mit der Folge,
dass die EU als Hinterland der USA und Russland als Hinterland Chinas in deren Auseinandersetzung dienen. Und die führenden Politiker der EU-Länder lassen sich genau in dieses Spiel
einbinden, wenn sie den Sanktionen gegen Russland das Wort reden. Die USA pokern nicht nur,
sie spielen auch Schach.
Die polnische Sicht auf die Ukraine
von Holger Politt, Warschau
Nichts rechtfertige Putins Kurs der Einverleibung von Gebieten der Ukraine. So das einhellige
Stimmungsbild in Polens Öffentlichkeit. Dementsprechend machte Polens führende Tageszeitung
Gazeta Wyborcza am 7. März 2014 mit diesem Titel auf: „Anschluss der Krim“, das Wort Anschluss
dabei natürlich deutsch geschrieben. Selbst wenn alles abgelehnt und verurteilt werde, was in Kiew
zum Sturz von Viktor Janukowitsch geführt habe, sei für Moskau keine Handhabe gegeben, Teile des
Nachbarlandes herauszubrechen. Alle Argumente, die Putin seit der Besetzung der Krim vorbringe,
um gegenüber der internationalen Öffentlichkeit das Gesicht zu wahren, seien vorgeschoben, fadenscheinig. Geteilt ist die Meinung allerdings bei der Frage, ob Putins Schachzug gegen die territoriale
Integrität der Ukraine nun eher Ausdruck besonderer Stärke oder auf der Hand liegender Schwäche
sei. Insofern spielen historische Vergleiche keine vordergründige Rolle, auch wenn Adam Michnik,
um kräftig zuzuspitzen, sie gerne bemüht. Viel wichtiger ist tatsächlich die aktuelle Analyse. Anders
als in Deutschland steht die Ukraine in Polen in der Wahrnehmung nicht im Schatten des größeren
Russlands – die Ukraine ist sogar der wichtigere Bezugspunkt.
Kurz nach dem russisch-georgischen Waffengang im Sommer 2008, der mit einer Niederlage
Georgiens und der vollständigen Abtrennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland endete,
initiierte Polen mit wirksamer Unterstützung Schwedens das EU-Programm der „Östlichen Partnerschaft“, mit dem ehemaligen Sowjetrepubliken eine Annäherung an die EU-Strukturen ermöglicht
werden soll, ohne dass zugleich von einer Beitrittsperspektive die Rede ist. Gewünschte Adressaten
waren Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldowa, die Belarus und vor allem die Ukraine. Als
Antwort hob Moskau eine „Euroasiatische Union“ aus der Taufe, die im Kern aus Russland, Kasachstan, der Belarus und der Ukraine bestehen soll. In vereinfachter Nachahmung der EU wird auf
die schnelle Schaffung eines gemeinsamen Markts, auf freien Kapital- und freien Personenverkehr
gezielt. An weitergehende politische Gewaltenteilung und gegenseitige Aufgabe von Souveränitätsrechten wird weniger gedacht. Russland lockt vor allem mit wirtschaftlichen Angeboten und nachweisbarer Stärke. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat das Niveau Polens, das Land, auf das in
der Ukraine zuerst geschaut wird, wenn man sich an der EU zu messen versucht. Die 22.000 Dollar
sind der dreifache Wert, der in der Ukraine derzeit erreicht wird. Zu Beginn der 1990er Jahre hatten
alle drei Länder das gleiche Niveau.
Zu einer offenen Zuspitzung kam es im November 2013, als Janukowitsch durch Moskau vor
die Wahl gestellt wurde: hü oder hott. Er gab dem EU-Programm einen Korb, unterzeichnete
das vorbereitete Assoziierungsabkommen nicht. Die daraufhin in Kiew ausbrechende Protestwelle führte nach blutiger Zuspitzung zu seinem Sturz, den Moskau als einen von langer Hand
vorbereiteten Putsch mit Unterstützung von NATO und EU ausgibt. In seiner berühmt gewordenen Pressekonferenz nach der in Gang gesetzten militärischen Besetzung der Krim verstieg
sich Putin am 4. März 2014 zu der Behauptung, die Putschisten seien in Polen und Litauen
ausgebildet worden.
4
Tatsache ist, dass wohl in keinem anderen EU-Land dem Geschehen auf dem Kiewer Maidan
von Anfang an so viel Sympathie entgegengebracht wurde wie in Polen. Dementsprechend hatten es kritische Stimmen, die den Blick etwa auf die äußerst heterogene Zusammensetzung der
Protestierenden oder die komplizierte Gesamtsituation der Ukraine richteten, schwerer, Gehör
zu finden. Mitunter wurde an die Adresse der Regierung auch die Frage gerichtet, ob das Programm der „Östlichen Partnerschaft“ nicht gescheitert sei. Ende Januar 2014 beschwor Donald
Tusk in einem Fernsehinterview, dass seine Regierung sich für eine EU-Beitrittsperspektive der
Ukraine einsetzen werde. Dass dabei bereits der eher enge Rahmen des Programms der „Östlichen Partnerschaft“ überschritten wurde, spielte angesichts des Geschehens in Kiew keine Rolle
mehr. Im Vordergrund stand die Überzeugung, das Vorbild der Entwicklung Polens mit Hilfe
der EU-Strukturen könne auch von der Ukraine wiederholt werden. Daraus aber die Miturheberschaft für einen Putsch in Kiew zu münzen, um den Vorwand für das Eingreifen auf der
Krim zu stützen, fällt auf den Urheber zurück, verrät die Absicht, gegebenenfalls die Teilung der
Ukraine billigend in Kauf zu nehmen.
Denn ganz gleich, welche Perspektive die Ukraine nun zwischen Europäischer Union und
Moskaus euroasiatischem Plan wählen wird, den obersten Wert für Polens Politik hat die territoriale Integrität der Ukraine. Anders als in Deutschland wird diese Frage auch viel weniger
„aufgerechnet“ mit wirtschaftlichen Interessen – kein Politiker würde es wagen, die Krim als
einen aus Sicht übergeordneter Interessen zweitrangigen Happen zu behandeln, der dem Wolf
ruhig überlassen werden solle, um dessen Hunger zu stillen. Ein kritisch-besorgter Seitenblick
fällt noch immer auf die Ostseepipeline, dem janusköpfigen Rückgrat für Deutschlands Energiewende. In diesem Zusammenhang fiel sogar das Wort vom Glück, als ein zwischen Russland
und Deutschland gelegenes Land in der entstandenen schwierigen Situation fest zur Europäischen Union zu gehören. Ein anderes Gleichnis macht indes Adam Michnik auf: Die Welt brauche Russland, aber Russland brauche nicht Putin.
Ein neues Gebot: Du sollst töten
von Rupert Neudeck
Bei der Lektüre dieses dramatischen Buches (Anm. Blättchen: Jerremy Scahill: Schmutzige
Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen) musste ich an einen Satz von Albert Camus
denken. Inmitten des von der französischen Kolonialmacht unbarmherzig geführten Krieges in
Algerien sagte er 1958: „Die Folter hat vielleicht erlaubt, dreißig Bomben aufzufinden, aber sie
hat gleichzeitig fünfzig neue Terroristen auf den Plan gerufen, die auf andere Art und anderswo
noch mehr Unschuldige in den Tod schicken werden.“
Das Buch von Jeremy Scahill macht deutlich: Drei Kriege sind von den USA geführt worden,
von denen wir wenig bis nichts erfahren haben. Über den Drohnenkrieg cross border aus Afghanistan nach Pakistan sind einige Informationen zu uns gelangt, vor allem durch die detaillierten
Berichte über den – Völkerrecht verletzenden – Eingriff 250 Kilometer tief ins pakistanische
Hoheitsgebiet, um Osama bin Laden in seinem Versteck in Abbottabad zu töten. Aber nichts
erfuhren wir über den Krieg der CIA und des Joint Special Operations Command (JSOC) in
Somalia. Ebenso nichts über den geheimen Krieg in Jemen. Abdulellah Haider Shaye, ein jemenitische Journalist, der einem Angriff der US-Dienste mit Drohnen auf die Spur kam, wurde
verhaftet und verschwand in einem Gefängnis.
Scahill verfolgt die illegalen weltweiten Operationen der USA. Der US-amerikanische Publizist und Filmemacher, Jahrgang 1974, gilt mittlerweile als Experte für „Extralegale Hinrichtungen“, wie Tötungen ohne gerichtliches Urteil, auf Anordnung oder mit Duldung von
Regierungen genannt werden. Mehrfach wurde er bereits vom US-Kongress zu Anhörungen
geladen. Liest man sein neues Werk, dessen Untertitel im Original „The World Is a Battlefield“
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(Die Welt ist ein Schlachtfeld) lautet, muss man annehmen, in den USA sei ein christliches
Gebot umgekehrt worden, gelte nicht mehr „Du sollst nicht töten“, sondern: „Du sollst töten.“
Doch diese Doktrin mehrt all das Übel in der Welt. Die Tötung des Al Qaida-Anführers in Nordafrika, Saleh Ali Nabhans, führte dazu, dass al Shaabab ihre terroristischen Aktivitäten über
die Grenzen Somalias ausdehnte.
Ein Mitglied der US-Dienste offenbarte dem Autor, dass die „Messlatte für die Tötung von
Menschen“ erschreckend tief hängt: Drei bestätigte „Humint“ (human intelligence), d. h. Berichte aus nachrichtendienstlicher Abschöpfung, würden bereits genügen. „Vor Gericht gelte
das nur als Gerücht. Ich begreife nicht, dass sich die Leute mit so dünnen Beweisen zufrieden
geben, wenn es um die Tötung von Menschen geht“, klagt der ehemalige Jemen-Experte des
Militärischen Geheimdienstes, Joshua Foust.
Die zweite Quintessenz aus dem Buch von Scahill: Unter Barack Obama ist die illegale Tötung
von Menschen zur Routine geworden, kein Präsident vor ihm hat so viele Mordbefehle erteilt wie
er, selbst George W. Bush jun. nicht. Die Exekutionen sind für Obama nicht problematisch, ihn
beschäftigt lediglich, wie er angesichts dieser international geächteten Praxis sein Image bewahren
könne. Das kann er natürlich nicht. Die vorschnelle Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn ist
ein Treppenwitz der Geschichte. Alles, was Obama versprochen hatte und wofür ihn die Mehrheit
der US-Amerikaner wählte und wofür er weltweit zum Polit-Darling avancierte, erwies sich als Enttäuschung. Selbst das Gefängnis in Guantanamo hat er nicht aufgelöst.
Es war Obama, der General McChrystal in den Krieg am Hindukusch schickte, einen sturen
Militär, der die Afghanen nicht verstand und vermutlich die Taliban mehr unterstützt hat, als
diese sich das erhoffen konnten. Bei seiner Ankunft verkündete McChrystal volllippig, nicht
die „Zahl der getöteten Feinde“ sei das Maß des Erfolges der US-Politik, sondern die „Zahl der
vor Gewalt geschützten Afghanen“. Er log. Unter McChrystal begann die Umsetzung der Terrorbekämpfung mittels gezielter Tötungen. Entsetzt quittierte der US-Diplomat Matthew Hoh
den Dienst, da die Operationen der USA und der NATO in den paschtunischen Dörfern auf eine
„Besatzungsmacht hinausliefen, gegen die ein Aufstand gerechtfertigt“ sei.
Man kann den Inhalt dieses gewichtigen Buches nicht auf einen Nenner bringen. Es enthält
so viele unglaubliche Tatsachen, dass man sich nur wundern kann, warum Europa den USA
nicht schon längst die Gefolgschaft aufgekündigt hat. Die Deutschen haben von ihrem Nimbus
als Freunde Afghanistans weniger durch die Präsenz von Bundeswehrsoldaten dort eingebüßt,
als vielmehr durch ihre blinde Treue zur US-Administration in Washington.
Beim Lesen des Kapitels „Eine Nacht in Gardez“ stehen einem die Haare zu Berge. Da wird
an den Angriff von US-Spezialkräften auf eine afghanische Festgesellschaft erinnert, bei dem
sieben Zivilisten getötet wurden, darunter zwei schwangere Frauen. Über diese Ungeheuerlichkeit hätten wir nichts erfahren, wenn sie nicht der Journalist Jerome Starke publik gemacht
hätte: Auf Grund falscher Informationen waren unschuldige Afghanen ermordet.
Die gezielten Tötungen, ob per Tomahawk oder Drohnen, erleichtert den Terroristen, neue Mitglieder zu rekrutieren und die Gewalt zu eskalieren. Oberst Patrick Lang konzediert, der globale
Krieg gegen den Terror habe sich verselbstständigt, und „die Tatsache, dass sich diese Antiterrorund Antiaufstandsbranche zu einem solchen Riesending entwickelt, all das hat ein großes schreckliches Beharrungsvermögen, das dafür sorgt, dass alles weiter in die falsche Richtung läuft“.
Am 22. Januar 2009 hatte Obama per Präsidentenerlass 13491 verfügt, dass die CIA „so
schnell wie möglich“ alle Gefängnisse schließen müsse, die sie gegenwärtig unterhält, und
dass sie künftig keine derartigen Gefängnisse mehr unterhalten dürfe. Das genaue Gegenteil
geschah. In Mogadischu übernahmen US-Spezialdienste das schreckliche Foltergefängnis, das
der somalische Präsident Siad Barre von seinem Sicherheitsdienst hatte einrichten lassen; bei
den Somaliern heißt es „Godka“, das Loch.
Allerorten dasselbe: Ohne Scham und Reue werden Nicht-Kombattanten getötet, was als
„Kollateralschaden“ ausgegeben wird. Lebensgrundlagen der Menschen werden zerstört, ihre
Häuser zerbombt, ihr Vieh abgeschlachtet. Was Scheich Ali Abdullah Abdulsalam zur Feststellung führte: „Die USA betrachten al- Qaida als Terrorismus und wir betrachten die Drohnen als
Terrorismus.“ Er ergänzte: „Wir fordern von den USA Entschädigung für die Tötung jemeniti6
scher Zivilisten, so wie im Fall Lockerbie. Die USA haben von Libyen Entschädigung für den
Anschlag von Lockerbie erhalten, aber die Jemeniten bekommen keine.“
Scahills Buch lässt bewusst werden, dass unsere Empörung einseitig ist. Die Edward Snowden zu dankende Enthüllung, dass Kanzlerin Angela Merkel wie zuvor schon Gerhard Schröder
von der NSA abgehört wurde, sorgte für große Entrüstung hierzulande, die verdeckten Operationen der US-Geheimdienste und des US-Militärs jedoch nicht annähernd. Dabei können sie jeden
Staat betreffen. Der weltweite „Krieg gegen den Terror“ macht keinen Bogen um Deutschland.
Scahills Buch, bereits Grundlage eines Films, sollte aufmerksam gelesen werden. Vor allem:
Deutschland sollte den Rambo-Strategen die Nibelungentreue aufkündigen.
Jeremy Scahill: Schmutzige Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen, Kunstmann, München
2013, 719 Seiten, 29,95 Euro.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors dem Neuen Deutschland vom 7. März 2014 entnommen.
Rupert Neudeck, 1979 durch die Rettung Tausender vietnamesischer Flüchtlinge („boat people“)
im Chinesischen Meer mit der „Cap Anamur“ weltbekannt geworden, ist heute mit seinem Friedenskorps Grünhelme in verschiedenen Kriegs- und Krisengebieten aktiv.
„Wir wollen mitmischen.“
– Sollen wir wirklich?
von Hans J. Gießmann
Das Titelzitat aus dem Jahre 1993 stammt vom früheren deutschen Außenminister Klaus Kinkel.
So hätte möglicherweise auch die Überschrift der drei wichtigsten deutschen Redebeiträge zur 50.
Münchener Sicherheitskonferenz lauten können. Dabei dürfte wohl weder vom Bundespräsidenten
Gauck noch von der Verteidigungsministerin von der Leyen und dem Außenminister Steinmeier
wirklich erwartet worden sein, dass die im Dreiklang erfolgte vollmundige Aufforderung zur „aktiven deutschen Außenpolitik“ so kurze Zeit später schon auf den Prüfstand gestellt werden sollte. Die
einseitige und blauäugige „Vermittlungsmission“ mit deutscher Beteiligung geriet im Eiltempo zum
politischen Fiasko und die seither unternommenen hektischen Bemühungen um Schadensbegrenzung belegen konzeptionsloses und ohnmächtiges Krisenmanagement.
Klar ist: Das Verhalten Russlands in der Krimkrise ist weder politisch noch völkerrechtlich
gutzuheißen. Die russische Führung hat keinerlei Absicht erkennen lassen, die rasante Zuspitzung des Konflikts aufhalten zu wollen und Verhandlungswege auch nur zu erwägen. Wer aber
solcherart rüdes Vorgehen einordnen und sich ernsthaft darauf einstellen will, sollte nach den
tiefer liegenden Motiven für dieses Verhalten suchen und sich nicht allein auf die Überzeugungskraft eigener Politik verlassen, zumal diese offenbar von vielen Russen nicht mehr verstanden beziehungsweise deutlich abgelehnt wird.
Die Kernfrage der europäischen und damit auch des deutschen Scheiterns der Ostpolitik nach
1990 hat der Westen zu keinem Zeitpunkt aufrichtig beantworten wollen: Soll Sicherheit in Europa mit, ohne – oder vielleicht sogar gegen Russland gewährleistet werden. Am Anfang standen
russische Hoffnung und europäische Versprechen einer gemeinschaftlichen Friedensordnung,
so wie in der Pariser OSZE Charta 1990 feierlich beschlossen. Anstelle dieser Ordnung weitete
sich das Bündnis der NATO immer weiter ostwärts aus, und an die Stelle der Idee einer gemeinsamen Ordnung rückten Gedankenspiele über „rote Linien“ russischer Toleranz, die möglicherweise berücksichtigt oder eben zurückgedrängt werden müssten. Russland wurde faktisch
an den sicherheitspolitischen Katzentisch verwiesen und seine Mitwirkung wurde nur erbeten,
wenn für die zu lösenden Probleme sein Mitwirken für sinnvoll (zum Beispiel auf dem Balkan)
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oder zwingend (wie als Mitglied des UN-Sicherheitsrats) gehalten wurde. Im Übrigen wurde
Sicherheitspolitik ohne Russland praktiziert. Im Windschatten dieser Ausgrenzung gediehen
zunehmend Nationalismus und eine Europafeindlichkeit. Durch wiederkehrende Enttäuschung
über ausbleibende Belohnungen russischen Entgegenkommens bei der Ausdehnung der NATO
an die Grenzen Russlands, bei der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle, aber auch
bei Beschlüssen im Sicherheitsrat der UNO wurde die Entfremdung zwischen Russland und
seinen westlichen Nachbarn befeuert und den neoimperialen Ambitionen der nationalistischen
Führungseliten Zustimmung verschafft. Jetzt droht Sicherheitsvorsorge gegen Russland, die
schlechteste aller vorstellbaren Perspektiven.
Damit steht der Westen vor den Trümmern seiner langjährigen fahrlässigen Geringschätzung
russischer Interessen und keine Sanktionsdrohung vermag den Eindruck in Russland zu beseitigen, dass erneutes Nachgeben die Aussichten auf einen gleichberechtigten Platz in der europäischen Politik nicht verbessern würde. Anstelle einer selbstkritischen Revision der Ostpolitik, einer Rückbesinnung auf das Diktum der erfolgreichen Ostpolitik Willy Brandts und Egon
Bahrs – des „Wandels durch Annäherung“ – hat eine selbstgerechte Neuordnung Europas in die
Sackgasse drohender Konfrontation zwischen Ost und West geführt.
Deutschland könnte – und muss im eigenen Interesse – in der Tat die Verantwortung einer aktiven
Außenpolitik annehmen. Allerdings sind deren Anforderungen andere als jene, die auf der Münchener Sicherheitskonferenz zu vernehmen waren. Die Aussichten auf Besinnung stehen nicht gut.
Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund of the
United States formulierte den Rahmen für eine deutsche Sicherheitsstrategie kürzlich wie folgt:
Deutschland spielt inzwischen selbst in der Liga globaler Akteure, „Deutschlands gewachsene
Kraft verleiht ihm heute neue Einflussmöglichkeiten“, die „Anlass für die Neuvermessung seiner Internationalen Beziehungen“ seien. Und weiter: „Deutsche Außenpolitik muss die ganze
Bandbreite außenpolitischer Instrumente – von humanitärer Hilfe über Entwicklungszusammenarbeit und Diplomatie bis hin zu militärischen Stabilisierungsmissionen – einsetzen. Unmittelbares Ziel ist dabei Konflikte zu beenden und Stabilität zu befördern; langfristig gilt es, die
Bedingungen dafür zu schaffen, dass legitime und handlungsfähige Regierungen ihren staatlichen Aufgaben selbst nachkommen können.“ Einsatzbeteiligung mit den „Mitstreitern“ läge im
nationalen Interesse Deutschlands und Europas.
Nun bedeutet dies nicht zwingend eine Hinwendung zur stärkeren Beachtung militärischer
Optionen für die Außenpolitik, es schließt es aber auch nicht eindeutig aus.
Was aber bedeutet dies konkret? Die einen beschwichtigen noch und verweisen auf die
Notwendigkeit eines vorangehenden völkerrechtlichen Mandats sowie eines Beschlusses des
Deutschen Bundestages, und darauf, dass militärische Mittel nur im Ausnahmefall, das heißt
als ultima ratio, zum Einsatz kommen sollten. Die anderen warnen davor, dass eine zunehmend zweckrationale Beurteilung der Effektivität militärischer Mittel in Bezug auf ihre Ziele,
zu einer Absenkung der Einsatzschwelle führt. Militärische Mittel wären demnach nicht das
letzte, sondern das äußerste Mittel, um politische Ziele durchzusetzen. Selbst der sogenannte
Parlamentsvorbehalt, die Notwendigkeit einer mehrheitlichen parlamentarischen Zustimmung
für Auslandseinsätze der Bundeswehr, stehe demnach zur Disposition.
Beide Positionen springen allerdings zu kurz: sie setzen daran an, ob und unter welchen Umständen die vorhandenen militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr geeignet sind, das Erreichen außenpolitischer Ziele zu unterstützen oder eben auch nicht zu unterstützen. Sie verfehlen
die Antwort auf die Frage, welche sicherheitspolitischen Herausforderungen eigentlich bestehen und wie und mit welchen Mitteln am besten mit diesen Herausforderungen umzugehen
ist. Beide Argumente sehen militärische Mittel praktisch als einen normalen und verlängernden
Teil des Leistungsspektrums deutscher Außenpolitik, sie erbringen jedoch nicht den Nachweis
uneingeschränkter Eignung für deren Ziele. Sollten bewaffnete Einsätze zunehmend wichtiger
Teil aktiver Außenpolitik sein?
Die Bilanz militärischer Einsätze in den letzten Jahren ist ernüchternd, aber das ist auch nicht
überraschend. Streitkräfte können vielleicht gelegentlich Kriege entscheiden, sie sind aber unter
keinen Umständen eine geeignete Institution, um zur Errichtung von Rechtsstaatlichkeit oder po8
litischer Mitbestimmung beizutragen. Weder in Mali, Zentralafrika oder Somalia. Schon gar nicht
im östlichen Europa. Hierfür sind Entwicklungszusammenarbeit, wirtschaftlicher Wiederaufbau und
die Förderung eines funktionierenden Staatswesens gefragt. All dies sind keine neuen Erkenntnisse,
sie scheinen in der Euphorie anstehender „Neuvermessung der internationalen Beziehungen“ allerdings aus dem Blick und zuweilen auch aus dem Verstand zu geraten.
Auslandseinsätze sind in der vielfach komplexen Realität unserer Welt kein Allheilmittel.
Sie können gelegentlich unverzichtbar sein: etwa, wenn es um das Expertenwissen bei der Zerstörung der syrischen Chemiewaffen geht; oder um die Sanitätsversorgung in Krisengebieten
zu unterstützen; oder Seewege gegen Piraterie zu schützen, oder Abrüstungsvereinbarungen zu
überwachen, oder Soldaten nach rechtsstaatlichen Prinzipien auszubilden – um nur einige Beispiele zu nennen. Hier wäre aktiveres und entschlosseneres deutsches Engagement anzuraten.
Das Risiko einer konzeptionslosen Verstrickung in militärische Missionen mahnt jedoch zur
Vorsicht. Kluge Außenpolitik beschränkt sich heutzutage nicht darauf, mit der Feuerwehr auszurücken um vermeintliche Brände zu löschen, sondern stattdessen Brandschutz zu betreiben,
durch zivile Krisenprävention, durch die Bekämpfung von Gewaltursachen und die bereitwillige Unterstützung der Konflikttransformation durch die Akteure vor Ort.
Gibt es doch fremdes Leid?
von Gerhard Röpcke
Dass die Bibel nicht nur für Christen eine elementare kulturelle Bedeutung hat, ist vermutlich unstrittig. Das gilt auch dann, wenn die Heilige Schrift in diverser Hinsicht Widersprüchliches auszusagen weiß. Befürwortet zum Beispiel das Alte Testament das archaische Rachepostulat von „Auge
um Auge, Zahn um Zahn“, so empfiehlt Jesus von Nazareth im Neuen Testament dem Geschlagenen, seinem Kontrahenten widerstandslos auch noch die andere Wange zum Schlag hinzuhalten.
Letzteres ist umgangssprachlich zur geläufigen Deutung dessen geworden, was man Pazifismus nennt. Und dieses Denken wirkt – auch ohne Bibelbezug – noch heute verbreitet fort: Jede
Gewalt ist abzulehnen! Dieses Prinzip hat den unbedingten Vorzug, dem Menschen in seinem
privaten und gesellschaftlichen Miteinander dienlich und schon deshalb erstrebenswert zu sein;
auch als politisches Paradigma bietet es sich förmlich an.
Folgt man der biblischen Empfehlung indes nicht, so wird es zugegeben gelegentlich schwierig, zu bestimmten politischen Vorgängen das zu beziehen, was man „eine unerschütterliche Position“ nennt. Auf die derzeit zu Recht heiß diskutierte Frage der Berechtigung internationaler
militärischer Eingriffe in die Vorgänge anderer Staaten bezogen könnte das eigene Nachdenken
dazu führen, dass ein solches Vorgehen in jedem Einzelfall zumindest zu prüfen ist – dann,
wenn vorausgehende politische Einflussnahme zur Abwendung von Gewalt sich als fruchtlos
erwiesen hat und eine ultima ratio vonnöten ist.
Natürlich muss bis zur Neige ausgeschöpft werden, was gewaltlose Lösungen von Konflikten
denkbar macht. Ebenso natürlich bleibt aber möglicherweise irgendwann nur noch die Alternative: Zusehen, wie Menschen massenhaft abgeschlachtet werden, oder solchen Blutrausch per
Eingriff stoppen und viele Menschenleben retten.
Nur so sind immerhin zehntausende Kambodschaner durch den vietnamesischen Militäreinsatz gegen das Pol-Pot-Regime davor bewahrt worden, heute in den Beinhäusern der ermordeten
Landsleute aufbewahrt zu werden. Nur so sind nicht noch mehr als die fast eine Million Tutsi in
Ruanda hingemetzelt worden. Wenigstens Frankreich hatte sich entschlossen, das Morden dort
zu stoppen. Nur so ist es in Darfur nicht noch schlimmer gekommen. Und wohl nur so ist auch
in Mali ein sich anbahnender Genozid aufgehalten worden.
Hat je ein Linker den humanistischen Hintergrund von Gründung, Existenz und Bedeutung
der Internationalen Brigaden im Spanien der 1930er Jahre – wenngleich deren Heroik erfolglos
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blieb – angezweifelt? Und war das nicht auch ein militärischer Eingriff in die inneren Belange
eines Staates? Der unternommen wurde, da sich die eingriffsfähigen Nachbarstaaten durch das
Weltbund-Diktum der Nichteinmischung gebunden sahen? Und sollte wirklich denkbar sein,
dass jemand die Rettung einer „Sache“ (damals der jungen spanischen Linksdemokratie) vor
dem Klassenfeind für akzeptabel hält, die Rettung von Menschenleben jedoch nicht, wenn damit nicht gleichzeitig eine „Sache“ zu schützen ist?
Gewiss kann man sich nach wie vor auf den Standpunkt stellen, eine militärische Option sei
grundsätzlich zu verwerfen, da sie keine Probleme löst. Das ist zutreffend, ändert es aber etwas
am sehr wohl humanistischen Ergebnis solcher Aktionen?
Gewiss kann man darauf verweisen, dass bei den Interventen ja bei alledem auch quasi-imperialistisches Kalkül obwaltet. Die daran anknüpfende Frage ist aber die gleiche wie im Absatz zuvor.
Der ungarische Publizist György Dalos hat einst eine Feststellung getroffen, über die es
sich – auch im Kontext des hier Erwogenen – vielleicht doch nachzudenken lohnt: „Ich bin
ein Linker in meinen kulturellen Reflexen, möchte jedoch diese Haltung nicht ohne Reflexion
über mich ergehen lassen. Dementsprechend muss ich für den GAU gerüstet sein, wenn etwa
ein Konservativer plötzlich Recht hat oder ein Vertreter des Fortschritts eine enorme Dummheit
präsentiert. Jenseits dieser traditionellen Sicht fühle ich mich jenen Paradiesvögeln verpflichtet,
die in einer Frage so, in einer anderen wiederum anders denken. Andersdenken ist für mich
nicht nur eine Form der ideologischen Devianz, sondern auch das Recht, über etwas anderes als
die Themen des gängigen Diskurses nachzudenken.“ Genau das ist ein Dilemma, vor dem wohl
jeder steht, der sich nicht allein an den Geländern von Prinzipien und Paradigmen durchs Leben
bewegen mag. Das Dumme ist nur, dass sich dieses Leben – wie es scheint –immer wieder mal
unterhalb des Niveaus unserer Prinzipien abspielt.
Um auf jemanden zurückzugreifen, dem das Blättchen gewiss sehr nahe steht und der gern als
ausgewiesener Pazifist bemüht wird – wenn Kurt Tucholsky, und mit ihm die Weltbühne, sich ausdrücklich dem Pazifismus verpflichtet gefühlt haben, so ging es ihm und der Zeitschrift nicht um
das von Jesus angebotene Verständnis, sondern um eine revolutionäre Interpretation dieser Haltung,
die er mit Bedacht als „militanten Pazifismus“ bezeichnete. „Es gibt nur eine Sorte Pazifismus: den,
der den Krieg mit allen Mitteln bekämpft. Ich sage: mit allen, wobei also die ungesetzlichen eingeschlossen sind; denn es kann von der Rechtsordnung des Nationalstaates, der auf der Staatenanarchie beruht, nicht verlangt werden, daß sie die Kriegsdienstverweigerung anerkennt – es wäre
Selbstmord. Also müssen wir dem Staat, bis sich die Erkenntnis vom Verbrechen des Krieges allgemein Bahn gebrochen hat, ein wenig nachhelfen – mit allen Mitteln.“ (Ignaz Wrobel: Gesunder
Pazifismus). Und Kurt Hiller, ebenfalls prägender Autor der Weltbühne und Begründer der „Gruppe
Revolutionärer Pazifisten“ – der auch Tucholsky angehörte – postulierte: „Gewaltloser Pazifismus
ist gut als Beschreibung eines Endzielzustandes, als visionäre eschatologische Malerei, nicht als Anleitung zum Handeln morgenfrüh. Und nennt dieser Pazifismus sich selber ‚radikal‘, so muss gesagt
werden, dass er radikal ausschließlich in seiner Verwirklichungs-Unfähigkeit, in seiner politischen
Impotenz, in seiner Ohnmacht gegen die menschliche Bestie ist. [...] Der revolutionäre Pazifismus
hat immer wieder ausgesprochen, dass Pazifismus eine Doktrin des Ziels, nicht des Weges ist; dass
der Weg zum Ziel durch Blut führen kann.“ (Kurt Hiller: Ist der Pazifismus tot?)
Angeführt sind diese Rückgriffe auf Weltbühnenautoren nun nicht, um sie als sakrosanktes Finalverständnis der „letzten Dinge“ zu ge- und somit zu missbrauchen. Als prüfender Abgleich zu einer
heutigen Auffassung wie der, lieber naiv zu sein als ein realpolitischer Kriegstreiber, eignen sie sich
vielleicht dennoch. Es sei denn, man folgt in atheistischer Auslegung denn doch dem Diktum des
salomonischen Spruches, zugunsten einer Ideologie auf den eigenen Verstand zu verzichten.
Geschehen ist dies in linken Lagern leider schon oft und mit letalen Folgen für viele Menschen. Erinnert sei hier nur an die Haltung der „Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands“
(KAP) – als linke Abspaltung der KPD –, die eine Beteiligung an der weltweiten Hilfsaktion
für das hungernde Russland der Jahre 1921/22 (rund zwei Millionen Tote) mit der Begründung
ablehnte, dass es sich dabei um ein „sozialdemokratisches und opportunistisches“ Unterfangen
handele, und der einzige Weg zur revolutionären Hilfe die proletarische Revolution in allen
kapitalistischen Ländern sei.
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Oh ja – man kann und muss einem Gros jener Staaten, die heute eilfertig mit Kriegseinsätzen
operieren, vorwerfen, dass sie wenigstens in der Vergangenheit einen nicht eben geringen Anteil
am Werden dieser Konflikte haben, in die sie nun eingreifen. Und auf diese Mitschuld muss
immer und immer wieder hingewiesen werden. Aber stoppt diese auch noch so zutreffende Anklage und der Hinweis darauf aktuelles Massenmorden?
„Es gibt kein fremdes Leid“ heißt ein Buch von Konstantin Simonow, das im ostelbischen
Deutschland einst eine große Leserschaft hatte. Die Interpretation dieser Erkenntnis war seinerzeit immer auch eine ideologische. Vielleicht ist es an der Zeit, eine solche Betrachtungsweise
zu überwinden. Aufgeben muss man das ethische und politische Prinzip der Ablehnung von
Krieg und Gewalt deshalb nicht.
Herrscht wieder Frieden in Mali?
von Claus-Dieter König, Dakar
Nun ist Mali aus den Schlagzeilen verschwunden. Ein neuer Alltag hat sich eingestellt. Ist es Frieden, den die französischen Truppen durch ihre Intervention gebracht haben und der nun durch sie
und die MINUSMA (Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen
in Mali) gesichert wird? Ist die Bevölkerung, die zu hunderttausenden geflüchtet war, nun sicher?
Militäroperationen werden oft unhistorisch betrachtet. Ein dringender Handlungszwang scheint vorhanden und wird medial inszeniert. Wie es soweit kam, und wie es danach weitergeht, diese Fragen
verschwinden hinter der wahrgenommenen akuten Alternativlosigkeit des militärischen Eingriffs.
Heute sehen wir im Norden Malis: es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit.
Der Blick auf die Region Kidal, die kleine Region im Nordosten des Landes in der als einziger
die Tuareg (Kel Tamashek) die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, offenbart, wie gering die Fähigkeiten von Militärs sind – wie auch immer zusammengesetzt – Frieden oder auch nur Sicherheit
zu gewähren. Frankreich intervenierte vor gut einem Jahr in Mali, um den Vormarsch jihadistischer
Truppen in den Süden des Landes aufzuhalten. Nach Kidal kamen die französischen Truppen nicht
allein. Mit ihnen kam die MNLA (Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad) zurück nach
Mali und vor allem in die Region Kidal. Die MNLA ist diejenige Miliz, die mit ihrer Offensive im
Januar 2012 die Machtübernahme separatistischer und jihadistischer Milizen im Norden des Landes
eingeleitet hatte. Während die verschiedenen Milizen den Norden kontrollierten, wurde die MNLA
zum großen Verlierer. Von den anderen vornehmlich jihadistischen Milizen besiegt und verdrängt,
befanden sich ihre letzten Elemente im Ausland. Erst durch die Unterstützung Frankreichs im Rahmen ihrer Intervention konnte sich die MNLA reorganisieren und ist heute ein unumgehbarer Faktor
bei den Verhandlungen um eine langfristige Lösung für den Norden.
Warum die Zusammenarbeit Frankreichs mit der MNLA? Unklar ist, wie eng diese schon
vor 2012 war. Es scheint aber sicher, dass Frankreich zumindest wohlwollend den Aufstieg der
MNLA als Gegenmacht gegen jihadistische Kräfte und vor allem AQMI (al-Qaida des Islamischen Maghreb) beobachtet und möglicherweise unterstützt hat. Im Vorfeld der französischen
Intervention wurde die Zusammenarbeit wegen der Ortskenntnis der MNLA gesucht.
In Kidal sind neben der französischen Interventionsarmee, der malischen Armee, der Miliz
der MNLA zudem Truppen der MINUSMA als bewaffnete Einheiten vor Ort. Ihre Aufgabe ist
es, „Übergriffe der Armee auf die Tuareg und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern“, was
sie vor allem durch die Begleitung der malischen Polizei, Gendarmerie und Armee bei ihren
Streifen und Patrouillen sowie der Dokumentation ihrer Handlungen mittels Fotos und Berichten erreichen will. Zusammen mit den französischen Truppen kontrolliert die MINUSMA die
malische Armee, die insbesondere in der Region Kidal kein Recht hat, sich ohne Beobachtung
durch die ausländischen Truppen zu bewegen. MINUSMA, wie jede militärische Einheit, die
sich irgendwo in der Welt stationiert, baut mit immensen Mitteln eine militärische Infrastruktur
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und die Versorgung ihrer Einheiten auf. Der Norden Malis leidet ohnehin schon stark unter Versorgungsengpässen durch Vertreibungen und die Kriegsfolgen wie die Verringerung der landwirtschaftlichen Produktion und der Niedergang des Fernhandels. Diese werden durch die hohe
und zahlungskräftige Nachfrage, die MINUSMA ins Land bringt, noch verschärft und führen zu
Knappheit und einer Steigerung der Lebenshaltungskosten.
Die MNLA führt in den Städten provozierende Überfälle durch, zieht sich dann aber wieder
in ihre Basen, in der Stadt Kidal sind das vor allem die ehemalige Gendarmerie und das Gymnasium, zurück. Doch hier übt sie keine Macht aus. Anders sieht das hingegen auf dem Land aus.
Weder die französischen Truppen noch die MINUSMA können sich ohne größeres Risiko weit
aus den Städten heraus bewegen. Sie beschränken sich in der Region auf die Städte Kidal, Tessalit und Aguel Hoc. Die MNLA und andere bewaffnete Gruppen können deswegen außerhalb
der Städte relativ frei walten und insbesondere die nomadische Bevölkerung lebt so unter der
ständigen Bedrohung von Angriffen und Raubüberfällen.
Wir sehen heute auch in Mali: die Intervention Frankreichs, insbesondere ihre Zusammenarbeit mit der MNLA im Rahmen der Intervention, sind eine schwere Hypothek für die Suche
nach einer Konfliktlösung auf dem Verhandlungsweg.
Die Strategie der Regierung für eine Stabilisierung des Nordens besteht neben den Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen aus drei Elementen. Erstens soll in ganz Mali die Verwaltung weiter dezentralisiert werden. Das heißt auch, dass den Kommunen mehr Mittel zur Verfügung gestellt
werden. Wenngleich sich dadurch die Möglichkeit einer größeren Partizipation der Bevölkerung an
den öffentlichen Angelegenheiten verwirklichen lässt, ist dieses Herangehen doch voller Risiken.
Die Auseinandersetzung um die zunehmenden Mittel in der kommunalen Verwaltung kann latente
Konflikte hervortreten lassen und erneut Anlass zu Gewalt bieten. Bislang wurde im Norden selten
frei und geheim gewählt. Häufig handelte man unter den verschiedenen Mächtigen, die nicht selten
bewaffnete Milizen hinter sich haben, das Wahlergebnis aus und verteilte die staatlichen Mittel. Dies
ist ein Grund dafür, dass öffentliche Güter und die Infrastruktur so schlecht ausgebaut sind, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen nicht ausreichen.
Wenn der Staat nicht durch die Versorgung mit öffentlichen Gütern präsent ist. Strom, Wasser, Bildung und Gesundheitsversorgung fehlen, und sogar die öffentliche Ordnung entweder
nicht hergestellt ist oder in den Händen lokaler Milizen liegt – das war die Situation vor der
Krise –, dann ist hat der Staat keine Legitimität in den Augen der Bevölkerung. Dann ist es
unbedeutend für den Alltag, ob man sich nun als Teil Malis oder als Teil des ‚Azawad‘ versteht.
Insofern hat die Krise im Norden Malis auch damit zu tun, dass der Staat seit der Kolonialzeit
kaum Faktor für die gesellschaftliche Entwicklung im Norden war.
Als zweites Element veranstaltete die Regierung Ende 2013 zwei große Konferenzen. Eine
zur Dezentralisierung und die andere als Nationale Versöhnungskonferenz. Sie versucht, Legitimität zu gewinnen und vor allem die Macht der bewaffneten Gruppen am Verhandlungstisch zu
verringern. Eine durchaus nachvollziehbare Strategie, denn die Milizen, mit denen die Regierung sich zwangsläufig am Verhandlungstisch befindet, sind kaum in der Bevölkerung verankert
und keineswegs deren legitime Vertreter. Ihre Eintrittskarte zu den Verhandlungen ist die Gewalt, die sie ausgeübt haben und die sie weiterhin bereit sind, auszuüben.
Das dritte Element der Regierungsstrategie ist altbekannt. Aus den Milizen wichtige Führungspersonen durch Klientelismus und attraktive Posten an sich zu binden. Einige von ihnen
wurden auf dem Ticket der Regierungspartei RpM (Bewegung für Mali) nun in die Nationalversammlung gewählt. Dies ist die gescheiterte Strategie des 2012 nach dem Putsch zurückgetretenen Präsidenten Amadou Toumani Touré. Sie kann nur vorübergehende Waffenruhen gewährleisten, trägt in sich aber den Kern neuer Verteilungskonflikte.
An Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen und vor allem der MNLA kommt die Regierung nicht vorbei. Sie sind im Juni 2013 in Ouagadougou vereinbart worden. Weil Frankreich die MNLA als bewaffnete separatistische Organisation wieder in eine Position der Macht
im Norden und insbesondere der Region Kidal befördert hat, ist die Verhandlungsmacht zivilgesellschaftlicher und friedlicher Vertreter der Tuareg gesunken. Die MNLA hat bereits bewiesen,
dass sie auf einen für sie nicht befriedigenden Verhandlungsverlauf bereit ist, mit Wiederauf12
nahme und Intensivierung der Gewalt zu reagieren. Im September 2013 verließ sie die Verhandlungen und übte in dieser Zeit mehrere Gewaltakte aus. Die durch Frankreich erzwungene
zentrale Rolle für die MNLA erweist sich so als schwere Hypothek. Sollte die MNLA eine Form
der Autonomie aushandeln können, werden Bevölkerungsgruppen, die nicht Tuareg sind, wie
die der Bellah und Peulh unter Diskriminierung zu leiden haben.
Sicherheit gewährleisten die militärischen Einheiten unterschiedlichster Herkunft nicht.
Die französische Intervention verhindert eine wirkliche Zukunftsperspektive. Die Regierung
in Bamako ist geschwächt, denn zu Verhandlungen unter Beteiligung des Auslösers der Krise,
der MNLA, gibt es keine Alternative, solange Frankreich die MNLA unterstützt. Die von der
MNLA geforderte Autonomie wird aber wahrscheinlich nur solche Lösungen ermöglichen, die
wie frühere Verträge und Vereinbarungen mit den diversen Milizen des Nordens neue Instabilitäten und Konflikte verursachen werden.
Weitere Beiträge zum Thema Militärinterventionen erschienen in den Ausgaben 3/2014, 4/2014
und 5/2014.
Sonntagsruhe
von Margit van Ham
Ein Sonntagnachmittag im März.
Langsam ermattet die Sonne
über einer friedlichen Landschaft.
Die Augen halten sich an Wolken fest.
Sie wehren Radiostimmen ab,
die ich von Krieg reden höre.
Anderswo. Zählen nach Anschlägen
die Toten. Immer mehr. Anderenorts.
Das friedliche Bild ist plötzlich so
kostbar.
März 2014
Achthundert Millionen Wähler
von Edgar Benkwitz
Alle fünf Jahre steht Indien vor einer riesigen organisatorischen Herausforderung, den Wahlen
zur Lok Sabha, dem indischen Unterhaus. Für die in wenigen Wochen stattfindende Wahl sind
814,5 Millionen Stimmberechtigte registriert, das dürfte die größte Wählerschaft in einem Land
dieser Erde sein. Verglichen damit nimmt sich die Europawahl mit 375 Millionen Berechtigten
aus 28 Staaten eher bescheiden aus. In einer Zeitspanne von 36 Tagen, vom 7.4. bis 12.5.2014
gibt es insgesamt neun Wahltage, die Endauszählung erfolgt dann am 16. Mai.
In Indien gilt das Mehrheitswahlrecht. Gewählt werden 543 Abgeordnete, dementsprechend
ist das Land in ebenso viele Wahlbezirke aufgeteilt. Hier treten die Kandidaten gegeneinander
an, wer die meisten Stimmen erhält, zieht ins Parlament ein. Mit diesem von Großbritannien
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übernommenen System ist Indien bisher recht gut gefahren. Denn anders als dort hat es nicht zu
einer Zweiparteienlandschaft geführt, im jetzigen Parlament sind 38 Parteien vertreten.
Für den reibungslosen Ablauf der Wahlen sorgen 11 Millionen Offizielle, dazu kommen 1,5
Millionen Sicherheitskräfte, vor allem für den Einsatz in als gefährdet eingestuften Distrikten.
Seit 2004 wird elektronisch gewählt, alle 930.000 Wahllokale sind mit Wahlcomputern ausgestattet. Damit wird bei Stimmabgabe und Auszählung viel Zeit gespart, enorme Mengen Papier sowie Wahlurnen werden nicht gebraucht. Allerdings kamen die „Wahlmaschinen“ wegen
angeblicher Sicherheitsprobleme ins Gerede, das Oberste Gericht musste sich damit befassen.
Jetzt ist ein neues System im Einsatz, mit dem bei vorliegender Notwendigkeit jede einzelne
Stimmabgabe konkret verfolgt werden kann.
Im Verlauf des Wahlkampfes spielte Geld eine große Rolle. Nach seriösen Untersuchungen fließen in diesem Jahr fünf Milliarden Dollar in die Wahlkampagne, dreimal so viel, wie bei den letzten
Wahlen. Nur die USA gaben bei den Präsidentschaftswahlen 2012 mehr aus. Trotz des vielen Geldes
wirkte der Wahlkampf aber bisher kraft- und farblos. Vielen dauert er zu lange, denn seit September
des vergangen Jahres wurde zunächst um Landtagsmandate gekämpft, ab Jahresende schloss sich
dann nahtlos die gesamtindische Wahlkampagne an. Auch der schon scheinbar feststehende Wahlausgang dämpft die Spannung. Denn es wird ein deutlicher Wahlsieg der hindunationalistischen Indischen Volkspartei(BJP) erwartet, großer Wahlverlierer wäre die regierende Kongresspartei. Schärfe
könnte der Wahlkampf durch die Bildung der sogenannten Dritten Front – ein Zusammengehen der
linken mit einigen regionalen Parteien – bekommen, doch hier gibt es Probleme. Die so wichtige
Einigung der kleineren Parteien auf gemeinsame Kandidaten in den Wahlbezirken läuft erst jetzt
mit Mühe an. Und was macht der politische Senkrechtstarter, die Aam Admi Partei unter Arvind
Kejriwal? Dieser konnte bekanntlich mit seiner neuen Partei im Dezember in Delhi die Regierung
bilden und den Ministerpräsidenten stellen. Er wurde umschwärmt – sogar Bundespräsident Gauck
war bei seinem Indienbesuch im Februar auf ein Treffen mit ihm erpicht – und steckte eine Menge
Vorschusslorbeeren ein. Doch Kejriwal schmiss sein Amt in Delhi nach genau 49 Tagen hin, bevor
er seine großspurigen Versprechungen auch nur in Angriff nahm. Er erwies sich als rechthaberisch,
streitsüchtig und nicht fähig zu Kompromissen. Anstelle eines konstruktiven Programms setzte er
auf Störmanöver und Populismus und hat damit einen Teil seiner Anhänger- und Wählerschaft verprellt. Bleiben die großen Regionalparteien in den bevölkerungsreichen Unionsstaaten, die sich ihrer
Stärke bewusst sind. Sie warten auf die Koalitionsgespräche nach den Wahlen, um eventuell an der
Regierungsbildung beteiligt zu sein.
Und mit Sicherheit wird es wieder zu einer Koalitionsregierung in Neu Delhi kommen. Darauf weisen alle Meinungsumfragen und Kommentatoren hin. So errechnete der bekannte Publizist und Unternehmer Minhaz Merchant in der Times of India, dass die BJP 230 Mandate erringen wird, das wäre zwar der Wahlsieg, bliebe aber unterhalb der absoluten Mehrheit von 272.
Mit bewährten Verbündeten käme sie aber auf 284 Mandate, was zur Regierungsbildung reichen
würde. Die bisher regierende Kongresspartei käme hingegen nur noch auf 75 Abgeordnete, mit
ihren Koalitionären auch nur auf 104. Die Dritte Front bekäme nach Merchants Rechnung 58
Mandate, alle anderen verbliebenen Parteien 72. Darunter auch Kejriwals Aam Admi Partei, für
die er 10 Parlamentssitze voraussagt.
Trifft das auch nur annähernd zu – und vieles spricht dafür – , dann steht Indien ab Ende
Mai vor einem Regierungswechsel. Die seit acht Jahren regierende Koalition unter Führung der
Kongresspartei würde durch eine von der BJP geführte Koalition abgelöst. Diese Entwicklung
wäre das Ergebnis vor allem von zwei Faktoren. Zum einen die Schwäche der Kongresspartei,
deren Regierungspolitik den Problemen des Landes und den Erwartungen der Menschen nicht
mehr gewachsen ist. Die Partei hat es auch nicht verstanden, sich zu reformieren. Vielmehr wird
an der dynastischen Führung mit der Nehru-Gandhi-Familie an der Spitze festgehalten. Doch
Rahul Gandhi als letztem verwendbarem Spross dieser Dynastie fehlt es an Führungsqualitäten,
auch bei seinen Wahlauftritten überzeugte er nicht. Den politischen Gegner aufs primitivste zu
diffamieren(so wurde Modi mehrfach mit Hitler verglichen), oder sich in arroganter Weise über
die Herkunft Modis aus ärmlichen Verhältnissen lustig zu machen, ist nicht nur schlechter Stil,
sondern auch Ausdruck der Frustration vor dem Wahlausgang.
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Die Kongresspartei steckt in einer tiefen Krise, wahrscheinlich wird in Zukunft der NehruGandhi-Clan fähigeren Politikern Platz machen müssen. Zum anderen ist mit der BJP eine gut
organisierte Kraft mit dem Willen zum Wahlsieg angetreten. Innerparteiliche Probleme wurden
im Vorfeld bereinigt und mit Narendra Modi schon frühzeitig der Kandidat für den Posten des
Premierministers bestimmt (die Kongresspartei hat bis heute eine offizielle Nominierung ihres
Kandidaten vermieden). Modi versteht es, bei seinem Auftreten die Massen zu begeistern, und
er bringt Erfahrungen aus seiner über zehn Jahre währenden Amtszeit als Ministerpräsident von
Gujarat mit. Doch die entscheidende Frage ist, ob der Regierungswechsel mit einer Richtungsänderung der indischen Politik verbunden sein wird. Immerhin ist die BJP mit ihren Zweigorganisationen hindunationalistisch, teilweise sogar hinduchauvinistisch ausgerichtet. Wird sich
das in der Regierungspolitik bemerkbar machen? Politischen Beobachtern zufolge kann es sich
Modi nicht leisten zu polarisieren. Er wird vielmehr versuchen, die Kräfte des Landes zu bündeln. Während des Wahlkampfes ließ er klugerweise das ideologische Gepäck seiner Partei unbeachtet und bemühte sich demonstrativ um Minderheiten und religiös Andersdenkende. Narendra Modi ist der Mann der indischen Großunternehmer, zugleich knüpft aber auch der gesamte
Mittelstand bis hin zum kleinen Händler große Hoffnungen an ihn. So wird erwartet, dass die
wirtschaftliche Entwicklung Vorrang vor allen anderen Fragen hat. Das bisher enge nationalistische Herangehen an viele Fragen müsste dann allerdings einem breiteren Verständnis weichen.
Das hat Indien übrigens schon einmal erlebt, von 1998 bis 2004, als eben diese BJP mit Atal Bihari Vajpayee die Wahlen gewann und den Premierminister stellte. Er war maßgeblich mit daran
beteiligt, dass sich Indien als Schwellenland etablierte und Mitglied der G20 wurde. Mit spektakulären Aktionen wie der atomaren Testserie 1998, dem militärischen Sieg im aufgezwungenen
Hochgebirgskrieg um Kargil, aber auch den Initiativen zu Entspannungsperioden mit Pakistan
geht er schon heute in die indischen Geschichtsbücher ein. Narendra Modi – wenn er denn das
mächtigste Amt im Lande bekleiden sollte – könnte in den Fußstapfen seines Vorgängers wandeln. Doch dazu muss er sich dessen allseits anerkannten nationalen Status erarbeiten.
Zwischen Gerechtigkeit
und Steuereffizienz
von Ulrich Busch
Seinen wirtschaftlichen Aufstieg und stetig gewachsenen Wohlstand verdankt der Freistaat
Bayern nicht einzig dem Fleiß seiner Bürger, deren Arbeitseifer, Umsicht und Sparsamkeit.
Auch nicht allein dem Patriotismus seiner Politiker, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die
Interessen des Freistaates immer und überall über die des Bundesstaates und der Europäischen
Union zu stellen. Dazu beigetragen hat auch die Solidarität der anderen Bundesländer, die Bayern jahrzehntelang über den Länderfinanzausgleich finanziell unterstützt haben. Und nicht zu
vergessen die Strukturpolitik, welche die Ansiedlung von Unternehmen und die Lenkung von
Investitionen in Zukunftsbranchen in Bayern besonders gefördert hat. In diesen Kontext gehört
eine Finanzkultur, die sich durch eine gewisse Laxheit bei der Erhebung der Steuern und eine
unübersehbare Indolenz gegenüber Steuersündern auszeichnet. Diese gilt einigen Regionalpolitikern als „Standortvorteil“, obwohl sie geltendes Recht verletzt und zur sozialen Polarisierung
beiträgt. Hinzu kommt die finanzielle und personelle Verquickung von Wirtschaft und Politik,
wie sie sich in diesem Ausmaß in keinem anderen Bundesland findet.
Dies ist der Boden, oder besser „Sumpf“, auf dem Unternehmer wie Uli Hoeneß nicht nur
zu großem Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen gelangt sind, sondern auch zu politisch
einflussreichen Persönlichkeiten wurden, zu Repräsentanten des Sports, öffentlichen Würdenträgern, Aufsichtsratsvorsitzenden, zu Prominenten eben.
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Trifft die Finanzkultur der „bewussten und gewollten Steuereintreibungsverhinderung“, wie
Christian Bommarius es nennt, auf Personen wie Hoeneß, die gut verdienen (mehr als zehn
Millionen Euro zu versteuerndes Einkommen im Jahr), genügend Kapital besitzen und denen es
nicht an Geldgier, Zockermentalität und krimineller Energie fehlt, dafür aber an staatsbürgerlichem Rechtsbewusstsein und Anstand, so kommt es zum systematischen Steuerbetrug. Hoeneß
ist da kein Einzelfall. Derzeit laufen in Deutschland 70.000 Steuerstrafverfahren, ein Großteil
davon auf der Grundlage von Selbstanzeigen. Innerhalb von vier Jahren erhöhten sich die Einnahmen des Fiskus dadurch um drei Milliarden Euro. Ob sich diese Größe in Zukunft noch weiter steigern lässt, hängt nicht zuletzt vom Ausgang des Prozesses gegen Hoeneß ab. Unabhängig
von der rechtlichen Bewertung seiner Selbstanzeige durch das Gericht dürfte aber klar sein,
dass der Umfang der hinterzogenen Steuern mit 27,2 Millionen Euro jeden bisher bekannten
Rahmen sprengt und ein Ausmaß erreicht hat, das mildernde Umstände wohl ausschließt. So
sahen es offensichtlich auch die Richter, indem sie Hoeneß am 13. März 2014 zu dreieinhalb
Jahren Freiheitsstrafe verurteilten.
Wichtiger als das Urteil und das Strafmaß in diesem konkreten Fall ist die Frage nach der
Steuermoral. Denn nicht nur Uli Hoeneß hat nicht verstanden, dass es sich bei der Steuerschuld
um eine staatsbürgerliche Pflicht handelt, um einen Beitrag des Einzelnen zum Gemeinwesen.
Der Steuerplicht kann man sich nicht entziehen ohne geltendes Recht zu verletzen und die Solidargemeinschaft zu prellen. Deshalb ist Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt, sondern
„Diebstahl“ an der Gesellschaft. Dies hat Hoeneß nicht begriffen, wenn er darauf verweist, doch
einige Steuern gezahlt zu haben und deshalb kein „Sozialschmarotzer“ zu sein. Das haben aber
auch jene Fußballfans nicht verstanden, die Solidarität mit Hoeneß üben und verlangten, dass
seine Spenden und Verdienste um den FC Bayern München gegen seine Steuervergehen aufgerechnet werden. Dies hieße, jemanden von einer Schuld frei zu sprechen, weil er einen kleinen
Teil der Beute freiwillig wieder herausgerückt hat.
Hoeneß ist nicht nur ein Sozialschmarotzer schlechthin, er ist es par excellence. Und mit ihm
sind dies alle Steuerbetrüger, egal ob sie zu dem Kreis der Prominenten zählen oder nicht. Das
einzige, was den Fall Hoeneß von anderen Fällen unterscheidet, ist die Höhe der hinterzogenen
Steuern. Waren dies in vergleichbaren Fällen jeweils einige 100.000 Euro, so übertrifft der von
Hoeneß hinterzogene Betrag mit 27,2 Millionen Euro diese um mehr als das Hundertfache. Dies
tangiert das Strafmaß, nicht aber den Tatbestand, ein kriminelles Delikt gegenüber dem Staat
begangen zu haben. Dass das Steuerstrafrecht hier etwas anders gestrickt ist als sonst üblich,
hat etwas damit zu tun, dass der Feststellung der Steuerschuld eine „Erklärung“ des Steuerpflichtigen vorhergeht. Ist diese unvollständig oder fehlerhaft, so bleibt ihm die Möglichkeit
der Korrektur über eine strafbefreiende Selbstanzeige. Dabei bleibt er bis zu einem Hinterziehungsbetrag von 50.000 Euro straffrei. Bei höheren Beträgen besteht die Möglichkeit eines
Vergleichs. Diese Regelung beschert dem Staat im Falle einer allgemeinen Verunsicherung
der Steuerbetrüger, wie zuletzt infolge des Ankaufs von Steuer-CDs zu beobachten, erhebliche
Mehreinnahmen. Er muss dabei jedoch zwischen der Durchsetzung von Steuergerechtigkeit und
der Erzielung maximaler Steuereinnahmen abwägen. Wird der Druck auf die Steuersünder erhöht, so steigen die Selbstanzeigen und damit die Einnahmen. Fällt die Strafe aber zu hoch aus,
so riskiert ein Teil der Steuersünder, unentdeckt zu bleiben und weiterhin Steuern zu hinterziehen. Das aber wäre schlecht für den Staat. Es gilt also, zwischen beiden Extremen, der höchstmöglichen Steuergerechtigkeit und der maximalen Höhe der Steuereinnahmen, eine optimale
Strategie zu finden. Dies scheint mit dem Urteil im Fall Hoeneß gelungen zu sein: Es ist streng
genug, um auf potenzielle Steuersünder abschreckend zu wirken, aber nicht zu hart, so dass es
sie zum moral hazard verleiten würde. Eine Selbstanzeige bleibt daher auch nach diesem Urteil
sowohl für die Steuersünder als auch für den Fiskus eine vernünftige Option auf dem Weg zur
Steuerehrlichkeit.
Siehe hierzu auch den Beitrag zum Fall Hoeneß in: Das Blättchen Nr. 25/2013.
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Finanzdebil – oder: Kann
Dummheit doch vor Strafe schützen?
von Sarcasticus
Sch…-Sarrazin! Da kann die Contenance schon mal auf der Strecke bleiben, wenn für einen
potenziellen Schaden in Höhe von 204 Millionen Euro wahrscheinlich nicht die Verursacher
– unter ihnen an vorderster Stelle der frühere Berliner Finanzsenator und Aufsichtsratschef der
Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Thilo Sarrazin – zur Kasse gebeten werden, sondern – wie
das im Land der sozialisierten Verluste so Usus ist – Otto Normalverdiener. Und der dann gleich
zweifach: als Steuerzahler, der den ÖPNV alimentiert, und als Berapper regelmäßig erhöhter
Fahrpreise bei der Nutzung desselben. Das könnte jedenfalls die Konsequenz aus dem Fall J. P.
Morgan versus BVG sein, der am Londoner High Court anhängig ist.
Die Vorgeschichte liest sich so unglaublich, wie sie wahr ist. In den Goldgräberjahren vor der
jüngsten globalen Finanzkrise wollten die Oberen der BVG, dass das Unternehmen auch vom
großen Roulette an den internationalen Finanzmärkten profitiere. Deshalb hatten sie zwischen
1997 und 2002 427 neue U-Bahnwagen und 511 Straßenbahnen mittels sogenanntem Cross
Border Leasing finanziert: Die neuen Fahrzeuge wurden an US-Investoren verkauft und zurück
gemietet. Ein Geschäft nicht ohne Risiken – aber nichts im Vergleich zu der bösen Falle, in die
das Unternehmen taumelte, als man eben diese Risiken durch ein weiteres Geschäft reduzieren
wollte. Man ließ sich dabei nämlich von der Investmentbank J.P. Morgan ein oberfaules Ei, eine
synthetische CDO (Colleteralized Debt Obligation) ins Nest legen.
Zur Erinnerung: Warren Buffet bezeichnete sogenannte Derivate, zu denen die CDOs zählen,
als finanzielle Massenvernichtungswaffen. Vor allem amerikanische Investmentbanken hatten
seinerzeit globale Kreditrisiken zu Paketen verschnürt, den CDOs, und diese Anlegern angeboten. Damit die die Ausfallrisiken übernehmen. Das konnte man denen natürleich nicht so direkt
sagen, deshalb wurde die Struktur der CDOs gezielt undurchschaubar gehalten, mit jeder Menge
Kleingedrucktem ummantelt, auf dass die verklausulierten kritischen Punkte, soweit überhaupt
vorhanden, darin untergingen, und überdies wurde der letzte Rest von möglichem Anlegerverstand damit sediert, dass man diese CDOs nicht im klassischen Sinne kaufen musste, sondern
für deren „Entgegennahme“ vielmehr eine üppig scheinende Gebühr erhielten. (Die BVG strich
7,8 Millionen Dollar ein.)
Im Kern allerdings waren die CDOs eine Wette darauf, dass die darin verschnürten Unternehmen nicht pleitegingen. Den Anlegern gegenüber, wenn die solche Details überhaupt wissen
wollten, wurde das Konkursrisiko als ein quasi bloß theoretisches heruntergespielt. Schließlich
handelte es sich um gestandene Unternehmen mit so wohlklingenden Namen wie etwa Lehman
Brothers. Die isländische Kaupthing-Bank war ebenfalls dabei …
2006 offerierte J.P. Morgan der BVG ein entsprechendes Geschäft. „Ich bin sicher, die
können keine CDO durchrechnen“, signalisierte damals einer der Verkäufer in seiner Hierarchie nach oben. Wie Recht er hatte, offenbart das Transkript der BVG-Aufsichtsratssitzung vom 25. April 2007, auf der das Geschäft im Turbomodus durchgewinkt wurde. Als
neunter Tagesordnungspunkt.
„Ja … oh … Was haben wir denn hier? Ja. Oh, das war diese Rätselvorlage“, eröffnete
Sarrazin, um anschließend freimütig zu bekennen: „Ich wäre ein Angeber, wenn ich behaupten würde, ich hätte sie vollständig verstanden.“ Was lag da näher, als sich an den damaligen
Vorstandsvorsitzenden der BVG, Andreas Sturmowski, zu wenden, der den Deal vorgeschlagen hatte: „Ich bitte Sie einfach um die Bestätigung […], dass mit dem Geschäft nach Ihren
Erkenntnissen und nach der Versicherung Ihrer Bank keinerlei Risiken verbunden sind, denn
darum geht es ja, ne?“
Soweit, so ungeheuerlich, aber zumindest sprachlich noch verständlich. Dann Sturmowski,
kryptisch: „Es geht hier darum, dass eine Umschuldung vorgenommen wird, ähm, in diesem
Kreis, dass es darum geht, dass, äh, die US-Bilanzierung, ähm, wie das in Deutschland übrigens
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auch nicht anders ist, gebundene Mittel, äh, berücksichtigt, von der Credit Suisse runterkommen
möchte, ähm, und aus diesem Grund diese Umschichtung erfolgt.“ Alles klar?
Über die Verhandlungen mit J.P. Morgan verlor Sturmowski auch noch ein Wörtchen: „Die
Menschen, die uns gegenübersaßen, hatten schwarze Anzüge an und dunkle Brillen, äh, was
aber durchaus auf Seriosität schließen ließ.“ Da hätte es seiner Versicherung, dass „das Ganze
auf hohem Sicherheitsniveau stattfinden“ werde, an sich gar nicht mehr bedurft. Sturmowski bat
„um die Genehmigung dieser Transaktion“. Sarrazin rief zur Abstimmung auf. Keine Gegenstimmen. „So, also, okay, dann haben wir das so beschlossen“, konstatierte der Aufsichtsratschef. Die Dauer dieses Tagesordnungspunktes: vier Minuten.
Wer auf eine solche Weise ein derartiges Geschäft abschließt, der ist entweder in den Bereichen seiner grauen Substanz, wo die professionelle Kompetenz zu Hause sein soll, hirntot oder
er wurde durch „Landschaftspflege“ zuvor konditioniert, sich genauso zu verhalten, wie es in
diesem Falle der Fall war. Da Sarrazin lesen, schreiben und zusammenhängend formulieren
kann und überdies damals von sich behauptete „Bei mir stimmen alle Zahlen“, kommt für ihn
die strafmildernde Gefälligkeitsdiagnose „hirntot“ eher nicht infrage. Aber korrupt? Er mag
ja ein formidabler Kotzbrocken sein und, wie man aus seinen sich häufenden Buchveröffentlichungen inzwischen weiß, intellektuell keineswegs auf der Höhe wandeln, auf der er sich
selbst wähnt, doch bestechlich? Vielleicht gibt es ja noch ein drittes mögliches Erklärungsmuster für die der Olsenbande zur Ehre gereichende Dramaturgie der BVG-Aufsichtsratssitzung
vom 25. April 2007 …
Doch zurück zu jenen schicksalsträchtigen vier Minuten. Es wurden die kostspieligsten in
den Annalen der BVG. Mit dem Kollaps des amerikanischen Hypothekenmarktes und dem damit in Gang gesetzten globalen Crash wurden anderthalb Jahre später aus einem quasi bloß
theoretischen Risiko ganz handfeste Verluste – in Höhe von 204 Millionen Dollar. Die Wette
war verloren. Zahltag für die BVG.
Die weigerte sich, und seither klagt J.P. Morgan. Selbst die Anwälte der Bank bezweifeln zwar,
wie dem bei Gericht eingereichten Schriftsatz zu entnehmen ist, dass Sarrazin den Deal begriffen
hatte, und der oben zitierten Einlassung Sturmowskis verpassten sie das adelnde Prädikat „konfus“.
Aber das hätte die BVG nicht von dem Geschäft abgehalten. Daher sei zu zahlen.
Die Verteidigungsstrategie der BVG entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, lässt sie sich
doch auf die Kurzformel bringen: dämlich, also nichtig. Die Anwälte des Unternehmens machen geltend: Der zuständige Mitarbeiter der BVG – seiner E-Mail-Signatur zufolge „Experte
für Finanzprodukte“ – habe einem Kollegen gegenüber gestanden, die BVG „verstehe nicht,
was genau wir unterschreiben“. Er habe angenommen, dass die BVG nur dann zahlen müsse,
wenn alle 150 in der CDO verpackten Unternehmen – wie Lehman Brothers von Ratingagenturen übrigens mit Triple-A, der höchsten Note, bewertet – in Konkurs gingen. (Im richtigen
Leben genügten einige wenige Pleiten.) Daher sei die BVG-Unterschrift unter den Deal als
ultra vires zu bewerten – das heißt im juristischen Fachjargon „vollmachtüberschreitend“ –,
und der Vertrag sei somit nichtig.
Man darf gespannt sein, ob ein Gericht am Finanzplatz London dieser Logik folgt. Thilo
Sarrazin hat aus der Sache aber offenbar schon etwas gelernt. Verallgemeinernd verkündet er
heute jedenfalls zwischen Buchdeckeln, dass „viele Vermögen untergehen, weil wirtschaftliche
Aktivitäten scheitern“.
So gesehen hat die BVG ja nochmal Schwein gehabt. Und eine gute Nachricht für die
ÖPNV-Nutzer gibt es auch: Dem Vernehmen nach sollen die Fahrpreise in Berlin erst 2015
wieder steigen.
P.S.: Thilo Sarrazin hat inzwischen vor dem High Court in London ausgesagt, unter anderem
dieses: „Es war meine Aufgabe als Senator, mich um das Wohlergehen dieser Betriebe zu
kümmern. Insofern, immer wenn das Management eines dieser Betriebe auf mich zukam und
mir einen Vorschlag unterbreitete, wie es die Finanzsituation verbessern konnte, hatte es mich
auf seiner Seite.“
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Qualitätsjournalismus im
Zeitalter des Internets – ein Plädoyer
von Birgit Svensson
Das Internet wird die Welt verändern, sagten Analytiker voraus, als das elektronische Medium
Mitte der neunziger Jahre für die breite Öffentlichkeit an den Start ging. Es begann eine Revolution, der Eintritt in ein neues Zeitalter. Die Vorhersage hat sich längst bewahrheitet. Die Vernetzung ist nahezu grenzenlos und geht bis in die hintersten Winkel unserer Erde. Selbst in der
Wüste Ägyptens, wo Mönche ein mittelalterlich gottergebenes Dasein frönen, klingelt ab und
an ein Blackberry in der Tasche der Mönchskutte und übermittelt eine Nachricht von Schweizer
Brüdern, die den ersten Schnee des Jahres verkünden.
Kommunizieren über Kontinente hinweg ohne Fax und Telefon ist zum Alltag geworden. Dramatisch hat das Internet die bisherige Medienlandschaft auf den Kopf gestellt. Vom Zeitungssterben ist allenthalben die Rede. Zeitungen sind nicht mehr dazu da, Nachrichten zu verbreiten,
sondern Geschichten zu erzählen, Analysen und Hintergründe aufzuzeigen. Der klassische angelsächsische Journalismus, der die bloßen Fakten in den Vordergrund stellt, ist tot. Nachrichten
erhält man heutzutage via App aufs Handy, im Internet oder durch Autoradio und Fernsehen. Um
zu wissen, was in der Welt geschieht, braucht man keine Zeitung mehr. Selbst Mitarbeiter von
Nachrichtenagenturen erhalten morgens bei Dienstantritt alle nur erdenklichen zusammengestellten News aus dem Netz. Akribisch nach Ländern geordnet werden sämtliche sozialen Medien
wie Facebook, Twitter, Blogs und YouTube ausgewertet und das Allerneueste der letzten Stunden zusammengetragen. Die Übermittler von Nachrichten sind keine Journalisten, sondern Herr
und Frau Jedermann. Was Fritz in Castrop-Rauxel bei einem Autounfall kurz vor Mitternacht
beobachtet hat, findet ebenso Eingang in die Nachrichtenübersicht wie die Verabredung der Revolutionäre Mohammed und Ahmed zur Großdemo in Kairo oder die Geburt von zwei weißen
Zwillingskamelen in Neuseeland, die Judy ins Netz gestellt hat. Schon gibt es eine erste deutsche
Tageszeitung, die ohne Journalisten produziert wird. Synergieeffekte, Zentralisierung, Konzentration auf die Kernbereiche nennt sich dieses betriebswirtschaftliche Projekt ohne Inhalte. Geldsparen ist wichtiger als kritischer und unabhängiger Journalismus.
Die Zeitungen schaffen sich selbst ab. Dabei sind gerade im Zeitalter der grenzenlosen Beliebigkeit und Fülle von Informationen Journalisten notwendiger denn je. Nichts kann die Recherche vor Ort ersetzen und die Einordnung, die diese mit sich bringt. Es ist die Erfahrung
und Professionalität von Journalisten, die verschiedene Quellen zusammenführen und daraus
Schlüsse ziehen. Es ist die Fülle von Kontakten, die ein Gesamtbild erlaubt. Auch wenn der
Reporter vor Ort in dem Moment nur ein Spotlight dessen sieht, was wirklich geschieht, so hat
er doch die Hintergründe im Blick. Der Mikrokosmos eines Dorfes oder eines Stadtviertels lässt
Rückschlüsse auf das große Ganze zu. Keine Internetrecherche kann dies leisten. Die Stille vor
der Explosion einer Bombe in Bagdad, das Anwachsen der Spannung bei den Demonstrationen
in Kairo, die Angst in den Gesichtern der Bewohner von Damaskus kann nur der nachvollziehen, der sich mittendrin befindet, der mitleidet, mitfühlt und trotzdem eine gewisse Distanz zu
dem Geschehen bewahrt. Das ist der Spagat, den professionelle Journalisten vor Ort täglich
leisten: den Austritt aus der Beliebigkeit.
In Syrien wird dies derzeit besonders deutlich. Aufgrund der Sicherheitslage in dem Bürgerkriegsland sind direkte Recherchen oft zu gefährlich oder schlicht unmöglich. Kommt der Reporter auf Seiten der Rebellen ins Land, ist ihm der Weg zu den Regierungstruppen versperrt und
umgekehrt. Nur wenige Medien wollen es sich leisten, beide Seiten abzudecken. Ein Zerrbild der
Wirklichkeit ist die Folge. Zwar wird die Öffentlichkeit auch hier überschwemmt mit HandyVideos, Posts und Tweets, aber verifizieren lassen sich diese Botschaften der so genannten „Bürgerjournalisten“ kaum. Wer ihnen Authentizität bescheinigt, begibt sich auf unseriöses Terrain.
Bilder aus Homs, die die Brutalität der Regierungstruppen gegenüber Zivilisten beweisen sollen,
stellen sich im Nachhinein zuweilen als im Irak gedreht heraus. Straßenszenen in Damaskus wer19
den nachgestellt, im Film gezeigte Tote verüben Tage später quicklebendig blutige Anschläge. Im
Krieg stirbt die Wahrheit zuerst und das Internet hilft dabei kräftig mit.
Wer die Technik beherrscht, kann alles manipulieren: Fotos retuschieren, Montagen herstellen, Filmsequenzen fälschen. Doch die Fehler im Netz zu korrigieren, ist äußerst schwierig. Das
Internet hat keine Randspalte wie die Zeitung, auf der unten rechts die „Anmerkungen der Redaktion“ Korrektur verheißen. So hatte kürzlich Michail Gorbatschow erhebliche Mühe, seinen
im Netz verbreiteten Tod zu dementieren. In Windeseile hatten unzählige Medien die Falschmeldung aufgegriffen und verbreiteten die Kunde vom Ableben des ehemaligen russischen
Präsidenten in alle Welt. Der kritiklosen Gläubigkeit der IT- Nachrichten sitzen jedoch nicht
nur Yellow Press und Krawallblätter auf, weil sie keine Leute vor Ort haben, die die Angaben
auf ihre Richtigkeit überprüfen. Auch seriöse Medien mit bis dato hohem journalistischem Anspruch meinen, immer mehr auf Rechercheure vor Ort verzichten zu können und übernehmen,
was ihnen das Internet vorkaut. Um einen Hauch von Seriosität zu bewahren, wird erwähnt,
dass „die Richtigkeit der Angaben nicht zuverlässig überprüft“ werden könne. Tatsächlich ist
dies aber eine Bankrotterklärung an den Qualitätsjournalismus und eine willkommene Ausrede
sich aus der Verantwortung zu stehlen. Natürlich ist es bequemer, am Schreibtisch zu sitzen und
die Welt per Internet in die Redaktionsstube zu holen, als sich draußen abzuducken, wenn Steine
fliegen oder eine Bombe explodiert. Kostengünstiger ist es allemal. Wer jahrelang vor Ort recherchiert und um eine authentische Berichterstattung bemüht war, fühlt sich derzeit mehr als
Fossil als auf der Höhe der Zeit. Doch die Hoffnung bleibt, dass sich auf kurz oder lang Qualität
durchsetzen wird – auch und vor allem im Internet.
Die Autorin lebt und arbeitet seit vielen Jahren als freie Journalistin im Nahen und Mittleren Osten.
Briefe in Zeiten des Krieges
von Mathias Iven
Dass vor einhundert Jahren der Erste Weltkrieg ausbrach, ist sicherlich nicht nur ein Untersuchungsgegenstand für Historiker. Und so schauen beispielsweise Literaturwissenschaftler darauf,
wie sich Schriftsteller und Publizisten zur europäischen Urkatastrophe positioniert haben.
Nehmen wir Hermann Hesse: In dem soeben bei Suhrkamp erschienenen, von Volker Michels
in wie immer hervorragender Weise kommentierten Band mit gesammelten Briefen aus den Jahren
1905 bis 1915 finden sich immerhin 70 Schreiben aus der Kriegszeit. – Obwohl er bereits zwei
Jahre in der Schweiz lebte, war Hesse zu Beginn des Krieges immer noch deutscher Staatsbürger.
So wird verständlich, warum er sich Ende August 1914 bei der deutschen Gesandtschaft in Bern
als Kriegsfreiwilliger meldete. Es war allerdings weniger die allgemeine Kriegseuphorie, die Hesse
dazu veranlasste, sondern die Hoffnung, dass sich die von Willkür und sozialen Spannungen geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse durch den Krieg ändern könnten. „Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden, tat vielen gut“, bekannte er Ende 1914 gegenüber dem
Schweizer Dirigenten und Komponisten Volkmar Andreae. „Das gefällt mir eigentlich an diesem
phantastischen Krieg, daß er gar keinen ,Sinn‘ zu haben scheint, daß es nicht um irgendeine Wurst
geht, sondern er die Erschütterung ist, von der ein Wechsel der Atmosphäre begleitet wird. Da unsre
Atmosphäre einigermaßen faul war, kann der Wechsel immerhin Gutes bringen.“ Auch in seinem
im März 1915 in der Wiener „Zeit“ erschienenen „Offenen Brief an einen Verwundeten“ sprach er
von der Hoffnung auf einen Wandel: „Es tauchen vermutlich nach diesem Kriege Gelegenheiten und
Stimmungen zu Neuordnungen im staatlichen Leben auf, die nicht wiederkommen werden, zumindest für uns nicht. Die wollen wir nutzen.“
Das sind noch nicht die Worte des späteren Kriegsgegners Hesse, der – wie viele andere
seiner Kollegen – schon bald in seinem Schreiben beschränkt werden sollte. Konkret hieß das,
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dass der gefragte Rezensent in der Tagespresse nichts mehr besprechen sollte und alles in seinen „Bücheranzeigen gestrichen werde, was von Russen, Franzosen, Belgiern, Engländern, Japanern stammt“. Für Hesse ein harter Schlag – auch seine finanzielle Situation betreffend. Doch
er blieb sich treu: „Zum Glück hängt das, was ich an Glauben und Philosophie in mir habe, so
wenig an Zeitlichem, daß nichts davon erschüttert werden konnte. Insofern bin ich heil geblieben. Sonst aber ist unsereiner, der dem Betrieb der Welt fernsteht, jetzt isolierter als je.“ Zwölf
Monate später, am 1. Weihnachtsfeiertag 1915 dann die Feststellung: „Wer für geistige Werte
arbeitet, wird immer sowohl die Hurrahpatrioten wie die Portemonnaie-Patrioten gegen sich
haben und sehr oft sind beide in einer Person vereinigt. Lassen wir sie laufen!“
Im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die den Krieg überschwänglich begrüßten,
verließ Hesse, der als untauglich zurückgestellt ab 1915 gemeinsam mit Richard Woltereck die
Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene leitete, die anfängliche Begeisterung sehr schnell.
Er geriet mit der Umwelt und sich selbst in Konflikt. Es begann für ihn ein Leben in einer
„scheußlichen Umgebung“. Überall war er den Widrigkeiten der deutschen, neutralen oder
feindlichen Diplomatie ausgesetzt. Die Luft um ihn „her war ein einziges Netz von Spionage
und Gegenspionage, von Spitzelei, Intrigen, politischen und persönlichen Geschäftigkeiten“.
Mehrmals bekam er Probleme wegen seiner friedensliebenden Äußerungen.
*
Machen wir einen Zeitsprung. – Nach dem Ersten Weltkrieg zog Hesse einen Schlussstrich unter
sein bisheriges Leben. Die Abkehr von der Vergangenheit, von den alltäglichen und familiären
Sorgen und Unwägbarkeiten fiel ihm nicht schwer. Im Frühjahr 1919 fuhr er nach Lugano, von
dort ging er nach Sorengo und fand in Montagnola schließlich das, was er suchte. Hesse war 42
Jahre alt, noch einmal so lange sollte er in diesem Ort leben …
Zu seinem neuen Bekannten- und Freundeskreis zählte bald schon das Ehepaar Bodmer.
Auch sie waren erst 1919 ins Tessin gekommen. Vor allem bei der in Basel geborenen Malerin
Anny Bodmer holte sich „der Alte vom Berg“ immer wieder Rat und Unterstützung bei der
Bewältigung der „Sorgen und Geschäfte des Augenblicks“. Taten sich doch gerade im Zusammenhang mit seiner Scheidung und der Versorgung der drei Söhne wiederholt unüberwindbar
scheinende bürokratische Hürden für ihn auf. Hermann Bodmer hingegen, der in Locarno eine
Chefarztstelle bekleidete, wurde von Hesse in gesundheitlichen Dingen um Rat gefragt: „Caro
Dottore! Ohne Eile erbittet der ergebenst Unterfertigte Ihren geschätzten ärztlichen Rat samt
Zaubermittel, so es sein kann.“
Nur ein gutes Jahrzehnt währte der vor allem mit Anny Bodmer gepflegte intellektuelle Gedankenaustausch. Ihr 48. Geburtstag lag gerade erst hinter ihr, als sie kurz vor Weihnachten
1930 starb. Auch wenn sich in den zurückliegenden Jahren ihre physische und psychische Konstitution zunehmend verschlechtert hatte, so kam ihr Tod doch völlig unerwartet. Bereits ein
Vierteljahr darauf veranstaltete die Kunstgesellschaft Locarno eine ihr gewidmete Gedächtnisausstellung. In seiner aus diesem Anlass geschriebenen Betrachtung fasste Hesse die Freundschaft zu ihr in die Worte: „Wir werden diese schönen Bilder weiter lieben, wo immer sie uns
begegnen und werden uns bei ihnen der kleinen Malerin Anny Bodmer erinnern. Als eines Menschen von seltener Anmut und Wärme, eines vornehmen Menschen, der einen großen Teil der
Problematik unserer Zeit in sich erleben mußte und doch darüber nicht den Glauben und die
innere Einheit verloren hat.“ –
Jürgen Below hat die umfangreiche, fast vollständig überlieferte und bis dato unveröffentlichte Korrespondenz zwischen den Bodmers und Hesse in Buchform gebracht. Veröffentlicht
wurde das Ganze im Hamburger Igel Verlag, der – nach einem Band mit dem Briefwechsel
zwischen Hermann Hesse und Wilhelm Kunze – damit eine weitere, für die Hesse-Forschung
wichtige Quellensammlung vorlegt. Mit Einführungstexten und umfangreichen Kommentaren
versehen, liest sich der Band von Below fast schon wie eine Hesse-Biographie der Jahre zwischen 1919 und 1930. Er erlaubt zugleich aber auch einen Blick zurück auf das Leben einer in
Vergessenheit geratenen Malerin.
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Hermann Hesse:„Aus dem Traurigen etwas Schönes machen“. Die Briefe, Band 2 (1905-1915),
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 636 Seiten, 39,95 Euro.
Hermann Hesse: „Sonne und Mond seien freundlich zu Ihnen, liebe Freundin!“. Der Briefwechsel mit Anny und Hermann Bodmer, Igel Verlag, Hamburg 2013, 299 Seiten, 24,90 Euro.
Ein trotziger Genosse:
der Theatermacher Fritz Marquardt
von Reinhard Wengierek
Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow“ – nur wenige wissen, dass dieser
durchaus seltsame und etwas sperrige Titel einem Defa-Film gehört, den Siegfried Kühn Anfang der 1970er Jahre in entlegenster märkischer Landeinsamkeit drehte. In einer unvergesslichen Szene lallt da am Küchentisch hockend ein sturzbetrunkener Dorfdepp seinem Suffkumpel
Friedrich Wilhelm Georg die schwermütig aberwitzige Frage entgegen: „Du bist so gut zu mir,
bist du in der Partei?“
Diesen guten Kauz am schnapsseligen DDR-Weltenende, dieses dürre, zähe, ältliche Männlein namens Platow, dem die Tragödie widerfuhr, seinen Daseinssinn als Schrankenwärter zu
verlieren, weil man die zu hütende Nebenstrecke still legte, und der am toten Gleis dann doch
noch seinen Totpunkt überwindet auf grotesk anarchische Art, diesen verrückten Kerl spielte
einst Fritz Marquardt.
Die Figur des einzelgängerischen, schwermütigen und doch vertrackt gewitzten, lebensklugen Plebejers P. entsprach ziemlich genau dem Wesen Fritz Marquardts, der vor 85 Jahren in
einem Kaff im Warthebruch geboren wurde – und jetzt, am 4. März, in einem Kaff bei Pasewalk
gestorben ist.
Diesen zarten und doch zähen Menschen mit seinen großen, dunkel glühenden Augen zwischen buschigen Brauen und zottigem Schnauzer, der nie groß in den Schlagzeilen stand und
doch unentwegt im „systemkritischen“ DDR-Kultur- und Theaterbetrieb groß mitmischte, diesen Künstler können wir uns gar nicht anders vorstellen als mit seiner ewigen Baskenmütze auf
dem Kahlschädel sowie der ewigen Fluppe im knochigen Gesicht.
Fritz Marquardts Weg ins Musische wie Politische ist DDR typisch: Aus kleinsten Verhältnissen kommend, nach traumatischen Erlebnissen im Krieg und als Verschleppter im sibirischen Straflager, sah er dennoch im Sowjet-SED-System zunächst die Grundlage zur Weltverbesserung, um alsbald zu begreifen, dass es der Menschenbefreiung entgegenstand. Wer jedoch
unbedingt und voll Trotzalledem-Hoffnung verbleiben und kritisierend mitreden wollte in diesem System („Ich habe immer eine Tendenz zum Bockigsein.“), dem stand das biografische
Zickzack als „schwieriger Genosse“ bevor. Eben das notorische Rauf und Runter zwischen
sturer Aufsässigkeit und gewieftem Opportunismus: „Die DDR war mir Arbeitsbedingung; im
Guten wie im Bösen.“
Nach schwerer Landarbeit darf M. – Proletarier auf die Schulbank! – schließlich doch sein
Abitur machen und an der Arbeiter- und Bauerfakultät Philosophie studieren; gleich am prominentesten Ort in Ost-Berlin bei Wolfgang Heise (Diplomarbeit über „Das Komische bei Hegel“). Dann das berüchtigte Raus und Rein: Erst Zeitungsredakteur und Kreissekretär für Jugendweihe, dann fort in die Produktion als Bauhilfsarbeiter, dann zurück als Redakteur wieder
ganz oben in Berlin beim Fachblatt „Theater der Zeit“. Dann, nach dem Skandal ums spektakuläre Heiner-Müller-Verbot (die Inszenierung „Die Umsiedlerin“ am Studententheater der Ökonomie-Hochschule Berlin-Karlshorst), wieder zurück in tiefste Provinz ans Parchimer Theater.
Und dort, nach einem enorm expressiven, enorm antinaturalistischen „Woyzeck“, wiederum
22
Rausschmiss; später, etwas überraschend, die Einstellung als Lehrkraft an der Babelsberger
Filmhochschule sowie als Regisseur in Potsdam. 1969 wieder Berlin: die Volksbühne! Matthias Langhoff erzwingt beim Neu-Intendanten Benno Besson das Engagement erst als Archivar,
dann als Regisseur. So avanciert M. zur prägenden Kraft einer der wichtigsten Phasen des DDRTheaters, das in den 1970er Jahren in der Volksbühne auf ungewohnt sinnliche, unerhört kritische Weise Grundprobleme des realen Sozialismus eine Zeitlang durchspielt: Fritz Marquardt
wird zum wichtigsten Mann Heiner Müllers mit den berühmten Müller-Uraufführungen „Die
Umsiedlerin/Die Bauern“ und „Der Bau“ – die monströse Metapher für DDR. Da höhnt eines
Arbeiters „Gratulation zum Schutzwall“ mit dem Satz: „Hätt ich gewusst, dass ich mein eignes
Gefängnis bau hier, jede Wand hätt ich mit Dynamit geladen“.
Damit war natürlich Schluss mit Volksbühne. Zur Entschädigung und Ruhigstellung durfte
M. nach 1980 im Westen inszenieren (höchst erfolgreich) und etwas später sogar – bemerkenswerterweise unter Hardliner-Intendant Manfred Wekwerth – im Berliner Ensemble. Sein BEKnaller damals, Mitte der 1980er Jahre: Die DDR-Erstaufführung von Müllers philosophischem
Historical „Germania Tod in Berlin“.
1993, nach der welthistorischen Zäsur, trat der vom Dauerzorn auf die Verhältnisse und von
beinahe selbstzerstörerischer Suche nach Wahrhaftigkeit Gequälte und Getriebene noch einmal
mit aufreißerischem Aplomb an am Berliner Ensemble: Als Mitglied des Vierer-Direktoriums
mit Peter Zadek, Peter Palitzsch, Matthias Langhoff, das sich freilich rasch verkrachte nicht
allein aus ästhetischen Gründen und alsbald kleinlaut scheiterte.
Nach einer schönen Ibsen-Inszenierung im BE („Klein Eyolf“ mit Corinna Harfouch) sowie
einem bitter-komischen Auftritt in Andreas Dresens Film mit dem sinnigen Titel „Whisky mit
Wodka“ (2009) zog M. sich still zurück. Als dichtender, malender und verschmitzt weltweiser
Eremit auf einem verwunschenen Bauernhof im weiten Land der Uckermark mit seinem hohen
Himmel. Der war ihm Trost und letztes Glück.
Helga M. Novak „Im Schwanenhals“
von Erik Baron
Vogel federlos hockt in der Ecke seines Käfigs und sinnt wehmütig über seine gescheiterten
Flugversuche als Ikarus nach. Doch die Flügel wurden ihm, wie so vielen, gestutzt. Zurück
bleibt die Erkenntnis: frei sein heißt ab jetzt alleine sein – so das bittere Resümee der namenlosen Ich-Erzählerin aus Helga M. Novaks autobiographischen Roman „Vogel federlos“, der 1982
(natürlich nur im Westen) erschien. Nach „Die Eisheiligen“, drei Jahre zuvor erschienen, setzte
Novak der Hoffnung ihrer Protagonistin auf Befreiung ein jähes Ende. Die 1935 geborene IchErzählerin war der Hölle ihres Adoptivelternhauses entflohen, suchte Zuflucht unter den Fittichen des neu gegründeten Staates DDR, begab sich voller Enthusiasmus in die Kaderschmiede
der FDJ, um dort bald mit ihrer offenen Art, Fragen zu stellen und auf ihre Zweifel zu hören,
anzuecken, bis sie federlos und einsam zurückblieb.
Helga M. Novak hatte mit „Die Eisheiligen“ und „Vogel federlos“ zwei autobiographische
Romane vorgelegt, die an Härte, Schmerz und Melancholie kaum zu überbieten waren. Mit
sprachlicher Wucht verdichtete Novak, von Hause aus Lyrikerin, Worte und Sätze zu Textblökken und fertigte aus ihnen eine einzigartige Collage aus Prosa, Lyrik und Report, getragen von
einer schier unbändigen Sehnsucht nach Emanzipation, die in Ernüchterung und schließlich in
Melancholie umschlägt. Wer etwas über die Anfangsjahre der DDR und ihre Geburtsfehler erfahren will, kommt an diesen Romanen nicht vorbei.
Nunmehr, nach fast dreißig Jahren, kurz vor ihrem Tode im Jahr 2013, erscheint der lang
erwartete letzte Teil der autobiographischen Trilogie von Helga M. Novak: „Im Schwanenhals“. Die Erwartungshaltung ist entsprechend hoch – wird aber, um vorzugreifen, ent23
täuscht. Wer die Fortsetzung ihrer sprachgewaltigen prosaischen Dichtung erwartet, muss
sich nun mit linear erzählter Erinnerungsliteratur begnügen, einer Chronik, die teils als
Roadmovie, teils als Tagebuch daherkommt. Nur selten findet Novak zurück zu ihrem dichten Sprachstil der beiden vorangegangenen Romane. Im Gegenteil: ihre nicht nachvollziehbaren Wechsel in den Zeitformen verwirren den Leser, der dahinter Absicht vermutet. Nein,
Helga M. Novak setzt dieses durchaus probate stilistische Mittel keineswegs, wie zuletzt
Christa Wolf in „Stadt der Engel“, als Annäherungsversuche an das frühere Ich ein. Sie
ließ hier offensichtlich Tagebucheintragungen unbearbeitet in ihre Erinnerungen einfließen,
und das Lektorat hat es nicht bemerkt oder beanstandet. Doch über den Sprachduktus ihres dritten autobiographischen Romans wird nur derjenige stolpern, dem die beiden ersten
Bücher auch der Form nach den Atem verschlagen haben. Für die anderen reiht sich „Im
Schwanenhals“ in die Reihe individueller DDR-Erinnerungen ein, die im Falle Helga M.
Novaks natürlich eine äußerst spannende Lebensgeschichte darstellt und ein Stück DDRZeitgeschichte widerspiegelt.
Alles beginnt mit einer Lüge. Wir schreiben das Jahr 1954. Die Ich-Erzählerin steht vor
der Aufnahmekommission zu ihrem Journalistikstudium in Leipzig und wird nach ihrem
letzten Buch befragt, das sie gelesen hat. Ausgerechnet Nietzsches „Zarathustra“ war es,
ein Buch, das auf dem Index steht! Natürlich kann sie dies nicht als Lektüre angeben, windet sich um die Antwort und nennt irgendetwas Belangloses. Diese Begebenheit, gleich zu
Beginn des Studiums, ist bezeichnend für eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der man mit
der Wahrheit schnell aufs politische Glatteis gerät. Doch dem Vogel federlos sind offenbar
die gestutzten Flügel wieder nachgewachsen, er kann die offene Art, Zweifel zu formulieren
nicht einfach unterdrücken – denn immerhin ist Helga M. Novak seit gut einem Jahr Mitglied
der SED und möchte das widersprüchliche Experiment Sozialismus mit ihrem Tun vorantreiben. Und da ist das mit der Entstalinisierung in der UdSSR beginnende Tauwetter, das sich
auch auf den übrigen Ostblock auszudehnen scheint und für gesellschaftliche Euphorie sorgt.
Doch die Widersprüche dieses Experiments brechen alsbald unbarmherzig auf und stürzen
auch die Ich-Erzählerin in eine tiefe Krise. Die Nachrichten aus Polen und Ungarn verheißen nichts Gutes und geben einen Vorgeschmack auf eine kommende Eiszeit: Meine Gutwilligkeit zerstob, befindet die Ich-Erzählerin. Der Drill im GST-Lager, ihr Verweis aus dem
Studentenwohnheim wegen unmoralischen Verhaltens bis hin zum FDJ-Tribunal, treiben sie
wieder in die Ecke, wie seinerzeit Vogel federlos. Hier, in der Erinnerung an das bedrückende
FDJ-Tribunal, findet Helga M. Novak auch die adäquate Form verdichtender Sprache. Hier
hämmert der Rhythmus im Takt der Reglementierung. Hier steckt die Ich-Erzählerin fest in
jenem Fangeisen, Schwanenhals genannt, das die Jäger als Fallen aufstellen. Ein mörderisches Instrument. Oftmals ziehen die gefangenen Tiere das Eisen bis zum Tode hinter sich
her. Manche beißen sich den eigenen Fuß ab, um irgendwie frei zu kommen. Hinzu kommt
die erpresserische Anwerbung zum IM der Staatssicherheit – mit dem Totschlagargument:
Du bist doch für den Frieden?! Also tu was dafür! Da sie mit einem isländischen Studenten
befreundet ist, möchte die Stasi gern näheres über die isländischen Kommilitonen erfahren.
So unterschreibt die in die Ecke Gedrängte die IM-Verpflichtung mit Verschwiegenheitserklärung – und bespricht diese Anwerbung sogleich mit ihrem Freund, der empört seine Kommilitonen informiert. Danach geht alles sehr schnell. Die Ich-Erzählerin tritt nach dem FDJTribunal aus der Partei aus, wird daraufhin exmatrikuliert und reist mit ihrem Freund Steinar
aus panischem Selbsterhaltungstrieb im Dezember 1957 nach Island aus. Eine überstürzte
Flucht, die sie alsbald bereuen wird, treibt sie doch das Heimweh, die Sehnsucht nach ihren
Freunden und der Sprache auch in Island in die Einsamkeit. Nach nur vier Monaten kehrt
die Protagonistin in die DDR zurück, geläutert, wie es scheint, und schwanger. Ich mußte
endlich einmal in die Knie gehen… Mir ist, als sei ich von einer langen Krankheit gesund
geworden, schreibt sie ihrer Freundin Tonka nach Leipzig. Sie verdingt sich als Fließbandarbeiterin im Werk für Funk- und Fernsehtechnik, arbeitet im Schichtbetrieb, bringt ihren
Sohn Alexander zur Welt, scheint in der DDR anzukommen. Doch dann, im Herbst 1960,
das Staatsbegräbnis für Wilhelm Pieck, ein martialisch-militärischer Festzug, dem sie mit
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ihrem zweijährigen Sohn beiwohnt und sich beim Anblick der militärischen Formationen
schwört, dass ihr Sohn niemals Soldat werden soll. Sie heiratet Örn, den isländischen Vater
ihres Sohnes, und kehrt der DDR erneut den Rücken, um nach Island auszureisen. Erneut ein
überstürzter Entschluss, bedenkt man, dass sie mittlerweile zwei Jahre in der DDR verlebt
und am durch und durch politisierten gesellschaftliche Leben teilgenommen hat. Und da
soll ein einziger Militärumzug ausgereicht haben, in Panik zu verfallen und die DDR erneut
fluchtartig zu verlassen? Hier scheint mir eher der von ihr selbst diagnostizierte Fluchtimpuls gewirkt zu haben, ein reflexartiger Impuls, der Vogel federlos immer wieder aus seiner
Ecke getrieben hat. Dieser Fluchtimpuls lässt die Ich-Erzählerin nie sesshaft werden, sie ist
geradezu bindungsunfähig, kann nicht einmal ihre eigenen beiden Kinder annehmen (Hab
bis heute nicht den blassesten Schimmer, was Mutterliebe ist). Immer wieder treibt es sie
weg von dem Ort, an dem sie sich gerade aufhält.
Nach anderthalb Jahren Island, wo sie sich den Lebensunterhalt in einer Fischfabrik verdient und nebenher Gedichte schreibt, die sie im Eigenverlag herausgibt, fährt sie mit Dagur,
einem isländischen Künstler, quer durch Italien, um in Sizilien das Gegenteil vom nordischen
Island zu erleben – ein bohemehaftes Leben in Armut und Hunger. Bis sie einen westdeutschen Verlag findet, der ihren Gedichtband herausgeben will. Nun scheint sie am Ziel ihrer
Wünsche zu sein. Und da ist ja immer noch die DDR, von wo sie neuerdings wieder hoffnungsvolle Nachrichten erfährt: ein neues Tauwetter soll dort eingesetzt haben, ein gewisser
Robert Havemann hatte gar eine Vorlesungsreihe an der Humboldt-Universität gehalten, die
im Westen unter dem Titel „Dialektik ohne Dogma“ erschienen ist, ein Buch, das die Protagonistin begierig verschlingt und den neuerlichen Entschluss fasst, in die DDR zurückzukehren.
Diesmal endgültig. Sie lässt sich im Herbst 1965 am Literaturinstitut Johannes R. Becher
immatrikulieren (mit Doppelpass DDR und BRD; den isländischen Pass hatte man ihr bisher
verweigert). Doch wieder schlägt das Tauwetter um, und es bildet sich ein kulturpolitischer
Orkan heraus. Am 14. Dezember 1965, einen Tag vor dem 11. Plenum der SED, dem berüchtigten Kulturplenum, wird die Ich-Erzählerin exmatrikuliert und kurze Zeit darauf aus der
DDR ausgewiesen – zehn Jahre vor Wolf Biermann. Es bleibt ihr der Weg zurück nach Island
und zu ihrer Arbeit in der Fischfabrik.
An dieser Stelle lässt Helga M. Novak ihre Erinnerungen ausklingen, fügt jedoch, in groben
Zeitsprüngen, zwei weitere Themenkomplexe an: das unsägliche Nach-Wende-Kesseltreiben
gegen Sascha Anderson, initiiert von Wolf Biermann, von dem sie sich ausdrücklich distanziert.
Diese selbstgerechte Art von Vorverurteilung eines jeden Stasi-Spitzels geht der selbst Betroffenen gegen den Strich. In einem Offenen Brief an Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Jürgen
Fuchs im Herbst 1991 bekennt sie: Ich war auch mal ein Spitzel! Die „Einsamkeit der weißen
Weste“ paßt mir also nicht. Und sie erinnert daran: Komplizen waren wir alle. Aus Befürchtung,
selbst in jenem Kesseltreiben aufgerieben zu werden, geht sie in die Offensive – ein mutiger
Schritt, der ihr den kalten Nach-Wende-Wind ins Gesicht blasen soll.
Ein nicht minder beschämendes Thema ist ihr vergeblicher Versuch nach der Jahrtausendwende, die deutsche Staatsbürgerschaft zurückzuerlangen. Sie scheitert mit diesem Versuch an
der deutschen Bürokratie, in deren Augen, sie eine Isländerin ist, die versucht, wie alle Ausländer auch, mir einen deutschen Paß zu erschleichen und den Sozialstaat auszubeuten. Dann
verzichtet sie lieber darauf. Wie hatte sie doch 1991 in ihrem Offenen Brief an den Spiegel
geschrieben, frei von jeglichen Rachegelüsten: Und eher will ich im polnischen Wald verbluten, als mich auf einen deutschen Richterstuhl setzen. Nun ist sie verblutet, ein Leben lang im
Schwanenhals festgesteckt.
Am 24. Dezember 2013 ist die Weltbürgerin Helga M. Novak nach langer, schwerer
Krankheit gestorben.
Helga M. Novak: Im Schwanenhals, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt/Main,
August 2013, 346 Seiten, 21,95 Euro.
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Radstädter Geschichtslektionen (2)
von Wolfgang Brauer
Also folgen Sie mir! Wir wollten sowieso zu Wolle und Naturseifen. Gehen wir durch das
kleine Fußgängertor in der Stadtmauer zum Wollelädchen. Es sind nur knapp 50 Meter des
alten Kirchhofes zu überqueren… aber das gestaltet sich schwieriger als beabsichtigt. Wir
werden aufgehalten.
Der Friedhof berührt den Fremden auf eine merkwürdige Weise. Die preußisch-deutschen
Hygienebestimmungen verbannten die Friedhöfe an den Rand – der Bevölkerungsanstieg infolge der Industrialisierung gab das Seine hinzu; um 1900 war einfach kein Platz mehr in
den Städten. Dieser Friedhof ist mitten drin. Die Radstädter leben neben, ja mit ihren Toten.
Der Friedhof ist noch in Betrieb. Jedenfalls der zum Steirer Tor gelegene Teil, fein säuberlich
durch eine Natursteinmauer vom kirchlichen, unter Denkmalschutz stehendem Gottesacker
abgetrennt. In der Mauer sind etliche Urnen der Feuerbestattungen deponiert, gleichsam mit
dem Rücken zur Kirche – viele sind frei sichtbar. Offenbar nicht nur aus ästhetischen Gründen,
da steckt wohl auch ein mit dem Geruch der Freidenkerei verbundenes Bekenntnis dahinter.
Bis zum heutigen Tag hat die katholische Kirche ein gebrochenes Verhältnis zur Kremierung.
1917 verbot der Codex Iuris Canonici diese ausdrücklich. Erst 1963 ließ man sich zu Lockerungen für katholische Gläubige hinreißen. In Österreich brauchen solche Neuerungen immer
etwas länger.
Aber noch haben wir die Urnenmauer nicht entdeckt, unseren forschen Schritt in Richtung
Wollladen bremst eine merkwürdig gestaltete größere Glasplatte neben dem Westportal der
Stadtpfarrkirche aus. Eine Art Grabstein. Ein Familiengrab. An der prominentesten Stelle des
Friedhofes. Dafür trägt die Votivplatte aber ein imposantes Adelswappen und der zuletzt Beigesetzte einen imposanten Titel. Es handelt sich um den 2010 verstorbenen Utz Freiherrn von
Künßberg. Die Berufsangabe ist bescheiden: Apotheker. Die Stadtapotheke in Radstadt wird
immer noch von einem Künßberg betrieben, ebenso die Tauernapotheke in Altenmarkt im Pongau. 2001 ließ sich – aus Österreich „zugewandert“, wie er selbst schreibt – ein Künsberg in
Fellbach bei Stuttgart nieder und gründete… klar doch, eine Apotheke. Allerdings darf der NeuWürttemberger den alten Namen vollständig führen: Herr von Künsberg Sarre. In Österreich
darf man das nur auf dem Friedhof. Toten kann man nichts mehr verbieten.
Seit 1919 gilt hier bis zum heutigen Tage das „Adelsaufhebungsgesetz“. Das stellt das Führen von Adelsbezeichnungen, Titeln und Würden unter Strafe. Der österreichische Alt-Adel und
seine rechtskonservativen Vasallen in Politik und Gesellschaft betrachten dies als Menschenrechtsverletzung. Das ist keine Ironie! Zumindest Freiherr Utz von Künßberg nebst Mama und
Papa trotzen dieser roten Gemeinheit. Außerdem ruhen sie in geweihtem Boden. Seien wir nicht
arrogant, in Deutschland empfindet nicht nur die Regenbogen-Presse immer wieder Phantomschmerz ob der 1918 abgegangenen Hoheiten.
Aber Künsberg – mit „s“ oder „ß“ ist egal, es ist dieselbe weit verzweigte Sippe mit oberfränkischen Wurzeln –, da war doch noch etwas?
Ja, es gab in Heidelberg einen Rechtsgelehrten, der den Nazis durchaus genauso eifrig wie
die meisten anderen Rechtsgelehrten der Weimarer Republik (Carl Schmitt: „Der Führer setzt
das Recht!“) den Weg bereitete. Der hatte nur das Pech, mit einer Jüdin verheiratet gewesen
zu sein. Das Paar konnte immerhin noch seine fünf Kinder rechtzeitig genug nach England
schaffen; Eberhard von Künßberg starb 1941 nach einer schweren Operation. Damit war der
Schutz für die Frau weg. Katharina Freiin von Künßberg entging 1942 der Deportation nur,
weil sie bis Kriegsende untertauchen konnte. Ein anderer Eberhard von Künsberg, diesmal
ohne „ß“, wurde auch Jurist und ein strammer Nazi dazu. Im Krieg führte er das „Sonderkommando Künsberg“ der SS, das kunstraubend und plündernd durch Frankreich und später
durch die besetzten Gebiete der Sowjetunion und den Balkan zog. Dieser seiner raubenden
Ahnen durchaus würdige Berufsmörder und Räuberhäuptling fand sein Ende wahrscheinlich
im Januar 1945 in oder bei Budapest. 1943 hatte ihn das Auswärtige Amt übrigens zum Le26
gationsrat befördert. Die mittelbaren Spuren seines „Wirkens“ führen bis ins Salzburgische:
Im Salzbergwerk von Altaussee lagerte auch vom „Sonderkommando Künsberg“ Geraubtes.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir bleiben im Ennstal. Die Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky berichtet in einem
Aufsatz für Friedrich Stadlers Sammelband „Vertriebene Vernunft“ von einer „Flaschenpost“
die ihr als Fund aus einem Radstädter Hausgarten in die Hände geriet. Ich zitiere mit allen
Fehlern originalgetreu: „Dieser Bau wurde von der Fa. Pekoll in Schladming erbaut [...] Die
Arbeiter sind Sämtliche Hackenkreutzler und Judenfeinde. Sollte so ein Lump im Besitze dieses
von deutschen Händen geschaffenen gelangen sollte er weder Rast noch Ruh haben den wir
hassen die Juden und Schwarzen sowie Rotbonzen diese Volksbetrüger.“ Unterschrieben hat
dieses Papier am 31. August 1931 im Namen auch von zehn Arbeitern der Polier Franz Pribik,
offenkundig Mitglied der NSDAP. Das war keine leere Drohung, in dieser von der Krise hart
gebeutelten Gegend –aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen war die Stadt 1932 zahlungsunfähig und konnte noch nicht einmal Brennholz für das Spital kaufen – hatten die Braunen leichtes
Spiel: 1939 hatte Radstadt 2.783 Einwohner, im Jahr zuvor stimmten nur 9 Wahlberechtigte
gegen den Anschluss an Deutschland.
Von den Folgen erzählt der Radstädter Kirchhof. Wenige Meter vom Grab der Künßbergs
entfernt liegen der Bahnmeister i.R. Alois Stadler nebst Gattin Maria. Ihr Grabstein erinnert
auch an Alois Stadler jr., Ingenieur und Flugzeugführer. Der Fähnrich einer Jagdstaffel fiel
am 25. September 1940. Es waren die Tage der heftigsten Luftangriffe auf London. An der
nördlichen Friedhofsmauer, es ist die Stadtmauer, findet sich das imposante Erbbegräbnis der
Bauern- und Unternehmerfamilie Habersatter. Für Josef Habersatter gibt es eine kleine Gedenktafel „zur frommen Erinnerung“. Der Weißenhofsohn fand „am 30. April 1945 [...] den
Heldentod“. Er war keine 18 Jahre alt, das Foto zeigt ihn in der Uniform des Jungvolks. Nur
ein wenig weiter ein Sammelgrab. Da liegen die, die im letzten Aufgebot – im oberen Ennstal
konzentrierten sich Trümmer der 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ – Radstadt gegen die
amerikanischen Truppen verteidigen wollten: der Marinehelfer neben der Flüchtlingsfrau, der
Rottenführer neben dem (adligen) Major, der Hauptmann neben dem Obergefreiten. Sepp Habersatter ist in Istrien verscharrt. Max Stangl irgendwo in Karelien, der 27-jährige fiel im
September 1941 „ an der Eismeerfront gegen den Bollschewismus“. Gegen den kämpfte auch
der Bauernsohn Karl Thaler, der starb am 20. Dezember 1943 bei Saporoshe.
Der Friedhof dieser kleinen Stadt ist ein offenes Geschichtsbuch des großdeutschen Krieges gegen den Rest der Welt. Und diese liebevoll gepflegten Erinnerungsstätten widersprechen still aber nachdrücklich einer der Lieblingslegenden Österreichs, der Legende vom
ersten Opfer Hitlers. 1973 errichtet die Stadtgemeinde auf ihrem Friedhof, dem mit den Urnengräbern, ein weiteres – unkommentiertes – Denkmal: „Den gefallenen Kameraden der
Sturmartillerie“. Das Denkmal ziert ein Balken mit dem Eisernen Kreuz und den Jahreszahlen 1939 und 1945.
Die offizielle Internet-Seite der Stadt vermeldet, dem Zweiten Weltkrieg seien „183 Radstädter zum Opfer gefallen“. Darüber, was Radstädter in Gegenden anrichteten, in denen sie weiß
Gott nichts zu suchen hatten – in Istrien, in Karelien, am Don oder in der Pannonischen Tiefebene –, darüber steht in den Chroniken nichts. Die Kriegsjahre sind weitgehend ausgeblendet
worden. Ein Gang über den Kirchhof rund um die Stadtpfarrkirche ist da weit auskunftsfähiger.
Aber es gibt eine Versöhnungskirche in der Stadt. Die ist ein evangelisches Gotteshaus und
soll an den 1528 umgebrachten
Georg Scherer erinnern. Wer bittet hier eigentlich wen um Versöhnung? Die Kirche liegt an
der Gaismairallee. Aber auch das hat genaugenommen nicht viel zu sagen. Der erwähnte Legationsrat von Künsberg kam als Angehöriger der 8. SS-Kavalleriedivision um. Die hieß „Florian
Geyer“ und war unter den üblen Mördertruppen eine der übelsten.
Die Stadt strahlt Liebreiz aus. Ihre Geschichte macht nachdenklich.
Teil 1 in Das Blättchen 4/2014.
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Gelindes Grausen
von Alfons Markuske
Wer von „Schönheit des Alters“ redet,
war noch nie dort und hat keine Ahnung.
Das Alter ist gekennzeichnet von Verfall und Krankheit.
Dabei ergeben sich trügerische Ruhephasen.
Aber die sind alternativlos nach einiger Zeit vorbei.
Erich Loest
Bis kurz vor seinem Tod schrieb Erich Loest Tagebuch. Die letzten Jahrgänge (2011-2013)
sind gerade erschienen. Der Autor ließ es darin einmal mehr nicht an klaren Worten fehlen, zu
welcher politischen Grundeinstellung sich zu bekennen er sich im Ergebnis seiner Lebenserfahrungen veranlasst sah: „Wer mich zum Feind erklärt, muss damit rechnen, von mir als Feind
behandelt zu werden. Also bin ich Antikommunist.“ Die DDR differenziert – „nicht immer höre
ich dieses Wort gern“ – zu sehen, war seine Sache nicht: „‚Die DDR ein Unrechtsstaat‘, wenn
da einer Differenzierung verlangt, beschleicht mich der Verdacht, er wolle ablenken: Auch damals durfte niemand bei Rot über die Kreuzung!“
Sich diesen Schriftsteller so prononciert zum Feind zu machen, hat der Partei- und Staatsapparat der DDR allerdings auch wenig unversucht gelassen. 1957 – wie vor ihm bereits andere
Intellektuelle, darunter Walter Janka und Gustav Just, – wegen angeblicher „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ zu Zuchthaus verurteilt, verbüßte Loest siebeneinhalb Jahre in Bautzen II.
Kombiniert mit Schreibverbot. Anschließend durfte er nur unter Pseudonymen veröffentlichen
und brachte seine Familie vor allem mit Kriminalromanen und „Groschenheften“ für die populäre Blaulicht-Reihe durch. „[…] jede Erinnerung an diese Brotarbeit ist verflogen“, heißt es
jetzt im Tagebuch.
Zeitgenössische Themen waren für ihn seinerzeit jahrelang tabu. Und wie ihn, als er zu diesen
dann doch wieder zugelassen wurde, die Zensur im Zusammenhang mit seinem bekanntesten in
der DDR, im Jahr 1978 publizierten Werk traktierte, das reichte Loest im Jahre 2003 noch für
ein weiteres Buch: „Der Vierte Zensor. Der Roman ‚Es geht seinen Gang‘ und die Dunkelmänner“. 1981 schließlich siedelte Loest in die Bundesrepublik über. Dort wurde er mit seinem
demonstrativen Antikommunismus allerdings auch nicht nur mit offenen Armen empfangen.
Nachdem er sich wieder einmal unmissverständlich geoutet hatte, so vermerkt er im Tagebuch
in einer Rückblende, „versickerte“ sein „Antrag, in die SPD aufgenommen zu werden, […] das
sollte sich zweimal wiederholen“.
Unnachgiebig und immer wieder insistierend blieb er in seinen Auffassungen bis zum
Schluss. So in seinem Votum, die Stasi-Unterlagen-Behörde „möge ihre Tätigkeit fortsetzen,
solange noch ein Opfer Aufklärung“ erheische, und in seinem Kampf gegen das Tübke-Bild
„Arbeiterklasse und Intelligenz“ in der Leipziger Universität, weil es unter anderem mit Paul
Fröhlich jenen SED-Spitzenfunktionär verewigt, unter dessen Ägide 1968 die Leipziger Universitätskirche gesprengt worden war. So auch in seinem jahrelangen parallelen, zu seinen Lebzeiten nicht erfolgreichen Bemühen, der Uni ein ihre Opfer, zu denen er Ernst Bloch und Hans
Mayer zählte, ehrendes Bild des Malers Reinhard Minkewitz mit dem Titel „Aufrecht stehen“
zu übereignen – mit der Verpflichtung, es an prominenter Stelle öffentlich zu präsentieren. Sein
Urteil über den Maler Wolfgang Mattheuer, dem er attestierte, auch Werke nach dem Kanon des
sozialistischen Realismus geschaffen zu haben, revidierte er nicht, ungeachtet vehementer Proteste der Maler-Witwe. Ebenso wenig ließ er sich davon abbringen, dem Dirigenten Kurt Masur, „in dem nicht wenige noch heute den wichtigsten Mann der friedlichen Revolution sehen“,
seine „Heldenrolle“ abzusprechen. Der berühmte Aufruf der Leipziger Sechs vom 9. Oktober
1989, mit Masur als prominentestem Unterzeichner, habe, so Loests Diktum, vielmehr restaurativen Charakter getragen, habe „nichts anderes zum Ziel“ gehabt, „als die Stabilität der DDR
und den Sozialismus zu sichern“. Als historische Augenblicksbewertung dürfte ihm da kaum
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zu widersprechen sein, auch wenn Masur später vielfach geehrt wurde – nicht zuletzt weil im
veröffentlichten und damit dann auch im öffentlichen Bewusstsein ein anderes Urteil obsiegte.
Dieses Beispiel dürfte im Übrigen exemplarisch sein für das Verhältnis zwischen Vergangenheit
und Geschichte – also zwischen dem, was war, und dem, was im Nachhinein darüber reflektiert wird. Und Helden wurden dabei immer auch schon gemacht. Dass deswegen jedoch keiner
„Held“ war, der 1989 – wie Masur – mit für einen friedlichen Verlauf der Ereignisse sorgte,
folgt zwar aus Loests, wie er selbst sagt, „Kernsatz“: „Wer die DDR reformieren wollte, wollte
sie erhalten, wer die DDR erhalten wollte, wollte die deutsche Einheit nicht; so einfach ist das.“
Doch diese Sicht ist ebenso zutreffend wie eindimensional. Was bei historischen Verläufen eher
selten der Fall ist.
Gewiss kann man Loest in Etlichem widersprechen, aber er liest sich allein angesichts unserer von political correctness, Geschlechterneutralität und allgegenwärtigen Euphemismen zur
begrifflichen Verharmlosung von Negativem bis Scheußlichem verhunzten öffentlichen Sprache
auch ob seiner Kanten und apodiktischen Urteile erfrischend und anregend.
Zugleich ist das Tagebuch eine berührende Chronik von Loests eigenem Altern. Ohne Larmoyanz, dafür mit einem gehörigen Schuss Selbstironie notiert er seinen fortschreitenden physischen Verfall, der ihm am Ende ohne stützende Hilfe praktisch keine Fortbewegung außerhalb
der eigenen vier Wände mehr gestattete: „Um von meinem Stammplatz im Leipziger Gewandhaus wegzukommen, muss ich um einen Pfeiler herum eine Stützlücke von einem reichlichen
Meter überwinden. Die letzten dreißig Zentimeter zwingen mich zum Abenteuer; ähnlich muss
es in der Eiger-Nordwand zugehen.“ Und: „Binnen eines Jahres haben sich meine Beweglichkeit
und meine Kondition halbiert.“ Aber auch dies: „Ein Zeitpunkt ist erreicht, den jeder Schriftsteller […] fürchtet: Keine Ideen mehr, der Ofen ist aus.“ Loests Fazit: „Gelindes Grausen, nun
geht es auf die neunzig zu.“
Nach der Lektüre hat sich der Rezensent ein weiteres Mal gesagt: Das Jahrzehnt zwischen 80
und 90 muss ich nicht haben, wenn die Lebensqualität durch als dauerhaft quälend empfundene,
irreparable gesundheitliche Leiden und Einschränkungen in einem Maße abgenommen hat, mit
dem ich nicht leben will. Der Rezensent sagt ausdrücklich „will“, nicht „kann“.
Allerdings maßen sich hierzulande staatliche, kirchliche und andere Akteure immer noch an, dem
Einzelnen im Fall einer solchen individuellen Entscheidung den Zugang zu schmerzfreien, andere
nicht direkt in Mitleidenschaft ziehende Lösungen zu verweigern. Die dafür ins Feld geführten Argumente sind keineswegs alle in Bausch und Bogen zu verwerfen. Im Gegenteil – in einer durchkommerzialisierten, in nahezu allen Lebensbereichen nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben auf
Rendite getrimmten Gesellschaft wie der unseren ist insbesondere die Warnung vor Missbrauch im
Sinne der Entsorgung der gebrechlichen oder auch nicht so gebrechlichen Alten unter Kostengesichtspunkten nicht nur nicht von der Hand zu weisen, eine solche Entsorgung läge vielmehr durchaus auf der Linie bloßer kapitalistischer Verwertungslogik. Trotzdem teilt der Rezensent Loests
Überlegung: „Wer aus schwerer Krankheit keinen Ausweg sieht, wer Schmerzen oder Einsamkeit
nicht mehr zu ertragen vermag, sollte stärker als bisher die Möglichkeit haben, sich aus eigenem
Entschluss zu verabschieden. Er möge sich nicht vor einen Zug werfen, denn der Lokomotivführer
erleidet einen Schock […]. Am einfachsten und andere am wenigsten belastend ist der Freitod durch
Schlaftabletten. […] Ärzte sollten freimütiger über die nötige Dosis Auskunft geben. Die Abschlusspackung sollte rezeptfrei in den Apotheken zu kaufen sein. Meinetwegen mit einem schwarzen
Bändchen drum rum. Die nette Verkäuferin murmelt: ‚Mein Beileid‘. Und tschüss.“
Die Gesellschaft verweigerte auch Erich Loest ein selbstbestimmtes Ende in Würde und ohne
Angst sowie Schmerz. Er, der unter Höhenangst litt und von dem seine Lebensgefährtin Linde
Rotta sich im Nachhinein fragte, wie er es in seinem schwer geschwächten Allgemeinzustand
vom Krankenbett auf das Fensterbrett überhaupt schaffen konnte, setzte seinem Leben am 12.
September 2013 durch den Sturz aus einem Krankenhausfenster ein Ende.
Erich Loest: Gelindes Grausen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2014, 336 Seiten, 24,95 Euro.
Am 24. Februar wäre Erich Loest 88 Jahre alt geworden.
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Justizirrtum?
von Renate Hoffmann
Er hatte alles gründlich vorbereitet; war zweimal nach Tangermünde gefahren, um das Lokalkolorit aufzunehmen. Skizzierte die Lage der Handlungsorte, notierte Eindrücke und Gedanken.
Zum Beispiel über den Kirchplatz der Stadt: „ … nüchtern, leer und langweilig. Die Phantasie
hat hier alles zu tun.“ „St. Stephan. Große gotische Kirche. Jetzt kahl. [...] Die beiden Patrizier-Häuser der Mindes und Zernitz. Facade. Grundriß. Die Zimmer-Verteilung.“ Er plante den
Ablauf der Novelle Nr. 1 Grete Minde gewissenhaft.
An Paul Lindau, Herausgeber der Monatsschrift „Nord und Süd“, schreibt Theodor Fontane
(1819-1898) am 6. Mai 1878: „Ich habe vor, im Laufe des Sommers eine altmärkische Novelle
zu schreiben. [...] Heldin: Grete Minde (eigentlich: Minden R.H.), ein Patrizierkind, das durch
Habsucht, Vorurteil und Unbeugsamkeit von seiten ihrer Familie, mehr noch durch Trotz des
eigenen Herzens, in einigermaßen großem Stil, sich und die Stadt vernichtend, zugrunde geht.
Ein Sitten- und Charakterbild aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege.“
Emilie Fontane erfährt am 11. August 1878 von ihrem Mann: „Meine Novelle habe ich angefangen und sehe wenigstens, daß es geht. Bleibt mir Kraft und Gesundheit, so muß es etwas
Gutes werden.“ Es wird etwas Gutes! Bereits im September beendet der Dichter den ersten Entwurf und berichtet Clara Stockhausen (10. September 1878): „Seit gestern abend hat nun Grete
Minde, meine neue Heldin, Ruhe, ruht, selber Asche, unter der Asche der von ihr aus Haß und
Liebe zerstörten Stadt.“
Da aber Fontane, wie er bekennt, „ein Bastler und Pußler“ ist und diese Eigenschaft auch
nicht ablegen kann, so vergehen noch einige Monate bis zur Fertigstellung der Novelle. – Sie
erscheint 1879 als Vorabdruck bei Lindau, und die Buchausgabe folgt ein Jahr später.
Der Schriftsteller Paul Heyse (1830-1914) urteilte über das Werk: „Eine Dichtung von erschütternder Kraft und hoher poetischer Schönheit.“ Zutreffender lässt sich die Erzählung nicht
beschreiben, zumal sich darin ein wahrer Kern verbirgt, der nicht weniger erschütternd ist, als
in Fontanes empfindsamer Schilderung. – Der Aufbau Verlag (Aufbau Taschenbuch) legte 2013
die Novelle Grete Minde erneut vor; Kommentar und Chronik sind angefügt.
Die Geschichte ist bekannt und bald erzählt. Es sei erlaubt, die von Theodor Fontane an Paul
Lindau vorab gegebene Kurzfassung ein wenig auszuschmücken.
Obgleich die Handlung in freundlicher Umgebung und sommerlich heiter ihren Lauf nimmt,
liegt sie doch von Anbeginn an unter einem düsteren Himmel. Grete und Valtin, Nachbarkinder,
sind Halbwaisen. Sie – von zierlicher Gestalt, stolz und mit dem Temperament ihrer spanischen
Mutter ausgestattet; dem Aussehen nach „eine Fremde“. Er – „ein echt märkischer Breitkopf“.
Grete lebt im Hause ihres Halbbruders und dessen frömmelnder Frau, die das junge Mädchen
Abhängigkeit und Abneigung täglich spüren lässt. Mit Valtin vertraut, versucht Grete ihrem inneren Protest zu gebieten. Es gelingt der Stolzen nur schwerlich.
Nebenher erlebt man das Treiben der Stadt. Wie bunte Bilder sind die Ereignisse in die stille,
fortschreitende Tragödie eingestreut. Puppenspieler ziehen durch Straßen und Gassen und werben für das Spiel vom „Jüngsten Gericht“. Vorahnung des Geschickes? Das Stück ist gut besucht – und lesenswert. Fontane, der langjährige Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, schaut
durch die Zeilen. Man vermeint, wie Valtin und Grete, in der zweiten Reihe zu sitzen.
Zum Marienfest im Mai treffen sich die Tangermünder Bürger im Freien und feiern ausgelassen. Die Nachbarkinder sind dabei und gestehen sich das Gefühl ihrer Heimatlosigkeit. Verlaufen und zu spät zurückgefunden, kommt es zu einer harten Auseinandersetzung zwischen Grete
und ihrer Schwägerin. Die Anspannung wächst.
Valtin und das Mädchen verabreden sich auf dem Burggelände und rasten an einer Stelle mit
weitem Umblick: „Zu ihren Füßen hatten sie den breiten Strom (die Elbe R.H.) und die schmale
Tanger, [...] drüben aber, am anderen Ufer, dehnten sich die Wiesen, und dahinter lag ein Schattenstrich, aus dessen Lichtungen hier und dort eine vom Abendrot übergoldete Kirchturmspitze
hervorblickte. Der Himmel blau, die Luft frisch; Sommerfäden zogen.“ – Die Stimmung ist
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dazu angetan, sich ihre gegenseitige Neigung zu gestehen. „Ja“, sagt Grete, „dich hab ich. Und
ohne dich wär ich schon tot.“ Sie hat endlich einen Menschen gefunden, der sie liebt.
Sie beschließen zu fliehen und setzen es in die Tat um. Abenteuerlich durchqueren beide den
nächtlichen Wald, von Zuversicht und Zweifeln begleitet. Böhmische Flößer nehmen Valtin und
Grete auf. Die Fahrt elbabwärts führt durch eine malerische Auenlandschaft. Die Ängste jedoch
des jungen Paares bleiben. – Fontane hebt das weitere Geschehen auf, und lässt es erst drei
Jahre später wieder beginnen.
Valtin und Grete fanden irgendwann zu den Puppenspielern und wurden deren Mitglieder.
Die Truppe spielt erneut in der Nähe von Tangermünde. Valtin liegt auf den Tod. Er bittet Grete
mir ihrem gemeinsamen Kind in das Haus des Bruders zu gehen und sich um Versöhnung zu
bemühen. Es scheitert. Sie wird barsch abgewiesen. Auch der Versuch, das ihr zustehende Erbe
einzuklagen, schlägt fehl. Das Stadtgericht lehnt die Forderung ab. – „Es war ihr mehr auferlegt
worden, als sie tragen konnte.“
Grete Minde legt Feuer. Die Stadt brennt. Sie steigt auf den Turm von St. Stephan und stürzt,
nachdem auch hier das Feuer wütet, mitsamt Gebälk und Glocken in die Tiefe. –
Ich reise nach Tangermünde. Am historischen Rathaus mit seiner prächigen Schmuckfassade
steht seit dem 22. März 2009 eine lebensgroße Bronzeskulptur der Margarete Minden (Künstler: Lutz Gaede). Hier fand der Prozess gegen sie statt, der mit dem Todesurteil endete und sie
am 22. März 1619 auf den Scheiterhaufen brachte. Die Anschuldigung gegen die junge Frau
lautete, am 13. September 1617 die Stadt in Brand gelegt zu haben. Das Großfeuer richtete
schwere Schäden an.
Nach Durchsicht der Prozessakten, die im Stadtarchiv liegen („Acta Inquisitional g. Margarethen Mündten und Consorten in pct. Brandstiftung. 1620 … “; 230 Folioseiten), nimmt man
gegenwärtig an, dass es sich im vorliegenden Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine juristische Fehlentscheidung handelte.
Die Prozessführung wird als oberflächlich und „verworren“ eingeschätzt. Verbürgte Aussagen
von Entlastungszeugen erfahren keine Wertung. Unzulänglich geprüften Angaben ihres Mannes,
einem Taugenichts, aufgegriffen wegen räuberischer Umtriebe, hingegen, schenkt man Glauben:
Seine Frau, so gibt er vor, habe ihn zur Brandstiftung angetrieben und dabei mitgewirkt. Grund
dafür sei die Verweigerung ihrer Erbansprüche durch den Rat und die ablehnende Haltung ihrer
Familie gewesen. Erst unter der „Scharfen Frage“, der Folter, rang man ihr, erschöpft wie sie
war, ein Schuldgeständnis ab. Die Hinrichtung geschah mit sadistischer Grausamkeit.
Auf der Pflasterung vor dem Rathaus steht Margarete Minden, barfuß, Hände und Füße in Ketten.
Ihre Haltung ist leicht vorgebeugt. Sie trägt Anklage und Schmerz im Gesicht und die Frage, die sie
den Richtern entgegen warf: „Wer hat mich dazu gebracht, daß ich muß so umgehen!“
Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik, Aufbau Taschenbuch 2013,
126 Seiten, 8,99 Euro.
Erfolgsgeheimnisse. Ein Werkstattbericht
von Erhard Weinholz
Nicht einen Cent habe ich letztes Jahr an Honoraren verdient, das heißt: Im bürgerlichen Sinne
war ich als Autor völlig erfolglos. Acht Texte habe ich in dieser Zeit geschrieben, insgesamt
gut 50.000 Zeichen einschließlich Leerzeichen. Das hört sich nicht schlecht an, aber es sind
nur knapp 140 pro Tag – Zeichen, nicht etwa Zeilen. Wahrscheinlich bin ich auch einer der unproduktivsten Autoren unseres autorenreichen Bötzowviertels. Das meiste aus dem letzten Jahr
habe ich irgendwo unterbringen können; statt Geld gab’s bestenfalls gute Worte. Ja, reicht denn
das nicht? Texte zu schreiben, die was taugen, das muss man doch als Erfolg ansehen! Wenn sie
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dann noch Beifall finden, um so besser. Das eigentliche Glück erlebt man, wie ich immer wieder lese, als Autor ohnehin nur bei der Arbeit, auch „Schaffensprozess“ genannt.
Leider spüre ich nicht viel davon. Es ist natürlich wunderschön, wenn von allen Seiten Einfälle
herbeipurzeln. Aber so gnädig ist mir mein Geist nur selten. Obendrein ist bei kurzen Texten, wie
ich sie meist schreibe, der Aufwand unverhältnismäßig groß. Es ist etwa so, als würde man Puppenkleider schneidern. Auch bei einem ganz gewöhnlichen Hemd gibt es schwierige Stellen, aber dann
wieder kann man lange Nähte einfach runterrattern. Bei Puppenkleidern dagegen, ich weiß es von
meiner Mutter, näht man immerzu im Zickzack. Ebenso reich an Windungen und Wendungen ist in
kurzen Texten oft der Gedankengang. Die Kurven markiere ich gern mit einem „Doch“ oder „Aber“.
Es werden immer mehr, und zuletzt muss ich die meisten davon wieder tilgen, ebenso wie manches
„Auch“ und „Noch“ – eines der vielen mühsamen Geschäfte dieser Art.
Vielleicht sollte ich mal was Anderes ausprobieren, das nicht so viel Arbeit macht und wenigstens ein paar Pimperlinge einbringt, hatte ich hin und wieder gedacht. Und dann habe ich
neulich dieses Heftchen aus der Reihe Humor ins Haus gefunden: Mädel mit und ohne Geld von
Hans Herbst. Einen jungen Luftikus in Blue-Jeans sieht man auf dem Umschlag; ich hoffe, er
nimmt die Richtige, nämlich die hübsche Brünette, die viel Bein zeigt, und nicht die keusche
Käthe ohne Geld, die mit blondem Dutt und falschem Lächeln vor ihm posiert. Allem Anschein
nach stammt das Ding aus den 50ern: Für besagte „Blue-Jeans (amerikanische Farmerhosen)“
wird im Innenteil geworben, schlank wird man durch die „garantiert unschädl. ELRAMO-Zehrcreme“, und ein Psychologe verspricht, Erröten, Unsicherheit, Angst und Jugendsünden (früher
mal KPD gewählt?) restlos zu beseitigen. Auf der vierten Umschlagseite dann ein Verzeichnis
der lieferbaren Hefte, an die hundert Stück: Ein Herz, geteilt durch drei; Leichtmatrose Claudia; Sieben Bräute und kein Mann …
Kaum hatte ich das gelesen, fing mein Geist an, Titel zu produzieren: Hochzeit auf Bestellung; Engel ohne Flügel; Nicht so hastig, Hildegard – wenn die Hauptfigur Hildegard, Fridolin
oder Nepomuk heißt, ist das bekanntlich an sich schon lustig –, Der Mann mit den drei Schwiegermüttern; Frisiersalon de amour; Ärger mit Parzelle 13; Hauptsache verliebt; Der Leutnant,
der nicht küssen wollte… Mit den Titeln für meine eigenen Texte tue ich mich oft schwer, hier
dagegen ging es wie geschmiert: Binnen einer dreiviertel Stunde hatte ich knapp drei Dutzend
zusammen. Das Grundrezept ist ganz einfach: Irgend etwas mit Liebe und Ehe muss der Titel
versprechen oder etwas zum sogenannten Schmunzeln; am besten beides zusammen.
Ja, das Schmunzeln… schon der Begriff ist mir zuwider. Wer schmunzelt, ist im Grunde mit
sich und der Welt zufrieden. „Nietzsche schmunzelte…“ oder „Kafka schmunzelte…“ – das
geht einfach nicht. Doch zu Walter Ulbricht zum Beispiel passt es vorzüglich. Ein dummer
Bauer aus dem Westen, so las ich es in einem Anekdotenbuch, richtet eine Frage an ihn, „Walter
Ulbricht schmunzelte…“ und stellt die Sache richtig. Was hätte man sonst schreiben sollen –
etwa „grinste“? Das Wort ist mir übrigens genauso zuwider. „Walter Ulbricht grinste…“ Um
Himmels willen! „Beulen-Ede grinste. Dann schlug er zu.“ Und „lächelte“ passt auch nicht. Ein
Lächeln ist etwas Schönes.
Aber egal, nicht ich soll ja schmunzeln, sondern das Publikum. „Der Mann mit den drei
Schwiegermüttern“ zum Beispiel: Was könnte da passieren? Keine Ahnung. Obendrein kenne
ich mich im Leben der möglichen Leserschaft solcher Stories überhaupt nicht aus. Zum Glück
habe ich noch diese Sammlung von Kurzgeschichten aus einem Frauenblatt, „Schöne deutsche
Literatur“ steht auf der Mappe; die könnten mich inspirieren. „Unterwegs zu einer neuen Liebe“:
Sabrina hat sich von ihrem Freund getrennt, zusammen mit ihrer Freundin Tabea alles rausgeschmissen, was er angeschleppt hatte, doch – o Schreck – in einer Kommode ein Schmuckstück
vergessen, Andenken an ihre liebe Oma. Mit einigem Glück entdecken sie das Möbel tags darauf bei einem Trödler in der Nähe, der jung, groß und blond ist, der bekannte Funke springt
über; letzter Satz: „Tabea schmunzelte und ging ganz leise aus dem Laden.“
Nicht schlecht. Ich könnte das ja ein bisschen abwandeln: Einer junge Frau, nennen wir sie
Rebecca, ist die Großmutter gestorben, bei der sie ihre schönsten Kindheitstage verlebt hat. Leider kann sie aus dem Nachlass als einziges Omas alte Handtasche retten. Die trägt sie nun alle
Tage. Doch einmal eine kurze Unachtsamkeit, schon ist – o Schreck – die Tasche verschwunden.
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Zwar war nichts weiter drin als Lippenbalsam, ein Feuerzeug, ein paar alte Fahrkarten, na gut,
noch zwei Tütchen, über deren Inhalt ich hier nichts sagen will, trotzdem: „Ihr war, als sei ihre
Kindheit nun wirklich zu Ende.“ Tags darauf liest sie in der Zeitung eine Annonce: „Sammler
su. ständig häßl. alte Handtaschen, bitte alles anbieten!“ Dazu eine Adresse gleich um die Ecke.
Der Mann, der ihr dort öffnet, ist, wen wundert’s, weder jung noch groß und blond, sondern
ebenso hässlich wie die Taschen, die er sammelt; grinsend führt er sie in ein Hinterzimmer, von
wo man alsbald das Klatschen einiger Ohrfeigen hört… Ich sehe schon: Das wird mir niemand
abkaufen, nicht mal, wenn ich die beiden Tütchen streiche.
Ich mache es kurz: Auch bei den anderen Geschichten fiel mir nur Unsinn ein; brauchbare
Fabeln zu erfinden fällt mir ausgesprochen schwer. Ade, ihr schönen Honorare! Eigentlich bin
ich auf euch gar nicht angewiesen: Für den Alltag reicht das Familieneinkommen, kostspielige
Sonderwünsche – hochmoderne Kamera, Tauchkurs auf den Malediven, Armbanduhr der Firma
Prozzi und dergleichen – habe ich keine, das Geld würde also nur auf meinem Konto herumschimmeln. Weshalb bin ich trotzdem so hinter ihm her? Es gibt nur eine Erklärung: Der Kapitalismus hat mich versaut. Eben deshalb bin ich ja auch Sozialist.
bewerbungsmanagement
von Anja Finger
das gespräch findet auf einem schlauchboot neben den niagarafällen statt.
mein vorgesetzter sitzt mit einem nackt-scanner vor. mir ist schwindelig.
ich muss sieben rohe eier austrinken und meinen stammbaum auf der blockflöte
spielen.
ich muss mich selbst in 30 sekunden aus knetmasse formen.
ich muss auf die bibel und den bembel alles mögliche schwören.
ich muss meine linke hand abschneiden.
ich werde mit pinkelnden ameisen eingerieben.
mein vorgesetzter sitzt und rechnet vor.
ich werde 2 € 37 in der stunde bekommen.
ich muss mich freuen und vom boot springen.
bis montag soll ich trocken und geföhnt sein
und bitte pünktlich am arbeitsplatz erscheinen.
ich muss verrückt sein.
Entnommen aus anja finger: [t e e r] notizen aus bodenhaltung, herold media Verlag, Leipzig
2011 mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Auch als Hörbuch, gesprochen von Anna
Thalbach, erhältlich.
Anja Finger lebt, schreibt und fotografiert in Hamburg. Seit 2003 schreibt sie in Internetforen,
ihre Texte wurden in diversen Anthologien veröffentlicht.
Antworten
Georg Schramm, schon Fehlender – Grade sind Sie 65 geworden, was natürlich auch für
das Blättchen Anlass ist, sich in die Gratulantenschar einzureihen, die Sie vermutlich überrollt
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haben dürfte. Was wir Ihnen wünschen: Bewahren Sie sich den intelligenten Zorn des Lothar
Dombrowski auf alles, was solchen Furor verdient, die schneidende Schärfe des Oberst Sanftleben gegen jene Dunkel- und Kleingeister, für die Sie ein Feindbild darstellen und unbedingt
jene Seelen- und Herzensstärke Ihres Druckers August. Das alles verbunden mit dem Wunsch
nach (altersgerechter) Gesundheit und Wohlergehen lässt uns hoffen, Ihnen bald wieder zu begegnen – beim Lesen, Hören oder auf dem Bildschirm, denn Sie werden uns nach Ihrem erklärten Abschied von Tourneen sehr fehlen.
Aksjonow, Dschemiljew, Jazenjuk, Klitschko, Lukaschenko, Janukowitsch, Merkel,
NATO, Obama, Putin, Tusk … – Seid ihr alle verrückt geworden??? (Namensreihung folgt
dem Alphabet, nicht dem Grad von Kriegslüsternheit)
Albrecht Müller, Herausgeber der verdienstvollen NachDenkSeiten – Auf die InterviewFrage der Jungen Welt, was deutsche Medien derzeit antreibt die alten Feindbilder gegen Russland wieder zu beleben, haben Sie geantwortet: „Manchmal habe ich den Eindruck, daß die
Funktionäre der Jungen Union aus den 50er Jahren heute an den Schaltstellen der Medien sitzen
– was zumindest auf das ZDF zutrifft. Der Antikommunismus war doch damals wie ein Glaubensbekenntnis. In den vergangenen Jahren haben wir eine ideologische Wiederaufrüstung gegen die Russen erlebt.“ Dem ist schwer zu widersprechen.(www.nachdenkseiten.de)
Karl Max Fürst von Lichnowsky – von 1912 bis 1914 waren Sie deutscher Botschafter in
England und haben in dieser Funktion Ihren kaiserlichen Dienstherren zur Zurückhaltung gegenüber Österreich-Ungarns Willen zum Krieg gegen Serbien gemahnt. Ihr berühmt gewordenes Telegramm an Wilhelm II. und Kanzler Bethmann-Hollweg vom 28. Juli 1914 endete mit
dem ebenso hellsichtigen wie vergeblichen Satz: “Ich möchte dringend davor warnen, an die
Möglichkeit der Lokalisierung auch fernerhin zu glauben, und die gehorsamste Bitte aussprechen, unsere Haltung einzig und allein von der Notwendigkeit leiten zu lassen, dem deutschen
Volke einen Kampf zu ersparen, bei dem es nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hat.“ Alle
Gehorsamkeit hat nichts genutzt …
Hashim Thaci, Regierungschef des Kosovo – Sie haben mitgeteilt, dass das Kosovo nunmehr
eine eigene Armee aufstellen werde, die 5.000 Soldaten plus 3.000 Mann einer „aktiven Reserve“ umfassen soll. Allesamt sollen die die „territoriale Souveränität“ jenes Kosovo schützen,
das vor sechs Jahren Serbien abgefallen abgefallen war. Was mag man dazu sagen: Maximal
8.000 Mann sollen ernsthaft ein Territorium von 11.000 Quadratkilometer „schützen“? Vor dem
ungleich größeren und bewaffnetem Serbien zuallererst? Man wird wohl – steht diese „Armee“
erst, wohl darauf warten können, dass diese – natürlich von Serbien – „provoziert“ wird und Ihr
Land dann bei NATO und UNO um Hilfe rufen wird, womit wir ein neuerlicher balkanischer
Schlamassel perfekt wäre.
Franziskus, Brückenbauer ins Jenseits – Sie haben kürzlich das Castel Gandolfo, also den
päpstlichen Sommersitz mit dem bisherigen Charakter eines Eremitenasyls, für die Öffentlichkeit freigegeben. Verfolgt man Ihre noch immer ersten oberhauptlichen Schritte zur Öffnung der
katholischen Kirche hin zu den Menschen, für die sie erklärtermaßen eintritt, kann man auch
dann hoffnungsvoll sein, wenn gewiss nicht alle Blütenträume – zumindest der Atheisten – reifen werden. Wie einfach vieles allerdings zum Besseren zu verändern ist, statt es tot zu problematisieren, haben Sie nun schon in mehrfacher Hinsicht gezeigt, und dafür gebührt Ihnen
wenigstens zwischenzeitlich unser Respekt.
Peter Gauweiler, CSU-Parteivize – dafür bekannt, dass Sie Ihr Herz auch dann auf der Zunge
tragen, wenn diese dann gern Provokantes in diese wie jene Richtung absondert. Sie haben während Ihrer Aschermittwochsrede in Passau folgendes gesagt: „Wir sind für die Partnerschaft.
Wir sind für die Partnerschaft mit Kiew, aber Moskau gehört genauso zu Europa dazu. Wir sind
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für die Zusammenarbeit mit Russland.“ Otto Normaldenker stellt sich nun vor, wie zu solcherart
Vernunftserklärung die Anwesenden bestätigend mit den Köpfen nicken. Immerhin haben Sie
nichts anderes als das ausgesprochen, was man eine politische Selbstverständlichkeit nennen
muss, jedenfalls dort, wo kein Kalter Krieg geführt wird. Wird er aber. Nicht nur in Bayern und
nicht nur durch die CSU, bei beiden aber mit unüberbietbarer Geistlosigkeit, wie diverse Reaktionen vor allem aus dem eigenen Lager belegen. Stellvertretend sei der einstige CSU-Chef Erwin Huber genannt, der alle Welt hat wissen lassen, dass Sie „dem Ansehen der CSU geschadet
haben“. Wer solche Parteifreunde hat braucht sich vor Feinden nicht zu fürchten.
Alexander Dobrindt, blauweißer Ministerdarsteller – Auf eine Interviewfrage zur Stimmung
in der Regierung nach dem „Fall Edathy“ haben Sie wörtlich erklärt: „Bei mir persönlich sitzt
die Enttäuschung tief.“ Das ist Ihnen nun freilich unbenommen, aber haben Sie eigentlich eine
Vorstellung davon, wie tief die Enttäuschung erst beim Gros der deutschen Wählerschaft darob
sitzt, dass ein Provinzpolitiker wie Sie sich derweil als Mitgestalter gesamtdeutscher Geschicke
und Schicksale gerieren kann?
Detlef Hartlap, Chefredakteur der TV-Beilage „prisma“ – In einem Beitrag über „Die Angst
der Fernsehmacher“ beziehen Sie sich auf den (hochverdienten) Erfolg amerikanischer, britischer oder dänischer Fernsehserien, die es auf hohem künstlerischen Niveau zu einer beachtlich
realitätsnahen Behandlung gesellschaftlicher und damit direkt oder indirekt politischer Vorgänge bringen, wovon das deutsche TV nicht mal ansatzweise Vergleichbares zu bieten hat.
„Serien mit zeitgemäßen Themen und Erzählformen kommen seit Jahren vornehmlich aus den
USA. ARD & ZDF produzieren derweil Thekla Carola Wied, Fritz Wepper oder Jutta Speidel in
der Endlosschleife. Als ob es Breaking Bad, Mad Men oder Homeland nie gegeben hätte, ist das
deutsche Gebührenfernsehen in Stil, Personal und Baldriangehalt den Achtzigern treu geblieben.“ Wir haben wohl das Fernsehen, das wir verdienen.
Sibylle Lewitscharoff, zweifelhaftes Geschöpf, halb Georg-Büchner-Preisträgerin und halb
Weißnichtwas – In Ihren Augen ist die Reproduktionsmedizin, also „das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse“, wie Sie es denunziatorisch nennen, „derart widerwärtig, dass ich sogar
geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen.
Nicht ganz echt […], sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.“ Damit nicht genug: „Mit Verlaub, angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die
Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen
mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor.“ Nur noch eine Petitesse ist es da, wenn Sie das biblische Onanieverbot „weise“
finden. Sicher ist angesichts dieser Äußerungen allerdings eines – das Wohlgefallen des Herrn
ruht mit neutestamentarischer Wucht auf Ihnen: „Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtigt
er […]“ (Hebräer 12,6), indem er ihn oder sie beispielsweise mit einer besonders widerwärtigen
Form religiösen Wahns schlägt oder, ganz einfach, mit demutsdämlicher Dummheit.
Bemerkungen
Hermann Sinsheimer – eine Wiederentdeckung
Auf der „Liste der auszusondernden Literatur“ (1946) der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone findet sich dreizehnmal der Autorenname Gerhard
Pallmann. Poesievolle Liederbuchtitel wie „Flieger sind Sieger“ oder „Der Führer hat gerufen“
(beide 1941) zeigen an, wes Geistes Kind dieser Mann war. Ausgerechnet diesem braunen Bar35
den vertraute die Witwe Hermann Sinsheimers das Manuskript der Erinnerungen ihres 1950 in
London verstorbenen Mannes an. Pallmann leistete ganze Arbeit – neben den die gerade geleistete „Entnazifizierung“ allzu sehr in Frage stellenden Passagen flogen die Kurt-Eisner-Erwähnungen raus. Kein einziges Mal taucht in der 1953 in München erschienenen Fassung der Name
Erich Mühsam, mit dem Hermann Sinsheimer eng vertraut war, auf. Aus Sinsheimers „Gelebt
im Paradies“ machte der damalige Herausgeber ein ziemlich belangloses Theaterschnurrensammelsurium. Der Jude und Nazifeind Hermann Sinsheimer wurde so ein zweites Mal aus dem
Lande getrieben. Auch in der DDR ignorierte man ihn weitgehend: Hermann Kähler nennt ihn
gar nicht. Die verdienstvolle Exil-Darstellung des Leipziger Reclam-Verlages verschweigt ihn.
Lediglich Ursula Madrasch-Groschopp versucht in ihrem „Weltbühnen“-Portrait eine Ehrenrettung. Die Schuld liegt hier sicher bei Heinrich Mann. In dessen Buch „Der Haß“ kommt sein
Freund Sinsheimer überhaupt nicht gut weg. Mann behauptet, dass dieser sich von ihm ausgerechnet gegenüber Joseph Goebbels losgesagt habe. Das war rufzerstörend.
Nadine Englhart und Deborah Vietor-Engländer ist es zu danken, dass Sinsheimers Buch – und
der Ruf des Autoren! – vollständig wiederhergestellt sind. Es erschien kürzlich als erster Band
einer dreibändigen Werkausgabe bei vbb. Wer sich mit der Geschichte der deutschen Publizistik, insbesondere der deutschen Theaterkritik der Zeit von 1905 bis 1933, befassen will, wird
um diesen Band nicht herumkommen. 1905 veröffentlichte der junge Sinsheimer sein erstes
Theater-Feuilleton – keine Besprechung, sondern ein noch immer nachdenkenswertes Lob des
Provinztheaters! – in Heft 12 der Schaubühne. Später wurde er „der“ Literatur- und Theaterkritiker der Neuen Badischen Landeszeitung in Mannheim, (gescheiterter) Theaterdirektor in München; von 1918 bis 1924 arbeitete er für die Münchner Neuesten Nachrichten und versuchte ab
1924 den Simplicissmus aus dem chauvinistischen Schlamm zu ziehen, in den dieser während
des Krieges geraten war. Ab 1929 war er dann in Berlin, betreute den Ulk und arbeitete unter
Theodor Wolff für das Berliner Tageblatt. Der Mann hat Theatergeschichte be- und Pressegeschichte geschrieben! Seine Erinnerungen enthalten aufschlussreiche Portraits der großen und
nicht ganz so großen Mimen fast eines halben Jahrhunderts deutscher Theaterkunst – das ist mit
Sachkenntnis und großer Liebe geschrieben. Sinsheimer geht aber auch hart mit sich und seinesgleichen ins Gericht, wenn er den Raum der Bühne verlässt und das Anwachsen der Flut des
antisemitischen Schmutzes „in das öffentliche Leben und die Politik Deutschlands“ beschreibt.
Und bitter ist sein Fazit, dass „wir“ Hitler „nicht ernst genug genommen haben“.
Übrigens wird in diesem Band auch die angebliche Mann-Denunziation richtiggestellt. Die von
fürchterlicher Eifersucht geplagte Nelly Mann ist da nicht ganz schuldlos.
Wolfgang Brauer
Hermann Sinsheimer: Gelebt im Paradies.Gestalten und Geschichten, verlag für berlinbrandenburg, Berlin 2013, 432 Seiten, 24,95 Euro.
Schweizer Pioniertat
Der Schweiz geht der global rare und nicht eben negative Ruf voraus, sich Zeit seiner Existenz
dank erklärter Neutralität aus Kriegen herausgehalten zu haben. Der Export von Kriegswaffen,
dies gehört allerdings hinzugefügt, war auch im Alpenland nicht von Enthaltsamkeit betroffen.
Was der Nationalrat in Bern nun aber diesbezüglich beschlossen hat, ist in doppelter Hinsicht
von einer unsäglichen Relevanz. Zum einen ist es die Tatsache, dass die Kriegsmaterialverordnung dahingehend verändert wird, dass die Schweiz künftig auch in Länder exportieren darf,
in denen Menschenrechte verletzt werden; eine einzige Stimme hat dafür nun den Ausschlag
gegeben. Verboten bleiben solche Exporte nur noch dann, wenn ein hohes Risiko besteht, dass
die Waffen für Menschenrechtsverletzungen benutzt werden – suche sich aus, wer darüber zuverlässig befindet.
Was bei vernunftbegabten und friedliebenden Menschen vielleicht aber noch mehr die Alarmglocken in Gang setzen sollte, ist die Begründung für diesen helvetischen Gesetzesakt. Die bisherige Regelung, so lautet sie kurzgefasst, habe die schweizerischen Unternehmen gegenüber
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der Konkurrenz benachteiligt. Mit anderen Worten – die Interessen der Waffenindustrie sind
höher zu bewerten als Menschenrechte und Gewaltverhinderung. Darüber kann man empört
sein und muss dies auch – und zwar nicht nur mit Blick auf die Schweiz, andererseits kann man
der Schweiz vielleicht sogar dankbar sein für so viel Klartext, wenn es um jenes wirtschaftliche
Kalkül geht, das so vieles Töten auf Erden möglich macht.
Frank Schäffer
Die Feinde
Zwei Feinde fuhren mit denselben Schiff. Weil sie möglichst weit voneinander entfernt sein
wollten, ging der eine zum Bug, der andere zum Heck, und dort blieben sie. Ein mächtiger
Sturm packte das Schiff und ließ es kentern. Da fragte der Mann am Heck den Steuermann mit
welchem Teil das Schiff zuerst unterzugehen drohe. Der Steuermann erwiderte ihm: „Mit dem
Bug.“ Daraufhin sagte er: „Dann tut es mir nicht mehr leid zu sterben, wenn ich mit ansehen
kann, wie mein Feind vor mir ertrinkt.“
Äsop
Blätter aktuell
Die Frage nach der deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg, wie nach seinen Konsequenzen, wird
derzeit höchst kontrovers debattiert. Allerdings beschränken sich die Darstellungen zumeist auf
den europäischen Raum und blenden dadurch Entscheidendes aus. Der indische Schriftsteller
Pankaj Mishra zeigt auf, wie der Krieg und vor allem die darauf folgenden Friedensverhandlungen zweierlei besiegelt haben: den Abstieg des Westens und die panasiatische Emanzipation.
Im Zuge immer neuer Freihandelsabkommen werden die Rechte transnationaler Konzerne stetig
ausgebaut. An einer globalen Durchsetzung von Menschenrechten mangelt es dagegen weiterhin; inhumane, umweltzerstörende Arbeitsbedingungen sind immer noch an der Tagesordnung.
Sarah Lincoln, Referentin bei „Brot für die Welt“, beschreibt, wie schwierig es für Betroffene
solcher Menschenrechtsverletzungen ist, ihre Rechte gegenüber global tätigen Unternehmen
geltend zu machen.
„Seit 2006 konnte der Trend zunehmender Ungleichheit gestoppt werden“, so heißt es im umstrittenen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem vergangenen Jahr. Ulrich Schneider, Gwendolyn Stilling und Christian Woltering vom Paritätischen Gesamtverband
zeichnen dagegen ein völlig anderes Bild: Nicht nur ist die Armut in Deutschland seit 2006 kontinuierlich gewachsen, auch die Bundesländer und Regionen driften immer weiter auseinander.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Schröder, Riester, Müntefering: Die Demontage der
Rente“, „Drei Jahre Fukushima – verdrängt und vergessen?“ sowie „Zentralafrikanische Republik: Völkermord mit Ankündigung“.
am
Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, März 2014, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet:
www.blaetter.de
Film ab
Zu den Keimzellen und Fundamenten unserer Zivilisation zählen die Familie im engen und
im weiteren Sinne als Gemeinschaft besonders eng miteinander verbundener und voneinander
abhängiger Menschen: Großeltern, Eltern, Kinder, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Seit
der Antike war das Phänomen, dass diese Gemeinschaft ein Synonym für die Hölle sein kann,
die die zusammengehörigen, darin verstrickten Menschen einander und damit auch sich selbst
bereiten können, ein Stoff für große Tragödien. An der Wiege des europäischen Theaters steht
die „Orestie“ des Atheners Aischylos. Der Bogen in die Gegenwart verläuft über – jeweils pars
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pro toto – Strindbergs „Totentanz“ und Tennessee Williams‘ „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ sowie Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Eindrückliches hat auch das Medium
Film beigesteuert – etwa Bergmanns „Szenen einer Ehe“ vor einigen Jahrzehnten oder Lars von
Triers „Das Fest“ in der jüngeren Zeit. Nun also „Im August in Osage County“: Das Trümmerfeld einer amerikanischen Mittelklassenfamilie in der Provinz des Mittleren Westens, irgendwo
in Ohio, wo die Landschaft, folgt man den Großaufnahmen des Films, offenbar so platt und leer
ist, dass der geografische Begriff dafür – the plains – fast noch als Euphemismus gelten muss.
Großartig Meryl Streep als ausgebranntes, Pillen abhängiges altes Wrack und bis in die letzte
Faser ihrer Seele teuflisch-böses Weib, das die Ihren auf eine mal brachiale, mal perfide Art
und Weise terrorisiert, die jene lange ertragen, bis sie dann doch zurückschlagen müssen – der
Gatte durch Selbstmord, an dem er vielleicht sogar gehindert werden will, aber nicht wird. Die
drei Töchter durch Auflehnung und Abkehr, allerdings ohne Chance auf Erlösung aus der inzwischen längst auch Hölle ihrer jeweiligen eigenen Zweier- oder Familienbeziehungen, sondern
nur mit der Konsequenz, die eigenen Schmerzen und Verletzungen noch zu mehren. Die Wucht
einer antiken Tragödie erreicht die Inszenierung nicht zuletzt in ihren seltenen eher ruhigen
Momenten. Etwa wenn andeutungsweise aufflackert, warum die Monster-Mutter wurde, wie sie
ist. So lässt sie zum Beispiel völlig unvermittelt durchblicken, dass sie vom Seitensprung ihres
Mannes mit ihrer Schwester seit Jahrzehnten wusste, und zerstört mit dieser Äußerung ebenso
beiläufig wie vorsätzlich und zugleich schicksalsnotwendig die Lebensglückserwartung ihrer
jüngsten Tochter. Und: Mehr Atem abschnürende Hoffnungslosigkeit als in einer der letzten
Einstellungen des Films auf Julia Roberts‘, die Leinwand füllendem Gesicht war selten.
Dieser Streifen eignet sich im Übrigen auch als Einstieg in den Umstieg für Kinogänger, die
bisher bloße Phantasieprodukte vom Format „A Nightmare on Elmstreet“ bevorzugt haben:
Familie – das ist der wirkliche Horror.
Clemens Fischer
„Im August in Osage County“, Regie: John Wells; derzeit in den Kinos.
Kurze Notiz zu Sangerhausen
Die Stadt hat es gleich doppelt schwer. Zum einen ist Sangerhausen für alle, die nicht gerade
aus dem Landkreis Mansfeld-Südharz kommen und für Kreisämterdinge dorthin müssen, ein
absolut unbekanntes Örtchen und wird für rein gar nichts geschätzt, geliebt, gewürdigt. Zum
anderen ist Sangerhausen rundum von anderen Städten umgeben, die so namhaft sind, dass Sangerhausens Bedeutungslosigkeit noch offensichtlicher hervorsticht: Der alte Kurort Harzgerode
im Norden, die Grafenresidenz Mansfeld, dann die Lutherstadt Eisleben, Bad Frankenhausen
am Kyffhäuser im Süden, die Schnapsdestille Nordhausen und die Fachwerkstadt Stolberg im
Westen. Ja, man möchte meinen, dass selbst Brücken-Hackpfüffel für sein Hackpfüffeler Loch
noch wesentlich bekannter ist als Sangerhausen.
Die Anfahrt, sofern sie öffentlich erfolgt, ist müßig. Ein unglaublich keimiger Kupferexpress
weckt Sehnsüchte nach einer Hepatitis-Impfung. Der Bahnhof ist eine Zumutung. Aber das trifft
beinahe auf jeden Bahnhof im Land zu und kann nicht zu Buche schlagen. Was also dann? Eine
schön restaurierte Innenstadt wie in Wittenberg. Eine hässliche Neustadt? Ließe sich verzeihen,
wenn sie wie in Weißenfels so abseits liegt, dass ein flüchtiger Besuch nicht zwangsläufig daran
vorbeiführt. Etwas Stadtmauer wie in Merseburg. Ein historisch anmutender Marktplatz wie in
Eisleben: Das alles hat Sangerhausen, das ist schön. Ist es aber deshalb gleich sehenswert?
Wenn in einer Stadt in diesem Bundesland am Sonntag noch ein Café offen hat und wenn es am
späten Abend noch irgendwas zu essen um den Bahnhof rum gibt – dann ist es eine bemerkenswerte Stadt! Beides trifft auf Sangerhausen zu. Lohnt sich aber darum ein Abstecher?
Mit einem Rosarium will man hier Touristen anlocken und ein Mammutskelett steht im Museum
rum, aber die Touristinformation hat sich so sehr darauf eingeschossen, sämtliche Besucher auf
alle möglichen Radtouren bloß aus der Stadt raus zu führen, dass ganz vergessen wurde, die Landesliteraturtage in der Auslage zu bewerben. Egal, die kommen ja bald wieder … oder?
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Nein, nein, Sangerhausen lohnt sich wegen dem Rathaus. Oder besser: wegen des Rathauses.
Oder noch besser: wegen des Ausblicks vom Rathaus aus. Von dessen nordwestlicher Ecke aus
nämlich lässt sich die Göpenstraße einsehen und dahinter die Bahnhofstraße (beide ganz hübsch).
Die ganze Stadt geht an dieser Stelle einen Hügel runter und in Grün über, bevor es wieder aufwärts geht. Und darüber thront imposant eine imposante Spitzkegelhalde. Doppelt zu erwähnen,
da wirklich erwähnenswert. Diese graue Halde sagt vielleicht mehr über sämtliche Kupfer- und
Silberminen als jede Schachtbesichtigung. Weil sie in den Raum wirkt, weil sie allgegenwärtig ist
in Sangerhausen, weil sie zutiefst beeindruckt. Und darum geht es doch.
Thomas Zimmermann
Musikalische Inspirationen bei einem Glas Rotwein
Bei dem alltäglich kursierenden Wortmüll bietet die CD-Veröffentlichung „peu à peu“ von Wolfgang Stutes Marea die Möglichkeit, sich von wirklich erfrischender Instrumentalmusik inspirieren
zu lassen. Dem Rezensenten sei an dieser Stelle eine kleine Handlungsanweisung gestattet: Die
CD einlegen, eine bequeme Sitz- oder Liegeposition einnehmen, um dann mit geschlossenen Augen eigene Texte oder kleine Filme zu den insgesamt 13 Musikstücken zu kreieren.
Wolfgang Stute ist als kreativer Komponist und Musiker (Gitarre, Percussion, Cajon) in den letzen Jahren auch in dem Akustikprojekt „Räuberzivil“ des Liedermachers Heinz Rudolf Kunze
in Erscheinung getreten (siehe Das Blättchen Nr. 25/2012). Und mit Hajo Hoffmann (Geige,
Mandoline) gehört der Marea-Band ein weiterer musikalischer Räuber an.
Stilistisch gelingt Stute der Spagat zwischen Folk und Flamenco, klassischen und kontemplativen Klängen.
Ganz ohne Einfluss auf diese Veröffentlichung war der singende Deutschlehrer Kunze übrigens
nicht. Denn Wolfgang Stute bekundet in dem ausführlichen Booklet massive Probleme mit der
Aufgabe, seinen Kompositionen passende Titel zu geben. Hierfür musste der Räuberzivil-Chef
Kunze jedoch nicht zweimal gefragt werden. Man kann die von Kunze gewählten Titel aber
auch als Herausforderung annehmen, um für sich selbst stimmige(re) Titel zu finden.
Eine Anweisung hat übrigens auch Herr Kunze für den geneigten Hörer dieser CD noch parat:
„Ein gutes Glas Rotwein dazu schadet nie.“
Wolfgang Stutes Marea: peu à peu, CD, Rakete Medien 2013; circa 16 Euro.
Thomas Rüger
Backpfeifen
Die NSA-Horcherei wird von der Bundesregierung als „nicht hinnehmbar“ hingenommen. Was
die Leute mit uns machen, gefällt uns nicht. Aber die Leute gefallen uns. Deshalb gehen wir
freundlich mit ihnen um und geben uns Mühe, dass sie es uns nicht übelnehmen, dass sie uns
mies behandeln. „Hauptsache Freunde“ titelt in diesem Sinne SPIEGEL ONLINE einen Bericht
über den kürzlich erfolgten Besuch unseres Außenministers in den USA. Danach hat dieser sich
„damit abgefunden, dass es kein ‚Sorry‛ oder kein No-­Spy-­Abkommen mehr geben wird“. Aber er wollte „wenigstens einen angemessenen Ton finden, um sich trotz Kritik wieder langsam
anzunähern“. Johannes Gross hat 1995 geschrieben: „Die Deutschen sind die frömmsten Leute.
Sie haben gar nicht so viele Backen, wie sie zum Streich hinhalten wollen“. Das kann so nicht
stehenbleiben. Mancherorts gibt genügend viele Backen.
Evolution
Eine Regionalzeitung meldet an einem Donnerstag unter der Überschrift „Madeleine gibt Namen von Tochter bekannt“, dass das Baby der schwedischen Prinzessin Leonore Lilian Maria
heißt. Dieselbe Zeitung meldet einen Tag später in gleicher Weise unter der Überschrift „Es
ist ein Junge“, dass das im Leipziger Zoo geborene Gorilla-Baby den Namen Jango trägt. Die
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Überschrift über der Affenmeldung ist in großen dicken Buchstaben gedruckt und mit einem
Ausrufezeichen versehen, während die Namensgebung Ihrer Hoheit unter einer Überschrift vermeldet wird, deren Buchstaben viel kleiner und dünner sind und ohne Punkt geschweige denn
Ausrufezeichen auskommen müssen. Das Verhältnis zwischen Adel und Affen wird auf diese
Weise sehr missverständlich ausgedrückt.
Günter Krone
Aus anderen Quellen
In dem von hyperventilierenden Wortmeldungen geprägten Medienauftrieb zur Krise um die
und in der Ukraine sowie angesichts allgegenwärtiger Forderungen nach und Ankündigungen
von Sanktionen gegen Russland, wahlweise konsequenten, harten oder massiven, werden besonnene Stimmen, die die aktuelle Entwicklung differenziert und überdies in einem historischen
Kontext sehen, naturgemäß kaum wahrgenommen. Doch es gibt sie. Erhard Eppler etwa
schreibt: „Dass die provisorische Regierung der Ukraine keine ausreichende Legitimation hat,
die Zukunft des Landes zu bestimmen, ist rechtlich so einleuchtend wie das Pochen des Westens
auf die Unversehrtheit des Territoriums der Ukraine. Aber die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht. Wir Deutschen haben immer auf unser Selbstbestimmungsrecht Wert gelegt. Haben die
Russen auf der Krim dieses Recht nicht? Muss das, was der Diktator Nikita Chruschtschow
1954 aus Laune dekretiert hat, auch gelten, wenn die Ukraine sich gegen jenes Russland stellt,
dem die Mehrheit der Krimbewohner sich verbunden fühlt?“ Und Epplers Ausblick: „Langfristig sehe ich nur eine […] Perspektive: dass die Europäische Union ein so enges Verhältnis zu
Russland findet, ökonomisch und politisch, dass Russland keinen Anlass mehr hat, der Ukraine
Vergleichbares übel zu nehmen. Dabei müsste allerdings immer klar sein: Die Ukraine tritt nicht
der Nato bei. Jedenfalls nicht, ehe Russland dies tut.“
Erhard Eppler: Putin, Mann fürs Böse, Süddeutsche Zeitung, 11.03.2014. Zum Volltext hier klicken.
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„Verluste werden sozialisiert, Gewinne privatisiert“, ist ein nicht nur unter Marxisten beliebtes
Schlagwort. Damit forderte etwa Sarah Wagenknecht die Überschüsse der Deutschen Bank für
die Allgemeinheit ein, denn ohne staatliche Rettung der Hypo Real Estate oder die Bankenrettung in Irland und Spanien wäre die Deutsche Bank pleite. Nach dieser Logik, so Hauke
Janssen, müsste „in einer immer höheren und stärker risikobehafteten privaten Verschuldung
und den daraus im Laufe der Zeit immer wieder resultierenden staatlichen Stützungs- und Rettungsaktionen eine wichtige Ursache für ansteigende öffentliche Schulden“ liegen. Sein Fazit,
mit Verweis auf neue Studien: „In dieser Hinsicht haben die Linken recht […].“
Hauke Janssen: Münchhausen-Check: So viel Wahrheit steckt in Wagenknechts Banken-Bashing,
Spiegel Online, 26.02.2014. Zum Volltext hier klicken.
Amor, das Ferkel
Daniele da Volterra kennt heute kein Mensch mehr. Dabei war er einmal zumindest in italienischen Kunstkreisen ein Name, sogar ein Spitzname. „Hosenmaler“ wurde er genannt, der kurz
nach Michelangelos Tod im päpstlichen Auftrag „Pictura in Cappella Apostolica coopriantur“
daran ging, die Bilder in der Apostolischen Kapelle, darunter zuvorderst Michelangelos „Jüngstes Gericht“ einzukleiden. Als man sehr viel später diese Gemälde auf ihren Originalzustand
hin restaurieren wollte, stellte man bei einigen fest, dass das männliche Gemächt vor seiner
kleidsamen Übermalung sogar komplett entfernt worden war. Bekannter als de Volterra ist vermutlich der florentinische Mönch Savonarola, der 1492 seine Hooligans durch die Stadt ziehen
ließ, um namens der Herrn alles zu beschlagnahmen, was ihm als Symbol menschlicher Verkommenheit galt. Wiederum gehörten dazu Gemälde, die im Februar 1497 und auch 1498 auf
der zentralstädtischen Piazza della Signoria verbrannt wurden. Von solcherart exorzistischem
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Furor verschreckt, warf selbst ein Mann wie Boticelli damals einige seiner Bilder eigenhändig
in die Flammen…
Nun dürfte die Spezies jener Bibeltreuen, denen vermutlich sogar das kurze Nacktheitsdasein
Evas und Adams peinlich ist, ihr exorbitantes Schamgefühl nie verloren haben – fundamentalistisch verfasste „Moral“ ist im allgemeinen unerschütterlich. Dass sich aber heute, über 500
Jahre nach den beschriebenen Zeiten, wieder Stimmen aus der Gruft Gehör zu schaffen versuchen, in denen die savonarolische Position überdauert hat, ist schon erstaunlich. So hat die Berliner Gemäldegalerie Alte Meister einen Offenen Brief mit der Aufforderung bekommen, Caravaggios „Amor mit dem Pfeil“ zu entfernen, da Amors Nacktheit eine „ausdrücklich obszöne
Szene“ abbilde und auch geeignet sei, die perversen Neigungen Pädophiler auf sich zu ziehen.
Obsiegte solche Bild-Betrachtung künftig, käme einiges auf uns zu, denn wer weiß, an wie vielen Wohn- oder Schlafzimmerwänden ein Druck des Amor oder vergleichbarer Schweinskram
hängen. Besser – hängt sowas schon mal ab. Und wer noch einen Ofen oder Kamin hat, sollte
wissen, was zu tun ist, um ganz sicher zu gehen.
HWK
Medien-Mosaik
Inge von Wangenheim (1912-1993) hatte viele Talente. Sie war Schauspielerin und Regisseurin,
Herausgeberin einer Zeitschrift, Autorin von vielbeachteten Romanen und Essays. Ihrer Enkelin
Laura von Wangenheim ist es zu verdanken, dass man nun auch die Fotografin IvW entdecken
kann. Die Enkelin, deren Bindung zur Großmutter nie sehr eng war, hat sich in den letzten Jahren
entschlossen, den Teil ihrer Familiengeschichte zu erforschen, der in Stalins Sowjetunion stattfand.
Inge war mit Gustav von Wangenheim, dem kommunistischen Schauspieler, Regisseur und Autor
hierhin emigriert. Sie hat über diese Zeit die Bücher „Mein Haus Vaterland“ und „Auf weitem
Feld“ veröffentlicht, in denen sie die wirklichen Probleme vom Leben unter stalinistischem Druck
verschwieg. Auch, dass sie ihren zweiten Sohn dort unter bis heute unbekannten Umständen verlor, machte sie nie zum Thema. Als die Enkelin im Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt die
Negative von vermutlich nie entwickelten Bildern aus Moskau und von der Datscha auf der Krim
fand, wurde diese Zeit plastischer. „Auf einmal waren all die Dinge zu sehen, für die ich mich immer interessiert hatte: Menschen, Autos, Stadtansichten, Kinder – ganz alltägliche Momente aus
der Zeit des Exils.“ LvW schreibt in einem Essay mit Distanz, schonungslos und doch einfühlsam
über ihre immer so unnahbare Großmutter, die nicht nur die Familie und den Alltag fotografierte.
Einige deutsche und sowjetische Freunde und Kollegen aus dem Exil sind darunter, Johannes R.
Becher, Fritz Erpenbeck, Alfred Kurella, Lotte Loebinger, Samuil Marschak. Fotos von den Dreharbeiten zu Wangenheims Film „Kämpfer“ zeigen den Hauptdarsteller Bruno Schmidtsdorf, der
den stalinistischen Terror nicht überlebte. In einem einleitenden Aufsatz schildert Ewald Böhlke
übrigens den Besuch Ernst Lubitschs bei Wangenheims in Moskau und wie er später Lubitschs
Film „Ninotschka“ beeinflusste. Doch der Bildband ist mehr als ein Stück Exilgeschichte. Er erzählt von Schicksalen, wie sie unter Flucht und Vertreibung immer wieder geschehen können.
Laura von Wangenheim: In den Fängen der Geschichte, Rotbuch Verlag, Berlin 2013, 112 Seiten,
25 Euro.
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Von gelegentlichen Redaktionssitzungen der Weltbühne kannten sich Tucholsky und Kästner
eher flüchtig, obwohl Tucholsky hier sogar die zufällig anwesende Ida Kästner kennengelernt
hatte: „Da rückte Tucholsky seinen Stuhl neben den ihren und unterhielt sich mit ihr – über
mich. Er lobte ihren ‚Jungen‘ über den grünen Klee, und das verstand sie nun. Das war ihr Spezialgebiet. Er aber sah mich lächelnd an und nickte mir zu als wollte er sagen: So hat jeder seine
Interessen – man muß sie nur herauskriegen.“
Diese Episode wurde von Dieter Andresen bei der Lesung „Erich Kästner begegnet Kurt Tucholsky“ vorgetragen, die im vergangenen Herbst die beiden Weltbühnen-Autoren als „Vertre41
ter der linksbürgerlichen Opposition in der Weimarer Republik, Aufklärer, Pazifisten“ in Kiel
vorstellte. Zu den Themen, zu denen beide viel zu sagen hatten, zählten „Pazifismus contra
Militarismus“, „Anprangerung der Justiz“ und „Finanzkrise und Spaltung in Arm und Reich“.
Die Veranstaltung wurde dankenswerterweise mitgeschnitten und als Hörbuch veröffentlicht.
Man findet eine schöne Mischung aus bekannten Texten und Entdeckungen. Ein kleines Manko
besteht darin, dass selten die Autorennamen genannt werden. Die Vortragenden begnügten sich
damit, am Anfang mitzuteilen, dass Andresen alles von Kästner und Erdmann alles von Tucholsky lesen würden. Da es sich bei beiden Herren, dem Pastor i.R. Dieter Andresen und dem
pensionierten Altphilologen Dr. Gerd Erdmann um reife Herren mit sonorem Organ und leicht
norddeutscher Färbung handelt, weiß der nicht ganz sattelfeste Hörer mitunter nicht, welchen
Autor er gerade hört. Dafür lesen die beiden in Leseprogrammen durchaus geübten Herren mit
so viel Verve, dass man alles andere vergisst.
Erich Kästner begegnet Kurt Tucholsky – Prosatexte und Gedichte zweier verbrannter Dichter,
Auswahl und Redaktion: Gerd Erdmann, 2 CDs, 10 Euro, Bestellungen erbeten über e-Mail:
hoerbuch@gerderdmann.de
bebe
Wirsing
Kürzlich verschreckte eine Meldung des NDR-Nordmagazins konfessionell gebundene Bürger und
wohl auch Mitglieder der Amtskirche. Die Synode der Nordkirche verabschiedete ein Gesetz für
gleichgeschlechtliche Paare, und dazu erklärte das Magazin: „Homosexuelle Pastoren und lesbische Pastorinnen sollen künftig in kirchlichen Wohnungen zusammenleben dürfen.“ – Wenn ich ein
homosexueller Pastor wäre, hätte ich vielleicht andere Wünsche als unbedingt mit einer lesbischen
Pastorin in einer Wohnung zusammenzuleben! Aber es geht noch weiter: „Voraussetzung sei, daß
diese Paare zuvor eine standesamtliche Lebenspartnerschaft eingegangen sind.“ Ich glaube kaum,
dass die Zahl der homosexuellen Pastoren und Pastorinnen, die miteinander eine Lebenspartnerschaft eingehen wollen, zu einer Wohnungsnot in der Nordkirche führen wird!
Fabian Ärmel
Türkei – Putsch in Zeitlupe
von Yavuz Baydar
Mit seinem autoritären Auftreten verunsichert Regierungschef Erdogan seine ausländischen
Partner und die eigenen Wähler. Die Einführung einer Internetzensur rückt die Türkei in die
Nähe zentralasiatischer Halbdiktaturen.
Die Zukunftsaussichten der Türkei stellen sich heute entschieden anders dar als noch vor einem
Jahr. Am 1. Januar 2013 herrschte eine regelrechte Aufbruchsstimmung. Große Hoffnungen lagen auf dem beschleunigten Reformprozess und einer endgültigen Lösung des blutigen Kurdenkonflikts. Das Jahr 2014 beginnt dagegen in einem dichten Nebel aus Konfusion, düsteren Ahnungen und wachsender Wut – und mit einem klaren Schwenk in Richtung einer autokratischen
Herrschaft, die stärker am Modell zentralasiatischer Staaten orientiert sein könnte als an den
Normen der Europäischen Union.
Im Verlauf des letzten Jahres ist vieles geschehen, was die türkische wie die internationale
Öffentlichkeit außerordentlich irritiert hat. Betrachten wir kurz die wichtigsten Ereignisse, die
dazu geführt haben, dass man die heutige Türkei mit Misswirtschaft, politischer Polarisierung
und undemokratischen Machenschaften assoziiert.
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Als Erdogan mit großem Pomp einen „Friedensprozess“ mit den Kurden verkündete, weckte er
so hohe Erwartungen, dass alle Reformkräfte im Lande, die seit etwa zehn Jahren eine lose „Koalition für Demokratie“ gebildet haben, neue Hoffnung schöpften. Endlich, so dachte man, würde die
Türkei eine wahrhaft zivile Verfassung bekommen – nach mehr als dreißig Jahren einer Quasidemokratie auf der Basis des Verfassungstextes von 1982, den das putschende Militär diktiert hatte.
Trotz aller politischen und sozialen Aktivitäten in der ersten Jahreshälfte geriet der angekündigte „Friedensprozess“ jedoch bald ins Stocken. Die unverbindlichen Gesprächsrunden folgten
weder einem konkreten Fahrplan noch hatten sie ein klares Ziel. Der Prozess beschränkte sich
auf Besuche von kurdischen Parlamentsabgeordneten bei PKK-Führer Abdullah Öcalan in seinem Gefängnis auf der Insel Imrali.
Noch übler ist freilich das Fehlen jeglicher Transparenz: Die türkische Öffentlichkeit weiß
über die Verhandlungen heute genauso viel wie vor einem Jahr – sehr wenig. Die große Frage
lautet daher, ob der starke Mann des Landes, Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, das Ganze
nur als rein taktisches Mittel, sozusagen zur Ablenkung, genutzt hat. Grund für diesen Verdacht
sind die Ereignisse Ende des vergangenen Jahres.
Der große Traum des starken Mannes ist in Gefahr
Am 17. Dezember begann die erste Welle staatsanwaltlicher Aktionen gegen Personen, die der Korruption verdächtigt wurden, darunter auch Söhne von Ministern. Unmittelbar darauf zog sich die
regierende AKP aus den Gesprächen mit anderen Parteien zurück, in denen der Entwurf für eine
neue Verfassung erarbeitet werden sollte. Die Blockade dieser konstitutionellen „Versöhnungskommission“ bedeutete einen schweren Rückschlag für das erklärte Ziel, nämlich zu einem vernünftigen
Konsens über die bürgerlichen Freiheiten, die Grundrechte und die innere Vielfalt des Landes zu
gelangen. Ein solcher Konsens hätte die Türkei einem EU-Beitritt sehr viel näher gebracht.
2013 wurde auch das Jahr, in dem Erdogan mehr als je zuvor seinen großen Traum in Gefahr sah:
sich zum unbestrittenen Führer eines Regimes aufzuschwingen und – so wie früher das Militär mithilfe des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) – die türkische Bevölkerung bevormunden zu können.
Denn Erdogans Absicht war und ist es, die Gesellschaft und die staatlichen Institutionen nach
seinen eigenen Vorstellungen zurechtzubiegen. Das hat er bereits Anfang 2013 unzweideutig klargemacht, als er seine Ideen von einer Hierarchie ästhetischer und gesellschaftlicher Werte inklusive der
privaten Lebensführung durchsetzte – orientiert am Leitbild eines sunnitischen Konservatismus.
Aber der Schuss ging nach hinten los. Im Konflikt um den Gezipark sah sich Erdogan plötzlich
einer starken Protestbewegung gegenüber. Die meist jungen städtischen Demonstranten schrien ihm
entgegen: „Es reicht, bis hierher und nicht weiter!“ Dabei richtete sich ihr Protest nicht nur gegen
die Eingriffe in gewachsene urbane Strukturen, die Erdogan als De-facto-Bürgermeister vorantrieb.1
Formuliert wurden etliche weitere Anliegen, die mit individueller Lebensführung, Umwelt und Redefreiheit zu tun hatten – und mit Größenwahn und Korruption der Politiker. Aufgrund seiner völligen Missachtung demokratischer Freiheitsrechte begann Erdogans Popularitätskurve zu sinken. Eine
Gegenstrategie musste her. Sie bestand darin, der schweigenden Mehrheit einzureden, die Unruhe in
den Städten sei das Werk einer Allianz finsterer Mächte, zu denen er jüdische Kreise oder auch die
„Lobby von Zinsspekulanten“ zählte.
Während Erdogan die rhetorische Attacken auf seine Kritiker verschärfte, setzten die AKPkontrollierten Medien zahlreiche kritische Kolumnisten und Reporter vor die Tür, was als
Instrument der Einschüchterung und Bestrafung fast so wirksam war wie Gefängnisstrafen.
Zudem machte Erdogan noch mehr Medien zum Sprachrohr der Regierung, indem er für den
Verkauf der Mediengruppe Cukurova sorgte und bei der Zeitung Türkiye ein neues Management
einsetzte, das etliche regierungsfreundliche Kolumnisten einstellte.
Schon vor diesen Maßnahmen hatten die türkischen Medien ihre Unabhängigkeit weitgehend
eingebüßt. Erdogans Vorstoß ist nur ein weiterer Schritt in einem unaufhaltsam scheinenden
Prozess, der auf die „Aserbaidschanisierung“ der türkischen Medien hinausläuft. Die kritische
Funktion der Medien basiert bereits heute nur noch auf den begrenzten Möglichkeiten weniger
kleiner, unabhängiger Nachrichtenquellen, sodass eine verzweifelte Öffentlichkeit zunehmend
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darauf angewiesen ist, nach verlässlichen Informationen im Internet zu suchen. Aber auch darauf hat Erdogan eine Antwort gefunden: Ein am 5. Februar verabschiedetes Gesetz erlaubt die
Blockierung von Internetseiten auch ohne richterlichen Beschluss.
Das alles macht deutlich: Erdogan will seine Zustimmungsrate, die inzwischen auf rund 40
Prozent gesunken ist, mithilfe der Methoden stabilisieren, die er am besten beherrscht. Seine
Rivalen hält er auf geradezu machiavellistische Weise in Schach: Alte Verbündete, die ihm nicht
mehr von Nutzen sind, werden verstoßen, und andere, die sich seiner Parole „entweder für oder
gegen mich“ nicht fügen, werden bekämpft.
Erdogans neuester Gegner – nach den Kurden und der städtischen Elite – sind die Anhänger
der Hizmet-Bewegung. Deren geistiger Anführer ist der Prediger Fethullah Gülen, der schon
länger in seinem selbstgewählten Exil in den USA lebt. Das Zerwürfnis mit Gülen wurde offenbar, als Erdogan im Herbst 2013 die Schließung der privaten Schulen und Tutorenzentren der
Hizmet ankündigte.
Doch der Schulstreit war nur der Auslöser. Der Konflikt zwischen Erdogan und Gülen hat
eine längere Vorgeschichte, bei der es vor allem um islamische Ethik, Moralvorstellungen und
das Verhältnis von Politik und Religion geht. Seit Längerem waren auch die Differenzen in
außenpolitischen Fragen bekannt, etwa im Hinblick auf Israel und Syrien oder die Rolle der
PKK im Friedensprozess. Vor allem aber kritisierte Gülen das, was er Erdogans „Machtrausch“
nannte, und die Absage des AKP-Chefs an eine wirklich demokratische neue Verfassung.
Für Eingeweihte war schon seit Juni 2013 klar, dass die AKP-Regierung und Erdogan persönlich durch umfassende Korruptionsermittlungen unter Druck geraten würden. Bei den Verhaftungen vom 17. Dezember ging es unter anderem um Vorwürfe wegen Geldwäsche von mehreren Milliarden Dollar und um Bestechungssummen von mehr als 60 Millionen Dollar, die
mutmaßlich an vier Minister – und ihre Söhne – geflossen sind.
Seit diesem Tag begann sich Erdogans Traum, zum unbesiegbaren, unersetzlichen Führer
der Nation zu werden, in einen Albtraum zu verwandeln. Nur eine Woche später bereiteten die
Strafverfolger weitere Festnahmen vor, die auch Erdogans Sohn Bilal treffen sollten. Aber dank
einer Serie bürokratischer Manöver konnte der Regierungschef verhindern, dass die Ermittler
ihm noch dichter zu Leibe rückten.
Damit stand Erdogan Anfang 2014 vor einer historischen Alternative: Er konnte entweder die
Justiz als unabhängige Machtinstanz respektieren und ihr Vorgehen hinnehmen. Oder er konnte
zum Gegenangriff übergehen, den kompletten politischen Apparat mobilisieren, den er während
seiner langen Regierungszeit unter seine Kontrolle gebracht hatte und sich über die Gesetze
hinwegsetzen, die seine Regierung großenteils selbst durchgesetzt hatte.
Erdogan entschied sich für die zweite Alternative, was angesichts seiner harten Reaktion auf
die Gezi-Proteste kaum anders zu erwarten war. Seine Strategie setzt dabei auf vier Ebenen an.
Auf der Ebene der politischen Rhetorik ging er sogar so weit, sich zu weigern, rechtsstaatliche Prinzipien anzuerkennen. Sein Argument: Die Entscheidung, was richtig und was falsch
ist, liegt nur bei den Wählern. Um diesen Wählern Angst einzujagen, baute er seine berühmtberüchtigten Geschichten über die „bösen Feinde“ weiter aus: Jetzt war die Rede von einem
„globalen Mordkomplott“ gegen seine Regierung, und der neue Feind bekam den Namen „Chaoslobby“. Die Hizmet-Bewegung dämonisierte er als „organisierte Verbrecherbande“, die ein
„Schattenreich“ innerhalb des Staates errichtet habe.
Schließlich griff Erdogan auch noch auf seinen alten Lieblingsbegriff zurück und erklärte
alle seine Kritiker, von Medienvertretern bis zu Kreisen der Großindustrie, zu „Verrätern“, die
entsprechend zu bestrafen seien.
Auf der zweiten, der Ebene der Medien, waren die regierungsfreundlichen Kräfte eifrig
bemüht, die Diskussionen so zu dirigieren, dass sie sich allein auf die angeblich subversiven
Aktivitäten der Hizmet-Bewegung konzentrierten. Denn natürlich lag es in Erdogans Interesse,
die Korruptionsfälle vergessen zu machen oder als substanzlos darzustellen. Diese Propaganda
scheint innerhalb der Türkei durchaus wirksam zu sein. Hingegen glaubt die Öffentlichkeit weder in der EU noch in den USA, dass eine „Schattenorganisation“ dabei ist, die Regierung Erdogan mittels Korruptionsermittlungen zu Fall zu bringen.
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Erdogan in Panik
Auf der Ebene der Regierung entschloss sich Erdogan mit einiger Verspätung, drei der betroffenen Minister zu entlassen; den vierten setzte er vor die Tür, weil dieser ihn selbst zum Rücktritt
aufgefordert hatte. Nachdem er derart seine Unbelehrbarkeit demonstriert hatte, besetzte er die
beiden Schlüsselministerien für Justiz und Inneres mit zwei seiner engsten Gefolgsleute.
Diese Ernennungen ließen bereits die nächsten Schritte des AKP-Chefs erahnen: Druck auf die
Polizei und Einschüchterung der Justizorgane, die erst im September 2010 dank einer per Volksabstimmung sanktionierten Verfassungsänderung eine größere Unabhängigkeit erlangt hatten.
Von Panik ergriffen, ordnete Erdogan sodann eine Säuberung der staatlichen Institutionen
an, die in der Geschichte des türkischen Staats ihresgleichen sucht: Bis Anfang Februar wurden
mindestens 6.000 Polizeioffiziere und fast 200 Staatsanwälte versetzt beziehungsweise ausgewechselt. Die Begründung lautete, sie seien alle mit der Gülen-Bewegung vernetzt.
Die für Erdogan peinlichen Ermittlungsfälle wurden den Staatsanwälten, die sie angestoßen
hatten, entzogen und anderen Kollegen übertragen, die sofort erklärten, dass man die Untersuchungen völlig neu aufrollen müsse. Es folgte eine Direktive, die alle Staatsanwälte dazu
verpflichtet, sich vor der Eröffnung neuer Ermittlungsverfahren zuerst an den jeweiligen Provinzgouverneur zu wenden.2 Für erfahrene Türkei-Beobachter, die sich noch an die früher herrschende „Kultur der Straflosigkeit“ erinnern, war das alles eine Art Déjà-vu-Erlebnis. In der Tat
ist zu befürchten, dass die Kultur der Straflosigkeit wieder auflebt und alle Korruptionsfälle der
Vergessenheit anheimfallen.
Erdogans größte Herausforderung stellt sich auf der vierten Ebene, der Legislative. Er weiß,
dass er die Unterwerfung der Justiz unter die Regierung erzwingen kann, wenn er per Gesetzesänderungen dem Hohen Ausschuss der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Yüksek
Kurulu, HSYK) die erst kürzlich erlangte Unabhängigkeit wieder wegnimmt. Bei dem Versuch,
mit seiner AKP-Mehrheit eine entsprechende Gesetzesänderung durchzusetzen, stieß Erdogan
jedoch auf zwei Hindernisse: Präsident Abdullah Gül wie der Präsident des Verfassungsgerichtshofs sprachen sich dagegen aus (desgleichen der EU-Kommissar für Menschenrechte). Damit
bleibt Erdogan eigentlich nur der Ausweg, die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP,
für eine Verfassungsänderung zu gewinnen, was ihm bislang nicht gelungen ist.
Angesichts dieser politischen Sackgasse verlegt sich Erdogan wieder auf ein Spiel, das er
meisterlich beherrscht: die Bildung taktischer Bündnisse. Sein Leitfaden dabei ist simpel: Der
Feind meines (neuen) Feindes ist mein Freund. Folgerichtig sendet er, um die Kurden auf seine
Seite zu ziehen, neuerdings wieder positive Signale an die PKK, die in der sozial stark verankerten Hizmet eine Konkurrenz sieht.
Aber noch weit gefährlicher ist das zweite taktische Spiel: Erdogan hat eine neue Debatte
über die Prozesse gegen die Militärs eröffnet, indem er der Hizmet die volle Verantwortung für
das zuschreibt, was er heute als Unrecht gegenüber den Offizieren sieht, die wegen Putschversuchen vor Gericht standen. Deshalb sucht er jetzt Mittel und Wege, um diese Prozesse – bekannt unter den Namen Ergenekon und Sledgehammer (Schlaghammer) – wieder aufzurollen
und die bereits verurteilten oder in Untersuchungshaft sitzenden Offiziere freizulassen. Dieser
Schritt Erdogans hatte zur Folge, dass auch die Verteidiger von Angeklagten, die der organisierten Kriminalität beschuldigt werden (einschließlich klassischer Mafiafälle), ihre Mandanten als
Justizopfer hinstellen und für sie ebenfalls ein neues Verfahren fordern.
Vor diesem Hintergrund warnen vernünftige Stimmen aus der Richterschaft vor einer totalen
Aushöhlung ihrer beruflichen Funktion. Andere Kommentatoren versuchen vergeblich, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass die Richter und Staatsanwälte einen normalen Querschnitt unterschiedlicher Tendenzen und Überzeugungen repräsentieren und keinesfalls ein geschlossenes
Corps von Gülen-Anhängern sind.
Die Art und Weise, wie Erdogan auf sein Problem reagiert, droht das ganze politische System
ins Chaos zu stürzen und gefährdet die soziale Stabilität der Türkei. Dadurch hat der AKP-Chef
im Ausland viel Vertrauen verspielt, vor allem bei den meisten – wenn nicht allen – führenden
Politikern der demokratischen Länder.
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Dieser Vertrauensverlust schlägt sich auch in den Wirtschaftsdaten nieder. Die türkische Lira ist
seit Wochen unter wachsendem Druck und hat gegenüber dem letzten Jahr um 30 Prozent nachgegeben, was das Misstrauen im Ausland noch weiter schürt. Der Absturz der Lira macht zudem die
Importe teurer. Damit dürfte sich das Defizit der türkischen Zahlungsbilanz von heute 8 auf 10 bis
12 Prozent erhöhen, prognostiziert David Goldman in der Asia Times vom 5. Februar.
Desgleichen treibt der Währungsverfall die Kreditzinsen in die Höhe, was auch die laufenden
Kredite betrifft. In der Financial Times vom 29. Januar vermerkte George Magnus, dass 75 Prozent des türkischen Zahlungsbilanzdefizits durch relativ kurzfristige Kapitalzuflüsse finanziert
werden und dass die staatlichen Devisenreserven lediglich ungefähr 20 Prozent der externen
Zahlungsverpflichtungen dieses Jahres ausmachen. Vor diesem Hintergrund ist für 2014 mit einer zweistelligen Inflationsrate, einem auf 2 Prozent des BIPs reduzierten Wirtschaftswachstum
und einer steigenden Arbeitslosenrate zu rechnen. Damit droht die türkische Erfolgsgeschichte
in ein spektakuläres Scheitern umzuschlagen.
Angesichts dieser Kaskade negativer Entwicklungen stellt sich die Frage, was die unbelehrbare Haltung Erdogans für die Zukunft der Türkei bedeutet? Der Journalist Abdullah Bozkurt,
der die Entwicklungen in Ankara seit zehn Jahren aus nächster Nähe verfolgt, bezeichnet die
politischen Schritte des AKP-Chefs als „Putsch in Zeitlupe“.
Wegen der bisher beschlossenen Gesetzesänderungen und Rechtsverordnungen sowie der
weiteren Gesetzentwürfe, die noch im Parlament liegen oder von der Regierung ins Auge gefasst werden, hat Bozkurt den starken Verdacht, dass Erdogan für die Exekutive die volle Kontrolle über die Richterschaft, die letzte Bastion der unabhängigen Judikative, erringen will: „Erdogan weiß, dass seine Aktionen eine klare Verletzung der Verfassung darstellen, aber er wird
sich durchsetzen, indem er Gerichtsurteile erzwingt und Rechtsstaat wie Verfassung erfolgreich
suspendiert. Was, wenn nicht das, muss man als zivilen Putsch bezeichnen?“
1
2
Siehe Yasar Adnan Adanali, „Istanbul brennt“, Le Monde diplomatique, Juli 2013.
Gegen den Angriff auf den Rechtsstaat haben 150 Akademiker und Juristen in einer Erklärung protestiert.
Aus Le Monde diplomatique vom 14.2.2014 mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Die Weltbühne, Nr. 28 / 1924
Das Blättchen publiziert als Form der produktiven Verneigung und des
Gedenkens in seiner Rubrik „Vor 90 Jahren“ Beiträge aus ihrer großen
Vorgängerin - der Weltbühne von Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky sowie
Carl von Ossietzky. Nicht in jedem Fall ist es der Redaktion dabei gelungen,
zweifelsfrei zu klären, ob an den Texten noch Urheberrechte bestehen, und
die Inhaber gegebenenfalls zu kontaktieren. Wo sich ein solches Defizit
offenbaren sollte, bitten wir darum, sich direkt an uns zu wenden.
Die Redaktion
DAS BLÄTTCHEN
Zweiwochenschrift für Politik – Kunst – Wirtschaft
Erscheinungsweise: online
Herausgeber: Wolfgang Sabath †, Heinz Jakubowski und der Freundeskreis des Blättchens
Redaktion: Margit van Ham, Wolfgang Brauer, Wolfgang Schwarz (V.i.S.d.P.)
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Redakteurin dieser Ausgabe: Margit van Ham, Redaktionsschluss: 14.03.2014
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