58-60 Implantations
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58-60 Implantations
GESELLSCHAFT Lebensstil Standing Implantations Was von einer auf Vielfalt ausgerichteten Natur vorgegeben ist, wird von der Spezies Mensch zunehmend als korrekturbedürftig empfunden, neuerdings auch Menschen, das heisst der eigene Körper. Schönheitschirurgen haben alle Skalpelle voll zu tun. Das kommt nicht immer gut heraus. Text: Walter Hess D as Stehende hat in der jüngsten Zeit an Bedeutung zugelegt. Gab es früher vor allem Stehpulte, Stehkragen, Stehlampen und Stehleitern, sind inzwischen die Stehpartys und vor allem die Standing Ovations hinzugekommen. Die Letzteren hängen mit dem Fortschreiten der Spassgesellschaft zusammen, die bei jeder Gelegenheit nicht endenwollend applaudieren muss, sich diesbezüglich höher entwickelte und beim Klatschen aufzustehen begann. Die diesbezüglich vorläufig letzte Entwicklungsstufe ist das Applaudieren mit den Händen über dem Kopf, stehend, versteht sich. Selbstverständlich kann nicht alles so einfach zum Stehen gebracht werden wie die Gesamtheit des menschlichen Körpers, zum Beispiel einzelne Bestandteile davon wie die weiblichen Brüste. Ihnen hat die Natur ja auch ganz andere Aufgaben zugewiesen; schon Säuglinge dürfen das erfahren und mütterliche Symbolik hautnah erleben. Von der Schwerkraft beeinflusste Hängebrüste und zu kleine Brüste gelten dennoch als unattraktiv und müssen deshalb künstlich stabilisiert werden; die gewünschte Vergrösserung kann gegebenenfalls im gleichen Reparaturvorgang erfolgen. Das verstorbene französische Brüs58 Natürlich | 8-2003 tewunder Lollo Ferrari (bürgerlich: Eve Valois, 1970 bis 2000) gab neue Grössenordnungen vor, den Dimensionen eines Fussballs entsprechend; 12 kg sollen ihre Silikonbrüste gewogen haben, als sie sich zusammen mit ihren «Silicon Girls» (wohl aus dem Silicon Valley) als Sängerin versuchte. Wenn dem so wäre, dass Männer beim Anblick von Ballonen parallel zu deren Grösse zunehmend in Ekstase geraten, so wären wohl Heissluftballone am Himmel ein unübertreffliches Stimulans. Allerdings ist mir dergleichen nicht bekannt. Silikonkultur Dennoch kam es zunehmend zu Vergrösserungen der Sinnbilder der Weiblichkeit, indem massgeschneiderte Kissen mit Silikongel oder anderen Substanzen eingepflanzt wurden; weltweit haben sich seit den 60erJahren Millionen von Frauen zu diesem Schritt entschlossen und im Zustand von Dämmerschlaf oder Intubationsnarkose die Operation über sich ergehen lassen, immer in der Hoffnung, dass der Körper auf Abstossreaktionen verzichtet. Zu ihnen gehören bekannte Grössen wie die Kanadierin Pamela Anderson, die via Playboy, TV und Film via USA Karriere machte. Angeb- lich hat sie den Kunststoff wieder entfernen lassen. Auch die Showgrösse und Exhibitionistin Ramona Drews, Ehefrau des deutschen Schlagerstars Jürgen Drews, und die US-Schauspielerin Demi Moore haben wie viele, viele andere dem Brustumfang etwas nachgeholfen und damit Vorbildfunktionen wahrgenommen. Peter Hollos, plastischer Chirurg in Stuttgart, zur Lage: «Manche kommen mit einem Bild von Madonna in die Klinik und wollen genau so aussehen.» Selbstredend geht es nicht allein um vermeintlich zu klein geratene, schlaffe Brüste. Viele Menschen leiden unter dem Gefühl, nicht der Inbegriff von vollkommener Schönheit zu sein. Ihnen erscheint zum Beispiel die Nase zu gross, die Lippen zu klein, die Haut zu runzelig, die Fettpolster deplatziert, die Haare fehlfarben, Zornesfalten und Tränensäcke als Gräuel usw. Wenn wir dekorative Hörner oder gar Geweihe hätten, würden wir diese nach landwirtschaftlichen Vorgaben ebenfalls demontieren. Schon bei Kindern werden die Zähne auf die allgemein gültige Norm eingestellt, weil ja schliesslich auch alle dasselbe essen. Abweichungen von Normmassen und -indizes, die von den Jurys der Misswettbewerbe inszeniert oder von Werbefotografen Lebensstil GESELLSCHAFT mit ihren Models vorgegeben werden, sind nicht mehr gern gesehen; das trifft auch auf das Massenverhalten und Einheitsdenken zu. Schon das US-amerikanische Erziehungssystem aus dem späten 19. Jahrhundert wurde in der Absicht entworfen, möglichst fügsame, gehorsame Konformisten heranzuziehen; inzwischen sind die Gleichmachungsmethoden noch verfeinert worden. Immerwährende Kindheit Zu den modernen Normen gehört die immerwährende Jugendlichkeit. Ist es in weiten Kreisen sehr gut gelungen, ein kindliches Denken lebenslang zu erhalten, so ist das hinsichtlich der körperlich sichtbaren Attribute des Alterungsprozesses allerdings enorm schwierig. Und im höheren Alter lässt man dann alle sichtbaren körperlichen Äusserungen beseitigen, die auf eben dieses aufmerksam machen. Zu solchen Zwecken ist ein gigantischer Schönheits- und Fitnessmarkt entstanden, auf dem Normalmenschen an Muster angepasst werden sollen, den gestylte Superexemplare vor allem im medialen Alltag (inkl. Werbung) vorgeben. Neben dem Skalpell existieren auch sanftere Methoden, etwa zur Entrunzelung: Antifaltencremen wurden zu AntiAging-Cremen. Ganz Mutige lassen sich das faltenlösende Nervengift Botulinumtoxin gegen Krähenfüsse und Zornesfalten unter die Haut spritzen1. Schöne Menschen ohne Falten rechnen damit, leichter einen schönen Partner zu finden, vielleicht auch bloss einen verschönerten. In dieser faltenlosen, eingeebneten Welt geht es nicht allein um Schönheitschirurgie, sondern um aktive und defini- Vollbusig, volllippig, faltenlos: Wie die Barbie-Puppen so verkörpern auch die Aushängeschilder der globalisierten Spassgesellschaft normierte Schönheitsvorstellungen. tive Körpergestaltung, ausgerichtet auf den Wunsch, den im Moment gerade gültigen Schönheitsidealen zu genügen. Die Schönheit ist zum Konsumgut geworden, von der Botox-Faltenunterspritzung bis zum Fettabsaugen. Das Aushängeschild, auf dem das gesamte diesbezügliche Kunstschaffen zusammengefasst ist, heisst Michael Jackson, Superstar. Dieses Pop-Idol verfügt über eine Haut wie altes Pergament, eine vernarbte Stupsnase; es ist zu einer Puppe, zum Denkmal für die Gruselabteilung des Wachsfigurenkabinetts erstarrt. Ähnliche Beispiele, wenn auch in abgeschwächter Form, trifft man häufig. Bekannte, die kaum noch zu erkennen sind, Produkte des Körper-Designs, wie Angehörige unbekannter, noch nie gesehener Stämme, deren Köperteile unterschiedliche Alterungsprozesse – vorwärts und rückwärts – mitgemacht zu haben scheinen. Man weiss jeweils nicht, was man sagen soll: «Du siehst gut aus, so jung…» Und das tönt dann halt doch nicht glaubwürdig genug. Ihr wahrgenommenes Recht, die eigene Form bis hin zur operativen Geschlechtsumwandlung zu bestimmen, hat viel die grössere Tragweite als bloss die Kleiderwahl oder das Färben von Haaren. Denn ein menschliches Gesicht wird von mehr als 50 Muskeln bewegt; sie alle können an der Miene beteiligt sein. Wird die Gesichtshaut gestrafft und können diese Gesichtsmuskeln nicht mehr richtig spielen, ergeben sich jene Verzerrungen, die Entstellungen gleichkommen; auch ein Lächeln erstarrt zu einem mumienhaften Ausdruck; das Gesicht wirkt statisch. Manchmal führen schon Bruchteile von Millimetern zu wahrnehmbaren Veränderungen des Gesichtsausdrucks. Und für die biometrische Gesichtserkennung aus Sicherheitsgründen wird die Sache auch nicht einfacher… Foto: René Berner Beschneidungsrituale Die plastische Chirurgie hat eine wichtige Funktion für Menschen, die unter Entstellungen leiden, manchmal auch infolge von Unfällen. Es werden beachtliche Leistungen vollbracht. Aber trotz aller Eide auf ethische Grundsätze ist die Chirurgiesparte über das Nötige zum Wünschbaren und darüber hinaus bis zum Unerwünschten vorgestossen, das oft genug irreparable Folgen zeitigt. Irreparable Veränderungen haben Tücken: Sie können das WohlbefinNatürlich | 8-2003 59 GESELLSCHAFT Lebensstil den beeinträchtigen, Schäden verursachen und in späteren Lebensphasen zur Hypothek werden, was auch für Tätowierungen gilt; damit wird meistens Gruppenzugehörigkeit markiert. Die genitale Schönheitschirurgie ist der letzte Schrei – er kommt selbstverständlich aus den USA: Da geht es um formvollendete Schamlippen durch labiaplastische Korrektoren (Labia = Lippe), mittels Laserverjüngung gestraffte Vaginen, Fettabsaugen zur Verkleinerung des Schamhügels usf. Die Verstümmelung von Genitalien wie die Beschneidung als Initiationsritual in traditionsbewussten afrikanischen Stämmen erachten wir Zivilisierten als verwerfliches Tun. Aber chirurgische Initiationsund Beschneidungsrituale ähnlicher Art werden bei uns nicht nur hingenommen, sondern aus freien Stücken veranlasst, ohne Rücksicht auf Kosten und Folgen; die Initiation bedeutet bei uns weniger den Eintritt in eine neue Lebensphase als vielmehr die Rückkehr in eine vorangegangene, wobei soziale Normen hier bei uns wie dort in Afrika ihre Rolle spielen. Überall sucht man nach eigener Identität, aber merkwürdigerweise unterwirft man sich dabei den vorherrschenden Trends, die im Moment zufällig gerade jung, schlank und schön lauten. Der eigene Körper wird nicht mehr in seiner Individualität akzeptiert und geschätzt, sondern er wird als gestaltbares Puzzle mit austauschbaren Bestandteilen betrachtet und in möglichst vollendeter Weise zur Schau gestellt. Der einzelne Mensch, so wie er von der Natur geschaffen worden ist, gilt nur noch als so etwas wie eine unfertige Knetmasse, die zuerst einmal nach den gültigen Massen und Formen modelliert werden muss. Was machbar ist, wird gemacht. Es ist ähnlich wie bei Geburt, Pubertät, Wechseljahren und Alter, die nicht mehr als normale Lebensäusserungen, sondern als Krankheiten erlebt und andauernd behandelt werden. Der Mensch hat sich immer als Schöpfer empfunden. Seit je wollte er die Natur übertrumpfen. Deshalb liegen ausreichende Erfahrungen vor: Viele Naturwerte sind unwiederbringlich zerstört, Landschaften definitiv verwüstet, Wälder in Plantagen umgeformt, Gewässer geglättet und ihres Zaubers beraubt. Selbst die naturgewachsenen Lebensmittel werden zu Industrienahrung herabgestuft. Es gibt Leute, die auf künstlerischem und technischem Gebiet Grossartiges schaffen. Aber selbst sie ver60 Natürlich | 8-2003 mögen die Natur nicht zu übertreffen. Und wieso soll es bei der Körpergestaltungsmanie anders sein? Die vorliegenden Resultate sind nicht eben ermutigend. Schönheit des Alters Eine Unregelmässigkeit kann ein Gesicht wunderbar prägen. Ein leichtes Schielen kann liebreizend wirken, zu einer unwahrscheinlichen Ausstrahlung verhelfen. Sommersprossen, Muttermale, Altersflecken und andere Dekorationen der Haut sind ein Bestandteil der betreffenden Person. Eigenarten müssten eher gepflegt und betont statt beseitigt werden. Wie wohltuend wäre es, wenn sich ein molliges Naturmädchen ohne Schminke und Styling unter die genormten Kandidatinnen eines Schönheitswettbewerbes, die kaum voneinander zu unterscheiden sind, mischen würde. Würde es das Reglement zulassen, der 1. Preis aus dem Publikum wäre ihm gewiss. Die Verirrungen und Verwirrungen gehen auf merkwürdige Wertvorstellungen zurück: Wieso denn soll ein junger Mensch attraktiver als ein alter sein? Jeder Mensch ist oder war einmal jung, und jeder wird alt, wenn alles gut geht und sich das Silikon aus den Brüsten nicht im Körper verteilt… Wieso denn soll die Jugend höherwertig als das Alter sein? Wieso soll eine straffe oder gar gestraffte Haut attraktiver als eine gefurchte sein, in die sich die Ereignisse eines ganzen Lebens eingegraben haben? Buschige, strupplige Augenbrauhen, die älteren Männern wachsen, vermitteln den Eindruck von Durchblick. Graue Haare haben etwas Vornehmes an sich. Ich habe kürzlich eine alte, nach vorn gekrümmte und auf einen Stock gestützte Frau gesehen, eine Greisin mit allen Attributen. Sie ist nicht hässlich, keine Hexe, sondern offensichtlich eine gutmütige Persönlichkeit, die ihre Leiden erträgt und versucht, die ihr noch verbleibenden Tage zu meistern. Sie hat mich tief beeindruckt, zum Nachdenken über das Leben inspiriert, das zu diesen körperlichen Merkmalen geführt haben könnte. Die alte Frau hat nichts Lächerliches an sich, ist voller Würde. Sie ist wahr und echt. Peinliche Showeffekte Viele Veränderungen des Aussehens wie das Färben der Haare, das Formen der Augenbrauen, das Schminken usw. sind akzeptiert. Bei jungen Menschen waren das früher Signale von Rebellion, von Unangepasstheit, nach dem Beispiel der sympathischen Pop-Künstlerin Nina Hagen. Heute hat so etwas nichts mehr von Auflehnung an sich. Nur bei Menschen in verantwortungsvollen Positionen wie führenden Politikern können Showeffekte die Glaubwürdigkeit herabmindern, wobei bei Frauen die Toleranzschwelle wesentlich höher ist. Wie peinlich war es doch für den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder, als die Nachrichtenagentur DDP ein Interview mit der Imageberaterin Sabine Schwind von Egelstein verbreitete, er töne seine grauen Schläfen weg, und darunter leide neben der Glaubwürdigkeit auch die Überzeugungsfähigkeit. Worauf der CDUBundestagsabgeordnete Karl-Josef Laumann im Hohen Hause verkündete: «Ein Bundeskanzler, der sich die Haare färbt, frisiert auch die Statistik.» Der Wahlkampf 2002 gab ihm Recht. Tony Blair seinerseits lässt den «Mirror» vorsichtshalber gewähren, wenn das Blatt behauptet, das Haar des britischen Premierministers verändere sich von Grau zu Hellbraun und manchmal sogar Goldbraun. Bei Blair als US-Marionette fehlt die Kraft des Echten, Wahren. Wie würden wir es empfinden, wenn Michelangelo Buonarroti den Schöpfer an der Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan statt mit weissem mit einem gefärbten Bart dargestellt hätte? Arthur Schnitzler muss (im «Buch der Sprüche und Bedenken») die Zustände vorausgesehen haben: «Die Lebenslüge manchen Staates wie manchen Individuums: Dass sie den Bankrott noch erwarten, ja sogar sein Ausbleiben noch für möglich halten zu einer Zeit, da sie schon mitten darinnen stehen.» Hat die Kosmetik, die sanfte und die messerscharfe, etwas mit der Lüge des Lebens zu tun? Der Interpretationsspielraum ist riesig. Und wenn ja: Sind solche Lügen heute salonfähig? Jeder Mensch wird darauf seine persönliche Antwort finden müssen, wenn er sich im Spiegel betrachtet und sich so sieht, wie ihn andere sehen. ■ 1 Botulinumtoxin A ist ein Stoffwechselprodukt des Bakteriums Clostridium Botulinum. Viele Nerven- und Augenärzte verwenden dieses Nervengift zur Behandlung von Krankheiten, die durch eine Übererregbarkeit muskelsteuernder Nerven ausgelöst werden. Seit gut 10 Jahren hat sich Botulinumtoxin auch in der kosmetischen Medizin zur Behandlung mimischer Falten ohne Operation verbreitet. Die Substanz behindert die Reizübertragung von Nerven auf den Muskel. Die für die Falten verantwortlichen Muskeln werden geschwächt, die Falten der darüber liegenden Haut glätten sich.