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How to Become an MP: Die Rekrutierung von SFB Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch 580 Diskontinuität Tradition Strukturbildung deutschen und russischen Parlamentariern im Vergleich Elena Semenova SFB 580 Mitteilungen 2008 28 28 SFB 580 Mitteilung Heft 28, September 2008 Sonderforschungsbereich 580 How to Become an MP: Die Rekrutierung von deutschen und russischen Parlamentariern im Vergleich Sprecher: Prof. Dr. Everhard Holtmann Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Politikwissenschaft Emil-Abderhalden-Str. 7 06108 Halle (Saale) Tel: +49 (0) 345/ 5524211 Email: everhard.holtmann@politik.uni-halle.de Verantwortlich für dieses Heft: Elena Semenova Friedrich-Schiller-Universität Jena SFB 580, 07743 Jena Tel.: +49 (0) 3641/ 945046 Email: Elena.Semenova@uni-jena.de Logo: Elisabeth Blum; Peter Neitzke (Zürich) Cover & Satz: Romana Lutzack Druck: Universität Jena ISSN: 1619-6171 Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“ entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt. Alle Rechte vorbehalten. SFB Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch How to Become an MP: Die Rekrutierung von deutschen und russischen P arlamentariern im Vergleich 580 Diskontinuität Tradition Strukturbildung Mittelwertzentrierung Inhaltsverzeichnis Kapitel Einleitung ...........6 Die institutionellen Bedingungen (Wahlrecht, Parteiensystem, rechtliche Stellung der Abgeordneten) ..........10 Soziodemografische Merkmale der Abgeordneten ..........24 1 2 Seite 4 3 Lehrer und Juristen – Manager und Militär: Die Berufe der Abgeordneten ..........38 Inhaltsverzeichnis Rademacher 4 Kapitel Partei versus Patronage? Zu den politischen Erfahrungen und Vorpositionen der Parlamentarier ..........50 Politische Erfahrung ..........50 Erfahrung und Vorpositionen im sozialistischen System ..........60 4.1 4.2 Fazit: Warum russische Abgeordnete anders als deutsche sind – und anders bleiben werden ..........68 Literaturverzeichnis ..........74 Autorinnen und Autoren Angaben zur Autorin ..........84 Seite 5 Einleitung D Einleitung Seite 6 er Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und der DDR ermöglichte nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern leitete auch einen einzigartigen Modernisierungsprozess ein, der als soziales Experiment bezeichnet wurde (vgl. Levada 1993). Im Laufe dieses Experimentes wurden Umgestaltungen institutioneller Rahmenbedingungen durch eine rasche Elitenzirkulation ergänzt. Einerseits schuf der Systemwechsel in beiden Ländern eine erhebliche Zahl von neuen Positionen innerhalb aller Elitensektoren, andererseits waren viele Positionen alters-, politisch- oder wirtschaftsbedingt vakant. Sowohl Ostdeutschland als auch die Russländische Föderation sind den Weg einer repräsentativen Demokratie gegangen, weshalb in beiden Ländern die repräsentativen Eliten eine wichtige Bedeutung einnahmen. Einerseits übernahmen sie die Gesetzgebungsfunktion, steuerten Wandlungsprozesse, nahmen Teil an der Regierungsbildung (in Deutschland) sowie an der Rekrutierung politischen Personals. Andererseits sind sie gemäß den Prinzipien der repräsentativen Demokratie auf Wahlerfolge angewiesen, das wiederum einen Rückkoppelungseffekt hat und eine Responsivität der Wählerschaft gegenüber fördert. Beide Länder sind durch spezifische Transformationsprozesse gekennzeichnet. Während Ostdeutschland die politische, soziale sowie wirtschaftliche Ordnung von den alten Ländern übernommen hat, ist in Russland eine Mischung aus den amerikanischen und manchen europäischen Verfassungsnormen vorzufinden. Sowohl die Umsetzung dieser Normen als auch die Grundwerte der politischen Kultur sind zum Teil mit denen aus sowjetischer Zeit identisch geblieben. Außerdem wurde die Ent- Semenova wicklung des Parlamentarismus in Russland durch die Beziehung zur Exekutive beeinflusst, die sich nach dem Umbruch der Sowjetunion in die Richtung eines Superpräsidentialismus entwickelte. Als ein Resultat dieser komplizierten Wechselwirkung hat sich das Parlament vom „negativen Parlamentarismus“ zur „Abstimmungsmaschine“ gewandelt. Demokratie, die für die ostdeutsche Transformation günstige Rahmenbedingungen bietet. Russland hingegen kann als eine defekte Demokratie (O‘Donnell 1994; Merkel et all 2003; dies. 2006) oder als ein semi-autoritäres Regime im Wandel betrachtet werden. Diese Unterschiede lassen die Herausbildung unterschiedlicher Abgeordnetentypen erwarten. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die für die Publikation leitende Forschungsfrage nach den Unterschieden zwischen deutschen und russischen Repräsentationseliten. Dafür sollen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und russischen Abgeordneten systematisch analysiert und erklärt werden bezüglich ihrer sozialen und beruflichen Herkunft, ihres politischen Karriereweges vom ersten politischen Amt bis zum Mandatserwerb sowie ihrer Affiliation mit dem alten Regime (DDR und Sowjetunion). Als Grundlage für die Analysen dienen Datensätze zu soziodemografischen Merkmalen sowie politischen und beruflichen Erfahrungen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages seit der Vereinigung und von Mitgliedern der Russischen Staatsduma seit der founding election 1993. Die Daten wurden im Rahmen des europäischen Forschungsnetzwerkes „European Political Elites: The Road to Convergence“ (EurElite) – unter Leitung der Professoren Heinrich Best (FriedrichSchiller-Universität Jena) und Maurizio Cotta (University of Siena) – von nationalen Experten gesammelt und kodiert. Die Erstellung des russischen Datensatzes erfolgte unter Leitung von Prof. Dr. Oxana Gaman-Golutvina. Die Anwendung der gleichen Methodologie und ein gemeinsames Codebuch ermöglichten den direkten Vergleich von parlamentarischen Rekrutierungsprozessen in beiden Staaten. Die Daten liegen auf der Aggregatebene für die Parlamente insgesamt sowie für die einzelnen Parteien bzw. Parteifamilien vor. Ihrem Gegenstand nach beschäftigt sich die Arbeit mit einer Subgruppe der politischen Eliten: den Mitgliedern der Nationalparlamente Deutschlands und Russlands (repräsentative Eliten). Zeitlich beschränkt sich die Analyse auf die Wahlperioden der Untersuchungsparlamente: von der 12. bis zur 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (1990 bis voraussichtlich 2009) und die fünf Legislaturperioden der Russischen Staatsduma (1993 bis 2007). Die Arbeit ist komparatistisch angelegt und verwendet das Untersuchungsdesign der most different cases (vgl. Berg-Schlosser / MüllerRommel 1992; Almond / Powell / Mundt 1996): Deutschland ist eine etablierte westliche Das vorliegende Heft ist in vier KapiSeite tel gegliedert. Im ersten Teil werden die institutionellen Rahmenbedingungen der beiden Länder analysiert, die die Rekrutierungsmöglichkeiten und den Zugang ins Parlament beeinflussen: Dazu gehören in erster Linie die jeweiligen Wahl- 7 Einleitung und Parteiensysteme, darüber hinaus aber auch die rechtliche Stellung der Parteien im politischen System und die Rollen von Abgeordneten im Parlament. Der zweite Teil ist der Analyse soziodemografischer Merkmale von Mandatsträgern gewidmet. Dabei werden neben den „klassischen“ sozialstrukturellen Variablen wie Alter, Bildung und Geschlecht auch die Studienfächer der Parlamentarier im Deutschen Bundestag und in der Russischen Staatsduma, ihre ethnische Herkunft sowie ihre religiöse Zugehörigkeit untersucht. Der berufliche Hintergrund der Mandatsträger vor dem Einzug ins Parlament ist Gegenstand des dritten Teils der Arbeit. Das abschließende Kapitel widmet sich den politischen Erfahrungen der Abgeordneten vor ihrem Einzug in das jeweilige Nationalparlament. In diesem Zusammenhang wird auch die Affiliation der Repräsentanten mit den alten sozialistischen Regimen (DDR und Sowjetunion) in den Blick genommen. Seite 8 Semenova Seite 9 Institutionelle Bedingungen 1 Die institutionellen Bedingungen (Wahlrecht, Parteiensystem, rechtliche Stellung der Abgeordneten) D ie demokratische Legitimation der Russischen Staatsduma sowie des Deutschen Bundestages ergibt sich aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, geheimen und gleichen Wahlen. Dies wird durch das Föderale Abgeordnetenwahlgesetz N 51FG Russlands vom 18. Mai 2005 und durch Art. 38 GG der Bundesrepublik Deutschland belegt. Den Wahltermin legt – unter Berücksichtigung der in Art. 39 Abs.1 GG und Art. 6 Abs.2 der 51-FG festgelegten Fristen – der Bundespräsident oder im Falle Russlands der Präsident fest. Die Dauer einer Legislatur in Russland sowie in Deutschland beträgt gesetzlich vorgeschrieben vier Jahre. Die Parlamentarierzahl in beiden Ländern ist unterschiedlich: In der Bundesrepublik besteht das Parlament seit 2002 aus 598 Abgeordneten (vor der Wahlrechtsreform 2002 waren es mindestens 656 Abgeordnete) (Patzelt 2005:167), während es sich in Russland aus 450 Parlamentariern zusammensetzt. Wahlrecht - Das fundamentale Element der repräsentativen Demokratie (Lejphart) und „The most specif ic manipulative instrument of politics“ (Sartori) Seite 10 Das WG §1 schreibt vor, dass der Deutsche Bundestag durch eine personalisierte Verhältniswahl gewählt wird (Blais / Massicotte 1996:54; Rose 2000). Das Wahlsystem Deutschlands hat seit 1949 einen Wandel vollzogen. Nach der Wiedervereinigung bestanden zunächst 328 Wahlkreise, seit der 15. Legislaturperiode wurden sie auf 299 reduziert (Nohlen 2007:327). Die Wähler verfügen seit der Modifizierung des Wahlgesetzes von 1953 über zwei Stimmen. Die erste Stimme ist für Semenova die Direktkandidaten in Ein-Mandatwahlkreisen nach dem relativen Mehrheitsprinzip vorbehalten. Mit der Zweitstimme wird die Landesliste einer Partei gewählt, wobei die Stimmenverrechnung nach dem Modus der Verhältniswahl erfolgt. Die Berechnung der Mandatszahlen pro Partei erfolgt jedoch auf der Basis des Zweitstimmenanteils. Bei der Mandatsverteilung muss eine Partei mindestens fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinen oder drei Direktmandate erringen. Das Wahlgesetz (Lange 1975:395ff.) wurde 1953 und 1956 verändert. 1953 wurde das Verhältnis zwischen Direkt- und Listenmandaten von 60/ 40 auf 50/ 50 geändert, ebenso wie die Stimmenzahl (bis 1953 gab es nur eine Stimme) und das Gebiet für die FünfProzent-Hürdeanwendung (von Landes- auf Bundesebene). Laut Gesetz von 1956 wurde auch die erforderliche Zahl der Direktmandate von eins auf drei erhöht. Für die Stimmenverrechnung wurde das Höchstzahlverfahren in Form der d`Hondt-Methode bis 1983 genutzt. Danach wurde es durch das System mathematischer Proportion von Hare/ Niemeyer ersetzt (Schmidt 2007:48). Die Besonderheit des deutschen Wahlrechts sind Überhangmandate, die aus Proportional- und Mehrheitswahlprinzipien resultieren, genauer gesagt aus der Stimmensplittung innerhalb eines Landes und den Relationen zwischen den Bundesländern (Grotz 2000; Behnke 2003; Nohlen 2007:346ff.). Das Wahlsystem Russlands ist eine Mischung aus proportionalem und pluralistischem System (Blais / Massicotte 1996:54) und wurde auch segmentiertes Wahlsystem bzw. Grabensystem (Nohlen / Grotz / Krennerich / Thibaut 2000:354ff., Moser 1997) genannt. Das kombinierte Wahlsystem ist in Osteuropa relativ verbreitet (vgl. Tiemann 2006), aber im Falle Russlands erweist es sich als besonders interessant für die Wahlforschung, da sich hier manche Annahmen über die Mehrheits- und Verhältniswahlrechteffekte (Duverger 1959; Blais / Massicotte 1996:69fff.) nicht bestätigt haben (Nohlen 2007:372). Dieses Spezifikum des Wahlsystems macht Russland zu einem interessanten Untersuchungsobjekt (Moser 1997, Ostrow 2000:100). Laut der Verfassung von 1993 besteht die Staatsduma der Russländischen Föderation aus 450 Abgeordneten, die auf der Basis von Individualverhalten und Parteiliste gewählt werden (Art. 96). Dabei wird die eine Hälfte der 450 Abgeordneten in Ein-MandatsWahlkreisen auf pluralistischer Basis und Ein-Mandats-Repräsentationsnorm gewählt (dies resultiert aus der Teilung der wahlberechtigten Bevölkerung Russlands und der Zahl der Ein-Mandats-Wahlkreise) und die andere Hälfte auf Basis der proportionalen Repräsentation mit der Fünf-Prozent-Hürde innerhalb des Landes (Ostrow 2000:100). Für Ein-Mandats-Wahlkreise gilt als zusätzliche Bedingung, dass in den Wahlen mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen müssen (FG AW 1999, Art.3). Die Parteiliste in Russland hat einen föderalen (maximal 18 Plätze) und Seite regionalen Teil. Im Letztgenannten soll die Partei Kandidaten regionaler Gruppen zuordnen, wobei das Prinzip der Bildung einer Regionalgruppe von der Partei selbst definiert wird. Wichtig ist es allerdings, sich an der Grenze des Territorial- 11 Institutionelle Bedingungen subjekts zu orientieren. Im Gewinnfall werden die Mandate einer Partei zuerst an Kandidaten aus dem föderalen Listenabschnitt vergeben, die verbleibenden Mandate werden nach dem d`Hondt-Verfahren an die Regionalkandidaten verteilt, in deren Region die Partei den höchsten Gesamtstimmenanteil bekommen hat. In Russland existiert – im Gegensatz zum deutschen Wahlsystem – kein Mechanismus der Überhangmandate. Als Resultat sind die beiden Wahlebenen voneinander unabhängig, da beide Systeme unabhängig voneinander kalkuliert wurden und keinen Einfluss aufeinander und auf die Verteilung der Plätze im Parlament nach dem jeweiligen Wahlprinzip hatten (Nohlen 2007). Wird die Entwicklung des Wahlsystems Russlands im Allgemeinen betrachtet, so hat es einen Wandel vom Graben- zum Verhältniswahlsystem erfahren ( Jasin 2005:136f.). Mit der Verabschiedung des neuen Abgeordnetenwahlgesetzes von 2005 wurden Ein-MandatsWahlkreise abgeschafft. Seitdem werden die Parlamentarier in einem föderalen Wahlkreis per Parteiliste gewählt und statt einer FünfProzent-Hürde wurde eine Sieben-ProzentKlausel eingeführt. Parteiensystem Seite Die Entstehung des Parteiensystems hängt von vielen unterschiedlichen 12 Faktoren ab: von sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten sowie geschichtlich-kulturellen Rahmenbedienungen (Lipset / Rokkan 1967); vom Wahlsystem (Duverger 1959, 1984); vom Fragmentierungs- und Polarisierungsgrad der Parteien im Staat (Sartori 1966; neue Typologie in Sartori 1970); vom Wettbewerb- und Nichtwettbewerbsystem sowie von Orientierungs- und Verhaltensmustern der Parteien (La Palombara / Weiner 1966) und vom Institutionalisierungsgrad des Parteiensystems (Bendel 1996). Rechtliche Stellung der Parteien Die rechtliche Stellung der Parteien in Deutschland ist durch Art. 21 GG, das Parteiengesetz von 1967 und Urteile des Bundesverfassungsgerichtes abgesichert. Den Parteien kommt nach Art.21 GG eine Mittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft zu. Der gleiche Verfassungsartikel sichert den demokratischen Charakter der Parteien sowie die Nicht-Etablierung des Parteienstaates. Demgegenüber figurieren in der russischen Verfassung keine Parteien, sondern es wird ein Mehrparteiensystem postuliert. Bis 2001 wurden Tätigkeit und Funktionsspezifika der Parteien durch das Föderalgesetz über Wahlen und gesellschaftliche Vereinigungen von 1995 (FG WG 1995) reglementiert. Selbiges betrachtet Parteien in der Reihe von gesellschaftlichen Vereinigungen und definiert sie als „politische gesellschaftliche Vereinigungen“. Daher war normativ nicht genau festgesetzt (Luchterhand / Luchterhand 1994), was die Regulierung der Parteientätigkeit und der Beziehungen zwischen parlamentarischer Mehrheit und Opposition im Parlament, die Fraktionsarbeit, die Teilnahme der Parteien in der Regierungspolitik und den imperativen Mandat anbelangt. Erst 2001, nach der Wahl Putins zum Präsidenten, wurde ein neues Parteiengesetz von der Semenova Staatsduma verabschiedet und zeitnah (innerhalb von acht Tagen) vom Föderationsrat angenommen. Das Gesetz von 2001 unterschied sich von dem aus dem Jahre 1995 folgendermaßen: Erstens sind laut des Gesetzes von 2001 ausschließlich die Parteien die Wahlrechtssubjekte auf der föderalen Ebene und nicht die Wählervereinigungen, -blocks und -gruppen. Zweitens müssen die Parteien sich als föderale Parteien etablieren: Diesbezüglich liefert Artikel 3 des Gesetzes von 2001 die genaue Beschreibung des Parteienaufbaus: Eine Partei soll mit den Regionalgruppen in mehr als der Hälfte der Föderationssubjekte vertreten sein und insgesamt mindestens 10.000 Mitglieder haben. Dabei sollen die Regionalgruppen bei der Hälfte der Föderationssubjekte mindestens 100, in allen anderen mindestens 50 Mitglieder haben. Drittens ist die Parteiengründung nicht nur auf der religiösen, ethnischen oder rassischen, wie laut des Gesetzes von 1995, sondern auch auf der professionellen Basis untersagt (FG PP 2001, Art. 9). Im deutschen Parteiengesetz von 1967 waren die Finanzierungsregelungen formuliert (von Beyme 2002:50), welche eine jährliche Quellenangabe der Partei über die Herkunft ihrer Mittel sowie eine pauschale Erstattung der Wahlkampfkosten einführten. Seit 1993 gilt eine neue Regelung der öffentlichen Parteienfinanzierung. Anspruch auf staatliche Finanzierung gemäß neuen Regelungen haben Parteien, die nach dem Wahlergebnis der jeweils letzten Europa- oder Bundestagswahl mindestens 0,5 Prozent oder einer Landtagswahl ein Prozent der gültigen Stimmen erreichten, die für die Parteilisten abgegeben wurden (GPP §18). Die wichtigsten Neuerungen der Parteifinanzierungsregelungen bestehen darin, dass eine „absolute Obergrenze“ für den Gesamtumfang der direkten staatlichen Zuschüsse an die Parteien (sie beträgt heutzutage 133 Mio. Euro) sowie eine Bindung der staatlichen Zuschüsse nicht nur wie einst an die Wählerzahl, sondern auch an die Spenden- und Beitragseinnahmen der Parteien aufgenommen wurden. In die gesetzlichen Regelungen Russlands wurde das Thema der staatlichen Parteienfinanzierung erst mit dem Parteiengesetz von 2001 aufgenommen. Dabei ist die Voraussetzung für die Zuwendungen aus den öffentlichen Mitteln für Parteien, dass eine Partei mindestens drei Prozent der für die Parteilisten abgegebenen Stimmen als auch der Präsidentenkandidat von dieser Partei mindestens drei Prozent der Stimmen der Wahlbeteiligten erhalten hat und dass diese Partei mindestens 12 Direktkandidaten ins Parlament entsendet (FG PP 2001:Art.33). In der deutschen Praxis werden primär die Parteien gewählt und seltener einzelne Abgeordnete. Augenscheinlich wird dies an den geringen Unterschieden zwischen Erst- und Zweitstimmen bei den Bundestagswahlen, die zudem als Koalitionspräferenzen betrachtet werden können. Hinzu kommt ein überwiegend „sachplebiszitäres“ Wahlverständnis, das seit den 1950er Jahren auf der Theorie eines begrenzten Mandates vom Parlament basiert (Rudzio 2006:95). Außerdem sind die Parteien in Deutschland die Seite wichtigsten Selektoren politischer Karrieren, wobei zuerst eine innerparteiliche Tätigkeit ausgeübt werden muss, bevor ein politisches Amt erreicht werden kann (Rudzio 2006:96). 13 Institutionelle Bedingungen Parteien in der Staatsduma der Russländschen Föderation Seite Die Entwicklung der Parteien in Russland ist nicht mit der westlichen Parteienentwicklung zu vergleichen (Lijphart 1977). Sowohl der Zerfall der Sowjetunion als auch demokratische Transformationsprozesse in Russland begünstigten die Herausbildung eines Mehrparteiensystems. Von einem stabilen Parteiensystem kann in Russland jedoch nicht die Rede sein (Luchterhand 2000, Nikonov 2004). Die Instabilität der Parteienlandschaft Russlands (Urban / Gelman 1997) wurde durch folgende Faktoren begünstigt: ein superpräsidiales System und als dessen Folge die starke Abhängigkeit der politischen Willensbildung von der Person des Präsidenten (Golosov 1999); die mangelnde verfassungsrechtliche Basis der Parteienfunktionierung (Luchterhand / Luchterhand 1994); der komplizierte Staatsbau mit verschiedenartigen regionalen politischen Regimes und daher unterschiedliche Etappen der Parteienbildung im Zentrum und in den Regionen (Gelman / Ryzenkov / Bri 2000); schwache Sozialstruktur und entsprechend schemenhafte Artikulation der Gruppeninteressen ( Jasin 2005:Kap.8). Das Design des Parlaments und das Wahlsystem sind als Erklärungsfaktoren zu betrachten, da sie die parteipolitische Fragmentierung fördern (Ostrow 2000:102). Obwohl dies in postkommunistischen Staaten nicht selten ist, zeigt sich in Russland ein zugespitzter 14 Charakter (Hough 1998). Der Staatsbau Russlands produzierte viele Föderalismusprobleme: Bis 2001 sah das Parteienspektrum in den Regionen unterschiedlich aus, weil nicht nur Parlaments- parteien, sondern auch regionale Parteien und Bewegungen eine große Rolle gespielt haben (Nikonov 2004:52ff.). Der Regionalisierung der politischen Prozesse folgte die vertikale Fragmentierung des Parteiensystems (Michaleva 2002:68). In den ersten (1993) und zweiten (1995) Staatsdumawahlen der Russländischen Föderation kandidierten auf der Föderalebene jeweils 13 bzw. 43 Wählervereinigungen und -blöcke. Die wachsende Zahl der beteiligten Parteien und Wählervereinigungen zwischen erster und zweiter Dumawahl trug keinen qualitativen Charakter (Michaleva 2000). In der ersten Dumawahl konnten 8 von 13 Wählervereinigungen die Fünf-Prozent-Klausel überwinden (Ostrow 2000:102) und in der zweiten nur 4, die einen parteipolitischen Charakter hatten, wobei 3 davon in der ersten Duma vertreten waren: die Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR), die Kommunistische Partei Russländischer Föderation (KPRF) und die JABLoko (Rose / Tichomirov / Mishler 1997:799ff.). Von den Abgeordneten, die Direktmandate erworben haben, waren sowohl 1993 als auch 1995 die meisten nicht parteigebunden (vgl. Michaleva 2003). Neben den Parlamentariern, die explizit als Unabhängige kandidiert und ihre Mandate erworben haben, gab es in der ersten Duma 11 Abgeordnete, deren Parteien oder Wählervereinigungen bei der Fünf-Prozenthürde gescheitert sind. In der zweiten Duma waren das schon 23 Parlamentarier, wobei 12 Wählervereinigungen im Parlament nur durch einen direkt gewählten Kandidat repräsentiert wurden (Michaleva-Luchterhandt 2003:207). Semenova Die Opposition war in der ersten und zweiten Legislaturperiode vergleichsweise gut organisiert. In der zweiten Staatsduma verfügten die Kommunisten und ihre Verbündeten von der Agrarpartei Russlands sowie der „Volksmacht“ nahezu über die absolute Stimmenmehrheit und waren die größte Fraktion im Parlament. Daher war die Verabschiedung von Föderalgesetzen für den Präsidenten keine leichte Aufgabe. Außerdem waren die Kommunisten und ihnen nahestehende Abgeordnetengruppen durch eine große Fraktionsdisziplin gekennzeichnet, welche die Gruppen mit demokratischer Gesinnung nicht demonstrierten (Michaleva-Luchterhandt 2003:208). An den Wahlen zur dritten Duma haben 26 Wählervereinigungen teilgenommen, von denen acht die Fünf-Prozent-Hürde überwanden. Darunter waren die neugegründeten Parteien „Vaterland - Das ganze Russland“ - auch als Gouverneursblock bezeichnet -, „Union der Rechten Kräfte“ (SPS) und „Einheit/ Der Bär“. Ein wichtiges Merkmal der Dumawahl von 1999 war die Einteilung des politischen Spektrums nach Links und Rechts. Ebenso wie bei den Wahlen von 1993 und 1995 entsprach dies einer Konfliktlinie von Regierungsnähe oder -ferne (Michaleva-Luchterhandt 2003:212). Insbesondere spielte dabei die Position der Partei zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie zu Patriotismus- und Staatlichkeitswerten eine große Rolle. Die Staatsduma der dritten Legislaturperiode war präsidentenfreundlicher im Vergleich zur zweiten. Allem voran haben die Kommunisten in der dritten Duma ihre Hauptstellung nicht gehalten, weil sie fast die Hälfte ihrer Plätze verloren haben und eine Blockade von Präsi- denten- und Regierungsgesetzentwürfen auch mit der Unterstützung der Agrarpartei und der Gruppe „Volksdeputierte“ kaum möglich war. Unter diesen Umständen änderte die Fraktion schnell ihre Strategie und ging eine Koalition mit der Pro-Präsidentenpartei „Einheit/ Der Bär“ sowie der Gruppe „Volksdeputierte“ ein gegen den Gouverneursblock „Vaterland – Das ganze Russland“, die SPS sowie JABLoko. Die Kommunistische Partei unterstützte fast alle Gesetzesentwürfe der Regierung, im Gegenzug konnte der kommunistische Dumapräsident G. Seleznew sein Amt behalten. Die anderen Fraktionen, welche an dieser Koalition nicht teilgenommen haben, boykottierten die Dumasitzungen für mehrere Wochen und bekamen letztendlich die Möglichkeit, jeweils einen Ausschussvorsitzenden zu benennen. So wurden B. Nemzow (SPS) und V. Lukin ( JABLoko) als Stellvertreter des Dumavorsitzenden gewählt. Allerdings hatte der Präsident in der Duma von 1999 wenig Schwierigkeiten mit der Verabschiedung von Gesetzen: So wurden solche für die Entwicklung des modernen Russlands grundlegenden Gesetze angenommen wie z. B. der Grundund-Boden-Kodex und das Parteiengesetz. Außerdem wurde eine grundlegende föderale Reform durchgeführt, die die Spielräume der Gouverneure deutlich einschränkt (Michaleva 2000:88). Die vierten Wahlen der Staatsduma von 2003 waren stark von der VerabSeite schiedung des neuen Parteiengesetzes von 2001 geprägt, das die Parteienlandschaft Russlands sichtbar veränderte. Auf dessen Grundlage wurden existierende Parteien teilweise zur Umstrukturierung und Konsolidierung oder sogar 15 Institutionelle Bedingungen Seite zum Rückzug aus dem politischen Leben gezwungen. An den Wahlen der vierten Duma haben 23 Wählervereinigungen teilgenommen, von denen vier die Fünf-Prozent-Hürde überwanden (die Einheitspartei Russlands – die umstrukturierte Partei „Einheit / der Bär“, die Rodina, die LDPR und die KPRF). profitierten, z. B. von längeren Sendezeiten im Fernsehen (Mommsen 2004:191). Das folgende Ergebnis war daher nicht besonders überraschend: Die absolute Mehrheit im Parlament hatte die Machtpartei „Einheitspartei Russlands“ erworben. Weitere Resultate waren: eine Halbierung der Stärke der Kommunistischen Partei in der Listenwahl, eine vollkommene Niederlage der liberalen Parteien sowohl rechter als auch linker Gesinnung (die JABLoko, die SPS) sowie der Erfolg von politisch-populistischen Projekten wie der Partei „Rodina“ („Heimat“) und „Veteranen“ von der LDPR (Makarenko 2004:227). Die Besonderheit der Dumawahl von 1999 war die Konkurrenz zwischen einer alten und zwei neuen Parteien der Macht (Mommsen 2004:193). Während die Partei „Unser Haus – Russland“ ihr politisches Gewicht sowie den Zugriff auf „administrative“ Ressourcen verloren hatte, war die Partei „Vaterland – Das ganze Russland“ erfolgreicher. Das wichtigste Ereignis von 1999 war die Bildung des ProPutin-Blocks „Einheit/ Der Bär“ als neue Variante einer „Machtpartei“ und Alternative zum Pro-Gouverneurs-Block „Vaterland - Das ganze Russland“. Wie in allen Transformationsländern strebt die Macht nach einer „administrativen“ Parteigründung, die nicht die Interessen einer Gesellschaftsgruppe vertritt, sondern denen der herrschenden Elite dient. Dieses Bestreben hat sich beständig in jedem Wahlzyklus auf Staats- und Landesebene wiederholt (Michaleva-Luchterhandt 2003:201, Mommsen 2003:57f.). In der ersten Duma trugen die Parteien „Demokratische Wahl Russlands“ und „Partei der Russländischen Einheit und Eintracht“ einen machtloyalen Charakter. Beide konnten die Fünf-Prozent16 Hürde bereits bei der zweiten Dumawahl nicht mehr überwinden. Die Bezeichnung „Partei der Macht“ oder „administrative“ Partei haben sie bekommen, weil diese beiden Parteien in der Wahlkampagne von 1993 quasi als „Regierungsparteien“ In der zweiten Duma ging als vierte Siegvereinigung die neugegründete Machtpartei „Unser Haus – Russland“ hervor, die als „rechtszentriert“ positioniert wurde. Der Gewinn von der „Einheit/ Der Bär“ bei den Wahlen von 1999 erbrachte den Beweis, dass die Strategie der Parteienbildung nach dem „administrativen“ Prinzip rationell sei (Golosow / Lichtenstejn 2001:8f.). Deswegen wurden die zwei „administrativen“ Parteien „Einheit“ und „Vaterland“ vor der Wahl von 2003 trotz unterschiedlicher Ansichten über eine gemeinsame Parteienstruktur zur Fusion gezwungen. Gleichzeitig zerfiel das Bündnis „Das ganze Russland“ (Makarenko 2002:106). Besonderes Merkmal der Konstituierung von Machtparteien war die Bildung einiger „administrativer“ Parteien in unterschiedlichen Teilen des politischen Spektrums (Mommsen 2004:190ff.). Vor der Wahl 1995 wurden zwei Machtparteien gegründet – die Mitte-RechtsPartei „Unser Haus – Russland“ und die Semenova Mitte-Links-Partei „Harmonie“, wobei nur die erstgenannte in der zweiten Duma vertreten war. Das zweite Projekt scheiterte vollkommen. Als Beispiel der Dumawahl von 2003 ist die Neugründung der Demokratischen Partei Russlands unter der putintreuen Leitung als Alternative zu den liberalen JABLoko und SPS zu benennen, während für linksorientierte Wähler eine andere ebenfalls Pro-Putin-Partei namens „Volkspartei Russlands“ gegründet wurde. Generell folgt aus der Dominanz der „Pro-Präsidentenparteien“ in der politischen Landschaft Russlands eine allgemeine Schwächung der politischen Konkurrenz und Begrenzung der Artikulationsfunktionen derjenigen Parteien mit der „richtigen“ Programmatik (Michaleva 2000:93). Parteiensystem Deutschlands Die Entwicklung des Parteiensystems in Deutschland hat mehr Zeit in Anspruch genommen als das in Russland (von Alemann 2000; Fenske 1994; Rohe 2002). Außerdem hat es viele Brüche erlebt, die in seiner Struktur beträchtliche Spuren hinterlassen haben, wenn die gesamte Entwicklungsperiode seit dem 19. Jahrhundert betrachtet wird. Wird nur die Parteiengenese in Westdeutschland betrachtet, ist das deutsche Parteiensystem trotz aller Wandlungsprozesse durch einen hohen Grad an Beständigkeit gekennzeichnet (Niedermayer 2006:109). Die Weimarer Republik mit ihrem Vierparteiensystem, das zu vielen Minderheitsregierungen führte (von Alemann 2000:37), befand sich schon vor dem Nationalsozialismus in einem prekären Zustand (Rudzio 2006:111). Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik waren die Regierungsstabilität und die geringe Parteienzersplitterung von großer Bedeutung (Poguntke 2005:630). 1949 haben von 15 Parteien, die an der Wahl teilnahmen, nur zehn Parlamentsmandate errungen (Nohlen 2007:334). Die Parteien CDU/ CSU, SPD und FDP erreichten bei der ersten Wahl 72 Prozent der Stimmen, die Deutsche Partei und die Bayern-Partei waren regional von beachtlichem Erfolg gekrönt. Außerdem mussten die Parteien durch das neue Wahlgesetz ab 1953 fünf Prozent der gültigen Stimmen auf der Bundesebene - und nicht auf der Landesebene wie noch bei den Bundestagswahlen von 1949 - bekommen, um ins Parlament einziehen zu können (Niedermayer 2000: 111). Dementsprechend haben 1953 nur sechs der 17 und 1957 vier der 14 zur Wahl angetretenen Parteien Mandate im Bundestag erhalten (Nohlen 2007: 334). In der Konsequenz entwickelte sich durch die Eliminierung der kleinen und die Machtkonzentration innerhalb der drei Parteien – CDU/ CSU, SPD und FDP – ein klassisches Zweieinhalbparteiensystem (Blondel 1990) in Deutschland. Die Innen- und Außenpolitik Adenauers hatte die Konzentration des Parteiensystems zur Folge, da die CDU/ CSU die einzige Partei Deutschlands war, die eine absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen von 1957erreichte Seite ( Jesse 1997:71; Poguntke 2005:630). Für diese Parteikonzentration waren die folgenden Faktoren verantwortlich: die Polarisierung zwischen der Kanzlerpartei und der oppositionellen SPD, das „Wirtschaftswunder“ sowie die Fünf- 17 Institutionelle Bedingungen Prozent-Klausel. Außerdem erschienen konfessionelle Unterschiede als zweitrangig und entzogen damit dem Zentrum die Grundlage. Auch das regionale Sonderbewusstsein hatte weniger Bedeutung (Rudzio 2006:117). All dies und das Verbot der KPD und SRP sowie der Rückgang der Protestwähler haben die Polarisierung des Parteiensystems verringert (Niedermayer 2002:108). Bis zum Einzug der Grünen ins Parlament war das Parteiensystem Deutschlands durch eine „fast perfekte Erfüllung der Regierungsbildungsfunktion“ gekennzeichnet (Poguntke 2005:631), da im Bundestag vertretene Parteien prinzipiell allseitig koalitionsfähig waren (Niedermayer 2002:108). Seit 1983 fing ein Dezentralisierungsprozess des Parteiensystems an (Scarrow 2002:78), welcher auch durch den Wahlerfolg der PDS (zuerst nur auf der Basis der Direktmandate) verstärkt wurde. Die Dekonzentration des Parteiensystems in Deutschland ist die Folge der strukturellen Umgestaltungsprozesse in der Gesellschaft, des Bedeutungsverlustes klassischer und der Entstehung neuer ökologischer bzw. regionaler Konfliktlinien (Nohlen 2007:338). Seite Nach 1990 wurde das Parteiensystem durch ein regionales Dreiparteiensystem in den neuen Bundesländern ergänzt. Die ostdeutschen Parteien vereinigten sich teilweise nach Fusionen untereinander mit den entsprechenden westdeutschen Parteien. 18 So schlossen sich die DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands) und die Bürgerrechtsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ an die Ost-CDU an, die sich ihrerseits wiederum mit der West-CDU vereinigte. Die 1989 in der DDR gegründete SDP fusionierte mit der SPD. Die Liberal Demokratische Partei Deutschlands, die sich 1990 zum „Bund Freier Demokraten“ umbenannte, vereinigte sich mit der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“. Der „Bund Freier Demokraten“, die Ost-FDP sowie die Neue Deutsche Forumspartei gingen später mit der West-FDP zusammen. Schließlich bildeten die Grünen und Bürgerbewegungen der DDR zur Bundestagswahl von 1990 „Das Bündnis 90/ Grüne“ und das Jahr darauf schloss es sich mit denen der alten Länder. Die PDS, Nachfolgepartei der SED, überlebte als regionale Partei in den neuen Bundesländern. Indem sie sich dort als drittgrößte Partei (Scarrow 2002:92) nach der FDP und den Grünen etablierte, kann von einem regionalen Parteiensystem in den neuen Bundesländern gesprochen werden (Rudzio 2006:125). Die seit 1980 stetig sinkende Wahlbeteiligung und die Zunahme des Anteils an Wechselwählern trugen zur Schwächung der großen Volksparteien bei, außerdem schien die Parteienidentifizierung zweitrangig. Alles in allem haben die sozial-ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozesse, der Wertewandel (Niedermayer 2002:118ff.), die Säkularisierung insbesondere der CDU ( Jagodzinski / Quandt 2000:179) sowie die Individualisierung zu einer Verminderung der Stammwählerschaft von großen Parteien geführt (Weßels 2000:148f.). Das Parteiensystem Deutschlands wurde durch drei Hauptfaktoren zwischen 1989 bzw. 1990 verändert: den parlamentarischen Erfolg der Grünen, die Wiedervereinigung Deutschlands sowie die Schwächung der großen Volksparteien (Rudzio 2006:123). Das aktuelle Parteiensy- Semenova stem kann als das „fluide Fünfparteiensystem“ (Niedermayer 2002:126) definiert werden, das sich durch folgende Charakteristika kennzeichnet: eine relativ niedrige Polarisierung, eine offene Wettbewerbssituation zwischen den beiden großen Parteien einerseits und den drei kleinen (FDP, PDS und Bündnis/Grüne) anderseits, eine regionale Diskrepanz in der Vertretung von einigen Parteien (Grüne und FDP im Osten und PDS im Westen) sowie eine Inklusion der Grünen und – wahrscheinlich – der PDS. Rechtsstellung der Abgeordneten Im deutschen Nationalparlament sind es die Fraktionen als Machtzentren, die über das „Wohl und Wehe des Abgeordneten“ (Hamm-Brücher 1989:688) entscheiden und die Funktionsfähigkeit des Parlaments nach innen und außen prägen. Aus der Praxis der Parteiendemokratie geht die Fraktionsbildung auf der Parteienbasis hervor: Die Fraktionen sind „die Erscheinungsformen der politischen Parteien im Parlament“ (Arndt 1989:653), die Vereinigungen von Abgeordneten, die derselben Partei angehören oder Parteien, die aufgrund der gleichen Ziele in keinem Land miteinander konkurrieren (Ismayr 2000:97). Die Abgeordneten schließen sich bei der Bundestagsbildung zu Fraktionen zusammen. Seit 1990 ist die in der Geschäftsordnung festgelegte Mindeststärke von 34 Abgeordneten (früher – mindestens fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages) für die Bildung einer Fraktion notwendig (Ismayr 2000:96). Die Verhältnisse zwischen einzelnen Abgeord- neten und Fraktionen werden durch die Geschäftsordnung des Bundestages, Arbeits- und Geschäftsordnungen der Fraktionen sowie durch das Abgeordnetengesetz reguliert. Das politische Leben im Parlament wird maßgeblich von den Fraktionen geprägt, deswegen wird von der „Ohnmacht der Abgeordneten“ im Vergleich zur Macht der Fraktionen und den diese prägenden politischen Parteien gesprochen (Hamm-Brücher 1989:691). Die Verfahrens- und Organisationsfragen des russischen Parlaments werden von der Geschäftsordnung sowie vom Föderalen Gesetz über den Status der Deputierten der Staatsduma reguliert. Diese die Parlamentstätigkeit regulierenden Dokumente wurden im Zeitverlauf mehrmals ergänzt (von Steinsdorff 2002:271) und inzwischen komplett novelliert. In diesen Dokumenten ging es darum, die verschiedenen Organisationsmöglichkeiten von Abgeordneten innerhalb der Duma zu definieren, die an unterschiedliche Ressourcen und Spielräume gekoppelt waren. Es wurde nach politischen Einflussmöglichkeiten der Fraktionen, Abgeordnetengruppen und unabhängigen Abgeordnetenpositionen unterschieden, wobei diejenigen Parteien, welche die Wahl gewonnen hatten, die privilegierte Position innehatten. Laut Geschäftsordnung der Staatsduma von 1994 und 1998 bekamen alle Parteien und WähSeite lervereinigungen, welche die FünfProzent-Hürde übersprungen hatten, unabhängig von ihrer Größe den Fraktionsstatus. Die Abgeordnetengruppen, die erst nach der neuen Dumaformation gegründet wurden, durften im Vergleich zur Parteienfraktionen 19 Institutionelle Bedingungen praktisch keinen Anspruch auf Leitungspositionen haben. Gleichzeitig wurde die Mindeststärke auf 35 Parlamentarier festgelegt, die für die Bildung einer Abgeordnetengruppe oder einer Abgeordnetenvereinigung notwendig waren (von Steinsdorff 2002:273). Die doppelte Mitgliedschaft in Fraktionen und Gruppen wurde ausgeschlossen. Seit 2007 gehören zu einer Fraktion alle Abgeordneten einer Partei, die per Parteiliste gewählt wurden (GSRF 2007:Art.16). Im Bundestag gehört die Besetzung der Parlamentsausschüsse zur Fraktionskompetenz (Arndt 1989:648). Entsprechend werden die Ausschüsse nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen besetzt, wobei jede Fraktion mindestens mit einem Grundmandat berücksichtigt wird (Ismayr 2000:97). Seite In der modernen Parlamentsforschung steht geschrieben, je komplizierter die Ausschussstruktur und je mehr Ausschüsse es im Parlament gibt, desto stabiler sei die Legislatur (Price 1985:165fffff.; Olson / Mezey 1991:209; Norton / Olson 1996:238). Die Ausschüsse der Staatsduma Russlands werden thematisch zu Beginn jeder Legislaturperiode neu festgelegt und richten sich nach der Ressortgliederung der Staatsregierung. In dieser Arbeit sind alle Parlamentarier verpflichtet teilzunehmen, mit Ausnahme des Parlamentspräsidenten, seines Stellvertreters und des Vorsitzenden der Abgeordnetenvereinigungen. Je20 doch ist dabei die Mehrfachmitgliedschaft rechtlich untersagt. Die Besetzung der Ausschüsse wurde bis 2007 nach einem Bonuspunktsystem reguliert: Jede Abgeordnetengruppe oder Fraktion erhielt Punkte, die ihrer Mandatszahl entsprechen (Ostrow 2000:103f.). Diese Punkte konnten entweder auf einen bestimmten, besonders für eine einzige Gruppe wichtigen Ausschuss oder auf ein möglichst breites Spektrum von Ausschüssen verteilt werden. Dabei bekam den Vorsitz im Ausschuss diejenige Gruppe, welche die meisten Punkte investiert hat (von Steinsdorff 2002:276). Laut Geschäftsordnung der Staatsduma von 2007 besteht ein Ausschuss aus mindestens zwölf und maximal 35 Abgeordneten (GSRF 2007:Art.21). Mit der Geschäftsordnung der Staatsduma von 2007 wurde das neue Verfahren der Ausschussbesetzung eingeführt: Ab 2007 gilt die Wahl per Mehrheitsprinzip innerhalb der Staatsduma (GSRF 2007:Art.22). Aufgrund der Tatsache, dass Fraktionen freiwillige Zusammenschlüsse von Abgeordneten sind, kann es der Fraktion nicht verboten werden, Abgeordnete aus der Fraktion auszuschließen (Arndt 1989:656). Parlamentarier, die entweder ein „freies“ Mandat haben oder aus der Fraktion ausgeschlossen wurden, haben weniger Möglichkeiten zur Professionalisierung und Parlamentssozialisierung. Weil die Tätigkeit eines Mandatsträgers weitgehend von den Fraktionen geprägt ist, kann nicht von einem „freien“, sondern nur von einem parlamentarischen Mandat gesprochen werden (Schneider 1983:239ff, 254). Die starke Abhängigkeit des Abgeordneten von seiner Partei und später von seiner Fraktion geht aus dem Zusammenhang zwischen Parteizugehörigkeit und Mandatserwerb hervor. Nach dem Bundeswahlgesetz haben Parteien das Privileg zur Kandidatennominierung sowie Wahlvorschlagserstellung. Ein unabhängiger Kandidat kann erst dann ein Mandat erwer- Semenova ben, wenn er bei einer nicht an Landeswahlvorschläge gebundenen Wahl die Mehrheit der Erststimmen im Wahlkreis bekommt, so das Bundeswahlgesetz (Hamm-Brücher 1989:697). In diesem Fall soll ein unabhängiger Kandidat mit dem Parteiunterstützungsapparat konkurrieren, demzufolge im Bundestag ein unabhängiger Parlamentarier eher eine Ausnahme als die Regel ist. Die Bindung eines Abgeordneten an der Partei bei dem Mandatserwerb wird im Parlament in Form der Bindung an die Fraktion fortgesetzt, die von ihrer Seite wiederum zur parlamentarischen Willensbildung gemäß der Parteienpräferenzen beiträgt (Hamm-Brücher 1989:697). Gemäß des Abgeordnetengesetzes und der Geschäftsordnung der Staatsduma sind unabhängige Parlamentarierpositionen zu definieren. Es ist anzumerken, dass sowohl das „freie“ als auch imperative Mandat eine Grauzone im russischen Rechtssystem war. Erst später wurden verschiedene Formen der Kandidatennominierung bei den Wahlen rechtlich geregelt. Laut Abgeordnetenwahlgesetz von 1999 wurde bezüglich der Ein-Mandatswahlkreise festgelegt, dass als Kandidatennominierung sowohl die Selbstnominierung als auch die Nominierung durch die Bevölkerung des Wahlkreises galten. Die Abgeordneten, die sich selbst als Kandidat ins Parlament im EinMandat-Wahlkreis nominierten und gewählt wurden, galten als unabhängige Parlamentarier. Demgegenüber galt für Listenkandidaten die Nominierung (FG AW 1999, Art. 7) sowohl durch Parteien als auch durch Wählervereinigungen. Die Konzentration der innenparlamentarischen Tätigkeit auf Fraktionen und Abgeordneten- gruppen sowie die generelle Offenheit dieser Organisationsformen führten dazu, dass in allen Legislaturperioden die Zahl der unabhängigen Abgeordneten rückläufig war (von Steinsdorff 2002:274). Letztendlich mussten die unabhängigen Abgeordneten entweder in einer Fraktion oder in einer Gruppe mitwirken, da anderenfalls nahezu keine Chance zur politischen Professionalisierung bestand (Ostrow 2000:102). Nach der Verabschiedung des neuen Parteiengesetzes von 2001 und des Abgeordnetenwahlgesetzes von 2005 wurde das Wahlsystem Russlands dahingehend verändert, dass alle Ein-Mandats-Wahlkreise abgeschafft wurden und als einzige Nominierungssubjekte die laut Parteiengesetz von 2001 umstrukturierten Parteien und Wählerblöcke galten. Diese Prinzipien schlossen die Möglichkeit aus, als unabhängige Abgeordnete gewählt zu werden. Außerdem wird ein Abgeordneter aus der Fraktion ausgeschlossen, verliert er das Parlamentsmandat (GSRF 2007:Art.18). Gemäß des GOBRat. (§ 2) ist die gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundestag und Bundesrat untersagt. Demgegenüber herrscht keine Inkompatibilität zwischen gleichzeitiger Mitgliedschaft im Parlament und in der Bundesregierung. Eine weitere Inkompatibilitätsregelung betrifft das Amt eines Bundesund Landesabgeordneten. Gemäß Art. 137 I GG ist die Wählbarkeit Seite von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Soldaten und Richtern auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene beschränkt. Dieser Artikel verfolgt die strikte Trennung von öffentlichem Dienst und politischer Tätigkeit und wurde 21 Institutionelle Bedingungen aufgrund des Drucks durch die Besatzungsmächte in die deutsche Verfassung aufgenommen (Tsatsos 1989:704). Andererseits haben wirtschaftliche Inkompatibilitäten – zum einen Formen der geschäftlichen Anbindung eines Angeordneten an den Staat und zum anderen privatökonomische Bindungen des Parlamentsmitglieds – im deutschen Recht keinen Eingang gefunden (Tsatsos 1989:725f.; Roll 1989:615ff.). Laut des Gesetzes darf kein Abgeordneter im Staatsdienst stehen und gleichzeitig eine andere bezahlte Tätigkeit ausüben, mit Ausnahme einer wissenschaftlichen, künstlerischen oder Lehrtätigkeit. Dies begründet sich darauf, dass die Abgeordneten im russischen Nationalparlament hauptberuflich tätig sind (FG SD 1999, Art.6). Aus dem gleichen Grund ist es verboten, neben einer Tätigkeit im regionalen Parlament noch anderweitig beschäftigt zu sein. Seite 22 Semenova Seite 23 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale Ausbildung Soziodemografische Merkmale geordneten Seite 24 A 2 der Ab- us der Elitenforschung ist bekannt, dass sich politische Führungskräfte systematisch von der Wählerschaft unterscheiden. Dies gilt im Besonderen für deren Bildungsstand. Repräsentationseliten werden bevorzugt aus dem Kreis der höheren Bildungsschichten rekrutiert. Es kann geschlussfolgert werden, dass das Bildungsniveau deutscher Abgeordneter weit über dem der Bevölkerung liegt (Schmidt 2007:138). Generell ist festzustellen, dass die meisten deutschen Parlamentarier einen Hochschulabschluss besitzen. Wenn es unmittelbar nach der Wiedervereinigung noch deutliche Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Abgeordneten gegeben hat, so haben sich diese binnen 15 Jahren nivelliert. 1990 hatten noch 88 Prozent aller Ostparlamentarier eine Universität oder Hochschule absolviert, während der westdeutsche Durchschnitt um 14 Prozentpunkte niedriger lag. Seit 1990 haben sich gegenläufige Entwicklungen vollzogen: Im Gegensatz zu Westdeutschland verringerte sich der Akademikeranteil im Parlament im Osten auf aktuell ungefähr 80 Prozent. Der Anteil der Abgeordneten, die einen mittleren Bildungsabschluss haben, liegt im Westen über die Jahre hinweg bei ungefähr 15 Prozent, während er im Osten kleiner geworden ist und durchschnittlich bei 10 Prozent liegt. Werden die einzelnen Parteien betrachtet, so ist zu erkennen, dass die kleinen Fraktionen – PDS/ Die Linke, FDP und Bündnis90/ Die Grünen – den höchsten Akademikeranteil besitzen; dies gilt gleichermaßen für den Westen wie den Osten. Bei den Abgeordneten der CDU/ CSU und der SPD gibt es Ost-West-Unterschiede im Bildungsniveau: Der Anteil der Hochschul- Rademacher Semenova absolventen liegt unter den Ostdeutschen um etwa zehn Prozentpunkte über dem jeweiligen westdeutschen Durchschnitt. Die Abgeordneten der russischen Staatsduma besitzen ein enorm hohes formales Bildungsniveau nicht nur im Vergleich zu deren Bevölkerung, sondern auch im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen. Die Zahl der Hochschulabsolventen im Parlament liegt durchschnittlich bei 96 Prozent und ist im Zeitverlauf tendenziell weiter gestiegen. In der ersten Duma 1993 hatten 93 Prozent der Abgeordneten einen Hochschulabschluss und in der vierten Legislaturperiode sogar 99 Prozent. Damit kann ein Universitätsabschluss in der Russischen Föderation buchstäblich als notwendige, allerdings noch nicht hinreichende Voraussetzung für die Übernahme eines Mandats gelten. Dies gilt nicht nur für Parteien, die sich von Anfang an auf einen akademischen Wählerstamm gestützt haben (wie JABLoko und die Union der Rechten Kräfte), sondern auch für die Kommunistische Partei (KPRF) und sogar die Agrarpartei Russlands. Den niedrigsten Bildungsstand aller Parlamentsparteien haben die Abgeordneten der extrem rechten Partei „Liberal-Demokratische Partei Russlands“ (LDPR); aber auch unter Schirinowskijs Fraktionskollegen sind 92 Prozent graduiert. Die wachsende Nachfrage nach Hochschulabsolventen bei der Rekrutierung von Parlamentariern liegt im europäischen Trend (Best/Cotta 2000:497ff.). Die Parteien als Gatekeeper für die Vergabe parlamentarischer Mandate rekrutieren bevorzugt gut gebildete oder sogar promovierte Kandidaten für die zukünftige Parlamentsarbeit (Norris/Lovenduski 1995: 113). Ein wichtiger Grund dafür ist, dass ein Hochschulabschluss mit bestimmten Fähigkeiten in Verbindung gebracht wird, die für eine hauptamtliche politische Tätigkeit wichtig sind, wie beispielsweise rhetorische und analytische Kompetenzen. Der Bildungsstand von Parlamentariern wird daher als ein Qualitätsmerkmal betrachtet (Schmidt 2007: 138). In diesem Zusammenhang ist auf eine Besonderheit der russischen Politiker zu verweisen: Viele von ihnen besitzen nicht nur einen, sondern zwei und mehr Studienabschlüsse, teilweise sogar mehrere akademische Titel. Gleichwohl sind die entsprechenden Zahlen im Zeitverlauf gesunken. Hatten 1993 beinahe 53 Prozent der Eliten unter Jelzin einen akademischen Grad, waren es 2002 – schon in der Putin-Ära – lediglich noch 21 Prozent der neuen Elite, die einen Titel trugen (Kryschtanowskaja 2005:154). Auffällige Unterschiede zwischen den Mandatsträgern aus Ost- und Westdeutschland bestehen bezüglich der Studienfächer. Während unter den westdeutschen Abgeordneten die Absolventen geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer dominieren, besitzen die meisten Ostdeutschen naturwissenschaftliche und medizinische Abschlüsse. Es ist interessant, dass ehemalige Jura-Studenten fast 30 Prozent der westdeutschen Parlamentarier stellen, während sich ihr Anteil unter den Ostdeutschen nur auf sechs ProSeite zent beläuft. Zu einer Angleichung zwischen west- und ostdeutschen Mandatsträgern ist es hier seit 1990 nicht gekommen. Allerdings sind unter den neu gewählten Abgeordneten aus Ostdeutschland mittlerweile westdeutsche Muster zu erken- 25 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale nen: Der Anteil von Absolventen der Geistesund Sozialwissenschaften nimmt zu, während es allmählich weniger Naturwissenschaftler und Mediziner gibt. Bezüglich der Studienfachwahl russischer Parlamentarier, ergibt sich ein ähnliches Bild wie in Ostdeutschland. Die meisten Abge- ordneten haben einen Abschluss im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Nur etwa ein Drittel aller Mitglieder der Staatsduma hat sozial-, wirtschafts- oder geisteswissenschaftliche Fächer studiert. Ehemalige Jura-Studenten sind unter den Abgeordneten weniger gut repräsentiert; ihr Anteil beträgt nur noch etwa zwölf Prozent. Grafik 1: Studienfächer (Naturwissenschaften) in Deutschland (Ost/ West) und Russland im Zeitverlauf (in Prozent) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1988 1990 1992 1994 Westdeutschland Quelle: Eigene Darstellung Seite 26 1996 1998 2000 Ostdeutschland 2002 2004 Russland 2006 Rademacher Semenova Wie erklären sich die Unterschiede bei der Studienfachwahl? Wenn Jura über Jahre hinweg das häufigste Studienfach der westdeutschen Eliten allgemein (Hoffmann-Lange 1991:141) und unter den Parlamentariern im Besonderen gewesen ist, so weist dies für Westdeutschland auf die besondere Bedeutung juristischer Kenntnisse für Führungspositionen in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen einschließlich der Politik hin. Die geringe Zahl von Juraabsolventen ist ebenso wie die hohe Zahl an Ingenieuren unter den ostdeutschen und russischen Parlamentariern wiederum ein Effekt der realsozialistischen Vorgängerregime und ihrer Ausbildungspolitik. So wurden die naturwissenschaftlichen Fächer im DDR- und sowjetischen Regime als strategisch bedeutend für die Entwicklung des Systems betrachtet und daher vom Staat aktiv gefördert (Lock 1998:95f.). Zum anderen gehörten die technischen Studiengänge und Berufe zu den relativ ideologie- und systemneutralen Qualifikationen (Welzel 1997: 211), die gleichzeitig aber in der kommunistischen Gesellschaft ein hohes Berufsprestige genossen (Steiner 1996:455, vgl. Levada 2001). von anfänglichen 20 Prozent um ungefähr die Hälfte gestiegen. Dieser deutliche Aufwärtstrend ist einerseits einer stärkeren gesellschaftlichen Sensibilität für geschlechtsspezifische Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft allgemein zu verdanken und in den politischen Parteien im Besonderen. Anderseits resultiert er aus den Geschlechterquoten, die während der 1990er-Jahre Eingang in die Parteistatuten nahezu aller im Bundestag vertretenen Parteien gefunden haben (Best / Hausmann / Schmitt 2000:177) – mit Ausnahme der FDP. Geschlecht Die Ost-West-Unterschiede waren im Bereich der parlamentarischen Repräsentation von Frauen zunächst gering. Erst seit 1998 hat sich eine Diskrepanz ergeben, wobei der Frauenanteil unter den Ostabgeordneten um bis zu zehn Prozentpunkte höher liegt als unter den Bundestagsabgeordneten aus Westdeutschland. Der Frauenanteil unter ihnen ist bis zur 15. Legislaturperiode gestiegen und erreichte 2002 mit fast 32 Prozent den bislang höchsten Wert, danach sank er geringfügig. Unter den ostdeutschen Mandatsträgern ist der Anteil von Frauen stetig gestiegen und liegt aktuell bei 41 Prozent – und ist damit nahezu doppelt so hoch wie direkt nach der Vereinigung. Gänzlich verschiedene Entwicklungen haben sich im deutsch-russischen Vergleich bei der parlamentarischen Repräsentation von Frauen ergeben. Im Deutschen Bundestag ist der Frauenanteil seit 1983 kontinuierlich gestiegen (Christmas-Best 2006:499) und hat 1998 31 Prozent erreicht. Seitdem stagniert der Anteil bzw. die Zahl der weiblichen Abgeordneten ist sogar etwas gesunken. Wird nur die Zeit seit der Wiedervereinigung betrachtet, so ist der Frauenanteil im gesamtdeutschen Bundestag Die Veränderungen im Zeitverlauf stehen zum Teil mit den Wahlresultaten von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und PDS in Verbindung, welche traditionell mehr Frauen für ihre Parlamentsfraktionen rekrutieren Seite als die bürgerlichen Parteien. Bündnisgrüne und PDS stellen die beiden einzigen Fraktionen, denen Männer und Frauen in etwa gleicher Zahl angehören. In den Reihen der SPD ist der Anteil weiblicher Abgeordneter unter den ostdeutschen 27 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale Parlamentariern seit 1990 um fast 16 Prozentpunkte gestiegen und erreichte 2002 mit 40 Prozent einen geringfügig höheren Wert im Vergleich zu den westdeutschen Sozialdemokraten. Danach gab es leichte Schwankungen in beiden Landesteilen. In der CDU/ CSU-Fraktion hat sich der Frauenanteil nicht ganz so deutlich erhöht. Hier lag das Ausgangsniveau bei 14 Prozent unter ost- wie westdeutschen Delegierten und erhöhte sich bis zur vierten Legislaturperiode auf 31 Prozent (MdB aus den neuen Ländern) und 22 Prozent (westdeutsche MdB). Erst in der aktuellen Wahlperiode ist der Anteil wieder gesunken, am stärksten unter den ostdeutschen Christdemokraten. Zum anderen ist es als innenpolitischer Unterschied zwischen alten und neuen Ländern zu erklären. So zogen im Osten deutlich mehr CDU-Kandidatinnen in den Bundestag ein als im Westen. Grafik 2: Frauenanteil in Deutschland (Ost/ West) im Parteienvergleich (in Prozent) 50 40 30 20 10 0 1990 CDU/CSU -West Quelle: Eigene Darstellung Seite 28 1994 1998 CDU-Ost 2002 SPD-West 2005 SPD-Ost Rademacher Semenova Während sich die soziale Zusammensetzung der politischen Eliten unter Putin teils deutlich zu der unter Jelzin unterscheidet, gilt das für die parlamentarische Repräsentation von Frauen nicht. Hatten 1993 noch drei Prozent Frauen Spitzenpositionen bekleidet, waren es 2002 weniger als zwei Prozent (Kryschtanowskaja 2005:154). Die massive Unterrepräsentierung der Frauen innerhalb der russischen Eliten bestätigt sich auch bei der Analyse der Staatsduma Russlands. Der Anteil von weiblichen Abgeordneten liegt hier im Schnitt bei zehn Prozent, der höchste Wert wurde in der ersten Staatsduma 1993 erreicht und betrug damals 13 Prozent; seitdem ist der Frauenanteil tendenziell gesunken. Damit gehört die Staatsduma zu den ganz wenigen postkommunistischen Parlamenten, in denen sich die Repräsentation von Frauen seit dem Systemwechsel nicht deutlich erhöht hat (Ilonszki / Edinger 2007:150f.). Was den Frauenanteil in den Parteien bzw. Fraktionen anbelangt, haben die Kommunisten kontinuierlich etwa zehn Prozent Frauen rekrutiert. Auch in den Reihen von JABLoko (im Schnitt 11 Prozent) und unter den parteienunabhängigen Kandidaten (zehn Prozent) ist die Rekrutierung von Frauen durch große Konstanz geprägt. Die Agrarier hatten bislang keine weiblichen Abgeordneten in ihren Reihen mit Ausnahme der ersten Duma, als ihrer Fraktion etwa sieben Prozent Frauen angehörten. Von allen Fraktionen, die seit 1993 ins Parlament gewählt wurden, weisen ansonsten die extrem-rechte LDPR und die Pro-Präsidentenparteien mit jeweils weniger als acht Prozent die niedrigsten Anteile von Parlamentarierinnen auf. Die schwache Rekrutierung von Frauen sowie die in der Konsequenz männerdominierten Parlamente lassen sich auf verschiedenste Ursachen zurückführen. Es sind politischstrukturelle Merkmale wie beispielsweise das Wahlrecht (Matland / Montgomery 2003) und Spezifika der Parteienpolitik (Golosov 2001) bis hin zu Wahrnehmungsmustern innerhalb der Parteien, welche die Rekrutierung von Frauen behindern (Vallance 1979, Norris / Lovenduski 1995). Seite 29 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale Grafik 3: Frauenanteil in der Staatsduma Russlands im Parteienvergleich (in Prozent) 60 50 40 30 20 10 0 1993 1995 Kommunisten LDPR 1999 2003 JABLoko Unabhängige Abgeordnete Pro-Präsidentenparteien Quelle: Eigene Darstellung Seite Der deutsch-russische Parlamentsvergleich zeigt, dass das Niveau der Frauenrepräsentation in Russland nicht nur weit unter dem ostdeutschen, sondern auch unter dem westdeutschen Schnitt liegt. Zum einen geht er auf die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der beiden Ländern zurück: In der Weimarer Republik wurden schon direkt nach dem Ersten Weltkrieg 1919 nahezu neun Prozent der Frauen gewählt, danach folgt eine lange etwa 60 Jahre dauernde 30 lethargische Pause, die 1983 endete. Seitdem wächst durch verschiedene Maßnahmen die Zahl der Parlamentarierinnen im Bundestag (Christmas-Best 2006:498f.). Im Ergebnis gehört der heutige Deutsche Bundestag europaweit zu den zehn Nationalparlamenten mit dem höchsten Frauenanteil (IPU 2008). In der Sowjetunion gab es faktisch keine Gender-Parität in den Eliten, ungeachtet dessen, dass beide Geschlechter rechtlich gleichgestellt waren, etwa hinsichtlich der Hochschulausbildung oder beim aktiven und passiven Wahlrecht (Lapidus 1978). In der ersten Amtsperiode Jelzins zog 1993 zum einzigen Mal mit der Partei „Frauen Russlands“ eine solche ins Parlament, deren Programmatik explizit auf die Gender-Thematik bezogen war. De facto handelte es sich dabei um eine Nachfolgeorganisation des „Komitees Sowjetischer Frauen“. Seitdem dauert die „Lethargiephase“ in der Repräsentation von Frauen an. Ein we- Rademacher Semenova sentlicher Grund dürfte aus dem traditionellen Verständnis der Geschlechterrollen resultieren, das in der russischen Gesellschaft weiterhin festzustellen ist. Dieses prägt nicht nur das Rekrutierungsverhalten von Parteien (Ajwasova / Kertman 2000, Kochkina 1999), sondern auch die Sozialisierung allgemein (Uspenskaja 1996, Schvedova 2000). Hinsichtlich der institutionellen Faktoren, wie beispielsweise Wahlsystem, ist Russland eine Ausnahme, da die Frauen öfter in Ein-Mandat-Wahlkreisen erfolgreich waren (Moser 2001), bei der Wahl in den Deutschen Bundestag ist die Situation genau umgekehrt (Edinder / Holfert 2005:31). Ethnische Herkunft Bei der Bundestagswahl von 2005 hatten fast fünf Prozent der Kandidaten der im Parlament vertretenen Parteien einen Migrationshintergrund. Über den größten Anteil an Kandidaten mit Migrationshintergrund verfügt die Linkspartei (34 Kandidaten) (Wüst 2006:232). Der Anteil von gewählten Parlamentariern ist interessanterweise bei den Grünen, der Linken sowie der SPD am höchsten, unter den Unionsparlamentariern ist die Zahl von Migranten am niedrigsten (Wüst 2006:233). Insgesamt haben je 1,8 Prozent der Abgeordneten auf Bundes- sowie Landesebene einen Migrationshintergrund (Wüst 2007:12). Da fast 19 Prozent der Bevölkerung sowie zehn Prozent der deutschen Bürger über einen Migrationshintergrund verfügen (Mikrozensus 2005), kann bei Parlamentariern mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag von einer Unterrepräsentanz gesprochen werden. Die ausschlaggebenden Gründe dafür sind zum einen bei institutionellen Faktoren wie dem Einbürgerungsrecht und Wahlsystem Deutschlands, zum anderen beim Parteisystem im Allgemeinen und der Rekrutierungs- sowie Nominierungspraxis von Parteien im Besonderen zu verorten. Im Unterschied zu Deutschland stellt die Russländische Föderation einen Vielvölkerstaat dar, in dem fast 170 verschiedene ethnische Gruppen leben. Damit weist Russland wie viele postsowjetische Staaten einen hohen Anteil von ethnischen Minderheiten auf. Im Unterschied etwa zu den baltischen Staaten oder der Ukraine ist jedoch keine einzelne ethnische Gruppe dominant und nur ein Teil der größeren Minderheitengruppen verfügt über einen konationalen Bezugsstaat. Die ethnischen Minderheiten unterscheiden sich untereinander zudem durch ihre Siedlungsstruktur (kompakt versus zerstreut), ihre Religion (Muslime, Christen, Juden usw.) und das Ausmaß ihrer Integration in die Mehrheitsbevölkerung. Insgesamt weist die Staatsduma einen hohen Anteil von Abgeordneten auf, die nicht der Titularnation angehören (Edinger/Kuklys 2007:165). Allgemein ist festzustellen, dass die Vertretung ethnischer Minderheiten seit 1993 von zunächst 19 Prozent um fast zehn Prozentpunkte gestiegen ist und durchschnittlich bei 22 Prozent liegt. Damit sind die ethnischen Minderheiten in der Duma insgesamt schwach überrepräsentiert gewesen. Am stärksten vertreten sind ethnische Seite Minderheiten unter den Abgeordneten der Pro-Präsidentenparteien und in den Reihen der LDPR sowie unter den parteienunabhängigen Parlamentariern. Der Anteil der ethnischen Minderheiten an- 31 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale gehörenden Abgeordneten ist bei der LDPR – mit Ausnahme von 1995, als ihr Anteil bei acht Prozent lag – kontinuierlich gestiegen und betrug 2003 bereits knapp 30 Prozent. Erhebliche Steigerungsraten finden sich seit 1993 auch bei den Pro-Präsidentenparteien. Hier ist der Anteil von Minderheiten seit 1993 um 14 Prozentpunkte größer geworden und lag in der vierten Legislaturperiode bei 32 Prozent. In der Kommunistischen Partei Russlands sowie unter den unabhängigen Abgeordneten stellen diejenigen, die nicht der Titularnation angehören, einen relativ hohen Anteil, der allerdings im Zeitverlauf nahezu unverändert geblieben ist. Etwa ein Viertel der unabhängigen Parlamentarier entstammt einer ethnischen Minderheit. Unter den Kommunisten lag der Wert mehrere Jahre lang konstant bei 15 Prozent. Angesichts der LDPR-Wahlparole von 2003 „Wir sind für die Russen, wir sind für die Armen“, ist die Tatsache bemerkenswert, dass ein Drittel aller Abgeordneten dieser Partei nicht der Titularnation angehörten. Seite Die Repräsentation von ethnischen Minderheiten im Parlament ist ein Produkt des sowjetischen Systems mit seinem Quotenprinzip (ethnische, Frauen-, Berufsquote). Im modernen Russland spielt die Minderheitenvertretung eine wichtige politische Rolle. Nach dem Umbruch der Sowjetunion wurde viel von der territorialen Souveränität der traditionellen Siedlungsgebiete 32 und der nationalen Republiken gesprochen. In dieser Zeit, die auch „Souveränitätsparade“ genannt wird, bekamen Siedlungsgebiete sowie Republiken enorm viele Privilegien, die oft nicht mit Verfassungs- sowie Föderalismusnormen kompatibel waren. Gleichzeitig wurden von den Parteien Parlamentarier mit Minderheitshintergrund rekrutiert. Für die Parteien war es von großer Bedeutung, durch die Inklusion von Minderheiten eine breite Basis für Wählerunterstützung zu erreichen - gerade zu Zeiten einer schwachen Regierung und starker regionaler Regimes in der Jelzin-Ära. Die Art und Weise der Minderheitenvertretung im nationalen Parlament resultiert aus verschiedenen Faktoren, wobei politische und gesellschaftliche die wichtigsten sind. Hierbei handelt es sich um in der Verfassung stehende ethnische und Minderheitenrechte, die Entstehung von den ethnischen Gebietseinheiten (Heinemann-Grüder 2007:140) als auch Wahlsystem sowie Parteiensystem (Edinger / Kuklys 2007:166ff.). Außerdem sind die für ethnische Minderheiten charakteristischen strukturellen Merkmale, die interethnische Beziehungen und die generellen Beziehungen zwischen Eliten und Nichteliten von Bedeutung (Edinger / Kuklys 2007:175). Auch die im Massenbewusstsein verankerten Einstellungen können einen Einfluss auf die parlamentarische Repräsentation von Minderheiten haben. (Heinemann-Grüder 2007:150f.). Religion In der Sowjetunion war die religiöse Zugehörigkeit nicht von großer Bedeutung, da die sowjetische Regierung erfolgreich eine Politik der Säkularisierung verwirklichte. Kirchen wurden zum Teil geschlossen, zum Teil sogar zerstört. Als die Bevölkerung der Sowjetunion im Jahre 1988 die religiöse Freiheit erhielt, waren bereits mehrere Generationen weder kirchlich gebunden noch mit religiösen Lehren vertraut. Rademacher Semenova Damals wurde damit begonnen, Kirchen nicht nur christlicher, sondern auch islamischer, buddhistischer und hinduistischer Gesinnung zu öffnen. Zeitgleich stieg das Interesse an neuen „Kulten“, „neuen Konfessionen“ sowie Sekten. Nach dieser Phase religiöser „Vielfalt“, die 1991-1992 endete, konnte die Orthodoxie verstärkt an Bedeutung gewinnen. Sie wurde von den meisten Bürgern als das wichtigste und vertrauenswürdigste Kultur- sowie Identitätssymbol betrachtet (Filatow 2001:131). Dennoch beträgt der Anteil der Bevölkerung, der aktiv eine orthodoxe Religiosität praktiziert, ca. sieben Prozent und bleibt seit Anfang der 1990er Jahren konstant (Kaariainen / Furman 2000). Die anderen Religionen – Islam sowie Buddhismus – wurden nach dem Ende der Sowjetunion auch „restauriert“, wobei die Situation mit der Praktizierung von religiösen Normen mit selbiger der Orthodoxie gleich ist. Die einzige Ausnahme bilden die Völker Tschetscheniens und Dagestans, die eine aktive Ausübung der islamischen Normen und Regeln praktizieren. Generell ist festzustellen, dass ungeachtet dessen, dass der Staat traditionelle Kirchen (Orthodoxie, Islam sowie Buddhismus) aktiv unterstützt, diese generell keine große Rolle im politischen Prozess Russlands spielen. Aufgrund der historischen Entwicklung und als Folge der niedrigen Rate aktiv praktizierender Gläubiger ist religiöse Zugehörigkeit von geringer Bedeutung als Erklärungsansatz für Wahlverhalten und Parteipräferenzen. Außerdem ist die Bildung einer Partei auf einer religiösen Basis gesetzlich untersagt. Wird die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung betrachtet, ist festzustellen, dass nahezu 80 Prozent der westdeutschen Bevölkerung einer Religionsgemeinschaft angehören, während dies in den neuen Ländern lediglich für ein Drittel zutrifft (ALLBUS 2002:210). Ostdeutschland stellt ein Beispiel der Entkonfessionalisierung dar: Gehörten dort nach dem Zweiten Weltkrieg über 90 Prozent der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an, so betrug der Anteil nach der Wiedervereinigung letztlich noch 30 Prozent. Den größten Bevölkerungsteil bildeten die Konfessionslosen (Pollack 2000:19). Was für die Bevölkerung im Allgemein gilt, spiegelt sich bei den Abgeordneten der PDS im Besonderen wider. Zum einen ist die schwache kirchliche Bindung in den neuen Ländern das Resultat einer langjährigen SED-Herrschaft und der mit ihr einhergehenden Kirchen- und Religionspolitik, die nun in den jüngeren Generationen ihre Auswirkungen zeigt (Sterr 2000:221). Zu den Charakteristika der deutschen Parteienlandschaft und des Wahlverhaltens gehört der starke Einfluss der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Differenzierung der Gesellschaft entlang religiöser Konfliktlinien fand im deutschen Parteiensystem schon früh ihr Abbild. Auch in der Nachkriegszeit war die religiöse Zuordnung politisch höchst bedeutsam. Mit der CDU entstand jedoch eine sich christlich verstehende Partei auf interkonfessioneller Basis (Best / Hausmann / Schmitt Seite 2000:178). Bis in die Gegenwart hinein wird das Stimmverhalten stark durch die konfessionelle Bindung des einzelnen Wählers bestimmt ( Jagodzinski / Quandt 2000). Wird das Wahlverhalten der kirchlich Gebundenen analysiert, ist zu for- 33 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale mulieren: Je stärker die Bindung an eine der beiden Kirchen, desto erfolgreicher ist die CDU/ CSU, und je schwächer die Bindung, umso erfolgreicher ist die SPD (Mielke 1990:165). Allerdings erodiert das religiöse Milieu wegen des Ausscheidens älterer Generationen aus der Wählerschaft, gleichzeitig ist eine kirchliche Bindung in jüngeren Generationen in relativ geringem Umfang vorhanden (vg. Schmitt 1989). Unter den westdeutschen Bundestagsabgeordneten sind Protestanten und Katholiken etwa gleichermaßen stark vertreten: Die Zahlen liegen jeweils bei 36 Prozent. Die übrigen Prozent verweigerten die Angabe ihrer Konfession oder sind Atheisten/ Agnostiker. Unter den ostdeutschen Parlamentariern ist der Anteil der Protestanten um acht Prozent höher; jedoch ist der Anteil der Katholiken nicht einmal halb so hoch wie im Westen. Trotz dieses insgesamt niedrigeren Anteils der konfessionell Gebundenen unter den Abgeordneten aus den neuen Ländern, sind diese bezogen auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung überrepräsentiert. Seite Die Sozialdemokraten haben vergleichbare Abgeordnetenzahlen mit protestantischer Konfession in beiden Teilen Deutschlands, wobei deren Anteil im Osten um fünf Prozentpunkte über dem westdeutschen Schnitt liegt. Gleichzeitig hat die SPD im Osten mit neun Prozent nur halb 34 so viele Abgeordnete katholischen Glaubens wie im Westen. Während der Anteil an Abgeordneten katholischen Glaubens in Ostdeutschland kontinuierlich sinkt und derzeit bei sechs Prozent liegt, beträgt die Zahl unter den westdeutschen SPD-Parlamentariern im Zeitverlauf über 17 Prozent. Wird ein geringfügiger Zuwachs von Abgeordneten mit protestantischer Konfession im Westen beobachtet, ist der entsprechende Anteil im Osten seit 1998 um ca. zehn Prozentpunkte gesunken und beträgt im aktuellen Bundestag 38 Prozent. Auffällig scheint die Situation bei der CDU: In Westdeutschland sind 62 Prozent der Mitglieder Katholiken und 35 Prozent Protestanten. Im Gegensatz dazu ist die Zahl der Protestanten um fast ein Drittel höher und die Zahl der Katholiken um ein Drittel geringer bei der CDU Ostdeutschlands. Tabelle 1: Katholiken/ Protestanten/ Atheisten bzw. unbekannt: in Bevölkerung Ost-West, unter Abgeordneten Ost-West (in Prozent) Bevölkerung West Abgeordnete Ost West Ost Katholiken 36,7 4 36,5 15,2 Protestanten 36,9 23 36,0 44,3 Sonstige 9,9 4,6 Atheisten bzw. unbekannt 16,5 68,4 27,5 40,5 Quelle: Daten zur Bevölkerung aus: ALLBUS 2006, ZANr.4500:337, Eigene Darstellung Alter Die ursprüngliche Altersdifferenz unter den Ost- und Westabgeordneten hat sich seit der Vereinigung deutlich reduziert. Lagen die ostdeutschen Mandatsträger anfangs mit 44 Jahren ungefähr fünf Jahre unter dem westdeutschen Schnitt, sind die Differenzen binnen fünf Legislaturperioden von fünf auf lediglich zwei Jahre gesunken. Die Rademacher Semenova anfänglichen Unterschiede von 1990 gehen vermutlich ohnehin auf die Tatsache zurück, dass in den neuen Ländern erstmals Abgeordnete in den Bundestag gewählt wurden, während die westdeutschen Delegierten dem Parlament teils schon seit längerem angehört hatten. Wird ein Ost-West-Vergleich der 1990 erstmalig in den Bundestag gewählten Abgeordneten angestrebt, kristallisieren sich nur unerhebliche Differenzen heraus. Während das Alter bei Westabgeordneten der CDU, SPD und FDP im Durchschnitt bei 50 Jahren liegt und seit 1990 konstant geblieben ist, ist es bei den Ostabgeordneten von SPD und CDU im Laufe von fünf Legislaturperioden um bis zu fünf Jahre gestiegen und ist mit dem heutigen westdeutschen Schnitt gleichgezogen. Liegt das Alter unter den SPD-Abgeordneten im Westen konstant bei etwa 50 Jahren, ist das Durchschnittsalter in der Ost-SPD im Zeitverlauf um ca. sechs Jahre gestiegen und hat sich dem westdeutschen Niveau angeglichen. Das Durchschnittsalter der Neulinge unter den ostdeutschen Sozialdemokraten ist geringfügig angestiegen und beträgt im aktuellen Bundestag etwa 46 Jahre. Unter den westdeutschen Christdemokraten liegt das Durchschnittsalter etwa bei 50 Jahren, wobei politische Neulinge dieser Partei ca. vier Jahre jünger sind. Bezüglich der Parteiunterschiede ist festzustellen, dass die Rekrutierungspraxis der PDS durch den Einzug junger Abgeordneter ins Parlament gekennzeichnet ist. Das Durchschnittsalter der russischen Parlamentarier gleicht dem der Ostdeutschen und beträgt in den vier untersuchten Legislaturperioden 47 Jahre. Seit 1993 ist es von 45 auf zuletzt 49 Jahre gestiegen. Das Alter von Newcomern ist im Zeitverlauf ebenso um zwei Jahre gestiegen und betrug in der vierten Duma im Schnitt exakt 47 Jahre. Zwischen den Fraktionen innerhalb der Staatsduma lassen sich deutliche Unterschiede feststellen. So weisen Abgeordnete der KPRF und der den Kommunisten nahestehenden Agrariern den höchsten Altersdurchschnitt auf. Er hat sich kontinuierlich erhöht und betrug zu Zeiten der vierten Duma ungefähr 55 Jahre. Damit stellen diese beiden die „ältesten“ Fraktionen in der Duma. Deutlich jünger sind von Beginn an die unabhängigen Delegierten und die Parlamentarier der „Machtparteien“ gewesen. Bei letzteren ist im Zeitverlauf ein Anstieg von 46 auf 49 Jahre festzustellen. Ähnlich ist die Entwicklung unter den parteiunabhängigen Abgeordneten: Im Zeitverlauf erhöhte sich deren Alter im Durchschnitt um vier Jahre und betrug in der vierten Legislaturperiode ca. 47 Jahre. Parlamentarier der Machtparteien sind durchschnittlich 47 Jahre alt vor dem Einzug ins Parlament, das sind zwei Jahre mehr als bei den parteiunabhängigen Mandatsträgern. Interessant ist, dass die zwei Parteien mit einer liberalen Orientierung – JABLoko und SPS – ihre Abgeordneten ebenso häufig aus der jüngeren Altersgruppe rekrutiert haben. Ihr Durchschnittsalter betrug ungefähr 44 Jahre. Entgegen dem Trend hat sich der Altersdurchschnitt der extremSeite rechten LDPR-Fraktion über die Legislaturperioden hinweg verringert: Mit durchschnittlich 40 Jahren stellte sie während der vierten Wahlperiode die jüngste Fraktion der Staatsduma. Unter den Abgeordneten dieser Partei beträgt das 35 Soziodemografische Mittelwertzentrierung Merkmale Alter politischer Neulinge im Durchschnitt ebenso etwa 40 Jahre, allerdings lagen die Werte in der zweiten und dritten Duma bei 36 Jahren und erhöhten sich in der vierten Duma um ca. drei Jahre. Weder der Bundestag noch die Staatsduma lassen sich als „gerontokratische“ Parlamente bezeichnen. Damit unterscheiden sie sich deutlich von den Regierungskadern der staatssozialistischen Regime, die als überaltert galten. Wird das Alter deutscher Mandatsträger beleuchtet, ist festzustellen, dass die meisten Parlamentarier aus der Generationskohorte ab den 1950er Jahren rekrutiert wurden. Sie sind noch in der ehemaligen Bundesrepublik bzw. DDR sozialisiert (Schmidt 2007:107). Bezüglich der Entwicklung des Durchschnittsalters in der russischen Parlamentselite lassen sich zwei Tendenzen feststellen: Erstens hat sich das Alter der Parlamentarier kontinuierlich erhöht und zweitens sind die russischen Parlamentarier seit dem Systemwechsel im Schnitt älter als die Mitglieder des Volksdeputiertenkongresses der Breschnew-Zeit (Kryschtanowskaja 2005:89). Unter allen Elitesektoren, also etwa im Vergleich zu den Regierungseliten, sind sie aber dennoch am jüngsten. Erst unter W. Putin haben sich Abgeordnete und Regierungsmitglieder altersmäßig angeglichen. Seite 36 Rademacher Semenova Seite 37 Berufe der Abgeordneten 3 Lehrer und Juristen – Manager und Militär: Die Berufe der Abgeordneten Seite 38 U nter den deutschen Parlamentariern sind traditionell die Beamten bzw. allgemein die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes stark vertreten – ein Phänomen, das auch aus einer Reihe anderer europäischer Staaten bekannt ist (Cotta, Verzichelli 2006:544f.). Die Zahl der Beamten des höheren Dienstes liegt im Bundestag durchschnittlich bei 17 Prozent. Im Vergleich dazu beträgt der Anteil der (Hochschul-)Lehrer ungefähr 13 Prozent. Generell ist festzustellen, dass der Teil der Parlamentarier aus dieser Berufsgruppe seit der Wiedervereinigung um vier Prozentpunkte gesunken ist. So betrug die Zahl der Beamten und Lehrer 2005 entsprechend 14 und 10 Prozent. Parteifunktionäre bzw. Abgeordnete mit Berufserfahrung in den Interessengruppen sind im deutschen Nationalparlament gut repräsentiert. Sie bilden eine Gruppe im Umfang von etwa 15 Prozent. Die Zahl der Mandatsträger mit politischer Berufspraxis ist seit der Wiedervereinigung kontinuierlich gestiegen und lag in der letzten Legislaturperiode bei 17 Prozent. Obwohl Freiberufler, vor allem Juristen, weniger häufig als Politiker oder Beamte in den Bundestag gewählt wurden, liegt deren Anteil nichtsdestoweniger im Durchschnitt bei etwa acht Prozent. Besonders interessant ist hierbei, dass der Anteil der Juristen im Bundestag seit der Wiedervereinigung nur um vier Prozentpunkte gestiegen ist. Werden die Abgeordneten nach West und Ost unterschieden, sind Beamte des höheren Dienstes sowie Lehrer und Professoren vor allem unter den westdeutschen Parlamenta- Semenova riern überrepräsentiert. Gleiches gilt für die politischen Berufe. Demgegenüber werden in Ostdeutschland bevorzugt Parteipolitiker sowie Angestellte von Interessengruppen gewählt. Ist der Deutsche Bundestag überwiegend von Beamten dominiert, so bildet die russische Duma in der ersten Linie die Interessenvertretung des Business und des öffentlichen Dienstes. Wird die berufliche Herkunft der Mandatsträger zugrunde gelegt, sind unter den russischen Abgeordneten fast 38 Prozent Top-Manager und Angestellte großer Unternehmen. Dagegen werden die Interessen des kleinen Mittelstandes überhaupt nicht im Parlament repräsentiert. Seit der ersten Legislaturperiode erhöhte sich die Zahl der Abgeordneten aus der Wirtschaftsbranche stetig. Waren zu Beginn circa 30 Prozent der Delegierten Geschäftsmänner, so erhöhte sich diese Zahl bis zur vierten Legislaturperiode auf 44 Prozent. Die zweitgrößte Gruppe der Parlamentarier bilden die Beschäftigten des öffentlichen Sektors: Beamte (neun Prozent) sowie Lehrkräfte (acht Prozent). Die Zahl der Abgeordneten mit Berufserfahrung im Lehrbereich und öffentlichen Dienst ist gesunken. Während 1993 etwa 13 Prozent der höheren und gehobenen Beamten Dumamandate bekamen, so waren es 2003 nur noch sechs Prozent. Eine ähnliche Tendenz ist für die Repräsentation der Lehrkräfte im Parlament festzustellen: Lag der Anteil der Lehrer unter den Parlamentariern in den ersten zwei Amtsperioden unverändert bei zehn Prozent, hatten sich die entsprechenden Werte bis zur vierten Legislaturperiode halbiert. Demgegenüber blieb der Anteil der freiberuflich Beschäftigten bei den Mandatsträgern über die Jahre konstant und beträgt ungefähr 11 Prozent. Aus politiknahen Bereichen wie Parteien oder Interessengruppen werden weniger Abgeordnete rekrutiert als aus der Wirtschaftselite. Der Anteil der aus diesem Bereich Rekrutierten ist über die Zeit hinweg stabil geblieben, mit Ausnahme von 1995, als die Zahl um zwei Prozentpunkte sank und etwa neun Prozent aller russischen Parlamentarier Politiker waren. Wird die allgemeine Entwicklung der Rekrutierung in der Duma betrachtet, fällt der kontinuierliche Anstieg an Mandatsträgern mit militärischem Hintergrund auf. Das ursprüngliche Niveau von vier Prozent militärischer Vertreter verdreifachte sich bis zur vierten Amtsperiode der russischen Duma. Seite 39 Berufe der Abgeordneten Tabelle 2: Die wichtigsten Berufsgruppen in Russland und Deutschland im Vergleich (in Prozent) Legislaturperiode Lehrer D Politiker Rus D Beamte Rus D Juristen Rus D Business Rus D Rus Militär D Rus 1. 14,0 9,6 12,5 11,0 17,8 13,0 6,9 4,4 3,9 28,9 0,5 3,9 2. 14,3 10,0 14,1 8,2 17,9 8,6 6,7 2,1 3,1 36,0 0,4 5,2 3. 14,2 7,6 16,6 9,2 17,0 7,6 7,3 2,0 3,0 43,6 0,4 9,2 4. 13,4 5,0 13,9 9,0 17,1 6,1 10,0 1,8 3,6 44,1 0,2 11,0 5. 10,4 Insgesamt 13,3 2,6 3,5 38,2 0,3 7,4 16,8 8,1 14,8 14,2 9,3 16,8 11,1 8,9 8,3 3,7 Quelle: Eigene Darstellung Die „Verbeamtung“ des Bundestages wurde und wird häufig kritisiert (Ismayr 2000:66). Dabei geht es nicht um „die Gewaltenteilungsrelevanz des einzelnen Bediensteten, der Parlamentsmitglied ist, sondern um die Gewaltenteilungsrelevanz einer zu großen Anzahl von öffentlichen Bediensteten im Parlament“ (Tsatsos 1989:713). Tatsächlich stagniert der Anteil der Beamten unter den deutschen Abgeordneten in der 12. und 13. Amtsperiode: Er lag im Westen um vier Prozentpunkte über den ostdeutschen Werten und betrug fast 19 Prozent. 2005 fiel dann der Anteil der Beamten im Bundestag, allerdings blieb der Unterschied von vier Prozentpunkten zwischen West- und Ostabgeordneten erhalten. Die entsprechenden Werte lagen bei 15 Prozent (MdB aus den alten Ländern) und 11 Prozent (ostdeutsche MdB). Seite 40 Bei der ostdeutschen SPD ist die Zahl der Beamten von 12 Prozent um weitere sechs Prozentpunkte gestiegen und lag 2005 fast auf gleicher Höhe mit dem westdeutschen Niveau. Unter den westdeutschen CDU-Mandatsträgern sank der Anteil von Beamten tendenziell: 1990 lagen die Werte bei 21 Prozent und in der 16. Legislaturperiode schon bei 17 Prozent. Bei den CDU-Abgeordneten aus den neuen Bundesländern nahm der Anteil der Beamten bis 1998 stark zu und lag in der 14. Periode bei 30 Prozent, das heißt neun Prozentpunkte mehr als nach der Wiedervereinigung. Seitdem verkleinerte sich der Anteil aber fast um die Hälfte und lag in der 16. Legislaturperiode nur noch drei Prozentpunkte unter dem westdeutschen Schnitt. Werden die kleinen Parteien betrachtet, so ist festzustellen, dass es bei einigen keine Beamten als Abgeordnete gab, so bei der PDS im Westen und den Grünen im Osten. Unter den ostdeutschen Linksparlamentariern sind die Beamten seit der 15. Legislaturperiode auch nicht mehr vertreten. Den höchsten Anteil an Beamten in der russischen Staatsduma hatten die Regionalisten - die Partei der Russischen Einheit und Eintracht. In dieser Partei lag die Gruppe der Beamten bei ca. 32 Prozent. Werden andere Parlamentsparteien untersucht, ist festzustellen, dass die größte Zahl an Beamten Semenova von der linksliberalen Partei JABLoko und den Pro-Präsidentenparteien gestellt wurde. Diese Zahl ist allerdings stark gesunken. Beamte aus dem höheren und gehobenen Dienst waren eine der wichtigsten Gruppen bei der Parteirekrutierung von JABLoko. Ihr Anteil lag 1993 bei 22 Prozent der linksliberalen Mandatsträger, aber er nahm im Verlauf der Zeit ab und betrug in der dritten Duma lediglich noch fünf Prozent. Die Rekrutierung von Beamten durch die Machtparteien ist seit der ersten Duma kontinuierlich gesunken und lag in der vierten Duma nur noch bei sieben Prozent, 1993 war dieser Anteil noch viermal so groß. Augenscheinlich eröffnete die Möglichkeit der Erlangung eines Direktmandates durch Selbstnominierung bei der Dumawahl und die Tätigkeit als unabhängiger Abgeordneter Beamten eine Möglichkeit, ins Parlament einzuziehen. Bis 1995 erhöhte sich deren Zahl um nahezu fünf Prozent und betrug in der zweiten Duma schon 19 Prozent. Seitdem ist sie rückläufig und lag 2003 bei etwa fünf Prozent. Generell lässt sich der Einfluss von Beamten durch die Entwicklung der Staatssphäre sowie durch die wachsende Komplexität der öffentlichen Verwaltung erklären (vgl. dazu Bottomore 1966:Kap.4). Es ist festzustellen, dass die höheren Beamten sowohl in der russischen Duma als auch im Deutschen Bundestag im Zeitverlauf schwächer vertreten sind. Während der Beamtenanteil in Deutschland seit der Wiedervereinigung auf vier Prozent gesunken ist, hat ihre Zahl im russischen Nationalparlament gravierend abgenommen. Zum Teil geht dies auf die Elitenzirkulation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurück: Die alte Verwaltungs- elite oder „die politische Bürokratie“ (Djilas 1960:62) wurde aufgrund ihrer Nähe zur Politik, ihrer „politisierten Inkompetenz“ (Derlien 1997:376) und der unzureichenden Erfahrung im neuen System für ungeeignet befunden und daher ausgetauscht. Zum anderen ist es das Ergebnis rechtlicher Normen in beiden Staaten. So haben die beamtenrechtlichen Vorteile, die Beamte in Deutschland in der Politik genießen (Beurlaubung, Rückkehrmöglichkeiten sowie finanzielle Sicherung), einen starken Einfluss auf die Verbeamtung des Bundestages (Herzog 1982:77f.). Die rechtliche Regulierung von Beamtentätigkeit in Russland hat die aktive Rekrutierung dieser Berufsgruppe nicht begünstigt. Die Rekrutierung von Lehrern in den Bundestag ist am stärksten im westlichen Teil Deutschlands zu beobachten. Bis zur dritten Parlamentsperiode erhöhte sich hier die Zahl und erreichte fast 16 Prozent. Danach nahm dieser Wert um vier Prozentpunkte ab. Demgegenüber sank der Anteil der Lehrkräfte unter den ostdeutschen Abgeordneten kontinuierlich. 2005 lagen die entsprechenden Werte nur noch bei drei Prozent, während die Zahl der ins Parlament rekrutierten (Hochschul-) Lehrer direkt nach der „Wende“ fast dreimal so hoch war. Während sich unter den ostdeutschen SPDAbgeordneten der Lehrkräfteanteil im Zeitverlauf um 15 Prozentpunkte Seite verringerte und in der letzten Legislaturperiode nur noch bei drei Prozent lag, ist der Anteil unter den westdeutschen MdB vom Anfangsniveau von 21 Prozent um drei Prozentpunkte gesunken und bis zur 15. Amtsperiode konstant 41 Berufe der Abgeordneten geblieben. In der letzten Legislaturperiode ist der Anteil geringfügig gestiegen und lag bei 18 Prozent. Wird die Entwicklung der Lehrerrepräsentanz bei der CDU betrachtet, so betrug der Anteil im Osten nach der Wiedervereinigung ungefähr fünf Prozent. Seit 1998 gibt es in den neuen Ländern unter den CDU-Mandatsträgern keine Lehrer mehr. In den alten Ländern entwickelte sich der Anteil der Lehrkräfte nicht linear: Vom Ausgangsniveau von 11 Prozent ist der Anteil bis zur 13. Amtsperiode um einen Prozentpunkt zurückgegangen, dann stieg er erneut auf 12 Prozent und ist seitdem wieder um fünf Prozentpunkte gesunken. Seite Bezüglich des russischen Parlaments war die Zahl der rekrutierten Lehrer und Professoren sowie Journalisten in der ersten Legislaturperiode in den Parteien LDPR und KPRF am höchsten. So hatte die LDPR 1993 etwa 12 Prozent Lehrer und bei der KPRF war die entsprechende Zahl fast doppelt so hoch. Die Zahl der Abgeordneten aus dem Medienbereich ( Journalisten) war in den beiden Parteien ungefähr gleich stark und lag bei 14 Prozent. In der vierten Duma ist in der LDPR und KPRF die Vertretung der (Hochschul-) Lehrer und Abgeordneten mit journalistischer Erfahrung gesunken. Der Anteil der Lehrer hat sich bei der KPRF um fünf Prozentpunkte verringert und bei der LDPR gibt es überhaupt keine Lehrer als Abgeordnete. Auch die Repräsentation der Journalisten 42 in diesen Parteien reduzierte sich um mehr als ein Drittel. „Unpopulär“ ist die Rekrutierung von (Hochschul-) Lehrern und Journalisten in den Pro-Präsidentenparteien. Der Anteil der Parlamentarier mit diesem beruflichen Hintergrund war von Anfang an nicht groß – es waren lediglich neun Prozent der Abgeordneten Lehrer und fünf Prozent Journalisten – und hat sich im weiteren Verlauf stetig verringert. So waren 2003 unter den russischen Mandatsträgern insgesamt nur drei Prozent aus diesen beiden Berufsgruppen. Im Deutschen Bundestag und speziell unter seinen westdeutschen Mitgliedern entspricht die Rekrutierung der Lehrkräfte dem europäischen Trend: Obwohl sich die Zahl der Lehrer und Professoren in den letzten Legislaturperioden und in ganz Europa seit den 1980er Jahren beständig verringerte (Cotta / Verzichelli 2006:534f.), hat sich im Längsschnitt seit Mitte des 19. Jahrhunderts tendenziell eine Steigerung ergeben (Cotta / Best 2000:501). Vergleicht man die Vertretung der Lehrkräfte in den Nationalparlamenten Russlands und Deutschlands, sind die gleichen Tendenzen zwischen den ostdeutschen und russischen Abgeordneten festzustellen. Der jeweils starke Rückgang an (Hochschul-)Lehrern im Parlament hat unterschiedliche Gründe. Zum einen geht er auf den gesellschaftlichen und politischen Umbruch zurück, der die Möglichkeit verhinderte, eine sektorale Karriere weiterzuverfolgen (Welzel 1997:114f.): Lehrer waren ein Teil der so genannten Intelligenzija und stellten daher im Kommunismus eine aktive Gesellschaftsgruppe dar, deren Rolle wegen des Einflusses auf die politische Sozialisierung von Jugendlichen als besonders wichtig galt. Gleichzeitig stand sie für die Werte und Nomen des alten Regimes und verlor nach dem Umbruch ihr gesellschaftliches Berufsprestige. Als Ergebnis wurden immer weniger aus ihren Reihen rekrutiert. Zum anderen könnte die Abnahme der Lehrerzahl im Parlament das Semenova Resultat des wirtschaftlichen Wandels sein. Im postsowjetischen Raum funktionierte die wissenschaftliche Tätigkeit unter erschwerten finanziellen Bedingungen, weshalb eine Abwanderung von (Hochschul-)Lehrern in andere Bereiche, vor allem in die freie Wirtschaft zu beobachten war: So betrug die Abwanderung von Lehrkräften in Russland innerhalb von 11 Jahren (1992 bis 2003) fast 44 Prozent (Gudkov / Dubin / Levada 2007:59f.). Im Deutschen Bundestag ist nur eine Berufsgruppe vertreten, die einer freiberuflichen Tätigkeit nachgeht: die Juristen, deren Zahl sich kontinuierlich erhöht. Unter den westdeutschen Abgeordneten ist der Anteil der Juristen von acht auf 12 Prozent gestiegen, demgegenüber lag die entsprechende Zahl im Osten um sechs Prozentpunkte unter dem westdeutschen Niveau. Unter den ostdeutschen Parlamentariern sind die Juristen nicht vertreten. Das gilt gleichermaßen für CDU und SPD, die beide nur ein sporadisches Rekrutierungsmuster demonstrieren: Wurden 1998 fast zwei Prozent der Juristen von der SPD rekrutiert, wurden nach der Wiedervereinigung auch zwei Prozent der Juristen als CDU-Abgeordnete gewählt. Demgegenüber ist diese Berufsgruppe unter den westdeutschen Abgeordneten stärker vertreten, vor allem unter den CDU-Mandatsträgern: Deren Zahl verdoppelte sich im Zeitverlauf und betrug in der 16. Legislaturperiode fast 19 Prozent. Bei der SPD ist die Zahl der Juristen um knapp sechs Prozentpunkte gestiegen und lag 2005 bei etwa zehn Prozent. Im Vergleich zu Deutschland sind in Russland Juristen mit einer eigenen Kanzlei eher selten im Parlament vertreten. Neun Prozent wurden in der ersten und zweiten Legislaturperiode von der LDPR rekrutiert und in der dritten Duma haben fast 14 Prozent der Juristen für die SPS kandidiert. Andere Gruppen von Freiberuflern sind in der russischen Duma stärker vertreten als im Bundestag. Unter allen Parlamentsparteien weist die linksliberale Partei JABLoko den höchsten Anteil auf. Die Repräsentanz von Freiberuflern in dieser Partei hat sich bis 1999 nicht linear entwickelt. In der ersten Duma waren noch 59 Prozent freiberufliche Professionelle, in der zweiten Duma verringerte sich dieser Wert um 19 Prozent, um anschließend wieder auf 47 Prozent anzusteigen. Ein Anstieg des Freiberufleranteils ist bei der LDPR und den unabhängigen Kandidaten zu sehen, obwohl diese Tendenz bei der LDPR prozentual am stärksten ist. Die Repräsentation dieser Berufsgruppe in der LDPR lag in den ersten zwei Legislaturperioden bei 13 Prozent, hat sich seitdem fast verdreifacht und betrug in der vierten Legislaturperiode etwa 33 Prozent. Unter den unabhängigen Kandidaten stagnierte die Freiberuflerzahl bis zur dritten Dumawahl, verdreifachte sich dann aber ebenfalls und lag in der vierten Duma bei exakt 15 Prozent. In den Pro-Präsidentenparteien liegt der Freiberufleranteil im Durchschnitt bei neun Prozent. Die entsprechenden Werte sind seit 1993 von sieben auf Seite zehn Prozentpunkte gestiegen und stagnieren seitdem. Während die im Vergleich zu den USA geringe Zahl der Juristen im Nationalparlament ein charakteristisches Merkmal der deutschen 43 Berufe der Abgeordneten Politik war (Best / Hausmann / Schmitt 2000:166), hat diese Berufsgruppe in der russischen Duma eine marginale Stellung. Die schwache Vertretung der Juristen lässt sich unter anderem aus der Entstehung der Marktwirtschaft in Russland erklären und der damit einhergehenden Möglichkeit, eine juristische Praxis zu gründen und selbstständig zu arbeiten. Juristen genießen ein höheres Berufsprestige in der post-sowjetischen Gesellschaft und außerdem eine finanzielle Unabhängigkeit. Zum Teil geht die schwache Vertretung der Juristen im Parlament auf die Rekrutierungsstrategien politischer Parteien und wahrscheinliche strukturelle Hindernisse für eine politische Karriere von Juristen zurück (vgl. Pederson 1972). Seite Was die Repräsentation anderer freiberuflich tätiger Professioneller angeht, liegt Deutschland im europäischen Trend, da der Anteil von Abgeordneten, die sich aus Freiberuflern rekrutieren, europaweit im Zeitverlauf gesunken ist (Cotta / Best 2000:501). Die starke Vertretung der Freiberufler in der Duma geht zum einen auf die Veränderung der Arbeitsmöglichkeiten zurück: Nach dem Ende der Sowjetunion ergab sich die Möglichkeit, selbständig tätig zu sein. Die Entwicklung einer neuen Arbeitskultur sowie das Entstehen neuer Berufe, welche mit der politischen Tätigkeit im Allgemeinen und der parlamentarischen im Besonderen vereinbar waren, haben die Repräsentanz der Freiberufler im Parlament 44 positiv beeinflusst. Zu anderem spielt der Faktor Geld eine wichtige Rolle: Diäten russischer Abgeordneter sind weit niedriger im Vergleich zu Deutschland, weshalb die rechtlich gebilligte freiberufliche Tätigkeit eine Möglichkeit bietet, anderweitig finanzielle Mitteln zu erwirtschaften. Die Entwicklung der Repräsentation der Abgeordneten mit politischem Hintergrund hat in West- und Ostdeutschland den gleichen Verlauf genommen. Bis zur dritten Legislaturperiode ist die Zahl der Politiker in unterschiedlichem Maße gestiegen: Während sich die Anzahl im Westen Deutschlands lediglich um zwei Prozent erhöhte und Werte um 16 Prozent erreichte, verdreifachte sich die entsprechende Zahl im Osten und lag fünf Prozentpunkte über dem westdeutschen Schnitt. In der letzten Periode schwankten die Werte in den beiden Teilen Deutschlands und lagen durchschnittlich bei 19 Prozent für Ost- und 16 Prozent für Westdeutschland. Aus den großen Parteien werden Politiker und Abgeordnete mit Erfahrungen in Interessengruppen hauptsächlich von der SPD rekrutiert, das gilt in gleichem Maße für Ost- als auch für Westdeutschland. Die Zahl von Abgeordneten, die bereits über politische Erfahrung verfügten, zeigte in dieser Partei für beide Teile der Bundesrepublik keinen linearen Entwicklungsverlauf. In den neuen Ländern vergrößerte sich der Politikeranteil bei der SPD um etwa 19 Prozentpunkte und lag in der 15. Legislaturperiode bei 28 Prozent. In der letzten Periode ist diese Zahl rückläufig und liegt nun bei 21 Prozent. Unter den westdeutschen SPD-Parlamentariern schwankt der Anteil von „Politikern“ zwischen 15 und 18 Prozent. Bei der CDU verdoppelte sich die Zahl der Politiker in Ostdeutschland bis zur 13. Legislaturperiode und lag bei etwa zehn Prozent; seitdem ist sie rückläufig. In Westdeutschland nahm der Anteil der Politiker unter den CDUAbgeordneten bis zur 14. Legislaturperiode um Semenova drei Prozentpunkte zu und lag bei 14 Prozent. Seitdem schwankten die Werte zwischen 11 und 14 Prozent. unter den Abgeordneten der Duma und zweitens die massive Rekrutierung von Parlamentariern aus der Geschäftselite. In der Staatsduma ist die Erfahrung in einem politischen Beruf für die Rekrutierung von Abgeordneten hingegen nicht ausschlaggebend. So ist die Zahl der „Politiker“ bei den großen Dumaparteien wie der LDPR und den ProPräsidentenparteien gesunken, am stärksten jedoch bei der LDPR, bei der sich die Zahl der Politiker im Zeitverlauf von 15 Prozent auf lediglich noch drei Prozent reduzierte. Im Gegensatz dazu verdoppelte sich der Anteil der Politiker bei der Kommunistischen Partei und erreichte 2003 den höchsten Wert in der Staatsduma von 26 Prozent. Im Unterschied zu den Beamten stellten die „Politiker“ nach der ersten und dritten Dumawahl nur fünf Prozent der unabhängigen Deputierten. Die Steigerung des Abgeordnetenanteils mit militärischem Hintergrund ist hauptsächlich auf die Parteien der rechtsextremen LDPR und der Pro-Präsidentenpartei zurückzuführen. Während sich bei den Pro-Präsidentenparteien die Zahl fast verdreifachte und 2003 bei 11 Prozent lag, erhöhte sich die Zahl bei der LDPR von drei auf 14 Prozent. Eine vorparlamentarische Militärtätigkeit haben durchschnittlich 11 Prozent der unabhängigen Kandidaten ausgeübt. Seit 1993 ist ein Anstieg von Direktkandidaten mit militärischem Hintergrund zu verzeichnen, welcher seine maximalen Werte mit 14 Prozent in der dritten Duma erreichte und seitdem auf zehn Prozent gesunken ist und damit auf dem Niveau von 1993 liegt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass bei den Wahlen von 1999 sowohl die linksliberale Partei JABLoko als auch die rechtsliberale Partei SPS entsprechend 11 und sieben Prozent Militärs rekrutierten. Der Bereich der höheren Verwaltung kann – mit einigen aus seiner heterogenen Struktur hervorgegangenen Abstufungen – als relativ politiknah betrachtet werden (Ismayr 2000:66). Der Anstieg der Rekrutierung von Parteifunktionären in Deutschland zeigt deutlich die Wiederentdeckung dieser Gruppe als einen wichtigen Teil des politischen Rekrutierungspools (Best / Hausmann / Schmitt 2000:168). Er folgt der europäischen Tendenz, nach der der Anteil der Abgeordneten mit politischem bzw. gewerkschaftlichem Berufshintergrund erheblich gestiegen ist (Cotta / Best 2000:501f.). Im deutsch-russischen Vergleich zeigen sich bei der Abgeordnetenrekrutierung viele ähnliche Tendenzen. Zwei Besonderheiten gilt es in der Entwicklung Russlands hervorzuheben: erstens die zunehmende Präsenz des Militärs Generell ist es festzustellen, dass der Militäranteil im Parlament zu Amtszeiten Putins deutlich gestiegen ist. Der Militarisierungsprozess betrifft nicht nur das Parlament Russlands, sondern auch die politische Klasse allgemein. Gab es 1989 bei Gorbatschow noch keine Militärvertreter, waren es bei Jelzin im Jahr 1993 sieben und 2002 Seite bereits 27 Prozent (Kryschtanowskaja 2005:154f.). Diesbezüglich muss angemerkt werden, dass die Zunahme von Militärs in der Amtszeit Putins nicht nur im Parlament, sondern auch in regionalen Elitengruppen festzustellen ist. 45 Berufe der Abgeordneten Als Gründe hierfür sind die politischen Folgen der Tätigkeit von Jelzin sowie der Zerfall der Armee und des KGB zu benennen. Aus der Aufspaltung des KGB entstanden zusätzlich neue bewaffnete Körperschaften (Muchin 2002). Eine Reform der Armee wurde, trotz stark verbreiteter Zweifel am positiven Ausgang, während der Regierungsjahre Jelzins massenhaft gefordert (vgl. die Paneluntersuchungen von Fond „Obchstvennoje mnenie“). Gleichzeitig fand die Forderung nach militärischer Stärke in der Bevölkerung wachsende Unterstützung: So glaubten im Jahr 1998 76 Prozent, dass Russland eine sehr starke Armee haben sollte, um als Weltmacht handlungsfähig zu bleiben (Kertman 1998). Ebenso glaubten 56 Prozent, dass die von Jelzin initiierte Truppenreduzierung letztendlich eine Schwä- chung der Armee wäre (Petrova/ Chernjakov/ Klimova/ Jadova 1999). All dies hatte zur Folge, dass in Russland oft Rufe nach einer „starken Hand“ und nach „Ordnung schaffen“ laut wurden. Die Popularität V. Putins nährt sich zum Teil aus diesen Ansichten: Bereits 1999, als lediglich sieben Prozent der Wahlberechtigten den neuen Regierungschef V. Putin zum Präsidenten wählen wollten, zeigten repräsentative gesamtrussische Befragungen, dass seine Wahlchancen von seiner Fähigkeit abhängig seien, erfolgreich eine Politik der „starken Hand“ durchzusetzen (Kertman 1999). Diesbezüglich muss erwähnt werden, dass im russischen Massenbewusstsein Militärs als ehrliche, patriotische, verantwortungsbewusste Menschen gelten (Kryschtanowskaja 2005:152, Petrova 2002). Grafik 4: Anteil der Militärs in der Staatsduma Russlands (in Prozent) 16 14 12 10 8 6 4 Seite 46 2 0 1993 1995 LDPR Quelle: Eigene Darstellung Unabhängige Abgeordnete 1999 2003 Pro-Präsidentenparteien Semenova Ein weiteres Spezifikum des russischen Nationalparlaments ist der hohe Anteil von Abgeordneten, die aus dem Management stammen. Es sind zwei Tendenzen in der Rekrutierung von Abgeordneten aus dem hohen Management und großen Business festzustellen. Erstens hat sich in der Kommunistischen und in den Pro-Präsidentenparteien die Zahl über die Jahre hinweg stetig erhöht. Während anfangs der Anteil der Manager in beiden Parteien bei 26 und 24 Prozent lag, waren es in der vierten Legislaturperiode bei der KPRF schon 37 Prozent und bei der Pro-Präsidentenpartei sogar 50 Prozent aller Abgeordneter. Zweitens ist die Rekrutierung der Wirtschaftselite von Seiten der rechtsextremen Partei LDPR seit den Wahlen von 1993 auf 22 Prozent gestiegen und erreichte 1999 ihren Höchstwert mit 47 Prozent. Auch die rechtsliberale Partei SPS rekrutierte im Jahre 1999 45 Prozent ihrer Abgeordneten aus der Wirtschaftselite. Jedoch lag diese Zahl in der vierten Duma bei der LDPR nur noch bei 16 Prozent. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei den unabhängigen Abgeordneten beobachten: Der Anteil der Mandatsträger aus dem Businessbereich war zu Beginn bei der LDPR noch höher und betrug 36 Prozent. In der dritten Duma kam bereits die Hälfte aller unabhängigen Abgeordneten aus dieser Berufsgruppe, danach sank deren Anteil wieder bis auf das Niveau von 1993. Auch in der linksliberalen Partei JABLoko zeigte sich eine ähnliche Entwicklung der Rekrutierung von Geschäftsleuten ins Parlament, wenn auch mit einiger zeitlicher Verzögerung: Hier hat sich der Anteil der Manager seit 1993 fast verdreifacht und lag 1995 bei 19 Prozent, danach kam ein leichter Rückgang um drei Prozentpunkte. Seite 47 Berufe der Abgeordneten Grafik 5: Anteil der Manager in der Staatsduma Russlands (in Prozent) 60 50 40 30 20 10 0 1993 Kommunisten 1995 LDPR 1999 Unabhängige Abgeordnete 2003 Pro-Präsidentenparteien Quelle: Eigene Darstellung Seite Die Steigerung der Repräsentanz wirtschaftlicher Eliten geht auf die gesellschaftliche Entwicklung nach dem sowjetischen Systemumbruch zurück, bei dem neue Formen sozialer Differenzierung und neue Eliten entstanden. Die Entwicklung der Wirtschaftselite ist aus zwei Gründen besonders bemerkenswert. Erstens gab es in dieser Elitengruppe die größte Rate an Neulingen (Harter / Grävingholt / Pleines / Schröder 2003:Kap.2.3), welche sich durch die Herausbildung der Marktwirtschaft erklären lässt. Zweitens stellte sie insgesamt einen bedeutenden Poli48 tikfaktor dar, der die gesellschaftliche Entwicklung im Allgemein sowie das politischen Leben in der späten Zeit Jelzins im Besonderen erheblich prägte (Peregudov / Lapina / Semenenko 1999; Klebnikov 2000). Das Besondere dieser Entwicklungstendenzen der russischen Wirtschaftseliten in der JelzinÄra ist die Herausbildung von mindestens drei großen Gruppen (Zaslavskaja 1995). Die erste Gruppe bildeten die Staatsunternehmer oder die ehemaligen „roten“ Direktoren, die bereits vor der Privatisierung hohe Positionen innehatten. Sie sicherten ihre Stellungen mittels der Privatisierung und übten einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung aus (Staatslobbyismus). Die zweite Gruppe bestand aus Unternehmern im klassischen Sinne, die Betriebe ausbauten und für die Vermarktung von Produkten sorgten - die „Manager par excellence“ in der Terminologie von T. Bottomore (Bottomore 1966:80). Die letzte Gruppe repräsentierte einen Unternehmertyp der Übergangszeit. Es waren die so genannten „politischen“ Unternehmer, die sich Semenova nicht hauptsächlich mit der Marktentwicklung und dem Profit von Betrieben, sondern mit der Maximierung der „politischen Rendite“ und der Gestaltung von Beziehungen mit staatlichen Institutionen, insbesondere zu Regierungsstellen befassten (Harter / Grävingholt / Pleines / Schröder 2003:140). Das Tätigkeitsspektrum von „politischen“ Unternehmern war sehr breit. Es reichte von der Lobbytätigkeit im Interesse einzelner Betriebe oder Branchen bis hin zur entscheidenden Einflussnahme auf die Herausbildung der obersten Machtorgane und die Besetzung der hochrangigen Positionen im Staat. Dies vollzog sich in verschiedenen Formen: Die Unternehmer kandidierten bei den Wahlen und initiierten die Gründung politischer Parteien, die sie weiter finanzierten. Interessanterweise bekamen alle Parteien diese finanzielle Unterstützung von großen Unternehmen unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung (Kryschtanowskaja 2005:210, 214f.). Nach der Wahl Putins zum Präsidenten wurde dieses System des „politischen“ Unternehmers stark umstrukturiert. Es entstand eine neue Gruppe der Wirtschaftselite, eine die unter den Bedingungen der „Gesetzesdiktatur“ (V. Putin) und der besonderen Bedeutung von „Staatlichkeit“ existieren musste und die eine staatliche Unterstützung suchte, wobei sie aber den von den ehemaligen „Oligarchen“ ausgeübten Einfluss auf die Macht verlor (Harter / Grävingholt / Pleines / Schröder 2003:303f.). Das hochrangige Business ist im russischen Nationalparlament überrepräsentiert. Damit ergibt sich für die Duma in dieser Hinsicht ein ähnliches Rekrutierungsmuster wie für das britische Unterhaus und die französische Na- tionalversammlung. Allerdings ist in Europa die Zahl der Abgeordneten mit BusinessBerufserfahrung entweder rückläufig oder generell gering (Cotta / Best 2000:500f.). Zum einen könnte die Überrepräsentierung des Business, wie im Fall von Frankreich (Cotta / Best 2000:506), die Folge einer langen Tradition der staatlichen Kontrolle in der ökonomischen Sphäre sowie einer engen Bindung zwischen staatlichen und hochrangigen Wirtschaftskarrieren sein. Obwohl es in Russland keine strikte Abgrenzung zwischen Eigentümern und Unternehmensführern gab, entwickelt sich das Business aktuell nicht zur neuen „herrschenden Klasse“, weil es von der politischen Elite stark abhängig ist (vg. Bottomore 1966:83). Wenn im Fall Deutschlands der geringe Anteil der Manager Resultat der Dissoziation zwischen Politik und Wirtschaft auf der Individualebene ist und es statt der direkten Repräsentation von Interessen großer Wirtschaftssubjekte im Nationalparlament ein verbreitertes und stärker institutionalisiertes Lobbysystem gibt (Best / Hausmann / Schmitt 2000:165), ist der Lobbyismus in Russland nicht institutionalisiert und gesetzlich nicht reguliert (Lobbism v Rossii 1995). Seite 49 Partei versus Patronage? 4 D er erste Teil des Kapitels ist den politischen Erfahrungen von Abgeordneten vor ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag sowie in die Staatsduma gewidmet. Es werden hauptsächlich die Art der politischen Vorerfahrung und die Zahl der politischen Ämter (Ämterkumulation) analysiert. Aufgrund der sozialistischen Erfahrung Russlands und Ostdeutschlands wird auch die Affiliation der Parlamentarier mit dem alten Regime (DDR und Sowjetunion) in den Blick genommen. Dies steht im Fokus des zweiten Teils dieses Kapitels. 4.1. Politische Erfahrung Partei tischen der Seite 50 Patronage? Zu den poliErfahrungen und Vorpositionen versus Parlamentarier Im Durchschnitt verfügten etwa 60 Prozent der westdeutschen Parlamentarier über eine regionale bzw. lokale politische Erfahrung, das liegt 18 Prozent über dem ostdeutschen Durchschnitt. Im Osten erhöhte sich der Anteil der Politiker mit Erfahrung in der Landes- bzw. Kommunalpolitik um ca. 20 Prozentpunkte und liegt aktuell bei 51 Prozent. Im Westen ist die Entwicklung dagegen rückläufig: Der Anteil ist um vier Prozentpunkte gesunken und lag in der 16. Legislaturperiode bei 58 Prozent. Etwa 52 Prozent der Westabgeordneten haben vor dem Einzug ins Parlament eine höhere Position in der Partei bekleidet, dieser Wert liegt 13 Prozent über dem ostdeutschen Schnitt. Unter den westdeutschen Parlamentariern erhöhte sich der Anteil vom Anfangsniveau von 47 auf 57 Prozent, wobei der Anstieg im Osten prozentual höher ist: Die Werte lagen anfangs bei 35 und stiegen später auf 53 Prozent. Während der Unterscheid zwischen Ost- und Semenova Westabgeordneten nach der Wiedervereinigung noch bei etwa 12 Prozent lag, hat er sich aktuell auf vier Prozent reduziert. Die meisten russischen Abgeordneten besaßen vor dem Einzug in die Duma schon eine höhere Parteiposition entweder auf Landes- oder auf Föderalebene bzw. lokalpolitische Erfahrung. 32 Prozent der russischen Parlamentarier bekleideten vor der ersten Dumawahl von 1993 eine höhere Parteiposition auf regionaler bzw. föderaler Ebene. Die höchsten Werte bei der Rekrutierung ehemaliger hoher Parteifunktionäre lagen 1995 bei etwa 36 Prozent. Generell ist die Rede von konstanten 30 Prozent, die als Abgeordnete mit Parteierfahrungen rekrutiert wurden. Die Politiker mit der regionalen Erfahrung bilden fast ein Viertel des Parlaments: Ihr Anteil ist langsam gestiegen und lag 1999 bei 24 Prozent, dann ist er wieder geringfügig gefallen. Eine andere parlamentarische Tätigkeit, vor allem die in den Landtagen, hatten die meisten ostdeutschen MdB bereits ausgeübt, derer Anteil im Durchschnitt etwa 43 Prozent betrug. Dies ist ein ostdeutsches Spezifikum, da ein Teil dieser Erfahrung aus der 10. Volkskammer der DDR stammt – die erste demokratisch gewählte Kammer. Unter den westdeutschen Parlamentariern verfügten nur 18 Prozent schon über eine parlamentarische Erfahrung. Es ist festzustellen, dass der Anteil der Mandatsträger aus den neuen Ländern, die schon ein parlamentarisches Amt innehatten, kontinuierlich gesunken ist: von ursprünglichen 55 auf 36 Prozent. Dies geht damit zusammen, dass der Anteil der ehemaligen Landtagsabgeordneten gestiegen und der der ehemaligen Volkskammermitgliedern im Osten gefallen ist (Edinger 2006:512f.). Unter den westdeutschen Parlamentariern ist ein geringfügiger Anstieg um zwei Prozentpunkte zu sehen: In der 16. Legislaturperiode lagen die Werte bei 19 Prozent. Eine relativ geringe Zahl der Abgeordneten hatte vorher eine Regierungsposition inne. Dieser Sachverhalt vermag angesichts der begrenzten Zahl der jeweiligen Kabinettsmitglieder nicht zu überraschen. In Ostdeutschland ist der Anteil der rekrutierten ehemaligen Regierungsmitglieder sogar rückläufig: Während er nach der Wiedervereinigung noch bei 14 Prozent lag, sind es heute nur noch sechs Prozent. Der zunächst hohe Anteil an ehemaligen Regierungsmitgliedern in den neuen Ländern ist ein Sondereffekt, weil diese zum Teil aus der ersten demokratisch gewählten DDR-Regierung stammten. Demgegenüber lässt sich in Westdeutschland eine konträre Tendenz erkennen: Aktuelle Werte sind doppelt so hoch wie nach der Wiedervereinigung und damit dem ostdeutschen Niveau gleich. Die Zahl der ehemaligen Regierungsmitglieder verdreifachte sich unter den westdeutschen SPD-Abgeordneten und lag in der 16. Legislaturperiode bei sechs Prozent. In den neuen Ländern ist der Anteil dagegen bis zur 15. Legislaturperiode vom Anfangsniveau von neun auf etwa fünf Prozent zurückgegangen, ist kontinuierlich wieder gestiegen und ist aktuell mit dem von 1990 gleichgezogen. Bei der CDU in Westdeutschland ist Seite der Anteil um zwei Prozentpunkte gestiegen und liegt bei aktuellen fünf Prozent. Demgegenüber verkleinerte sich der Anteil unter den Christdemokraten in den neuen Ländern: Die Werte gingen von anfänglichen 19 auf aktuelle sieben Prozent 51 Partei versus Patronage? zurück. Offensichtlich sind die Tätigkeit in der Regierung sowie eine parlamentarische Erfahrung in den Regionalparlamenten für den Einzug in die Staatsduma Russlands im Gegensatz zu Deutschland nicht ausschlaggebend. Seit 1993 verringerte sich die Zahl der Mandatsträger mit solch einer Berufserfahrung kontinuierlich. Tabelle 3: Die Art politischer Erfahrung von Abgeordneten im Vergleich (in Prozent) Legislaturperiode Lokale/Regionale Erfahrung West Ost Parteiposition Rus West Ost Erfahrung in einem anderen Parlament Regierungsposition Rus West Ost Rus West Ost Rus 1. 62,3 30,2 20 47,4 34,9 32,0 3,4 14,3 9,4 17,4 54,8 15,9 2. 59,6 37,4 20,3 49,4 32,5 36,2 4,7 8,9 7,8 17,9 46,3 14,0 3. 59,3 42,3 23,9 52,9 35,8 33,3 4,9 7,3 7,0 17,9 39 11,5 4. 62,7 48,2 21,5 55 40 30,0 4,1 5,9 5,1 18,7 36,5 8,0 5. 57,7 50,5 56,5 52,7 5,8 6,3 18,7 35,8 Quelle: Eigene Darstellung Seite Unter den westdeutschen Sozialdemokraten stieg der Anteil kommunalpolitisch erfahrener Abgeordneter bis 2002 um vier Prozentpunkte und er lag bei 64 Prozent. In der 16. Legislaturperiode waren die Werte geringfügig rückläufig. In Ostdeutschland ist der Anteil deutlich gestiegen: von ursprünglichen 30 auf aktuell 55 Prozent. Die CDU-Abgeordneten im Westen zeigen die gleiche Entwicklungstendenz wie die SPD: Der Anteil der Abgeordneten mit einer lokalen bzw. regionalen Erfahrung erhöhte sich um sechs Prozent und lag in der 15. Legislaturperiode 52 bei 71 Prozent, worauf eine Reduktion um zwei Prozentpunkte stattfand. In Ostdeutschland ist bei der CDU eine gegenläufige Tendenz zu sehen: Die Zahl ist bis 1998 von 35 auf 24 Prozent gesunken, um sich anschließend zu verdoppeln. Wird nach Parteien differenziert, so verfügten durchschnittlich 20 Prozent der Kommunisten in der Duma über lokalpolitische bzw. regionale Erfahrungen, lediglich 1993 wurden nur 16 Prozent aus der Regionalpolitik rekrutiert. Auch in der kommunistennahen Agrarpartei Russlands hat fast ein Viertel der Mandatsträger vor dem Einzug ins Parlament regionalpolitische Erfahrungen gesammelt. Interessant ist es, dass sich die Zahl der Parlamentarier mit einer regionalen bzw. lokalen Erfahrung in der Agrarpartei seit 1995 verringerte und 1999 nur noch 20 Prozent betrug. Bereits in der vierten Legislaturperiode gab es innerhalb dieser Parlamentsgruppe keinen Deputierten mehr mit einer regionalen Erfahrung. Die ProPräsidentenparteien zeigten ein dauerhaftes Interesse an Parlamentariern, die aus der Regionalpolitik kamen: So wurde etwa ein Viertel Semenova der Abgeordneten aus lokalpolitischen Positionen rekrutiert. Ein ähnlich großer Anteil ist unter den Parlamentariern vorhanden, die als unabhängige Delegierte gewählt wurden. Bei der SPD in Westdeutschland ist die Zahl der Parlamentarier, die vor dem Einzug ins Parlament über ein höheres Parteiamt verfügte, bis zur 15. Legislaturperiode von 45 auf 55 Prozent gestiegen, dann war sie rückläufig und hat aktuell dieselben Werte wie nach der Wiedervereinigung erreicht (etwa 45 Prozent). Unter den ostdeutschen Sozialdemokraten vergrößerte sich der Anteil an Parteifunktionären im Zeitverlauf von etwa 17 auf aktuelle 52 Prozent. Unter den Christdemokraten aus den alten Ländern ist der Anteil der Abgeordneten mit Parteierfahrung kontinuierlich gestiegen und liegt aktuell ebenso bei 52 Prozent. Im Osten ist der Anteil der CDU-Mandatsträger mit dieser Art Vorerfahrung bis zur 14. Periode um 11 Prozentpunkte gesunken und lag bei 24 Prozent, danach nahmen die Werte zu und betragen aktuell 45 Prozent. Wird der russische Fall analysiert, legte die KPRF auf Parteiarbeit als eine vorparlamentarische Tätigkeit über die Jahre hinweg besonders großen Wert: Gut die Hälfte aller Kommunisten hatte zuvor eine Hauptposition in der Parteiorganisation auf regionaler bzw. föderaler Ebene inne. Der Anteil der LDPR-Abgeordneten mit parteipolitischer Erfahrung ist im Zeitverlauf stark gesunken: In der zweiten und dritten Legislaturperiode war die Zahl fast durchweg konstant und betrug 30 Prozent, wobei schon 2003 nur noch 16 Prozent der Abgeordneten aus den Reihen von Parteifunktionären rekrutiert worden. Die Pro-Präsidentenparteien, unabhängige Delegierte sowie die linksliberale JABLoko demonstrierten eine gewisse Stabilität bei der Rekrutierung von Parlamentariern aus den Parteien: So wurde ein Viertel aller Mandatsträger dieser beiden Parteien (ProPräsidentenparteien sowie JABLoko) aus der Riege derjenigen mit vorparlamentarischen Parteierfahrungen rekrutiert. Unter den unabhängigen Abgeordneten verfügten in der ersten Duma zunächst 21 Prozent über eine parteipolitische Vorerfahrung, in der zweiten Legislaturperiode erhöhte sich die Zahl derer um weitere zehn Prozentpunkte und ist seitdem jedoch rückläufig. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland haben sich die Mitglieder des nationalen Parlaments zu einem wichtigen Anteil aus den Reihen der Landesparlamentarier rekrutiert (Handschell 2002: 139-151). Im Westen beträgt der Anteil der SPD-Abgeordneten mit parlamentarischer Erfahrung über die Jahre hinweg durchschnittlich 14 Prozent. Bei der westdeutschen CDU betrug die Zahl der Mandatsträger mit parlamentarischer Erfahrung nach der Wiedervereinigung etwa 21 Prozent, bis zur 13. Legislaturperiode ist sie um drei Prozentpunkte gestiegen. Seitdem gingen die Werte zurück und liegen aktuell auf dem Niveau von 1990. Unter den ostdeutschen Sozialdemokraten ging der Anteil der ehemaligen Landesparlamentarier bis zur 14. LeSeite gislaturperiode von 52 auf 32 Prozent zurück, danach ist er um vier Prozentpunkte gestiegen und liegt nun aktuell bei 36 Prozent. Durchschnittlich hatte ein Drittel der Mandatsträger der Ost-SPD parlamentarische Vorerfahrungen aus sozia- 53 Partei versus Patronage? listischer Zeit. In den neuen Ländern nahm der Anteil der CDU-Mandatsträger mit einer vorparlamentarischen Erfahrung von eingangs 63 Prozent um 25 Prozentpunkte ab, bei der Ost-CDU verfügten jedoch durchschnittlich etwa 40 Prozent aller Abgeordneten über eine parlamentarische Erfahrung in der DDR. Abgeordnete mit parlamentarischer Vorerfahrung wurden über die Zeit hinweg konstant von den Ost-Grünen rekrutiert. Die einzige Ausnahme bildete die 16. Legislaturperiode, als in den neuen Ländern keine Mandatsträger mit solch einem Typ an Vorerfahrung gewählt wurden. Generell ist festzustellen, dass etwa ein Drittel der ostdeutschen Abgeordneten bereits eine Tätigkeit in der 10. Volkskammer der DDR ausgeübt hatte. Der Anteil der ehemaligen Volkskammerabgeordneten ist jedoch im Zeitverlauf um 38 Prozentpunkte auf nun mehr 17 Prozent gesunken. Seite Es muss betont werden, dass eine Abgeordnetentätigkeit in der 10. Volkskammer der DDR nicht als Affiliation mit dem DDR-System betrachtet werden kann, weil sie im Vergleich zu anderen DDR-Parlamenten die erste demokratisch gewählte Volkskammer war. Letztendlich bildeten die Parlamentarier aus der 10. Volkskammer den Abgeordnetenpool in Ostdeutschland für die ersten Bundestagswahlen nach der Wiedervereinigung von 1990 (Derlien 2001). Die Repräsentanz der Politiker mit parlamentarischer DDR-Erfahrung ist der im moder54 nen Russland nicht ähnlich. Während in die 10. Volkskammer überwiegend politische Neulinge und Abgeordnete ohne Erfahrung in den früheren DDRParlamenten gewählt wurden, waren es in der Spät-Sowjetunion Abgeordnete, die durch Pseudo-Wahlen und bestimmte Branchenquoten delegiert wurden. Im Laufe der politischen Tätigkeit werden bestimmte Muster genutzt, die zum einen einer Karrierisierung des politischen Personals und zum anderen einer gewissen Absicherung ihrer Beschäftigung dienen. Ein Muster ist eine Ausübung von Positionen in der Partei, auf parlamentarischer, exekutiver oder Interessensgruppenebene, die gleichzeitig (Ämterkumulation) oder nacheinander (Ämtersukzession) erfolgt ist (Borchert 2003:28f.). Die Analyse der Ämterkumulationen kann uns Auskunft geben über Institutionalisierung sowie Professionalisierung des politischen Berufs im jeweiligen Staat. Wird die Ämterzahl von Abgeordneten betrachtet, sind folgende Tendenzen zu sehen: 40 Prozent der Abgeordneten aus den alten und etwa der gleiche Anteil aus den neuen Ländern hatten vor ihrem Einzug ins Parlament ein Amt inne. Etwa ein Drittel der Abgeordneten hat zwei Funktionen ausgeübt und ein Zehntel hatte drei und mehr Funktionen inne: Das gilt sowohl für West- als auch für Ostdeutschland. Unter den westdeutschen Abgeordneten verringerte sich die Anzahl derjenigen, die eine Funktion hatten, von 42 auf 37 Prozent. Die Zahl der Abgeordneten, die drei und mehr Funktionen hatten, blieb fast konstant und beträgt im Durchschnitt zehn Prozent. Während der Anteil der Mandatsträger, die keine Funktion haben, zwischen 17 und 19 Prozent schwankt, ist die Anzahl der Abgeordneten mit zwei Funktionen von 30 um ca. vier Prozentpunkte gestiegen. Im Osten lag der Anteil der Mandatsträger, Semenova die drei und mehr Funktionen innehatten, nach der Wiedervereinigung bei acht Prozent, wobei die Zahl der Abgeordneten, die keine Funktion bekleideten, fast doppelt so hoch war. Aktuell liegen die Werte bei 18 Prozent für Mandatsträger ohne Funktion, dass sind drei Prozentpunkte mehr als die Abgeordneten, die drei Funktionen ausgeübt haben. Der Anteil der Abgeordneten mit zwei Funktionen ist bis 2002 kontinuierlich um sechs Prozentpunkte gesunken, danach erhöhte er sich wieder und liegt aktuell bei 34 Prozent. Dies entspricht dem gleichen Niveau wie nach der „Wende“. Die Zahl der Mandatsträger mit einem Amt ist im Zeitverlauf um sieben Prozentpunkte gefallen und liegt im 16. Bundestag ebenfalls bei 34 Prozent. Es gibt einen Trend bei den großen Parteien Westdeutschlands, der ins Auge fällt: das ist die Erhöhung des Anteils von Parlamentariern, die schon zwei Ämter innehatten, wobei sich bei den Sozialdemokraten diese Tendenz am stärksten zeigt. So hatten in der 16. Legislaturperiode fast 40 Prozent der SPD-Mandatsträger bereits zwei Ämter ausgeübt, das sind etwa zehn Prozent mehr als nach der Wiedervereinigung. Bei der CDU erhöhte sich diese Zahl in derselben Zeit nur um fünf Prozentpunkte und liegt bei aktuellen 33 Prozent. In den neuen Ländern sieht die Situation ganz anders aus: Unter den Christdemokraten ist der Anteil derjenigen, die zwei Positionen innehatten, von 40 auf 21 Prozent gesunken, aktuell beträgt der Anteil jedoch etwa ein Drittel der Mandatsträger. In der letzten Legislaturperiode hatten etwa 39 Prozent der ostdeutschen Parlamentarier aus der SPD zwei Funktionen inne, wobei deren Anteil nach der „Wende“ 36 Prozent betrug. Der Anteil der SPD-Parlamentarier, die nur ein Amt innehatten, nimmt ab. Das gilt für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen, wobei es in den neuen Ländern prozentual am stärksten hervortritt: Hier verringerte sich die Zahl von 48 auf 27 Prozent (ostdeutsche MdB) und von 44 auf 34 Prozent (westdeutsche MdB). Was die Rekrutierung der Abgeordneten angeht, die drei und mehr Funktionen ausübten, ist bei der SPD eine interessante Tendenz zu sehen: Während im Osten der Anteil der Abgeordneten mit mehreren Ämter im Zeitverlauf zunahm und aktuell 15 Prozent beträgt, liegt er bei den ostdeutschen Parlamentariern fast unverändert bei sieben Prozent. Wird die Ämterausübung russischer Parlamentarier betrachtet, ist festzustellen, dass fast ein Drittel der russischen Parlamentarier schon vor ihrer ersten Wahl in die Duma ein Amt innehatten, 21 Prozent übten sogar zwei Ämter aus. Etwa sieben Prozent der Mandatsträger haben vor dem Einzug ins Parlament drei und mehr Ämter bekleidet. Der Anteil der Abgeordneten, die über zwei vorparlamentarische Ämter verfügten, ist rückläufig: Die Werte sind im Zeitverlauf etwa um zehn Prozentpunkte zurückgegangen und lagen in der vierten Legislaturperiode bei 29 Prozent. Der Anteil der Parlamentarier, die zwei Ämter innehatten, nahm bis zur dritten Duma um zwei ProzentSeite punkte zu und lag 1999 bei etwa 23 Prozent. Danach verringerte er sich erneut um fünf Prozentpunkte. Unter den Abgeordneten, die vor dem Einzug in die Duma drei und mehr politische Funktionen ausgeübt hatten, ist die Zahl von ursprüng- 55 Partei versus Patronage? lichen sieben auf neun Prozent in der zweiten Duma gestiegen. Seitdem ging sie zurück und betrug 2003 etwa vier Prozent. Bei den Kommunisten ist die Zahl der Parlamentarier, die ein Amt innehatten, im Zeitverlauf geringer geworden, dagegen vergrößerte sich der Anteil der Mandatsträger, die sowohl zwei als auch mehr Ämter bekleidet hatten. So ging die Zahl der Abgeordneten mit einer politischen Funktion von 46 Prozent auf gut ein Drittel aller KPRF-Abgeordneten zurück. Der Anteil der Abgeordneten mit zwei Ämtern ist von 32 auf 41 Prozent gestiegen. Auffällig ist, dass sich der Anteil derjenigen, die über drei und mehr Ämter verfügten, unter den Kommunisten seit der ersten Duma nahezu verdoppelte und 2003 bei etwa 12 Prozent lag. Seite Bei den Pro-Präsidentenparteien ist der Anteil der Parlamentarier, die ein Amt innehatten, ebenso wie bei den Kommunisten im Zeitverlauf um gut zehn Prozent zurückgegangen und betrug in der vierten Duma etwa 30 Prozent. Die Machtparteien demonstrieren interessante Tendenzen: Bei ihnen sind die Zahlen der Parlamentarier rückläufig, die vor dem Einzug ins Parlament zwei oder mehr Funktionen ausgeübt hatten. So lag der Anteil der Abgeordneten mit zwei Ämtern in der vierten Duma bei fast 16 Prozent, wobei er in der ersten Legislaturperiode doppelt so hoch war. Die Zahl der Abge56 ordneten mit mehreren politischen Funktionen sank seit 1993 von neun auf vier Prozent. Dagegen stieg der Anteil der politischen Neulinge unter den Machtparteien von 15 Prozent auf die Hälfte aller Abgeordneten. Die extremrechte Partei LDPR hatte etwa ein Drittel der Abgeordneten, die über eine politische Funktion verfügten. Generell ist der Anteil der Extremrechten von etwa 40 auf 14 Prozent gesunken. Ein Wachstum von Abgeordneten ohne eine politische Erfahrung zeigt sich unter den Extremrechten: Während die Turnover-Rate in der Duma von 1993 mehr als die Hälfte der Parlamentarier betrug, lag der Anteil der Neulinge in der vierten Duma schon bei 83 Prozent. Bei JABLoko verfügten 23 Prozent der Mandatsträger über ein Amt und etwa der gleiche Anteil hatte zwei Ämter inne. Unter den Abgeordneten mit einem und denen mit zwei Ämtern ist eine Tendenz erkennbar: Bis zur dritten Duma verringerte sich die Zahl derjenigen linksliberalen Abgeordneten, die eine Funktion hatten, von 29 Prozent auf 16 Prozent. Der Anteil derer, die zwei Funktionen innehatten, ist ebenso zurückgegangen: vom Ausgangsniveau von einem Drittel auf 21 Prozent. Der Anteil der Mandatsträger mit drei Funktionen betrug durchschnittlich sechs Prozent und ist im Zeitverlauf von vier auf 11 Prozent gestiegen. Was die Rekrutierungsmuster von anderen Parlamentsparteien angeht, so hatten unter den rechtsliberalen Abgeordneten in der dritten Duma mehr als die Hälfte eine politische Funktion inne, etwa 17 Prozent verfügten sogar über zwei und zehn Prozent über drei Funktionen. Für die Partei „Rodina“ („Heimat“), die kurz vor den Wahlen von 1999 gebildet wurde, sind vor allem Neulinge rekrutiert worden. Außerdem hatte etwa ein Drittel der RodinaAbgeordneten mindestens eine und 21 Prozent sogar zwei politische Funktionen inne. Semenova Tabelle 4: Ämterkumulation in Russland und Deutschland im Zeitverlauf (politische Neulinge und Parlamentarier mit drei und mehr politischen Funktionen) (in Prozent) Legislaturperiode Ohne politische Funktion Mit drei und mehr politischen Funktionen West Ost Rus West Ost Rus 1. 19,2 16,7 2. 19,7 19,5 33,3 9,5 7,9 7,0 33,5 10,6 6,5 3. 18,3 8,8 21,1 36,0 10,1 7,3 7,4 4. 5. 16,6 18,8 48,2 10,4 10,6 4,1 18,8 17,9 10,8 14,7 Quelle: Eigene Darstellung Generell ist festzustellen, dass der Anteil der russischen Abgeordneten, die über eine politische Vorerfahrung vor dem Einzug ins Parlament verfügen, im Vergleich zu Ost- und Westdeutschland sehr viel geringer ist. Dies lässt sich durch das Spezifikum des Selektorats in beiden Staaten erklären. Die Rekrutierung des politischen Personals im Allgemeinen sowie der Abgeordneten im Besonderen ist eine der wichtigsten Funktionen der politischen Parteien in Deutschland (von Beyme 1984:24f.; Herzog 1975:62fff.; Oberreuter 1992:30). Im Unterschied zu Russland, wo bis 2002 eine Selbstnominierung möglich war, sind die Parteien in Deutschland „Karriere-Gatekeepers“, daher ist eine Karriere in einer Parteiorganisation in vielen Fällen eine Grundvoraussetzung für eine politische Tätigkeit (Borchert / Golsch 2003:150). Politische Karrieren sind gesellschaftlich strukturiert. In diesem Sinne sind sie „empirisch beobachtbare Muster typischer Mobilitätsprozesse“ und gelten gleichzeitig als Verhaltens- regeln für Personen mit politischen Ambitionen (Herzog 1990:35). Theoretisch wird davon ausgegangen, dass in jeder Gesellschaft nur eine bestimmte Zahl von Aufstiegsmöglichkeiten existiert, wobei die strukturellen Rahmenbedienungen eine bestimmte „structure of opportunities“ bilden. Individuelle Karrierewege zeigen typische Verläufe und können daher als „Karrieremuster“ bezeichnet werden (Herzog 1982:90). In Deutschland ist die so genannte „Ochsentour“, die gewöhnlich in den lokalen Positionen beginnt und über verschiedene Ämter einen Aufstieg in Spitzenpositionen verschafft, zum typischen Rekrutierungsmuster des politischen Personals geworden (Herzog 1982:94). Dabei werden „Quereinsteiger“ oft vom Wettbewerb um politische Posten Seite ausgeschlossen (Herzog 1990:34f.). Im Gegensatz dazu ist im russischen Parlament eine Crossover-Karriere als das typische Karrieremuster zu definieren. Die kommunalen Mandate sind eine wichtige 57 Partei versus Patronage? Karrierestufe vor dem Bundestagsmandat (Lock 1998:140). Dieser Einstieg in das Parlament wird als typisch für die deutschen Parlamentarier betrachtet (von Beyme 1971:74; Herzog 1975:68). Kommunalpolitische Erfahrungen, die auch in Form der Ausübung einer politischen Funktion sowie der Mitgliedschaft und Einflussnahme in Vereinen auf regionaler Ebene sein können, gehören zur unverzichtbaren Voraussetzung für eine Parlamentskarriere, solange es derjenige nicht zu einer entsprechenden Bekanntheit auf Bundesebene gebracht hat (Herzog 1990:12). Dazu gehören auch die Partei- und Verbandspositionen auf Bezirks-, Landes- sowie Bundesebene. Die meisten Abgeordneten beginnen ihre Karriere in Basisfunktionen (Holl 1990:88). Die relativ hohe Repräsentation von Politikern aus den neuen Ländern auf lokalem Niveau steht teilweise im Zusammenhang damit, dass gerade für diesen Bereich der lange Aufenthalt im Wahlkreis oft eine Voraussetzung für das Erhalten eines Mandates ist (Hoffmann-Lange 1998:153). Die Karriere auf der lokalen bzw. regionalen Ebene erfolgt in Deutschland später „mehr oder weniger rasch, aber in jedem Falle kontinuierlich“ (Herzog 1979:70) über die anderen Ämter. Da politische Erfahrung eine wichtige Ressource für einen Mandatserwerb ist, bietet die so genannte Ochsentour zahlreiche Möglichkeiten, praktische Leitungserfahrung und Soft Skills sowie soziales Kapital zu sammeln (Norris / Lovenduski 1995:159). Seite 58 Dagegen haben in Russland nur 25 Prozent der Parlamentarier ein politisches Amt auf regionaler bzw. lokaler Ebene inne. Diese Werte liegen weit unter denen nicht nur West- sondern auch Ost- deutschlands. Eine Arbeit auf regionaler Ebene war in der Jelzin-Ära attraktiver als ein parlamentarisches Mandat, da die Gebiete sowie die Nationalrepubliken über zahlreiche Kompetenzen verfügten. Manche von ihnen waren teilweise mit der Verfassung und den Prinzipien des Föderalismus rechtlich nicht kompatibel, sondern sie beruhten oftmals auf individuellen Verträgen zwischen Jelzin und den Führern der Gebiete und Republiken. Außerdem war die Vergütung für die Arbeit in den Regionen höher als in der Duma. In manchen Regionen, die zur Permafrostzone gehören, gilt immer noch das Prinzip aus der sowjetischen Zeit über eine entsprechende Gehaltsvergrößerung sowie eine Verkürzung des Rentenalters (Permafrost-Koeffizient). Aufgrund der Attraktivität der regionalen Arbeit liegt die Korruptionsrate entsprechend höher und die Bekämpfung der Korruption in den Regionen wurde von W. Putin als eines der Hauptziele in der zukünftigen Entwicklung Russlands benannt (vgl. Putin 2007). Positionen in den Parteien sind für Parlamentarier beider Staaten von großer Bedeutung, obwohl es prozentual mehr deutsche Abgeordnete sind, die über ein parteipolitisches Amt verfügen. Ein Parteiamt, welches über die bloße Parteimitgliedschaft hinausgeht, spielt in der parlamentarischen Karriere eine wichtige Rolle, weil Mandatsträger über Parteifunktionen bessere Zugangsmöglichkeiten zur innenparteilichen Stimmung haben und dies für die Entwicklung der politischen Ideen und die Verwirklichung der Entscheidungen nutzen können (Patzelt 1995:148). Auf der anderen Seite werden Parteigremien als „Schaltstellen im komplexen politisch- Semenova staatlichen Kommunikationsnetz“ beschrieben (Herzog 1997:304). Die Praxis der politischen Parteien, sichere Plätze auf den Landeslisten an Parteimitglieder zu vergeben, die auch in der Direktwahl stehen, hat die Wichtigkeit der „Ochsentour“ verstärkt (Ismayr 2000:61, Roberts 1998:116f.). Die Berufspolitiker sind oft zur Loyalität gegenüber ihrer eigenen Partei gezwungen, was zur Folge hat, dass Wähler für die Fortführung der politischen Karriere fast ebenso wichtig sind wie die Partei (Herzog 1982:98). Die parteipolitischen und regionalen bzw. lokalen politischen Ämter sind eng miteinander verflochten: Die innenparteilichen Ämter dienen zur Absicherung der politischen Karriere (Lock 1998:143). Ihrerseits bekommen die Parteifunktionäre durch die politische Verankerung auf dem regionalen Niveau notwendige praktische Kenntnisse in der öffentlichen Verwaltung und Interessensvermittlung und eben nicht nur in der Parteiarbeit. Diese Situation hat eine Ämterkumulation zur Folge. Als Nachteile dieser Ämterkumulation sind „innerparteiliche Verkrustung“ sowie das Interesse mancher Hinterbänkler an lokalen und nicht „nationalen“ Problemen zu sehen (Herzog 1990:37). Die Landesebene (Landtage sowie Landesregierungen) ist relativ selten eine Qualifikationsstufe, sondern eher eine Durchgangsposition für ambitionierte Politiker auf dem Weg zur Bundesebene (Herzog 1982:94). Allerdings werden in Deutschland Parteiämter in der Mehrheit der Fälle nach dem Erhalten des Landtagsmandats beibehalten (Holl 1990:88). Bei der Rekrutierung der russischen Abgeordneten ist eine Arbeit im Landespar- lament (Zakonodatelnoje Sobranije) von geringer Bedeutung. Ein Grund dafür ist die Stellung der Landesparlamente in Russland, die im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen rechtlich viel weniger Kompetenzen besitzen. Ein anderer Grund ist die historische Entwicklung der Landesparlamente Russlands von Anfang-Mitte der 1990er Jahre: In dieser Zeitspanne waren die Beziehungen zwischen Oberbürgermeistern und Landesparlamenten in vielen Gebieten durch einen scharfen Konflikt gekennzeichnet, welcher teils auf gesetzlichem teils auf nicht gesetzlichem Wege gelöst wurde, allem voran durch die Schwächung der Stellung des gesamten Landesparlaments oder einzelner Parteien dort (vgl. Petrov 2001; Grazdanskoje obchestvo 2005). Die Arbeit im Landesparlament ist selten ein Wegbereiter zur Abgeordnetentätigkeit in der Duma und vice versa. Im Gegensatz dazu zählt es in Deutschland zu den etablierten Karrieremustern, bei den Kabinetten der Länder (Plöhn 1984) sowie bei der Besetzung der Landesministerpositionen (Holl 1990:90f.) auf die Rekrutierung von ehemaligen Bundestagsabgeordneten zurückzugreifen. Neben der Karrierestruktur ist die Professionalisierung ein wichtiges Merkmal politischer Rekrutierung. Die hauptberufliche politische Tätigkeit führt dazu, dass die subjektive Entfremdung vom privaten Beruf stärker und dadurch auch die objektive Möglichkeit, zum alten Beruf zurückzukehren, Seite schwieriger wird (Herzog 1982:96). Die Erscheinungsformen der Karrierisierung von Politikern sind vertikale und horizontale Ämterkumulationen (Borchert / Stolz 2003). Im Unterschied zur vertikalen bringt die horizontale Ämterkumulation 59 Partei versus Patronage? relativ wenig politischen Gewinn, jedoch eine gewisse Karriereabsicherung. Generell gilt eine Ämterkumulation oder „eine Verflechtung des parlamentarischen Mandats mit weiteren politischen oder gesellschaftlichen Funktionen“ (Lock 1998:135) als „eine gewisse Selbstverständlichkeit“ (von Beyme 1971:102) für hauptberufliche Politiker. Sie bezieht sich auf zwei funktionelle Aspekte: Erstens wird durch die Kumulation von verschiedenen Ämtern ein soziales Netzwerk geschaffen, das als ein begünstigender Faktor bei der Wiedernominierung betrachtet werden kann. Zweitens werden individuelle Koordinierungs- sowie Kooperationsnetzwerke aufgebaut, die den Parlamentariern wichtige Information für ihre politische Arbeit liefern (Patzelt 1995:148; Herzog 1997:313). Seite Es ist festzustellen, dass der Professionalisierungsgrad der deutschen Parlamentarier viel höher ist als der ihrer russischen Pendants: So verfügen ca. 40 Prozent der russischen Abgeordneten über keine vorparlamentarische politische Funktion, in Deutschland sind es nur halb so viele. Außerdem üben deutsche Parlamentarier häufiger zwei oder mehr Funktionen aus. Es ist auffällig, dass die De-Professionalisierung des politischen Personals über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu beobachten ist. Sie geht zum Teil mit der Entstehung von neuen, vor allem administrativen politischen Parteien einher. Zum Teil ist 60 dies das Resultat der Mobilisierungsstrategie des Elektorates: Es werden vor allem bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (Celebrities) sowie als persönlich loyal geltende Leute rekrutiert. Diese Vorgehensweise stellt eine Reaktion auf die schwache Verankerung der Parteien in der Gesellschaft dar. Der Rekrutierungspool für die politische Tätigkeit im Parlament ist nicht besonders groß, da die Mitgliedszahlen der Parteien relativ gering sind. Während in der Sowjetunion Elitepositionen oft von Inhabern anderer Elitepositionen besetzt wurden und dies zur Ämterkumulation geführt hat (Meyer 1991:76f.), ist im postsowjetischen Russland eine Cross-over Karriere nicht selten, wobei sie oft mit Hilfe einer persönlichen Loyalität, einer Patronage, vollzogen wird (Ostrow 2000:102f.). 4.2. Erfahrung und Vorpositionen sozialistischen System im Ein wichtiges Merkmal der vorparlamentarischen Erfahrung der Abgeordneten ist – gerade in Transformationsgesellschaften – die Affiliation mit dem alten Regime. Unserem Gegenstand nach gilt dieses Merkmal für Ostdeutschland und Russland. Generell kann davon gesprochen werden, dass sowohl die Eliten in Ostdeutschland („strategische Clique“ in der Terminologie von Ludz 1968) als auch die in der Sowjetunion („die politische Bürokratie“ in der Terminologie von Djilas 1960) als „ideologically unified elite“ (Field / Higley 1980) bezeichnen werden können. Die Untersuchung der Bindung an das alte System soll Aufschlüsse über die Zirkulation der Eliten nach dem Systemumbruch liefern. Der häufigste Typ von Affiliation mit dem sozialistischen Regime in Ostdeutschland war eine systemoppositionelle Aktivität. Etwa ein Viertel der Parlamentarier aus den neuen Ländern war aktiv in der sozialistischen Zeit Semenova in oppositionellen Volksbewegungen tätig: Die Zahl von Mandatsträgern mit solch einer Erfahrung ist seit der 13. Legislaturperiode um knapp 14 Prozentpunkte angewachsen und lag 2002 bei 34 Prozent. In der letzten Amtsperiode gingen diese Werte zurück und lagen auf dem Niveau wie nach der Wiedervereinigung bei 26 Prozent. Der Anteil der Abgeordneten, die in der sozialistischen Zeit auf der Bezirksebene politisch tätig waren, ist kontinuierlich gesunken und lag in der 16. Legislaturperiode im Durchschnitt bei 3 Prozent, obwohl deren Anteil nach der Wiedervereinigung etwa sechsmal so hoch war. Etwa 13 Prozent der Abgeordneten aus der ehemaligen DDR waren vor 1990 Mitglieder der SED, ohne zuvor eine parteipolitische Karriere zu machen. Die Rekrutierung der Parteianhänger in den Bundestag erhöhte sich im Zeitverlauf um ca. sieben Prozent und betrug seit 1998 um die 19 Prozent, mit Ausnahme von 2002, als deren Anteil bei vier Prozent lag. Die strukturell „schlechtesten“ Karrierechancen für eine Abgeordnetentätigkeit im Bundestag hatten ehemalige Regierungsmitglieder der DDR, deren Anteil an Mandatsträgern nach der Wiedervereinigung nur drei Prozent betrug und seit der 15. Legislaturperiode gänzlich verschwunden ist. Eine ehemals politisch höhere Position in der DDR ist einer Karriere im vereinigten Deutschland eher hinderlich. Hier stellt die PDS die einzige Ausnahme dar. Durchschnittlich war ein Drittel der Mandatsträger der Ost-SPD aktiv in der Opposition tätig. Die Zahl der Parlamentarier mit systemoppositionellen Erfahrungen verzeichnete bis zur 14. Legislaturperiode einen Rückgang um 14 Prozentpunkte und lag 1998 bei 22 Prozent, aktuell beträgt sie 31 Prozent. In der 12. Legislaturperiode des Bundestages hatten nur sechs Prozent der SPD-Abgeordneten bereits eine politische Tätigkeit auf Kommunalebene im Sozialismus ausgeübt. Ihr Anteil ist im Zeitverlauf weiter gesunken und im heutigen Parlament nicht mehr existent. Unter den ostdeutschen Christdemokraten haben durchschnittlich etwa 27 Prozent in den oppositionellen Bewegungen teilgenommen und ca. 15 Prozent hatten eine politische Tätigkeit in den DDR-Bezirken ausgeübt. Der Anteil der ehemaligen Bezirkspolitiker war im Zeitverlauf stark rückläufig. Hatten nach der Wiedervereinigung gut 30 Prozent der CDU-Mandatsträger aus den neuen Ländern eine regionalpolitische Erfahrung aus DDRZeiten, sind es jetzt nur noch vier Prozent. Demgegenüber nahm die Zahl der ehemaligen Oppositionellen bis zur 15. Legislaturperiode um nahezu 17 Prozent zu und lag bei 38 Prozent, wobei sie aktuell genau ein Drittel der CDU-Abgeordneten aus den neuen Ländern beträgt. Generell ist es festzustellen, dass es in der Ost-SPD keine Mandatsträger gab, die der höheren Nomenklatur im sozialistischen System zugehörig waren oder eine SED-Mitgliedschaft besaßen. Dies gilt generell auch für die Ost-CDU mit Ausnahme des Jahres 1990, als vier Prozent der Parlamentarier in der DDR Regierungspositionen bekleideten, sowie der 14. und 15. LegislaSeite turperiode, als etwa drei Prozent der CDU-Abgeordneten aus dem Osten Blockparteien-Anhänger waren. Stehen die kleinen Parteien im Fokus der Betrachtung, sind einige Tendenzen in der Rekrutierung neuer Mitglieder nach dem 61 Partei versus Patronage? Systemumbruch festzustellen: So wurden Mitglieder der SED logischerweise hauptsächlich von der SED-Nachfolgepartei - der PDS – rekrutiert. Die gleiche Situation findet sich bei den russischen Kommunisten und ihrer Rekrutierung in die Kommunistische Partei der Russländischen Föderation. Unter den Abgeordneten aus PDS und FDP ist ein relativ hoher Anteil an Politikern mit Kommunalerfahrungen aus der DDR vorhanden. Die meisten Abgeordneten der Grünen waren in den systemoppositionellen Bewegungen aktiv. Die Abgeordneten, die in der ehemaligen DDR eine Regierungsposition bekleideten, wurden ausschließlich von der PDS rekrutiert, wobei es bis zur 15. Legislaturperiode keine Parlamentarier mit solchem Hintergrund gab. Seite Im Vergleich zu Deutschland sieht die Affiliation der Duma-Abgeordneten mit dem Ancien Regime anders aus: Ein Drittel der Parlamentarier hatte eine Hauptposition in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und etwa ein Viertel der Abgeordneten war entweder regionalpolitisch aktiv oder hatte eine Mitgliedschaft in der KPdSU. Ca. 17 Prozent der Mandatsträger hatten entweder eine parlamentarische Tätigkeit im Volksdeputiertenkongress (VDK) oder eine Hauptposition in der Nomenklatur ausgeübt. Nur sieben Prozent der Abgeordneten hatten Regierungserfahrung in der sowjetischen Zeit gesammelt. Die ehemaligen Aktivisten der systemoppositionellen 62 Bewegungen bilden die kleinste Gruppe mit einem Umfang von etwa vier Prozent. Es gilt die Entwicklung in der Rekrutierung dieser Gruppen genauer zu betrachten. Der Anteil der Abgeordneten, die im alten Regime parlamentarisch aktiv waren oder eine Leitungsposition in der Nomenklatur hatten, ist im Zeitverlauf zurückgegangen und betrug 2003 etwa zehn Prozent, obwohl er in der ersten Legislaturperiode der postsowjetischen Duma fast doppelt so hoch war und entsprechend bei 22 und 20 Prozent lag. Die Zahl derjenigen, die eine Regierungsposition im kommunistischen Staat hatten, ist auch von acht Prozent um drei Prozentpunkte zurückgegangen. Eine solche Abnahme ist bei der Gruppe der ehemaligen Oppositionellen zu sehen: Wurden 1993 noch sechs Prozent der Parlamentarier mit diesem Erfahrungshintergrund gewählt, waren es in der vierten Duma nur noch zwei Prozent. Demgegenüber nimmt der Anteil der Parlamentarier zu, die in der sowjetischen Zeit eine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei besaßen: Ihre Zahl vergrößerte sich im Zeitverlauf um sechs Prozentpunkte und lag in der vierten Legislaturperiode bei 28 Prozent. Die kommunalpolitische Verankerung ist ebenfalls bedeutender geworden: Sie ist bis zur dritten Legislaturperiode von 23 auf 31 Prozent gestiegen, wobei die Werte in der vierten Duma auf dem Niveau von 1993 lagen (24 Prozent). Es fällt der Anstieg des Anteils von Abgeordneten auf, die im alten Regime eine Leitungsposition in der Parteinomenklatur innehatten: Während die Werte von 1993 noch bei 23 Prozent lagen, betrugen sie in der zweiten Duma schon 36 Prozent. Dieses Niveau blieb nahezu unverändert bis zur vierten Legislaturperiode, als sich der Anteil der Parteifunktionäre verringerte und bei 30 Prozent lag. Die Parlamentarier mit regionaler bzw. lokaler Semenova Erfahrung in der Sowjetunion wurden häufiger als Delegierte von der KPRF oder als unabhängige Delegierte gewählt (entsprechend 29 und 31 Prozent), wobei ihr Anteil fast bei allen Parteien relativ hoch ist, mit Ausnahme der LDPR, in der nur acht Prozent der Abgeordneten solche Erfahrungen nachweisen konnten. Bei der Rekrutierung ehemaliger Politiker mit einer starken regionalen Verankerung sind die nachfolgenden Tendenzen festzustellen: Erstens wuchs ihre Zahl im Zeitverlauf gleich der von KPRF sowie JABLoko, jedoch in unterschiedlichem Maße: Während sich der Anteil bei JABLoko um sechs Prozentpunkte vergrößerte und in der dritten Periode bei etwa 21 Prozent lag, erhöhten sich die entsprechenden Werte bei der KPRF um 12 Prozentpunkte und betrugen in der vierten Duma ca. 33 Prozent. Bei der LDPR sowie den unabhängigen Deputierten kristallisierte sich heraus, dass sich die Zahl der ehemaligen regionalen Politiker bis zur dritten Legislaturperiode steigerte und anschließend zurückging. So vergrößerte sich der Anteil bei den unabhängigen Delegierten bis 1999 von 25 auf 37 Prozent, bei der LDPR stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von 4 auf 18 Prozent. In der vierten Duma gingen die entsprechenden Werte unter den Extremrechten um 12 Prozentpunkte und unter den Unabhängigen um sieben Prozentpunkte zurück. Die Pro-Präsidentenparteien rekrutieren mit einigen Abweichungen etwa ein Viertel der Politiker, die ehemals eine regionale Leitungsposition in der sowjetischen Zeit besaßen. Durchschnittlich hatten etwa 25 Prozent der Kommunisten eine Tätigkeit im Volksdeputiertenkongress. Außerdem wiesen ungefähr 20 Prozent der Abgeordneten aus JABLoko und Pro-Präsidentenparteien sowie 17 Pro- zent der unabhängigen Delegierten ähnliche politische Erfahrung auf. Die KPRF und Pro-Präsidentenparteien legten gegensätzliche Tendenzen an den Tag. Während sich der Anteil der ehemaligen Sowjetdeputierten unter den Kommunisten im Zeitverlauf von 23 auf 29 Prozent erhöhte, nahm ihr Anteil bei den Pro-Präsidentenparteien gravierend ab: von ursprünglich 43 auf etwa 36 Prozent. Unter den Linksliberalen war die Zahl bis zur zweiten Legislaturperiode rückläufig und betrug 1995 ca. 12 Prozent, obwohl sie in der ersten Duma etwa noch doppelt so groß war, lag sie in der dritten Duma schon bei 21 Prozent. Bei den unabhängigen Abgeordneten wurden tendenziell weniger ehemalige sowjetische Parlamentarier gewählt. Ihr Anteil ging von 27 in der zweiten Legislaturperiode auf zehn Prozent in der vierten Duma zurück, wobei er anfangs bei 19 Prozent gelegen hatte. Augenscheinlich ist, dass die extremrechte Partei LDPR von 1993 bis 2003 überhaupt keine ehemaligen sowjetischen Abgeordneten rekrutierte. Den größten Anteil der Mitglieder von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion übernahmen die Pro-Präsidentenparteien (29 Prozent), die Kommunistische Partei Russlands (27 Prozent) sowie JABLoko und unabhängige Delegierte (je etwa 26 Prozent). Von allen Dumaparteien und Wählerblöcken hatte die extremrechte LDPR die geringste Übernahmequote ehemaliger Seite KPdSU-Anhänger (12 Prozent). Bei der LDPR sowie den unabhängigen Delegierten sind folgende Tendenzen festzustellen: Während sich der Anteil bei der LDPR um zwei Prozentpunkte verkleinerte und in der vierten Duma bei 11 Prozent lag, 63 Partei versus Patronage? verdoppelte sich der entsprechende Anteil unter den unabhängigen Delegierten und lag in der vierten Legislaturperiode bei 30 Prozent. Unter den Kommunisten ging der Anteil bis zur dritten Legislaturperiode um 13 Prozentpunkte zurück und lag 1999 bei 21 Prozent; danach ist er wieder auf 25 Prozent gestiegen. Demgegenüber erhöhte sich die Zahl ehemaliger KpdSU-Mitglieder bei den Pro-Präsidentenparteien bis zur dritten Duma von 27 auf 34 Prozent. Seitdem ist sie rückläufig und lag in der vierten Duma bei 29 Prozent. Seite Hatte die KPRF schon den Hauptteil an KPdSU-Mitgliedern, die zu Sowjetzeiten eine Leitungsposition innehatten, in ihren Reihen (65 Prozent), so baute sich dieser Anteil weiter auf rund 70 Prozent aus. Im Gegensatz dazu zeigten nur vier Prozent der Linksliberalen eine solche Affiliation zum alten Regime. Anders gestaltete sich die Situation der ehemaligen Systemoppositionellen. So verfügten durchschnittlich ein Fünftel aller Abgeordneten von JABLoko über eine oppositionelle Erfahrung in der sowjetischen Zeit. Unter den Linksliberalen und Kommunisten betrug der Anteil an Abgeordneten, die in der sowjetischen Zeit eine Regierungsposition besessen hatten, im Schnitt zehn Prozent, wobei die Zahl ehemaliger höherer Nomenklaturmitglieder in beiden Parteien zunahm. Die Werte lagen bei den Kommunisten bei etwa 45 Prozent (vierte Duma) und unter 64 den Linksliberalen bei ca. 21 Prozent (dritte Duma). Die rechtsliberale Partei SPS rekrutierte für die Wahlen von 1999 etwa 38 Prozent der ehemaligen Politiker mit regionaler bzw. lokaler Verankerung und ein Drittel der Mandatsträger, die eine Leitungsposition in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatten, sowie 24 Prozent der ehemaligen Systemoppositionellen. Außerdem ist es festzustellen, dass es unter den LDPR-Abgeordneten nie einen Oppositionellen gab. Des Weiteren verfügte das russische Parlament ab der zweiten Duma nicht mehr über Parlamentarier, die in der Sowjetunion eine höhere Nomenklatur- bzw. Regierungsposition innehatten. Bei den ProPräsidentenparteien und den unabhängigen Delegierten war ein gleich hoher Anteil von 22 Prozent der Abgeordneten zu beobachten, die früher eine Leitungsposition in der KPdSU bekleidet hatten. Bis zur zweiten Legislaturperiode stieg der Anteil der Parteifunktionäre unter den unabhängigen Delegierten von 21 auf 31 Prozent, bei den Pro-Präsidentenparteien von 11 auf 15 Prozent. Danach entwickelten sich entgegengesetzte Tendenzen: Unter den Machtparteien wuchs der Anteil um vier Prozent. Demgegenüber nahmen die Zahlen bei den unabhängigen Delegierten stark ab und lagen in der vierten Legislaturperiode lediglich noch bei fünf Prozent. Werden die Unterschiede zwischen beiden Staaten bezüglich des Affiliationstypus mit dem alten Regime betrachtet, sind die nachfolgenden Ergebnisse augenscheinlich. In beiden sozialistischen Staaten wurde die Zugehörigkeit zur Opposition durch massive Repressionsdrohungen bestraft. Markant ist die Überrepräsentation von Systemoppositionellen in der heutigen ostdeutschen Parlamentselite, wenn der Anteil der Oppositionellen in der DDR-Bevölkerung vermutlich nur bei 0,3 Prozent lag (Welzel 1997:116). Der Hauptunterschied nach der Transformation der beiden Semenova sozialistischen Staaten besteht darin, dass der Regimeumbruch von unten ausgelöst wurde, die Demokratisierungsprozesse der DDR (12/1989 – 09/1990) zur politischen Mobilisierung führten und sowohl die Oppositionellen und Mitglieder der Bürgerbewegungen (Welzel 1997:188) als auch viele zuvor nicht engagierte Leute ins Parlament brachten. In Russland begann der Umbruch als eine „Revolution“ von Oben und führte nicht zur Elitenablösung, sondern zur Beschleunigung der alten Ausstiegswege (Harter / Grävingholt / Pleines / Schröder 2003:90f.). Generell ist die lokalpolitische Erfahrung aus sozialistischer Zeit in Russland von größerer Bedeutung als in Deutschland. Auf eine vormals regionalpolitische Verankerung der Abgeordneten legen alle in der Staatsduma vertretenen Parteien großen Wert. Zum Teil geht dies auf die schwache Stellung der Parteien im politischen System Russlands zurück: Da nach dem Umbruch alle Parteien entweder gänzlich neu- oder umstrukturiert wurden, wie beispielsweise bei der KPRF geschehen, welche die Nachfolge der Kommunistische Partei der Sowjetunion antrat, bestand somit keine Möglichkeit für eine Parteikarriere wie in den westlichen Demokratien. Hinzu kommt die ständige Bildung administrativer oder „Machtparteien“, in denen es viele CrossoverKarrieren gab. Die Elektoratsmobilisierung erfolgte hauptsächlich durch eine Nominierung von prominenten bzw. auf regionalem Niveau bekannten Leuten. Da die Tätigkeit auf lokaler bzw. regionaler Ebene noch zu Sowjetzeiten die Möglichkeit zur Akkumulierung von sozialem Kapital gegeben hatte sowie aufgrund der Tatsache, dass eine relativ niedrige Zirkulation regionaler Eliten bestand (vgl. Kryschtanows- kaja 2005), besaßen die meisten regionalen Politiker ihre Positionen aus sowjetischer Zeit noch und hatten daher gute Chancen auf einen Einstieg ins Parlament. Soziales Kapital und starke regionale Verankerung gehörten zu den Hauptressourcen unabhängiger Delegierter, die stärker als Parteipolitiker mit einer Interessengruppe oder einer bestimmten Lobby verbunden waren. Des Weiteren kommt die Tatsache hinzu, dass die staatliche Finanzierung von Wahlkampagnen Ende der 1990er Jahre zum Thema geworden war. In diesem Fall verzeichneten ehemalige Regionalpolitiker Vorteile, weil sie oft durch ihre Tätigkeit oder sozialen Netzwerke mehr finanzielle Mittel erwerben konnten. Der zweite wichtige Befund besteht in der starken Position der sowjetischen Nomenklaturzugehörigen im modernen Russland. Die Gesellschaften der Sowjetunion und DDR waren stark durch institutionalisierte Karrierestrukturen geprägt und daher erfolgte der Einstieg in die Elite über viele Hierarchiestufen. Im Vergleich zur ehemaligen DDR (Welzel 1997:104) sind die Rekrutierungsmuster der ehemaligen Sowjetunion im modernen Russland stärker verankert: So werden viele Mandatsträger in die Duma immer noch nicht nur aus der Partei- und sektoralen Nomenklatur, sondern auch aus Staatsorganen rekrutiert. Das kommunistische System hat von Seite den Bürgern eine politische Aktivität sowie das „Klassenverständnis“ erwartet und die Mitgliedschaft in der Parteiorganisation oder einer parteinahen Massenorganisation gefördert (Meyer 1991; Lock 1998:126). Die Zugehörigkeit zur No- 65 Partei versus Patronage? menklatur, vor allem einer höheren, war für die meisten Menschen mit politischen Ambitionen im sozialistischen Regime das Hauptziel, weil die Nomenklatur selbst ein System mit vielen Privilegien und klaren Perspektiven für die eigene politische Karriere verkörperte. Eins der wichtigsten Merkmale der Nomenklaturmitglieder im sozialistischen System war eine persönliche Loyalität zur Staatspartei (Hoffmann-Lange 1998:149). Es ist festzustellen, dass die sowjetische Nomenklaturschicht in der Transformationsperiode teilweise ihre Positionen behalten und sogar noch gestärkt hat. Daher besteht die neue politische Elite zum Teil aus Angehörigen der ehemaligen Nomenklatur. Diese gewisse Kaderkontinuität wurde gleichzeitig von einer raschen Elitenzirkulation begleitet (White / Kryschtanowskaja 1998:142). Kurz nach dem Umbruch war ein Teil der neuen russischen parlamentarischen Elite nicht aus den Gegeneliten im engeren Sinne hervorgegangen. Vielmehr hatten viele Abgeordnete „Pränomenklaturpositionen“ innegehabt, also Leitungspositionen auf dem unteren und mittleren Niveau der Nomenklatur (Golovachev / Kosova / Chachulina 1995:20ff.). Seite 66 Semenova Seite 67 Mittelwertzentrierung Fazit D ie institutionellen Rahmenbedingungen in beiden Ländern können zur Erklärung unterschiedlicher Rekrutierungsmuster beitragen. Dies gilt insbesondere für das Parteiensystem Russlands. Fazit: Warum russische anders als deutsche sind bleiben werden Seite 68 Abgeordnete – und anders Die Entwicklung des Parteiensystems in Russland ist den Weg der Erodierung der politischen Parteienlandschaft gegangen. Die massive Bildung von Parteien Anfang der 1990er Jahre war nicht durch eine breite Etablierung von Parteien besonders in den Regionen gekennzeichnet. Davon abgesehen waren zahlreiche regionale Parteien und Wählerblöcke vorhanden. Um der Parteienzersplitterung vorzubeugen, wurde 2001 ein neues Parteiengesetz verabschiedet. Als Resultat dieser Reform verkleinerte sich einerseits der Zersplitterungsgrad der Parteien, andererseits waren Parteien mit demokratischer Gesinnung aufgrund mangelnder Verankerung in der Wählerschaft zum Rücktritt aus dem politischen Leben gezwungen. Relativ niedrige Mitgliedszahlen und oft unklare Programmschwerpunkte von Parteien haben zur Instabilität des Parteiensystems beigetragen. Werden programmatische Parteienorientierungen betrachtet, ist festzustellen, dass sich das politische Spektrum von der Links-Rechts-Spaltung zur Spaltung auf der Basis von Machtnähe und –ferne gewandelt hat. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess hat die Bildung von administrativen Parteien gespielt, die quer durch das gesamte politische Spektrum mithilfe der Präsidialadministration gegründet wurden. Der Höhepunkt dieser Tendenzen, die sich in der JelzinZeit entwickelten und unter Putin verstärkt wurden, war der Erhalt der absoluten Mehrheit durch die Pro-Präsidentenpartei „Einheitspartei Russlands“ in der vierten Duma. Rademacher Semenova Warum ist das russische Parlament anders als der Deutsche Bundestag? Aufgrund der Datenanalyse können wir hier einige Befunde präsentieren. Erstens sind die für eine parlamentarische Karriere entscheidenden Selektoren sowie ihre Rekrutierungsstrategien sehr unterschiedlich. In Deutschland spielen Parteien die Rolle von „Karriere-Gatekeepers“. Daher wird die Parteiarbeit als eine Grundvoraussetzung für eine politische Tätigkeit betrachtet. In Russland haben Parteien eine schwächere Stellung: Dies zieht sich in der Praxis der Parteibildung auf der administrativen Basis quer durch das politische Spektrum. Der Wettbewerb politischer Parteien ist daher stark erschwert. Außerdem waren Parteien in Russland bis 2002 nicht die alleinigen „Gatekeepers“, da eine Selbstnominierung für Direktwahlen sowie Tätigkeiten als unabhängige, in vielen Fällen parteiungebundene Abgeordnete möglich war. Es soll hier ebenfalls über den starken Einfluss der Exekutive in Russland gesprochen werden. Es gibt nicht nur eine Bildung von Machtparteien und eine gewisse Kontrolle des politischen Spektrums durch erschwerte Zugangsmöglichkeiten für „Nicht-Machtparteien“, sondern auch eine Benutzung bestimmter „Strategien“ bei den Wahlkampagnen in den Regionen. Diese „Strategien“ wurden oft für Manipulationen zugunsten einer Pro-Präsidentenpartei oder eines Pro-Präsidentenkandidaten bei den Wahlen auf regionaler Ebene genutzt und daher als „administrative Ressource“ benannt (vgl. Kryschtanowskaja 2005). Sind es in Deutschland die Parteien, die den Zugang zu parlamentarischen Positionen und zu politischen Ämtern im Allgemeinen kontrollieren, so wird diese Rolle in Russland von der Exekutive übernommen. Die Rekrutierungsstrategien in beiden Ländern weisen jedoch einige Gemeinsamkeiten auf. In den sozialstrukturellen Merkmalen sind sich die deutschen und russischen Abgeordneten ähnlich. Leichte Unterschiede treten etwa bei den Studienabschlüssen zu Tage. Größere Unterschiede sind bezüglich der Vertretung von Frauen und Migranten sowie beim beruflichen Hintergrund der Parlamentarier festzustellen. Der berufliche Hintergrund von Parlamentariern unterscheidet sich erheblich: Werden in den Deutschen Bundestag überdurchschnittlich viele Lehrer und Beamte rekrutiert, sind es in der russischen Duma Mandatsträger mit Management- und Militärbackground. Der Anteil von Vertretern aus dem Business begann sich in der Duma in der Jelzin-Zeit zu vergrößern, nicht zuletzt aufgrund des stark ressourcenorientierten Charakters der russischen Wirtschaft sowie des Mangels an rechtlicher Regulierung der Lobbyismustätigkeit. Der Anstieg an Militärs im Parlament geht zum Teil auf der Unstabilität von Jelzins Russland zurück, zum Teil ist es auch das Resultat einer gezielten Rekrutierung von Abgeordneten mit Militärhintergrund unter Putin. Während der starke Einfluss der Seite konfessionellen Gesinnung der Bevölkerung zu den Charakteristika Deutschlands gehört, ist eine geringe Bedeutung von Religion für viele post-sozialistische Staaten charakteristisch. Russland und Ostdeutschland sind in dem Sinne somit 69 Mittelwertzentrierung Fazit keine Ausnahmen. Die schwache kirchliche Bindung in Ostdeutschland und Russland ist das Resultat der sozialistischen Herrschaft und ihrer Kirchen- und Religionspolitik, die zum Teil zur Irreligiosität der Bevölkerung führte. Eine Besonderheit der russischen Parteienbildung ist das gesetzliche Verbot bezüglich einer Parteineugründung auf religiöser Basis. Aufgrund des multinationalen Staatscharakters, der Repräsentationsspraxis aus sowjetischer Zeit sowie des komplizierten föderativen Staatsaufbaus sind Abgeordnete mit Migrationshintergrund in Russland überrepräsentiert. Im Kontrast zum Anteil der Migranten in der Bevölkerung sind Parlamentarier mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag unterrepräsentiert. Die Gründe für diese Unterrepräsentanz sind zum einen institutionelle Faktoren wie das Immigrationsund Wahlsystem Deutschlands, zum anderen spielen das Parteisystem im Allgemeinen und die Rekrutierungs- sowie Nominierungspraxis von Parteien im Besonderen eine wichtige Rolle. Seite Die mangelnde Rekrutierung von Frauen ins Parlament macht die Staatsduma zur Ausnahme sowohl im west- als auch im osteuropäischen Vergleich. Ein wesentlicher Grund dürfte aus dem traditionellen Verständnis der Geschlechterrollen resultieren, das in der russischen Gesellschaft weiterhin festzustellen ist. Dieses prägt nicht nur das 70 Rekrutierungsverhalten von Parteien sondern auch die Sozialisierung allgemein. Im Gegensatz zu Russland sind Frauen im Deutschen Bundestag aufgrund verschiedener politischer Maßnahmen gut repräsentiert. Zweitens bestehen gravierende Differenzen bei ausgewählten Aspekten der politischen Karrierisierung von Mandatsträgern in beiden Ländern. Die bisherigen Entwicklungen sprechen dafür, dass sich die ostdeutschen Parlamentarier noch stärker an ihre westdeutschen Kollegen annähern werden. Die Risiken der politischen Tätigkeit als „prekäre Beschäftigung“ (Best / Jahr 2006) werden mit den in Westdeutschland erprobten Mitteln reduziert, vor allem durch innerparteiliche Verankerung, Vernetzung mit Akteuren in Verbänden und lokalen Organisationen etc. Dies alles trägt zur Formierung einer „politischen Klasse“ in Deutschland bei. Im Unterschied zu Prozessen der Professionalisierung und Karrierisierung, die im Deutschen Bundestag stattfinden, ist die russische Staatsduma durch eine massive DeProfessionalisierung des politischen Personals gekennzeichnet. Im Vergleich zu Deutschland verfügten russische Parlamentarier über weniger politische Erfahrungen vor dem Einzug ins Parlament: Nur ein Drittel aller Parlamentarier hatte zum Zeitpunkt ihrer ersten Wahl ins Parlament eine höhere Parteiposition inne, über eine politische Position auf lokaler Ebene verfügte nur ein Viertel der Mandatsträger. Das Niveau der Ämterkumulation unter den russischen Parlamentariern liegt weit unter dem deutschen Schnitt. Unter Berücksichtigung der Bedeutung einer lokalpolitischen Erfahrung sind diese Zahlen ernüchternd. Wird in Deutschland eine „Ochsentour“ als typischer Karriereweg vom ersten politischen Engagement bis zum Mandatserwerb betrachtet, ist für die russische Staatsduma eher eine Quereinsteiger-Karriere charakteristisch. Außerdem verfügt die russische Staatsduma über eine relativ hohe Zahl an Newcomern. Zwar ist der Anteil politischer Neulinge in der Duma Rademacher Semenova während der ersten zehn Jahre stetig gesunken, nichtsdestotrotz lag er 2003 noch über 50 Prozent – und damit weit über dem deutschen und erheblich über dem westeuropäischen Durchschnitt. Zum einen ist dieses Resultat der mangelnden Stabilität und der schwachen Etablierung von Parteien in der Gesellschaft geschuldet, zum anderen geht es auf die Rolle der Patronage in der russischen Gesellschaft im Allgemeinen und in den politischen Eliten im Besonderen zurück. Drittens spielen viele Rekrutierungsmuster aus sowjetischer Zeit immer noch eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich zunächst in einer Überrepräsentanz sowjetischer Nomenklaturmitglieder im Parlament und in den regionalen Eliten Russlands. Der entscheidende Punkt für die Rekrutierung politischen Personals ist aber das Festhalten am Patronageprinzip. Es geht dabei hauptsächlich um die Entstehung von sozialen Netzwerken bei der Rekrutierung parlamentarischer Eliten und die Bedeutung von Patronagestrukturen für die Karrieren von Abgeordneten. Im Falle Russlands, sowohl in der sowjetischen als auch post-sowjetischen Zeit, spielten Patronagestrukturen wie Freundschaft, Verwandtschaft und Landsmannschaft eine größere Rolle für den Eintritt in die politische Elite als professionelle Qualitäten (Rigby / Harasymiv 1983; Ledeneva 1998; dies. 2001). Die Beibehaltung der sowjetischen Muster lässt sich zum Teil durch die Spezifika von Modernisierungsprozessen in beiden Ländern erklären. Die Übernahme von der sozialen, wirtschaftlichen sowie politischen Ordnung aus den alten Ländern hat bestimmte Rahmen für Transformationsprozesse geschaffen und Angleichungsprozesse innerhalb der politischen Klasse im vereinigten Deutschland gefördert. In Russland wiederum hat die Transformation nur in manchen Bereichen eine Demokratisierung bewirkt, in anderen Bereichen ist es hingegen zu einer Machtkonzentration gekommen. Diese Tendenz sowie das Beibehalten eines Teils der sowjetischen Elite (Nomenklatur) und ihrer Positionen hat die Nutzung erprobter Mittel des Sozialismus begünstigt: Dies sind nicht nur die Patronage sondern auch einige Symbole (z. B. die Musik der alten Hymne) sowie Organisationsmöglichkeiten (z. B. verschiedene Komsomolähnliche Jugendorganisationen). Es kann versucht werden, vorsichtig einige Prognosen zu formulieren. So hat die Parteienreform von 2001 ihre Resultate bei der Parlamentswahl von 2007 gezeigt. Die Zersplitterung von Parteien wurde markant reduziert: In der fünften Duma gibt es zwei Pro-Präsidentenparteien („Einheitspartei Russlands“ und „Gerechtes Russland“), die über eine deutliche absolute Mehrheit der Stimmen verfügen. Auf der anderen Seite soll die Etablierung von Parteien in den Regionen die Bedeutung einer Parteierfahrung unter den Parlamentariern steigern. Der De-Professionalisierungsgrad wird sich vermutlich nicht verkleinern. Obwohl mit der Wahl Putins zum Regierungschef viele professionelle Politiker ins Parlament eingezogen sind, dürfte der Anteil von Celebrities in der Duma tendenziell steigen1. Auch die verstärkte Rekrutierung von jungen AbgeordSeite neten, der sich die „Einheitspartei Russlands“ verschrieben hat, wird die Professionalisierung der Duma bzw. ihrer Abgeordneten nicht fördern. 71 Mittelwertzentrierung Fazit Endnoten Darauf deuten jedenfalls die ersten Daten zur Zusammensetzung des Parlamentes nach der Dumawahl 2007 hin. 1 Seite 72 Rademacher Semenova Seite 73 Literaturverzeichnis Literatur Ajwasova, S. / Kertman, G. (2000): Muzchini i zenchini na voborach. Gendernij analis isbiratelnich kampanij 1999 i 2000 godov v Rossii. Moskva, Eslan. von Alemann, U. (2000): Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Bonn. ALLBUS (2002): Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Datenhandbuch, ZA-Nr. 3700. Köln, Mannheim. 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I S. 3673) Seite 83 Mittelwertzentrierung Autorinnen und Autoren Elena Semenova, Dipl.- Pol., geb. 1980, Studium der Politikwissenschaft (Schwerpunkt – Politische Psychologie) an der Moskauer Staatlichen Lomonossow Universität, Diplom 2003 (mit Auszeichnung), seit 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Moskauer Staatlichen Lomonossow Universität, 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 580 (Projekt A3). Arbeitsschwerpunkte: Politische Eliten, Politische Soziologie und Psychologie. Kontakt: Friedrich-Schiller-Universität Jena SFB 580 Bachstraße 18 07743 Jena Tel: 03641 945046 Email: Elena.Semenova@uni-jena.de Seite 84 Rademacher Autorinnen und autoren Seite 85 SFB Gesellschaftliche Entwicklungen Systemumbruch SFB 580 - Geschäftsführung 580 Diskontinuität Tradition Strukturbildun (2008) ISSN 1619-6171