Untitled - Sandro Bocola
Transcription
Untitled - Sandro Bocola
Familien Schär und Bocola Unsere Familiengeschichte 1846-1947 in Bildern und Texten, herausgegeben von Sandro Bocola und Heidy Lambelet-Bocola. Mit Beiträgen von Johann Friedrich Schär, Oskar Schär, Sandro Bocola, Hans Kissling, Heidy Lambelet-Bocola, Theodor Brogle, Eugen Dietschi, Henry Faucherre, Hans Handschin, Werner Kellerhals, Ruedi Kunzmann, R. Munding, u.a.. Redaktion und Gestaltung von Sandro Bocola. 4 5 Inhaltsverzeichnis 6 Vorwort 8 138 Erste Jahre in Basel 140 Spiritistische Sitzungen um Willy Bocola 1939-1941 Familie Schär-Werren 142 Die Basler Grossfamilie 1939-1947 10 Ein geschichtlicher Überblick 1800-1870 154 Familienferien in Italien 1940-1943 12 J.F.Schärs Jugendzeit 1846-1862 156 Religionsunterrischt Sandro und Heidy 1940-1942 14 J.F.Schär als Dorfschulmeister in Wattenwil 1865-1868 158 Kinderheim Mümliswil 1940-1941 18 J.F.Schär Hauptlehrer am Lehrerseminar Münchenbuchsee 1868-1870 160 Sandro Bocolas Lesewut und ihre Folgen 1940-1941 20 J.F.Schär als Sekundarlehrer in Bischofszell 1874-1880 162 Sandro Bocolas Gymnasialzeit 1941-1947 22 J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 1882-1903 164 Sandro Bocolas Selbstfindung 1944 -1946 32 J.F.Schär als Genossenschafter 1882-1903 168 Sandro Bocolas Ausweisung aus dem Gymnasium 1947 42 J.F.Schär als Sozialreformer 1882-1919 170 Heidy Bocola und die Grossfamilie 1940-1947 44 J.F.Schär als Professor an der Universität Zürich 1903-1906 174 Tod von Oskar Schär 1947 46 J.F.Schär als Wissenschafter 1903-1919 176 Epilog 50 J.F.Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin 1906-1919 56 J.F.Schärs letzte Jahre in Basel Freidorf 1919-1924 180 Anhang 181 Transkriptionen 60 Familie Schär-Haller 203 Bibliographie 62 Oskar Schär - Strafrecht und politische Tätigkeit 1868-1909 205 Bildrechte 65 Oskar Schär als Genossenschafter und Politiker 1909-1945 206 Chronologie 72 Oskar Schär in der St.Jakobs Loge des Odd Fellow Bundes 208 Register 74 Oskar Schär an der Basler Fasnacht 209 Herausgeber und Mitarbeiter 76 Oskar Schär als Pater Familias 1910-1947 84 Familie Bocola-Schär 86 Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola 1929-1931 96 Die italienische Familie und die italienischen Grosseltern 100 Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola 1931-1935 106 Willy Bocola als Pilot 110 Geburt von Heidy Bocola 1935 112 Grossfamilie Schär-Bocola 1935-1936 118 Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 1936 130 Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel 1936-1939 6 Vorwort Vorwort Zwei Jahre nach dem Tod unseres Vaters kehrte unsere Mutter mit uns nach Basel, ins Haus ihrer Eltern zurück. Ich, Sandro, war damals siebenjährig und wuchs, zusammen mit meiner um vier Jahre jüngeren Schwester Heidy, im Haus unserer Grosseltern auf, wo wir täglich, bei jedem Essen, dem grossen, eindrücklichen Bildnis eines alten Mannes gegenübersassen, der mit seinem langen, spitz zulaufenden, weissen Bart wie ein zeitgenössischer Moses wirkte. Dies war unser Urgrossvater, der von allen verehrte Johann Friedrich Schär, dessen bedeutende Leistungen, vor allem sein Aufstieg vom „Sennebueb“ zum Rektor der Handelsuniversität Berlin, immer wieder erzählt und uns als leuchtendes Vorbild vor Augen geführt wurden. Weit interessanter fand ich die abenteurlichen Geschichten aus dem Leben seines Sohnes Arnold, der zum Teil als Tramper grosse Teile Amerikas bereist, die unterschiedlichsten Berufe ausgeübt, Unternehmen gegründet und schliesslich eine grosse Farm betrieben hatte, in der wilde Pferde eingeritten und gezähmt wurden. Vom Grossvater selbst, bei dem wir wohnten, wurde kaum je etwas erzählt; wir wussten zwar, dass er Präsident des VSK (Verband Schweizerischer Konsumvereine, der 1969 in Coop Schweiz umbenannt wurde) und auch sonst in vielen Ämtern tätig war, doch interessierten wir uns damals nicht sonderlich dafür. Ich selbst habe mich auch später kaum je mit der Geschichte meiner illustren Vorfahren beschäftigt. Dies begann sich erst zu ändern, als meine Schwester vor einigen Jahren alte Aktenschränke unseres Grossvaters, die im Estrich des Familienhauses standen, durchsah, die vielen Dokumente, Briefe und Fotografien, die sich darin befanden, sortierte und mich dazu einlud, ihre Funde anzusehen und mit ihr zu entscheiden, was damit geschehen solle. In welcher Weise könnte man diese Zeugnisse unserer Familiengeschichte (darunter auch viele Briefe und Fotografien der Familie Bocola-Schär) für unsere direkten Nachkommen und Enkel aufbewahren und zugänglich machen? Nach Erörterung anderer Möglichkeiten sahen wir die Lösung in einem Text-Buch, das man in kleiner Zahl vervielfältigen und allen Interessierten abgeben konnte. Doch wurde uns bald klar, dass sich unsere Enkel und Enkelinnen auch in dieser Form kaum durch all dieses schriftliche Material durcharbeiten würden, ohne dass wir ihnen dazu einen zusätzlichen, visuellen Anreiz bieten würden. So entschieden wir uns, nach dem Modell des Suhrkamp Bandes Sigmund Freud – Sein Leben in Bildern und Texten die Berichte und Darstellungen unserer Familiengeschichte, die Auszüge aus Briefen, Texten, Artikeln und Büchern wo immer möglich mit entsprechenden Abbildungen zu verbinden, um das Interesse und die Neugierde der jungen Leser zu wecken. Diese mosaikartige Zusammenstellung von kurzen Texten und Bildern sollte von Zeit zu Zeit durch etwas längere, den grossen Zusammenhang herstellende Texte unterbrochen werden. Damit begann für uns beide die Durchsicht des umfangreichen Materials, das uns in zunehmendem Mass gefangen nahm. Wir begannen, in Archiven, Bibliotheken und im Internet zu recherchieren und lernten dabei die Geschichte der damaligen sozialen Entwicklung und der schweizerischen Genossenschaftsbewegung kennen, in der die beiden Schärs eine wegweisende Rolle gespielt hatten, was uns bewog, auch diese in unseren Band aufzunehmen. 7 Dessen erster Teil behandelt die Person und das Werk von Johann Friedrich Schär, umfasst die Zeit von 1846-1919 und stützt sich zwangsläufig auf bestehende Dokumente. Es handelt sich dabei vor allem um Auszüge aus Texten von Johann Friedrich Schär, Oskar Schär, Henry Faucherre, Theodor Brogle, Robert Flatt, Hans Handschin, R. Munding, Ruedi Kunzmann, Werner Kellerhals, Hans Berner u.a., die in Büchern, Broschüren und Zeitungen erschienen sind und die wir zum Teil zusammengefasst und gekürzt wiedergegeben haben. Der zweite Teil gilt der Person und der Familie unseres Grossvaters, Oskar Schär, also einer Zeit, die wir zum Teil selbst miterlebt haben und von der wir auch persönliche Erinnerungen berichten konnten. Dieser Teil überschneidet sich mit dem dritten, der mit dem Auftritt unseres Vaters, Willy Bocola, beginnt, die Geschichte der Familie Bocola-Schär verfolgt und 1947 mit dem Tod unseres Grossvaters Oskar Schär endet. Es ist klar, dass dieses letzte Kapitel zum grossen Teil unsere eigenen Erinnerungen wiedergibt, und damit nicht nur vom Leben unserer Vorfahren, sondern auch von unseren frühen Kinder- und Jugendjahren erzählt. Im Anhang finden sich Transkriptionen einschlägiger Texte, Bibliographie, Angaben zu den Quellen und Reproduktionsrechten der verwendeten Abbildungen, Chronologie, Register und Angaben über die Herausgeber und Mitarbeiter. Im Text sind die Hinweise auf Transkriptionen mit T1, T2, T3 etc. nummeriert, die Quellen zitierter Texte mit Autor und Jahr angegeben. Sandro Bocola und Heidy Lambelet - Bocola Dezember 2009 Dank Bei der Ausarbeitung unserer Familiengeschichte konnten wir auf die Hilfe vieler Freunde, Bekannte und Mitarbeiter zählen. Justo Barragan übernahm das Scannen unseres Fotomaterials; Susanne Schnurrenberger erstellte die digitalen Abschriften der verwendeten Texte und übernahm das Lektorat; Mike Gosteli unternahm ausgedehnte Recherchen, Ruedi Brändle, Sabine Brändle, Oscar Burlet, Werner Gallusser, Gerhard Gasser und Stefan Scherrer, Leiter des Coop Zentralarchivs, vermittelten wertvolle Informationen, Dokumente, Fotografien oder Kontakte; Augusto Mozetti übernahm den Druck. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt Marcos Davi Carvalho dos Santos, der während Wochen mit unermüdlichem Eifer und seiner grossen digitalen Kompetenz Sandro Bocola bei der Gestaltung des Buches als Assistent zur Seite stand. Und last but not least danken wir dem Buchverlag Coop Schweiz, dem DRW Verlag, Leinfelden-Echterlingen, dem H.Gietl Verlag, Regentauf, und der Tamedia AG (Das Magazin), für die Erlaubnis, Textpassagen und Abbildungen aus ihren Publikationen zu zitieren und zu übernehmen. 8 9 Familie Schär-Werren 1. Johann Friedrich Schär im Kreis seiner Familie, um 1906. Von hinten nach vorne, links nach rechts: unbekannte Frau, Fritz junior, Oskar Schär, unser Grossvater, seine Brüder Fritz und Erwin, Oskars Tochter Lisy. Sitzend: Anna SchärHaller, unsere Grossmutter, unbekannte Frau, evtl. die zweite Ehefrau Johann Friedrichs, Johann Friedrich Schär, unser Urgrossvater und seine Tochter Alwine. Erste Reihe, stehend: unbekannte Frau, am Boden sitzend: Wahrscheinlich zwei Söhne der zweiten Ehefrau Johann Friedrichs, unsere Mutter Marty und Hanny. 10 Ein geschichtlicher Überblick Ein geschichtlicher Überblick Bevor wir diese Familiengeschichte mit dem Leben unseres Urgrossvaters, Johann Friedrich Schär, beginnen, wollen wir in einem kurzen Überblick das sozialgeschichtliche Umfeld skizzieren, das seine Laufbahn als Lehrer, Genossenschaftler, Wissenschaftler und Reformator bestimmte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lebte der überwiegende Teil der schweizerischen Bevölkerung in Dörfern und vereinzelten Gehöften. Um 1850, zur Zeit von Schärs Geburt in Ursellen, Emmental, gab es in der Schweiz nur acht städtische Gemeinden mit mehr als 10’000 Einwohnern, die zusammen etwa 6,5 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung ausmachten. Die meisten Einwohner lebten von der Landwirtschaft und ernährten sich weitgehend von den eigenen wenigen Produkten. Die geringen Erträge und die wenigen Überschüsse verkaufte man über den traditionellen Handel auf Wochenmärkten oder an den Frühjahrs- und Herbstmessen. Ladenlokale gab es nur in den grösseren Städten, und die herumziehenden Wanderhändler genossen einen wenig vertrauenswürdigen Ruf. Der grösste Teil der Einwohner hatte kaum Geld, betrieb Tauschhandel, liess häufig anschreiben und verschuldete sich in aussergewöhnlichen Lebenssituationen für Jahre. (Kellerhals, 1990, S.15 ff) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte der wissenschaftlichtechnische Fortschritt innert weniger Jahrzehnte die gesellschaftlichen Strukturen. Während die bisherige Warenproduktion auf menschliche oder tierische Arbeitskraft angewiesen war, wurde die industrielle Produktion durch Dampf oder Elektrizität angetrieben. Die neuen Energiequellen führten zu einer weitreichenden Veränderung der Arbeitsweise. Der Wechsel von der heimischen Handarbeit zur fabrikorganisierten Produktion verlangte nach Arbeitern, welche nun nicht mehr im eigenen Betrieb landwirtschaftlich tätig waren, sondern weg von zu Hause arbeiten mussten. Die dadurch geänderten Familienstrukturen erlaubten nicht mehr, dass die kleinen Bauernbetriebe überdauerten. Eine Verarmung der Bevölkerung und die Entstehung eines Fabrikproletariats waren die negative Folge, Kinderarbeit eine häufige Notwendigkeit zum Überleben der Sippe. Die Arbeiterschaft selber lebte in unwürdigen Wohnverhältnissen und unter traurigen Arbeitsbedingungen, ohne jeglichen Tarif- oder Kündigungsschutz. Eingekauft wurde bei Krämern, deren Produkte häufig minderwertig waren. Man warf ihnen Schwindelgeschäfte vor. Es häuften sich die Klagen, dass nicht ordentlich abgewogen, Mehl mit Gips, gemahlener Kaffee mit feinem Sand vermischt und Milch mit Wasser gestreckt würde. Viele Produkte waren nur gerade für die Oberschicht der Bevölkerung erschwinglich, verteuert durch lange Handelswege, Zollschranken und Monopole, welche sich die Gewerbetreibenden und Kaufleute gesichert hielten. (Kunzmann, 2005, S. 8) Modern denkende Bürger unternahmen erste Schritte zu einer gerechteren Gesellschaft. Schon 1838 hatten Appenzeller und Glarner in der Stadt Genf den “Grütliverein” gegründet, in welchem man heftig politisierte und der später schweizweit imitiert wurde. Er stellt einen ersten Versuch einer nationalen Ar- 1800 - 1870 beiterbewegung dar. Die Schaffung von Ersparniskassen und Versicherungen, Gesellschaften zur Beschaffung verbilligter Brennmaterialien, Volksküchen und die neuen Fruchtvereine zur verbesserten Beschaffung von Getreide und Mehl, stellten die ersten wirtschaftlichen Schritte der allgemeinen sozialen Umwälzungen dar. Aus diesen Fruchtvereinen, gemeinsame Einkaufsvereinigungen, die man als eigentliche konsumgenossenschaftliche Vorboten bezeichnen kann, sind später auch etliche Konsumvereine entstanden. (Kunzmann, 2005, S. 9) Schärs berufliche Anfänge wurden nicht nur durch dieses erste genossenschaftliche Gedankengut, sondern vor allem auch durch die damaligen Reformen der Volksschulbildung bestimmt. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Schär die Auswirkungen der politischen Entwicklung, die mit der Schaffung der neuen Bundesverfassung 1848 den bisherigen Staatenbund in einen Bundesstaat, wie er heute noch besteht, umwandelte: „Das Volk erwachte, eroberte sich die Rechte seiner Souveränität. In den meisten Kantonen, so auch im Kanton Bern, siegte der Freisinn. Der freisinnige grosse Rat wählte eine fortschrittliche Regierung, die mit Feuereifer an die Umgestaltung der Verfassung und damit auch an einen neuen Aufbau aller staatlichen Institutionen, vor allem an die gründliche Reform der Volksschulbildung, ging. Das staatliche Lehrerseminar wurde gegründet, die bisherigen Lehrer mussten sich einer Patentprüfung unterziehen; wer sie nicht bestand, musste den Schuldienst verlassen. Der Staat unterstützte die Gemeinden bei der Einführung der allgemeinen unentgeltlichen obligatorischen Volksschule durch Subvention beim Bau von Schulhäusern, durch Staatsbeiträge an die Lehrergehälter. Die Herrschaft der Geistlichen über die Schule und ihrer Lehrer wurde gebrochen; jede Schulgemeinde konnte eine Schulkommission frei aus der Zahl ihrer Mitglieder wählen. Das neugegründete Lehrerseminar pflanzte einen neuen Geist in die jungen Lehrer, die sich erfolgreich dagegen wehrten, weiter Diener der Kirche, bwz. der Geistlichen, und quasi nur im Nebenamt Lehrer zu sein. (J.F.Schär, 1924, S.183). Diese Reformen bildeten die Voraussetzung für Schärs Ausbildung als Lehrer und seine pädagogische und wissenschaftliche Laufbahn, die um die Jahrhundertwende mit seiner Berufung als ordentlicher Professor an die Universität Zürich, nachher an die Handelshochschule in Berlin, ihren Höhepunkt erreichte. 11 2. Bauernhaus aus dem Appenzell Es war ein grosses Glück für den jungen Johann Friedrich Schär, dass er die Sekundarschule von Zollbrück besuchen und nachher in das Lehrerseminar Münchenbuchsee eintreten durfte. (Zum 70. Geburtstag von J.F.Schär, Autor unbekannt) 3. Lehrerpatent von J.F.Schär, vom 21.3.1846 J.F.Schär, 1924: Die meisten meiner zahlreichen Vettern und weiteren Nachkommen der Geschwister meines Vaters übten und üben noch heute den Käserberuf aus, viele in der Schweiz, andere in Russland, in Frankreich, in Amerika usw.. Überhaupt bin ich der einzige Nachkomme meines Grossvaters, der aus der Art geschlagen hat und nicht Käser, sondern Schulmeister geworden ist. Daher galt ich auch in meiner Jugend bei meinen Verwandten als “a grüseli gschide Bueb”. 12 J.F.Schärs Jugendzeit 1846 - 1862 13 Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Der Name Schär ist eine Abkürzung von Scherer, der den Beruf eines Feldscherers andeutet. Da man jedoch in meiner Heimat bis in das 19. Jahrhundert selbst die gebildeten Aerzte allgemein Scherer oder Schär benannte, so muss man sich unter diesem Namen einen Beruf vorstellen, der sich neben dem Bartscheren nicht nur mit dem Heilen von Menschen und Vieh abgab, sondern auch Chirurg war, der Medikamente, Salben und Heilmittel selber zubereitete. In der Tat ist mein Urgrosssvater ein derartiger Heilkünstler gewesen; er hat neben dieser seiner Kunst auch noch ander Dinge gekonnt, wie z.B. die bösen Geister bannen. (J.F.Schär, 1924, S 15) 4. Johann Friedrich Schär, Lebenserinnerungen, 1924, VSK, Basel Nebst vielen anderen Zeugnissen bilden die Lebenserinnerungen, die Johann Friedrich Schärs kurz vor seinem Tod verfasste, eine der wichtigsten literarischen Quellen unserer Darstellung. Diese Aufzeichnungen, die leider mit seiner Bieler Zeit, 1880-82, enden, schildern seine frühe Jugend und seinen Weg als Lehrer und geben mit grösster Vollständigkeit den beeindruckenden Umfang seiner ausseramtlichen Tätigkeiten im Dienst der Allgemeinheit wieder. Alle seine autobiographischen Aufzeichnungen (siehe auch Genossenschaftliche Reden und Schriften), vermitteln nebst vielen lebendigen und interessanten Darstellungen auch den Eindruck eines überhöhten und überbordenden Selbstbewusstseins. Insbesondere in seiner Rolle als Sozialreformer entpuppt sich Johann Friedrich Schär als eine messianische Persönlichkeit im Sinn Kohuts, die sich mit ihren Idealen gleichsetzt, mit ihnen verschmilzt und damit die nötige Distanz verliert, um diese einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Herausgeber Entscheidend für mein ganzes Leben war der Entschluss, den ich schon im elften Lebensjahr gefasst habe, der nämlich, mich dem Lehrerstand zu widmen. Diese Wahl meines Lebensberufes scheint umso auffälliger, als er in so jungen Jahren gefasst worden ist, wo man sich sonst keine Rechenschaft über das Kommende zu geben vermag, insbesondere auch keine Berechnungen anstellt über die Chancen, die ein Beruf gewährt. Viel erklärlicher wäre es, wenn ich wie fast alle meine männlichen Verwandten den Beruf meines Vaters, den eines Käsers, oder den meines Grossvaters, eines «Schärers» (Arztes) gewählt hätte. Gleichwohl liegen die Gründe auch für diese meine Berufswahl klar zu Tage. Es sind die Einflüsse meiner Mutter, von der ich die geistigen Gaben, die Lust und Liebe zum Lernen, die Freude an geistiger Arbeit im Gegensatz zur körperlichen geerbt habe. Von da an war meiner ganzen Jugend die feste Richtung gegeben. All mein Sinnen und Denken war auf das eine Ziel gerichtet, mich auf den Eintritt ins Lehrerseminar vorzubereiten, um nachher den Lehrerberuf auszuüben. Darum habe ich die Erlaubnis erbeten, in Landiswil bei meinem Lehrer Privatstunden zu nehmen. Ich habe es auch trotz aller Hindernisse durchzusetzen gewusst, dass ich die Sekundarschule besuchen konnte; der beschwerliche Schulweg von anderthalb Stunden, den ich auch im Winter bei tiefem Schnee, wie im heissen Sommer zweimal täglich zurücklegen musste, war mir nicht zu viel; wusste ich doch, dass der Besuch der Sekundarschule mich meinem Ziele näherbrachte. (J.F.Schär, 1924, S. 316/317) In beruflicher Beziehung war meine Mutter eine gewandte und kluge Geschäftsfrau, konnte sehr gut schreiben und rechnen, so dass sie meinen Vater, der darin weniger bewandert war, in allen geschäftlichen Angelegenheiten erfolgreich unterstützen konnte. Sie schrieb nicht nur alle Geschäfts- und Familienbriefe, sondern führte auch die Milchlieferungskontrolle und fertigte die Gesellschafts- und Verteilungsrechnung der Käsereigenossenschaft. Schon frühzeitig führte sie mich in alle ihre Künste ein, so dass ich insbesondere während der langen Zeit ihrer Krankheit, schon von meinem 12. Lebensjahre an, selbständig die Geschäfts- und Familienbriefe schreiben musste. (J.F.Schär, 1924, S.29) Sie starb nach langem Krankenlager von dem aus sie noch immer den Haushalt und die geschäftlichen Angelegenheiten dirigierte, an einem unheilbaren Gebärmutterleiden im Jahre 1871, leider viel zu früh für meine Geschwister, für mich, besonders für meinen Vater. (J.F.Schär, 1924, S.34) 5. Johann Friedrich Schär Mein Lebenswerk, Typoscript, 1924a Schärs Lebenserinnerungen werden unter dem Titel Mein Lebenswerk durch ein ebenfalls in hohem Alter erstelltes Verzeichnis seiner Arbeiten ergänzt, das jede seiner öffentlichen Äusserungen festhält und alle seine Ämter, Anstellungen, Bücher, Artikel, Vorträge und Briefe chronologisch aufführt. Obwohl die eingestreuten, biographischen Selbstdarstellungen oft in die Verherrlichung der eigenen Person und der eigenen Motive verfallen, dokumentieren sie ein beeindruckendes Lebenswerk. Sie sind anregend und lesenswert, wie wir mit zahlreichen und umfangreichen Zitaten deutlich zu machen hoffen. Die Herausgeber J.F.Schär: Ich bin ein Freigeist. Das Studium der Religionsgeschichte, der Philosophie und der Naturwissenschaften haben mich von den Fesseln des Kirchenglaubens und von der Beschränktheit der Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch befreit. Aber trotzdem ist mir wahre Frömmigkeit und Gottvertrauen geblieben, und ich finde in schweren Stunden immer wieder den Weg zu meinem Gott - jeder Mensch hat doch seinen eigenen Gott. Auch diese Eigenschaft ist ein Erbteil, ein Produkt meiner Erziehung. Vater und Mutter waren fromm, trotzdem sie nur höchst selten in die Kirche gingen; (...) Aber im elterlichen Hause herrschte eine stille Frömmigkeit. (J.F.Schär, 1924, S 22) 6. Schär um 1820, zur Zeit, als er seine „Lebenserinnerungen“ niederschrieb. 14 7. Johann Friedrich Schär 1865 Vor der Uberreichung des Lehrerpatents: Meine Eltern brachten mir dafür ein neues, schwarzes Kleid nach städtischem Schnitt, in dem ich aussah wie ein Pfarrvikar. Auf diese Ausstattung war ich nicht wenig stolz. (J.F.Schär, 1924, S.153) J.F.Schär als Dorfschulmeister in Wattenwil Aus einem Artikel zum 70. Geburtstag von J.F.Schär, Autor unbekannt: Johann Friedrich Schär wurde geboren am 21. März 1846. Sein Vater war damals Käser der Käsereigenossenschaft Goldbach im Emmenthal. Der Knabe wurde früh zu straffer Arbeit angehalten; so musste er regelmässig, schon im vorschulpflichtigen Alter, alle Morgen zwischen 5 und 6 Uhr das Butterfass drehen helfen und vom weit entfernten Brunnen für die Käserei das Wasser holen. Es war ein grosses Glück für den aufgeweckten Jungen, dass er die Sekundarschule von Zollbrück besuchen und nachher in das Lehrerseminar Münchenbuchsee eintreten durfte. Mit 19 Jahren wurde Schär auf die besondere Empfehlung von Seminardirektor Rüegg zum Lehrer an der gemeinsamen Oberschule in Wattenwil bei Thun gewählt. Es ist unglaublich, was der junge Oberlehrer während der 3 1/2 jährigen Wirksamkeit in diesem Dorfe geleistet hat. Wie sein Vorbild «Oswald» in Zschokkes «Goldmacherdorf» wollte er seiner Gemeinde ein Reformator werden. Seine Schüler wusste er derart zu fesseln, dass sie noch jetzt als alte Leute mit Begeisterung von Schär erzählen. Erstaunlich ist, was der junge Mann ausser der Schulzeit geleistet hat. Er gründete und leitete einen Gesangverein und einen Turnverein und holte mit beiden an den oberländischen Bezirksfesten erste Lorbeerkränze. Im Winter bildeten die beiden Vereine zusammen ein Liebhaber Theater, und von weit her strömte das Volk zu den vaterländischen Schauspielen in Wattenwil. Um seine Gemeinde wirtschaftlich fördern zu können, gründete er einen gemeinnützigen Verein und veranstaltete darin regelmässige Vorträge und Kurse über Agrikulturchemie, Obstbaumzucht, Strassen- und Verkehrswesen, Forstwirtschaft, Armenwesen, Gürbetalentsumpfung, Bekämpfung der Schnapsseuche etc. Um dem Schnapsgenuss auf den Leib zur rücken, gründete er eine genossenschaftliche Mosterei, in der er selbst fleissig mitarbeitete. Als Schärs Werke bezeichnet man noch jetzt in Wattenwil u.a. die Strasse zu der Eisenbahnstation in Uttigen und die schönen Obstbaumalleen längs der Srassen. Auch mitten auf dem Dorfplatz steht ein grosser, alljährlich reichtragender Birnbaum, den Schär mit seinen Oberschülern gepflanzt hat und der jetzt allgemein “Schärs Birnbaum” heisst. Auf Schärs Anregung hin hat Wattenwil, als erste bernische Gemeinde, die Speisung armer Schüler eingeführt. Trotz seiner vielseitigen öffentlichen Betätigung arbeitete Schär auch eifrig an seiner wissenschaftlichen Fortbildung. Jeden zweiten Samstag Nachmittag versammelten sich in seiner Wohnung einige jüngere Lehrer der Umgebung. Der Reihe nach trug jeder eine wohl vorbereitete Arbeit über deutsche Literatur, Geschichte, Naturwissenschaften etc. vor. Schär vermittelte die Quellenliteratur und studierte auch die Themata der Kollegen stets so gut, dass er jeden Vortragenden berichtigen und ergänzen konnte. Darum verehrten alle Kursteilnehmer ihn neidlos als ihren Meister. Was Wunder, dass Schär mit 22 Jahren an der Universität Bern das Examen zur Erlangung des Sekundar- und Gymnasiallehrerpatentes bestehen konnte und dass ihn die bernische Regierung als Lehrer am Lehrerseminar Münchenbuchsee berief, an dem er selbst ausgebildet worden war. 1865 - 1868 15 8. Rechts: Das Bernische Lehrerseminar in Münchenbuchsee, 1833-1883 Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Um fünf Uhr war Tagwacht. Für das Ankleiden, Bettmachen und Waschen hatten wir zwanzig Minuten Zeit, denn um fünf Uhr musste jeder an seinem Platz an der Arbeit sein. Für das Waschen gab es nirgendwo im Hause eine Gelegenheit. Alle hundertundzwanzig Zöglinge mussten mit Waschtuch und Seife zum Brunnen, der sich ausserhalb der Klostermauer befand. Die damit verbundene Unbequemlichkeit wurde reichlich belohnt. Hinaus aus der Stickluft der Schlafsäle – in zwei schliefen je zwanzig, im dritten achtzig Zöglinge – in die frische Morgenluft; körperliche Bewegung, Kopf und Hände mit kaltem, frischem Wasser abkühlen, das weckte unsere Lebensgeister. (J.F.Schär, 1924, S 119) 9. Unten: Kirche und Schulhaus in Wattenwil. Hier war Schär von seinem 19. bis 22. Lebensjahr als Lehrer tätig. J.F.Schär als Dorfschulmeister in Wattenwil 16 Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen (J.F.Schär, 1924, S 22): 10. Henrich Zschokke, Basel, um 1800 Aus J.F.Schär, 1920, S.52: Von Anfang an fasste ich den Lehrerberuf von einer höheren Warte aus auf; meine Wirksamkeit sollte nicht auf den engen Raum des Schulzimmers begrenzt sein; ich wollte meine Ideale in das Volk hinaustragen. Dazu gab mir ein wunderbares Buch den entscheidenden Anstoss; Zschokkes «Goldmacherdorf», das mir aus der neu gegründeten Schulbibliothek in die Hände fiel. Den Helden dieses einzigartigen Buches, Oswald, wollte ich nachahmen, das um so mehr, als ich den Zustand, wie ihn Zschokke als Schauplatz der Tätigkeit des Reformators Oswald geschildert hat, genau in meinem Dorf wieder zu finden glaubte. Ohne ergänzenden Zuschuss von der Mitgift meines Schwiegervaters hätte ich auf das Studium für das Sekundarund Gymnasiallehrerpatent verzichten müssen. So steht auch diese Wendung meines Werdeganges mit meiner Heirat in ursächlichem Zusammenhang. Denn es ist sicher, dass ich erst auf Grund meines Diploms ein Jahr nachher zum Hauptlehrer an das Lehrerseminar gewählt wurde. 1865 - 1868 13. Anna Schär-Werren, 1845-1888 Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Sobald ich definitif als Lehrer angestellt war und glaubte, eine Familie ernähren zu können, sah ich mich nach einer Lebensgefährtin um. Ich wollte eine Liebesheirat, und die Rechte fand sich ungesucht und ungewollt unter den Töchtern des Gemischten Chors. Sie war im Herbst 1865 als Mitglied eingetreten und fesselte sofort meine Augen und mein Herz. Sie hatte blonde Haare, blaue Augen, ein liebreizendes Gesicht, war körperlich wohlgestaltet, einfach und doch sauber gekleidet, von gesundem und frischem Aussehen. Sie war die Tochter des Amtsrichters Werren. Wir heirateten 1866. Eine eigentliche Aussteuer hatte meine Braut nicht erhalten; der Schwiegervater übergab mir als Heiratsgut zweitausend Franken in bar, mit dem Bemerken, dass ich das Notwendige zur Ergänzung meines Haushaltes selbst anschaffen sollte. Aus ökonomischen Gründen beschlossen wir, den Winter über noch getrennt zu bleiben, meine Anna Elisabeth im Elternhaus, ich im Schulhaus und bei meinem bisherigen Kostgeber. Das eigentliche Familienleben begann daher erst im Frühjahr 1867. Bald kam zu unserer grossen Freude ein Knäblein und wurde auf den Namen Wilhelm Friedrich getauft, Rufname war Fritzli. Schon nach einem Jahr schenkte mir meine Frau den zweiten Knaben, der auf den Namen Karl Oskar getauft wurde. Er war in seinen jungen Jahren ein sehr liebes und auch schönes Kind, der Liebling seiner ihn pflegenden Urgrossmutter. (J.F.Schär, 1924, S. 228) 11. Heinrich Zschokke, Das Goldmacherdorf Umschlag der ersten Auflage, 1817. 12. Abschluss Zeugnis von J.F.Schär als Hauptlehrer am Lehrerseminar Münchenbuchsee 17 18 J.F.Schär als Hauptlehrer am Bernischen Lehrerseminar 1868 -1870 19 15. Johann Friedrich Schär in seinem 26. Lebensjahr Trotz seines Erfolges und seiner grossen Beliebtheit entschloss sich Schär 1870, kurz nach Ausbruch des deutschfranzösischen Krieges, seine Stellung als Seminarlehrer aufzugeben, um Kaufmann zu werden. Er betrieb trotz seiner Unerfahrenheit verschiedene Geschäfte, als Gastwirt, Käsehändler und schliesslich als Papierfabrikant. Infolge mehrerer Misserfolge und Zerwürfnissen mit seinem letzten Associé trat Schär nach vier Jahren, also 1874, aus seinem letzten Geschäft, der Firma Harder & Schär aus und kehrte zu seinem ursprünglichen Beruf zurück, indem er eine Sekundarlehrerstelle in Bischofszell übernahm. 14. Urkunde des Kantons Bern zur Ernennung von Johann Friedrich Schär als Hauptlehrer am Lehrerseminar von Münchenbuchsee Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Schon dreieinhalb Jahre, nachdem ich das Seminar als Zögling verlassen, sollte ich dort wieder einziehen, jetzt als neugewählter Hauptlehrer für Physik, Chemie, Mathematik und Turnen. Nicht ohne Bedenken und Opposition hatte mich die Seminarkommission dem Regierungsrat in erster Linie zur Wahl vorgeschlagen. Ich wäre zu jung, hiess es; hätte eine zu grosse Einbildung von mir selbst; Beweis dafür: Kaum hätte ich das Patentexamen als Sekundarlehrer bestanden, so sei an der Türe meines Wohnzimmers schon die Anschrift gestanden: J.F. Schär, patentierter Sekundarlehrer; ich hätte nur schreiben dürfen: Patentierter SekundarlehramtsKandidat. Wichtiger als diese kleinlichen Aussetzungen war der Mangel an einer abgeschlossenen akademischen Bildung. Direktor Rüegg bevorzugte mich, weil ich einer seiner besten Schüler gewesen und er daher versichert sein konnte, dass ich in seinem Sinn und Geist arbeiten würde. Er hat sich darin nicht getäuscht. (J.F.Schär, 1924, S. 234/235) (Vergl. J.F.Schär, 1924, S. 247 -278). Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Am 10. September 1868 wurde ich als Seminarlehrer feierlich installiert. Unter und mit meinen hundertundzwanzig Zöglingen war ich in meinem Element. Auf den Glockenschlag hatte ich schon die Türklinke des Lehrsaales in der Hand. Die Zeit von der Tür zum Pult dauerte mir zu lang; deshalb hatte ich schon den Namen eines Zöglings aufgerufen und an ihn die Frage gestellt: “Was haben wir in der letzten Stunde behandelt?” bis ich an meinem Pult stand; ich wiederhole stand, denn niemals habe ich meinen Unterricht sitzend erteilt, auch im Katheder der Hochschule habe ich immer stehend vorgetragen. Mein Temperament gab es mir nicht zu; das haben auch meine Seminarzöglinge erfahren müssen; ich war in diesen jungen Jahren im Unterricht ein Feuergeist, durch meine Rasch- und Barschheit habe ich ihnen das Gähnen, das gedankenlose Zuhören oder Dasitzen abgewöhnt. Nicht Herumspazieren während des Unterrichts, sondern an einem Punkte stehen bleiben, von da aus die ganze Klasse überblicken, die Unachtsamen aufrufen, beim Gebrauch der Wandtafel die Zöglinge zur Mitarbeit anhalten, ihnen nicht viertelstundenlang den Rücken zukehren. Feuer, Leben und wieder Leben während der ganzen Stunde, das ist eine Lust und Freude für Lehrer und Schüler; man könnte sagen: das ist taylorisierter Schulbetrieb. Es war aber auch nötig, dass ein anderer Geist in den Betrieb der mir anvertrauten Fächer kam. Mein Vorgänger war an Geist und Energie derart gelähmt gewesen, dass in diesen Fächern die Zöglinge gänzlich auf sich angewiesen waren. (J.F.Schär, 1924, S 236) J.F.Schär als Sekundarlehrer in Bischofszell 20 1874 übernahm Schär eine Sekundarlehrerstelle in Bischofszell. Seine gemeinnützige Tätigkeit war dort wenn möglich noch intensiver als in Wattenwil. Ueberdies wurde er Gründer und Direktor einer Verkaufsgenossenschaft Schweizerischer Käser. Als solcher hatte er neben der Schule die Annahme der Käse in den Käsereien der Genossenschafter, die Aufsicht über das Lager, die gesamten Schreibarbeiten und die Geschäftsreisen zu besorgen. Auf Ersuchen des Arbeitervereins gründete er im Jahre 1875 auch den Konsumverein Bischofszell und besorgte ehrenamtlich die Buchhaltung und Kassaführung desselben, bis zu seinem Wegzug. Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Ich will gestehen, dass mich bei meinem Entschluss, den Lehrerberuf zu verlassen und Kaufmann zu werden, auch finanzielle Sorgen drückten. Ich war vier Jahre verheiratet und erhielt jedes Jahr ein neues Kind. Das erhöhte wohl mein Familienglück, vermehrte aber auch meine Sorgen. Ich hatte eine Besoldung von 2000 Franken, und auf absehbare Zeit war eine Erhöhung nicht zu gewärtigen. Es schien mir nicht schwierig, als Kaufmann in wenigen Jahren so viel zu erübrigen, dass ich nachher ohne Familiensorgen in den Lehrerberuf zurückkehren könnte. Doch ohne meine kaufmännische Praxis wäre ich nicht nach Basel berufen worden und hätte in der nun folgenden Lebensperiode auch nicht leisten können, was mir heute allgemein als Verdienst angerechnet wird. (J.F.Schär, 1924, S. 248) 16. Oben: Die ersten Kinder von Johann Friedrich Schär, ça 1872: Fritz, Oskar, Arnold und die Tochter Alwine Das Jahr 1880 brachte Schär als Direktor an die Mädchensekundarschule in Biel und das Jahr 1882 als Lehrer der Handelswissenschaften an die Obere Realschule in Basel. 17. Unten: Bischofszell von der Thurbrücke aus. 1874 - 1880 Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: 1874 habe ich die vierte Periode meines Lebens in dem schönen Landstädtchen Bischofszell als Lehrer der dortigen Sekundarschule angetreten und dort mein achtundzwanzigstes bis vierunddreissigstes Lebensjahr verbracht. Von all meinen ausseramtlichen Pflichten, Würden und Bürden, die ich samt und sonders ehrenamtlich in Bischofszell versah, will ich einige aufzählen: Direktor des Frauenchors, Präsident des Männerchors, Organist, Leiter des Turnvereins, Präsident der Literaria, desgleichen des volkswirtschaftlichen Vereins Ober-Thurgau, des interkantonalen Lehrervereins, Mitglied des Vorstandes der thurgauischen Schulsynode, Leiter der obligatorischen Fortbildungsschule, Redaktor der Wochenzeitung «Wächter an der Thur und Sitter», Mitarbeiter an Rüeggs schweizerischen Schulbüchern, Sekretär des Schutzaufsichtsvereins für entlassene Sträflinge, Vorstand des thurgauischen kantonalen Turnvereins, Bettelvogt u.a.m.. Aber das alles gehört nicht zu meinem Werdegang zum Genossenschafter; die Hauptsache kommt noch. Im Jahre 1874 wurde ich Gründer und Direktor der Assoziation schweizerischer Käser. Schon waren die Statuten von einigen vierzig Käsern angenommen; da scheiterte das ganze an der leidigen Finanzfrage. Die Banken wollten den notwendigen Kredit nicht bewilligen. Schliesslich schlossen sich noch acht finanzkräftige Mitglieder zu einer Genossenschaft zusammen. Da ich Fachmann war, wurde mir die ganze Leitung übertragen. Am Abend nach der Schule fuhr ich, wenn nötig, zum Ausziehen der Käse in die Käsereien, in der Nacht besorgte ich die Korrespondenz und Buchhaltung; in den Ferien reiste ich ins Ausland, um Kunden zu gewinnen. Weil ich keinen Angestellten hatte, musste ich den ganzen kaufmännischen Betrieb und Vertrieb besorgen. Für diese verantwortungsvolle Tätigkeit bezog ich ein Gehalt von 2000 Franken. Unstimmigkeiten in der Genossenschaft selbst, Bedenken gegen meine starke Nebenbeschäftigung seitens der Schulbehörde und das Uebermass von Arbeit veranlassten mich nach vier Jahren, die Leitung der Assoziation niederzulegen. Im Jahre 1875 teilte mir eine Abordnung des Arbeitervereins Bischofszell mit, dass sie die Absicht hätten, einen Konsumverein zu gründen, und baten mich um meine Mitwirkung. Der Direktor der grossen Jaquard-Fabrik, Niederer, erbot sich an, die etwa nötigen Geldmittel zu beschaffen. Ich sagte zu, arbeitete die Statuten nach Muster des Konsumvereins Uzwil und Umgebung aus, wurde von der konstituierenden Versammlung zum Präsidenten des Verwaltungsrates gewählt, und 1876 begann der Konsumverein Bischofszell seine Tätigkeit. Ich musste dabei die Buchhaltung und das Amt eines Kassiers übernehmen und besorgte diese Arbeiten ehrenamtlich bis zu meinem Weggang von Bischofszell. Nach sechseinhalbjähriger Wirksamkeit verliess ich Bischofszell, das mir zu einer zweiten Heimat geworden war, um einem Ruf als Direktor der MädchenSekundarschule in Biel zu folgen. (J.F.Schär, 1924, S 12) Das Jahr 1880 brachte dann Schär als Lehrer der Handelswissenschaften an die Obere Realschule in Basel. 21 Urkunde der Ernennung 18. zum Sekundarlehrer in Bischofszell, 1874 22 J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 1882 - 1903 23 J.F.Schär an der Oberen Realschule in Basel Das Jahr 1882 brachte Schär als Lehrer der Handelswissenschaften an die Obere Realschule in Basel. Hier war nun Schär auf die Bahn gekommen, auf welcher er vermöge seiner hervorragenden Intelligenz und Arbeitskraft sowie seiner reichen Erfahrung als Lehrer und als Geschäftsmann von Erfolg zu Erfolg gelangen sollte. Um seine kaufmännischen Erfahrungen zu erweitern und zugleich der Genossenschaftsbewegung zu dienen, die er als eines der sichersten Mittel erkannt hatte, um den untern Volksklassen aufzuhelfen, schloss er sich mit Eifer der Konsumgenossenschaftsbewegung an. Nach kurzer Zeit wurde er Mitglied der Verwaltung des Allgemeinen Konsumvereins Basel. Er half den Verband schweizerischer Konsumvereine gründen und wurde dessen Präsident. Der Name “Konsum Schär”, den seine Widersacher ihm beilegten, war redlich verdient und er ist ihm zu einem der liebsten Ehrentitel geworden. (Zum 70. Geburtstag von J.F.Schär, Autor unbekannt) 20. Stadtplan von Basel 1888 Aus: Tschudi, 1888 24 J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 1882 - 1903 21. Die Anlagen der chemischen Fabrik Geigy um 1900 an der Riehentorstrasse, am heutigen Standort des Hotel Plaza. (http://www.novartis.ch) Wirtschaftlicher Wandel und soziale Frage 1839 begann der Seidenfärber Alexander CIavel mit der Herstellung synthetischer Farben. Clavel folgten weitere Unternehmer wie Rudolf Geigy und Edouard Sandoz. Aus dem Werk Clavels erwuchs 1884 die Gesellschaft für chemische Industrie Basel (Ciba). 1897 gründete Fritz Hoffmann die heutige Roche. Im Zuge der Industrialisierung wurde die soziale Frage immer wichtiger. 1869 wurde ein Fabrikgesetz erlassen, das den Zwölfstundentag, ein Nachtarbeitsverbot, ein Verbot der Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder sowie eine 14-tägige Kündigungsfrist brachte. Die Lebenshaltungskosten vieler Arbeiterfamilien ließen sich oft nur durch die Einkommen mehrerer Familienmitglieder decken, dennoch reichte es bei etwa der Hälfte der Familien nicht einmal für eine ausreichende Ernährung, vor allem dann, wenn die zu versorgenden Kinder noch nicht selber mitverdienen konnten. So lebten noch um 1900 rund zwei Drittel der Bevölkerung in ärmlichen Verhältnissen. (Berner Hans u.a., 2008, S.194-195) 25 22. Blick auf den Birsig zwischen Rüdengasse und Barfüsserplatz (an der Stelle befindet sich heute die Falknerstrasse). Der kleine Fluss diente der Stadt als Abwasserkanal. Abb. Staatsarchiv Basel-Stadt. Ein geschichtlicher Überblick (Auszüge aus Berner Hans u.a., 2008) : Nach der Schaffung des neuen Bundesstaates 1848 blieben die staatlichen Institutionen Basels zunächst relativ schwach, was die Steuern niedrig und die städtischen Ausgaben gering hielt. So blieb z. B. die soziale Fürsorge im wesentlichen privat organisiert und das Vormundschaftswesen Aufgabe der Zünfte. Eine besondere Rolle spielte die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG), die sich seit 1844 in den Bereichen Kranken- und Arbeitslosenfürsorge sowie Wohnungsbau hervortat. Das verweist auf eine Besonderheit des Basler Bürgertums, nämlich sein großes gesellschaftliches und soziales Engagement. Dieses speiste sich aus der Identifikation mit der städtischen Gesellschaft, als deren eigentlicher Kern man sich sah, und der christlich-reformierten Vorstellung, dass die Reichen auch Verantwortung für das Wohlergehen ihrer armen Mitbürger tragen müssen. Seinen Reichtum und Wohlstand stellte man nicht zur Schau. Vielmehr unterstützte man unzählige soziale Vereine und Organisationen durch finanzielle Beiträge und tatkräftige Mithilfe. Selbstverständlich diente diese fürsorglich patriarchalische Haltung auch dem Zweck, die sozialen Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit zu entschärfen und die eigene Vorrangstellung zu legitimieren. (Berner Hans u.a., 2008, S.179) Die Kantonsverfassung von 1875 setzte dem Ratsherrenregiment ein Ende. An die Stelle des Kleinen Rates trat ein Regierungsrat, dem sieben Mitglieder angehörten. Alle Regierungsräte waren besoldet, eine Regelung, die die Konservativen bis zuletzt bekämpften. (...) Letzte Reste des Zunftzwanges hatte bereits die Bundesverfassung beseitigt, nun führte auch Basel endgültig die Gewerbefreiheit ein. Hinzu kamen mit Gesetzesinitiative und Referendum direktdemokratische Instrumente. 1889 folgte noch eine Verfassungsrevision, welche die Volkswahl von Regierungs- und Ständerat einführte. Zudem übertrug man dem Kanton mit dem Armenwesen erste sozialpolitische Aufgaben, die von der Bürgergemeinde nicht mehr allein zu bewältigen waren. Politisch dominierte der Freisinn, der sich im Wesentlichen auf zugewanderte Bürger anderer Kantone und die städtische Mittelschicht stützte. Während 10 Jahren verfügte er - mit einer Ausnahme - über die absolute Mehrheit im Grossen Die unhaltbaren hygienischen Zustände, die immer wieder zu Cholera- und Typhuserkrankungen führten, bedurften einer nachhaltigen Verbesserung. Ein erstes Kanalisationsgesetz scheiterte aber 1876 in einer Volksabstimmung am Widerstand der Hausbesitzer. Erst in den 1880er und 1890er Jahren folgte die schrittweise Überdeckung des Birsig im Innenstadtbereich. 1896 wurde per Gesetz ein Kanalisationsanschluss für jedes Haus verpflichtend. Nun begann ein rascher Ausbau des Abwassernetzes in der Stadt. (Berner Hans u.a., 2008, S.183) Rat. Ihm gegenüber standen die Konservativen, welche die alteingesessene Bürgerschaft repräsentierten. Damit verlor Basel langsam sein konservatives Image. In den 1880er Jahren entstanden Arbeitervereine, die Sozialdemokratische Partei wurde 1890 gegründet. Sie vertrat die neue Industriearbeiterschaft, sofern diese nicht katholisch gebunden war. Die zugewanderten Katholiken schlossen sich in verschiedenen politischen Vereinen zusammen. Bereits 1875 übernahm der Kanton die zuvor privat organisierte Wasserversorgung, die seit 1866 die Bevölkerung mit frischem Wasser aus dem Jura versorgte. 1882 wurde Grundwasser in den Langen Erlen erschlossen, um den steigenden Bedarf zu decken. Auch die seit 1852 bestehende Gasversorgung, die im Wesentlichen der öffentlichen Beleuchtung der Stadt diente, wurde schrittweise vom Kanton übernommen. 1879 fusionierten Gas- und Wasserwerk zu einem staatlichen Regiebetrieb, der Basel auch mit der neu aufkommenden Elektrizität versorgte. 1900 folgte die Umstellung der Straßenbeleuchtung auf Elektrizität. 1912 wurde außerhalb des Kantons in Augst das erste große Wasserkraftwerk am Rhein in Betrieb genommen. Von zentraler Bedeutung war die Sanierung des Abwassers, das man jahrhundertelang über Gruben und Dolen in den Birsig oder direkt in den Rhein abgeleitet hatte. (Berner Hans u.a., 2008, S.181-183) 23. Kleine Geschichte der Stadt Basel, (Berner Hans u.a., 2008) Eine anregende, gut strukturierte Dokumentation, aus der wir auf den Seiten 22-25 ausgiebig zitiert haben. J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 26 1882 - 1903 Die freisinnige Ära war von einem gewaltigen Ausbau der öffentlichen Leistungen begleitet. Der „Gemeindesozialismus“ der Freisinnigen hatte auch ein Zurückdrängen der alten Oberschicht zum Ziel. Im Zentrum standen der Ausbau der Stadt (kommunaler Wohnungsbau, Strassenbau, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung), die Gesundheitspolitik sowie das Bildungswesen. 24. Oben: Der Steinenberg vor dem Neubau des Stadttheaters und der Kunsthalle (Abb. rechts). 25. Oben: Stadttheater und Kunsthalle, 1872 - 1875 Der seit 1840 aktive private Kunstverein nutzte die neue Kunsthalle für eine regelmässige Ausstellungstätigkeit. Ein besonderes Anliegen der Freisinnigen war der Ausbau der staatlichen Schule. Ziel war einerseits die Erhöhung der Chancengleichheit durch Bildung, und die Ausformung des Staatsbürgers als Grundpfeiler des bürgerlich demokratischen Staates. Es brachte die Erhöhung der bereits 1838 eingeführten Schulpflicht von sechs auf acht Jahre und die Abschaffung des Schulgeldes. Bildung war eine zentrale Aufgabe des Staates geworden. Dies unterstrichen die zahlreichen Schulneubauten. Zwar waren sie auch wegen der stark wachsenden Schülerzahlen unumgänglich, aber die Gestaltung der architektonisch repräsentativen und mit allem Komfort (Elektrizität, Wasser, Zentralheizung) ausgestatteten Schulhäuser verweist auf ihren tieferen Zweck: Sie sollten als »Paläste« der Bildung das neue Bildungsideal, aber auch den Anspruch des freisinnigen Staates an seine Bürger geradezu symbolisch verkörpern. (Berner Hans u.a., 2008, S 185) 27 Basels internationale kulturelle Bedeutung im 19. Jhdt. wird durch eine grosse Anzahl illustrer Namen und entscheidender historischer Anlässe belegt. 28. Jacob Burckhardt 18181897 lehrte an der Universität Basel Geschichte und Kunstgeschichte. Hauptwerk: Die Cultur der Renaissance in Italien, 1860 26. Rechts: Blick auf das Basler Ratshaus nach dem Ausbau 1903. Abb.Staatsarchiv Basel-Stadt Bedeutsam für Basels Entwicklung im 19. Jahrhundert war auch die ausgeprägte Ausformung bürgerlicher Kultur. Bildungsvereine spielten eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben. Zu nennen ist beispielsweise die bis heute existierende Lesegesellschaft am Münsterplatz.Träger des gesellschaftlichen Musiklebens waren die privaten Musik- und Gesangvereine. 1876 entstand die Allgemeine Musikgesellschaft, welche das Orchester trug. 1867 richtet die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige die Musikschule ein, die man um 1905 um ein Konservatorium ergänzte. 1849 wurde das Museum an der Augustinergasse eröffnet. Mit dem Historischen Museum wurde 1894 in der renovierten Barfüsserkirche ein zweites öffentliches Museum eröffnet. (Berner Hans u.a., 2008, S.203-205) 29. Theodor Herzl, 1860-1904 Begründer des Zionismus. 27. Oben: Das 1904 erbaute deWette Schulhaus, in dem Schär als Handelslehrer unterrichtete und das später Sitz des MNG wurde. Vom 29. bis 31. August 1897 tagte im Basler Stadtcasino der erste Zionistenkongress. In seiner Eröffnungsrede skizzierte Theodor Herzl das Ziel der zionistischen Bewegung: »Wir wollen den Grundstein legen zu dem Haus, das dereinst die jüdische Nation beherbergen wird.« Damit hatte die zionistische Bewegung erstmals ein weltweites Echo erreicht.(Berner Hans u.a., 2008, S. 190-191) 28 Professor Johann Friedrich Schär als Lehrer der Handelsfächer an der Oberen Realschule zu Basel von 1882 bis 1903. Schärs Programm: In seinem Unterricht in der I., II. & III. Handelsklasse behandelteSchär nachstehende Stoffgebiete: A. Kaufmännisches Rechnen. B. Buchhaltung und Kontorarbeiten C. Handelslehre. J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 1882 - 1903 Aus J.F.Schär, 1924, S.12/13: Ein neues Leben mit ganz neuen Lebensaufgaben begann, als ich 1882 als Lehrer der Handelswissenschaften an die neu gegründete Handelsabteilung der Oberen Realschule in Basel berufen wurde. Hier kam ich erst in das richtige Fahrwasser, indem ich den Doppelstrom meiner Berufsbildung, den pädagogischen und kaufmännischen, in einen einzigen zusammenfassen konnte. Im Frühling dieses Jahres, als sechsunddreissigjähriger Mann, siedelte ich mit meiner achtköpfigen Familie nach Basel über und warf mich mit aller Kraft und Begeisterung auf die neuen Fächer, in denen ich die vierzehn bis siebzehn Jahre alten Schüler zu unterrichten hatte. Nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben, aus der Praxis des kaufmännischen Betriebes wollte ich meine Weisheit schöpfen, um auch die Schüler zu gründlich vorgebildeten, anpassungsfähigen und praktisch tüchtigen Jüngern Merkurs heranzubilden. Zu diesem Zwecke und in dieser Absicht setzte ich mich in Verbindung mit den gut geleiteten kaufmännischen Betrieben der Stadt Basel, um von ihnen zu lernen und meine Kenntnisse des praktischen Geschäftslebens zu bereichern. Aus Robert Flatt, 1916, T4: Der Unterricht von J. F. Schär war getragen von einem väterlichen Wohlwollen gegenüber seinen Schülern & fruchtbar gestaltet durch Klarheit der Darbietungen durch Anlehnung an konkrete Beispiele aus dem praktischen Leben. Im Verkehr mit den Schülern kam nicht nur sein pädagogisches Geschick & seine Theorie & Praxis gut verbindende klare Einsicht, sondern auch seine ideale Gesinnung & sein reiches Gemüt zur Geltung, so dass er seinen Schülern auch nach der Seite der Charakter- & Gemütsbildung & der idealen Lebensauffassung ein wertvolles Stück Erziehung auf den Lebensweg mitgegeben hat. (Robert Flatt war damals Rektor der ‘Oberen Realschule’ in Basel und einer der ersten Verfechter reformpädagogischer Grundsätze in den Schweizer Schulen). 30. Der Eingang zum deWette Schulhaus, in dem die Obere Realschule (jetzt “Mathematisch-naturwiss. Gymnasium” genannt) untergebracht war. Schär hat vom Schuljahr 1882/83 bis zum Ende des Schuljahres 1902/03 in der dreiklassigen Handelsabteilung der Oberen Realschule zu Basel eine äusserst fruchtbare Lehrtätigkeit entfaltet & während dieser 21-jährigen Wirksamkeit auch wertvolle Lehr- & Übungsbücher für den handelswissenschaftlichen Unterricht geschaffen. (Flatt, T4) 31. Johann Friedrich Schär um 1882 29 J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 30 1882 - 1903 31 34. 35. 36. 37. 32. Ansicht der Bachlettenstrasse um 1930 33. Haus Bachlettenstrasse 60 J.F.Schär, 1924a, S.44: Am 6. Januar 1888 starb meine liebe Frau nach kurzer Krankheit an der Lungenentzündung. Nach fast vierjährigem Witwerstand verheiratete ich mich mit Frau Witwe Olga Matile, geb. von Seeger, deren zwei Töchter und ein Sohn aus erster Ehe ich auch erziehen musste. Bis 1890 wohnte ich zu Miete in einem drei Zimmerlogis. Die Wohnstube war auch mein Studierzimmer. Die grösseren Kinder schliefen in den Mansarden. 1890 bezog ich ein eigenes Haus, Bachlettenstrasse 60, wo ich ein eigenes Studierzimmer hatte. (Siehe dazu auch T9). Besitzer des Hauses Bachlettenstrasse 60: 1890 J. F. Schär-Werren, 1891-1903 J. F. Schär-Seeger, 1903 Dr. jur. Oskar Schär, ab 1959 Heidy und Louis Lambelet-Bocola Rechte Seite: die vier Söhne Johann Friedrich Schärs: 34. Arnold Schär (oben links), der dritte Sohn von JFS, war der Abenteurer der Familie. Ende des 19. Jhdts nach Amerika ausgewandert, übte er alle möglichen Berufe aus. Von New York bis zum „Wilden Westen“. Er fuhr als Tramper, wie die Figuren von Jack Londons „Abenteuer auf dem Schienenstrang“, auf Zügen am Chasis der Wagen. Später hatte er eine eigene Farm, auf der er wilde Pferde zähmte, die er mit dem Lasso fing. Einmal zähmte er mit Erfolg einen wilden Hengst, an den sich niemand gewagt hatte. Ein Indianerhäuptling, der dies mit angesehen hatte, war so beeindruckt, dass er ihm den Namen „Weisser Adler“ verlieh und ihm seine Tochter als Frau anbot, was Arnold schliesslich ausschlug, da er in der Schweiz schon verheiratet war. 35. Oskar Schär Der zweite Sohn, dem das nächste Kapitel unserer Darstellung gewidmet ist. 36. Fritz Schär Der älteste Sohn Johann Friedrichs war Orthopäde. 37. Erwin Schär Der jüngste Sohn Johann Friedrichs war Buchhalter. Er übernahm das von Rudolf, dann von Arnold geerbten Käsereiunternehmen, die er in den Bankrott führte. 32 Zum Stand der Genossenschaftsbewegung, die Schär in Basel vorfand Rückvergütung und Konsumgeld. Das System der im Voraus bezahlten Beträge war für die Konsumvereine eine willkommene zinsfreie Vorfinanzierung. Gleichzeitig sorgte man dafür, dass die Einkäufe der Mitglieder nicht andernorts stattfanden, eine ideale Kundenbindung. Gleichzeitig war das System auch für die Mitglieder von Vorteil. Es konnte ein gewisser Sparbatzen erwirtschaftet werden, und die Hausfrau wusste jeweils genau, wie viel Geld ihr für eine bestimmte Zeitspanne zur Verfügung stand, denn das bereits investierte Haushaltgeld konnte vom Partner nicht andernorts, sprich etwa in einer Kneipe, verbraucht werden. (Kunzmann, 2005, S.13)) 38. Konsumgeld des Allgemeinen Consumvereins beider Basel. Durchmesser 25 mm. (Kunzmann, 2005, S.46,52,57) J.F.Schär als Genossenschafter Auszüge aus Kunzmann, 2005: Die 1848 erfolgte Gründung der modernen Schweizerischen Eidgenossenschaft und die in der Verfassung verankerte Vereinheitlichung des Geldes, waren gute Voraussetzungen für ein organisiertes Verbraucher-, bzw. Konsumenteninteresse in der Schweiz. In den folgenden Jahren entstanden im ganzen Land viele erste Konsumvereinigungen, welche jedoch teilweise nur für kurze Zeit existierten. Der 1864 gegründete Fabrikarbeiterverein Schwanden übernahm als erster Konsumverein der Schweiz die Satzungen der englischen “Redlichen Pioniere von Rochdale” und damit auch das System der Rückvergütung aus den Erträgen, entsprechend den getätigten Besorgungen. Diese Jahreseinkäufe wurden, gemäß dem englischen Vorbild, mittels Blechmarken abgerechnet. Diese “Dividende”, welche für viele Familien, insbesondere für die Hausfrau, ein willkommenes Sackgeld bedeutete, bewährte sich derart, dass in kurzer Folge die meisten Konsumvereine unseres Landes ebenfalls die Rückvergütung einführten. Auch die Satzungen des VSK (Verband Schweizerischer Konsumvereine) übernahm später dieses wichtige Gedankengut. Welche Beträge die einzelnen Konsumvereine zurückgaben, hing nur vom Erfolg ihrer Tätigkeit ab und konnte auch von Jahr zu Jahr stark variieren. So zahlte 1894 die Société de Consommation von Fleurier ganze 15%, der Lebensmittelverein Zürich “nur” 5% Rückvergütung. Seite 12 Der 1865 gegründete Allgemeine Consumverein Basel (A.C.V.) scheint einer der Ersten gewesen zu sein, welcher seinen Mitgliedern Marken in der Höhe des zuvor bezahlten Betrags aushändigte, mit welchen diese im konsumeigenen Laden oder bei unter Vertrag stehenden Lieferanten die Waren beziehen konnten. Diese ersten Marken waren vermutlich aus bedrucktem, unterschiedlich gefärbten Papier oder Karton. Bereits 1880 führte der A.C.V. Basel einheitliche und auf Centimes und Franken lautende Marken aus Messing und aus Kupfer ein, welche sich für viele Jahrzehnte bewähren sollten. Zusehends wurde diese besondere Geldform durch Registrierkassen verdrängt, die nun gleichzeitig Klebemarken aus Papier auswarfen, welche die Mitglieder in ein Markenbüchlein einklebten. Mit der Abschaffung der einzuklebenden Rabattmarken im Jahr 1974 wurde auch das System der Rückvergütung nach über 130 Jahren aufgegeben und durch Nettopreise in den Läden ersetzt. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch viele andere Branchen, also Konkurrenten der Konsumvereine, ebenfalls Wertmarken ausgegeben haben, oft verbunden mit dem Gedanken, dass damit eine ähnliche Kundenbindung, wie es ja bei den Konsumvereinen der Fall war, entstehen würde. Überhaupt können die Jahrzehnte zwischen 1880 und etwa 1950 als eine Zeit der Jetons und Marken bezeichnet werden. (Kunzmann, 2005, S. 12-14) 1882 - 1903 33 39. Das erste Verkaufslokal des ACV (Allgemeiner Consum Verein) am Spalenberg 16 in Basel Etwa zwei Monate nach der Gründungsversammlung des Allgemeinen Konsumvereins in Basel, am 9. September 1865, wurde das erste Verkaufslokal am Spalenberg 16 mit einem Betriebskapital von 1090 Franken eröffnet. Neben Spezereiwaren wurden auch Brot und Wein angeboten. Bereits kurz darauf sollen erste papierene/kartonierte Marken für den Verkauf von Fleisch (gelbe Farbe) und Brot (weisse Farbe) angewendet worden sein. Weitere solche Marken gab es offenbar auch für den Bezug von Holz und Bier. Übrigens erzielte der A.C.V. Basel während vielen Jahren zwei Drittel seines Umsatzes durch den Verkauf von Brot und Mehl. (Handschin, 1954) 40. Hans Handschin, Der Verband Schweizerischer Konsumvereine, 1954 Eine gut dokumentierte Darstellung der Entwicklung des VSK bis 1953 J.F.Schär als Genossenschafter 34 1882 - 1903 35 41. Dreizehn der ursprünglichen Mitglieder der «Rochdale Equitable Pioneers Society», 1865 (The Rochdale Pioneers Museum), Die Satzungen und das Rückvergütungssystem der Rochdaler Pioniere: Als bedeutendste Errungenschaft in der Entwicklung des Konsumwesens der Schweiz gilt die Einführung vieler Satzungen und eines Rückvergütungssystems, welche die für den europäischen Raum Beispiel gebende, 1844 gegründete, Konsumgenossenschaft moderner Prägung, die englische Vereinigung der “Rochdale Society of Equitabie Pioneers” (Rochdaler Genossenschaft der redlichen Pioniere) als Leitgedanken formuliert hatte. Es waren dies: - Jedes Mitglied hat nur eine Stimme, unabhängig von der Höhe der Einzahlung; - Jedermann hat Zutritt zu der Genossenschaft. - Der Verkauf der Waren erfolgt nur gegen Barzahlung. - Es werden nur unverfälschte Waren in vollem Gewicht geliefert. - Die Genossenschaft ist politisch und konfessionell neutral. Mann und Frau sind gleichberechtigt und - Je mehr ein Mitglied bei der Genossenschaft kauft, desto grösser soll seine Beteiligung am Überschuss in Form einer Rückvergütung sein. (Kunzmann, 2005, S.11) “Als die Rochdaler Pioniere ihre glückliche Methode, den Gewinn im Verhältnis des Einkaufs zu verteilen, einführten, setzten sie ein Prinzip, welches die Kraft und den Wert eines sozialen Gesetzes in sich schliesst.” (Thomas Twedell, Leeds Co-operative Record 1908, Nr. 8, p. 134). “Dieses neue Prinzip der Gewinnbeteiligung im Verhältnis des Einkaufes gab den Genossenschafts-Riesen die Kraft, sich fremder Leitseile zu entledigen und allein zu gehen. Es hat Leben und Stärke in das gebracht, was sonst eine träge und leblose Masse geblieben wäre.” (“What is Co-operati on”, The Co-operative News 1871, Nr 7, p. 67 ) “The greatest idea in modern English life.” (Charles Edward Russel, The Uprising of the Many - Der Aufstieg der Masse). J.F.Schär als Genossenschafter 36 1882 - 1903 37 Aus Schär,1920, S 12/13: Von meinem unvergesslichen Freund Christian Gass, den ich heute noch als den geistigen Vater des A.C.V. (Allgemeiner Consum Verein) verehre, der tatkräftig alle seine freie Zeit in den Dienst der Genossenschaft gestellt hat, wurde ich in die Verwaltung eingeführt, indem mich 1884 die Generalversammlung zu ihrem Sekretär wählte. Von dieser Zeit an war ich unzertrennlich mit dem A.C.V. verwachsen; das Wohl und Wehe desselben empfand ich als mein eigenes. Nach und nach rückte ich zum Präsidenten der Generalversammlung, von diesem zum Verwaltungsrat und schliesslich zum Präsidenten des Verbandes Schweiz. Konsumvereine auf. Aus Handschin, 1954, S.38-40: Als im Februar 1886 der ACV Basel, der schon seit Jahren unter allen schweizerischen Konsumvereinen das grösste Ansehen genoss, von den Basler Spezierern heftig angegriffen wurde, benutzte Edmond Pictet den Anlass, um dem ACV seine Lieblingsidee der Schaffung eines engeren Zusammenschlusses der schweizerischen Konsumvereine vorzutragen und ihn darum zu ersuchen, als repräsentativster von allen, die Initiative zur Verwirklichung seines Gedankens zu ergreifen: «Was den Konsumvereinen der Schweiz fehlt,» schrieb er an den Verwaltungsrat des ACV, « ist ein Band zwischen ihnen, ein Verband, der sie zusammenfasst ähnlich demjenigen, der in Grossbritannien besteht, und dem die grosse Mehrzahl aller dortigen Konsumvereine angeschlossen ist. » Am 12. März nahm der Verwaltungsrat des ACV vom Schreiben Pictets Kenntnis und beschloss, grundsätzlich auf den Vorschlag einzugehen und andere Konsumvereine zu Besprechungen einzuladen. Der vorberatenden Versammlung vom 11.Januar 1890 in Olten wohnten 16 Delegierte bei. Ihre Arbeit beschränkte sich auf die Behandlung des Statutenentwurfes. Mit nur unbeträchtlichen Änderungen fand dieser die Zustimmung der Beteiligten. Obwohl das Interesse, das der Gründung eines Verbandes entgegengebracht wurde, nicht sonderlich gross war, erklärten wenigstens 10 Vereine ihren Beitritt. Der Allgemeine Consumverein in Basel wurde als Vorort bestimmt. Im übrigen enthalten die - sehr kurz gefassten - Statuten folgende wesentlichsten Bestimmungen über Zweck und Aufgaben des Verbandes: Die Pflege und Förderung der wirtschaftlichen Interessen der verbundenen Vereine, sowie den gegenseitigen Austausch von Erfahrungen; Sammlung und Zusammenstellung statistischer Erhebungen; Verbreitung wichtiger genossenschaftlicher Grundsätze; Belehrung über Alles was im Interesse des Verbands und der einzelnen Vereine liegt. 42. Edmond Pictet, Vizepräsident des Verbandsvorstandes des VSK 1890-1892. Edmond Pictet, der innerhalb des VSK von dessen Gründung bis zu seinem Tode eine hervorragende Stellung einnahm, entstammte einer alten Genfer Familie und hatte während eines sich über vierzehn Jahre erstreckenden Aufenthaltes in England nicht nur englische Verhältnisse im Allgemeinen, sondern auch das englische Genossenschaftswesen kennen und schätzen gelernt. Bald nach seiner Rückkehr in die Heimat wurde er an die Spitze der kurz zuvor gegründeten Société Coopérative Suisse de Consommation de Genève berufen. Mit sozusagen allen bekannteren Genossenschaften und Genossenschaftern der Schweiz und des Auslandes unterhielt er mehr oder weniger nahe Beziehungen. Am 22. Dezember 1883 unterbreitete er allen registrierten Schweizerischen Konsumvereinen sein grösstes Anliegen, die Gründung eines Verbandes. (Handschin, 1954, S.37). 43. Aufruf zum Genossenschaftskongress vom 19. Februar 1899. Noch am gleichen Tage versammelten sich auch die vom Verwaltungsrat des ACV Erkorenen zur ersten Sitzung des Verbandsvorstandes und wählten aus ihren Reihen als Präsidenten Cölestin Stadelmann, als Vizepräsidenten Johann Friedrich Schär und als Aktuar und Rechnungsführer Christian Gass. Am 18. Februar, da der Verbandsvorstand sein zweites Zirkularschreiben an die schweizerischen Konsumvereine ergehen liess, war die Zahl der Anmeldungen bereits auf 21 angestiegen. Damit hatte der Verband Schweizerischer Konsumvereine (VSK) nun feste Gestalt angenommen. (Handschin, 1954, S.49). 44. J.Fr.Schär, Genossenschaftliche Reden und Schriften, 1920, Band I der Reihe “Pioniere und Theoretiker des Genossenschaftswesens”, Verlag Verband Schweizerischer Konsumvereine. 45. Christian Gass, seit 1890 Mitglied und Aktuar, 1898-1907 Vizepräsident des des Verbands Schweizer Konsumvereine. 38 J.F.Schär als Genossenschafter Rechts: 46. Johann Friedrich Schär um 1905 Schaffung der Zentralstelle. An der Delegiertenversammlung vom 19. Juni 1892 in Bern teilte der Sohn Johann Friedrich Schärs, Dr. Oskar Schär, die Ergebnisse der von ihm verarbeiteten Statistik über die von den Verbandsvereinen verkauften Waren mit, die ganz merkliche Unterschiede in den Ankaufspreisen aufwiesen. Den einleitenden Ausführungen des Sohnes folgte ein einlässliches Referat des Vaters, Johann Friedrich Schär, das die Wünschbarkeit gemeinsamer Einkäufe betonte und die Errichtung einer Agentur als den einzigen dazu gangbaren Weg bezeichnete. Der Vorschlag Johann Friedrich Schärs wurde ohne gros ses Für und Wider mit allen 37 Stimmen der an der Delegiertenversammlung vertretenen 26 Vereine angenommen. Die Anhandnahme der Warenvermittlung erforderte zwangsläufig eine straffere Organisation, als sie der bisherige, sehr lose Verband gehabt hatte, und ebenso zwangsläufig auch die Eintragung ins Handelsregister. (Handschin, 1954, S.53-54) Seit 1884 entwickelte Schär eine überaus fruchtbringende Tätigkeit als Behördenmitglied des A.C.V. beider Basel, und 1890 war er Mitbegründer des V.S.K., seit 1892 Präsident desselben bis zum Jahre 1903, als Johann Friedrich Schär nach Zürich übersiedelte, um an der Universität Zürich sein Lehramt als Professor der Handelswissenschaften anzutreten. Schärs besondere Leistungen liegen in der führenden Mitarbeit bei der Gründung des Verbandes schweiz. Konsumvereine und dessen Leitung als Präsident von 1892-1903. Er gab dem Verband die erste grosse Note, den nationalen und den weltwirtschaftlichen Beruf, er gab ihm aber auch die rationalen Normen dieses Berufs, das rechnerische Richtmass des werdenden Grossbetriebes. Er führte die Bewegung aus der engen Sphäre der dürftigen Anfänge heraus und brachte sie über die kleinen Sorgen und Angelegenheiten hinweg in die Richtung der grossen Ziele. Sie nahm mit ihm gewissermassen den vorwärts- und aufwärtsdrängenden Lauf, den er in der Entwicklung seines eigenen Lebens beschrieb: aus der Dürftigkeit durch Auswirkung eigener Kraft zur Fülle, aus den Niederungen zur Höhe, aus der Enge zur Weite. Aus Faucherre “Schär als Genossenschafter”, T1. Rechts: 47. Dr. Rudolf Kündig, 1857 - 1923 Präsident des Verbandsvorstandes und der Verbandsdirektion 1882 - 1903 Die Schaffung von Normalstatuten. Kurz nach Annahme der Statuten von 1893 machte sich Schär ans Werk und arbeitete Normalstatuten und als Kommentar dazu «Thesen über die Bedeutung, Organisation und Gründung von Konsumvereinen» aus. Diese Thesen legen deutlich dafür Zeugnis ab, dass Schär die genossenschaftlichen Theoretiker, die damals stärker hervorzutreten begannen, gründlich studiert und sich zu eigen gemacht hatte. Mit Ausnahme der parteipolitischen und konfessionellen Neutralität enthalten seine Normalstatuten bereits alles, was heute der VSK von einem Konsumverein, der sich um die Mitgliedschaft bewirbt, verlangt. Von diesen Normalstatuten ausgehend, haben zuerst Johann Friedrich Schär, dann Dr. Hans Müller und schliesslich Johann Friedrich Schärs Sohn, Dr. Oskar Schär, die grosse Mehrheit der schweizerischen Konsumvereine, die sich dem VSK zuwandten, auf die in den 1890er Jahren anerkannten, einheitlichen genossenschaftlichen Grundsätze verpflichtet und damit erst eine schweizerische Konsumgenossenschaftsbewegung in des Wortes eigentlichem Sinne geschaffen. (Handschin, 1954, S.64) 48. Links: Dr. Henry Faucherre, Vizepräsident der Verbandskommission des VSK von 1939-1943. Faucherre verfasste zum 100. Geburtstag von Johann Friedrich Schär den Artikel Schär als Genossenschafter, T1 Demission Schärs. An der Sitzung des Verbandsvorstandes vom 21. Dezember 1902 erklärte Johann Friedrich Schär, dass er sich infolge von «Vorstellungen seitens der ihm vorgesetzten Schulbehörde » veranlasst sehe, auf die nächste Delegiertenversammlung seinen Rücktritt zu erklären. Damit schied, wenn er dessen Entwicklung auch bis zu seinem Tod im Jahre 1924 mit grossem Interesse weiter verfolgte, aus der aktiven Betätigung innerhalb des VSK der Mann aus, der auf diesen in seinen ersten 12 Jahren unbedingt den entscheidensten Einfluss ausgeübt hatte. Da der Entschluss nicht rückgängig zu machen war und Gass eine Wahl aus Altersrücksichten ablehnte, ersetzte ihn die Delegiertenversammlung in Vevey vom 25./26.Juli 1903 als Präsidenten des Verbandsvorstandes und der Verbandsdirektion durch Dr. Rudolf Kündig. (Handschin, 1954, S.99) Der Verbandsvorstand beschloss in seiner Sitzung vom 6. März 1909, Dr. Oskar Schär an die Stelle eines dritten Verbandssekretärs zu wählen. (Handschin, 1954, S.101) 39 Die Bedeutung der Zentralstelle: 1903 umschrieb J.F. Schär die Bedeutung der Zentralstelle: «Der Ausbau der Zentralstelle des Konsumverbandes ist der allerwichtigste und bedeutendste Fortschritt, den die Konsumvereine der Schweiz seit ihrem Bestehen erreicht haben. Ich betrachte daher das Jahr 1890, das Gründungsjahr des Verbandes, dann aber namentlich 1892, das Eröffnungsjahr der Zentralstelle, als den Wendepunkt in der Entwicklung der schweizerischen Konsumgenossenschaften.“ (Handschin, 1954, S.23) 49. Georg Meyrin, der erste hauptamtliche Funktionär des VSK überhaupt. Am 1. September 1892 wählte der Verbandsvorstand als Verwalter der Zentralstelle Georg Meyrin. Wie bescheiden der Anfang war, erhellt daraus, dass sich Meyrin zunächst seinem neuen Amte nur etwa halbtagsweise widmete und daneben noch Käsehändler und Buchhalter des Basler Pferdetrams war. (Handschin, 1954 ) 40 J.F.Schär als Genossenschafter 1882 - 1903 50. Die Familie Schär-Werren um 1903 41 Von links nach rechts, hinten: Die Brüder Rudolf und Johann Friedrich, dessen Söhne Fritz, Arnold, Oskar und Erwin. Vorne: Die Ehefrauen von Oskar, Fritz, Rudolf und Arnold Schär, sowie Schärs Tochter Alwina J.F. Schär als Sozialreformer 42 51. Oben links und rechts: Zeitungsanzeige und Verwaltungsgebäude der Basler Kantonalbank an der Schifflände in Basel. Um 1902. (Heute Hotel Drei Könige). Aus J.F.Schär, 1922: Die Bank wurde am 1. Oktober 1899 eröffnet: ich amtete im Bankausschuss bis 1901; durch Los musste ich nach dem Gesetz austreten. Im Auftrag des Bankrates fiel mir die Revision der Jahresrechnung und die Kontrolle der Buchhaltung zu, welche Funktion ich bis 1903, meinem Wegzug von Basel, verrichtete. Heute können wir auf eine zwanzigjährige Entwicklung der Basler Kantonalbank zurückblicken. Sicher hat sie der Gesamtheit der Basler Bevölkerung, der Volkswohlfahrt grosse Dienste geleistet. Aber mit Bezug auf die FreilandIdeale hat sie den Erwartungen der Gründer nicht entsprochen. Die Revision des Bankgesetzes von 1920, wonach die Hälfte des reinen Betriebsüberschusses als Beitrag an den Staatshaushalt abgeführt werden soll, verstösst gegen die Prinzipien, die nach hartem Kampf bei der Gründung aufgestellt wurden: Die Kantonalbank wurde nach den Grundsätzen der geschäftlichen Selbsterhaltung betrieben; sie beabsichtigt keinen Gewinn. Nun hat man die Bank zur Milchkuh des Staates erniedrigt und dadurch die Funktion als Organ des Staates zur Förderung der Volkswohlfahrt nach § 11 der Staatsverfassung, wenn nicht gänzlich unterbunden, so doch Beteiligung von Johann Friedrich Schär an der kantonalen und eidgenössischen Politik: wesentlich beeinträchtigt. Schär, J.F., 1922, S.36-37. 1896-1903 Wiedergewähltes Mitglied des Grossen Rates. Präsident des Freisinnigen Grossratsvereins (1901-1903). Wiederaufnahme des Kampfes für die Kantonalbank und endlicher Sieg (1899). 1891-1893 Mitglied des Grossen Rates als Angehöriger der Freisinnigen Partei, gewählt vom Steinenquartier. Verteidigung der Freilandpostulate: Kantonalbank, Vermehrung des staatlichen Grundbesitz, Wertzuwachssteuer, Erbauung von Wohnhäusern durch den Staat etc. Kandidat als Mitglied des Regierungsrates. Durchfall bei den Wahlen im Frühling 1893. 1901 Denkschrift an den Grütliverein: Begründung meines Austrittes wegen dessen Uebertritt zur Sozialdemokratie. 1882 - 1903 Johann Friedrich Schär als Sozialreformer - Auszüge aus dem Nachruf seines Sohnes Oskar Schär: Schär war neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Kaufmann einer der ersten Sozialreformer und trat für wirtschaftliche Reformen ein zu einer Zeit, als das Manchestertum und der Erwerbskapitalismus das Feld noch weithin beherrschten und ein Angriff auf deren Grundlagen starke Opposition und persönliche Gegnerschaft aus einflussreichen Kreisen hervorrief, denen J. Fr. Schär sich aber mutig aussetzte. Er hatte in den ersten Jahren seiner Basler Wirksamkeit auch das Studium der damaligen grundlegenden nationalökonomischen Literatur aufgenommen. Am meisten beeinflusste ihn Henry George‘s Arbeit „Fortschritt und Armut“, das ihn zu einem begeisterten Anhänger der Bodenreform oder besser ausgedrückt der Bodenrechtsreform machte. Aus seiner Basler Tätigkeit ist hier neben seinem Wirken für die Konsumgenossenschaft die Gründung der Gesellschaft „Freiland“ zu erwähnen, in welcher er die Freunde der Bodenrechtsreform aus Basel und der ganzen Schweiz zusammenführte und eine rege Tätigkeit entfaltete. Theoretisch waren die Postulate der „Freiland“-Bewegung durchaus begrüssenswert, doch eine völlige Ueberführung der Grundrente in das Gemeineigentum, welche die „Freiland“Bewegung postulierte, erwies sich als nicht realisierbar; sie stiess auch auf den Widerstand gerade derjenigen Kreise, der armen Landwirte, die man durch eine Verstaatlichung der Grundrente von immer drückender werdenden Hypothekarzinsen und vor weiterer Bodenverschuldung bewahren wollte. Neben den Endzielen der Bodenreform vertrat J. Fr. Schär eine grosse Zahl von leichter durchzuführenden Postulaten und warb durch Zeitungsartikel, Broschüren, Vorträge und Anträge in den Behörden für deren Verwirklichung. Sie lauteten unter anderem: Vermehrung des öffentlichen Grundbesitzes, Bau von Arbeiterwohnungen durch den Staat und Verstaatlichung der Wasserkräfte. Schär ergriff auch die Initiative zur Gründung der Basler Kantonalbank. Auch hier waren viele Widerstände zu überwinden. Während der Periode von 1893 bis 1896, da Schär dem Grossen Rate nicht mehr angehörte, blieb seine Motion in den Schubladen des Regierungsrates liegen. Die Vorberatungen wurden erst mit dem Wiedereintritt Schärs in den Grossen Rat aufgenommen und unter seiner tatkräftigen Mitwirkung zu Ende geführt. Heute ist die Basler Kantonalbank eine der jüngsten unter den 27 Kantonalbanken - eine der stärksten im Kranze der Schweizer Kantonalbanken. Eine ganz wichtige Angelegenheit, die ebenfalls von der „Freiland“-Bewegung in die Hand genommen wurde, war die Frage der Verwertung der schweizerischen Wasserkräfte. 1891 veröffentlichte Schär einen packenden Aufruf an das Schweizervolk, in dem er auf die Gefahren einer privatkapitalistischen und zugleich unsystematischen Ausbeutung der Wasserkräfte hinwies. Kurz darauf reichte die Gesellschaft „Freiland“ eine ausführlich motivierte Petition an die Bundesversammlung ein. Die Eingabe wurde zwar abgelehnt, blieb dann doch nicht ganz erfolglos. Die meisten Kantone errichteten eigene Wasserkraftwerke oder stellten schützende Bestimmungen auf, so dass heute in der Schweiz die gemeinwirtschaftliche Ausbeutung der Wasserkräfte überwiegt. O.Schär, 1945. Siehe Transkription des gesamten Textes: T 2 43 52. Titelseite Die Bank im Dienste des Kaufmanns, von J.F.Schär, 1922 52a. Titelseite Maier-Rothschild, Handbuch der gesamten Handelswissenschaften, Hrsg. J.F.Schär, 154. Tausend, 1919. 44 J.F. Schär als Professor an der Universität Zürich 1903 - 1906 45 Die grössten Erfolge waren Schär auf wissenschaftlichem Gebiet vorbehalten. Im Jahre 1903 berief ihn die Universität Zürich als ordentlichen Professor auf den neu errichteten Lehrstuhl für Handelswissenschaften. Sie promovierte ihn auch zum Dr. jur. h.c. für seine Verdienste und die Förderung der Handelswissenschaften und die Entwicklung des Konsumvereinswesens. Trotzdem folgte Schär im Jahre 1906 einem verlockenden Rufe als Professor an die Handelshochschule in Berlin, wo ihm neben handelswissenschaftlichen Vorlesungen besonders die methodische Ausbildung der Handelslehrer obliegt. (Aus dem Artikel «Zum 70. Geburtstag von Johann Friedrich Schär», Autor unbekannt). 53. Johann Friedrich Schär Berufliches Pflichtpensum von J.F.Schär als ordentlicher Professor der Handelswissenschaften an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität in Zürich 1903-1906: Verpflichtung zu 10-12 wöchentlichen Stunden Vorlesung und Seminarien über sämtliche Gebiete der Handelswissenschaft. J.F.Schär, 1924a, S.45: Meine Nebenbeschäftigungen trugen mir herzlich wenig ein. Ein kleines Absatzhonorar für meine fachwissenschaftlichen Werke, für meine Gutachten und Privatstunden, im ferneren ein ganz bescheidenes Sitzungsgeld für meine Mitarbeit in der Verwaltung der Genossenschaften und der Aktiengesellschaften, machten auf die Basler Jahre verteilt an Durchschnitt per Jahr kaum Fr. 500.- aus. Alles andere, auch die Zeitungsartikel, brachten mir nichts ein als Kampf, Verkennung, Feindschaft, sogar Verleumdung. Wie wenig die Oeffentlichkeit an eine selbstlose, uneigennützige Hingabe für das Volkswohl gewöhnt ist, dafür einige Beispiele. Im Kampf um die Kantonalbank unterstellte mir Burckhardt-Bischoff im Grossen Rat, ich strebe nach der Bankdirektorstelle und warnte den Grossen Rat vor mir, als einer, der aus den Basler Finanzen ein zweites Panama machen könnte. Bei meiner Propaganda für die Verstaatlichung der Wasserkräfte betitelte die Allgemeine Schweizerzeitung mich als «Eidgenössischer Wasserkraftdirektor in spe». Auch meine Bemühungen um die Handelshochschule wurden offen in Wort und Schrift bekämpft als dem persönlichen Strebertum des Agitatoren Schär, der Direktor dieser Anstalt werden möchte, entsprungen. So war alles, was ich mit Feuereifer anstrebte, Kantonalbank, Freiland, Verstaatlichung der Wasserkräfte, der Eisenbahnen, die Grundrente, insbesondere auch meine exponierte Betätigung im Konsumverein, im Verband schweiz. Konsumvereine usw. der Anlass der Gegnerschaft seitens aller derjenigen, die dadurch in ihren Privatinteressen geschädigt wurden oder die sich den angestrebten Sozialreformen widersetzten. 54. Zürich, die Gemüsebrücke um 1900 Aus dem Bildband Zürich um 1900 Kein Wunder, dass der Erziehungsdirektor, Dr. Burckhardt, 1902 eine Erhebung über meine Nebenbeschäftigungen machte und mich 1903 nötigen wollte, als Präsident des Verbandes schweiz. Konsumvereine zu demissionieren und auch im A.C.V. nicht mehr zu arbeiten. Ich versprach, dem Begehren zu entsprechen. Da kam für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Berufung an die Universität in Zürich. (J.F.Schär, 1924a, S.45) 55. Das Verzeichnis sämtlicher in Buchform erschienenen Werke von Dr. Joh. Friedrich, Schär (Schär, 1924a) Das vollständige Verzeichnis seiner Publikationen findet sich im Anhang (Bibliographie). 46 56. Schär, Johann Friedrich, 1911: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Berlin 1911, Neuauflage 1981, Nikon Shoseki Ltd. 57. J.F.Schär, Der Soziale Handel, Berlin 1919. Eine Ansprache, in der Schär zur Feier des Geburtstages des Deutschen Kaisers 1916, in der Aula der Handelshoschule Berlin, seine Theorie umriss. J.F. Schär als Wissenschafter 1903 - 1919 Th. Brogle: Namentlich aber bleibt der Name Schär für immer verbunden mit der Entwicklung der Beriebswirtschaftslehre, die sich innerhalb vierzig Jahren aus einem rein technischen Fache zu einer nach systematischer Vollkommenheit strebenden Hochschuldisziplin entwickelt hat. Die Schriften Schärs wirkten bahnbrechend, zumal sie aus der Feder des gereiften Mannes flossen, der eigentlich erst mit 60 Jahren - zuerst als Professor an der Universität Zürich, nachher an der Handelshochschule Berlin - seine wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit begann. In diesem Alter aber ist das Weltbild in fachwissenschaftlicher und weltanschaulicher Beziehung abgeschlossen, und die äusserst fruchtbare Forscherarbeit, die Schär während 12 Jahren in Berlin entfaltet, trägt überall das Gepräge des auch in wissenschaftlicher Hinsicht ausgereiften Mannes, der klärend und ordnend in die oft stürmischen fachwissenschaftlichen Debatten eingreift und der manch entscheidendes Wort namentlich in der brennend gewordenen Fage über den Wirtschaftscharakter der von ihm vertretenen jungen Disziplin zu sagen hat. (Th. Brogle, 1947, T3) J.F.Schär - Der soziale Handel: Unter sozialem Handel, dessen Begriff ich zuerst in die Literatur eingeführt habe, verstehe ich jede Art von Handelsgewerbe, Industrie, Geld- und Kreditverkehr inbegriffen, das lediglich im Interesse des Staats- oder Gemeindehaushaltes oder Konsumgenossenschaften betrieben wird. Auch der soziale Handel muss, wie der private Handel, von Kaufleuten geleitet werden; aber die ausführenden Kaufleute sind nicht Unternehmer, sondern Angestellte (Treuhänder) der Gesellschaft, des Staates, der Gemeinden oder der freien Genossenschaften ... Wie niemand an sich selbst verdienen oder gewinnen kann, so ist auch im sozialen Handel das Gewinnprinzip vollständig ausgeschaltet. Der Grundgedanke des sozialen Handels ist nicht, Reichtum zu Handen der Unternehmer oder Kapitalisten anzuhäufen, sondern Reichtum zu Handen der Gesamtheit zu erzeugen und die Wohlfahrt des Ganzen zu begründen und zu fördern. Ich habe eben den Handel von einer höheren Warte aus aufgefasst. Nicht nur muss der soziale Handel als ein notwendiges Glied in den Handelsbegriff einbezogen werden, sondern auch die Unternehmer des privaten Handels müssen sich bewusst werden, dass sie nur dann existenzberechtigt und existenzfähig sind, wenn sie sich als nützliches Glied dem Organismus der Volkswirtschaft ein- und unterordnen. Der echte Kaufmann muss ein Diener der Volkswirtschaft werden, dessen Gehalt in einer Tantieme des Nutzens besteht, den er leistet ... Unter der Herrschaft der Konkurrenz, der Grossbetriebe, unter dem Einfluss des sozialen Handels hat auch der private Handel der Neuzeit sich neu orientieren müssen, so dass für ihn die Definition gilt: der Handel ist der nach Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit organisierte Güteraustausch zwischen den Endgliedern der Wirtschaft. (J.F.Schär, 1920, S.18) J.F.Schär: Dass diese Aufgabe des Handels, insbesondere in dem Umfange der Versorgung der Massen mit den notwendigen Bedarfsgütern, vom sozialen Handel am besten gelöst wird, bedarf keines besonderen Beweises, da der soziale Handel nach dem Prinzip der Selbstkosten unter Ausschaltung des Unternehmergewinnes organisiert ist. (J.F.Schär, 1920, S.17) 58. Lithographie von C.Oslik, 1916 47 48 J.F. Schär als Wissenschafter 1903 - 1919 49 Kritische Einwände eines ehemaligen Schülers: Wenn ich - einst der begeisterte und immer dankbare Schüler Schärs - heute Schärs fachwissenschaftliche Leistung kritisch überprüfe, so vermag ich vieles von dem, was vor 20 Jahren noch mir unantastbares Lehrgut bedeutete, nicht mehr mit Ueberzeugung zu vertreten. Vor allem steht fest, dass den Betriebsgrundsätzen, die die Grundpfeiler seiner Theorie bilden, keine wissenschaftliche Objektivität zukommt. 59. J.F.Schär, Schematische Darstelluung seiner Theorie des „Sozialen Handels“. Datum unbekannt. Schär hat seine persönliche, ethisch fundierte Weltanschauung dazu benützt,ein Lehrsystem zu schaffen, in dem der Wirtschafter, vor allem der Kaufmann, als Idealbegriff figuriert und in dem ferner das wirtschaftliche Handeln nicht als ökonomische Erscheinung, sondern als kategorischer Imperativ der Pflicht, als neues Evangelium zur Erreichung des sozialen Ausgleichs seinen Platz erhält. Für eine wissenschaftliche, das heisst von allen praktischen Gesichtspunkten freie Darstellung, wie sie die moderne Betriebswirtschaftslehre sein will, aber verlieren Schärs Argumente an Bedeutung. 59a. Schär, Johann Friedrich, 1922: Buchhaltung und Bilanz. Neuauflage 1995, Edition “Classic”, VDM Verlag Dr.Müller 60. Prof. Dr. Th. Brogle, 1893-1959 Ein einstiger Schüler von J.F.Schär, war Brogle 19261931 Professor an der Handelshochschule St.Gallen, , 1947-51 Nationalrat, 1931-38 Rektor der Kantonalen Handelsschule Basel, 1951 Prof. für Betriebswirtschaftslehre an der Universitär Basel. Solche kritischen Einwände - sie liessen sich noch vermehren - aber vermögen nicht, Schärs Verdienste um die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre irgendwie herabzusetzen. Johann Friedrich Schär bleibt der Begründer der modernen Betriebswirtschaftslehre, weil er es als Erster unternommen hat, aus einem Konglomerat von überlieferten und übernommenen Wissenschaften und Techniken jenen gehaltvollen Rest herauszufinden und auszuscheiden, aus dem seine Nachfolger an den verschiedensten Hochschulen der Welt die Betriebswirtschaftslehre als selbständige Wissenschaft zu stabilisieren vermochten. (Prof. Dr. Th. Brogle, T3) 50 J.F. Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin 1906 - 1919 51 Professor der Handelswissenschaften an der Handelshochschule Berlin Ende Mai schlugen mir die Ältesten der Handelshochschule Berlin vor, auf ihre Kosten eine zweimonatige Studienreise durch Deutschland zu machen. Ich reiste acht Wochen durch Deutschland, besuchte alle grösseren Handelsstädte, kaufmännische, industrielle und Transportunternehmungen, um ihre Organisation, den kaufmännischen Betrieb und das Rechnungswesen kennen zu lernen und mir ein gutes Bild der Volks- und Privatwirtschaft Deutschlands zu verschaffen. Das war entschieden die beste Vorbereitung auf mein neues Lehramt. Ich vollzog meine Uebersiedlung nach Berlin Ende August 1906, wo ich eine Villa in Gross-Lichterfelde Ost bezog und Anfang September meine schriftstellerische Arbeit aufnahm. Schär, J.F., 1924, S.57 Abfassung und Drucklegung neuer Werke: Die Bank im Dienste des Kaufmanns. Verlag bei G.A. Gloeckner in Leipzig, 1908. Kalkulation & Statistik im genossenschaftlichen Grossbetrieb, Verband schweiz. Konsumvereine. 1910. Allgemeine Handelsbetriebslehre (verfasst auf Grund jahrzehntelanger Studien, Vorlesungen, Erfahrungen). Verlag G.A. Gloeckner, Leipzig 1911. 61. Handelshochschule Berlin 1906 (aus Deutsche Bauzeitung Nr. 86 vom 27.10.1906) 1904 beschloss die Berliner Kaufmannschaft, auf dem Grundstück zwischen Spandauer Straße, Neue Friedrichstraße (heute: Anna-Louisa-KarschStraße) und Heilig-Geist-Gasse ein Gebäude für eine neu zu gründende Handelshochschule zu errichten. Am 27. Oktober 1906 wurde die Berliner Handelshochschule feierlich eröff- net. Zu den Dozenten zählten renommierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wie Friedrich Leitner, Konrad Mellerowicz, Willi Prion, Johann Friedrich Schär und Werner Sombart. 52 J.F. Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin 1906 - 1919 62. Linke Seite: J.F.Schär mit den Kindern seiner zweiten Frau Olga und seinen Enkelinnen Lisy, Marty und Hanny. Das Schicksal hat mich in Berlin in härtester Weise heimgesucht. Am 21.Mai 1907, also weniger als ein Jahr nachdem ich nach Berlin kam, starb meine zweite Frau Olga plötzlich an einem Herzschlag. (Schär, J.F., 1924a, S.82) 1908 starb sein dritter Sohn Otto, 1909 sein vierter Sohn Arnold. 63. Rechts: Schärs Berliner Wohnsitz, die Villa Helvetia. Im Herbst 1909 erwarb ich die bisher gemietete Villa zu Eigentum und taufte sie „Helvetia“ zum Wahrzeichen für meine mich besuchenden Landsleute, dass dort ein echter Schweizer zum Willkomm bereit sei. (Schär, J.F., 1924a, S.83-84) 64. Rechts: Johann Frierich Schär, in Berlin-Lichterfelde, mit, von links nach rechts: Edith Stillmann, Privatsekretärin und zugleich Studentin von Johann Friedrich Schär, Hertha, Annabelle Krebs (ein Besuch aus Amerike) und Alwine. Aufnahme von Ingenieur Grab, bei der sich (nach handschriftlichen Angaben auf der Rückseite des Fotos) die abgelichteten Personen während 20 Minuten nicht bewegen durften. 53 54 J.F. Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin 1906 - 1919 55 J.F.Schär, 1924a - Tod des Sohnes Arnold, Schlaganfall, Tochter Alwine und Abschied von Berlin: Im Jahre 1909 war ich kaum aus den Herbstferien von der Schweiz nach Berlin heimgekehrt, so erreichte mich die Schreckensnachricht, dass mein vierter Sohn Arnold am Typhus erkrankt sei; er hatte bei seiner letzten Geschäftsreise nach Italien Austern gegessen, die, wie es sich herausstellte, typhusvergiftet waren. Am 13. Dezember reiste ich auf die schlimmsten Nachrichten mit meiner Tochter von Berlin nach Winterthur, und morgens um 6 Uhr, bei Nacht und Nebel, kam ich dort an. Welch trauriger Empfang; mein lieber Arnold war in der Nacht um 3 Uhr gestorben; ich traf den gesündesten, grössten und stärksten meiner Söhne, eine wahre Siegfriedgestalt, nur noch als Leiche an. Er hinterliess eine trauernde Witwe und zwei kleine Kinder, Knaben im vierten und zweiten Lebensjahr, und einen untröstlichen Vater, den der Seelenschmerz fast überwältigte. Zum Glück war meine einzige Tochter unverheiratet. Sie kam zu mir, gab ihren Beuf als Konzertsängerin auf, widmete sich mir und meinem Hauswesen, wurde mein Trost im Alter und eine richtige Studentenmutter, die als solche auch von meinen Schülern gefeiert war. Ich selbst versuchte es mit dem einzigen Heilmittel, das gegen derartige tiefe Seelenschmerzen Linderung und Heilung verschafft; ich stürzte mich in die Arbeit. Deswegen gehören auch die Jahre 1907-1911 zu den früchtereichsten meines Lebens. In den Sommerferien 1911 erlitt ich in Meiringen einen Schlaganfall, der mir die Sprache und die Fertigkeit im Rechnen raubte; ich musste daher ein halbes Semester meine Vorlesungen aussetzen, wurde aber mit der Zeit meiner Sprache wieder mächtig. Im Herbst 1909 erwarb ich die bisher gemietete Villa zu Eigentum und taufte sie «Helvetia» zum Wahrzeichen für meine mich besuchenden Landsleute, dass dort ein echter Schweizer zum Willkomm bereit sei. Im Sommersemester 1916 wurde ich einstimmig vom Kollegium zum «Rector magnificus» der Handelshochschule gewählt und von dem preussischen Ministerium bestätigt, trotzdem ich Ausländer war. Nachdem der Waffenstillstand beschlossen, der Friede in Sicht war und meine Kollegen, die im Heeresdienst waren, ihre während des Krieges unterbrochene Tätigkeit wieder aufnehmen konnten, gab ich im November 1918 auf Ende des Wintersemesters 1919 meine Demission ein und liess mich in den Ruhestand versetzen; ich stand damals im 73. Lebensjahr und hatte 54 Dienstjahre, 108 Semester hinter mir. Im Einverständnis mit meinen Angehörigen verkaufte ich meine Villa in Berlin und siedelte am 15. Februar nach Basel über. Der Abschied von Berlin war mir schwer; ich erhielt ungezählte Beweise der Dankbarkeit und der Anhänglichkeit seitens meiner Schüler, Kollegen und Freunde. Am 15. Februar reisten wir über München nach Basel. Schär, J.F., 1924a, S.82-84. 65. Linke Seite: Alwine Schär, die ledige, dauernd unglücklich verliebte Tochter von Johann Friedrich, war eine Sängerin klassischer Musik. Wenn sie als Gast im Hause unseres Grossvaters auftauchte, kam es immer zu heftigen Streitereien. Mit ihrem behand- schuhten Finger strich sie jeweils über die Möbel um zu prüfen, ob diese auch tadellos abgestaubt waren. Am Tisch las sie jeweils ihre Liebesbriefe vor, während die ganze Familie in ehrfürchtigem Schweigen zuhörte. (Aus „Le livre d’omi“ von Oscar Burlet). 66. Johann Friedrich Schär 66a. J.F.Schär mit Herthas Sohn 56 J.F.Schärs letzte Jahre in Basel Freidorf 1919 - 1924 57 Ehrungen: 1904, kaum ein Jahr nach der Aufnahme seiner Vorlesungen an der Universität Zürich, wurde Schär von der staatswissenschaftlichen Fakultät der Ehrendoktor verliehen mit folgender Begründung: «Wegen der hervorragenden Verdienste um die Förderung der Handels- wissenschaften und um die Entwicklung des Verbandes schweiz. Konsumvereine». Das Diplom datiert vom 28. Februar 1904 und ist unterschrieben vom Rektor Prof. Dr. Haab; Dekan Prof. Dr. Zürcher; Aktuar Dr. Max Huber. Für seine Verdienste um die Handelswissenschaften wurden Johann Friedrich Schär im Sommer 1923, viereinhalb Jahre nach seiner Rückkehr in die Schweiz, von der Wirtschaftlichen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln die Würde und die Rechte eines Doktors der Staatswissenschaften, Doktor rer. pol. honoris causa, verliehen mit folgender Würdigung, die wohl am prägnantesten Schärs Verdienste um die Handelswissenschaften hervorhebt: «... der die Handelswissenschaft zu neuem Leben erweckt und sie während eines halben Jahrhunderts in Lehre und Forschung erfolgreich ausgebaut, der der Handelshochschulpädagogik bedeutsame Anregungen gegeben, der in weitverbreiteten Lehrbüchern dem kaufmännischen Nachwuchs gründliches systematisches Fach- wissen vermittelt hat, der seinen Studierenden zugleich ein warmherziger Berater und väterlicher Freund war.» (Prof. Dr. Th. Brogle, T3) 67. Johann Friedrich Schär mit seiner Tochter Alwine in Berlin, um 1910 Übersiedlung nach Basel: Auf Ende Wintersemester 1919 habe ich die Brücken in Berlin abgebrochen, von der Handels-Hochschule und von meiner Lehrtätigkeit Abschied genommen und bin in meine Heimat zurückgekehrt. Meine Villa «Helvetia» in Berlin habe ich mit einem neuen Heim der Siedlungsgenossenschaft Freidorf bei Basel vertauscht. (Schär, J.F., 1924a, S. 84) 70. Modell des Standbildes von Johann Friedrich Schär, das sich laut National-Zeitung vom 5.6.1923 in der Handelshochschule in Berlin befinden sollte. 68. Das Haus in Basel/Freidorf, in dem Schär seine letzten Jahre verbrachte. 2009, Foto Mike Gosteli. 69. Zeichnung J.F.Schär bei der Arbeit, um 1922. Rückseitige Notiz von Alwine Schär: Kopfstudie von unserem lieben Vater Johann Friedrich Schär, gezeichnet bei einem Besuch in Freidorf, Basel, von meiner Freundin, der Künstlerin Charlotte Wallinek. J.F.Schärs letzte Jahre in Basel Freidorf 58 71. Die Ausgabe des Organs des VSK vom 23. März 1946 zum 100-jährigen Jubiläum von Johann Friedrich Schär. Die darin erschienenen Nachrufe von Dr. Henry Faucherre, Dr. Oskar Schär und Prof. Dr. Theo Brogle sind im Anhang unseres Bandes vollständig wiedergegeben. (T1-T3) 72. Rechte Seite: Das Familiengrab Schär im Friedhof Hörnli in Basel. 2009, Foto Mike Gosteli Johann Friedrich Schär verstarb am 25. Sept. 1924 in Freidorf 1919 - 1924 59 60 61 Familie Schär-Haller 73. Unsere Grosseltern Anna Haller und Oskar Schär Anna Haller, die zusammen mit ihren beiden Brüdern Otti und Ruedi in Genf aufwuchs, heiratete 1900 mit 18 Jahren den um 16 Jahre älteren Oskar Schär und zog zu ihm nach Basel. 62 Alt-Nationalrat Dr. Oskar Schärs Lebenswerk Aus dem Nachruf von Eugen Dietschi in der Basler National-Zeitung Nr. 216 vom Mittwoch, 14.Mai 1947, den wir auf den folgenden Seiten (bis zur Seite 80) vollständig wiedergeben. Siehe auch im Anhang die Transkription T5 Oskar Schär Strafrecht und politische Tätigkeit Mit eiserner Energie hat Dr. Oskar Schär, körperlich gebrochen, geistig aber frisch und beweglich, seit Monaten dem Tode getrotzt. Das schwere Leiden schwächte immer mehr die Kräfte des Neunundsiebzigjährigen, hinderte ihn aber nicht, bis in die letzten Tage wach und kritisch das öffentliche Geschehen zu verfolgen, immer wieder zur Feder zu greifen, um sich besonders mit Wirtschafts- und Finanzfragen konstruktiv auseinanderzusetzen. Noch vor wenigen Tagen nahm er in einem Artikel scharf pointiert zu den neuen Wirtschaftsartikeln Stellung und verlangte klärende Zusicherungen für die Genossenschaften; noch vor zwei Wochen sass er im Bankausschuss der Basler Kantonalbank, deren Entwicklung und Gedeihen ihm sehr am Herzen lag, nachdem er eben noch an der Neuredaktion des Bankgesetzes, das zur Zeit vor dem Grossen Rate liegt, entscheidenden Anteil genommen hatte. Eine bewundernswerte Vitalität zeichnete Oskar Schär aus, die aber schliesslich doch zur Kapitulation gezwungen wurde. Der Zerfall der körperlichen Kräfte des Schwerkranken machte in den letzten Tagen so rasche Fortschritte, dass seine Ueberführung in das Spital notwenig wurde, wo dieser unentwegte Kämpfer am Mittwochvormittag seine hellen Augen für immer schloss. Mit Dr. Oskar Schär verliert Basel eine starke und einmalige Persönlichkeit, die während Jahrzehnten nicht nur auf der politischen Bühne der Stadt und der Eidgenossenschaft eine hervorragende und führende Rolle spielte, sondern vor allem in der Wirtschaftspolitik neue Wege wies. Oskar Schär hat sich für die Erstarkung des Genossenschaftswesens und den Aufschwung des schweizerischen Konsumgenossenschaftswesens ein Leben lang kompromisslos eingesetzt und Pionierarbeit geleistet. Familientradition, persönliche Eigenart und politische Anschauung, verstärkt und geklärt durch ein aus der Rechtswissenschaft gezogenes scharfes und gradliniges Denken waren die inneren Grundlagen seines Wirkens. Seine Kraft kam aus dem Denken, aus der Ueberlegung, und sein Schaffen war konstruktiv, aufbauend und klärend. (Dietschi, 1947, T5) 74. Links: Der bereits schwer kranke Oskar Schär um 1946/47, kurz vor seinem Tod 75. Rechte Seite: Oskar Schär auf seinem Weg zur Arbeit. Er pflegte den Weg von der Bachlettenstrasse zum Verwaltungsgebäude des V.S.K. an der Thiersteinerallee immer zu Fuss zurückzulegen. 1868 - 1909 63 64 Oskar Schär als Genossenschafter und Politiker 1909-1945 76. Rechts: Das Diplom zum Doktorexamen von Oskar Schär 1909 wurde Oskar Schär vor die Alternative gestellt, seine Stellung weiter auszuüben oder aber sich aktiv im Genossenschaftswesen zu betätigen. Er resignierte als Strafgerichtspräsident und trat als Vizepräsident und Sekretär an die Spitze des V..S.K., an dessen Aufstieg zum genossenschaftlichen Grossbetrieb er mit aller Energie und seinen reichen Fähigkeiten mitarbeitete. Oskar Schär wurde am 7. Juni 1868 im bernischen Wattenwil geboren und ist, bis zur Gymnasialzeit in Biel, dort aufgewachsen. Nach Absolvierung der oberen Klassen des Basler Gymnasiums studierte Oskar Schär Jurisprudenz an der Basler und an deutschen Universitäten und war, seiner politischen Gesinnung entsprechend, ein prominentes Mitglied der Helvetia. Bald nach dem Doktorexamen und einem kurzen Volontariate im Bureau Dr. Paul Scherrers wurd er Staatsanwalt und am 25. November 1895 zum Strafgerichtspräsidenten gewählt, ein Amt, das er als tüchtiger Kriminalist und sozial gesinnter Richter beinahe anderthalb Jahrzehnte - bis Ende Mai 1909 - verwaltete. Er war nicht nur ein Mann der Aktivität, sondern auch ein Wächter. Ein Wächter über die Genossenschaftsidee an sich, die er bis in die letzten Konsequenzen vertrat, aber auch ein Wächter über die richtige Handhabung der aus der Genossenschaftsidee entwickelten Tathandlungen, herrührend aus einer festumrissenen liberalen Weltauffassung. Sein Tun war Geradheit und Konsequenz. Es verging keine Session der Bundesversammlung, ohne dass Oskar Schär dem Schreibenden in ausführlichen, hervorragend dokumentierten Briefen seine Stellungnahme zu aktuellen Wirtschafts- und Finanzfragen übermittelte. Immer wieder kam darin zum Ausdruck, dass er die Freiheit als der Güter höchstes betrachtete. Diese Hochschätzung der Freiheit befähigte ihn, in jeder Frage einen sichern Standpunkt zu finden. Mit Autorität trat er auch immer für die Wahrung der politischen Neutralität in der Konsumgenossenschaftsbewegung ein, in der er nicht eine Partei- oder Klassenbewegung, sondern eine Volksbewegung erblickte. Nach dem Rücktritt von Dr. Bernhard Jaeggi trat Dr. Oskar Schär als Präsident an die Spitze des V.S.K.. Bis Ende Juni 1939 hielt Oskar Schär das Steuer des V.S.K. mit Ueberzeugung und Geschick in festen Händen. Insbesondere auf dem Gebiete des Rechtswesens und der Gesetzgebung, soweit sie das Genossenschaftswesen berührten, hat er, durch seine ausgezeichneten juristischen Kenntnisse und seinen praktischen Sinn für die Erfordernisse der Zeit der schweizerischen Genossenschaftsbewegung grosse und unvergängliche Dienste geleistet. Dietschi, 1947, T5 Dietschi, 1947, T5 65 78. Eugen Dietschi-Amberg (1896-1986). Foto André Muelhaupt. Eugen Dietschi war 1921 und 1967 Redaktor der „NationalZeitung“, 1929-1968 Grossrat, 1941-1960 Nationalrat, 1960 Ständerat. 1954 - 1960 Präsident der Freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz. Weitere Präsidien: Basler Orchestergesellschaft, Schweizerischer Presseverein, Bankrat der Basler Kantonalbank. Er war Mitbegründer der Balair und gründete 1928 die Sektion Basel des Aero Club, die er bis 1942 präsidierte. Heidy: Dietschi war ein guter Freund unseres Grossvaters. Seine Frau, die wir Tante Gret nannten, war eine begabte Pianistin, eine herbe, aber humorvolle, kluge Frau, die sich mit Omi und unserer Mama gut verstand. 77. Porträt Oskar Schär, in jungen Jahren. Autor unbekannt. 79. Links: Die Verwaltungskommission des V.S.K. von 1930-1934. Von links nach rechts: Otto Zellweger, Maurice Maire, Dr. Bernhard Jaeggi, Präsident; Dr. Oskar Schär, Vizepräsident. 66 Oskar Schär als Genossenschafter und Politiker 1909-1945 Gleich seinem Vater trat Oskar Schär in die Freisinnige Partei, um hier eine ausgesprochene Linksrichtung zu verfechten. Die Kämpfe blieben nicht aus. Sie führten sogar zur vorübergehenden Trennung, indem Oskar Schär eine eigene Linkspartei, die demokratische, gründete, die aber im Jahre 1917 sich wieder mit der Freisinnigen zur Radikal-Demokratischen Partei zusammenschloss. Dem Grossen Rate gehörte Dr. Schär von 1905, mit Unterbruch einer Wahlperiode, bis im Frühjahr 1938 an. Er präsidierte den Rat 1935/36 und meisterte in zahlreichen Kommissionen ein gewaltiges Arbeitsmass. Während mehreren Jahren präsidierte er die Rechnungskommission; er arbeitete bestimmend am Zustandekommen des neuen Beamtengesetzes als Präsident der grossrätlichen Kommission; auch war er der Verfasser des Grossratsreglementes, das er, aus reicher parlamentarischer Erfahrung schöpfend, grosszügig und arbeitsrationell ausgestaltete. Schär marschierte auch in der vordersten Front bei der Einführung der durch die Radikalen lancierten Altersfürsorge. Von 1913 bis 1917 war er Mitglied der Justizkommission, gehörte von 1927 an während mehr als 20 Jahren als Richter dem Appellationsgericht an, widmete sich aber auch Erziehungsfragen, wo er als langjähriges Mitglied der Inspektion der Knabensekundarschule und später des Gymnasiums sowie als Mitglied des Erziehungsrates sich grosse Vedienste um die Förderung des Schulwesens erworben hatte. Er war auch Präsident der Kommission für das neue Schulgesetz. Von 1917 bis zum Herbst 1929 gehörte Oskar Schär dem Nationalrate an und hat seine in Basel bekannten und geschätzten Eigenschaften und sein umfassendes Wissen auch in der Bundesversammlung betätigt. Mit seinem Vater setzte sich Oskar Schär für die Verstaatlichung der Wasserkräfte ein; und als Kriminalist wirkte er an der Ausarbeitung des neuen Strafgesetzes entscheidend mit. (Dietschi, 1947, T5) 67 81. Dr.Oskar Schär Die Verstaatlichung der schweizerischen Wasserkräfte, Basel 1904 82. Anfrage von Oskar Schär an den Nationalrat vom 26. Juni 1921. Als Mitglied der Finanzkommission und der Finanzdelegation war er von der Verwaltung gefürchtet; seine Gewissenhaftigkeit in der Ausübung der Kontrolltätigkeit des Parlamentes war sprichwörtlich. Ihm entging nichts, Stück für Stück ging er die Belege durch, die in vielen Bänden vor ihm lagen; er sah alles, griff ein, und es war nicht ein restloses Vergnügen für eine Verwaltung, wenn sie in sein Referat fiel. (Dietschi, 1947, T5) 80. Linke Seite: Oskar Schär im Gespräch mit einem uns unbekannten Herrn 68 83. Oben: Oskar Schär bei einer Ansprache. Anlass, Ort und Datum unbekannt. Oskar Schär als Genossenachafter und Politiker Bis in die letzten Tage seines Lebens hat Dr. Oskar Schär der Basler Kantonalbank seine Dienste zur Verfügung gestellt. Als Vizepräsident des Bankrates und Präsident des Schweiz. Kantonalbankenverbandes nahm er unermüdlich Anteil an der Entwicklung des Instituts, und als Präsident der Baukommission darf ihm ein wesentlicher Anteil am Neubau des Bankgebäudes zugeschrieben werden. Neben dem vollgerüttelten Tageswerk fand Schär immer noch Zeit, sich schriftstellerisch zu betätgen. Zahllos sind seine Abhandlungen und Aufsätze über Wirtschaftsprobleme, über Genossenschaftsrecht, Verwaltungs- und Steuerfragen, die in der Tages- und Fachpresse und in Broschürenform erschienen sind. (Dietschi, 1947, T5) 84. Rechts: Oskar Schär im Gespräch mit einem Vertreter des Lebensmittelvereins Zürich 85. Rechte Seite: Oskar Schär, ça. 1940, in seinem Arbeitszimmer an der Bachlettenstrasse 60 in Basel. 1909-1945 69 70 Oskar Schär als Genossenachafter und Politiker 1909-1945 86. Linke Seite, oben: Das Verwaltungsgebäude des V.S.K. an der Thiersteinerallee 24 in Basel 71 88. Ein Verkaufswagen der Migros, die damit die ursprünglich von Pferden gezogenen Verkaufswagen des Consumvereins kopierten. Schlussendlich sei noch erwähnt, dass es nicht nur die Konsumvereine der Schweiz waren, welche sich genossenschaftliches Gedankengut zur Maxime machten. Auch andere Institutionen bildeten sich in jenen Zeiten. 1860 bis 1870 entstanden vor allem in der Ostschweiz viele landwirtschaftliche Vereinigungen und Genossenschaften, welche 1886 mehrheitlich im Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften VOLG aufgingen. 89. Rechts: Gottlieb Duttweiler mit seiner Frau. Nachdem Gottlieb Duttweiler Anfang der vierziger Jahre seinen Migros-Unternehmungen die Rechtsform der Genossenschaft gegeben hatte, suchte er eine Annäherung an die V.S.K.-Bewegung, in erster Linie an den Allgemeinen Consumverein beider Basel. Doch lehnte der Aufsichtsrat des V.S.K. in seiner Sitzung vom 22.März 1941 eine Zusammenarbeit mit Duttweiler ab. Er unterstellte ihm (ohne konkrete Belege) die Absicht, die genossenschaftlichen Organisationen den Zielen einzelner Personen oder politischen Strebungen (...) dienstbar zu machen oder aus anderen Gründen Uneinigkeit und Verwirrung in die Reihen der Genossenschaftsbewegung hineinzutragen. (Handschin, 1954, S.290-291) In Gesprächen während unseren Mahlzeiten galt die Migros als Erzfeind des A.C.V., den wir alle zu meiden hatten. Es wäre für unsere Familie undenkbar gewesen, dort etwas einzukaufen. (Die Herausgeber) 87. Linke Seite unten: Zwei Räume des Verwaltungsgebäudes des V.S.K. am 4.März 1945, nach dem Bombardement der Stadt Basel durch amerikanische Bomber, die annahmen, sich über einer deutschen Stadt zu befinden. 1925 gründete Gottlieb Duttweiler eine Verkaufsorganisation, die MIGROS, welche ebenfalls den Zwischenhandel auszuschliessen versuchte. EPA, DENNER, WARO, SPAR und andere Organisationen wurden viele Jahre später zu weiteren Konkurrenten der COOP. (Handschin, 1954, S.17) Oskar Schär in der St.Jakobs Loge des Odd Fellow Bundes 72 90. Besuchskarte der St.Jakobs Loge des Odd Fellows-Bundes für ihr Mitglied Oskar Schär. Aus «In Memoriam Karl Oskar Schär» : Ansprache Emil Schmidlin. (T6) Im Jahre 1893 ist Oskar Schär als junger Jurist und schon gereifter Charakter der St. Jakobsloge der Odd Fellows beigetreten. Im dritten Jahre berief ihn das Vertrauen seiner Brüder als Sekretär in das Logenbüro. 1897 amtete er als Untermeister, 1898 als Obermeister der St. Jakobsloge. 1900 delegierte ihn unsere Loge als Repräsentanten in die Schweiz. Grossloge. 1904 bis 1910 hatte er das hohe und verantwortungsvolle Amt eines Gross-Sires des schweizerischen Ordenszweiges inne, das höchste Amt, das eine LandesGrossloge zu vergeben hat. 91. Rechte Seite: Oskar Schär um 1930. 1893 - 1947 73 74 92. An einer Fasnacht unbekannten Datums wurde Oskar Schär von einem Tambourmajor verkörpert. Es gilt als ausgesprochene Ehre, an der Fasnacht durch Cliquen mit Laternen, Masken oder Schnitzelbänken repräsentiert zu werden, auch wenn dabei vor allem Spott oder Kritik zum Zuge kommen. Durch seine Tätigkeit als Strafgerichtspräsident und als Vertreter des V.S.K. wurde Oskar Schär immer wieder als Fasnachts-Sujet gewählt. Oskar Schär an der Basler Fasnacht Die Fasnacht ist das Volksfest der Stadt. Ihre Anfänge reichen weit zurück, die moderne Ausprägung entwickelte sich aber erst langsam im 19. Jahrhundert. Frühe Formen der Strassenfasnacht sind in den 1830er Jahren erkennbar, auch der Morgenstrtreich geht auf diese Zeit zurück, hatte zunächst aber eher einen militärischen Charakter. Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten die ersten grossen Laternen auf. Ab den 1870er Jahren existieren Fasnachtscliquen mit ihren typischen Pfeifern und Trommlern sowie den charakteristischen Laternen. 1911 übernahm das neu gegründete Fasnachts-Comité die Organisation der Fasnacht. Seit den 1930er Jahren bereichern Guggenmusiken mit Blechblas- und Schlaginstrumenten sowie Waggiswagen das fasnächtliche Treiben, wie denn überhaupt die Fasnacht in der Zwischenkriegszeit ihr heutiges Gesicht erhielt. Zum Brauch gehören auch die Schnitzelbänke, in denebn das lokale und Weltgeschehen kommentiert wird. (Berner u.a., 2008, S.205). 93. Eine Laterne, die an einer Fasnacht unter dem Motto “A.C.V. – leider Gfasel” Oskar Schär darstellt, der irgendwelche Würdenträger wie Marionetten an den Fäden hält. 75 76 Oskar Schär als Pater Familias 1910 - 1947 94. Linke Seite: Anna Haller im Sonntagsstaat. 95. Oben: Opa und Oma als junges Paar. 96. Rechts: Unsere Oma, Anna Haller, wahrscheinlich noch vor ihrer Heirat. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und war eine ausgesprochen schöne Frau. 77 78 Oskar Schär als Pater Familias 99. Rechte Seite: Opa und Oma mit ihrer ersten, 1903 geborenen Tochter Lisy. 97. Rechts: Die drei Töchter Schär. Von oben nach unten: Marty, geb. 1905, Lisy, geb. 1903, und Hanny, geb. 1911. 98. Otti Haller, der Bruder unserer Oma (Mitte), in seiner Genfer Villa als Gastgeber von Pierre Mendès-France, französischer Premierminister von 1954-55 (zweiter von links), und anderen französischen Würdenträgern. Als Besitzer eines bedeutenden Transportunternehmens in Genf, war Otti Haller ein sehr reicher Mann und wurde für seine Frankreich geleisteten Dienste mit dem Kreuz der Ehrenlegion dekoriert. Er hatte keine Nachkommen und vermachte bei seinem 1953 erfolgten Tod sein gesamtes Vermögen den Kindern unserer Tante Hanny Burlet. 1910 - 1947 79 80 Oskar Schär als Pater Familias Oskar Schär war das gütige Haupt einer grossen Familie, der er alles bedeutete und die mit ihm in tiefer Liebe und Ehrfurcht eng verbunden war. 100. Unten: Anna Schär mit ihren drei Töchtern Hanny, Lisy und Marty, um 1915. Auszug aus dem Brief, mit dem Oskar Schär auf die Bewerbung seines künftigen Schwiegersohns um die Hand seiner Tochter antwortete: Ich habe meine drei Töchter in Freiheit erzogen und mehr Wert darauf gelegt, ihnen durch unser Beispiel eine richtige Lebensführung als erstrebenswert zu machen, als durch viel Gebote oder Verbote. (...) Nach dem Beispiel meines Vaters betrachtete ich es als meine Pflicht, meinen Töchtern eine gute Erziehung zu geben, sie dasjenige lernen zu lassen, wozu sie Neigung hatten. Die älteste Tochter hat bis zum 25. Lebensjahr studiert, das Staatsexamen als Apothekerin bestanden. Marty war zum Teil auf eigene Kosten in Frankreich, England und Italien, da sie auf das Ergreifen eines akademischen Berufes verzichtete. Die jüngste Tochter geht noch in die Schule. (Vollständiger Text im Anhang, T7) 101. Rechte Seite: unsere Mutter Marty Schär. 1910 - 1947 81 82 Oskar Schär als Pater Familias 1910 - 1947 102. Linke Seite: Opa vor dem Erechteion-Tempel in Athen 103. Rechts: Opa und Oma in Griechenland 83 Heidy: Solange ich mich erinnern kann, war unser Opi immer perfekt gekleidet. Ob zu Hause an seinem Schreibtisch oder im heissen Libyen, am Strand am Meer, auf seiner Griechenlandreise und auch in den Sommerferien, mit uns Kindern im Heu: Gestärktes Hemd, Kravatte, Gilet mit Taschenuhr an einer Goldkette und Jacke. Auch unsere Oma war immer elegant gekleidet. Zur damaligen Zeit waren Reisen beschwerlicher und unendlich länger als heute. Opi hatte immer alles minutiös vorbereitet und auch für die jeweiligen Reisen unserer Eltern in die Schweiz alles perfekt, bis zur Feststellung der Wechselkurse, organisiert, wohlverstanden ohne Internet. 104. Unten: Opa und Oma in Bengasi, Datum unbekannt. 84 85 Familie Bocola - Schär 105. Unsere Eltern, Marty und Willy, zu Beginn ihrer Beziehung in Mailand, um 1929 86 Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola 106. Oben: Die Fontana di Trevi in Rom. 107. Rechts: Opa und Oma zusammen mit unserem Vater in Como, um 1929. Unsere Mutter lebte Ende der zwanziger Jahre während einiger Monate in Mailand, um dort Italienisch zu lernen. Zu dieser Zeit kamen ihre Eltern auf Besuch, um zusammen mit ihr eine Ferienreise nach Rom zu unternehmen. Dort logierten sie in einem Hotel, in dessen Speisesaal ihr Nachbartisch von einem jungen, gut aussehenden italienischen Fliegeroffizier besetzt war. Am nächsten Tag unternahm Grossvater mit Frau und Tochter eine Exkursion entlang der Via Appia. Als er sich dabei hoffnungslos verirrte, wies er die Proteste seiner beiden Frauen, die meinten, kein vernünftiger Mensch würde diesen Weg einschlagen, dadurch zurück, dass er auf den jungen Mann hinwies, der in etwa 300 Meter Entfernung den gleichen Weg zu verfolgen schien wie sie. Beim Betreffenden handelte es sich natürlich um unseren Vater, der seiner Auserwählten folgte. 108. Rechte Seite: Unsere Mutter Marty Schär um 1928 1929 - 1931 87 88 Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola 1929 - 1931 89 109. Linke Seite: Willy Bocola, um 1929. Man kann verstehen, dass dieser gut aussehende, elegante Südländer das Herz unserer schweizerischen Mutter höher schlagen liess. 110. Marty Schär, um 1929. Man kann ebenfalls verstehen, dass diese romantische, geheimnisvoll wirkende, fremde Schönheit unserem Vater den Kopf verdrehte. Im Frühjahr 1929 lernte die damals 22-jährige Marty Schär (unsere spätere Mutter) auf einer Ferienreise mit ihren Eltern in Rom den um zwei Jahre älteren italienischen Fliegeroffizier Willy Bocola kennen. Ihrer Begegnung muss einen gegenseitigen „Coup de foudre“ ausgelöst haben, denn nach nur drei Tagen bewarb sich der junge Mann beim Vater seiner Auserwählten um deren Hand. Dieser antwortete mit einem längeren Brief, in dem er über sich und seine Familie, seine berufliche Laufbahn, sein politisches Engagement und seine religiösen Überzeugungen berichtete, und seinen Schwiegersohn in spe um entsprechende Auskünfte bat (Siehe nächste Doppelseite). Nach dessen befriedigender Antwort und der Einwilligung unseres Grossvaters war das Liebespaar zwar verlobt, eine Heirat lag jedoch noch in weiter Ferne, denn als Militärpilot war es unserem Vater nicht gestattet, vor seinem dreissigsten Altersjahr zu heiraten. Während der Wartezeit konnten sie sich nur selten sehen: er war in Udine stationiert und sie lebte weiterhin bei ihren Eltern in Basel, sodass sich ihre Kontakte auf regelmässigen Briefwechsel und sporadische gegenseitige Besuche beschränkten. 90 Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola 1929 - 1931 91 112. Oskar Schär, um 1929. Auszüge aus Opas Brief: Ich habe in Basel, München und Heidelberg studiert, 1892 den Doktor gemacht, war ein Jahr Anwalt, 2 3/4 Jahre schweizerischer Staatsanwalt und dann zehn Jahre lang Straf-gerichtspräsident in Basel-Stadt, zuletzt Vorsitzender des Gerichts für Strafsachen in Basel. 1909, d.h. gerade vor 20 Jahren, trat ich als Direktionsmitglied in den Dienst des Verbandes schweizerischer Konsumvereine. 111. Oben: Die erste Seite des Briefes, mit dem unser Grossvater die Bewerbung des jungen Italieners um die Hand seiner Tochter beantwortete. Transkription der beiden Briefe im Anhang unter T7 und T8 (...) Politisch war ich tätig als Mitglied der schweizerischen radikaldemokratischen Partei, zeitweise hatte ich eine eigene links-bürgerliche Partei gegründet und geleitet. In Basel bin ich seit 1905 mit drei Jahren Unterbruch Mitglied des Grossen Rates und noch am 26. April mit der höchsten Stimmenzahl meiner Parteiliste wieder gewählt worden. (...) Seit Oktober 1917 gehöre ich dem schweizerischen Nationalrat an und bin vier Mal bestätigt worden, gedenke jedoch auf Ende Juni dieses Jahres dieses Mandat niederzulegen, da ich meine Zeit für wichtigere Sachen reservieren muss. (...) Politisch stehe ich also bei einer Gruppe, die in Italien nicht existiert. In der Schweiz würden wir das System des Faschismus bekämpfen, während ich mich in die Verhältnisse anderer Länder nicht einmische. (Vergl. T7) 113. Oben: Siro Cuneo dell‘Acqua (Mitte), der „Dok tor“, auf den sich der Brief unseres Vaters bezieht. 114. Links: Willy Bocola um 1929 Auszüge aus Vaters Brief: ...Ich wusste, dass sie vielleicht einen in Basel wohnenden Doktor geheiratet hätte. (...) Der einzige Ausweg hier war der Egoismus, und ich habe kein Mittel gescheut, um Ihre Marty an mich zu binden. (...)Ich bin am 23. November 1905 geboren. Alles in allem habe ich 16 Jahre studiert, davon 10 Jahre fern von meiner Familie, da meine Geburtsstadt nicht die Schulen besass, die ich besuchen wollte. Im Juli 1925 hatte ich das Diplom als Kapitän des langen corso beim Istituto nautico von Piano di Sorrento. Ich hätte mich ohne weiteres eingeschifft, wenn nicht damals die grosse Leidenschaft für die Aeronautica begonnen hätte, mich nicht in seiner ganzen Schönheit gelockt hätte. Ich machte die Wettbewerbe mit, um zugelassen zu werden, und es ging mir gut. Ich besuchte dort die 3 Jahre des Studiums und Anwendung, bis ich letzten Juni daraus als Leutnant hervorging. Vor einigen Tagen am 11. Mai wurde ich zum Oberleutnant ernannt. In etwa 3 bis 4 Jahren werde ich glaube ich Kapitän sein, denn ich sehe meine Carriere wird sehr rapid vorangehen ( Prosit). (...) Es gibt unruhige Karaktere, Liebende der Freiheit, leidenschaftlich für alles was schön ist und Risiko darstellt. Gefährlich oder in Gefahr leben könnte mein Leitwort sein. Ich bin nicht der Mann dazu, ein Bureauleben zu führen, ich würde zu sehr leiden und das Leben würde jede Anziehung verlieren. Ich bin zu enthusiastisch für das Fliegen, um es verlassen zu können. (T8) 92 115. und 116. Beide Abbildungen: Vater und Mutter als junges Liebespaar. Um 1929. Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola Erst als unsere Mutter im April 1930 mit Sandro schwanger wurde, entschloss sich das junge Paar, das Heiratsverbot zu umgehen und sich in Italien zwar nicht standesamtlich, doch in einer geheimen Zeremonie wenigstens kirchlich trauen zu lassen. Unsere Mutter zog zusammen mit ihrer engsten Freundin, Nelly Enderle, (für uns später „Tante Nelly“), nach Udine, wo unser Vater stationiert war, und wo die beiden unter ihrem Namen eine Wohnung mieteten, die sie anschliessend mit unserem Vater teilten. Den Umständen entsprechend war dabei höchste Vorsicht geboten: um gefährlichem Gerede vorzubeugen, vermied das frisch getraute Paar, sich in der Öffentlichkeit zusammen zu zeigen; wollten sie gemeinsam einen Film ansehen, so betraten sie das Kino unabhängig voneinander. Für die bevorstehende Geburt reisten sie deshalb in das nahe gelegene Triest, wo Sandro am 19. Januar 1931 in einem Hotelzimmer zur Welt kam. Den wenigen Personen, die den Neugeborenen später zusammen mit seinem Vater sahen, erklärte dieser, Sandro sei der uneheliche Sohn seines Bruders. Bei der beruflich bedingten Übersiedlung der Familie nach Gorizia wurde ähnlich vorgegangen. Während dieser Zeit war die junge Familie immer in engem Kontakt mit den Grosseltern, mit denen sie die Ferien am Meer, in Riccione, oder in der Schweiz, in Lenzerheide oder Adelboden verbrachte. Als sie schliesslich nach Turin zogen, wo am 26. April 1935 Heidy geboren wurde, hatte unser Vater sein dreissigstes Altersjahr endlich erreicht und konnte nun unsere Mutter auch legal, d.h. standesamtlich, heiraten. 1929 - 1931 93 94 117. Oben: Das abgestürzte Flugzeug unseres Vaters Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola 118. Links: Willy Bocola in seiner Leutnants-Uniform, um 1928. Noch während seiner Verlobung mit unserer Mutter stürzte unser Vater auf einem Übungsflug mit seiner Maschine, einem Doppeldecker, ab. Überraschenderweise erlitt er, ausser einigen Schrammen am Kinn und unter dem rechten Auge, keinerlei Verletzungen. Um die Narben an seinem Kinn zu verdecken, liess er sich einen Bart wachsen. Leider verfügen wir über keine weiteren Daten über diesen Unfall. 119. Rechte Seite: Willy Bocola mit Bart, um 1929. Unter dem rechten Auge sind noch deutlich die Schrammen zu sehen, die er sich bei seinem Unfall zugezogen hatte. 1929 - 1931 95 96 Die italienische Familie 97 120. Die Familie BocolaParisi. Von links nach rechts: Der jüngste Sohn Toto, der Vater Alessandro Bocola, die Tochter Eva, unsere Grossmutter, Maria Parisi, unser Vater Willy und sein um zwei Jahre ältere Bruder Manfredo. Die italienische Familie 98 99 123. Der Grossvater Alessandro Bocola. 121. Oben: Eine Strasse in San Severo, dem Sitz der Familie Bocola und Geburtsort unseres Vaters. Um 1956. 122. Rechts: Die Pächter der Farm, die unsere Mutter von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte. Der Grossvater Alessandro Bocola war der Sohn eines reichen, doch verschwenderischen Vaters, der das ererbte Familienvermögen an Häusern und Farmen nach und nach versilberte und in Pferden, Frauen und herrschaftlichen Einladungen und gesellschaftlichen Auftritten ausgab, bis nichts mehr da war. Als sein Sohn, unser Grossvater Alessandro, sich um die Hand Marias, der Tochter der begüterten Familie Parisi, bewarb, widersetzte sich diese kategorisch seinem Begehren und untersagte ihrer Tochter jeden weiteren Kontakt mit dem jungen Bewerber. Doch war sie in diesen verliebt und entschloss sich, zusammen mit ihrem Geliebten, das Dekret der Eltern zu missachten. Mit ihrer Einwilligung „entführte“ er sie an einen versteckten Ort, ohne jede Angabe zu hinterlassen, ausser der Erklärung ihrer beider Absicht, zu heiraten. Dies zwang die Parisis nachzugeben, denn sollte die Entführung publik werden, wäre ihre Tochter entehrt. So waren sie schliesslich bereit, in die Heirat einzuwilligen. Als Mitgift überliessen die Parisis dem jungen Paar ein repräsentatives Haus in San Severo. Doch gelang es dem alten Vater Bocola durch Vorspiegelung falscher Tatsachen, das Haus der jungen Familie zu verpfänden, um mit dem ertrogenen Geld seine finanziellen Löcher zu stopfen. Unser Grosssvater Alessandro verfiel darauf in eine tiefe Depression, von der er sich nicht mehr erholen sollte. Er sandte die beiden älteren Söhne, unseren Vater und dessen Bruder Manfredo, zur weiteren Ausbildung in fremde Städte und zog sich völlig in sich zurück. Er nahm zwar weiterhin an den gemeinsamen Mahlzeiten der Familie teil, sprach jedoch dabei kein Wort. Möglicherweise litt er auch an einer schweren Krankheit. Jedenfalls trat er eines Tages nach dem Essen auf den Balkon und schoss sich mit seiner Pistole eine Kugel in den Kopf, worauf er augenblicklich tot war. 100 Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola 1931 - 1935 101 124. Rechts: Der Geburtsschein von Sandro Bocola Sandro: Mein Geburtstag wurde immer am 19. Januar gefeiert, obwohl in meinem Pass der 15. Januar vermerkt ist, was meine Mutter damit erklärte, dass der Verwaltung ein Fehler unterlaufen sei. Ich ahnte schon seit langem den wahren Sachverhalt: Da ich vor der kirchlichen Heirat meiner Eltern gezeugt wurde, versuchte meine Mutter offensichtlich, mein reales Geburtsdatum, den 15. Januar, mit dem des 19. Januar zu ersetzen, um mich als ein „Sieben-MonateKind“ ausgeben zu können. Bei der Recherche zu unserem Buch entdeckte ich meinen Geburtsschein, auf dem man deutlich sehen kann, wie jemand das Datum umgeschrieben hat, was später mit Rotstift korrigiert wurde. 126. Links: Nelly Enderle in jungen Jahren. Sandro: Nelly Enderle war die beste Freundin meiner Mutter. Als diese mit mir schwanger war, reiste Nelly nach Udine, um ihr bei der Geburt und der Pflege des Neugeborenen beizustehen. 125. Oben: Nelly Enderle mit ihrem Gottenkind Sandro. Aus dieser Zeit bewahrte sie mir gegenüber während ihres ganzen Lebens eine tiefe Zuneigung, die unsere bis zu ihrem Tod dauernde Beziehung nährte. Mit ihrer Tochter Margrit und deren Ehemann Ruedi Brändle sind meine Schwester und ich bis heute freundschaftlich verbunden. 127. Oben: Unsere Mutter (rechts) mit ihrer Freundin Nelly Enderle, die ihr später in Udine mit der Pflege von Sandro beistand. 128. Links: Marty Schär mit ihrem neugeborenen Sohn Sandro in Udine. 102 Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola 1931 - 1935 129. Linke Seite: Sandro mit seinem Grossvater am Strand von Bengasi 130. Oben: Sandro in Riccione, um 1934 131. Rechts: Sandro, um 1935 in Turin. 103 Sandro: Ich habe praktisch keinerlei Erinnerungen an meine frühen Kinderjahre. Auf den Fotografien jener Zeit sieht man einen strahlenden, selbstbewussten, der Welt zugewandten, von der ganzen Familie geliebten und behüteten Knaben. 104 Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola 1931 - 1935 105 132. Linke Seite: Sandro mit seinem Vater in Lenzerheide, um 1935. Sandro: Dieses Bild zeigt die Kraft und Selbstsicherheit, die ich als 4-5-jähriger Knabe aus der Identifikation mit meinem Vater schöpfte. 133. Rechts: Sandro in Basel, um 1935, von Grossvatrer und Vater flankiert. 134. Unten: Sandro in Basel, von Eltern und Grosseltern umgeben. Sandro: In ihrem Schutz ver brachte ich die ersten, glücklichen Jahre meines Lebens. Deren Liebe sollte auch in späteren, schwierigen Zeiten, eine entscheidende Grundlage meines Selbstwertgefühls bilden. 106 Willy Bocola als Pilot 107 135. Linke Seite: Die italienische Akrobatikstaffel, am 28. 9. 1932 in Udine/Campoformido. Ohne jegliche elektronische Navigationshilfe waren die Flugzeuge jeweils nur 1 Meter voneinander getrennt. 136. Oben: Die Piloten der italienischen Akrobatikstaffel. Am internationalen Flugmeeting in Zürich/Dübendorf 1932. Unser Vater steht ganz aussen links. 137. Links: Die Staffel im Rückenflug Vaters Flugzeug – das vierte von rechts - ist handschriftlich mit Bleistift markiert. Unser Vater war ein hervorragender Pilot, Mitglied der berühmten italienischen Akrobatik-Staffel „La squadriglia folle“, die 1932 am internationalen Flugmeeting von Dübendorf grösstes Aufsehen erregt hatte. 1933 gewann er den Weltrekord für den längsten Rückenflug (1 Stunde und 6 Minuten). Willy Bocola als Pilot 108 138. Drei Freunde und Kollegen beglückwünschen Vater zu seinem Weltrekord im Rückenflug, 1933. 109 139. Ausschnitt aus einer Schweizer Zeitung. Vaters Weltrekord wurde in zahlreichen Beiträgen, vor allem in der italienischen und der schweizerischen Presse, gewürdigt. 110 Geburt von Heidy Bocola 1935 111 142. Oben: Nach Heidys Geburt am 26. April 1935 in Turin. Unsere Mutter mit der Neugeborenen. 140. Oben: Die Geburtsanzeige für Heidy Annemarie Bocola 143. Rechts: Die vierköpfige Familie kurz nach der Geburt Heidy‘s in Turin. 141. Linke Seite: Heidy mit unserem Grossvater in Basel, auf der Terrasse des Hauses Bachlettenstrasse 60. Heidy: Aus den Erzählungen unserer Mama weiss ich, dass sie mit mir eine relativ schwierige Geburt hatte - dies veranlasste unseren Vater, der bei der Geburt anwesend war, zu sagen „Mai più bambini“, was zu einem geflügelten Wort wurde. Später wurde mir auch erzählt, dass ich als Baby einmal so böse geschaut hätte, dass unser Vater beim Eintreten lachend sagte „Alto le mani!“ und dabei die Hände in die Luft streckte“. 112 Grossfamilie Schär-Bocola 144. Links: Unser Vater mit Heidy und Sandro in Turin, um 1935. Man spürt Sandros Missvergnügen ob der neuen Konstellation. Dies gilt auch für die Aufnahme auf der rechten Seite. 145. Rechte Seite: Sandro, Heidy und Ruedi, der Sohn von Tante Lisy, mit den Grosseltern in Türnen. Um 1935. Die letzten Jahre in Italien Sandro: Nach Heidys Geburt waren wir oft, besonders in den Sommermonaten, für längere Zeit in der Schweiz, wo wir zusammen mit Opa und Oma in Lenzerheide oder Türnen die Ferien verbrachten. Wahrscheinlich litt ich während dieser Zeit unter der Eifersucht auf meine neugeborene Schwester, jedenfalls tendierte ich dazu, das Bett zu nässen, was mir den Übernahmen “Sandrino Brünzeli” einbrachte. Doch offensichtlich überwiegten die positiven Erfahrungen und das Bewusstsein meiner privilegierten Stellung als Erstgeborener: so durfte ich zum Beispiel auf Ausflügen und Reisen, die wir mit unserem „Balilla“, einem der ersten Kleinwagen der Fiat Werke, in die Schweiz oder zu unseren italienischen Verwandten in San Severo unternahmen, oft auf Vaters Knien sitzen, das Steuerrad halten und auf ungefährlichen Strecken (natürlich unter seiner Kontrolle) den Wagen allein steuern. Wenige Monate nach der Geburt Heidys mussten wir von Turin wegziehen, denn unser Vater war erneut versetzt worden, diesmal nach Bengasi, der zweitgrössten Stadt Libyens (damals noch italienische Kolonie), die wir Ende des Jahres von Syrakus aus auf dem Seeweg erreichten. 146. Oben: Vater und Sohn Bocola in Lenzerheide, um 1935-36. 1935 - 1936 113 Grossfamilie Schär-Bocola 114 1935 - 1936 115 147. Unser letzter Besuch in San Severo vor unserer Übersiedlung nach Bengasi, Libyen. Dieses um 1935 aufgenommene Bild zeigt die Mitglieder der engeren Familie Bocola-Parisi vollzählig. Von hinten nach vorne, links nach rechts: Manfredo und Willy, Nonna Maria, Marty Bocola, unsere Mutter und Eva, die einzige Schwester unter den drei Brüderrn. Dann Toto, der jüngste Bruder, Tittina, die Frau Manfredos, und ihr Sohn Sandro, dann Sandro „svizzero“, der Sohn Willys und Martys. Die Familie Bocola-Parisi in San Severo, um 1936 116 Grossfamilie Schär-Bocola 1935 - 1936 117 149. Oben: Manfredo Bocola mit seiner späteren Frau Tittina. 150. Links: Nonna Maria 148. Linke Seite: Unser Vater mit seiner Jagdbeute in der Umgebung von San Severo. Vater war ein leidenschaftlicher Jäger und fuhr auch in Bengasi jede Woche mit seinen Freunden auf die Jagd. 118 Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 1936 151. Bengasi, eine Strasse mit einer Moschee, um 1930. Bild einer alten Postkarte. In Libyen wohnten wir in Berca, einem Vorort Bengasis, direkt gegenüber dem Flugplatz, am äussersten Rand des europäischen Stadtteils. 119 120 Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 152. Rechts: Zusammen mit der befreundeten Familie Bonfiglio, 1936 153. Unten: Marechal Bonfiglio, ein Freund und Kollege unseres Vaters 154. Oben: Sandro Cerutti, einer der besten Freunde unseres Vaters und, zusammen mit seiner schönen Frau Mimma ein häufiger Gasst in unserem Hause Sandro: Unsere Wohnung lag nicht in Bengasi selbst, sondern in Berca, einem Vorort am äussersten Rand der europäischen Stadt, direkt gegenüber dem dortigen Militärflugplatz, dem mein Vater als „Comandante“ vorstand. Ich verbrachte täglich viele Stunden auf dem Flugplatz, wo ich als Sohn des Comandante überall gern gesehen war. Wenn ich morgens auf meinem kleinen roten Velo durch das grosse Tor fuhr, schlugen die links und rechts davor postierten Wachsoldaten wie beim Durchgang eines Offiziers die Hacken zusammen und präsentierten das Gewehr, während ich zum Gruss meine Hand zur Stirne hob. Ich hielt mich oft in der Offizierskantine (-messe) auf, in der Piloten und Kaderpersonal während ihren Arbeitspausen oder zwischen Flugeinsätzen schwatzend, rauchend und trinkend beisammensassen. Einer der Piloten, der für seine Karikaturen bekannt war, brachte mir bei, Flugzeuge, Automobile und Gesichter im Profil zu zeichnen, eine Kunst, die ich in kürzester Zeit so gut beherrschte, dass ich diesbezüglich bei Familie und Bekannten bald als ein Wunderkind galt. Manchmal durfte ich zusammen mit meinem Vater in ein Jagdflugzeug steigen oder zusehen, wie er in seiner Maschine zu einem Flug startete. Wenn ich mich mit meiner Mutter und Schwester im Garten unseres Hauses aufhielt, kam es vor, dass er unter ohrenbetäubendem Larm ganz tief über diesen hinwegflog und uns aus dem offenen Pilotensitz zuwinkte. Diese Erfahrung, die Vorstellung des Vaters, der aus seinem Flugzug die unter ihm liegende Welt überblicken, alles sehen konnte, hat mich unbewusst tief geprägt. 155. Rechte Seite: Sandro mit Vater in einem Jagdflugzeug 1936 121 122 Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 1936 123 156. Vater und seine Kollegen mit ihrer Jagdbeute, Bengasi, 1936. Sandro: Manchmal fuhr unser Vater übers Wochenende mit Freunden in einem Militärfahrzeug zur Jagd, von der er meist mit reicher Beute, Fasanen und anderen Vögeln, manchmal sogar mit einer ganzen Gazelle, zurückkehrte, die er unter unseren staunenden Blicken vor uns ausbreitete. Er war der bewunderte Held, das idealisierte Vorbild meiner Kindheit. Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 124 1936 125 158. Italo Balbo (* 6. Juni 1896 in Ferrara; † 28. Juni 1940 bei Tobruk) Schon vor der Machtübernahme Mussolinis trat Balbo der faschistischen Partei bei und organisierte als Ortsgruppenleiter den Kampf gegen Kommunisten und Sozialisten. Bereits beim Marsch auf Rom war er einer der Parteiführer, 1924 wurde er Chef der faschistischen Miliz, 1925 Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. 157. Eine von Italo Balbo eigenhändig unterschriebene Fotografie, die anlässlich eines Besuchs des Duce in Libyen aufgenommen wurde. Balbo und Mussolini sind von Fliegeroffizieren, darunter auch unser Vater, umringt (siehe Pfeile). 1926 absolvierte er eine Schnellausbildung zum Piloten und war die zentrale Figur beim Aufbau der italienischen Luftwaffe. 1929 wurde er mit nur 33 Jahren Luftfahrtminister. Berühmtheit erlangte er dank seiner Atlantiküberquerungen mit großen Flugzeugformationen. 1930 flog Balbo mit 12 Savoia-Marchetti von Orbetello nach Rio de Janeiro, 1933 mit 24 Wasserflugzeugen von Rom nach New York und Chicago.In New York wurde eine Strasse in Balbo Avenue, in Chicago die Seventh Street in Balbo Drive umbenannt, und Präsident Roosevelt lud ihn zum Essen ein. In Italien beförderte ihn Mussolini zum Luftmarschall. Möglicherweise nahm unser Vater 1933 an der zweiten Atlantiküberquerung teil. Sein Erfolg brachte Italo Balbo bald viel Neid und Missgunst ein. Aus diesem Grund wurde er 1934 nach Libyen versetzt, wohin ihn seine engsten Gefährten, darunter auch mein Vater, begleiteten. Als Gene- ralgouverneur setzte er sich für die Verbesserung der dortigen Verkehrsinfrastruktur ein, bemühte sich, italienische Siedler für die Kolonie zu gewinnen und verfolgte gegenüber der musulmanischen Bevölkerung eine Politik der Pazifizierung und Integration. Nach der deutschen Invasion Polens wandte er sich vehement gegen Mussolinis Bündnis mit Hitler und befürwortete einen Kriegseintritt Italiens an der Seite Großbritanniens. Am 28. Juni 1940 wurde er nach offizieller Darstellung über Tobruk versehentlich durch Friendly Fire von der italienischen Flugabwehr abgeschossen. Bis heute wird darüber spekuliert, ob es sich dabei wirklich um ein Versehen handelte. (Wikipedia) Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 126 1936 127 Der Tod des Vaters Sandro: 1937 sollte unser Vater nach Tripolis, der Hauptstadt der Kolonie, versetzt werden und begab sich deshalb im Dezember 1936 zur Vorbereitung dieses Umzugs für einige Tage in die etwa tausend Kilometer entfernte Stadt. Wir erwarteten ihn zur Weihnacht zurück. Während seiner Abwesenheit genoss ich meine Rolle als der einzige „Mann“ im Hause und die erhöhte Zuwendung meiner alleingelassenen Mutter, die mich, wie schon so oft, dazu anhielt, in mein tägliches Abendgebet die Bitte einzuschliessen, dass meinem Vater nichts zustossen und dass er heil zurückkommen solle. Doch diesmal ging der Wunsch nicht in Erfüllung - Vater kam nicht. Die Transportmaschine, die ihn und seine Kollegen nach Bengasi hätte bringen sollen, war auf dem Rückflug abgestürzt. Statt seiner erschienen am 22.Dezember, dem Tag, an dem wir ihn zurückerwarteten, zwei Vertreter der Luftwaffe und zwei Frauen befreundeter Offiziere, die meiner Mutter die Todesnachricht überbrachten. Das Weihnachtsfest verbrachten wir bei unseren Nachbarn. 159. Das Begräbnis unseres Vaters in seiner Geburtsstadt San Severo Oskar Schär: Der Tod Willy Bocolas wurde in Kreisen der italienischen Flugwaffe schmerzlich empfunden. Das beweisen (...) die grossartigen Trauerfeierlichkeiten, die in San Severo, der Geburtsstadt des Verstorbenen, stattfanden. (...)Während der Trauerfeierlichkeiten hatten sämtliche Geschäfte geschlossen. (T10) 128 Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 1936 129 162. Das Telegramm, mit dem unsere Mutter den Tod Willys ihren Eltern schonend mitzuteilen versuchte. 160. Unsere Mutter am 12.10.1937 bei der Einweihung des zu Ehren unseres Vaters in Aeroporto Capitano Willy Bocola umbenannten Flugplatzes von Benina. 161. Der als Broschüre herausgegebene Nachruf Oskar Schärs auf seinen Schwiegersohn (T13) Sandro: Ich habe praktisch jede konkrete Erinnerung an den Tod des Vaters und an die meiste Zeit, die wir noch in Bengasi verbrachten, verloren, doch weiss ich - unter anderem auch aus mehreren fremden, verlässlichen Quellen dass mir der Tod des Vaters verheimlicht und erst etwa zwei Jahre später in Basel durch meinen Grossvater mitgeteilt wurde. Vierzig Jahre später erzählte mir „Zia Tittina“, die Witwe Manfredos, vom Staatsbegräbnis meines Vaters in seiner Heimatstadt San Severo, zu dem ich und meine Mutter sowie unsere libyschen Nachbarn und befreundete Offiziersfrauen eine Woche nach dem tödlichen Unfall aus Bengasi angereist waren, und an dem auch alle italienischen Familienmitglieder teilnahmen. Die ganze Stadt war in Trauer um ihren berühmten Sohn und neben den faschistischen Würdenträgern und den Vertretern der Luftwaffe folgten auch tausende Bürger dem Sarg. Zum allgemeinen Erstaunen der nächsten Familienmitglieder überliess mich meine Mutter während der Beerdigung der Obhut eines Dienstmädchens und legte allen nahe, mir den eigentlichen Grund unserer Reise, der schwarzen Kleidung fast aller Anwesenden und der im ganzen Hause herrschenden Bedrücktheit also den Tod meines Vaters - unter allen Umständen zu verschweigen. Mein Grossvater, der nach dem Unfall zusammen mit seiner Frau unverzüglich nach Bengasi gereist war, um der trauernden Tochter beizustehen, hält dieses Schweigegebot im Text fest, den er für den Nachruf auf meinen Vater schrieb (siehe Transkription dieses Textes im Anhang, T13). 163. Zeitungsartikel zum Tod unseres Vaters 130 Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel 1936 - 1939 131 Sandros erste Liebe Sandro: Zu Beginn dieser Zeit war ich zum ersten Mal verliebt. Sie hiess Marisa, war die Tochter der mit uns befreundeten Meys und nur wenige Monate älter als ich. Ich war unwiderstehlich von ihr angezogen und benutzte jede Gelegenheit, um in ihrer Nähe zu sein. Sehe ich mir die wenigen Fotos an, die von ihr erhalten sind, kann ich meine damaligen Empfindungen auch heute noch nachvollziehen, denn sie strahlt trotz ihres jungen Alters eigentlichen Sex appeal aus. 164. Sandro, Heidy und Marisa um 1937 in Bengasi. 132 165. Von links nach rechts: unsere Mutter, Heidy, Nonna Maria, Frau Mey, Marisas Mutter, Marisa und Sandro, um 1937 in Bengasi. 166. Rechte Seite: Ein Selbstporträt Sandros vom 24. März 1937. Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel Eines Abends - meine Mutter war wie so oft mit befreundeten Offiziersfrauen bei Meys eingeladen - traf ich vor dem Hause Marisa in Begleitung einer Freundin und lockte die beiden auf ein nahe gelegenes Feld, wo ich Marisa mehrere Male leidenschaftlich auf den Hals küsste. Für ihre völlig missachtete Freundin war dies zuviel. Mit empörten Ausrufen meldete sie den Vorfall meiner Mutter, die mir zwei schallende Ohrfeigen verabreichte. Diese Strafe minderte in keiner Weise das leidenschaftliche Interesse und die Zuneigung, die ich für Marisa empfand, doch nahm sie meiner Werbung die bisherige Unbeschwertheit. Im Laufe der Zeit führte zudem unser Altersunterschied dazu, dass meine frühreife Geliebte das Interesse an mir verlor und sich älteren Jungen zuwandte. Ich habe Marisa nicht vergessen. Meine letzte Erinnerung an sie - eine Velofahrt, bei der sie auf der Lenkstange meines Fahrrads sass und ich das Gewicht und die Wärme ihres Körpers auf meiner Brust spürte - hat bis heute nichts von ihrem Zauber verloren. 1936 - 1939 133 134 Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel 1936 - 1939 168. Links: Opa und Oma, die uns nach dem Tod unseres Vaters in Libyen besuchten, zusammen mit Sandro und zio Toto, der in Derna unsere und seine Ländereien verwaltete. Sandro: Wenn man bedenkt, in welchem Mass sich das Verhalten unserer Mutter und unserer Umgebung seit dem unerwarteten Fernbleiben des Vaters drastisch verändert hatte, ist es schwer vorstellbar, dass ich nicht trotz der Einhaltung des allgemeinen Schweigegebots die wahre Ursache der Reise nach San Severo und des feierlichen Familientreffens, wenn nicht rational erfasste, so doch zum mindesten erahnte. Nach der Rückkehr aus San Severo blieben wir, ausser wenigen kurzen Reisen nach Italien oder in die Schweiz, für weitere zwei Jahre in Bengasi. Wahrscheinlich litten sowohl ich als auch meine Schwester während der letzten Jahre in Libyen unter der rätselhaften Abwesenheit meines Vaters und der manifesten Depression meiner Mutter, jedenfalls waren wir immer öfter krank. Heidy war monatelang von eiternden Ausschlägen befallen, während ich 1938 von einer lebensgefährlichen, Nephritis genannten Nierenkrankheit befallen wurde, die mich für fast vier Monate ans Bett fesselte . 167. Unten: Eine Reihe Bücher der „Scala d‘oro“. Aus einem Brief unserer Mutter an ihre Eltern, Weihnachten 1938: In der Bücherserie hat es die Nibelungen und Parsifal und Lohengrin und die Ritter von König Artur, und wir lesen alles zusammen und es gefällt mir so unendlich gut, ich wünschte, selbst wieder Kind zu werden und alles abzuwerfen und nur in der schönen idealen Sagenwelt zu leben. Auch die schönen Sagen von Merlin und Lancelot etc., sind so schön und Sandrino ist ganz hin darein. Man hatte mir über dem Bett eine Art Tischplatte installiert, auf der ich während meinen fieberfreien Zeiten mit Zinnsoldaten spielen, zeichnen oder Bilderbücher ansehen konnte. Meine Vorliebe galt dabei den Bänden der „Scala d‘oro“, einer Buchreihe, in der die wichtigsten europäischen Mythen, die Ilias und die Odysee, die Sagen des griechischen Altertums, die deutschen Heldensagen, König Artus Tafelrunde, die Suche nach dem Gral und das Lied der Nibelungen mit guten Illustrationen in einer vereinfachten, gekürzten Fassung für Kinder von 6 12 Jahren nacherzählt wurden. Meine Mutter musste mir täglich daraus vorlesen und half mir damit, aus meiner leidvollen, bedrückenden und beschämenden Gefangenschaft in die grenzenlose Weite einer wunderbaren, imaginären Welt zu entfliehen, in der ich die Abenteuer überlebensgrosser, furchtloser Helden bestand, Siege errang und Niederlagen erlitt. Der Edelmut, die Tapferkeit und die Treue dieser grossen Gestalten, ihre beharrliche Verfolgung ferner, erhabener Ziele hinterliessen in mir einen unauslöschlichen Eindruck und verdichteten sich zur idealisierten Vorstellung grosser, in ihrer Vollkommenheit unerreichbarer Heldenfiguren, die mich auf nachhaltige, bis auf den heutigen Tag wirksame Weise prägte. 135 Heidy: Gegen meine „Hitzebibeli“ sollte ich Spritzen bekommen, gegen die ich mich immer wehrte. Als mir dann gesagt wurde, dass mich die „donna nera“ holen würde, wenn ich nicht aufhöre mich zu wehren, sah ich dann tatsächlich eine schwarz verhüllte „Donna nera“ an unserem Parterrefenster vorbeigehen und wurde aus lauter Angst auch gefügig. Später erfuhr ich, dass meine nonna, Nonna Maria, die „Donna nera“ jeweils spielen musste ! 169. Oben rechts: Heidy am Strand von Bengasi, um 1938 170. Der Passierschein, den die Polizei für Heidy ausstellte, damit sie unser Grossvater 1938 von Bengasi nach Basel mitnehmen konnte. Heidi: Ich war auch öfters bei Oma und Opa in der Schweiz, weil ich anscheinend allergisch auf die Hitze in Bengasi reagierte. Ich durfte immer zwischen Oma und Opa im „Gräbli“ schlafen, und in der Nacht streichelte ich anscheinend liebevoll Opas Gesicht und sagte: „Ooopapa“. Zurück in Bengasi liess sich unser Vater zum zweiten Mal einen Bart wachsen, damit ich ihn in der Nacht wie Opapa streicheln sollte. 136 171. Oben: Unsere Grosseltern auf Besuch in Derna. Stehend, von links nach rechts: Opa, Oma, zia Tittina, zio Manfredo, ein unbekannter Offizier. Sitzend, von links nach rechts: Manfredos Sohn Sandro, Pinuccia, Sandro „svizzero“. 172. Rechts: Manfredo Bocola (zio Manfredo), der ältere Bruder unseres Vaters. Manfredo war seinen Brüdern nach Libyen gefolgt und arbeite dort im Dienst der Regierung als Veterinär. Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel Sandro: Während der letzten Jahre in Bengasi verkehrten wir viel mit der Familie Manfredos, des Bruders unseres Vaters, der als Veterinär der Armee in Derna, einer nahegelegenen Ortschaft, wohnte. Unsere Basler Grosseltern kamen uns auch besuchen. Da unsere Mutter während dieser Zeit nicht wirklich ansprechbar war und sich vollständig hinter ihrer Trauer verbarrikadiert hatte, suchte und fand ich die mir fehlende affektive Wärme bei meiner väterlichen Grossmutter, der Nonna Maria. 173. Links: Antonio Bocola (zio Toto), der jüngste Bruder unseres Vaters. Toto war seinem Bruder nach Libyen gefolgt und bebaute dort, in Derna, das Farmland seines Bruders und sein eigenes. 174. Rechte Seite: Nonna Maria mit Sandro, wahrscheinlich vor Vaters Tod aufgenommen 1936 - 1939 137 138 Beginn eines neuen Lebensabschnittes im Haus Bachlettenstrasse 60 in Basel 175. Heidy und Sandro auf dem Balkon der Bachlettenstrasse 60, um 1939. Erste Jahre in Basel Sandro: Ursprünglich hatte sich unsere Mutter vorgenommen, Ende 1939 Libyen zu verlassen und nach Italien, eventuell nach Udine, zu ziehen, wo noch einige früher mit uns befreundete Familien wohnten. Doch als mein Zustand von weiteren Ärzten, die meine Mutter zugezogen hatte, als aussichtslos erklärt wurde, entschloss sie sich, schon Anfang des Jahres zurück in die Schweiz zu reisen. Damit begann für uns alle ein neuer Lebensabschnitt. Wir trafen im Frühjahr 1939 in Basel ein und wohnten im Haus unserer Grosseltern, ein schmales, dreistöckiges Gebäude an der Bachlettenstrasse 60, dessen obere Fenster einen weiten, unverbauten Blick auf die vielen Bäume und die parkähnliche Anlage des gegenüberliegenden Zoologischen Garten frei gaben. Im Rücken des Hauses führte eine Türe in einen kleinen, verwilderten Garten. Im Parterre wohnten Tante Hanny, die jüngere Schwester unserer Mutter, mit ihrem Mann, Onkel Ernst; wir wohnten bei den Grosseltern im ersten und zweiten Stock. Im dritten Stock befanden sich vier Mansarden, die von Male, unserer Haushalthilfe, und zwei Mietern, Fräulein Völlmy, eine alte Jungfer, und Herr Reichel, ein alter, mittelloser Geiger, bewohnt wurden, während die letzte als Gästezimmer diente. Kurz nach unserer Ankunft klärte mich unser Grossvater über Vaters Tod auf. Ich erinnere mich nur noch, wie ich darauf, in Tränen aufgelöst, auf ihn losging und mit Fäusten auf ihn einschlug. Seine Mitteilung muss mein Selbstbild und mein psychisches Gleichgewicht schwer erschüttert haben. Die prägenden Erfahrungen der letzten Jahre - das plötzliche Verschwinden des Vaters, die kränkende Empfindung , von ihm verlassen worden zu sein, hatten ihre bisherige Bedeutung verloren und erschienen plötzlich in einem neuen Licht. Die durch den Grossvater verbürgte Lösung des bisherigen Rätsels und das nun gesicherte Wissen über den wirklichen Absturz meines Helden hätte vielleicht eine rationale Verarbeitung meiner Erfahrungen und einen Wandel meines Selbstverständnisses einleiten können. Doch kaum gewonnen, wurde die neu erworbene Klarheit durch das irrealistische Verhalten meiner Mutter getrübt. Dank der anthroposophischen Lehren Rudolf Steiners war es ihr schon in Bengasi gelungen, den Tod ihres Mannes bis zu einem gewissen Grad zu verFortsetzung S.140 175a. Aussicht aus einem Mansardenfenster der Bachlettenstrasse 60 auf den Zoologischen Garten, 2009. Fotos 175a und 176 Mike Gosteli. 176. Rechte Seite: Das Haus Bachlettenstrasse in seinem heutigen Zustand. Nach dem Tod unserer Grossmutter erbten ihre Enkel das Haus. Heidy und ihr Ehemann, Louis Lambelet, zahlten ihre Miterben aus und übernahmen das Haus. Sie liessen einen zweiten Balkon einfügen und belebten die Fassada durch eine wunderschöne Glycinie. Später liess Heidy auch im Innern Vieles verändern. 139 140 Spiritistische Sitzungen um Willy Bocola 1939 - 1941 141 180. Rechte Seite: Das von Rudolf Steiner entworfene Goetheanum in Dornach bei Basel. Der Sitz der anthroposophischen Bewegung, von Westen aufgenommem (Bagradian, de.Wikipedia GNU-FDL). 177. Rechts: Willy Bocola in seiner Galauniform. 178. Unten: Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie. leugnen, indem sie mit einem spiritistischen Medium verkehrte, das ihr Grüsse und Botschaften des Verstorbenen überbrachte. Basel bot ihr nun durch das nahe gelegene Dornach, dem Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft, weit mehr Gelegenheiten, sich in diese esotherische Gedankenwelt zu vertiefen. Ein weibliches Medium überbrachte uns bei regelmässigen Besuchen immer wieder Nachrichten und Mitteilungen meines Vaters, die zum Teil auch direkt an mich gerichtet waren. Untenstehend Auszüge aus dem Protokoll einer Sitzung: 179. Friedrich Nietzscher Sein berühmtes Werk, Also sprach Zarathustra, war eines der Lieblingsbücher unserer Mutter. Andachtsstunde am 11. Februar 1940 in St. Gallen (Alwin, Marty B., Emmy) Emmy nimmt den Führer von Willy auf: Zum erstenmal trete ich, der Führer Deines Gatten zu Dir und halte Deine Hände in den Meinen. Bei Dir steht Dein Dual. Seine Liebe schwingt von ihm durch mich hindurch so stark zu Dir hin! (...) Die Schwester, deren Körper mir als Werkzeug dient, hat heute Nachmittag schon die Schwingung aufgenommen und Dir mitgeteilt, so dass mir nur bleibt, dies zu bestätigen: Der höher entwickelte Geist ist nicht gebunden mehr an irdische Sprache. Um nun die Verbindung, die Kundgebung leichter zu gestalten, formen wir Führergeister seine Schwingungen um in das Werkzeug der Sprache. Dennoch ist ihm freigestellt, auch in seiner irdischen Sprache Dir einiges zu sagen: (...) Willy: Marty! - Cara mia! --- È la gioia, l`amore. Dammi la forza! (...) lasciami parlare come ti ho parlato sempre, senza che mi trovi così bene perché non va come ho parlato d`abitudine, lo so bene. (Frage) Felice? Sono contento, lavoro ma è und lavoro che non ti posso spiegare così bene. (...) è diventato molto più chiaro intorno di me. Il dolore che mi aveva strazziato non è più. (Frage: Perché non me lo fai comprendere?) Io ti faccio sentire. Ma il contatto è fatto da te a me ma non cammina ancora bene. Senti - sarà il nostro lavoro in tempi che verranno, che tu ogni lunedì ... jeden ersten Montag im aufsteigenden Mond sollst Du abends Dich mit mir verbinden. Ma ogni giorno, cara, non è possibile, non sarebbe possibile per me di essere sempre vicino di te. (...) Io vedo la luce proprio splendida che vi è intorno. Talvolta mi è permesso di fare uno sguardo più lontano. Non lo vedo chiaro quel lontano, ma so che ci viene preparato un futuro, un essere insieme. (...) Emmy sieht: Ich sehe wiederum den Raum ganz im Licht. Er steht im Licht, ich sehe seine Geistgestalt hell und licht. Nun wendet er sich noch einmal zurück, sein Blick gilt Dir, Marty. - Er ist schon weit weg. - Dort entschwindet er. Ich sehe nichts mehr. (T10) Sandro: Nachdem ich endlich seinen realen Tod erfahren hatte, wurde ich nun plötzlich mit seiner allgegenwärtigen Seele konfrontiert und konnte seiner geistigen Präsenz nicht mehr entfliehen. Sandro: Zu nebenstehendem Protokoll: Ich erinnere mich derart vage an diese Sitzungen, dass ich oft nicht sicher war, ob sie je stattgefunden hatten. Glücklicherweise fand meine Schwester bei den Recherchen zu diesem Buch das Protokoll einer solchen Sitzunge, die 1940 (ich war damals neun Jahre alt) in St.Gallen stattgefunden hatte. Die genaue Abschrift des ganzen Protokolls, aus dem wir hier nur wenige Sätze zitieren, findet sich im Anhang. Ganz offensichtlich hatte der Geist unseres verstorbenen Vaters seiner Witwe nichts Wesentliches mitzuteilen und antwortete auf ihre Fragen nur mit ausweichenden Floskeln. 142 Die Basler Grossfamilie 1939-1947 181. Linke Seite, und 182. oben: Unsere Mutter, ein Jahr nach Vaters Tod, mit ihren Kindern. 143 Sandro: Man kann auf diesen, an unterschiedlichen Tagen aufgenommenen Fotos, am Gesichtsausdruck unserer Mutter erkennen, in welch ausserordentlichen Ausmass sie sich in ihr Leid zurückgezogen, ja, in ihrer Trauer verbarrikadiert hatte. 144 Die Basler Grossfamilie 183. Porträt von Heidy Bocola, das als Titelblatt der Coop Zeitschrift No. X vom XY verwendet wurde. 184. Rechte Seite: Sandro Bocola vor der Haustür der Familie Burlet, um 1937 1939-1947 145 Die Basler Grossfamilie 146 186. Links: Opa und Oma mit ihren drei Töchtern und Ernst Burlet, Hannys Ehemann 185. Ganz oben: Lisy Scheitlin, die ältere Schwester unserer Mutter. Sie heiratete Donald Scheitlin, einen Elektrotechniker, mit dem sie einen Sohn, Ruedi, hatte. Donald starb schon wenige Jahre nach seiner Hochzeit an einem Herzversagen. Aus einem Brief von Oskar Schär an seinen Freund F.Finger, 1946: Wie Du weisst, bin ich seit 44 Jahren glücklich verheiratet, habe 3 Töchter und 6 Enkel, wovon 5 bei mir in meinem Hause wohnen. Leider sind 2 Schwiegersöhne in jungem Alter verstorben. Der eine, ein berühmter italienischer Fliegerakrobat und Hauptmann, verunglückte vor 10 Jahren in Tripolis, der andere erlag vor 3 Jahren einem plötzlichen Herzkrampf. 187. Oben: Die Hochzeit von Hanny, der jüngeren Schwester, mit Ernst Burlet. Heidy und Sandro als eher unglückliche „Brautjungfern“. Ernst Burlet war Chemiker bei der Hoffman LaRoche. Er starb 1949 an einer Blutvergiftung, die er sich bei seiner Arbeit zugezogen hatte. Er war der letzte der früh verstorbenen Schwiegersöhne unseres Grosvaters. Auch keiner der Brüder unseres Vaters, weder Manfredo noch Toto, erreichten das vierzigste Altersjahr. 188. Rechts: Sandro und Heidy mit Oma und Opa an der Bachlettenstrasse. 1939-1947 147 148 Die Basler Grossfamilie 1939-1947 Heidy: Unsere wundervolle Kinderfrau und Omi-Hilfe Male erleichterte und verschönerte unser Kinderdasein jeden Tag. Males eine Gesichtshälfte war durch einen Schlaganfall, den sie als Kind erlitten hatte, ganz „schief“. Doch wir sahen das gar nicht, sie war der liebste Mensch und liebte Sandro und mich innig. Sandro: Da ich bei meiner Ankunft kaum Deutsch sprach, hatte mich meine Mutter in eine einfache, von vielen ausländischen Kindern besuchte Privatschule eingeschrieben, deren Leiterin und einzige Lehrkraft, Frau Degen, ihre in vier Altersgruppen unterteilten Schüler und Schülerinnen im selben Raum als vier getrennte Primarschulklassen unterrichtete. Ihr liebenswürdiges, ruhiges und verständnisvolles Auftreten verbreitete eine familiäre Atmosphäre, in der sich alle wohlfühlten. Das Schulpensum umfasste nur die für den Übertritt in eine höhere Schule erforderlichen Fächer, sodass ich vom verhassten Turnunterricht befreit war. Obwohl ich ein guter und beliebter Schüler war, hatte ich unter meinen Klassenkameraden keinen engeren Freund. Diese Rolle war Elio Lurati, dem gleichaltrigen Sohn unserer italienischen Waschfrau vorbehalten, der während den folgenden Jahren mein ständiger Begleiter wurde. 189. Linke Seite: Sandro und Heidy mit Male 149 190. Oben: Sandro, Heidy und Ruedi, der Sohn von Tante Lisy, der Schwester der Mutter, mit unserer Haushalthilfe, Male. Um 1935. 190a. Unten: Heidy mit Male. Um 1935. 150 191. Heidy mit Tante Alwine. Die Basler Grossfamilie 1939-1947 Heidy: Die Erinnerungen an meine ersten Jahre beginnen eigentlich erst mit der Uebersiedlung nach Basel ins grosselterliche Haus. Dort wuchsen wir in einer Art Grossfamilie auf, mit einer liebevollen, doch immer irgendwie abwesenden Mama und starken, präsenten Grosseltern . Ich war Opis Lieblingsenkelin und spielte stundenlang unter seinem Schreibtisch, und er liess mich einfach gewähren. Es folgte eine glückliche Kindergartenzeit bei Frau Jaccard an der Birsigstrasse. Später ging ich auch zu Frau Degen in die Primarschule, wo ich nicht so glücklich war, weil es auch Klassenkameradinnen aus reichen Familien gab, und das mit allem zum Ausdruck kam, schöne Kleider, grossartige Einladungen, etc. und wir ja sogenannt nicht reich waren und ich damals die Kultur im Grosselternhaus noch nicht in die Waagschale werfen konnte. Obwohl Sandro und ich der gleichen Familie entstammen, waren mein Aufwachsen und auch meine Beziehung zur Familie und zur Umwelt völlig anders. Ich war oft in der Schweiz bei unseren Grosseltern, es war meine zweite Heimat, und beim Tod unseres Vaters war ich erst zwanzig Monate alt. Die bodenlose Trauer unserer Mutter war für mich nicht so einschneidend wie für Sandro. Mit meinem Namen „Heidy“ wurde ich, meiner späteren Meinung nach, nicht so beschenkt wie mein Bruder mit seinem wunderschönen Namen Alessandro. Als ich mich einmal beklagte, wurde mir gesagt, dass ich auf der Lenzerheide gezeugt worden sei und deshalb der Name «Heidy“ eine schöne Erinnerung bedeute. Damit war ich dann auch ganz zufrieden. 192. Heidy an der Bachletten strasse. Heidy: Während der Rationierung wurden wir jeden Monat vor eine Entscheidung gestellt: „Die Schoggimärggli abgeben, so dass Opi viel Schokolade bekam und wir bezahlte hundert Gramm. Natürlich gaben wir die Marken ab. Sandro hatte seine hundert Gramm ganz schnell gegessen und bettelte mir jeden Monat sicher die Hälfte meiner Ration ab. Mama, Sandro und ich hatten am Anfang ein gemeinsames Schlafzimmer, und Sandro erzählte mir jeden Abend ganz tolle, selbst erfundene Fortsetzungsgeschichten. Als Gegenleistung musste ich mich schlafend stellen, wenn Mama, als Überprüfung, ob wir wirklich schliefen, uns ein Stück Schokolade vor den Mund hielt. Sandro biss natürlich zu, während ich scheinbar schlafend darauf verzichten musste. Ich bewunderte meinen grossen Sandro-Bruder sehr, wurde von ihm aber, besonders wenn er mit seinen Freunden zusammen war, als lästig empfunden. Nur wenn wir allein waren, änderte sich sein Verhalten mir gegenüber, und er war fürsorglich und lieb. Viel später wurde mir klar, dass die Hierarchie der Geschwister das Leben beeinflusst. 192a. Sandro an der Bachlettenstrasse. 193. Anna Schär-Haller, unsere Grossmutter, um 1945 151 152 Die Basler Grossfamilie 1939-1947 153 194. Linke Seite: Heidy und Sandro im Garten der Eltern Burlet Sandro: Heidy und ich waren während der ersten Basler Jahre sehr aufeinander angewiesen und waren viel zussammen. Dabei übernahm Heidy mir gegenüber, der ich leicht depressiv war, oft eine aufmunternde Haltung ein, wie dies im Bild auf der nebenstehenden Seite zum Ausdruck kommt. 196. Rechts: Heidy in Türnen, 1938 Um es ihrem grossen Bruder gleichzutun, erhebt auch sie den Arm zum Faschisten Gruss 195. Oben: Sandro, in seiner Balilla-Uniform, mit Heidy (neben Opa) und den Grosseltern während den Ferien in Türnen, um 1938 Heidy: Türnen war ein Kinderparadies für uns,weil auch Omi und Opi ¨mit dabei waren , ich kein Heimweh haben musste und Opi nicht an seinem Schreibtisch war. Omi konnte auch für Stunden ihr Oberherrschaft abgeben und ganz entspannt und interessiert Zeitung lesen. Sie war eine politisch sehr interessierte Frau, auch allem Musischen zugewandt und ging mit ihren 3 Töchtern schon damals viel ins Theater. Sandro: 1939, bei unserer letzten Ausreise aus Italien ermahnten mich alle männlichen Verwandten, ja nie zu vergessen, dass ich ein Italiener sei. Als Zeichen meiner „Treue zum Vaterland“, trug ich in Türnen mit Stolz die Uniform der „Balillas“, der damaligen faschisctischen Jugendorganisation, der ich in Wirklichkeit nie angehört hatte. So wie ich, übte sich auch meine Schwester Heidy im faschistischen Gruss. 154 Familienferien in Italien 1940-1943 155 197. Linke Seite, oben: 1941 verbrachten wir unsere Ferien, zusammen mit den Familien von Zia Tittina und Meys, am Adriatischen Meer in Pescara Pineta. Von links nach rechts: Sandro, Marisa, seine einstige grosse Liebe, die ihm inzwischen unwiderruflich entwachsen war, Sandro von Manfredo, Heidy, Pinuccia, Willy, Cicillo, und ein unbekanntes Mädchen, vielleicht die ältere Schwester Cicillos. . 199. Marisa, die mit ihrer Familie zur selben Zeit wie wir, in der Pineta von Pescara ihre Ferien verbrachte. 198. Linke Seite, unten: Die jungen Bocolas am Strand von Pescara, 1941 Von links nach rechts : Heidy, Sandro, Sandro svizzero, Pinuccia und Willy. Vorne: Cicillo und seine Schwester. Heidy: Unsere Familienferien in Italien mit allen italienischen Grossmüttern, Müttern, Cousinen, Cousins und Tanten waren so unbeschwert und wunderschön wie etwa Pipi Langstrumpf-Bücher. Die Fotos strahlen das auch jetzt noch aus. Sandro und ich fühlten uns so geborgen, so „italienisch“, und in dem Gewusel waren wir auch kaum mehr überwacht; die sprichwörtliche italienische Liebe zu den Kindern verwöhnte uns gewaltig!!! Wir liebten auch unsere Nonna, die Zie und Zii, einfach die südliche Grossfamilienkultur. Wir wohnten in einem gemieteten Haus, wo natürlich auch gekocht und gegessen wurde. Ich sehe und höre immer noch Nonna Maria, wie sie mit einer weissen Porzellanschüssel und einem Schwingbesen lange umherging und aus Eigelb und Zucker einen grossen Zabaglione hervorzauberte, den wir dann mit kleinen Löffeln essen durften. Sie stand auch jeden Morgen gegen fünf Uhr auf, sass in der Küche und rüstete Gemüse für eine grosse Minestrone. Tittinas Mann, Manfredo, fehlte, denn nach Italiens Kriegseintritt war er in Mogadiscio, Italienisch Somalia, Militär-Veterinär. 156 Religionsunterrischt Sandro und Heidy 1940 - 1942 157 Sandros Religionsunterricht: Sandro: Um seinen Darlegngen Nachdruck zu verschaffen, zeigte mir der Priester immer wieder Bildbände, in denen alle Höllenqualen in ganzseitigen Kupferstichen dargestellt waren: aufgespiesste, brennende oder bei lebendigem Leibe in dampfenden Kochtöpfen schmorende Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die auf anderen Bildern von schrecklichen, grausamen Ungeheuern bedrängt, gequält oder gefressen wurden. Da ich diese Bilder nicht mehr finden kann, zeige ich entsprechende Darstellungen von Hieronymus Bosch und Gustave Dorée. 202. Rechte Seite: Sandro mit Mutter anlässlich seiner ersten Kommunion, und 200. Rechts: Hieronymus Bosch, Die Hölle, Ausschnitt. Museo del Prado. 201. Rechts unten: Gustave Dorée, Illustration für den 3. Salm der Divina Commedia von Dante Alighieri. Sandro: Dies war die Art der Illustrationen, mit denen mir der Priester Angst vor der Hölle einzuimpfen versuchte 203. rechts aussen: Heidy und Sandro bei Heidys erster Kommunion. Sandro: Bei ihrer Heirat war unsere Mutter notgedrungen der katholischen Konfession beigetreten, sodass ich und meine Schwester beide katholisch getauft wurden. Trotzdem hatte man mir den für Katholiken üblichen Religionsunterricht - die Vorbereitung auf die erste Kommunion - bisher erspart. Dies sollte nun in Basel nachgeholt werden. Als Zehnjähriger musste ich jede Woche in die nahegelegene Missione Cattolica Italiana, wo mich ein alter Priester in die Glaubenssätze und Rituale der katholischen Kirche einführte. Er warnte mich vor der Sünde, beschrieb mir Paradies, Fegefeuer und Hölle, und wurde nicht müde, mich vor der Verheimlichung auch der kleinsten Sünden zu warnen, denn „befleckt“, d.h. mit ungebeichteten Sünden die Kommunion zu empfangen und die Hostie einzunehmen, sei ein Sakrileg, für das man mit ewigen Höllenqualen büssen müsste. Woche für Woche gestand ich dieselben Sünden: Flüche, Schimpfworte, Streitigkeiten mit meiner Schwester, Ungehorsam, kleine Diebereien und immer wieder, immer zuletzt, die „atti impuri“, die sogenannten „unreinen Handlungen“. Darauf ermahnte mich der Priester, solches in Zukunft zu unterlassen und erteilte mir Segen und Absolution. Es blieb lediglich noch die immer gleiche Busse zu entrichten - das Beten von zehn Vaterunser und zwanzig Ave Maria und ich war wieder frei. Heidy: Trotz atheistischem Grossvater bestand unsere Mutter darauf, uns zum Religionsunterricht in die Missione Cattolica zu schicken. Ich wurdeda sehr bevorzugt behandelt und den mehrheitlich italienischen Kindern vorgezogen. Doch nach meiner Firmung verbot mir Sandro am Sonntag den Kirchenbesuch in der Missione Cattolica und erklärte mir, dass wir nur der Form halber während dem Glögglilüte (Präsenz Gottes) anwesend sein müssten und nachher guten Gewissens, natürlich ohne das Geld in den Opferstock zu legen, wieder über unsere Zeit verfügen könnten. 158 Das Kinderheim Mümliswil 1940 - 1941 159 Heidy: Sandro und ich wurden in den Schulferien ein- bis zweimal pro Jahr ins Coop-Kinderheim Mümliswil geschickt. Es ging uns dort gut, und wir wurden auch als Grosskinder von Oskar Schär bevorzugt behandelt und sassen bei den Mahlzeiten neben der Leiterin, genannt Tante Marti. In diesem Kinderheim waren auch viele später bekannte Basler Persönlichkeiten. Ich jedoch hatte immer sehr Heimweh, wollte aber meine Mama nicht enttäuschen. So kam ich auf die Idee, Fieber und Angina vorzutäuschen, wurde natürlich zu Dr. Eugen Labhart, einem mit uns befreundeten Arzt geschickt, der jedes Mal meine Finte durchschaute, mich aber stillschweigend als krank erklärte und Mama eröffnete, dass ich nicht ins Kinderheim könne. 204. Oben: Bernhard JaeggiBüttiker (1869 – 1944) Der 1869 geborene Bernhard Jaeggi stand schon als junger Mann in engem Kontakt mit der Bewegung für genossenschaftliche Selbsthilfe um Stephan Gschwind und Prof. Dr. J. Fr. Schär und und trat 1900 als Revisor in den Verband Schweizerischer Konsumvereine V.S.K. ein. Jaeggis Hauptverdienst war es, nach der Aera J.F.Schär den Ausbau des Verbandes Schweizerischer Konsumvereine wesentlich vorangetrieben und gefestigt zu haben. Zwischen 1919 und 1921 gründete Jaeggi die Siedlungsgenossenschaft «Freidorf» bei Muttenz. Sein Traum war eine Art Modellsiedlung genossenschaftlicher Lebensform. Die Siedlung mit Gemeinschaftsräumen bot 150 Familien Wohnungen. Jaeggi nahm Wohnsitz im Freidorf. 207. Oben: Heidy Bocola trägt Bernhard Jaeggi bei dessen Besuch im Kinderheim ein Lied vor. 208. Links: Heidy und Sandro im Kinderheim Mümliswil. Jaeggis 1900 mit Pauline Büttiker geschlossene Ehe blieb kinderlos, doch mit der Gründung des Kinderheims Mümliswil (1937) erfüllte sich das Ehepaar im Alter einen lange gehegten Wunsch. 1929 wurde Jaeggi durch die Universität Basel für seine Leistungen im Dienst der Wirtschaft die Ehrendoktorwürde verliehen. Am 13. April 1944 starb Bernhard Jaeggi in seinem geliebten Freidorf bei Muttenz. 205. Linke Seite, ganz oben: Das Kinderheim Mümliswil. 206. Linke Seite, unten: Der Speisesaal des Kinderheims. Heidy und Sandro sind mit Pfeilen bezeichnet. 160 Sandro Bocolas Lesewut und Eintritt ins Gymnasium 210. Links: Die Art Bücher, die Sandro um 1941 las. 209. Oben: Otti Haller, der Bruder unserer Grossmutter. Sandro: Durch den Tod unseres Mieters war 1941 seine Mansarde frei geworden, sodass ich nun in unserem Haus über ein eigenes Zimmer verfügte, das einen weiten Blick auf den Zoologischen Garten freigab. Die ursprünglich aus der Beziehung zu meinem bewunderten Vater entwickelten Ambitionen und Ideale waren durch seinen Tod und dessen Verleugnung abgespalten worden. Durch den Umzug in das fremde soziale Umfeld Basels hatten sie zudem alle bisherigen, realen Referenzpunkte verloren und einen illusionären Charakter angenommen. So suchte ich meine innere Leere mit der suchtartigen Lektüre von Indianer- und Abenteuerromanen abzuwehren, von denen ich während den Ferien oft eines pro Tag las. Ich lebte in einer imaginären Welt. Meine einzige sichtbare kreative Leistung bestand in den vielen Zeichnungen, in denen ich damals auf grossen Blättern alle möglichen Schlachten unterschiedlichster Gegner darstellte. Meine Lesewut hatte schlimme Folgen. Unser «Erb-Onkel» Otti lud mich für zwei Wochen in seine Villa am Genfersee ein. Mit dem Sackgeld, das er mir aushändigte, erstand ich sechs Bücher von Karl May. Statt mich im Garten zu vergnügen und meine Gastgeber mit kindlichem Charme zu erfreuen, verbrachte ich die ganzen Ferien in meinem Schlafzimmer, wo ich, auf dem Bett liegend, einen nach dem anderen dieser Bände verschlang. Diese Enttäuschung veranlasste Onkel Otti dazu, sein gesamtes Erbe der Familie Burlet zu vermachen. 1940 - 1941 Sandro: Nach dem Abschluss der Primarschule trat ich in das Mathematisch-Naturwissenschaftliche Gymnasium ein, in dem ich mir von Anfang an völlig deplaziert vorkam. Im Gegensatz zur Primarschule, die durch die Beziehungen zu vielen fremdländischen und unkonventionellen Schülern und Schülerinnen geprägt war, musste ich mich jetzt in einer homogenen, nur aus Knaben gebildeten Klasse behaupten, in der ich mich als ausgesprochenen Aussenseiter empfand. Auf Grund meiner Nationalität war ich zudem dauernden Anfeindungen ausgesetzt. 1940 hatte Italien an der Seite Deutschlands den Alliierten den Krieg erklärt, womit sich dieser auf Nordafrika ausdehnte und Libyen zum Hauptschauplatz des Afrikafeldzugs wurde. Anfang 1941 hatten die Briten die gesamte Region erobert, die zwei Monate später durch das Eingreifen des deutschen Afrika-Korps unter General Rommel von den Achsenmächten wieder zurückgewonnen wurde. Nach der Ernennung Montgomerys zum Oberbefehlshaber der alliierten Truppen geriet die Front in dauernde Bewegung. Auf jeden Vorstoss folgte ein Rückzug. Im Januar 1942 stiessen die deutsch-italienischen Truppen erneut bis zur ägyptischen Grenze vor, mussten aber nach der Niederlage von El Alamein im November 1942 ganz Libyen endgültig räumen. Das wechselnde Kriegsglück färbte mein Auftreten in der Schule: entweder verkündete ich triumphierend deutsch-italienische Erfolge, insbesondere die jeweiligen Eroberungen von Bengasi, das immer wieder die Hand wechselte, oder ich musste mir den Spott und Hohn meiner Kameraden anhören, wenn die britischen Truppen wieder die Oberhand gewonnen hatten. Ich weiss nicht mehr, wie sich meine Haltung durch die Kapitulation Italiens veränderte. Wahrscheinlich verlor das Kriegsgeschehen mit dem Ende des Libyen Feldzugs seine bisherige Bedeutung für mein Selbstwertgefühl. Dieses wurde nun immer stärker durch meine schlechten Schulleistungen, die dauernden Vorwürfe und Klagen meiner Mutter und eine durchgehende Desorientiertheit meines Denkens und Fühlens bestimmt. 161 Das Kriegsgeschehen wirkte sich auch auf das Leben unserer Familie in Libyen aus. Während Tittina, Manfredos Frau, mit ihren Kindern nach Italien geflüchtet war, wurde ihr Mann von den Engländern gefangen genommen und bis zum Kriegsende als Veterinär eingesetzt. 211. Unten: Sandro Bocola, um 1941. 211a. Links: Nonna Maria mit ihrem Sohn Toto an einem Strand Libyens, um 1943. Toto, der mit Nonna Maria in Derna geblieben war, wo er seine und unsere Ländereien verwaltete, starb 1944 bei einem Bombardament durch die englische Luftwaffe. 162 Sandro Bocolas Gymnasialzeit 212. Die Klasse 6 B des Mathematisch Naturwissenschaftlichen Gymnasiums, 1942 1941 - 1947 Sandro: In der neuen Schule kam ich mir von Anfang an völlig deplaziert vor. Man sieht es an der träumerischen Abwe- 163 senheit, mit der ich mich von meinen Kameraden abgrenze – ich lebte in einer anderen Welt. 164 213. Paul de Kruifs Männer die den Tod besiegen, 1938. 214. Oben: Ein Roman des amerikanischen Autors Upton Sinclair über die amerikanische Genossenschaftsbewegung. Sandro: Obwohl ich dieses spezifische Buch nicht gelesen hatte, war ich ein begeisterter Befürworter der sozialkritischen Gedanken Upton Sinclairs und entwickelte später selbst den Entwurf eines utopistischen Gesellschaftssystems. Sandro Bocolas Selbstfindung Sandro: Meine erste Selbstfindung. Im Gymnasium zeichnete ich mich durch undiszipliniertes Verhalten, miserable schulische Leistungen und durch ständige Störungen des Unterrichts aus. Unter den Schulkameraden galt ich nichts und wurde nur auf Grund meines zeichnerischen Talents ein wenig bewundert. Dies begann sich erst in der fünften Gymnasialklasse zu ändern. Um diese Zeit wurde im Geschichtsunterricht die Reformation durchgenommen. Um uns den Sinn und die Argumente der damaligen Kontroversen näher zu bringen, hielt uns unser Lehrer Werner Humm während mehreren Stunden dazu an, diese Auseinandersetzungen unter Beteiligung der ganzen Klasse nachzuvollziehen. Die katholischen Schüler mussten dabei die Rolle der Reformatoren, die protestantischen diejenige der Katholiken übernehmen. Ich hatte zwar nach meiner Ankunft in der Schweiz katholischen Religionsunterricht genossen, doch drehte sich dieser ausschliesslich um meine Sünden und um die Verpflichtung, diese jeden Sonntag zu beichten. Mit sonstigen religiösen Fragen hatte ich mich nie beschäftigt und die Existenz von zwei unterschiedlichen christlichen Konfessionen kaum je wahrgenommen. Umso erstaunter und betroffener war ich, als unser Lehrer die sozialgeschichtliche Entwicklung schilderte, die zur Reformation führte, und damit die Dogmen der katholischen Kirche ihres absoluten Geltungsanspruchs beraubte. Als Katholik musste ich in die Haut der Reformatoren schlüpfen und vertrat im Lauf dieses Experiments deren Auffassungen mit zunehmender Begeisterung. Dabei entwickelte ich mich zum unnachgiebigsten Gegner der römischen Kirche und zum eigentlichen Star dieser Streitgespräche. Unter meinen Mitschülern gewann ich plötzlich ein neues Ansehen und schwor mir, fortan keine Autorität mehr ungeprüft anzuerkennen. Mit Erreichung des sechzehnten Altersjahres machte ich von dem damit gewonnenen Recht Gebrauch, aus der katholischen Kirche auszutreten. 1944 - 1946 Einen weiteren Schritt meiner Selbstfindung vollzog ich mit der Entdeckung des Jazz. Meine musikalischen Interessen waren bisher auf die Operetten von Johann Strauss und Franz Léhar beschränkt, die ich als Fünfzehnjähriger in Begleitung meiner Mutter in Aufführungen des Basler Stadttheaters kennen gelernt hatte. Ich wollte selbst Opernsänger werden und hatte mir mit Hilfe von Schallplattenaufnahmen des berühmten Tenors Richard Tauber meine Lieblingsarien aus Léhars „Land des Lächelns“, darunter Taubers grössten Hit, „Dein ist mein ganzes Herz“, soweit einverleibt, dass ich sie fehlerfrei und mit grösstem Aplomb bei jeder Gelegenheit - vor allem dann, wenn ich nach dem Essen das gewaschene Geschirr abzutrocknen hatte - vortrug. Das änderte sich, als mein Onkel Ernst, der in seiner Wohnung in unregelmässigen Abständen Studentenabende zu organisieren pflegte, bei denen jeweils einer der acht bis zehn Teilnehmer über ein bestimmtes, selbst gewähltes Thema einen Vortrag hielt, mich ein Mal dazu einlud, an seiner Veranstaltung teilzunehmen. Der Vortrag jenes Abends galt der Entwicklung des Jazz von seinen Anfängen bis zum Jazz von New Orleans, mit den grossen Blues Sängerinnen, den Orchestern von King Oliver, Fletcher Henderson und Louis Armstrong. Die Schallplatten, die der Vortragende, ein junger Student, zur Veranschaulichung seiner Darlegungen auf einem Grammophon vorführte, änderte schlagartig meine bisherigen Präferenzen und die damit verbundene Vorstellung meiner selbst. Franz Léhars „Land des Lächelns“ entpuppte sich als Edelkitsch, mit dem ich nichts mehr gemein haben wollte. In der triebhaften Kraft und im unbeschreibbaren, durch keine Definition fassbaren Phänomen des „swing“, der besonderen Synkopierung dieser Musik, glaubte ich plötzlich mein eigentliches und wahres, auch Sexualität und Triebhaftigkeit umfassendes Selbst zu erkennen. 165 216. Ernst Burlet, der Ehemann von Tante Hanny. Heidy: Onkel Ernst war ein liebevoller, präsenter Vater für seine Familie, sportlich, auch streng und sehr aktiv. Ich durfte unter seinen Fittichen in den Old Boys Schwimmclub eintreten, wo ich die Jüngste war und oft mit den Grossen im Eglisee auf dem Affenfelsen dabei sein durfte. An den Trainigstagen kam ich relativ spät nach Hause und war sehr stolz darauf. Er baute in unserem Keller eine Sauna ein und benutzte sie jede Woche mit seinen Freunden, anschliessend jassten sie und tranken Bier. Etwa sechs Monate nach der Besprechung der Reformation erklärte uns derselbe Lehrer, in welcher Weise viele der uns vertrauten und bisher nie hinterfragten Utensilien, wie z.B. ein ledernes Schüleretui, von schlecht bezahlten Arbeitern Tag für Tag mit den immer gleichen Handgriffen am Fliessband hergestellt wurden, und konfrontierte uns damit nicht nur mit den ökonomischen, sozialen und psychischen Bedingungen geisttötender, ungelernter Fabrikarbeit, sondern mit einer sozialen Wirklichkeit, die ich - analog zu den früher erörterten religiösen Fragen - bisher noch nie wahrgenommen hatte. Für meine bisherige Lektüre – die Abenteuerromane von Karl May, Zane Gray und Emilio Salgari, - hatte ich nun jedes Interesse verloren; stattdessen las ich mit Begeisterung Paul de Kruifs Männer, die den Tod besiegen, eine Sammlung von Aufsätzen über die Entdeckungen von Pasteur, Semmelweis, Röntgen oder das Ehepaar Curie; Remarques Im Westen nichts Neues, die sozialkritischen Romane von Upton Sinclair und Ernst Haeckels Welträtsel. 215. Rechte Seite unten: King Oliver and his Creole Jazz Band, 1923. (www.britannica.com) 216a. Rolf Dreyfus, ein Freund aus der MNG-Klasse, in die man mich zurückversetzt hatte. Er teilte meine Liebe zum Jazz und wir trafen uns jeden Mittwoch Nachmittag, um gemeinsam, Jazzplatten anzuhören. 166 Sandro Bocolas Selbstfindung 1944 - 1946 167 217. Rechts: Piet Mondrian, Rhythmus aus schwarzen Linien, 1935/42, Öl auf Leinwand, 68,9x71cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. 219. Katalog der Ausstellung Vincent van Gogh, 1947, in der Kunsthalle Basel Sandro: Im Herbst desselben Jahres erfuhr meine neu gefundene Begeisterung für die sogenannte moderne Kunst durch eine Ausstellung Vincent VanGoghs eine wesentliche und entscheidende Erweiterung. Auch diesmal war es Georg Schmidt, der mir mit einer Führung durch die wiederum in der Kunsthalle Basel gezeigten Ausstellung die Augen für die geistige Haltung Van Goghs und für die Kühnheit und Bedeutung des von ihm vollzogenen Entwicklungsschrittes öffnete, indem er die einzigartige Verbindung von farbig-formaler, bildnerischer Strenge und leidenschaftlicher, expressiver Intensität seiner Werke zur Lebensgeschichte des Künstlers in Beziehung setzte und den kunstgeschichtlichen Bedingungen seiner Zeit gegenüberstellte. 218. Georg Schmidt, 18961965, Direktor des Basler Kunstmuseums. Foto Maria Netter, Basel. Sandro: Der im Geschichtsunterricht durch Werner Humm eingeleitete Prozess der religiösen und sozialgeschichtlichen Aufklärung hatte mit Georg Schmidts Vortrag über Mondrians Umwertung aller bildnerischen Werte seine ästhetische Entsprechung gefunden. Die Kriterien dessen, was schön sei, hatten einen fundamentalen Wandel erfahren. Ich sah wiederum die Welt - diesmal die Welt der Kunst - mit neuen Augen. Sandro: Während meines letzten Schuljahres, das ich, da zurückversetzt, in einer neuen Klasse absolvierte, lernte ich zum ersten Mal moderne Kunst kennen. Meine Grossmutter besuchte regelmässig die grossartigen Vorlesungen, in denen Georg Schmidt, der damalige Direktor des Basler Kunstmuseums, das Wesen und die Enwicklung der modernen Kunst sowohl den Schülern der Gewerbeschule als auch einem breiten, kunstinteressierten Publikum näher zu bringen versuchte. Im Februar 1947 veranstaltete er für seine Hörer eine Führung durch die eben eröffnete Ausstellung Piet Mondrians in der Basler Kunsthalle, zu der mich meine Grosssmutter mitnahm. Ich war von der Ausstellung und von Schmidts Vortrag, in dem er die künstlerische Entwicklung Mondrians von seinen ersten symbolistischen und gegenständlichen Darstellungen zu den zunehmend abstrakten Gestaltungen seiner kubistischen Bilder bis zur totalen Gegenstandslosigkeit seines reifen Werkes - der sogenannten „Neuen Gestaltung“ - verfolgte und erläuterte, restlos hingerissen. Unter dem Eindruck dieser Ausstellung begann ich alsbald, auf grossen weissen Kartonbogen meine eigenen «Mondrians» zu malen, die ich in die Schulklasse mitnahm und die dort an der Wand aufgehängt wurden. Ich sah in seinem Leben und seinem Werk eine überhöhte Entsprechung zu meinem eigenen Liebesbedürfnis und meinen eigenen Sehnsüchten und Hoffnungen, die künstlerische Gestaltung eines Selbstund Weltbildes, mit dem ich mich vorbehaltlos identifizieren konnte. Ich hatte über die Kunst eine neue Identität, die Grundlage meiner zukünftigen Entwicklung, gefunden. 220. Links: Unsere Grossmutter Sandro: Sie wurde durch die Vorlesungen von Georg Schmidt zu einer begeisterten Anhängerin der modernen Kunst. Sie nahm mich oft ins Museum oder in bestimmte Ausstellungen mit, um mich mit der neuen Kunst vertraut zu machen. Heidy: Die Kunstvorlesungen von Georg Schmidt, wo Omi und Mama immer zu Fuss hingingen, um das Tramgeld zu sparen, waren Tradition, und ich wurde als Zehn- bis Zwölfjährige mitgenommen, langweilte mich jedoch und schlief oft im Vortragssaal des Kunstmuseums ein. 168 Sandro Bocolas Ausweisung aus dem Gymnasium 1947 169 223. Links: Umschlag der Schülerzeitung Nase 221. Oben: Die Klasse 6b des MNG, aus der ich 1946 in die 5b zurückversetzt wurde 222. Dr. R. Buchner, während meiner Zeit Rektor des MNG Sandro: In der Schule war ich (1946) inzwischen auf Grund meiner ungenügenden Leistungen zurückversetzt worden. Statt die Gelegenheit zu nutzen, bei diesem zweiten Durchgang des Lehrstoffs das bisher Verpasste nachzuholen und mir die noch fehlenden Kenntnisse anzueignen, hatte ich jeden Versuch, in der Schule mitzuhalten, aufgegeben und trachtete lediglich danach, mich durch ungewöhnliche Auftritte, undiszipliniertes Verhalten und jede Art von Bubenstreichen hervorzutun, um aus dem erdrückenden und für mich beschämernden Alltag des Schulbetriebs auszubrechen. Der gravierendste und folgenschwerste Verstoss dieser Art (gegen die Schulordnung) bestand in der Herausgabe der Nase, einer kleinen, durch Anzeigen finanzierten Schülerzeitung, die ich zusammen mit einem Klassenkameraden redigiert hatte und in verschiedenen Schulhäusern gratis verteilte. Nach Auffassung des Rektors, der mich schon am folgenden Tag auf sein Büro zitierte, hätte ich mein Projekt der Schulleitung vorlegen und um eine Bewilligung nachsuchen müssen, die ich angesichts des Inhalts meines Blattes nie erhalten hätte. Mein letztes Vergehen, bei dem ich vor einem Schulzimmer einen Explosionskörper entzündete, führte schliesslich zum Ausschluss aus dem MNG. Die Versuche meines Grossvaters und Onkel Ernsts, das drohende Unheil abzuwenden, konnten lediglich erreichen, dass ich noch das laufende Schuljahr abschliessen durfte, um darauf „freiwillig“ aus dem Gymnasium auszutreten. Mein Grossvater sollte diesen Austritt nicht mehr erleben, denn er starb im Mai 1947 an seinem langjährigen Krebsleiden. Sandro: Den grössten Anstoss erregte die Nase mit meinem Artikel Über das Verhältnis zwischen Knaben und Mädchen, in dem ich für die Koedukation in der Schule und eine liberalere Auffassung der Beziehungen zwischen Jugendlichen eintrat. Meine Forderungen waren äusserst bescheidene wie zum Beispiel: „Es ist falsch, dass Eltern erschrocken sind, wenn ihre 16-jährige Tochter mit einem Jüngling ins Kino geht, oder wenn sie durchs Fenster sehen, wie dieser ihre Tochter vor dem Hause küsst. Deshalb ist das Mädchen noch lange nicht verdorben. Im Gegenteil, von einer solche Freundschaft profitiert sie bestimmt mehr, als wenn sie ihre Mutter um Aufklärung über bestimmte Probleme bitten würde und diese ihr ausweichen oder sie mit nichtssagenden Erklärungen abspeisen würde.“ Doch trotz der Naivität und Harmlosigkeit meines Artikels bezeichnete ihn der aufgebrachte Rektor mir gegenüber als „schmutziges, pornographisches Elaborat“, das strengste Strafmassnahmen zur Folge haben werde. Aus dem Brief des Rektors an die Eltern der Herausgeber der Nase: Ihre Söhne haben es unternommen eine Schülerzeitung heraus zu geben und haben damit die Schuldisziplin in gröblichster Weise verletzt. Sie haben ihr schmutziges Elaborat den Schülern eigenmächtig verteilt. Wie zu erwarten war, haben zahlreiche Eltern bei Herrn Rektor Dr. Langbein Protest erhoben, dass ihren Kindern derartige Schundliteratur in der Schule ausgehändigt würde. Wir werden aber von diesem Disziplinarverstoss - der nun insbesondere bei Bocola das Mass vollmacht - die Inspektion in Kenntnis setzen und sie ersuchen, die Schulausweisung in Erwägung zu ziehen. (T11 und T12) 224. Oskar Schär um 1947. Sandro: Sowohl unser Grossvater als auch Onkel Ernst setzten sich gegenüber dem Rektor des MNG, Dr. Buchner, vergeblich für mich ein. 170 Heidy Bocola und die Grossfamilie 225. Rechts: Die Apotheke des V.S.K. an der Ahornstrasse in Basel. 1940-1947 Sette e mezzo, eine Art Poker. Oder dann das Französischkränzli von Omi am Mittwoch. Oder der Geiger Reischl, der Hauskonzerte gab. Auch die anthroposophischen Vorträge und Zusammenkünfte bei uns zu Hause fanden wir spannend und doch auch fremdartig. Unvergesslich sind die Sonntagnachmittage, wenn Omi Bricelets machte. Das ganze Haus duftete nach Vanilleteig und wir durften die abgebrochenen Ränder des hauchdünnen Briceletgebäcks behalten. Die Apotheke wurde von unserer Tante Lisy Scheitlin-Schär geleitet; auch unsere Mutter arbeitete dort. Opi praesidierte in seiner würdigen Art immer die Tischrunde, Omi rannte zwischen Küche und Esszimmer hin und her und Sandro und ich sollten nach dem Essen beim Abwaschen helfen. Sandro verzog sich aber immer auf die Toilette und kam erst wieder raus, wenn natürlich alles schon abgetrocknet war. Jeden Sonntag kochte Omi Kalbfleischkügeli an weisser Sauce mit Kartoffelstock, und Opi bekam so lange ich mich erinnern kann, immer das gleiche Menü: dreimal Kalbfleischplätzli, einmal Beefsteak Tartar und einmal Fondue. In die Sauce der Kalbfleischplätzli durften wir unser Brot tunken, vom Beefsteak Tartar bekamen wir die Garnitur, Gürkli und Tomaten, und vom Fondue durften wir die Fäden angeln. Dazu gab es für Opi immer zwei Flaschen Bier und eine Flasche Rotwein; letztere nahm er dann mit an seinen Schreibtisch, wo er bis in die Nacht arbeitete. Für den Rest der Familie gab es oft Rösti und Milchkaffe. Ich war aber vollkommen zufrieden und glücklich. Vielleicht oder sehr wahrscheinlich weil ich mir auch oft (mit gestohlenem Geld), bei unserem Metzger, der ja Omi bediente, einen Klöpfer und eine Salzgurke kaufte. Herr Holderegger (so hiess der Metzger) hat mich nie verraten, was ich im Nachhinein als ausserordentlich und grossartig empfinde. Heidy: Mama liebte ihre Ahornapotheke mit Tante Lisy, doch sie war auch oft müde von der Doppelbelastung, Apotheke und Sandro und mich und unseren Hund Lumpi, der immer zwischen Apotheke und Bachlettenstrasse hin und her pendelte. Sandro und ich waren auch oft in der Apotheke,wir liebten das Hinterzimmer, in dem sich immer alle Mitarbeitenden versammelten, den Geruch der Medikamente und die Vielfalt der Waren. Später haben wir uns natürlich auch ab und zu selbst bedient - d.h.gestohlen ! 227. Rechts: Ein Brief, den Heidy aus den Ferien an Opa schrieb, um 1943 Heidy in einem Brief an unsere Mutter (inkl. allen ortographischen Fehlern): Liebe Mutter wir haben nicht gehendelt, und haben keinen krach gemach. Und ich danke dir fil fil mal für die Defelein wo du mir gegeben hast. Fiele grüsse an Mamma von deinem lieben und kleines II Klass Mädche das Heidi Bocola heist und die Aufgaben macht. 226. Oben: Tante Lisy und unsere Mutter, um 1945 171 Heidy: Ich glaube, dass ich – zu meinem Glück – in der Familie viel weniger beachtet wurde, als mein sehr fordernder und unberechenbarer Bruder Sandro. Ich wollte auch lieb sein, um Mama glücklicher zu machen. Nach der DegenPrimarschule kam ich mühelos ins Mädchengymnasium und lebte eigentlich frei und sehr unabhängig. Wenn ich wild mit unserem Cousin Ruedi Scheitlin und Sandro mitspielen durfte, war ich immer sehr glücklich und stolz. Sandro wuchs der Familie einfach etwas über den Kopf, und ich bemühte mich deshalb „lieb“ zu sein, weil Mama ja auch oft müde von der Arbeit in der Ahorn-Apotheke heimkam. Für mein Gefühl hatten wir ein wundervolles Leben im Bachlettenhaus, eine Grossfamilie und so viele unterschiedliche Einflüsse. Mit unseren Freunden Barblan spielten wir an Sonntagen stundenlang 228. Heidy um 1943 228a. Lumpi, der Hund unserer Mutter. Heidy: Für mich war Opi der geduldigste Grossvater, den man sich vorstellen kann. Er arbeitete ruhig weiter während dem ich stundenlang unter seinem Schreibtisch spielte. Er war für uns Kinder der gütige, grosszügige Patriarch, den wir liebten und vor dem wir gleichzeitig immer grossen Respekt hatten. Ich glaube, dass ich dank Opi meinen Vater wenig vermisste. Heidy: Als wir dem Kinderheim Mümliswil entwachsen waren,wurden wir in den Ferien in die damals bekannte Rudinkolonie geschickt.Auch in der Rudinkolonie hatte ich immer Heimweh,und so schreibe ich in meinen Briefen immer wie lieb ich sein möchte, vielleicht aus dem Gefühl heraus, ich würde zur Strafe weggeschickt, oder ich würde unsere Mutter zu sehr belasten. 172 Heidy Bocola und die Grossfamilie 229. Rechts:Zwei Seiten eines Briefes von Heidy an Opi und Omi und an unsere Mutter, Mai 1946. 1940-1947 Heidy: Opas Krankheit. Als Opi so um 1945 krank wurde und einen künstlichen Darmausgang bekam, wurde ich seine kleine Krankenschwester, die seine Blechschale entfernte, entsorgte, auswusch und seinen künstlichen Darmausgang bedeckte. Es hiess dann :“Opi het wieder e Explosion gha.“ Ich spürte wie Opi mir sehr dankbar war und meine Hilfe auch annehmen konnte. Ich weiss noch heute, dass es mir erstaunlicherweise überhaupt nichts ausgemacht hat. Im Mai 1947 starb Opi, den ich bis zum Schluss gepflegt hatte, und Tante Biba (eine reiche Freundin des Hauses) organisierte die grosse Beerdigung. Ich wurde schwarz eingekleidet und bekam ein Portemonnaie mit Einfranken- und Fünfzigrappenstücken; ich musste die vielen Blumen und Kränze entgegennehmen und den Ausläufern einen Franken Trinkgeld geben. Doch nach einer Weile fand ich, dass fünfzig Rappen auch genug seien und behielt den Rest für mich und hatte dann auch jahrelang deswegen ein schlechtes Gewissen!!! Nach Males Fortgang und Opis Tod und auch bald darauffolgenden Tod von Onkel Ernst wurde Vieles anders in der Bachletten, und es begann eine eher schwierige Zeit für mich, bis ich dann Loulou kennen lernte. Doch davon in einem andern Band. Oskar Schär in einem Brief an seinen Freund F.Finger, 22. 10. 1946: Plötzlich entdeckte man einen Mastdarmkrebs, der nicht zu operieren war. Man hat nun durch eine Operation einen Anus praeter geschaffen und den Krebs unschädlich gemacht. Doch leide ich seither unter der Willkür meiner beiden Därme, die machen, was und wann sie wollen, so dass ich selten mit Sicherheit über meine Zeit verfügen kann. 173 232. Oben: unsere langjährige Haushalthilfe Male 231. Todes Anzeige Opa 230. Oben: Heidy, um 1946 Heidy: Omi hat mich als Mädchen in Allem bestärkt, mutig zu sein, zu kämpfen, Ideale zu vefolgen und mich nie unterkriegen zu lassen. In den vielen, oft fast gewalttätigen Kämpfen, die Sandro und ich miteinander austrugen, hat sie manchmal zugeschaut ohn einzugreifen, mich aber mit Zurufen wie „Hopp Heidy“ gestärkt, nicht aufzugeben. Sie überwachte auch mein Klavierüben, sass neben mir und zählte mit dem Metronom die Takte! Noch heute habe ich das „eine, zweie“ im Ohr. Heidy: Die Bachlettenstrasse war ein Frauenhaus ,und ich bin mit dem Zauberwort von Omi und Mama aufgewachsen:“lönd mir das Mädeli in Rueh,das Mädeli isch scho rächt“. Diese kraftvolle Unterstützung, die später natürlich von mir an Michelle und jetzt an Armelle weitergegeben wurde, war und ist sicher ein Schlüssel zu meiner Lebenskraft. Omi war eigentlich die heimliche Herrscherin, die Königin, in der Bachlettenstrasse, und Mama war froh, dass sie nicht so viel Verantwortung übernehmen musste; Opi, die graue Eminenz im Hintergrund, die eben viel am Schreibtisch sass, hatte aber dann doch manchmal das Schlusswort. Dem Treiben seiner Frauen mit ihren Geheimzirkeln und Schwärmereien sah er gelassen zu; daran teilgenommen hätte er aber nie und nimmer. Heidy: Sandro und ich haben beschlossen, unsere Erinnerungen in dieser Familiengeschichte bis ungefähr zu Opis Tod aufzuschreiben. Ich spüre noch jetzt die Trauer um Males Fortgang. Bei meiner Firmung 1944 war Male, als ich von der Kirche nach Hause kam, “verschwunden“. Wieder einmal hatte unsere Familie beschlossen, Komplikationen, Wut und Unverständnis zu vermeiden und Males Fortgehen listigerweise so zu legen, dass ich nicht zu Hause war und abgelenkt wurde durch das Fest und die Geschenke meiner Firmung. Ich war todunglücklich und habe nur noch geweint; ich konnte mich über nichts mehr freuen, und irgendwie ging für mich die Kinderzeit da zu Ende. 174 233. Eine Broschüre zur Erinnerung an Oskar Schär, mit Beiträgen von Ernst Burlet, Emil Schmidlin, Eugen Dietschi u.a. 234. Werner Kellerhals, 100 Jahre Coop Schweiz, 18901990. Diese Schlagzeile steht für viel mehr als für die immerhin beachtliche Tatsache, dass der Verband schweiz. Konsumvereine (V.S.K.) sich im Lauf von hundert Jahren zur heutigen Coop Schweiz entwickelt hat. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein grosses Kapitel schweizerischer Wirtschaftsgeschichte, sondern auch ein Teil der Geschichte unserer Familie, der Lebensgeschichte unseres Urgrossvaters und unseres Grossvaters, die mit grossem persönlichem Einsatz einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet haben. (Vgl. Kellerhals, 1990, S.15.) Tod von Oskar Schär 1947 236. Oskar Schär, um 1945 Ernst Burlet: Der liebe Verstorbene - Dr. Oskar Schär Haller - hat mich als Schwiegersohn mit der Aufgabe beehrt, mit der Bekanntgabe einiger von ihm niedergelegten Gedanken die heutige Trauerfeier zu eröffnen. Hören wir einige letzte Notizen des Verstorbenen: Oskar Schär: «Wenn ich sterbe, habe ich mein Tagewerk erfüllt und mein Leben nach bestem Willen und besten Kräften zugunsten meiner lieben Familie und der Allgemeinheit, insbesondere der minderbemittelten Bevölkerung, ausgenützt. Ein Grund zu übermässiger Trauer für meine Angehörigen liegt nicht vor, und ich wünsche denn auch nicht, dass nach meinem Tode Trauer getragen wird. Wenn einem ein Verwandter in jugendlichem oder mittlerem Alter wegstirbt, ohne dass er sich auswirken und für seine Familie sorgen konnte, wie meine Brüder Otto und Arnold und meine Schwiegersöhne Donald Scheitlin und Willy Bocola, ist die Trauer berechtigt und angezeigt. Wenn jemand jedoch ein so hohes Alter erreicht wie ich und sein Pensum mehr als erfüllt hat, muss man danken und nicht klagen. Ich war mein ganzes Leben lang ein «Eigener›, vielleicht auch etwas ein «Tröchni». Ich war, abgesehen von meinem Mitleid mit den materiell benachteiligten Volksgenossen und dem daraus entspringenden humanen Denken und Wirken, stets nur durch Erwägungen der Vernunft geleitet. Ich habe nie einer anderen menschlichen oder übermenschlichen Autorität, die mit meiner Vernunft nicht übereinstimmte, mich gebeugt, selbst nicht in der Politik, wo ich parteiliche Entscheidungen, die meiner Überzeugung widersprachen, nie befolgte, wohl aber - durch Erfahrungen gewitzigt - mich dem Grundsatz des kleineren Übels unterwarf. Ich war jedoch nie Fanatiker. Ganz speziell bin ich nie ein Gläubiger gewesen, weder als Christ, Mohammedaner oder Buddhist, Anthroposoph usw. Ich fühlte mich über jedes religiöse Bekenntnis erhaben, habe jedoch jedem gegenüber, der sich aus Überzeugung oder Bedürfnis zum biblischen oder einem anderen Glauben bekannte, Toleranz geübt. Diese Toleranz beanspruche ich aber auch mir gegenüber. Wenn ich im Leben bewusst ohne Kirche und Pfarrer ausgekommen bin, lehne ich auch bei der Bestattung geistlichen Beistand ab.« Aus einem Text von Emil Schmidlin, in „In Memoriam Karl Oskar Schär“: Nicht ohne einen letzten kurzen Gruss seiner alten Freunde vom Schweizerischen Odd Fellows-Bunde soll dieser Mann von uns scheiden. (...) Dem Kampfe für Wahrheit und Wahrhaftigkeit galt das ganze Schaffen und Wirken des Verstorbenen. Jedem hohlen Scheine war er abhold. Wenn es zu kämpfen galt für Recht und Gerechtigkeit, gegen Unrecht, Lüge und Verdrehung, so war Oskar Schär ein gefürchteter Fechter, der sich nicht scheute, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, unbekümmert darum, ob er sich dadurch beliebt oder verhasst machte. Oft genug war Undank sein Lohn. Aber diese Unerschrockenheit, die Geradlinigkeit seines Wesens, das in grundsätzlichen Dingen keine Kompromisse kannte, musste schliesslich jedem, selbst seinem Gegner, Hochachtung abringen. Hut ab vor Männern, die nicht buhlen um die Gunst der Grossen und nicht suchen den Beifall einer urteilslosen Menge, sondern treu und fest zu ihrer Überzeugung stehen, komme, was da wolle. Emil Schmidlin (T6) 235. Anna Schär-Haller mit ihrem Ehegatten, um 1945 Sandro: Unsere Grossmutter, eine wunderbare, aufgeschlossene, aufrichtige und herzensgute Frau, deren Liebe und Fürsorge eine der grundlegenden Voraussetzung für die Leistungen und das Auftreten des gefeierten Oskar Schär bildeten. Heidy: Omi war es auch, die für den musischen Teil unserer Erziehung und dafür besorgt war, dass viele interessante Gäste in der Bachletten ein und ausgingen. 175 Sandro: Erst durch die Arbeit an diesem Buch ist mir bewusst geworden, in welchem Ausmass mein Grossvater mein Selbstbild bestimt hat. Ich erinnere mich kaum an nähere Kontakte, an persönliche Gespräche mit ihm. Er wirkte auf mich durch die Gegenwart und Aussstrahlung seiner Person, durch seine Integrität, die Treue zu sich selbst, die in seinem Auftreten und in jeder seiner Äusserungen schon damals auch für mich spürbar war. Er strebte nicht nach persönlichem Gewinn, sondern setzte sich während seines ganzen Lebens für seine Familie und die Allgemeinheit ein. Als geistiges Vorbild setzte er Massstäbe, denen ich mich in meinem so anders gearteten Leben, obwohl ich ihnen nur mangelhaft zu genügen vermag, bis heute verpflichtet fühle. Heidy: Opi habe ich einfach vorbehaltlos geliebt, auch jetzt in diesen Monaten der Wiederbegegnung möchte ich ihn einfach streicheln und nochmals sagen OOOOpapa und danken. 176 Epilog Epilog Nachdem wir unsere Familiengeschichte bis zum Tod unseres Grossvaters dargestellt hatten, wurde uns klar, dass wir den Bericht über das Lebenswerk von Johann Friedrich Schär und Oskar Schär nicht abschliessen können, ohne uns zu fragen, welche Bedeutung ihre Arbeit und die Genossenschaftsbewegung für unsere Zeit, für die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage hat. Wir waren eben daran, uns mit dieser Frage auseinander zu setzen und damit das letzte Kapitel unseres Buches in Angriff zu nehmen, als das Magazin No.45 des Tages Anzeigers unter dem Titel Die Alternative – Eine Hymne auf eine urschweizerische Institution einen Artikel von Hans Kissling veröffentlichte, der unter anderem auch unsere Frage auf umfassende und kompetente Art beantwortete. Durch das Entgegenkommen von Finn Canonica, dem Chefredaktor des Magazins, für das wir uns sehr herzlich bedanken, sind wir glücklicherweise in der Lage, als Hommage an das Lebenswerk der beiden „grossen“ Schärs, die für unser Anliegen relevanten Stellen dieses Artikels zu zitieren. Die Herausgeber Dr. Hans Kissling Ist Nationalökonom. Er leitete lange Jahre das Statistische Amt des Kantons Zürich. Sein Buch Reichtum ohne Leistung – die Feudalisierung der Schweiz ist letztes Jahr erschienen. Auszüge aus dem Artikel von Hans Kissling: Zwanzig Jahre nachdem das Planwirtschaftssystem des ehemaligen Ostblocks Schiffbruch erlitten hat, ist letztes Jahr nun auch die kapitalistische Marktwirtschaft des Westens in eine tiefe Krise geraten. Verschiedentlich ist deshalb die Forderung nach einer Systemänderung erhoben worden. Es stellt sich somit die Frage: Gibt es überhaupt eine Alternative zum System der kapitalistischen Marktwirtschaft? Die heutige Marktwirtschaft ist kapitalistisch, weil in ihr private Kapitalgesellschaften vorherrschen. Im Rahmen einer marktwirtschafthchen Ordnung muss das aber nicht zwingend so sein, denn es gibt eine Alternative. Sie heisst Marktwirtschaft in Kombination mit Gemeineigentum, wie zum Beispiel genossenschaftliches Eigentum. Genossenschaften sind im Besitz der durch die Unternehmenstätigkeit Betroffenen: Arbeitnehmer, Konsumenten und Lieferanten. Entsprechend geht es genossenschaftlich organisierten Unternehmen nicht um einen möglichst hohen Gewinn, sondern um eine gemeinsame Selbsthilfe zur Förderung der Mitglieder. Genossenschaftskapital ist deshalb soziales Kapital. Hätten wir heute die Kombination von Markt und sozialem Kapital, so hätte es kein Marktversagen gegeben, da in einem solchen System die Anreize zur Entwicklung von «Gier» fehlen, die den privatwirtschaftlich organisierten Kapitalismus mit den bekannten Folgen kennzeichnen. (...) Ein Blick in die Statistik der International Cooperative Alliance 2008 zeigt, dass die Schweiz in Sachen Genossenschaften an der Weltspitze rangiert. So ist Migros das zweit- und Coop das drittgrösste Detailhandelsunternehmen der Welt mit der Unternehmensform Genossenschaft. Auch in den Bereichen Versicherung und Banken belegt die Schweiz mit der Mobiliar und der Raiffeisenbank Spitzenplätze. Heute gibt es in der Schweiz rund 13 000 genossenschaftliche Betriebe mit rund 130 000 Beschäftigten. Davon sind rund 5300 landwirtschaftliche Genossenschaften. 430 sind im industriellen Sektor und 1900 im Dienst- 177 leistungssektor tätig. 1700 sind Wohnbaugenossenschaften. Sie verwalten fünf Prozent des gesamten Bestandes der Schweiz. Rund zwei Drittel der Schweizer Haushalte sind Mitglied beziehungsweise Mitbesitzer von Coop und/oder Migros. Während die Zahl der Genossenschaften - vor allem wegen Fusionen - in den letzten Jahren abgenommen hat, haben einige Genossenschaften, wie Coop 2,5 Millionen, Migros 2 Millionen und die Raiffeisenbank 1,5 Millionen Mitglieder, Tendenz steigend. (...) Am Beispiel von Migros und Coop kann man die gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Vorteile sehen, die genossenschaftlich organisierte Unternehmen bewirken. Beide Unternehmen zeichnen sich durch überdurchschnittliche Sozialleistungen für die Beschäftigten aus, und in beiden Unternehmen sind Arbeitnehmende im Verwaltungsrat vertreten. Zudem sind beide um umweltgerechtes Handeln und faire Einkaufsbedingungen für Drittweltprodukte bemüht. Bei internationalen Wettbewerben in Bezug auf den Umgang mit der Umwelt erhalten sie regelmässig höchste Auszeichnungen. Auch in Sachen gesunde Ernährung erbringen die beiden Grossverteiler Pionierleistungen. Kein anderes Detailhandelsunternehmen hat biologische Produkte mehr gefördert als Coop. Weltweit einmalig ist der Beitrag von Migros im kulturellen Bereich: Die Firma wendet ein Prozent des Umsatzes als «Kulturprozent» auf, aus dem kulturelle Projekte finanziert werden. Vor der Initiative der Juso, die das Verhältnis des höchsten zum tiefsten Lohn auf 12:1 beschränken will, müssen die Manager von Coop und Migros keine Angst haben; sie bewegen sich seit Langem innerhalb dieses Rahmens. Die beiden Unternehmen bilden auch im grossen Stil Lehrlinge aus, je 3000. Die Discounter Aldi und Lidl, deren Besitzer zu den reichsten Personen in Europa zählen, bieten hier nichts Vergleichbares. Weil von Genossenschaften keine Dividenden an Vermögende ausgeschüttet werden und keine Lohnexzesse bei Managern vorkommen, wirkt ein höherer Anteil an Genossenschaften gegen die soziale Ungleichheit. Eine vergleichbare Bedeutung haben die rund 1700 Wohnbaugenossenschaften mit insgesamt rund 165 000 Wohnungen. Sie bieten vor allem in den Städten Tausenden von Menschen eine bezahlbare Wohnung und verhindern, dass die Städte bald nur noch für die Gutverdienenden erschwinglich sind. Im Detailhandel, einer der meistumkämpften Branchen, sind es ausgerechnet die beiden Grossgenossenschaften Migros und Coop, die seit Jahren die beste Performance an den Tag legen. Sie schaffen es, sich gegen die grössten und stärksten Detailhändler der Welt durchzusetzen. Trotz Eintritt von Aldi und Lidl haben bis jetzt weder Migros noch Coop an Marktanteilen verloren. Coop konnte in den letzten Jahren gar noch zulegen. Und Carrefour, eine der grössten Detailhandelsketten der Welt, hat sich vor der starken genossenschaftlichen Konkurrenz in der Schweiz zurückgezogen und seine Läden an Coop verkauft. Die Gründe für die hervorragende Entwicklung der beiden Konsumgenossenschaften liegen auf der Hand. Anders als Aktiengesellschaften müssen sie keine Gewinne an die Aktionäre ausschütten, sondern können diese in die Zukunft ihrer Unternehmen investieren. Das Potenzial an Investitionen und Innovationen macht sie zu Wachstumsmotoren in der Wirtschaft. Ihre Substanz stärkt deren 178 Epilog Handlungsspielraum und macht sie auch unabhängiger gegenüber den Banken. Die Manager müssen sich nicht mit Aktienkurspflege herumschlagen oder gar Übernahmekämpfe führen. Sie können ihre Managementkapazitäten voll für die langfristige Entwicklung des Unternehmens einsetzen. Die 1997 erfolgte Umwandlung der genossenschaftlichen Rentenanstalt in eine Aktiengesellschaft mit dem neuen Namen Swiss Life brachte einen Kulturwandel, und die Swiss Life geriet durch Missmanagement in existenzielle Nöte. Die Aktionäre mussten Wertverluste ihrer Aktien von 85 Prozent hinnehmen, während sich einige Manager massiv bereicherten und ihre Pflichten gegenüber dem Unternehmen vernachlässigten. Die wahren «Helden» der Marktwirtschaft sind denn auch die CEOs der Grossgenossenschaften. Sie erreichen eine hervorragende Performance «ihrer» Unternehmen mit einem Lohn, der ungefähr zehnmal kleiner ist als in Aktiengesellschaften von vergleichbarer Grösse üblich. Dementsprechend hoch ist das Image dieser Genossenschaften in der Bevölkerung. Es scheint, dass die Konsumenten erkannt haben: Gäbe es in der Schweiz weder Migros noch Coop, so hätten wir in diesem Land keine Lebensmittelläden, die den Namen verdienten, sondern lediglich bessere Warenlager nach dem Muster der deutschen Anbieter in der Schweiz. (...) Mit den Raiffeisenbanken und der MigrosBank sind Genossenschaften wichtige Player im Schweizer Bankenwesen, auch im Versicherungswesen mit der Schweizerischen Mobiliar. Aber auch im Industriebereich gibt es Beispiele für erfolgreiche Genossenschaften. Die weltweit operierende Gruppe Mondragän im Baskenland nimmt unter den Industrieunternehmen in Spanien den siebten Platz ein und besitzt Fertigungsstätten in vier Kontinenten. Sie betreibt auch Supermärkte und besitzt eine eigene Bank. Die Rechtsform der Genossenschaft bietet zwar keinen absoluten Schutz vor verfehlter Geschäftspolitik. Das zeigt das zuweilen monopolistische Verhalten der Genossenschaft Fenaco als Zulieferer für die Landwirtschaft oder die letztes Jahr bekannt gewordenen Exzesse mit Helikopter Geschäftsreisen und übertrieben hohen Boni des CEO der Raiffeisenbank. Solche Übertreibungen sind jedoch selten, und die Genossenschaften entwickeln sich in der Regel organisch entlang ihrer selbst verdienten Mittel. Da der Druck fehlt, eine möglichst hohe Rendite zu erzielen, gehen sie weniger Risiken ein. Es ist denn auch augenfällig, dass genossenschaftlich organisierte Unternehmen von der aktuellen Krise viel weniger betroffen sind als Aktiengesellschaften. Dies gilt vor allem auch für die Finanzbranche. Weder die genossenschaftlich organisierten Raiffeisenbanken noch die Migros Bank sind von der Krise in Mitleidenschaft gezogen worden. Im Gegenteil, sie werden geradezu überschwemmt von Geld, das aus den Grossbanken abfloss, und konnten letztes Jahr über 66 000 neue Kunden akquirieren. (...) Mit der zunehmenden Grösse entsteht für Genossenschaften die Gefahr von Kontrolldefiziten. Das lässt sich auch an den beiden Grossgenossenschaften Migros und Coop erkennen. Die Mitglieder werden statt durch die Genossenschafter selber durch Delegierte vertreten, deren hauptsächliche Aufgaben die jährliche Abnahme der Rechnungen und die Bestellung der Verwaltungsräte sind. Die 179 Delegierten haben praktisch keinen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit. Immerhin stellte im März 2009 die Migros die Preisanschreibepflicht der Produkte den Delegierten zur Entscheidung. Das einzelne Mitglied hat in den beiden Grossgenossenschaften aber praktisch keinen Einfluss. Zwar gibt es bei der Migros noch die Institution der Urabstimmung, an der jedes Mitglied teilnehmen kann. Die Migros ist damit wohl das einzige Grossunternehmen der Welt, das seine Jahresrechnung über zwei Millionen Mitgliedern in einer Urabstimmung unterbreitet. Die Urabstimmung beschränkt sich jedoch auf die Abnahme der Rechnung. Dies dürfte der Grund sein, weshalb nur eine verschwindende Minderheit der Genossenschaftsmitglieder jeweils an der jährlichen Urabstimmung teilnimmt. Auch die Besetzung der Gremien können die Mitglieder der beiden Genossenschaften nicht beeinflussen, da die Gremien durch stille Wahlen besetzt werden. Nicht selten schlägt die Geschäftsführung ihre Wunschkandidaten den Wahlgremien vor. Für Grossgenossenschaften wie Migros und Coop, die im harten Konkurrenzkampf stehen, ist ein grösserer Einfluss der Mitglieder natürlich mit Risiken verbunden. Entscheide von Mitgliedern, welche die Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen, könnten für die Unternehmen verheerend sein. Ein erleichterter Zugang der Mitglieder zu den Gremien der Genossenschaft und die Durchführung von Urabstimmungen zu Fragen wie zum Beispiel der Kulturförderung oder des Sponsorings wären aber sicher möglich, ohne die Unternehmen zu gefährden. Ein solche Vorgehen würde sicher auch die Bindung der Mitglieder und der Kundschaft an die Unternehmen stärken. Eine Gesellschaft kann sich mit Recht erst demokratisch nennen, wenn Demokratie sowohl im Bereich der Politik als auch in jenem der Wirtschaft praktiziert wird. Eine Wirtschaft, die von Genossenschaften geprägt ist, wäre ein Schritt in diese Richtung. (...) Nicht mehr privatwirtschaftliches Renditekapital wäre die bestimmende Kraft in der Schweizer Marktwirtschaft, sondern das auf Solidarität und Kooperation beruhende soziale Kapital. Eine Schweiz der Genossenschaften würde ihrem Namen «Schweizerische Eidgenossenschaft» gerecht werden. Wie hat es doch der 92 jährige Kunstmaler und Plastiker Gottfried Honegger kürzlich am Schweizer Fernsehen formuliert: «Ich bin auch heute noch der Überzeugung, dass es eine genossenschaftfiche Schweiz braucht und keine kapitalistische“. Anhang 180 Transkriptionen Dr. Henry Faucherre Johann Friedrich Schär als Genossenschafter. - T1 Anhang Transkriptionen S. 181 Bibliographie S. 203 Bildrechte S. 205 Chronologie S. 206 Register S. 208 Die Herausgeber S. 209 181 Transkriptionen T1 - Dr. Henry Faucherre: Johann Friedrich Schär als Genossenschafter, S.181 T2 - Oskar Schär: Johann Friedrich Schär als Sozialreformer, S.185 T3 - Prof. Dr. Th. Brogle: Johann Friedrich Schär, Begründer der modernen Betriebswirtschaftslehre S.187 T4 - Robert Flatt: Zum 70. Geburtstag von Professor Johann Friedrich Schär, S.188 T5 - Eugen Dietschi, 1947: Nachruf auf Oskar Schär S. 190 T6 - Emil Schmidlin, 1947: In Memoriam Karl Oskar Schär. S.191 T7 - Schär, Oskar, 1929: Brief an Willy Bocola, S.193 T8 - Willy Bocola, 1929: Brief an Oskar Schär, S.194 T9 - Schär, Oskar, 1891: Brief an Joh. Friedrich Schär, S.197 T10 - Schär, Oskar, 1937: Zur Erinnrung an CapitanoPilota Willy Bocola-Schär, S.197 T11 - Andachtsstunde in St. Gallen, S.199 T12 - R.Buchner, MNG: Brief an Marty Bocola, S.201 T13 - R.Buchner, MNG: Brief an Ernst Burlet, S.202 Wenn wir heute des hundertsten Geburtstages von Johann Friedrich Schär gedenken, so geschieht das mit Ehrfurcht, Liebe und Dankbarkeit! Voll Ehrfurcht denken wir an Schärs Leistungen als Wissenschafter; dabei denken wir an ihn als den Schöpfer der modernen Handelsbetriebslehre. Mit Liebe denken wir an den Menschen Schär, der als Lehrer seinen Schülern sein väterliches Herz schenkte und den Weg- und Kampfgenossen im Leben draussen stets die Treue gehalten hat. Und mit Dankbarkeit denken wir heute an Schärs gesegnetes Wirken als Genossenschafter. Schär war für die schweizerische Genossenschaftsbewegung Ideenklärer und Baumeister zugleich. Die nachfolgenden Blätter wollen einen knappen Ueberblick über Schärs genossenschaftliches Wirken geben. Eine geborene Führernatur und mit reichen Gaben des Geistes ausgerüstet, hat Johann Friedrich Schär der genossenschaftlichen Sache in der mannigfaltigsten Weise gedient, als kraftvoller Bekenner und Vertreter ihrer Prinzipien in Wort und Schrift, im politischen Leben und in der Wissenschaft, als gewandter, vielerfahrener Organisator, als unerschütterlicher Kampfgenosse und Rufer im Streite, aber auch als glücklicher Sammler, Binder und Erhalter der Kräfte. Seine besonderen Leistungen liegen in der führenden Mitarbeit bei der Gründung des Verbandes schweiz. Konsumvereine und dessen Leitung als Präsident von 1892-1903. Er gab dem Verband die erste grosse Note, den nationalen und den weltwirtschaftlichen Beruf, er gab ihm aber auch die rationalen Normen dieses Berufs, das rechnerische Richtmass des werdenden Grossbetriebes. Er führte die Bewegung aus der engen Sphäre der dürftigen Anfänge heraus und brachte sie über die kleinen Sorgen und Angelegenheiten hinweg in die Richtung der grossen Ziele. Sie nahm mit ihm gewissermassen den vorwärts- und aufwärtsdrängenden Lauf, den er in der Entwicklung seines eigenen Lebens beschrieb: aus der Dürftigkeit durch Auswirkung eigener Kraft zur Fülle, aus den Niederungen zur Höhe, aus der Enge zur Weite. Schär besass genossenschaftliches Erbgut. Er war der älteste Sohn eines genossenschaftlichen Lohnkäsers. „Schon von meinem zweiten Lebensjahr an - schreibt Schär in dem Aufsatz „Mein Werdegang zum Genossenschafter“ - lernte ich die Licht- und Schattenseiten des Genossenschaftswesens aus eigener Anschauung kennen, indem mein Vater von 1848-1864 Angestellter einer Käsereigenossenschaft des Emmentales sein und seiner Familie Brot verdienen musste ... Zuerst ich glaube, ich war damals erst fünf Jahre alt - musste ich beim Buttern nachhelfen. Das Butterfass hatte nur eine einzige Kurbel, doch der Vater wusste sich zu helfen. Er befestigte an dieser Kurbel einen Strick, an dem ich bei jedem Umlauf im wirksamen Moment ziehen musste. Das war meine Arbeit von 5-6 Uhr.“ Schär wurde aber auch durch H. Zschokke im Geiste Pestalozzis genossenschaftlich beeinflusst. Er trat auf den Boden der Genossenschaftsidee mit einem kleinen, bescheidenen, aber innerlich reichen Dorfideal. Mein Vorbild, erklärte er selbst einmal, war der Oswald in Heinrich Zschokkes „Goldmacherdorf“. Als einfacher Schulmeister, der Schär ja auch in seinen jungen Jahren war, wollte er wie jener Held des schweizerischen Genossenschaftsromans zugleich ein Dorfreformator, ein Volkspädagoge, ein Führer zu allem Nützlichen, Guten und Schönen sein. In diesen Grenzen blieb es aber bei Johann Friedrich Schär nicht. Sein Schicksal rief ihn aus den Schranken einer sozialen Dorfidylle heraus und stellte ihn in grössere Wirkungskreise hinein, in denen nicht nur sein Blick sich weitete, sondern auch sein Wille umfassendere Antriebe empfing. Damit rückte auch sein „GoldmacherIdeal“ in grössere soziale Sphären hinein; es wuchs sich zu einem genossenschaftlichen Volks- und Weltideal aus. Nun erkannte er alsbald den wahren „Goldmacherbund“ in der Organisation der Konsumkraft eines Landes auf der Basis der freien Genossenschaft und des Zusammenschlusses der einzelnen Genossenschaften zu einem allgemeinen Landesbunde. An jeder wichtigen Lebensstation hinterlässt Schär Spuren seiner genossenschaftlichen Gesinnung und Tat. Mit 19 Jahren übernimmt er in Wattenwil (Bern) sein erstes Schulamt. Er gründet einen gemeinnützigen Verein, um alle einsichtigen Elemente der Dorfgemeinschaft zu gemeinnützigem geistigem und wirtschaftlichem Tun zusammenzufassen. Im Programm steht auch die Gründung eines Konsumvereins. Wenn sich dieses Projekt vorerst noch nicht verwirklichte, so kann Schär wenigstens der grassierenden Schnapsseuche erfolgreich entgegentreten durch Gründung der ersten Mostereigenossenschaft in jener Gegend. In Bischofszell, als Lehrer der dortigen Sekundarschule, ruft er die erste Käse-Verkaufsgenossenschaft der Schweiz ins Leben (1874), und zwei Jahre später ist er Mitbegründer und Leiter des Konsumvereins Bischofszell. „Da ich gleichzeitig eine Absatzgenossenschaft und eine Transkriptionen 182 Konsumgenossenschaft leitete, hatte ich Gelegenheit,die beiden Arten der Vereinigung zur Selbsthilfe zu vergleichen. Als Ergebnis meiner diesbezüglichen Erfahrungen kann ich hinstellen, dass besonders nach der sozialen Seite hin die Konsumgenossenschaft weit über der Absatzgenossenschaft steht. Die eine kommt der grossen Masse des Volkes zugute, die andere dagegen nur einer kleinen Zahl von Produzenten, die durch ihre Organisation, durch Ausschaltung des Grosshandelsgewinnes für ihre Produkte einen etwas höheren Preis erzielen. Ich wendete daher von dieser Zeit an mein ganzes Interesse der Organisation der breiten Volksschichten in Konsumgenossenschaften zu, von der Ueberzeugung geleitet, dadurch an einem gemeinnützigen und sozialen Werke zu arbeiten.“ Zur vollen Entfaltung seiner genossenschaftlichen Tätigkeit führt die Berufung Schärs als Lehrer der Handelswissenschaften (1882) an die neu gegründete Handelsabteilung der Oberen Realschule in Basel. Seit 1884 entwickelte Schär eine überaus fruchtbringende Tätigkeit als Behördenmitglied des A.C.V. beider Basel, und 1890 war er Mitbegründer des V.S.K., seit 1892 Präsident desselben bis zum Jahre 1903, als Johann Friedrich Schär nach Zürich übersiedelte, um an der Universität Zürich sein Lehramt als Professor der Handelswissenschaften anzutreten. Die Doppelstellung Schärs als Handelslehrer in Basel und Professor der Handelswissenschaften an der Universität in Zürich einerseits und als führender Theoretiker und Praktiker des Genossenschaftswesens anderseits führte begreiflicherweise zu einem Dilemma, das, wenn auch unter Schmerzen, gelöst werden musste. Lassen wir Schär wiederum selbst reden: „Offen und geheim, in Ratsälen und in der Presse machte man mir die Betätigung im Genossenschaftswesen zum Vorwurf. Im Kreise der Krämer und Spezierer galt ich nicht als Handelslehrer, sondern wurde vielmehr als Handelsvernichter gescholten. Mehr als alle meine Gegner vielleicht ahnen können, habe ich seinerzeit unter diesem Dilemma gelitten, bis ich mich zu der Ueberzeugung durchgerungen hatte, dass sich diese beiden scheinbar widersprechenden Seiten meiner Tätigkeit ganz gut vereinigen lassen; dass ich ein wahrer Handelslehrer und ein guter Genossenschafter gleichzeitig sein könne. Unter sozialem Handel, dessen Begriff ich zuerst in die Literatur eingeführt habe, verstehe ich jede Art von Handelsgewerbe, Industrie, Geldund Kreditverkehr inbegriffen, das lediglich im Interesse des Staats- oder Gemeindehaushaltes oder Konsumgenossenschaften betrieben wird. Auch der soziale Handel muss, wie der private Handel, von Kaufleuten geleitet werden; aber die ausführenden Kaufleute sind nicht Unternehmer, sondern Angestellte (Treuhänder) der Gesellschaft, des Staates, der Gemeinden oder der freien Genossenschaften ... Wie niemand an sich selbst verdienen oder gewinnen kann, so ist auch im sozialen Handel das Gewinnprinzip vollständig ausgeschaltet. Der Grundgedanke des sozialen Handels ist nicht, Reichtum zu Handen der Unternehmer oder Kapitalisten anzuhäufen, sondern Reichtum zu Handen der Gesamtheit zu erzeugen und die Wohlfahrt des Ganzen zu begründen und zu fördern. Ich habe eben den Handel von einer höheren Warte aus aufgefasst. Nicht nur muss der soziale Handel als ein notwen- diges Glied in den Handelsbegriff einbezogen werden, sondern auch die Unternehmer des privaten Handels müssen sich bewusst werden, dass sie nur dann existenzberechtigt und existenzfähig sind, wenn sie sich als nützliches Glied dem Organismus der Volkswirtschaft ein- und unterordnen. Der echte Kaufmann muss ein Diener der Volkswirtschaft werden, dessen Gehalt in einer Tantieme des Nutzens besteht, den er leistet ... Unter der Herrschaft der Konkurrenz, der Grossbetriebe, unter dem Einfluss des sozialen Handels hat auch der private Handel der Neuzeit sich neu orientieren müssen, so dass für ihn die Definition gilt: der Handel ist der nach Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit organisierte Güteraustausch zwischen den Endgliedern der Wirtschaft. Dass diese Aufgabe des Handels, insbesondere in dem Umfange der Versorgung der Massen mit den notwendigen Bedarfsgütern, vom sozialen Handel am besten gelöst wird, bedarf keines besonderen Beweises, da der soziale Handel nach dem Prinzip der Selbstkosten unter Ausschaltung des Unternehmergewinnes ist.“ In seinem genossenschaftlichen Aufbau geht Schär vom lokalen Konsumverein aus, als dem wirtschaftlichen Zusammenschluss der Schwachen. „Jeder einzelne Konsumverein ist das Produkt, eine Manifestation des Solidaritätsgefühls.“ Im Zeitalter der kapitalkräftigen Aktiengesellschaften ist jedoch die Individual-Organisation eines Ortes überholt ... „ Die einzelnen Konsumvereine sind zu schwach, sie müssen einen starken Rückhalt suchen und ihn finden in einer Gesamtorganisation.“ Sein Ziel mit allen seinen sozialen und wirtschaftlichen Perspektiven steckte Schär dem V.S.K., und laut und deutlich sprach er aus: Transkriptionen „Wir erachten die Wirksamkeit eines lokalen Konsumvereins als eine gemeinnützige und die Bestrebungen des Verbandes zudem noch als eine nationale. Seine Aufgabe gipfelt in der Begründung und Förderung der nationalen Wohlfahrt.“ Ging er so den Weg vom Lokalen zum Nationalen, so behielt er doch stets die örtliche Grundbasis der Organisation als Kernpunkt im Auge. Es ist das Gesetz des genossenschaftlichen Föderalismus, betonte er in seiner Churer Präsidialrede, „dass die lebendige Kraft des Verbandes nicht von einem oder einigen wenigen Punkten aus in die Glieder strömt, sondern dass sie in allen Verbandsvereinen eine Urquelle haben muss. Lokale Selbstorganisation ist die Grundbedingung des Gedeihens des Ganzen.“ Freilich ebenso bestimmt forderte er den Ausbau der grossbetrieblichen Formen und ihre Anpassung an die Gesetze der fortschreitenden ökonomischen und sozialen Entwicklung. Wie er für sein ganzes Vaterland in Hinsicht auf dessen Stellung im Organismus der Weltwirtschaft und sein Verhältnis zu den Grossmächten „die Steigerung der Leistungsfähigkeit der ganzen Nation“ verlangte und auf die Erhöhung der „wirtschaftlichen Wehrkraft“ drang, so wies er den Genossenschaften und ihrem Verbande die Aufgabe zu, unaufhörlich an der Verbesserung ihres „Rüstzeuges“ zu arbeiten, ihre Wehrkraft „aufs beste zu organisieren“. Als ein besonders wirksames Rüstzeug zur Stärkung und zur Erhöhung der Stosskraft der Bewegung hat Schär immer die Kapitalansammlung betrachtet. In ihr erblickt er das „Geheimnis der Blüte und Kraft der Genossenschaften und ihrer Verbände“. In parolenmässiger Zuspitzung hat er oft darauf hingewiesen: „Hundert Millionen Franken“ 183 - rief er z.B. an der Glarner Delegiertenversammlung 1901 aus – „hundert Millionen Spargelder liegen in den schweizerischen Sparkassen angelegt. Sie stammen zum guten Teil aus den Kreisen des Arbeiterstandes. Welch grosse Werke der genossenschaftlichen Organisation liessen sich ins Leben rufen, wenn auch nur ein kleiner Bruchteil hier fruchtbringend angelegt würde! Darum: äufnet die Fonds der Vereine und des Verbandes durch Anlage Eurer Spargelder. Zum Blühen der Genossenschaft gehört nicht nur die Organisation des Konsums, sondern auch die Einlage von Kapital!“ In seinen „Thesen über die Bedeutung, Organisation und Gründung von Konsumvereinen“ (1894) umschreibt Schär in klaren Sätzen die Aufgaben der lokalen Konsumvereine und ihres Verbandes: 1. Die soziale Frage der Gegenwart besteht im wesentlichen aus den zwei Teilfragen: a) Was erhält der Arbeiter für sein Arbeitsprodukt? (Lohnfrage.) b) Was erhält der Konsument für sein Geld? (Konsumfrage.) 2. Die sozialen Reformbestrebungen, welche dahin zielen, das Los der unteren Stände zu bessern und den Enterbten im Volke Hilfe zu bringen, erstrecken sich daher auf zwei verschiedene Gebiete: die Losung heisst: Dem Arbeiter sein volles, ungeschmälertes Arbeitsprodukt; dem Konsumenten für sein Geld das volle, ungeschmälerte Konsumationsgut!“ Im Jahre 1903 definierte Schär als Aufgabe der Konsumgenossenschaften „die Organisation der Konsumenten zu einer Wirtschaftsgemeinschaft“. Unsere Devise heisst daher: „Reichtum erzeugen ist das wirtschaftliche, ihn gerecht verteilen das soziale Problem; beide ihrer Lösung entgegen- zuführen ist die Aufgabe der Organisation der Konsumenten in freien Genossenschaften.“ Schär will nicht nur den Konsumenten organisieren, sondern auch Stadt und Land, Arbeiter und Bauer, genossenschaftlich verbinden. In seiner Rede zur Gründung eines „Schweizerischen Genossenschaftsbundes (1898) führt er u.a. aus: „Wenn in früheren Zeiten der Mangel an Produkten es erklärlich machte, dass nur ein kleiner Bruchteil der Menschen ein sorgloses Dasein fristen konnte, dagegen der grosse Haufe zum Darben verurteilt war, so stehen wir heute vor einer entgegengesetzten Situation: Hunger und Not in grossen Volkskreisen sind heute nicht mehr eine Naturnotwendigkeit, sondern eine Ungerechtigkeit, eine Hemmnis des Fortschritts zu einer höheren Kultur. Der Tisch könnte heute für alle gedeckt werden; es ist wohl ausser Zweifel, dass bei richtiger Verteilung der Güter jeder arbeitswillige und arbeitsfähige Mensch seinen Anteil am Lebensgenuss und Lebensglück erhalten könnte. Wenn nun tatsächlich dieser elementaren Forderung an die Gesellschaft nicht Genüge geleistet werden kann, wenn trotz der arbeitersparenden Maschinen, der Dienstbarmachung der Naturkräfte die Arbeit weder leichter noch lohnender wird, so muss ein Fehler in der Verteilung der Güter vorliegen... Gegen diese ungerechte Verteilung gibt es nur ein Mittel, es ist dies der genossenschaftliche Betrieb, organisiert auf Grundlage des Konsums, die Wirtschaftsgenossenschaft. Die Notlage der Bauern und städtischen Arbeiter hat ganz unzweifelhaft die gleiche Ursache; beide leiden unter der Tatsache, dass ihr Produkt ihnen entrissen wird, dass es in Form von Rente, Zins, Dividende, Gewinn usw. in fremde Hände überge- führt wird. Es ist daher nicht einzusehen, warum diese zwei Klassen nicht zusammenstehen sollten, um mit gemeinsamen Mitteln ihre Lage zu verbessern...“ Im gleichen Jahre (1898) brachte Schär den Gedanken des Zusammengehens von Arbeiter und Bauer in seiner Churer Präsidialrede noch viel pointierter zum Ausdruck. Die entscheidende Stelle lautet: „Unter den verschiedenen Aufgaben, die der schweizerische Genossenschaftsbund zu lösen hat, scheint mir namentlich eine von ganz besonderer Bedeutung zu sein: die Einigung der städtischen mit der ländlichen Bevölkerung, des Arbeiters in der Industrie mit dem Bauer. Was bis jetzt weder einer politischen Partei noch einer Regierung, weder der Presse noch der Schule, weder den Berufsverbänden noch den Interessenvereinigungen gelungen ist, die ländliche und städtische Bevölkerung auszusöhnen und beiden auf höherer Warte ein gemeinsames Ziel zu stecken, das scheint, wenn nicht alle Zeichen trügen, dem schweizerischen Genossenschaftsbund ohne weiteres gelingen zu wollen... Denn in der Tat müssen sich auf dem Boden der organisierten Konsumenten alle Interessen aussöhnen, die auf die Befreiung des Volkes aus ökonomischer Knechtschaft hinzielen. In dem Masse, wie Stadt- und Landbewohner in der Befriedigung ihrer Konsumbedürfnisse von allen Tributpflichten an das Grosskaptial befreit werden, in gleichem Masse wächst auch ihr Anteil am Arbeitsprodukt, ihre Produktionskraft, ihre ökonomische Selbständigkeit. Und da bäuerliche und städtische Arbeiter und Kleinbürger sich in dem gemeinsamen Bestreben zusammenschliessen, ihre Existenzbedingungen zu verbessern, ihre Arbeit Transkriptionen 184 Transkriptionen 185 Oskar Schär Johann Friedrich Schär als Sozialreformer. - T2 einträglicher, ihren Anteil an den Glücksgütern und am zeitlichen Lebensgenuss grösser zu machen, so muss notwendig ein solcher Bund auch eine unüberwindliche Kraft der Selbstentwicklung in sich tragen. Ich sehe die Zeit kommen, wo die bäuerliche Genossenschaft für die städtische, die städtische Genossenschaft für die ländliche Bevölkerung arbeitet und beide direkt ihre Produkte austauschen, es wird auch eine Zeit kommen, wo die Summe der Ersparnisse auf dem Wege eines vorher organisierten Kredits der Gesamtheit der Genossenschaften zugute kommt und diese in den Stand setzt, nicht nur die vom Fortschritt der Technik verlangten Produktionsmittel zu beschaffen, sondern auch die einzelnen Glieder aus der Abhängigkeit vom Grosskapital zu befreien. Und in noch weiterer Entwicklung wird das Ideal vom Frei-Land verwirklicht werden können, wo die letzte Stütze der ökonomischen Knechtschaft, der Abfluss der Grundrente an Bank und Hypothek, fällt und Grund und Boden aus dem Privatbesitz zurückerworben sind von den städtischen und ländlichen Genossenschaften. So kehren wir, allerdings auf einer höheren Kulturstufe, wieder zu jenen Zeiten der alten Markgenossenschaften zurück, wo es keine Heimatlosen und Enterbten, aber auch keine aus dem Schweiss des Volkes lebende Millionäre gab.“ Bei dem hohen Gedankenflug Schärs ist es einleuchtend, dass er auch den internationalen Zusammenschluss der Genossenschaften förderte. „Wir nehmen teil an den internationalen Vereinigungen der Konsumenten“, erklärte er 1900 in Neuenburg. „Wir stehen in freundschaftlichen Beziehungen mit den Führern der Genossenschaftsbestre- bungen anderer Länder; gerne tauschen wir mit ihnen unsere Ideen aus, um von ihnen zu lernen und das Gute, das sich anderswo bewährt hat, auf unsere Verhältnisse anzuwenden. Wohl ist es möglich, dass aus der internationalen Vereinigung sich eine Art internatioalen Austausches der Produkte der verschiedenen Länder entwickelt.“ Noch unzählige weise Mahnungen und Fingerzeige dieser Art sind in den vielen Reden, Schriften und Abhandlungen Schärs enthalten. Klar und ausdrücklich hat er uns die grossen Wirtschaftsprinzipien und die gesunden Verwaltungsgrundsätze vor die Augen gerückt und uns eindrücklich ermahnt, in unverdrossener Arbeit und mit peinlicher Selbstprüfung den Pflichten des Alltags nachzuleben. Selbst viel befehdet und oft verkannt, liess J. Fr. Schär sich nie verbittern, und keine Enttäuschung gewann Gewalt über ihn. Sein Selbstbekenntnis lautet: „Ich bin ein Idealist; ich war es als Jüngling, bin es geblieben als Mann und hoffe, so Gott will, es zu bleiben, bis ich den göttlichen Odem wieder an den Weltenschöpfer als letztes Dankesopfer zurückgebe. Ich glaube an den endlichen Sieg des Wahren, Schönen und Guten in der Welt; ich glaube an einen stetigen Fortschritt des Menschengeschlechts, an den einstigen Triumph der göttlichen Liebe. Noch mehr, ich halte es für Pflicht jedes Menschen, der dafür Befähigung, Kraft und Mut besitzt, an dem Kampf für Wahrheit, Licht und Liebe teilzunehmen, ein Diener der Menschheit zu sein.“ Ein Mann und Führer mit diesem Glauben hat nicht vergeblich gelebt; sein Geist, seine Tat und das Werk sind geblieben. Seine Erben haben die freudige Verpflichtung, es zu verwalten, zu wahren und zu mehren, um eine bessere und freudigere Welt sicherzustellen. Das sei unser Dank an Johann Friedrich Schär. Von der Redaktion des «Schweiz.Konsum-Vereins» wurde ich ersucht, zur 100. Wiederkehr des Geburtstages meines Vaters einen Beitrag einzusenden. Ich komme dieser Aufforderung um so lieber nach, als der Plan, den 1924 erschienenen ersten Teil der Lebenserinnerungen von J. Fr. Schär durch einen zweiten Teil zu ergänzen, sich aus verschiedenen Gründen noch nicht hat verwirklichen lassen. Das Buch «Das Lebenswerk von J. Fr. Schär», von ihm selbst in konzentrierter Form dargestellt und mit einigen Ergänzungen von Zeitgenossen versehen, wird erst später erscheinen. Die Lebenserinnerungen von J. Fr. Schär, die allerdings in den Details mit dem Jahre 1882 aufhören und die spätere Entwicklung nur hie und da andeutungsweise erkennen lassen, sind ein autobiographisches Werk, in dem der Verfasser in absolut ehrlicher und offener Weise seine Entwicklung geschildert hat. Er tat dies in einer Art und Weise, dass kein Dritter das Werk nachahmen oder fortsetzen könnte. Aus den Schilderungen des Verfassers ergibt sich deutlich, dass er neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Kaufmann sich auch intensiv als Staatsbürger fühlte und sich als solcher auch politisch betätigte, und zwar ging sein Bestreben vor allem dahin, die Lage der minderbemittelten Bevölkerung zu verbessern und deren Niveau geistig und materiell zu heben. Er war einer der ersten Sozialreformer und trat für wirtschaftliche Reformen ein zu einer Zeit, als das Manchestertum und der Erwerbskapitalismus das Feld noch weithin beherrschten und ein Angriff auf deren Grundlagen starke Opposition und persönliche Gegnerschaft aus einflussreichen Kreisen hervorrief, denen J. Fr. Schär sich aber mutig aussetzte. Er hatte in den ersten Jahren seiner Basler Wirksamkeit, neben all seinen sonstigen Aufgaben, auch das Studium der damaligen grundlegenden nationalökonomischen Literatur aufgenommen, unter anderem auch das vielbändige Werk Schäffles durchgearbeitet. Am meisten beeinflusste ihn Henry George›s Arbeit «Fortschritt und Armut», das ihn zu einem begeisterten Anhänger der Bodenreform oder besser ausgedrückt der Bodenrechtsreform machte. Wenn er einmal die Ueberzeugung gewonnen hatte, dass durch eine soziale Reform à la longue die Verhältnisse der armen Bevölkerung gebessert werden könnten, und dass sie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch durchführbar sei, so begnügte er sich nicht mit der Erklärung, man sollte eine oder zwei Reformen einführen, sondern setzte sich mit allen seinen Kräften für deren praktische Verwirklichung ein, im Glauben, dass es in der Schweiz mit ihren demokratischen Grundlagen möglich sei, solche Reformen durch Aufklärung und Belehrung des Volkes, gegebenenfalls auch gegen eine mächtige Opposition durchzusetzen. Aus seiner Basler Tätigkeit ist hier neben seinem Wirken für die Konsumgenossenschaft die Gründung der Gesellschaft «Freiland» zu erwähnen, in welcher er die Freunde der Bodenrechtsreform aus Basel und der ganzen Schweiz zusammenführte und eine rege Tätigkeit entfaltete. Theoretisch waren die Postulate der «Freiland»-Bewegung durchaus begrüssenswert; aber nicht alles, was theoretisch richtig ist, ist realisierbar, wenigstens nicht in seiner Totalität. Eine völlige Ueberführung der Grundrente in das Gemeineigentum, welche die «Freiland»-Bewegung postulierte, erwies sich als nicht realisierbar; sie stiess auch auf den Widerstand gerade derjenigen Kreise, der armen Landwirte, die man durch eine Verstaatlichung der Grundrente von immer drückender werdenden Hypothekarzinsen und vor weiterer Bodenverschuldung bewahren wollte. J. Fr. Schär schätzte damals die Hindernisse zu gering ein. Wenn man aber die bald 60 Jahre, die seit der ersten Aktion der «Freiland»-Bewegung verflossen sind, retrospektiv an sich vorüberziehen lässt und die seitherige Entwicklung vergleicht, kommt man zum Ergebnis, dass gerade für die schweizerische Landwirtschaft heute vieles besser wäre, wenn vor einigen Jahrzehnten die von der «Freiland»-Bewegung propagierte Lösung verwirklicht worden wäre. Man braucht nur darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel die landwirtschaftliche Verschuldung heute ein Vielfaches derjenigen von 1890 ausmacht. Die heute von der Landwirtschaft ausgehenden und vom Eidgenössischen Justizdepartement protegierten Bestrebungen, das landwirtschaftlich genutzte Land ausschliesslich den Landwirten zu erhalten und eine weitere Verschuldung zu verunmöglichen, wären damals leichter zu verwirklichen gewesen, als das heute der Fall ist. J. Fr. Schär war eben in seinen Auffassungen über die Gestaltung der schweizerischen Wirtschaft seinen Zeitgenossen um mehrere Jahrzehnte voraus. Als er bei der Basler Regierungsratswahl 1893 durchfiel, äusserte sich ein wohlwollender Vertreter der gegnerischen Richtung: Schär hätte bei seiner Tätigkeit als Regierungsrat die Basler Verhältnisse gesprengt. Neben den Endzielen der Bodenreform vertrat J. Fr. Schär mit seinen Freunden eine grosse Zahl von leichter durchzuführenden Postulaten und warb durch Zeitungsar- tikel, Broschüren, Vorträge und Anträge in den Behörden für deren Verwirklichung. Sie lauteten unter anderem: Vermehrung des öffentlichen Grundbesitzes, - Bau von Arbeiterwohnungen durch den Staat, - Verstaatlichung der Wasserkräfte, - Gründung der Basler Kantonalbank. Damals waren die Finanzierungsmethoden für Wohngenossenschaften noch nicht so erleichtert wie heute. Es ist anzunehmen, dass Schär der staatlichen Bereitstellung von Wohnungen die Unterstützung von Wohngenossenschaften durch den Staat, wie sie besonders die Stadt Zürich vorbildlich gewährt, vorgezogen hätte. Die Vermehrung des öffentlichen Grundbesitzes, die nicht ein der Bodenrechtsreform allein vorbehaltenes Postulat darstellt, ist von den verantwortlichen Behörden, besonders in Basel, nicht im gewünschten Umfang getätigt worden. Im Basler Regierungsrat, der die entscheidende Behörde war, waren zeitweise die kapitalistischen Kräfte noch zu stark vertreten. Wenn man sich überlegt, welche Wertsteigerung grössere private Liegenschaften seither erfahren haben und von den Basler Mietern in Form erhöhter Grundrenten bezahlt werden müssen, so wird einem die Kurzsichtigkeit der damaligen Behörden bewusst. Ganz ohne Wirkung blieb die Aktion «Freiland» nicht. Das grosse Gut Walter-Dürst zum Beispiel wurde vom Regierungsrat erworben zu Fr. 4.25 je Quadratmeter, als er erfuhr, dass ein Konsortium von «Freiland»-Anhängern einen Vorvertrag über die Erwerbung dieses Gutes abgeschlossen hatte. Dem Balser Gemeinwesen sind aus der seitherigen Verwertung dieses grosssen Gutes Millionen von Franken zugeflossen, allerdings auch deshalb, weil die Verwertung durch den Staat nicht nach Transkriptionen 186 Transkriptionen 187 Th. Brogle: J. F. Schär, Begründer der modernen Betriebswirtschaftslehre. - T3 «Freiland»-Grundsätzen erfolgte. Angeregt vom Studium der Bodenrechtsreform ergriff Schär auch die Initiative zur Gründung der Basler Kantonalbank. Auch hier waren viele Widerstände zu überwinden. Während der Periode von 1893 bis 1896, da Schär dem Grossen Rate nicht mehr angehörte, blieb seine Motion in den Schubladen des Regierungsrates liegen. Die Vorberatungen wurden erst mit dem Wiedereintrit Schärs in den Grossen Rat aufgenommen und unter seiner tatkräftigen Mitwirkung zu Ende geführt. Heute ist die Basler Kantonalbank - eine der jüngsten unter den 27 Kantonalbanken - eine der stärksten im Kranze der Schweizer Kantonalbanken. Eine ganz wichtige Angelegenheit, die ebenfalls von der «Freiland»-Bewegung in die Hand genommen wurde, war die Frage der Verwertung der schweizerischen Wasserkräfte, ob dieselben dem Privatkapitalismus überlassen werden oder der Gemeinwirtschaft zugute kommen sollen. 1891 veröffentlichte Schär einen packenden Aufruf an das Schweizervolk, in dem er auf die Gefahren einer privatkapitalistischen und zugleich unsystematischen Ausbeutung der Wasserkräfte hinwies. Kurz darauf reichte die Gesellschaft «Freiland» eine ausführlich motivierte Petition an die Bundesversammlung ein. Die Eingabe blieb ohne direkten Erfolg, da der Bundesrat sich von kapitalistischen Kreisen einen Experten aufschwatzen liess, welcher erklärte, alle Behauptungen in der «Freiland»-Petition seien übertrieben. Statt der prophezeiten Millionen Pferdekräfte könnten mit Sicherheit nur 57 000 Pferdekräfte gewonnen werden. Wegen dieser relativ kleinen Kraftmenge wollte weder der Bundesrat noch die Bundesversammlung gegenüber den Kantonen etwas Ernsthaftes übernehmen. Die Eingabe blieb dann doch nicht ganz erfolglos. Die meisten Kantone und grösseren Städte entnahmen derselben, welchen Wert ihnen ihre Wasserkräfte in Zukunft einbringen konnten. Die meisten Kantone errichteten eigene Wasserkraftwerke oder stellten schützende Bestimmungen auf, wenn sie Konzessionen erteilten, so dass heute in der Schweiz die gemeinwirtschaftliche Ausbeutung der Wasserkräfte überwiegt, während allerdings die in der Eingabe geschilderte Gefahr einer irrationellen Ausbeutung bei 25 verschiedenen Konzessionsmächten in ihrem grossen Schaden für die ganze Schweiz erst heute erkannt wird. Vor kurzem hat ein kapitalistisches WasserkraftAusbeutungs-Unternehmen die Sache so dargestellt, als ob ohne das Eingreifen des Privatkapitals die Verwertung der schweizerischen Wasserkräfte lange nicht so schnell und so rationell erfolgt wäre, als wenn sie allein auf gemeinwirtschaftlicher Basis erfolgt wäre. Diese Mitteilung unterliess aber beizufügen, dass die Bedeutung der Wasserkräfte für unsere schweizerische Wirtschaft nicht zuerst aus ihren Kreisen verkündigt wurde. Mit vorstehender Darstellung sind noch lange nicht alle Probleme erschöpft, mit denen sich J. Fr. Schär als Sozialreformer befasst hat; einer anderen Publikation sind weitere Angaben vorbehalten. Man kann das Wirken eines Menschen auf geistige und auf wirtschaftliche Erfolge hin beurteilen. Unzweifelhaft lebt ein Teil des Gedankengutes von J. Fr. Schär weiter, man braucht nur einen der noch lebenden Schüler dieses gottbegnadeten Lehrers an ihn zu erinnern, so leuchten seine Augen auf, und er bekennt freudig: «Auch ich hatte das Glück, sein Schüler zu sein», von anderen Anhängern seiner beinahe unbegrenzten Aktivität nicht zu reden. Und wer mehr auf wirtschaftliche als auf geistige Erfolge abstellt, wird bei J. Fr. Schär konstatieren, dass jedenfalls in den letzten Jahrzehnten kein anderer Schweizer so viel Erfolge für die Gemeinwirtschaft seines Landes erzielt hat als J. Fr. Schär. Abgesehen von den hauptsächlich durch Preisregulierung sich auswirkenden, nicht messbaren wirtschaftlichen Vorteilen, die den Nutzniessern der zur Hauptsache auf den Gedanken Schärs ruhenden, nicht auf Staats- oder Privatmonopolen begründeten Institutionen: V.S.K. und Basler Kantonalbank, die in freier Konkurrenz mit kapitalistischen Betrieben sich durchsetzen mussten -, zugute kommen, ist in diesen beiden Betrieben ein Betrag von bis jetzt mindestens 100 Millionen Franken, sei es durch Reservenansammlung, sei es durch Abführung an die Gemeinwirtschaft, dem Erwerbskapitalismus entzogen worden. J. Fr. Schär war also nicht nur ein erfolgreicher Theoretiker, sondern seinen Theorien waren auch grosse wirtschaftliche Erfolge beschieden, jedoch, wie von vorneherein beabsichtigt, nur für die Gemeinwirtschaft, nicht für ihn persönlich. Dr. Oskar Schär Als Johann Friedrich Schär im September des Jahres 1924 78jährig im Freidorf bei Basel starb, fand das Lebenswerk dieses seltenen Mannes im In- und Ausland vielseitige Würdigung. Der Schreiber dieser Zeilen selbst hatte damals im Rahmen einer eindrucksvollen Gedenkfeier in Zürich vor vielen Hunderten von namentlich jungen Menschen in begeisterten Worten das Bild dieses Schweizers zu zeichnen versucht. Sein Leben war so sturmbewegt und sein Schaffen und Wirken so vielseitig, dass es gerade der Jugend jener unsichern, gehaltlosen und müden ersten Nachkriegszeit als Vorbild dienen durfte. Wenn es seither um den Namen Schär aber still geworden ist, so will das in der wildbewegten, aufgewühlten und verworrenen Zeit, die uns seit zwei Jahrzehnten nicht mehr zur Besinnung kommen lässt, nicht heissen, dass Schärs Werk nicht gross genug wäre, um sein Leben zu überdauern. Bedurfte es nicht eines besonderen Anlasses, um in den letzten Jahren andere und bedeutendere Namen - ich denke an Carl Spitteler und an Heinrich Pestalozzi - der Oeffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen? So möchte ich denn den 100. Geburtstag dieses Mannes dazu benützen, um festzustellen, dass an die Leistungen Schärs auf wirtschaftspolitischem, wirtschaftserzieherischem und wirtschafts wissenschaftlichem Gebiete gerade heute wieder erinnert werden darf. Das, was er als unermüdlicher Schaffer erstrebte und für das er kämpfte, tritt als geistiges Erbe gerade in dieser Gegenwart so recht deutlich in Erscheinung. Die Volksgemeinschaftsidee, die aus seinem Suchen und Ringen allmählich als wirtschaftliches Glaubensbekenntnis herauswuchs und die ihre Vertreter schon in Männern, wie Jakob Bodmer, Kaspar Hirzel, Isaak Iselin, Johann Kaspar Lavater und Heinrich Pestalozzi, fand, ist heute das sehnsuchtsvolle Hoffen einer zermürbten Menschheit. Die Genossenschaftsbewegung, die ihn zu ihren grossen Pionieren zählen darf, hat ihre stärksten Wurzeln erst in der jüngsten Zeit gefasst. Die Lehre von der Produktivität des Handels, die ihm einst Hohn und Spott eintrug, wird heute von seinen Schülern und von den Schülern seiner Schüler als selbstverständliche Wirtschaftserkenntis fruchtbringend verbreitet. Namentlich aber bleibt der Name Schär für immer verbunden mit der Entwicklung der Beriebswirtschaftslehre, die sich innerhalb vierzig Jahren aus einem rein technischen Fache zu einer nach systematischer Vollkommenheit strebenden Hochschuldisziplin entwickelt hat. Die Schriften Schärs wirkten bahnbrechend, zumal sie aus der Feder des gereiften Mannes flossen, der eigentlich erst mit 60 Jahren - zuerst als Professor an der Universität Zürich, nachher an der Handelshochschule Berlin - seine wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit begann. In diesem Alter aber ist das Weltbild in fachwissenschaftlicher und weltanschaulicher Beziehung abgeschlossen, und die äusserst fruchtbare Forscherarbeit, die Schär während 12 Jahren in Berlin entfaltet, trägt überall das Gepräge des auch in wissenschaftlicher Hinsicht ausgereiften Mannes, der klärend und ordnend in die oft stürmischen fachwissenschaftlichen Debatten eingreift und der manch entscheidendes Wort namentlich in der brennend gewordenen Fage über den Wirtschaftscharakter der von ihm vertretenen jungen Disziplin zu sagen hat. Sein gesundes Schweizertum kommt ihm dabei zustatten, wie überhaupt die Schweiz Schärs geistiger Standort auch dann bleibt, als er seinen akademischen Wirkungskreis in Deutschland, das damals auf der Höhe seiner Macht und Blüte stand, so überaus fruchtbar zu gestalten wusste. Wenn ich - einst der begeisterte und immer dankbare Schüler Schärs - heute, bald auch schon zur älteren Generation der Vertreter der Betriebswirtschaftslehre gehörend, Schärs fachwissenschaftliche Leistung kritisch überprüfe, so vermag ich vieles von dem, was vor 20 Jahren noch mir unantastbares Lehrgut bedeutete, nicht mehr mit Ueberzeugung zu vertreten. Vor allem steht fest, dass den Betriebsgrundsätzen, die die Grundpfeiler seiner Theorie bilden, keine wissenschaftliche Objektivität zukommt. Schär hat seine persönliche, ethisch fundierte Weltanschauung dazu benützt,ein Lehrsystem zu schaffen, in dem der Wirtschafter, vor allem der Kaufmann, als Idealbegriff figuriert und in dem ferner das wirtschaftliche Handeln nicht als ökonomische Erscheinung, sondern als kategorischer Imperativ der Pflicht, als neues Evangelium zur Erreichung des sozialen Ausgleichs seinen Platz erhält. Für eine wissenschaftliche, das heisst von allen praktischen Gesichtspunkten freie Darstellung, wie sie die moderne Betriebswirtschaftslehre sein will, aber verlieren Schärs Argumente an Bedeutung. Auch seine Auffassung, dass die Betriebswirtschaftslehre ein Teilstück der Volkswirtschaftslehre bilde, weil die Volkswirtschaft im Grunde nichts anderes sei als eine potenzierte Betriebswirtschaft (Einzelwirtschaft) und zwischen der Zelle und dem Ganzen daher kein prinzipieller Strukturunterschied vorhanden sein könne, ist überholt und wird heute wohl von niemandem mehr vertreten. Solche kritische Einwände - sie liessen sich noch vermehren - aber vermögen nicht, Schärs Verdienste um die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre irgendwie herabzusetzen. Johann Friedrich Schär bleibt der Begründer der modernen Betriebswirtschaftslehre, weil er es als Erster unternommen hat, aus einem Konglomerat von überlieferten und übernommenen Wissenschaften und Techniken jenen gehaltvollen Rest herauszufinden und auszuscheiden, aus dem seine Nachfolger an den verschiedensten Hochschulen der Welt die Betriebswirtschaftslehre als selbständige Wissenschaft zu stabilisieren vermochten. Was aber Johann Friedrich Schär unserer heutigen Zeit wieder so unendlich nahe bringt, sind nicht so sehr seine Verdienste als wissenschaftlicher Forscher, sondern seine grossartigen Fähigkeiten als akademischer Lehrer. Wer das Glück hatte, zu Schärs Schülern zu gehören, der wird ihn als Lehrer auf dem Katheder nicht vergessen. Da kümmerte er sich oft recht wenig um die Forderung, dass die Wissenschaft keine Ideale kennen dürfe, weil sie frei sein solle von jedem Wertentscheid und jeder ethischen oder wie immer gearteten Tendenz. Da war er der Mensch, der es musterhaft verstand, in seinen Studenten Ideale zu wecken und Ideale zu pflegen und sie anzuspornen, Diener der Volkswirtschaft zu werden. Dafür schulde ich meinem Meister und väterlichen Freund auch in meiner jetzigen Stellung als Universitätslehrer und Direktor der Schweizer Mustermesse tiefen Dank. Ehrungen: Neben den vielen Anfechtungen, die J. Fr. Schär wegen seines Eintretens für die Entwicklung der Konsumvereine und andere Transkriptionen 188 Transkriptionen 189 Robert Flatt J.F. Schär als Lehrer an der Oberen Realschule Basel. - T4 gemeinwirtschaftliche Reformen erleiden musste, durfte er anderseits zahlreiche Ehrungen, die diese Anfechtungen weit überwogen, erfahren. Für uns Konsumgenossenschafter seien speziell die beiden folgenden erwähnt: 1. 1903, beim Rücktritt, übermittelten ihm die damaligen Verbandsvereine als Ehrengabe ein silbernes Tafelbesteck und begleiteten sie mit folgender Urkunde: «Die Konsumvereine der unten verzeichneten Ortschaften statten ihrem allverehrten Verbandspräsidenten Herrn Johann Friedrich Schär von Basel für seine dem Genossenschaftswesen gewidmete langjährige unermüdliche und so überaus segensreiche Arbeit anlässlich seines Rücktrittes den wohlverdienten und tiefgefühlten genossenschaftlichen Dank ab.» 2. 1904, kaum ein Jahr nach der Aufnahme seiner Vorlesungen an der Universität Zürich, wurde ihm von der staatswissenschaftlichen Fakultät der Ehrendoktor verliehen mit folgender Begründung: «Wegen der hervorragenden Verdienste um die Förderung der Handelswissenschaften und um die Entwicklung des Verbandes schweiz. Konsumvereine.» Das Diplom datiert vom 28. Februar 1904 und ist unterschrieben vom Rektor Prof. Dr. Haab; Dekan Prof. Dr. Zürcher; Aktuar Dr. Max Huber. 3. Weniger für seine Verdienste um das Genossenschaftswesen als um die Handelswissenschaften wurden ihm im Sommer 1923, viereinhalb Jahre nach seiner Rückkehr in die Schweiz, von der Wirtschaftlichen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln die Würde und die Rechte eines Doktors der Staatswissenschaften, Doktor rer. pol. honoris causa, verliehen mit folgender Würdigung, die wohl am prägnantesten Schärs Verdienste um die Handelswissenschaften hervorhebt: «…der die Handelswissenschaft zu neuem Leben erweckt und sie während eines halben Jahrhunderts in Lehre und Forschung erfolgreich ausgebaut, der der Handelshochschulpädagogik bedeutsame Anregungen gegeben, der in weitverbreiteten Lehrbüchern dem kaufmännischen Nachwuchs gründliches systematisches Fachwissen vermittelt hat, der seinen Studierenden zugleich ein warmherziger Berater und väterlicher Freund war.» Zum Lehrer der kaufmännischen Unterrichtsfächer dieser «Handelsabteilung» konnte der Berner Johann Friedrich Schär gewonnen werden. Er hat vom Schuljahr 1882/83 bis zum Ende des Schuljahres 1902/03 in der dreiklassigen Handelsabteilung der Oberen Realschule zu Basel eine äusserst fruchtbare Lehrtätigkeit entfaltet & während dieser 21-jährigen Wirksamkeit auch wertvolle Lehr- & Übungsbücher für den handelswissenschaftlichen Unterricht geschaffen wie: Schär: Kaufmännisches Rechnen, Handelskorrespondenz, Aufgaben für die Buchhaltung. Zum Jahresbericht der Realschule Basel für das Schuljahr 1889/90 lieferte J. F. Schär als wissenschaftliche Beilage eine sehr bemerkenswerte Arbeit unter dem Titel: «Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung der Buchhaltung». Darin besprach er nach einer geschichtlichen Einleitung in übersichtlicher Darstellung die Bedeutung der Buchhaltung im Wirtschaftsleben, die Mittel der Buchhaltung, die Verwendung der beiden Kontenreihen & ihre wechselseitigen Beziehungen, die gegenseitigen Konten, die gemischten Konten, die Entwicklung der beiden Kontenreihen, die Zusammensetzung der Kontenergebnisse durch die Schlussbilanz & die Praxis der Buchhaltung in den verschiedenen Variationen der sogenannten italienischen, der amerikanischen, deutschen, französischen, englischen & russischen Buchhaltung. In seinem Unterricht in der I., II. & III. Handelsklasse behandelte er nachstehende Stoffgebiete: A. Kaufmännisches Rechnen. I. Klasse: Im Anschluss an das Rechnen mit ganzen Zahlen, gemeinen & Dezimalbrüchen die Einübung von Abkür- zungsverfahren & Proben, die wichtigsten Münzen, Masse & Gewichte, Anwendungen auf leichtere Warenrechnungen, einfache & zusammengesetzte Proportionen, Kettensatz, Durchschnitts-, Mischungs- & Verteilungsrechnung, Prozentrechnung in ihrer Anwendung auf die im Handel vorkommenden Verhältnisse, reine Zins- & Diskontorechnung, Rechnen mit Nombres. Übungen im Kopfrechnen. II. Klasse: Vollständige Behandlung der Zins-& Diskontorechnung, Terminrechnung, Münzrechnung in ausführlicher Behandlung. Wechselrechnung. Börsenüsancen, einfache & zusammengesetzte Wechselrechnung mit Spesen, leichtere Warenkalkulationen. III. Klasse: Wechselarbitrage, Effektenrechnung mit besonderer Berücksichtigung der Kurse von Basel, Frankfurt, Paris. Zusammengesetzte Warenrechnungen, Kalkulationen. Preisparitäten, feste Zahlen, Kalkulationstabellen. B. Buchhaltung und Kontorarbeiten I. Klasse: Einfache Rechnungsführung, entwickelt an Inventar, Kassabuch, Warenkonto, Warenskontro, Konto-Korrent. Entwicklung der Grundsätze der doppelten Buchhaltung in der einfachen Form (synchronistisches Hauptbuch). - Systematische Buchhaltung, angewandt, auf einen zweimonatlichen fingierten Geschäftsgang nach der italienischen Methode. Kontoarbeiten: Leichtere Briefe, Wechselbordereau, Diskontnota, Wechselformulare, Chèque, Anweisung. Elemente der Wechsellehre, Belehrungen über Handel, Kredit, Kauf. II. Klasse: Deutsche Handelskorrespondenz, 1. Kurs mit Belehrungen aus dem Handelsrecht & der Betriebslehre. 2. Kurs der systematischen Buchhaltung. Schematisches Beispiel zur Repetition des Pensums der 1. Klasse. Durchführung eines zweimonatlichen Geschäftsganges einer Exportfirma nach der Methode der deutschen Buchhaltung (12 Bücher). Theorie der Buchhaltung, Aufstellung von Schlussbilanzen. Ausführliche Behandlung des Bankenkontokorrentwesens nach verschiedenen Methoden & Usancen. III. Klasse: 3. Kurs in Buchhaltung. Theorie der systematischen Buchhaltung, insbesondere die Beschränkung & Ausschaltung der gemischten Konten & der Einkontojournale. Praktische Buchhaltung: Kombination eines Geschäftsganges einer Kollektivgesellschaft mit Import & Export, Gründung dreier Gesellschaften durch Vereinigung von zwei Einzelfirmen, einmonatlicher Geschäftsgang mit eingeflochtenen Beispielen über die schwierigeren Fälle der Buchhaltung nach der französischen Methode mit Arbeitsteilung unter den Schülern & teilweise Ausfertigung der Dokumente, Schlussbilanz & Umwandlung einer Kollektivgesellschaft in eine Aktiengesellschaft. Übrige Kontorarbeiten: Die schwierigeren Fälle des Kontokorrents mit Zinsen, Handelskorrespondenz, kaufmännische Dokumente & Verträge. Kombinierte Kontorarbeiten, insbesondere vollständige Darstellung von Meta-Rechnungen im Warenhandel, Bank- & Börsengschäft. C. Handelslehre. II.Klasse: Einzelbilder aus der Volkswirtschaft mit besonderer Rücksicht auf schweizerische Verhältnisse. Verbindung dieser Bilder zu einem Kurs über die Elemente der Volkswirtschaftslehre: Wirtschaft, Erwerbslehre, Abhängigkeit des Menschen im Erwerben & Geniessen, Gliederung der Gesellschaft & ihre Organisation zum Erwerb; das Prinzip der Volkswirtschaft, Bedürfnis, Gut, Wert, Preis. Die Produktion: Natur, Arbeit, Kapital, Güterverteilung. Aus der speziellen Handelslehre: Geld, Banknote, Papiergeld. Besuch industrieller Betriebe. III. Klasse: Der Handel im System der Volkswirtschaft. Wirtschaftliche Zusammenhänge, erläutert durch graphische Darstellungen. Das Wechselrecht. Ausgewählte Partien aus dem Handelsrecht. Die Handelsgesellschaften. Die Hilfsgewerbe des Handels. Das Wichtigste aus dem Betreibungsgesetz. - Wöchentlich je ein Vortrag eines Schülers aus dem Gebiet der Handelswissenschaften. Besuch industrieller Betriebe. Der Unterricht von Johann Friedrich Schär war getragen von einem väterlichen Wohlwollen gegenüber seinen Schülern und fruchtbar gestaltet durch Klarheit der Darbietungen und durch Anlehnung an konkrete Beispiele aus dem praktischen Leben. Im Verkehr mit den Schülern kam nicht nur sein pädagogisches Geschick und seine, Theorie und Praxis gut verbindende, klare Einsicht, sondern auch seine ideale Gesinnung und sein reiches Gemüt zur Geltung, so dass er seinen Schülern auch nach der Seite der Charakterund Gemütsbildung und der idealen Lebensauffassung ein wertvolles Stück Erziehung auf den Lebensweg mitgegeben hat. - J. F. Schär nahm lebendigen Anteil am künftigen Schicksal seiner Schüler und war bemüht, ihnen im Hinblick auf ihre gute allgemeine und kaufmännische Vorbildung günstige Bedingungen für eine abgekürzte Lehrzeit nach ihrem Schulaustritt zu verschaffen und ihnen die Wege zu öffnen zu einer erfolgreichen kaufmännischen Laufbahn. Zwischen ihm und seinen Schülern bestand ein freundliches Vertrauensverhältnis. Darum haben auch seine ehemaligen Schüler ihrem tüchtigen und wohlwollenden Lehrer eine tiefe Dankbarkeit und Verehrung bewahrt. J. F. Schär unterhielt mit seinen Kollegen, den Lehrern der Oberen Realschule Basel, herzliche Beziehungen. Sein Idealismus, sein froher Sinn, seine Vaterlandsliebe & seine Freude an Musik und Gesang kamen im täglichen Verkehr mit den Kollegen und insbesondere auch bei geselligen Anlässen zum Ausdruck und verschafften ihm die Sympathie & Freundschaft des ganzen Kollegiums. Bei seinem Abschied von der Oberen Realschule im Frühjahr 1903 geleiteten ihn nebst dem Dank für die geleisteten vorzüglichen Dienste auch die besten Wünsche zu weiterem segensreichem Wirken im höheren kaufmännischen Bildungswesen. Auch nach seinem Austritt aus der Oberen Realschule hat J. F. Schär noch sein lebhaftes Interesse bekundet für die Entwicklung dieser Anstalt und den Ausbau ihrer Handelsabteilung zur 4-klassigen Kantonalen Handelsschule Basel mit Diplom am Ende der dritten und Handelsmaturität am Ende der vierten Klasse. Er nahm regen geistigen Anteil an den erforderlichen pädagogischen Reformen zur Förderung einer harmonischen Erziehung von Körper, Verstand, Gemüt und Charakter. Die Obere Realschule (jetzt «Mathematisch-naturwiss. Gymnasium» genannt) und die Kantonale Handelsschule Basel bewahren ihm ein dankbares ehrenvolles Andenken. Robert Flatt. Transkriptionen 190 Transkriptionen 191 Emil Schmidlin, 1947: In Memoriam Karl Oskar Schär. - T6 Eugen Dietschi, 1947: AltNationalrat Dr. Oskar Schärs Lebenswerk. - T5 National-Zeitung, 14. Mai 1947 - Mit eiserner Energie hat Dr. Oskar Schär, körperlich gebrochen, geistig aber frisch und beweglich, seit Monaten dem Tode getrotzt. Das schwere Leiden schwächte immer mehr die Kräfte des Neunundsiebzigjährigen, hinderte ihn aber nicht, bis in die letzten Tage wach und kritisch das öffentliche Geschehen zu verfolgen, immer wieder zur Feder zu greifen, um sich besonders mit Wirtschaftsund Finanzfragen konstruktiv auseinanderzusetzen. Noch vor wenigen Tagen nahm er in einem Artikel scharf pointiert zu den neuen Wirtschaftsartikeln Stellung und verlangte klärende Zusicherungen für die Genossenschaften; noch vor zwei Wochen sass er im Bankausschuss der Basler Kantonalbank, deren Entwicklung und Gedeihen ihm sehr am Herzen lag, nachdem er eben noch an der Neuredaktion des Bankgesetzes, das zur Zeit vor dem Grossen Rate liegt, entscheidenden Anteil genommen hatte. Eine bewundernswerte Vitalität zeichnete Oskar Schär aus, die aber schliesslich doch zur Kapitulation gezwungen wurde. Der Zerfall der körperlichen Kräfte des Schwerkranken machte in den letzten Tagen so rasche Fortschritte, dass seine Ueberführung in das Spital notwenig wurde, wo dieser unentwegte Kämpfer am Mittwochvormittag seine hellen Augen für immer schloss. Mit Dr. Oskar Schär verliert Basel eine starke und einmalige Persönlichkeit, die während Jahrzehnten nicht nur auf der politischen Bühne der Stadt und der Eidgenossenschaft eine hervorragende und führende Rolle spielte, sondern vor allem in der Wirtschaftspolitik neue Wege wies. Oskar Schär hat sich für die Erstarkung des Genossenschaftswesens und den Aufschwung des schweizerischen Konsumgenossenschaftswesens ein Leben lang kompromisslos eingesetzt und Pionierarbeit geleistet. Familientradition, persönliche Eigenart und politische Anschauung, verstärkt und geklärt durch ein aus der Rechtswissenschaft gezogenes scharfes und gradliniges Denken waren die inneren Grundlagen seines Wirkens. Seine Kraft kam aus dem Denken, aus der Ueberlegung, und sein Schaffen war konstruktiv, aufbauend und klärend. Oskar Schär war der Sohn des hervorragendsten schweizerischen Genossenschaftspioniers, Professor J.F. Schär, der von Basel als Professor nach Zürich und von da als Rektor an die Handelshochschule in Berlin berufen wurde. Durch seinen Vater war er nicht nur Basler, sondern auch Berner Bürger, im bernischen Wattenwil am 7. Juni 1868 geboren und, bis zur Gymnasialzeit in Biel, dort aufgewachsen. Er besass denn auch das Berner Erbteil einr ausgesprochenen Beharrlichkeit in allen seinen Unternehmungen. Nach Absolvierung der oberen Klassen des Basler Gymnasiums studierte Oskar Schär Jurisprudenz an der Basler und an deutschen Universitäten und war, seiner politischen Gesinnung entsprechend, ein prominentes Mitglied der Helvetia. Bald nach dem Doktorexamen und einem kurzen Volontariate im Bureau Dr. Paul Scherrers wurd er Staatsanwalt und am 25. November 1895 zum Strafgerichtspräsidenten gewählt, ein Amt, das er als tüchtiger Kriminalist und sozial gesinnter Richter beinahe anderthalb Jahrzehnte - bis Ende Mai 1909 - verwaltete. Damals wurde er vor die Alternative gestellt, seine Stellung weiter auszuüben oder aber sich aktiv im Genossenschaftswesen zu betätigen. Er resignierte als Strafgerichtspräsident und trat als Vizepräsident und Sekretär an die Spitze des VSK, an dessen Aufstieg zum genossenschaftlichen Grossbetrieb er mit aller Energie und seinen reichen Fähigkeiten mitarbeitete. Nach dem Rücktritt von Dr. Bernhard Jaeggi trat Dr. Oskar Schär als Präsident an die Spitze des VSK. Bis Ende Juni 1939 hielt Oskar Schär das Steuer des VSK mit Ueberzeugung und Geschick in festen Händen. Insbesondere auf dem Gebiete des Rechtswesens und der Gesetzgebung, soweit sie das Genossenschaftswesen berührten, hat er, durch seine ausgezeichneten juristischen Kenntnisse und seinen praktischen Sinn für die Erfordernisse der Zeit der schweizerischen Genossenschaftsbewegung grosse und unvergängliche Dienste geleistet. Er war nicht nur ein Mann der Aktivität, sondern auch ein Wächter. Ein Wächter über die Genossenschaftsidee an sich, die er bis in die letzten Konsequenzen vertrat, aber auch ein Wächter über die richtige Handhabung der aus der Genossenschaftsidee entwickelten Tathandlungen, herrührend aus einer festumrissenen liberalen Weltauffassung. Sein Tun war Geradheit und Konsequenz. Es verging keine Session der Bundesversammlung, ohne dass Oskar Schär dem Schreibenden in ausführlichen, hervorragend dokumentierten Briefen seine Stellungnahme zu aktuellen Wirtschafts- und Finanzfragen übermittelte. Immer wieder kam darin zum Ausdruck, dass er die Freiheit als der Güter höchstes betrachtete. Diese Hochschätzung der Freiheit befähigte ihn, in jeder Frage einen sichern Standpunkt zu finden. Mit Autorität trat er auch immer für die Wahrung der politischen Neutralität in der Konsumgenossenschaftsbewegung ein, in der er nicht eine Partei- oder Klassenbewegung, sondern eine Volksbewegung erblickte. Gleich seinem Vater trat Oskar Schär in die Freisinnige Partei, um hier eine ausgesprochene Linksrichtung zu verfechten. Die Kämpfe blieben nicht aus. Sie führten sogar zur vorübergehenden Trennung, indem Oskar Schär eine eigene Linkspartei, die demokratische, gründete, die aber im Jahre 1917 sich wieder mit der Freisinnigen zur Radikal-Demokratischen Partei zusammenschloss. Dem Grossen Rate gehörte Dr. Schär von 1905, mit Unterbruch einer Wahlperiode, bis im Frühjahr 1938 an. Er präsidierte den Rat 1935/36 und meisterte in zahlreichen Kommissionen ein gewaltiges Arbeitsmass. Während mehreren Jahren präsidierte er die Rechnungskommission; er arbeitete bestimmend am Zustandekommen des neuen Beamtengesetzes als Präsident der grossrätlichen Kommission; auch war er der Verfasser des Grossratsreglementes, das er, aus reicher parlamentarischer Erfahrung schöpfend, grosszügig und arbeitsrationell ausgestaltete. Schär marschierte auch in der vordersten Front bei der Einführung der durch die Radikalen lancierten Altersfürsorge. Von 1913 bis 1917 war er Mitglied der Justizkommission, gehörte von 1927 an während mehr als 20 Jahren als Richter dem Appellationsgericht an, widmete sich aber auch Erziehungsfragen, wo er als langjähriges Mitglied der Inspektion der Knabensekundarschule und später des Gymnasiums sowie als Mitglied des Erziehungsrates sich grosse Vedienste um die Förderung des Schulwesens erworben hatte. Er war auch Präsident der Kommission für das neue Schulgesetz. Ist es da verwunderlich, dass einer seiner politischen Gegner im Grossen Rate ihn als einen der fleissigsten Politiker in Basel und einen der unermüdlichsten in der Schweiz bezeichnete? Von 1917 bis zum Herbst 1929 gehörte Oskar Schär dem Nationalrate an und hat seine in Basel bekannten und geschätzten Eigenschaften und sein umfassendes Wissen auch in der Bundesversammlung betätigt. Als Mitglied der Finanzkommission und der Finanzdelegation war er von der Verwaltung gefürchtet; seine Gewissenhaftigkeit in der Ausübung der Kontrolltätigkeit des Parlamentes war sprichwörtlich. Ihm entging nichts, Stück für Stück ging er die Belege durch, die in vielen Bänden vor ihm lagen; er sah alles, griff ein, und es war nicht ein restloses Vergnügen für eine Verwaltung, wenn sie in sein Referat fiel. Mit seinem Vater setzte sich Oskar Schär für die Verstaatlichung der Wasserkräfte ein; und als Kriminalist wirkte er an der Ausarbeitung des neuen Strafgesetzes entscheidend mit. Das radikale Basel hatte daher allen Grund, dem hervorragenden Politiker, als er den Strich unter seine eidgenössische parlamentarischen Arbeit setzte, den Dank für alles das auszusprechen, was er im Basler Grossen Rate und im Rate der Nation für Volk und Land getan hat. Bis in die letzten Tage seines Lebens hat Dr. Oskar Schär der Basler Kantonalbank seine Dienste zur Verfügung gestellt. Als Vizepräsident des Bankrates und Präsident des Schweiz. Kantonalbankenverbandes nahm er unermüdlich Anteil an der Entwicklung des Instituts und als Präsident der Baukommission darf ihm ein wesentlicher Anteil am Neubau des Bankgebäudes zugeschrieben werden. Neben dem vollgerüttelten Tageswerk fand Schär immer noch Zeit, sich schriftstelle- risch zu betätgen. Zahllos sind seine Abhandlungen und Aufsätze über Wirtschaftsprobleme, über Genossenschaftsrecht, Verwaltungs- und Steuerfragen, die in der Tages- und Fachpresse und in Broschürenform erschienen sind. Nun ist das Licht dieses rastlos schaffenden und schöpferischen Geistes erloschen. Wir beklagen mit dem grossen Politiker und Wirtschafter ebensosehr den edlen Menschen. Oskar Schär war das gütige Haupt einer grossen Familie, der er alles bedeutete und die mit ihm in tiefer Liebe und Ehrfurcht eng verbunden war. Schwere Schicksalsschläge haben ihn wiederholt getroffen; immer fand er den Mut und die Zuversicht, sich und die Seinen aufzurichten. Er war der herzensgute und fürsorgliche Gatte, Vater und Grossvater, um den heute mit den Angehörigen Basel und das ganze Land trauern. Nicht ohne einen letzten kurzen Gruss seiner alten Freunde von Schweizerischen Odd Fellow Bunde soll dieser Mann von uns scheiden. Denn ein Mann war er in des Wortes höchster und edelster Bedeutung ; alle wissen es, die das Glück hatten, ihn in seinem langen Leben und Wirken keimen zu lernen. Für ihn galt noch der Grundsatz: «Ein Mann ein Wort«. Auf ihn passte noch das mutige Wort vom Männerstolz vor Königsthronen und vor Bonzen jeder Art und jeden Ranges. Und er war unser Bruder wir bekennen es mit Stolz in dieser bitter Stunde des Scheidens. 54 lange Jahre hat Oskar Schär den Unabhängigen Orden der Odd Fellows die Treue gehalten in Glück und Unglück, in den Zeiten des Aufstieg und Glanzes, wie in den Jahren der Anfechtung, durch eine gemeine Hetze. Sein ganzes, reiches Leben war ein Wirken im Sinne der Ideale unseres Weltbundes, ein Indie-Tat umsetzen der Ideale der Freundschaft, der Menschenliebe und des Kampfes für Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Im Jahre 1893 ist Oskar Schär als junger Jurist und schon gereifter Charakter der St. Jakobsloge der Old Fellows beigetreten. Im dritten Jahre berief ihn das Vertrauen seiner Brüder als Sekretär in das Logenbüro. 1897 amtete er als Untermeister, 1898 als Obrmeister der St. Jakobsloge. 1900 delegierte ihn unsere Loge als Repräsentaten in die Schweiz. Grossloge. 1904 bis 1910 hatte er das hohe und Verantwortungsvolle Amt eines Gross Sires des schweizerischen Ordenszweiges inne, das höchste Amt, das eine Landes Grossloge zu vergeben hat. Weder im politischen und wirtschaftlichen Leben noch in der Loge hat Oskar Schär je ein Amt gesucht nur um der Transkriptionen 192 Transkriptionen 193 Oskar Schär, 1929: Brief an Willy Bocola. - T7 Ehre willen. Jede Aufgabe, die ihm das Vertrauen seiner Freunde und Mitbürger übertrug, löste er mit dem ganzen Einsatze seines überragend klaren Verstandes, der es ihm erlaubte, eine fast unglaubliche Arbeitslast mit Leichtigkeit zu bewältigen. Durch Jahrzehnte hindurch hat Oskar Schär der Basler St. Jakobs und dem Schweiz. Old FellowBunde heirvoragende Dienste geleistet und ihnen die Richtung gewiesen. Obwohl er wegen Arbeitsüberhäufung im Dienste der Allgemeienheit und wegen zunehmenden Altersbeschwerden seit Jahren unsere regelmässigen Zusammenkünfte nicht mehr besuchen konnte, so war uns seine Mitarbeit doch sicher, wenn wir je seines Rats und seiner Hilfe bedurften zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten oder zur Vermittlung und Schlichtung in Streitfällen. Oskar Schär war nicht nur ein Old Fellow des Wortes, er war ein Old Fellow der Tat. Freundschaft war ihm kein leeres Wort, er hat es selten gebraucht aber er hat Freundschaft und Treue gehalten, das wissen alle, die ihn je um Rat und Hilfe angingen. Nächstenliebe hat er geübt sein ganzes Leben, vor allem an denen, die auf der Schattenseite des Schicksals standen; nicht weil er es als Old Fellow versprochen hatte, sondern weil es seinem innersten Wesen entsprach und weil es seine tiefste Überzeugung war, dass nur die Menschenliebe, nie der Hass, die Welt zu einer ethischen Vorwärts und Aufwärtsbewegung führen kann. Wahrheit heisst das dritte der Ideale in der Devise des Ordens der Old Fellows Dem Kampfe für Wahrheit und Wahrhaftigkeit galt das ganze Schaffen und Wirken des Verstorbenen. Jedem hohlen Scheine war er abhold. Wenn es zu kämpfen galt für Recht und Gerechtigkeit, gegen Unrecht, Lüge und Verdrehung, so war Oskar Schär ein gefürchteter Fechter, der sich nicht scheute, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, unbekümmert darum, ob er sich dadurch beliebt oder verhasst machte. Oft genug war Undank sein Lohn, oft genug musste er die Richtigkeit des Dichterwortes erfanren: «Ziehst du, mein Freund, für die Wahrheit zum Streite, muss du Hoffnung legen beiseite. Keine Kränze Wird tragen dein Haar, aber Wunden und Fluch und Gefahr.» Aber diese Unerschrockenheit, die Geradlinigkeit seines Wesens, das in grundsätzlichen Dingen keine Kompromisse kannte, musste schliesslich jedem, selbst seinem Gegner die Hochachtung abringen. Hut ab vor Männern, die nicht buhlen um die Gunst der Grossen und nicht suchen den Beifall einer urteilslosen Menge, sonder treu und fest zu ihrer Überzeugung stehen, komme, was da wolle. Möge es unserem Orden, unserem Vaterland, der Welt nie fehlen an solchen Rittern ohne Furcht und Tadel, dann Heil unserem Bruder, Heil unserer Heimat, Heil der ganzen Menschheit! Werden, Sein, Vergehen ist das eherne Gesetz der Natur, dem sich kein Mensch, und wär er noch so mächtig, entziehen kann. Bald wird dein Leib, lieber Bruder, zu Staub und Asche zerfallen. Dein Geist aber wird weiterleben in deinen Kindern und Kindeskindern, denen allezeit deine väterliche Liebe und Fürsorge galt, im getreuen Gedenken deiner Freunde, denen du unvergesslich sein wirst, in deinem reiche Lebenswerk, das deine Tod überdauern wird. Auf diese Weise und in diesem Sinne wird deinem Leben und Wirken die Unvergänglichkeit, die Unsterblichkeit beschieden sein. Mögen die hohen Ideale der Freundschaft, der Bruderliebe und der Wahrheit, die du durch dein Leben in die Tat umsetztest, weiterleben in kommenden Generationen! Leiden und Sterben. Lebe wohl, Bruder, dein Andenken soll und wird in unserem Bruderbunde unvergesslich bleiben. Basel, 27. Mai 1929. Sehr geehrter Herr Bocola! Auf Ihre überranschende Bewerbung um meine Tochter Marta habe ich in Rom erklärt, ich überlasse die Entscheidung meine Tochter, ich wolle weder für noch gegen eine Druck ausüben. Ihre Bewerbung kam mir eben überraschend und ich glaubte, dass es sich eher um eine Art Strohfeuer beiderseits handle, speziell da meine Tochter Marta sich die Konsequenzen vielleicht nicht vollständig überlegt habe. Die Konsequenzen einer Verlobung und Heirat meiner Tochter Marta mit Ihnen wären einmal die, dass sie Italienerin würde und das Schweizer-Bürgerrecht verlieren würde, sodann dass sie sehr weit weg von ihren Eltern, Geschwistern und sonstigen Bekannten leben müsste, dass die Möglichkeit, einander zu treffen, angesichts der grossen Distanzen und Kosten, die eine Reise von Basel nach Italien oder umgekehrt verursachen würde, sehr beschränkt sein würde, dass sie in ein ganz unbekanntes Millieu kommen und dass schliesslich die beiden Charaktere vielleicht doch nicht zu einander passen würden, weil Sie beide aus ganz verschiedenen Milieus stammen, ganz verschiedene Erziehung genossen haben und bei der kurzen Zeit, die Sie sich kennen gelernt haben, nicht sicher sei, ob nicht beim späteren Zusammenleben doch gewisse Verschiedenheiten der Auffassung und Lebensweise sich zeigen würden, die ein vorbildliches Eheleben beeinträchtigen könnten. Nun hat meine Tochter Marta jedoch erklärt, dass sie Ihrer Bewerbung zustimme und sich als Ihre Braut betrachte; sie hat also das Vertrauen, dass die von mir erwähnten Schwierigkeiten sich nicht einstellen würden, oder überwunden werden könnten. Ich habe meine drei Toch- ter in Freiheit erzogen und mehr Wert darauf gelegt, ihnen durch unser Beispiel eine richtige Lebensführung als erstrebenswert zu machen, als durch viel Gebote oder Verbote. Ich will auch bei der Auswahl das künftigen Lebensgefährten von diesem Grundsatz nicht abweichen. Auch Marty soll ihren zukünftigen Mann selber auswählen, sie trägt dann die Verantwortung, und nicht wir Eltern. Wenn ich diesen Grundsatz befolge, so habe ich als Vater immerhin die Pflicht, und nicht nur das Recht, wenigsten einigermassen orientiert zu sein, über die Verhaltnisse des zukünftigen Mannes von Marty, auch über die ökonomische Grundlage und über die Aussichten für die Zukunft. Ich könnte durch ein Informationsbureau in Castellmare adriatico oder in Caserta über Ihre Verhältnisse Informationen einziehen lassen, ich verzichte auf diesem Wege unter der Voraussetzung, dass Sie mir direkt und persönlich diese Aufschlüsse erteilen. Ich vertraue auf Ihr Wort als Offizier und bitte Sie, mir vertrauensvoll diejenigen Angaben zu machen, die Sie selbts, wenn Sie eine Tochter zu verheireten hätten, von Ihrem zukünftigen Schwiegersohn verlangen würden. Offenheit gegen Offenheit. Zu Ihrer persönlichen und nur zu Ihrer persönlichen Information kann ich folgende Angaben machen über unsere Verhältnisse: Mein Vater war der Gründer der modernen Handelswissenschaften. Nachdem er 1903 von Basel nach Zürich an die Universität als ordentlicher Professor berufen war, bemühte sich 1906 die Berliner Handelshochschule, bei der Gründung meinen Vater als Haupdozenten zu gewinnen. Mein Vater übersiedelte 1906 nach Berlin und blieb dort bis Februar 1919. In den letzten Kriegsjahren war er Rektor der Handelshochschule. Durch seine Anstellung in Deutschland musste er das deutsche Staatsbürgerrecht erweben, blieb aber Schweizerbürger. Im Februar 1919 kehrte er in die Schweiz zurück und starb 1924 in Basel-Freidorf. Das nicht unansehnliche Vermögen, das er erworben hatte, ging zur Hauptsache bei der deutschen Inflation verloren. Mein Schwiegervater Haller war Bankdirektor und Kaufmann und starb 1919. Er hatte sein Vermögen restlos in der letzten Unternehmung (Speditionsgeschäft Genf), das er betrieben hat, verloren. Ich habe in Basel, München und Heidelberg studiert, 1892 den Doktor gemacht, war ein Jahr Anwalt, 2 ¾ Jahre schweizerischer Staatsanwalt und dann zehn Jahre lang Straf-Polizeigerichtspräsident in Basel-Stadt, zuletz Vorsitzender des Gerichts für Strafsachen in Basel, 1909, d.h. gerade vor 20 Jahren, trat ich als Direktionsmitglied in den Dients des Verbandes schweizerischer Konsumvereine, welche Institution 1898 von meinem Vater gegründet worden war. Politisch war ich tätig als Mitglied der schweizerischen radikaldremodratischen Partei, zeitweise hatte ich eine eigene links-bürgerliche Partei gegründet und geleitet. In Basel bin ich eit 1905 mit drei Jahren Unterbruch Mitglied des Grossen Rates und noch am 26. April mit der höchsten Stimmenzahl meiner Parteiliste wieder gewählt worden. Ehrennamtliche Aemter in der Basler Staats und KantonsVerwaltung habe ich sehr zahlreiche bekleidet. Seit Oktober 1917 gehöre ich dem schweizerischen Nationalrat an un bin vier Mal bestätigt worden, gedenke jedoch auf Ende Juni dieses Jahres dieses Mandat niederzulegen, da ich meine Zeit für wichtigere Sachen reservieren muss. Politisch stehe ich also bei einer Gruppe, die in Italien nicht existiert. In der Schweiz würden wir das Systems des Fascismus bekämpfen, während ich mich in die Verhältnisse anderer Länder nicht einmische. Die Resultate des in Italien beurteile ich objektiv und anerkenne, dass Italien unter diesem System nach verschiedene Richtungen hin Fortschritte gemacht hat, und wenn Italien mit diesem Regierunssystem sich abfindet oder es liebt, so haben wir Schweizer kein Recht, uns darüber aufzuhalten oder uns einzumischen. Jede Nation soll selber wissen, welches Regierungssystem ihr passt und ihr dient. Mit gleichen Recht verlanger wir Schweizer, dass man nach unserer Fassung uns regieren lässt. Religiös bin ich tolerant. Persönlich gehöre ich keiner Religionsgemeinschaft an, bin konfessionslos, würde jedoch, wenn ich genzwungen würde, mich für eien Konfession entscheiden zu müssen, die protestantisch-reformierte Konfession der katholischen vorziehen. Was meine ökonomischen Verhältnisse anbetrifft, so besitzt ein Beamter nur ein festes Salär, besitzt keine Möglichkeit, grosse Reichtümer anzusammeln. Ich habe ein anständiges Einkommen, wenn ich invalid wäre, eine anständige Pension; wenn ich sterbe, hat meine Frau eine anständige lebenslängliche Rente, aber was man Vermögen nennt, besitze ich nicht. Nach dem Beispiel meines Vaters betrachtete ich es als meine Pflicht, meinen Töchtern eine gute Erziehung zu geben, sie dasjenige lernen zu lassen, wozu sie Neigung hatten, weil man das, was jemand gelernt hat, ihm nicht mehr nehmen kann. Die älteste Tochter hat bis zum 25. Lebenjahre studiert, das Staatsexamen al Apothekerin bestanden. Marty Transkriptionen 194 Transkriptionen 195 Willy Bocola, 1929: Brief an Oskar Schär. - T8 war zum Teil auf eigene Kosten in Frankreich, England und Italien, da sie seinerzeit auf das Ergreifen eines akademischen Berufes verzichtete. Die jüngste Tochter geht noch in die Schule. Bis in einem Jahren wird es sich entscheiden, welche weitere Ausbildung sie wünscht. Ich habe von meinem Vater und einem verstorbenen Onkel für insgesamt 40-50,000 Fr. Erbschaft in sicherer Aussicht. Meine eigenen Mittel werden bis zu meinem Tode auch zirka 50,000 Franken betragen, sodass bei meinem Tode einmal zirka Fr. 100,000.- Vermögen unter meine drei Töchter zu verteilen sein wird, wovon eventuell eine Mitgift oder eine vorherige grössere Zahlung in Abzug zu bringen wäre. Nun noch folgende Fragen: Nach Schweizerrecht muss die beabsichtigte Eheschliessung auch mit einem Ausländer in der Schweiz ausgekündigt werden und zwar, da wir sowohl im Kanton Bern wie im Kanton Basel-Stadt Heimatrecht besitzen, in diesen beiden Kantonen. Wie steht es nun in Italien mit den Ehevorschriften, speziell nach Annahme der Wollen Sie darüber noch Erkundigungen einziehen, oder soll ich mich beim schweizerischen Gesandten in Rom erkundigen? Wie steht es mit dem Hausrat? Sind Sie als Flieger-Offizier in der Lage, sich an einem bestimmten Garnisionort sich für längere Zeit niederzulassen, oder müssen Sie regelmässig Ihr Domizil wechseln und damit auch mit den Möbeln öfterns hereumziehen, resp. neue Wohnungen mieten? In welchem Umfange sollen Möbel, Hausrat etc. beschafft werden? Wenn ja, in Italien selbst oder aus der Schweiz? Sie sehen aus dem Obenstehenden, dass mit einer Verlobung und bevorstehenden Verheiratung eine grosse Zahl von Fragen verknüpft sind, die alle gelöst werden müssen und über die man sich vorher klar werden muss. Es geht nicht an, mit einem Salto mortale in die Ehe zu springen und erst nachher Rat zu halten, sondern der grösste Teile der von mir gestellten Fragen sollte voher abgeklärt sein. Ich sehe nun gerne Ihren Nachrichten entgegen und verbleibe inzwischen mit freundlichen Grüssen. Ihr ergebener Caserta, 30. Mai 1929. Sehr geehrter Herr Schär, Ich bin Ihnen unendlich dankbar für Ihr Vertrauen, das Sie mir entgegen bringen und geführt von diesen Gefühlen, sowie von meiner Offenheit, werde ich Ihnen offen und aufrichtig alles sagen, wie einem wahren Freund. Und wenn nach diesem Brief noch einige Zweifel in Ihnen sein sollten, so bitte ich Sie alles Erforderliche von mir zu verlangen und ich werde mich geehrt fühlen, Ihnen von mir sprechen zu dürfen. Am Abend bevor ich mich von Rom nach Caserta begab, hatte ich die Freude, Sie um die Hand Ihrer Marty anzufragen, es war eine gewagte und vorzeitige Frage. Zu kurz waren wir zusammengewesen, kaum 3 Tage und stets im Zweifel und der Angst, dass Sie mein Betragen missbilligen würden. Sowohl Ihre Frau, wie Sie glaubten dass unsere Liebe nur ein Strohfeuer sei. Martys romantischer Karakter hätte meine schönsten Hoffnungen zu Grabe tragen können. Aber so dachte ich nicht. In diesen drei Tagen hatte ich Gelegenheit, Ihre Tochter kennen zu lernen. Sie hat mir gefallen sowohl wegen ihrer Intelligenz ihrer Schönheit und hauptsächlich wegen ihrer offenen und lealen Aufrichtigkeit. Sie hat mir nichts verborgen gehalten und manchmal war sie von einer zur Verzweiflung bringenden Aufrichtigkeit. Mein Herz, das schon sie liebte, konnte ihre Worte nicht ertragen, mit welchen sie mir in den ersten Tagen, unwissend welches Leid sie mir damit antat, ankündigte, dass sie für mich nur Sympathie und ganz ganz wenig mehr empfinde. Ich wusste, dass sie vielleicht einen in Basel wohnenden Doktor geheiratet hätte. Ich fürchtete, sie für immer zu verlieren nach unserer Trennnung. Und diese Furcht und die grosse Liebe, von der mein Herz erfüllt war haben mich furchtsam gemacht und vielleicht noch Schlimmeres. Der einzige Ausweg hier war der Egoismus, und ich habe kein Mittel gescheut um Ihre Marty an mich zu binden. Ich habe ihr Dinge versprochen, die ich für den Moment nicht hätte halten können. Sie dispensieren mich nun vielleicht auf diesem Thema fortzufahren, da es für mich so voll von Leid ist. Ich werde Marty bitten, Ihnen alles klar zu legen, wenn sie es noch nicht gemacht haben sollte. Nur etwas möchte ich Sie bitten zu glauben, dass das Vertrauen, das Sie mir bewiesen keine eitle Sache war. Ich liebe Marty, jetzt mehr denn je und ich verzweifle nicht an der Vorsehung, die bestimmt die Epoche bis zu unserer Heirat verkürzen wird. Und jetzt gebe ich Ihnen einigen Aufschluss über meinen Zivil- und finanziellen Stand. Sie haben Recht. Ein Vater hat das Recht und die Pflicht, wer und wie der Gefährte des Lebens seiner geliebten Tochter sei, er sollte ihn gründlich kennen, so dass er mit Rat und Tat der geliebten Person zur Seite stehen könne. Wenn mein armer Vater noch am Leben wäre, so hätte ich ihn damit beauftragt, aber leider hatte ich das grosse Leid zu erleiden vor 5 Jahren ihn zu verlieren. Die Familie besteht aus 3 Brüdern und einer Schwester, der Aelteste, 2 Jahre älter als ich, hat dieses Jahr den Dr. Med. absolviert. Meine Schwester war 4 Jahre in einem Institut in Montepulciano in der Provinz von Siena um die in der Familie erhaltene Erziehung zu vervollkommenen. Nun ist sie zu Hause mit meiner Mutter. Sie hat nicht weiterstudiert, denn in Italien ist dies nicht usus wie in der Schweiz. Für die Mädchen genügt es, ihnen eine gute Erziehung zu geben, ohne zu doktorieren in irgend einer Fakultät. Mein jüngerer Bruder ribellisch gegen alle Disziplin hat das Studium verlassen, nachdem er für ein Jahr das Institut medio vom 2ten Grade besucht hat. Wenn Sie von mir mehr wissen wollen, so sage ich Ihnen, dass ich am 23. November 1905 geboren bin. Alles in allem habe ich 16 Jahre studiert, davon 10 Jahre fern von meiner Familie, da meine Geburtsstadt nicht die Schulen besass, die ich besuchen wollte. Im Juli 1925 hatte ich das Diplom als Kapitän des langen corso beim istituto nautico von Piano di Sorrente. Ich hätte mich ohne weiteres eingeschifft folgend dem jugendlichen Impuls meiner jungen Jahre, wenn nicht damals gerade in Italien die grosse Leidenschaft für die Aeronautica begonnen hätte, mich nicht in seiner ganzen Schönheit gelockt hätte. Ich machte die Wettbewerbe mit um zugelassen zu werden und es ging mir gut. Ich besuchte dort die 3 Jahre des Studiums und Anwenung, bis ich letzten Juni daraus als Leutnant hervorging für den effektiven permanenten Dienst. Vor einigen Tagen am 11. Mai wurde ich zum Oberleutnant ernannt. In etwa 3 bis 4 Jahren werde ich glaube ich Kapitän sein, denn ich sehe meine Carriere wird sehr rapid vorangehen ( Prosit) Gerade wie Sie, habe auch ich ein Fixum, aber es wird natürlich nicht so zahlreich sein wie das Ihre, ich bin noch so jung! Aber glauben Sie mir nur, dass ich mit dem Kostenstand in Italien sehr gut zusammen leben könnten. Als Oberleutnant und in meinen Conditionen als Fliegeroffiizier habe ich einen Lohn von Lit. 2,300.pro Monat, ein Oberleutnant mit Frau würde dann Lit. 3,000.- erhalten. Meine Familie ist nicht reich, sie hätte es sein können, wenn sich nicht das Un- glück dagegen gewehrt hätte. Mein väterlicher Grossvater hatte grosses Vermögen, sehr grosses sogar. Aber er hat es verschwendet grossen Teils mit seinen Fehlern. Er liebte den Luxus, war leidenschaftlich für die Pferde und noch für anderes eingenommen, von sehr vornehmem Karakter und freigebig gegen das Elend des Nächsten, er gab sich überall als Zeugen für seine Freund aus, ohne zu denken, dass ob kurz oder lang seine Reichtümer zu nichts geworden wären. Die Familie meiner Mutter ist wohlhabend aber zahlreich. Die mütterliche Grossmutter lebt noch und bei ihrem Tode werden wir eine diskrete Summe erben, ich weiss nicht wie viel, es mag um die Lit. 100,000.- herum sein. Unsere Reichtümer sind hauptsächlich in Land und Häusern, ich habe mich noch nie gefragt, wie hoch die Summe sein könnte, ich habe es noch nie nötig gehabt und jetzt kommt es mir so fremd vor, dass ich mich auf diesem Thema aufhalten muss, vielleicht Lit. 400,000. Aber es könnte auch mehr sein oder weniger, ich weiss es nicht. Meinen Stammbaum habe ich nie studiert, meine Vorfahren interessieren mich nicht. Ich achte das Individuum, für was es wert ist, nach seinen Fähigkeiten und nicht nach dem Reichtum und Dekorum, oder nach den grösseren oder wenigeren Ehren, die es genossen hat. Meine Familie ist eine derjenigen Nobili der Provinz, ohne jedoch Aristokraten zu sein, vielleicht waren es meine Vorfahren einst, aber für mich zählt das wenig. Und jetzt nachdem ich Ihnen alles dies erzählt haben, möchten Sie mich entschuldigen, wenn ich eintönig war, aber es ist dies ein Thema, über das ich heute zum ersten Male spreche. Ich achte und schätze Ihre freien Ansichten betreffes der Erziehung gegenüber einer Tochter. Meine Ansichten decken sich mit den Ihren, so ist also keine Gefahr der Inkompatibilität des Karakteres zwischen Marty und mir. Es besteht also keine der Schwierigkeiten, von denen Sie anführen, auch die Tatsache des Aufenthalts als Italienerin, den Marty haben müsste, wenn sie meine Frau würde, würden Marty nie verhindern bei jeder Gelegenheit in die Schweiz zu kommen. Sie könnte immer mit den Eltern und Geschwistern zusammen können, auch ihre Freundschaften könnte sie pflegen wenn man denkt, dass sie als Frau eines Offiziers mit der Ermässigung von 75% reisen kann auf den italienischen Eisenbahnen. Ueberhaupt ist der Kostenpunkt der Reise eine sekundäre Sache. Aber ich spreche nun zu Ihnen gerade als ob ich sicher wäre meiner Lage, meine wahre Situation vergessend. Was denken Sie und Marty selbst von der langen Wartezeit, die uns trennt vor der Verwirklichung unserer Träume ? Wird Marty Vertrauen haben ? Stellt mein Leben als Flieger nicht eine Gefahr dar, die sie erschrecken könnte für ihre Zukunft ? Ich gestehe Ihnen, dass dies alls für mich furchtbar ist, beim blossen Darandenken. Ich wäre geneigt meine Aeronautische Laufbahn aufzugeben um Ihr Marty, das mich sehr lieb hat, glücklicher zu machen, und das ich aus tiefster Seele liebe, aber was dann ? Ich könnte meine Tätigkeit in einem anderen gesellschaftlichen Gebiet anwenden, mir das Leben auf andere Weise verdienend, aber ich fühle, dass ich vor Heimweh sterben würde, wenn ich das Fliegen aufgeben müsste. Es gibt unruhige Karaktere, Liebende der Freiheit, leidenschaftlich für alles was schön ist und Risiko darstellt. Gefährlich oder in Gefahr leben könnte mein Leitwort sein. Ich bin nicht der Transkriptionen 196 Transkriptionen 197 Oskar Schär, um 1891: Brief an seinen Vater Johann Friedrich Schär. - T9 Mann dazu ein Bureauleben zu führen, ich würde zu sehr leiden und das Leben würde jede Anziehung verlieren. Ich bin zu entusiastisch für das Fliegen um es verlassen zu können. Marty ist traurig, ihre traurigen Briefe machen mir so weh, ich fühle mich ihnen machtlos gegenüber. Sie, die ihr Vater sind, und sie so lieb hat, versuchen Sie, sie aufzuheitern, Sie, die ich beneide, dass Sie mit ihr sprechen können, sie sehen können, seine Stimme hören können, finden Sie das Mittel sie zu trösten. Ich fühle mich verirren. Ich möchte so viel und viel sagen Ihnen alle meine Hoffnungen anvertrauen, aber ich fürchte meine Lage zu verschlimmern, wenn dann die wirklichkeit meine Träume und Hoffnungen nicht verwirklicht ? Was soll ich Ihnen sagen, wie soll ich mich benehmen ? Ich weiss es nicht, weiss es nicht! Handle ich recht oder unrecht, wenn ich Ihnen noch von Liebe spreche ? bin ich nicht egoistisch in meiner Hoffnung ? Bin ich nicht grausam? Vielleicht würde ich ein gutes Werk tun, wenn ich alles abbrechen würde ? Aber da wir uns so lieb haben, würden wir zu sehr darunter leiden. ich habe weder den Mut noch die Kraft dies zu tun. Ich würde zu sehr unter ihrem Verlust leiden, so dass ich vorziehe feige zu sein. Sie könnten mich tadeln, aber glauben Sie mir, dass Angesichts dieser Lage kein Tadel sein können. Entschuldigen Sie meine Aufrichtigkeit, aber ich kann nicht anders als Ihnen gestehen, dass Ich lachen musste als ich Ihre letzten Fragen las. Es war eine fröhliche Note, die mich ein wenig erheitert hat in meinem sonstigen traurigen Zustand. Veröffentlichung der Heirat, Mobiliär, Aussteuer, Wohnung. Aber ich weiss ja nicht, wie man es in diesem Umstand macht. Alles dies scheint mir so fremd. Was geht es die andern Menschen an über unser Glück zu reden ? Was für Interessen können die mit uns haben ? Oh, wie hätten wir glücklich sein können, Marty und ich, wenn nicht meine Situation mich verhinderte, meine Vorschläge sofort zu verwirklichen. Denken Sie, in einigen Tagen, in einigen Wochen hätten wir verheiratet werden können. Welches Glück, welche Freude, welch verscherztes Glück! Manchmal frage ich mich, ob es nicht das Beste wäre, ich würde die Militärkarriere verlassen und mich in die Schweiz zu flüchten zu meinem Marty. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie selbst sich erkundigen könnten beim Schweizergesandten in Rom über alle Formalitäten, die verlangt werden für eine Heirat mit einem Offizier und einer Ausländerin, und wie lange Ihr Marty in Italien bleiben muss damit sie das italienische Recht bekäme und somit ein Hindernis wegzu schaffen, dasjenige, das uns Offizieren verbietet eine Heirat einzugehen mit einer Ausländerin. Ich glaube dass in Italien die Veröffentlichung einige Woche vor dem festen Datum der Heirat bekannt gegeben werden. Was das Mobiliär anbetrifft, weiss ich gar nichts. Man muss ich mit Marty vereinbaren und ann entscheiden. Was dann die Aussteuer anbetrifft, davon verstehe ich nichts. Uebrigens ist es vorzeitig, jetzt schon davon zu sprechen, wir werden darüber reden, wenn es nötig ist. Natürlich muss Ihre Tochter ihre Aussteuer machen und ich mir die meine, und für das beidseitige werden wir dafür sorgen unsere Geschmäcker einander anzupassen. Wo das Mobiliär gekauft wird, ist mir gleichgültig, wenn es nur beiden gefällt. Nun habe ich Eingabe gemacht für den Pass, ich habe auch eine kurze Lizenz erfragt, aber sie wurde mir nicht erlaubt wegen Dienstgründen.Anfangs August hoffe ich dann nach Basel zu kommen, dann können wir dann besser besprechen und jeden Zweifel der noch da ist eliminieren. Passt Ihnen das ? Als Kronik sage ich Ihnen, dass, wenn Sie mehr Informationen wünschen für mein Konto, durch ein Bureau, so müsste es sich nicht nach Castellamare adr. wenden sondern nach Sansevero von Puglia, wo wir gegenwärtig leben und wo ich geboren bin. Vielleicht habe ich mich in Rom unduetlich ausgedrückt, denn in Castellamare bin ich nur einige Jahre gewesen. Ich habe nicht anderes zu sagen. In der Hoffnung auf alle Ihre Fragen geantwortet zu haben, grüsse ich Sie herzlich, sowie Ihre Gattin und Marty Zur Orientierung: Als sich Johann Friedrich Schär, vier Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau, die Witwe Olga Matilde, geb. von Seeger heiratete und diese zusammen mit zwei Töchtern und einem Sohn in das Haus an der Bachlettenstrase 60 zog, kam es zu Konflikten mit seinem Sohn Oskar Schär, der diesen zum untenstehenden Brief veranlasste. (Die Herausgeber). Lieber Vater! Mein sogenanntes „sonderbares“ Verhalten dir, „der Mutter und der Familie“ gegenüber“ ist in keiner Weise sonderbar; ich habe, wie Du weißt, mit Deiner angeheirateten Familie jeden Verkehr abgebrochen und es existiert dieselbe für mich nur noch dadurch, dass sie ein Begegnen mit Dir unter obwaltenden Umständen beinahe zur Unmöglichkeit macht; Ich kann ja nie mit Dir reden etc, da Du ja nie alleine bist und ich mit Mitgliedern der bekannten Familie nicht zusammentreffen will: Was meine Familienangehörigen betrifft, so verkehre ich mit denselben gern und viel und habe das mit Erwin getan – der jedoch scheints jedesmal, wenn er bei uns war, auf irgend eine Weise geplagt wird – und würde das auch mit Dir tun. Ich finde es im Gegenteil sonderbar, dass Du uns (Arnold und mir) noch nie Bericht gegeben hast über Alvina etc. wo Du doch weißt, dass wir darauf gespannt sind; ferner liesse sich eine Besprechung mit mir ja leicht erreichen; Du weißt ja, wenn ich zu Hause bin, und weißt, dass ich da allein bin und niemand Fremdes dabei; deshalb hättest Du mich ja einmal auf meiner Bude aufsuchen können, anstatt zu schreiben. Ich weiss, dass das verkehrt ist, und sonst nicht passend, unter obwaltenden Umständen lässt sich aber sonst keine Unterstützung Oskar Schär, 1937: Zur Erinnerung an Capitano-Pilota Willy Bocola-Schär. T10 herbeiführen, höchstens noch etwa einmal abends von 6-7 Uhr bei ... . Ich habe nun ca 1 Monat lang nach Eurem Rezept noch zu Hause gewohnt. Ihr seht, wie gemütlich dass das ist; ich werde aber bis 1. November ausziehen und dann ist die Trennung vollendet. Was nun ... betrifft, so ist noch gar nichts gegangen. Die ganzen Ferien über und ... war ich nie sicher, ob das Bureau in den Stunden, die ich zur Verfügung habe, frei sei und deshalb habe ich auch keinen Schritt dort hinein gesetzt. Und dass ich auf meiner ... Bude bei der Kälte abeiten solle, wird auch kein Mensch von mir verlangen können. Ich werde mich nun mit Dietrich in Verbindung setzen, und wenn mir dann mal mitgeteilt wird, das Bureau sei frei von fremden Elementen, so werde ich mich auch dorthin verfügen und dort die laufenden Geschäfte erledigen. Wenn Dir an einer Unterstützung mit mir so viel lag, so hättest Du mir ja in den letzten Tagen hie und da durch Erwin das mitteilen können, sowie dass die Luft rein sei. Bei meinem Auszug werde ich verschiedene Sachen zu Hause lassen müssen, über die ich Dir ... Zeit ein Verzeichnis geben werde; solltest Du damit nicht einverstanden sein, so werde ich natürlich dieselben auch noch mitnehmen können. Meine Doctor...., die Du im Salonsekretär versorgt hast, bitte ich mir auf mein Zimmer besorgen zu wollen. Ferner schlage ich einen Tausch vor: das Nachttischlein in Erwins Zimmer gehört mir. Kosten 13,5 frs; ich würde Dir dasselbe überlassen und dafür das Büchergestell, das seiner Zeit – vor 7 Jahren – 15 frs gekostet, mitnehmen. Zuletzt noch die Bitte, über Erwin genau aufzupassen und dafür zu sorgen, dass er nicht etwa wegen Besuchen, die er Arnold oder mir abstattet, belästigt wird. Ich habe in den Ferien interessante Dinge über seine Behandlung durch die 2 Mädel gehört – nicht von ihm. Soviel auf Deinen Brief; ich hätte mich lieber mündlich ausgesprochen, doch unter obwaltenden Umständen ist das nicht möglich. Auf Deinen Schlusssatz eine Frage: würdest Du Heuchelei Deiner angeheirateten Familie gegenüber lieber sehen als offene Kundgebung der Gefühle, die ich für sie hege: Abscheu und Verachtung? Mit meiner Familie stehe ich sehr gut und habe nicht im Sinne, mit derselben abzubrechen. Herzlichen Gruss Oskar Willy Bocola-Schar (23. November 1905 - 22. Dezember 1936). Verwandten, Freunden und Bekannten, die uns beim Hinschied unseres lieben Willy Bocola ihr Beileid bezeugt haben, danken wir auf diesem Wege nachträglich und bitten, den Umstand, dass wir weder Todesanzeigen versandt haben, noch früher für die Beileidsbezeugungen gedankt haben, mit den nachstehend geschilderten besonderen Verhältnissen zu entschuldigen. Am 23. Dezember 1936, morgens, erhielten wir aus Bengasi von unserer Tochter Marta ein Telegramm des Inhalts: «Wegen Unfall Willy bitte Mama oder Papa sofort nach Bengasi kommen.» Dadurch beunruhigt und voll schlimmer Ahnung ersuchten wir sofort durch Radiotelegramm um näheren Aufschluss und erhielten am 23., abends zwischen 8 und 9 Uhr, das zweite Telegramm mit der lakonischen Meldung: «Willy morto.» Darauf entschlossen sich meine Frau und ich sofort, so schnell als möglich zur Tochter nach Bengasi zu reisen, die wir dort mit ihren beiden kleinen Kindern völlig verlassen wähnten. (...) Am Weihnachtsabend, am 25. Dezember, verreisten wir mit dem Nachtzug direkt nach Syrakus, und kamen am 29. Dezember nach diesmal verhältnismässig ruhiger Meerfahrt morgens auf der Reede vor Bengasi an, wo wir auf dem Schiff von den beiden höchstkommandierenden Fliegeroffizieren der Cyrenaika, den Obersten Bonfiglio und Rolando und Frau Oberst Boncompagni empfangen wurden, die uns ermöglichten, sofort und unbehelligt von der sonst umständlichen Zollvisitation an Land und mit dem Dienstauto in die Wohnung Bocola in Berca, direkt gegenüber dem Eingang zum Militärflugplatz, zu gelangen. Dort fanden wir Transkriptionen 198 Transkriptionen 199 Alwin, Marty B., Emmy: Andachtsstunde in St. Gallen 11. Februar 1940. - T11 unsere Tochter von mehreren Freundinnen aus den Kreisen der Fliegeroffiziere umgeben und erfuhren erst dort die näheren Umstände, die zum Tode von Willy Bocola führten. Willy Bocola war mit zwei andern Fliegerhauptleuten auf einem Militärverkehrsflugzeug, das er nicht selber lenkte, am 21. Dezember nach Tripolis geflogen, um dienstliche Angelegenheiten mit General Fougier, dem Höchstkommandierenden der italienischen Fliegertruppe für ganz Libyen, zu besprechen. Die Rückkehr sollte am 22. Dezember erfolgen. Starke Regenstürme hatten jedoch die Piste in Tripolis aufgeweicht, diejenige von Sirte, halbwegs zwischen Tripolis und Bengasi, wo gewöhnlich eine Zwischenlandung bei der beinahe 1000 km befragenden Flugfahrt vorgenommen wird, war überschwemmt. Statt den Heimflug unter diesen Umständen zu verschieben, überwand der Wunsch, Weihnachten zu Hause zu feiern, aller Bedenken, so dass der gemeinsame Rückflug bereits am Dienstag vormittag angetreten wurde, nachdem man, wegen der Unmöglichkeit, in Sirte den Benzinvorrat zu ergänzen, 150 Liter Benzin mehr als wie üblich geladen hatte. Beim Abflug sass Willy Bocola neben dem Piloten Caggia vorn im Flugzeug, zwei Kollegen in der zweiten Reihe. Der Abflug gestaltete sich infolge der grossen Belastung und der aufgeweichten Piste etwas schwierig, und kaum hatte sich das Flugzeug über den von Palmen umstandenen Flugplatz erhoben, stürzte es senkrecht ab. Die beiden vorne Befindlichen, Willy Bocola und der Pilot Caggia, waren sofort tot, die beiden andern verletzt, jedoch nicht lebensgefährlich, und sehen einer baldigen vollständigen Genesung entgegen. Die Nachricht von diesem Unfall erweckte natürlich in Tripolis grosse Bestürzung und wurde sofort an das Flugfeld in Bengasi und an den Podestà in San Severo übermittelt mit dem Ersuchen, den Verwandten Bocolas schonend diese Schreckensnachricht beizubringen. In San Severo besorgte dies der Podestä gegenüber der Mutter und den Geschwistern von Willy Bocola; in Bengasi übernahmen einige befreundete Offiziersdamen diese schmerzliche Aufgabe. Die beiden Kinder, der nun sechsjährige Sandrino und die zwanzig Monate alte Heidi, wurden von den Töchtern zweier Obersten, Sandrino - dem der Tod seines Vaters bisher verheimlicht wurde und wird - auch von einigen jüngeren Offizieren ständig betreut und die Witwe bis zu unserer Ankunft nicht allein gelassen. Sogar nachts schlief regelmässig eine Offiziersdame, die Frau des Capitano Mey, bei unserer Tochter und diese mit Sandrino wurde regelmässig von Freunden zum Mittagessen eingeladen und abgeholt, damit sie sich nicht, allein gelassen, über den tragischen Trauerfall hintersinnen könnte. Auch ausserhalb des engeren Kreises der Fliegertruppe erweckte die Todesnachricht, die unmittelbar vor Weihnachten bekannt wurde, grosses Mitgefühl, das sich unter anderem durch von Unbekannten oder entfernt Bekannten gemachte Weihnachtsgeschenke an die beiden Waisen, Sandrino und Heidi, bezeugte, die sich beide in Bengasi-Berca allgemeiner Beachtung und Beliebtheit erfreuten. (...) Willy Bocola war ein ganz ausserordentlicher Mensch, einer der allerbesten italienischen Jagdflieger, ein ganz hervorragender Offizier und Vorgesetzter, ein treu besorgter, zärtlicher Ehegatte und Familienvater und dabei von rührender Bescheidenheit. Er sah dank seiner hervorragenden beruflichen Tüchtigkeit noch einer grossen Karriere entgegen. Er sollte bereits auf Neujahr 1937 nach Tripolis zu General Fougier versetzt werden, und hatte deshalb seine Squadriglia in Bengasi bereits abgegeben. Sein Verlust wurde daher speziell in Kreisen der italienischen Flugwaffe allgemein schmerzlich empfunden. Das beweisen nicht nur zahlreiche Telegramme, die sein Stormo und seine Witwe in Bengasi erhielten, - unter andern vom Fliegergeneral Duca d‘Aosta aus Gorizia, der Willy Bocola besonders wertschätzte und in einem späteren Telegramm den Verstorbenen als «unvergesslich» bezeichnete - sondern auch die grossartigen Trauerfeierlichkeiten, die zuerst in Tripolis und nachher in San Severo, der Heimat des Verstorbenen, stattfanden. (...) In der Vaterstadt Bocolas, San Severo, war der Verstorbene allgemein geschätzt und beliebt und während der Trauerfeierlichkeiten hatten sämtliche Geschäfte geschlossen. (...) Für uns Verwandte in der Schweiz sieht in der Würdigung des lieben Verstorbenen im Vordergrund, dass er ein liebevoller und besorgter Ehegatte und Familienvater und im Verkehr mit allen Mitmenschen bescheiden und zuvorkommend war. (...) Neben seinem Berufe widmete er seine ganze Liebe seiner Familie und wendete alles auf, um seiner Frau und seinen Kindern ein glückliches Familienleben zu verschaffen. Rührend war speziell die Art und Weise, wie er seiner Frau Arbeiten abnahm, die bei uns in der Schweiz als typische Frauenarbeiten betrachtet würden. Wie viele Male hat er seine kleinen Kinder trocken gelegt und wieder eingewickelt, wie es eine geprüfte Kinderpflegerin nicht besser tun könnte. Wie oft hat er sich auch im Krankheitsfall um die Kinder bemüht, wie hat er in seiner Freizeit im Haushalt ausgeholfen und bestimmte Gerichte selber hergestellt, z. B. vortreffliche Makkaroni fabriziert. Besonders am Herzen lag ihm die Erziehung und das Fortkommen seiner Kinder, insbesondere des jetzt sechsjährigen Sandrinos, der schon frühzeitig eine besondere Gabe im Zeichnen und Schreiben und im Erlernen von Sprachen bezeugte. Da sich durch den wiederholten Wohnungswechsel der Eintritt in die Normalschulklasse für Sandrino herauszögerte, unternahm er es in seiner Freizeit, ihm das ganze Pensum der italienischen 1. Klasse beizubringen, so dass Sandrino mit Uberspringen der ersten Klassen sogleich in eine höhere Klasse eintreten könne. Wir Schweizer Verwandte hatten die Freude und das Vergnügen, Willy Bocola nicht nur zu gelegentlichen Besuchen, sondern auch zu längeren Ferienaufenthalten empfangen zu können, welche Reisen in die Schweiz Willy durch den Besitz einer kleinen Fiat Balilla erleichtert wurden, mit der er eigentliche Rekordfahrten vollführte, wobei er nicht nur seine ganze Familie, sondern auch noch das ganze Reisegepäck für sich und die kleinen Kinder in kunstvoller und erfinderischer Weise auf diesem Wunderwagen verstaute. So kam er einmal von Udine in einem Tag mit Kind und Kegel über den Gotthard auf ihm unbekanntem Weg nach Basel, ein andermal von Udine nach Lenzerheide und dann wieder zweimal im Laufe je eines Nachmittags von Turin über den Grossen St. Bernhard, Col de Pillon etc. nach Adelboden, dann wieder mit dem ganzen Gepäck von Adelboden nach Basel und wieder über den Gotthard nach Turin. (...)Nicht nur bei wiederholt längeren Besuchen, die wir in Udine und Turin, einmal auch in Riccione, abstatteten, sondern auch während dieser Ferienaufenthalte in Lenzerheide und Adelboden hatten wir jeweils Gelegenheit, Willy Bocola in all seinen Vorzügen kennen und schätzen zu lernen. Dass uns Schwiegereltern, Schwägern und Schwägerinnen der so plötzlich im schönsten Jugendalter erfolgte Tod von Willy Bocola sehr nahe geht, braucht keiner weiteren Begründung, dass insbesondere seine Frau und seine Kinder einen unersetzlichen Verlust erlitten haben, auferlegt uns dagegen die Pflicht, nicht nur das Andenken an Willy Bocola stets hoch zu hallen, sondern auch zu dessen Ehren seiner Witwe und seinen hinterlassenen Waisenkindern, Sandrino und Heidi, den zukünftigen Lebensweg möglichst zu ebnen in Verbindung mit der Mutter und den Geschwistern des Verstorbenen und dessen weiteren Verwandten, die in dem Verstorbenen ebenfalls die Stütze und den Stolz ihrer Familie verloren haben. Im Namen der hinterlassenen Schweizer Verwandten, Der Schwiegervater und Grossvater: Dr. Oskar Schär. B a s e l, den 10. März 1937. Paulus der Streiter. In Gottes Namen, Amen. Vater im Himmel, sieh diese Deine Kinder hier versammelt in Deinem Namen und auf Dein Geheiss. Du hast wiederum Gnade ausgegossen über die Meinen und sie für würdig befunden eines Lichtstrahles aus höchster Höhe. Du hast ihr Tun geschaut, ihre Herzen liegen offen da vor Dir. Du hast sie würdig befunden Deiner hohen Gnade. Ich bitte Dich mein Vater, löse alles Irdische und Alltägliche aus aus ihren Herzen, mache sie frei, damit sie ganz eintauchen können in den Liebesstrahl, den Du nun herabsenken willst. Gib Vater, dass sie fähig sind aus dieser Deiner Liebe neue Kraft und Zuversicht zu schöpfen für ihren weiteren Weg. Dies bitte ich - Amen. Weiters bitte ich Euch, das ihr nun eine kleine Weile in stärkster Konzentration verharret, um damit notwendige Kräfte zu schaffen für die kommenden Auswirkungen. Zu Marty: Für Dich mein Kind ist diese Stunde ausersehen. Dir gilt ihr hohes Licht und das Licht bestätigt Dir Deinen Fortschritt. Sei froh und dankbar. Wisse Du Dich gehalten und gestützt von Deiner hohen Führerin, die selbst noch zu Dir sprechen wird. Lasse nun alles Drückende, Beängstigende und Lastende von Dir weichen und gebe Dich ganz gelöst dem Kommenden Auswirkungen hin. Hast Du mich verstanden? Vater, wir sind bereit, so lasse denn Deine Liebe über uns sich ausgiessen. Amen. Emmy nimmt den Führer von Willy auf. Er macht das Kreuzeszeichen und spricht dann: Gott zum Gruss! Mein liebes Kind. Zum erstenmal trete ich, der Führer Deines Gatten zu Dir und nehme und halte Deine Hände in den Meinen. Und lasse meine Kraft und meine Liebe so in Dich hi- nübergleiten und schaffe damit ein Band, das von nun an nie mehr sich lockern geschweige denn zerreissen soll. Dass ich heute gemeinsam mit ihm den Weg hieher in diese lichte Stunde tun durfte, ist zum grossteil Dein Verdienst, meine liebe Schwester. Du hast Dich würdig und tapfer gehalten. Du hast nach bestem Wollen und mit viel Glaube und mit inniger Liebe all das versucht zu erreichen, was Deine hohe Führerin Dir vor Monden als Aufgabe stellte. Und wenn Du auch Deine Glaubensstärke, Deinen Glauben überhaupt noch nicht so lebendig empfindest, wie es Dein sehnlichster Wunsch ist, so sei nicht unglücklich darüber. Glaube mir mein liebes Kind, alles will seine Zeit und jede einzelne kleine Stufe im grossen Rahmen der Entwicklung muss geleistet sein und will seine Zeit haben. Darum gehe Du auf der nun einmal erkannten Bahn frohen Herzens weiter, links und rechts von Dir Deine Kinder an der Hand führend, dass sie mit Dir hineinschreiten in die Zukunft, einer Zukunft entgegen, die hell und licht und schön und für Dich mein Kind voller Friede sein kann, wenn Du nur willst. Bei Dir steht Dein Dual. Seine Liebe schwingt von ihm durch mich hindurch so stark zu Dir hin! Bevor ich ihm Raum gebe, lass mich Dir noch etwas sagen: Auch er hat in der vergangenen Zeit seine Arbeit geleistet und Stufen erklommen und wieder gelassen, um eine noch höhere zu erreichen. Die Kraft dazu aber schöpfte er aus Deiner Arbeit. Du selbst hast somit Weg und Steg geebnet, um ihn seinen Weg gehen zu lassen. Dafür dankt auch er Dir. Die Schwester, deren Körper mir als Werkzeug dient, hat heute Nachmittag schon die Schwingung aufgenommen und Dir mitgeteilt, so dass mir nur bleibt, dies zu bestätigen: Transkriptionen 200 Transkriptionen 201 R.Buchner, MNG, 1947: Brief an M.Bocola-Schär. - T12 Der höher entwickelte Geist ist nicht gebunden mehr an irdische Sprache. Um nun die Verbindung, die Kundgebung leichter zu gestalten, formen wir Führergeister seine Schwingungen um und geben sie durch das Werkzeug weiter in des Werkzeuges Sprache. Dennoch ist ihm freigestellt, auch in seiner irdischen Sprache Dir einiges zu sagen, um Dir die Ueberzeugung zu geben, dass wirklich er es ist. Nun ziehe Du, wenn Du dieses Heim wieder verlässest, hinaus in Deinen Alltag. Trachte je mehr und mehr einzudringen in die Lehre unseres Herrn. Lasse je mehr und mehr Deinen Alltag und die Erziehung Deiner Kinder im Lichte Seines Wortes getan sein. Lasse nich Rastlosigkeit zu sehr Dich innerlich verbrauchen. Immer wieder einmal kommen auch in Deinem Alltag stille Minuten. Dann nimm sie, diese Minuten und erhebe Dein Herz zum Herrn, der Dich in Liebe stützt und hält und dem Du liebes Kind bist, an dem Er Freude hat. Nun sei Gott befohlen...... Das Licht erfüllt den Raum. Es hüllt uns alle ein. Amen. Willy: Marty! - Cara mia! È la gioia, l‘amore. Dammi la forza! -- Dunque senti, lasci mi parlare come ti ho parlato sempre senza che mi trovi così bene perché non va come ho parlato d‘abitudine --- Io sto bene. (Frage) Felice? Sono contento, lavoro ma è und lavoro che non ti posso spiegare così bene. Non è tempo ancora di parlare del mio lavoro. Ma ti dico, che è diventato molto, molto più chiaro intorno di me. Il dolore che mi aveva strazziato non è più. (Vedi tu i tuoi cari morti?) Io cara non vedo, no, mai, ma questo come devo spiegarti, non è un dolore per me. Io sento tutti, mi sono riuniti in una maniera molto cara. Non posso spiegarti, non sono infelice. Loro lavorano in una tutt‘altra parte, non sono nei dintorni di me. (Frage) -- Adesso ti sono molto più vicino che l‘anno scorso perché sono diventato più calmo. (Frage: Perché non me lo fai comprendere?) Io ti faccio sentire. Ma il contatto è fatto da te a me ma non cammina ancora bene. Senti - sarà il nostro lavoro in tempi che verranno, che tu ogni lunedì ... jeden ersten Montag im aufsteigenden Mond sollst Du abends Dich mit mir verbinden. Ma ogni giorno cara non è possibile, non sarebbe possibile per me di essere sempre vicino di te. Ma nei miei pensieri voi siete così vicino di me, siete così ... seid so eingeschlossen, zusammengeschlossen durch meine Gedanken. Io vi tengo in amore, io sento di voi tutto l‘amore e tutti i pensieri ..... i pensieri mi giungono tutti, ma non posso esserti così vicino. Ma in quel giorno io ti sono proprio accanto. Cara! Sarà il nostro compito di egalizzare, di far piano -- ah le parole! ... Es wird unsere Aufgabe sein, unsere Verbindung zu ebnen, zu klären, um endlich den Weg frei zu machen für eine innige Verständigung. Capisci? --- È così un dono, è così grande, questo compito e non essere, cara, infelice, se non va subito così bene. Sai che ti sono vicino, sai questo senza dubbio! Ci credi allora in questa forza spirituale? Ti posso giungere e tu vedrai, che io ti potrò parlare poco a poco in una maniera non come adesso ... In weiter Zukunft wird in diese direkte Fühlungsnahme zuerst Sandrino und dann auch Heidy einbezogen werden. Wie dies vor sich gehen wird, weiss ich heute selbst noch nicht. Ich weiss nur, dass uns diese Gnade geschenkt ist, die ich soeben aussprach. Capisci? Credimi cara! Anche se non ti posso parlare come ti ho parlato una volta! Ma in queste ore che verranno, tu mi sentirai come sempre. Il dono è per tuo lavoro! Sei stata tanta eroica, proprio eroica. (Frage wegen der Kinder) Non farti sospiri, forse devi, quando dormono, andare da loro e tieni la mano qui e lasci andar dentro il calmo e la forza, preso dell‘alto. Dopo parlate insieme. Io lascio il ricordo nella sorella. (Er wendet sich zu Alwin und dankt ihm und Emmy.) Non sai che felicità mi da di vedervi tutti insieme. Io vedo la luce proprio splendida che vi è intorno. Talvolta mi è permesso di fare uno sguardo più lontano. Non lo vedo chiaro quel lontano, ma so che ci viene preparato un futuro, un essere insieme. Cara Marty! Il tempo più terribile è passato. Siamo felici di questo. Per te quanto per me è passato il tempo brutto. (Frage, ob er nicht etwas zu sagen habe für Mama.) (Seine Kraft wird schwächer.) Aspetti, andando io vi prendo tutti tutti cari genitori, la mamma, tutti i miei, vicino a me, Sandrino, Heidy ... (weint) (Alwin gibt Kraft.) Se non ti ho parlato l‘altra volta dei miei, se non ho dato saluti era per questo, che quel resto di forza con quale mi era possibile di salutarti era per te. (In direkter Uebersetzung notiert): Die Kraft war so gering, dass ich mich nur für Dich conzentrieren wollte. Non era dimenticare ... (Frage wegen Eva, Antwort in direkter Uebersetzung): Ich kann heute auch nicht so weit gehen. Lunedì, quel altro lunedì, mi sentirai. Grazie? Siamo uno nell‘altro, proprio per sempre! Grazie. Addio! Emmy sieht: Ich sehe wiederum den Raum ganz im Licht. Er steht im Licht, ich sehe seine Geistgestalt hell und licht. Nun wendet er sich noch einmal zurück, sein Blick gilt Dir, Marty. - Er ist schon weit weg. - Dort entschwindet er. Ich sehe nichts mehr. Noch einmal komme ich, sein Führer. Ich darf Dir folgendes sagen. Als er damals, als Deine Kinder so krank waren, hier war, war er auf einem solchen Tiefpunkt angelangt, dass er ohne jede Kraft darniederlag und wie in einer Betäubung Deine furchtbar schwere Zeit miterlebte. Es war die schlimmste Zeit. Später einmal, wenn Euer beider Geist sich aufgeschwungen haben wird in noch jetzt unbekannte Höhen, werdet Ihr wissen und erfahren die tieferen Gründe dieser Krankheit und schwerster Niedergeschlagenheit. Für den Augenblick, meine Schwester, lasse es ruhen. Dein Dual ist mit Dir und Deinen Kindern durch Ewigkeitsbande und mit den Kindern durch Bande verbunden, die durch Zeiten und abermals Zeiten reichen. Darum sei nicht ängstlich, dass er ihrer konnte weniger gedenken, denn solche Bande, wie sie Euch binden, reissen nicht mehr, noch werden sie überhaupt irgendwie schwächer. Weise diese Gedanken von Dir, denn wie er Dir schon sagte, musste er sein ganzes bisschen Kraft für Dich gebrauchen, denn für einen kurz heimgegangenen Geist bedeutet es immer einen grossen Kraftaufwand, irdisch zu den Menschen zu sprechen. Auch darüber wirst Du mit zunehmender Reife und Erkenntnis ganz allein Dir ein Urteil bilden können. Für heute bist Du nun ruhig und voll Zuversicht. Diese Deine schöne Zuversicht und Deine tapfere Ruhe strahlen mir entgegen und sind schon wieder ein neues Stück Weg dem Kommenden entgegen. Noch will ich Dir eine letzte Verhaltungsmassregel geben für den Montag: Trachte darnach, dass Du an diesem Tag Dich nicht zu sehr seelisch verausgabst. Verhalte Dich so, dass genügend seelische Kräfte für den Abend bereit sind. Diese Konzentration soll am 1. Montag 5 Minuten nicht übersteigen und am 2. gesteigert werden auf 10 Minuten. Dies mag Dir gering erscheinen, dennoch sind diese 5 Minuten für ihn wiederum eine grosse Kraftanstrengung, die Du Dir heute noch nicht so vorstellen kannst. Darum nimm Du diese 5 Minuten hin als Geschenk. Aus ihm wird sich alles weitere entwickeln. Nicht zu sehr drängen, sondern in der Ruhe bleiben. Zuerst konzentriere Dich, löse Dich innerlich los vom Alltag, lass die kleinen Sorgen. Mache Dich ganz frei, dann bete, nur das Vaterunser, nicht Deine ganze übliche Konzentration. Und dann stehe gegen Osten und halte die Hände so ..... und nimm geistige Kraft in Dich auf und schaffe damit die Basis, auf der die Verständigung vor sich gehen kann. Hast Du irgend eine Frage? Bedenke und überdenke ruhig, ich warte eine Weile .... Die Art des Austausches wird sich von selbst ergeben. Sie bleibt Euch überlassen. Fürs erste wirst Du mit drängenden Fragen nicht an ihn gelangen, das versteht sich, sondern einfach seine Schwingung aufnehmen und die Verbindung herstellen. Und in dieser Verbindung verharrt Ihr diese kleine kurze Zeit. Vielleicht auch so, das nächste und übernächste Mal. Bedenke, dass eine lange Entwicklung vor Euch liegt, die nicht erzwungen werden darf. (Frage ob immer 10 Minuten.) Du wirst es schon spüren und sollst eventuell mit der Schwester Rücksprache nehmen, auf dass ich sie beeindrucken kann und sie Dir meine Botschaft weiter gibt. Bist Du nun im Klaren? Nun will sich die Lichtstunde zu Ende neigen. Vater, mit einem Herzen voll Dank, dass Du gnàdig Dich uns erwiesen hast, lassen wir sie ziehen und schöpfen aus ihr Kraft und Ruhe und jene Frohheit des Herzens, die wir brauchen und die uns, die wir des Herrn Diener sind, wohl ansteht. Vater wir bitten Dich bleibe bei uns in Deinem Sohne Jesus Christus. Gib dass wir je mehr und mehr Ihm dienen und Sein werden. Amen. So gehet wiederum hin in Frieden und mit dem Segen des Herrn. Er behütet Euch auf allen Euren Wegen, Er ist bei Euch allezeit, Sein Licht umfasst uns alle, alle. Amen. Gott zum Gruss. Der Geist macht nochmals das Kreuzeszeichen und sagt dann: Du Kreuzeszeichen, das Du verwandelst Kreuz in Licht, sei gepriesen. Amen. Dankgebet: Vater im Himmel wir danke Dir für Deine Gnade, die Du heute Abend uns wiederum geschenkt hast. Jedes von uns ist dankerfüllt. Ich Vater danke Dir für die Gabe, derer Du mich würdig hast befunden. Ich danke Dir, dass ich Werkzeug sein darf, um den Andern Hilfe und Freude und Glück zu bringen. Vater ich bitte Dich stehe mir bei allezeit, dass ich nicht unwürdig werde dieser Deiner Gnade. Vater gib, das ich in Liebe und Geduld meinen Alltag meistere und damit aufsteigen darf und weitere Gabe geschenkt bekommen darf, wiederum zum Segen der Meinen und aller meiner Mitmenschen. Amen. Ich war ich. Basel, 14. Februar 1947 Frau M. Bocola-Schär, Bachlettenstrasse 60 Herrn Em. GoldbergerAckersmann, Rütimeyerstrasse 47, Basel Sehr geehrte Frau Bocola, sehr geehrter Herr Goldberger Ihre Söhne haben es unternommen eine Schülerzeitung heraus zu geben und haben damit die Schuldisziplin in gröblichster Weise verletzt. Ich bedaure sehr, von dieser Absicht nicht von Seiten der Eltern unterrichtet worden zu sein, denen dieses Vorhaben kaum unbekannt geblieben sein konnte. Ihre Söhne haben sich bei Herrn Kühndorf auf dem Erziehungsdepartement über das Vorgehen erkundigt und sind richtig beraten worden. Herr Kühndorf schreibt uns am 13.2.1947: „Ich finde die Sache sehr bedenklich, umsomehr, als ich den beiden jungen Leuten, die sich bei mir Rat holten, deutlich und eindringlich zu verstehen gab, dass einmal für eine solche Zeitung kein Bedürfnis bestehe und dass in allererster Linie dafür die Zustimmung der Schule, d.h. des Rektorats eingeholt werden müsse. Das Rektorat würde nach Prüfung des Planes ohnehin das Departement um seinen Entscheid angehen. Die Schulbehörden und Lehrer hätten darüber zu wachen, dass die Schüler nicht durch häusliche Arbeiten, durch Mitwirkung bei der Tätigkeit der Eltern oder anderer Personen oder eine Erwerbstätigkeit irgendwelcher Art so belastet werden, dass sie die von der Schule angeordneten Hausaufgaben nicht oder nich richtig auszuführen imstande seien oder an ihrer Gesundheit Schaden nehmen (§ XXII, Absatz 1, der Schulordnung vom 27. Juni 1932). Im weiteren machte ich darauf aufmerksam, dass eine Zeitschrift nicht von Unmündigen herausgegeben Transkriptionen 202 Bibliographie R.Buchner, MNG, 1947: Brief an Ernst Burlet. - T13 werden könne, dass also dafür ohnehin Eltern und Lehrer gewonnen werden müssten und diese hätten sich, bevor das Unternehmen gestartet werde, mit den Schulbehörden in Verbindung zu setzen. Als die Frage der Finanzierung berührt und als erklärt wurde, die Zeitung solle gedruckt und durch Inserate gestützt werden, habe ich die Jünglinge darauf aufmerksam gemacht, dass ein Beschluss vorliege, wonach für Schulveranstaltungen keine Inserate gesammelt werden dürfen. Ich entliess die Burschen mit der dringenden Mahnung, bevor sie überhaupt einen Schritt im Sinne der Gründung einer Zeitung unternehmen, vorher den Rat des Rektors einzuholen. Das Departement würde keinesfalls gestatten, dass Zeitungen vor dem Schulhaus verteilt würden; im Schulhaus sei dies ja ohnehin nur mit Zustimmung des Rektors möglich. Wenn die Burschen nun behaupten, sie hätten von mir die Erlaubnis erhalten, die Sache zu verteilen, so ist dies eine glatte Lüge. Es ist ja auch vollkommen ausgeschlossen, dass eine Bewilligung für eine so fragwürdige Sache erteilt wird, die im Zeitpunkt der Besprechung noch gar keine Gestalt angenommen hatte. Ich bin der Meinung, dass den beiden Schülern in der eindrücklichsten Weise klar gemacht werden muss, dass sie sich mit ihrer Handlungsweise strafbar gemacht haben.“ Ihre Söhne haben es für gut befunden, diese Ratschläge nicht zu befolgen, weil sie von Anfang erkennen mussten, dass damit ihr Vorhaben verunmöglicht würde. Sie haben sich mit dem Rektor nicht in Verbindung gesetzt, vielmehr ihr schmutziges Elaborat den Schülern eigenmächtig verteilt. Darüberhinaus sind sie in die Mädchenrealschule, Steinenschulhaus, eingedrungen und haben sich unterfangen, während des Unterrichts - trotz dem Protest der Lehrerinnen und Lehrer - ihre Zeitung zu verteilen und haben sich ihrer Ausweisung aus den Klassen gewalttätig widersetzt. Wie zu erwarten war, haben zahlreiche Eltern bei Herrn Rektor Dr. Langbein Protest erhoben, dass ihren Kindern derartige Schundliteratur in der Schule ausgehändigt würde. Herr Rektor Dr. Langbein hat im Auftrage seiner Lehrerschaft auf das nachdrücklichste bei uns protestiert und die Bestrafung der Schuldigen verlangt. Wir setzen Sie hiermit davon in Kenntnis, dass wir mit allem Nachdruck verbieten, dass diese Zeitung fernerhin auf irgend eine Weise an unsere Schüler oder an diejenigen einer anderen Schule herangebracht wird. Wir haben den Schülern für ihr unqualifizierbares Verhalten in der Steinenschule zwei Mal einen MittwochnachmittagArrest verhängt. Wir werden aber von diesem gröblichen Disziplinarverstoss - der nun insbesondere bei Bocola das Mass vollmacht - die Inspektion in Kenntnis setzen und sie ersuchen, die Schulausweisung in Erwägung zu ziehen. Mit vorzüglicher Hochachtung, der Rektor des Mathematisch-naturw. Gymnasiums: Basel, den 21. März 1947 Herrn Dr. E. Burlet-Schär, Bachlettenstrasse 60, Basel Sehr geehrter Herr, wir berichten Ihnen wiederum über das Verhalten unseres Schülers S. Bocola, damit Sie nicht annehmen, wenn die Schule nicht berichte, so sei alles in Ordnung. Obwohl er weiss, dass über sein Verbleiben an der Schule entschieden wird, lässt er sich davon nicht abhalten, immer wieder zu spät zur Schule zu kommen und zudem sein Schulmaterial nur unvollständig mitzubringen. Herr Dr. Noll hat ihm für das Schwänzen des BiologieUnterrichts eine Aufgabe erteilt. Als die Aufgabe nach 8 Tage fällig war, erklärte Sandro, damit nicht fertig geworden zu sein. Nach abermals 8 Tagen stellte sich allerdings heraus, dass er auch dann noch nicht einmal mit der Arbeit begonnen hatte. Unter diesen Umständen verzichtete Herr Dr. Noll auf die Ausführung dieser Arbeit. Mittwoch Nachmittag erhielt er die Erlaubnis, eine Zeichnung nach 16 Uhr zum Abschluss zu bringen. Heute stellt sich heraus, dass er in dieser Zeit durch Messerwürfe die Wandtafel schwer beschädigt hat; ein Stück ist abgesprengt. Sie muss in Reparatur gegeben werden; die Rechnung wird zur gegebenen Zeit seiner Mutter zugestellt werden. Diese weiteren Vorkommnisse bestärken uns in unserer Auffassung, dass Sandro an einem Gymnasium nicht am richtigen Ort ist. Er ist unfähig, ein in ihn gesetztes Vertrauen zu erkennen und zu rechtfertigen. Mit vorzüglicher Hochachtung, der Rektor des Mathematisch-naturw. Gynmasiums: Bibliographie Verzeichnis der zitierten Werke, S. 203 Literaturverzeichnis Johann Friedrich Schär, S. 203 Literaturverzeichnis Oskar Schär, S. 204 203 Verzeichnis der zitierten Werke Literaturverzeichnis Johann Friedrich Schär Berner, Sieber, Wickers, 2008: Kleine Geschichte der Stadt Basel, DRW Verlag, Leinfelden-Echterlingen, 2008 Verzeichnis sämtlicher in Buchform erschienenen Werke von Dr. Joh. Friedr. Schär Handschin, Hans, 1954: Der Verband Schweiz. Konsumvereine (VSK) 1890-1953, Basel, Buchverlag VSK, 1954 Kellerhals, Werner, 1990, 100 Jahre Coop Schweiz (vormals VSK), 1890-1990, Buchverlag Coop Schweiz, 1990 Kunzmann, Ruedi, 2005: Konsumgeld der Schweiz, H.Gietl. Verlag, Regentauf, 2005 Schär, Johann Friedrich, 1920: Genossenschaftliche Reden und Schriften, Buchverlag VSK, Basel, 1920 Schär, Johann Friedrich, 1921: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, G.A.Glöckner Leipzig, 1921, 4.Auflage 1981, Nikon Shoseki Ltd. Schär, Johann Friedrich, 1924: Lebenserinnerungen, Buchverlag VSK, Basel, 1924 Schär, Johann Friedrich, 1924a Mein Lebenswerk, Typoscript, Basel/Freidorf, 1924 Schär, Oskar, 1936: Nachruf auf Willy Bocola, S.193 Schmidlin, Emil, 1947, In Memoriam Karl Oskar Schär, 1947 Im Verlag für Sprach- und Handelswissenschaft S. Simon, Berlin: 1. und 2. kaufmännische Unterrichtsstunden System Schär-Langenscheidt (verfasst von J. Fr. Schär) Kursus I: Buchhaltung. 854 Seiten in Lexikonformat, 14. Auflage 1922. Kursus II: Kontorpraxis. 815 Seiten in Lexikonformat, 14. Auflage 1922. Anerkannt das beste Werk für den Selbstsunterricht. - Einfache und doppelte Buchhaltung. - Methodisch geordnete Aufga ben für das Selbststudium und den Unterricht in der Buchhaltung nebst Lösungen und Musterdarstellungen. - Kaufmännisches Rechnen - Handelskorrespondenz und Handelsbetriebslehre in Verbindung mit der Wechsel- und Schecklehre. - Technik des Bankgeschäfts; - Musterbuchhaltung für das Kleingewerbe. Broschüre. - Wechselkurs und Wechselrecht. Separatabdruck aus dem System Schär-Langenscheidt. - Zahlungsbilanz und Diskont. I hre Beziehungen zum internationalen Geld- und Kreditverkehr, Broschüre. Der Überseehandel. Von Prof. H. Biedermann und Prof. Dr. J. Fr. Schär. 2. Auflage 1923. Maier-Rothschild. Handbuch der gesamten Handelswissenschaften. Zwei Bände. Von Prof. J. Fr. Schär und Richard Calwer. 144-153. Tausend. Umgestaltung der Geld- und Währungsverhältnisse des zwischenstaatlichen Zahlungsverkehrs und der Wechselkurse durch den Krieg. 1920. Bei verschiedenen Verlegern: Lehrbuch der Buchhaltung. Methodischer Aufbau der doppelten Buchhaltung. Julius Maier, Stuttgart 1888. Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung der Buchhaltung. Benno Schwabe & Co., Basel 1890. Freiland, oder die wahren Ursachen der sozialen Not vom Standpunkte der Bodenbesitzreform. Separatabdruck aus der Zeitschrift für schweizer. Statistik. 1893. Denkschrift über die Gründung einer Staatsbank für BaselStadt. Basel 1893. Verschiedene kleinere Propagandaschriften über Freiland, Bodenbesitzreform,Verstaatlich ung der Wasserkräfte (18881895). Der Kampf um den schweizerischen Zolltarif. Herausgegeben vom Verband schweizerischer Konsumvereine. 1891. Kalkulation und Statistik im genossenschaftlichen Grossbetrieb. Analyse der Rechnungen des A.C.V. in Basel für die Jahre 1898 bis 1908. Verlag des Verbandes schweizer. Konsumvereine, Basel 1910. Sechs Broschüren zur Belehrung und Propaganda für die Konsumgenossenschaften. Herausgegeben im Verlag des V.S.K., Basel, 1892-1913: - Organisierung gemeinsamer Wareneinkäufe. (Gründung einer Zentralstelle des Verbandes schweiz. Konsumvereine). 1892. - Thesen und Normalstatuten für schweizerische Konsumvereine. 1893. - Soziale und wirtschaftliche Aufgaben der Konsumgenossenschaften. 1910. Bibliographie 204 Bildrechte 205 Literaturverzeichnis Oskar Schär - Wandlungen im Detailhandel. 1912. - Die Genossenschaften im Lichte der wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe der Gegenwart. 1913. Allgemeine Handelsbetriebslehre. Fünfte Auflage. Glöckner, Leipzig, 1923. Ein Hauptwerk von Prof J. Fr. Schär. Neuauflage 1981, Nikon Shoseki Ltd. Die Bank im Dienste des Kaufmanns. 4. Auflage. Glöckner, Leipzig 1922. Einführung in das Wesen der doppelten Buchhaltung. Julius Springer, Berlin 1911. Buchhaltung und Bilanz. 5. Auflage. Julius Springer, Berlin 1922. Neuauflage 1995, Edition „Classic“, VDM Verlag Methodik der Buchhaltung. Mittler & Sohn, Berlin 1913. Pflege der Handelswissenschaften an der Universität Zürich. Orell, Füssli & Cie., Zürich 1904. Joh. Friedr. Schär›s genossenschaftliche Reden und Schriften. I. Band des Sammelwerkes «Pioniere und Theoretiker des Genossenschaftswesens» mit 140 Seiten Anmerkungen vom Herausgeber Dr. K. Munding. Verlag Verband schweiz. Konsumvereine, Basel 1920. Der kaufmännische Ratgeber (1923), ab 1924 Der Kaufmann, redigiert von Prof. Dr. J. Fr. Schär. Monatshefte, Benno Schwabe & Co. Basel. 1905 Die Verstaatlichung der schweizerischen Wasserkräfte 2. umgearb. und bed. erw. Aufl.; Helbing und Lichtenhahn, Basel 1905 1907 Ist die Schaffung einer eidgenössischen DisziplinarGerichtsbarkeit wünschbar und wie ist solche eventuell zu organisieren? Basel 1907 1909 Zur Statutenrevision des Verbands schweiz. Konsumvereine: eine Entgegnung auf die von Hans Müller an dem Entwurf des Verbandvorstands geübte Kritik. Krebs, Basel 1909 1916 Probleme und Streitfragen aus dem Gebiete der heutigen Lebensmittel-Versorgung, beurteilt vom Standpunkte der organisierten schweizerischen Konsumenten. VSK, Basel 1916 1920 Die Finanzierung des Baues von Mietwohnungen: Thesen. Schweiz. Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaues, Zürich 1920 Der soziale Handel. Georg Reimer, Berlin 1916. 1920 Der Unabhängige Orden der Odd Fellows, I.O.O.F.: Ein kurzes Wort der Aufklärung, hg. von der Gross-Loge der Rep. Schweiz. Basel 1920 Das Eindringen des kaufmännischen Geistes in die Staaatsverwaltungen. Separatausgabe der «Deutschen Wirtschaftszeitung». Berlin, 1910. 1921 Der Verband schweiz. Konsumvereine im Kampf gegen den verfassungswidrigen Schutzzolltarif. V.S.K., Basel 1921 Die drei Formen der Zweikontentheorie. Separatausgabe der Zeitschrift für Handelswissenschaften und Handelspraixs. Pöschel, Leipzig 1916. 1925 Die verschiedenen Arten der Genossenschaft; Das Genossenschaftsrecht; Die Besteuerung der Genossenschaften. Drei Referate. Basel 1925 Das sterbende Buch der Buchhaltung. Verlag Der Organisator, Zürich 1923. 1934 Konsumvereine und Mittelstand. V.S.K., Basel 1934 Einführung in die doppelte Buchführung für Laien. Benno Schwabe & Co., Basel 1923. 1937 Über den Warenhausbeschluss. VSK, 37.Jhg. Nr.27 (1937) 1938 Die Revision des Wirtschaftsartikels. VSK, 38. Jahrg., Nr. 28 (1938) 1941 Duttweiler und die Genossenschaften. VSK, 41. Jahrg., Nr. 13-15 (1941) 1942 Teilweise Inkraftsetzung des Wirtschaftsartikels ohne Volksabstimmung. VSK, 42. Jahrg., Nr. 37 und 38 (1942) 1943 Kritische Bemerkungen zum neuen Entwurf eines BG über den unlauteren Wettbewerb. VSK, 43. Jahrg., Nr. 7 1943 Zukunftssorgen der schweizerischen Konsumgenossenschaften. Politische Rundschau, 22. Jahrg., Heft 5/6 1944 Selbsthilfebestrebungen und Eidgenössische Preiskontrollstelle. VSK, 44. Jahrg., Nr. 9 und 10 (1944) 1944 Die Theorie des Mittelstandes von Prof. Marbach. VSK, 44. Jahrg., Nr. 3-7 (1944) 1944 Chronik des Verbandes schweizerischer Kantonalbanken 1907-1944. Hrsg.: Verband schweizerischer Kantonalbanken, ohne Angabe 1944 1945 Zum Problem der Ladengemeinschaften und der Frauenvertretungen in den Genossenschaftsbehörden. VSK, 45. Jahrg., Nr. 45 und 46 1945 Einwendungen gegen das Obligatorium des Fähigkeitsausweises. Basel 1945 1946 Das Problem der Totalrevision der Bundesverfassung. Politische Rundschau, 25. Jahrg., Heft 9/10 (1946) 1946 Johann Friedrich Schär als Sozialreformer. VSK, 46. Jahrg., Nr. 12 (1946) (VSK = Organ des Schweizerischer Konsum-Vereins) Bildrechte Die grosse Mehrheit der Abbildungen unseres Buches stammen aus unserem FamilienArchiv. Deren Copyright liegt bei Sandro Bocola und Heidy Lambelet-Bocola. Im folgenden eine Liste der Abbildungen, die wir fremden Publikationen entnommen haben, mit Angaben der jeweiligen Quellen und/oder Bildrechten. Bei vielen dieser Abbildungen ist das Copyright verjährt. Wo dies nicht der Fall ist, haben wir uns bei den entsprechenden Verlagen und Besitzern um ein entsprechendes Wiedergaberecht bemüht. - Abb. 7. 8. 9. 15. 17. 33. 40. 42. 43. 45. 47. 48. 49. 55. 79. 86. 87. 88. 204. 225. 234. Coop Schweiz. - Abb. 10. Universitätsbibliothek Basel, Porträtsammlung Benedikt Meyer Kraus,F 476 - Abb. 20. Tschudi, 1888 - Abb. 21. http://www.novartis. - Abb. 22. StABS, Hö D 42162 - Abb. 24. Staatsarchiv BaselStadt, AL 45, 2-68 - Abb. 25. Staatsarchiv BaselStadt, AL 45, 4-65. - Abb. 27. Staatsarchiv BaselStadt, Fotoarchiv Wolf, Neg 5766. - Abb. 28. Jacob Burckhardt. - Abb. 29. Theodor Herzl. - Abb. 32. Kunzmann, 2005. - Abb. 41. Rochdale Pioneer Museum. - Abb. 51. Basler Kantonalbank. - Abb. 54. Bildband Zürich um 1900 - Abb. 61. Deutsche Bauzeitung No.86, vom 27.10.1906 - Abb. 78. Foto André Muelhaupt - Abb. 158. Wikipedia - Abb. 167. Edizioni Scala d‘Oro - Abb. 180. Goetheanum - Abb. 200. Museo del Prado, Madrid/ www.arte-web.de. - Abb. 213. Orell Füssli Ver- lag, Zürich - Abb. 214. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg- Abb. 216. King Oliver - Abb. 217. Prolitteris - Abb. 218. Foto Maria Netter - Abb. 219. Kunstverein Basel Chronologie 206 Jahr Johann Friedrich Schär Oskar Schär und Bocola - Schär 1838 1846 1847 1848 1865 Geburt J.F.Schär 1866 1868 Heirat mit Anna Werren 1869 1870 1871* 1874 Chronologie Weltgeschehen Jahr Einführung der Schulpflicht in der Schweiz 1908 207 Johann Friedrich Schär 1909 Tod Arnold Schär 1911 Veröffentlichung Allgemeine Handelsbetriebslehre Schlaganfall J.F.Schär Alwine zieht zu ihm nach Berlin Neue Bundesverfassung Gymnasiallehrer Patent Lehrer am Seminar Münchenbuchse Geburt von Karl Oskar Libyen wird italienische Kolonie Schär Mitglied der Justizkommission 1913-1917 Fabrikgesetz in der Schweiz Beginn kaufm. Tätigkeit Ausbruch des deutschfranzösischer Krieg Tod der Mutter J.F.Schär Sekundarlehrer in Bischofszell 1914 1916 Beginn des 1. Weltkrieges Oakar Schär Nationalrat Gründung Konsumverein Bischofszell 1880 Direktor Mädchensekundarschule Biel 1921 1882 Lehrer Obere Realschule Basel 1923 J.F.Schär Ehrendoktor Universität Köln 1884 1888 1889 Sekretär A.C.V. Basel 1924 1925 1927 Tod J.F.Schär 1890 Mitbegründer V.S.K. Kauf Bachlettenstrasse 60 1904 Verfassungsrevision Basel-Stadt Mitglied des Grossen Rates O.Schär verlässt Elternhaus Heirat mit Olga Matile Präsident V.S.K. (bis 1903) Doktoriert summa cum laude Strafgerichtspräsident 1. Zionistenkongress Basel Heirat mit Anna Haller Sigmund Freud Traumdeutung Waffenstillstand Rückkehr in die Schweiz Gründung des Völkerbundes Genossenschaftliche Reden und Schriften Revision Bankgesetz Gründung des Partito Nazionale Fascista Wahlsieg der Faschisten W. Bocola Kapitänspatent Richter am Appellationsgericht 1929 1931 1933 Marty trifft Willy 1935 O. Schär Präsident des VSK. Grossratspräsident Geburt Heidy Bocola 1936 Willy Bocola und Familie Übersiedlung nach Libyen. Tod Willy Bocola Spanischer Bürgerkrieg Ausbruch des 2. Weltkrieges Eröffnung Kantonalbank BS Geburt Anneliese Schär Willy Bocola Weltrekord im Rückenflug Geburt Marty Schär 1939 Übersiedlung nach Basel Ehrendoktor Universität ZH Verstaatlichung der Schweizerischen Wasserkräfte 1941 Sandro tritt in das MNG ein Oskar Schär Grossrat Geburt Willy Bocola Professor Handelshochschule Berlin Albert Einstein Relativitätstheorie Cézanne Ausstellung in Paris 1944 1947 New Yorker Börsenkrach Geburt Sandro Bocola Professor Universität Zürich 1905 1906 Geburt Anna Haller Tod von Anna Schär-Werren Malewitsch Das schwarze Quadrat Franz Kafka Die Verwandlung J.F.Schär Rektor Handelshochschule Berlin 1876 Neue Kantonsverfassung Basel-Stadt Pablo Picasso in Horta de Ebro, erste kubistische Bilder Wassily Kandinsky: erstes ungegenständliches Aquarell 1912 Geburt Oskar Schär 1875 1895-1909 1897 1899 1900 1901 1903 O. Schär Vizepräsident V.S.K. Sonderbundskrieg Lehrerpatent Lehrer in Wattenwil Weltgeschehen Geburt Hanny Schär 1917-1929 1918 1919 1920 1891-1893 1892 ? Oskar Schär und Bocola - Schär Hitler kommt an die Macht Basler Künstler gründen Gruppe 33 Ende des 2. Weltkrieges Sandro wird aus dem MNG ausgeschlossen Tod Oskar Schär Ausstellungen Vincent VanGogh und Piet Mondrian in der Kunsthalle Basel Register 208 Herausgeber und Mitarbeiter Personenregister Register Barragan Justo: 7, 209 Balbo Italo: 124, 125 Bocola Alessandro: 97, 99 Bocola Eva: 97, 115 Bocola Heidy: 6, 7, 30, 65, 83, 92, 110, 111, 112, 113, 131, 135, 138, 142, 143, 144, 146, 148, 149, 150, 152, 153, 154, 157, 158, 159, 165, 167, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 200, 205, 207, 209, 210 Bocola Manfredo: 97, 99, 115, 117, 128, 136, 155, 161 Bocola Pinuccia: 136, 155, 161 Bocola Sandro: 6, 7, 86, 88, 90, 92, 94, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 111, 112, 115, 121, 123, 127, 128, 130, 132, 134, 135, 136, 137, 138, 141, 142, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 152, 153, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 202, 205, 207, 209, 210 Bocola Tittina: 114, 115, 117, 128, 136, 155, 161 Bocola Toto: 96, 101, 115, 135, 136, 146 Bocola Willy: 7, 85, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 97, 104 ,105, 106, 107, 108, 111, 115, 116, 117, 120, 121, 122, 124, 126, 128, 129, 140, 174, 181, 193, 194, 197, 198, 199, 200, 203, 206, 207 Bonfiglio: 120 Brogle Theo: 7, 46, 49, 57, 58, 181, 187 Buchner Robert: 168, 169, 181, 201, 202, 205 Burckhardt Jacob: 27, 44, 205 Burlet -Schär Hanni: 78, 146, 160, 165, 174, 181, 202 Burlet Oscar: 7, 55 Canonica Finn: 176 Carvalho dos Santos Marcos Davi: 7, 209 Cerutti Mimma; 120, Cerutti Sandro: 120 Clavel Alexander: 24 Curie: 164, Degen: 149, 150, 170, De Kruif Paul: 164 Dietschi Eugen: 62, 64, 65, 67, 68, 174, 181, 190 Dreyfus Rolf: 165 Duttweiler Gottlieb: 71, 205 Enderle Nelly: 100, 101 Faucherre Henry: 7, 38, 58, 181 Flatt Robert: 7, 28, 181, 188, 189, Gass Christian: 7, 25, 26, 37, 39 Geigy Rudolf: 24 George Henry: 43, 185 Gosteli Mike: 7, 56, 58, 138, 209 Gray Zane: 164 Haeckl Ernst: 164 Haller Otti: 78, 160 Haller Ruedi: 61 Handschin Hans: 7, 33, 36, 37, 39, 71, 203, Herzl Theodor: 27, 205 Hoffmann Fritz: 24 Huber Max: 57, 188, Humm Werner: 164, 166, Jaeggi Bernhard: 65, 158, 159, 190, Kohut Heinz: 12 Kissling Hans: 176 Kündig Rudolf: 32, 39 Lambelet-Bocola Heidy: 7 Lambelet Dominic: 209 Lambelet Louis: 30, 138, 209 Lambelet Michelle: 209 Lambelet Pascal: 209 Léhar Franz: 165 Leitner Friedrich: 51 Lurati Elio: 149 Maire Maurice: 65 Male: 132, 138, 148, 149, 173 Matile-von Seeger Olga: 30, 206 May Karl: 160, 164, 205 Mellerowicz Konrad: 51 Mey Marisa: 131, 132, 154, 155 Meyrin Georg: 39 Mondrian Piet: 166, 207 Montgomery Bernard: 161 Mozetti Augusto: 209 Müller Hans: 39, 48 Mussolini Benito: 124 Niederer: 21 Nietzsche Friedrich: 140, 205 Oliver King: 164, 165, 205 Parisi Maria: 97, 99, 115, 117, 132, 135, 137, 155, 157, 161 Pasteur Louis: 164 Pictet Edmond: 36, 37 Remarque Erich Maria: 164 Rommel Erwin: 161 Röntgen Wilherm Conrad: 164 Rüegg: 14, 18, 21 Russel Charles Edward: 34 Salgari Emilio: 164, 205 Sandoz Edouard: 24 Schär-Haller Anna: 9, 61, 76, 77, 80, 86, 105, 113, 135, 146, 147, 151, 153, 167, 174 Schär-Werren Anna: 17, 206 Schär Alwine: 9, 20, 53, 54, 55, 56, 150, 207 Schär Arnold: 30, 41, 207 Schär Erwin: 31 Schär Fritz: 31 Schär Hanni: 78, 80, 146 Schär Johann Friedrich: 6, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 18, 19, 20, 28, 29, 30, 31, 37, 38, 39, 41, 42, 43, 44, 46, 48, 49, 52, 53, 56, 57, 58, 176, 181, 182, 184, 185, 187, 188, 189, 197, 203, 205, 206, 207 Schär Lisy: 9, 53, 78, 80, 146 Schär Marty: 9, 52, 78, 80, 81, 85, 87, 89, 91, 92, 93, 101, 115, 140, 142, 143, 146, 157, 170, 181, 193, 194, 195 Schär Karl Oskar: 7, 9, 17, 20, 30, 31, 39, 41, 43, 58, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 73, 74, 77, 79, 80, 82, 83, 86, 90, 102, 105, 126, 128, 135, 136, 143, 146, 147, 153, 158, 169, 172, 174, 175, 176, 181, 185, 186, 190, 191, 192, 193, 194, 197, 199, 203, 204, 206, 207 Schär Rudolf: 31, 41 Schär Wilhelm Friedrich: 17 Scheitlin Donald: 146, 174 Scherrer Paul: 7, 64, 190 Scherrer Stefan: 7 Schmidt Georg: 166, 167 Schnurrenberger Susanne: 7, 209 Semmelweis Ignaz: 164 Sinclair Upton: 164 Sombart Werner: 51 Stadelmann Cölestin: 37 Steiner Rudolf: 138, 140, 205 Strauss Johann: 135 Tauber Richard: 165 Twedell Thomas: 34, Van Gogh Vincent: 167 207 Zellweger Otto: 65, Zschokke, Heinrich: 16, 181, Zürcher: 57, 188 Herausgeber und Mitarbeiter 209 Sandro Bocola Heidy Lambelet-Bocola Mitarbeiter Sandro Bocola, geboren 1931 in Triest. In Italien, Lybien und der Schweiz aufgewachsen. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Basel, Zürich, Barcelona und Paris lebt er seit 1968 in Zürich. Seit 2002 eine Zweitwohnung in Barcelona. Er war zwei Mal verheiratet und geschieden, hat zwei Töchter und einen Adoptivsohn und ist seit 1965 mit der Künstlerin Yvonne Wilen verbunden. Im Verlauf seiner beruflichen Laufbahn hat sich Sandro Bocola als Maler und Plastiker, Fotograf und Videokünstler, Grafiker, Kunstverleger, Ausstellungsmacher und Schriftsteller betätigt. Einen reich bebilderten, informativen Überblick über diese veschiedenen Tätigkeiten findet sich auf seiner Website www.sandrobocola.com, die auch seine wichtigsten biografischen Daten umfasst. Heidy Bocola-Lambelet, Geboren 1935 in Turin. In Basel aufgewachsen. Nach einem Turnlehrerindiplom Ausbildung zur Atem- und Körpertherapeutin. 1957 Heirat mit Louis Lambelet. Nach der Geburt von Michelle zweijähriger Aufenthalt in Indien, wo Dominic geboren wird. 1965 Übersiedlung nach Basel in das Haus Bachlettenstrasse 60. Geburt von Pascal. 1967 beginnen Heidy und Loulou eine Sammlung zeitgenössischer Kunst mit Kontakten zu vielen Künstlern und Künstlerinnen. 1974 Hauskauf in Spanien. Mitglied der Basler Filmkommission. Eröffnung der "Drehscheibe" (Privatrestaurant und kleine Kunstgalerie). Langjährige Arbeit für DEZA (Direktion für Entwicklungszusammenarbeit), einschliesslich Kommunikationsseminaren in Peru, Honduras und Nepal. Als Lehrbeauftragte für Körperinterventionen in der Ausbildung „Organisationsentwicklung“ für Westafrika, zweiwöchige Module in Tansania, Burkina Faso und im Kongo. Ab 1987 Beratungsaufträge für LehrerInnen-Fortbildung, Gesundheitswesen, und Entwicklungszusammenarbeit. 1994 Veröffentlichung des Buches Hinter den Augen lächeln. Louis verlegt seinen Wohnsitz nach Spanien. Seit 2000 nimmt Heidy keine offiziellen Aufträge mehr an. Vereinzelte Beratungen und Supervisionen, Artikel für Fachzeitschriften. 2008 Veröffentlichung von Vitalitybox. Heidy Lambelet-Bocola, Bachlettenstrasse 60, 4054 Basel. Justo Barragan, geboren 1966 in Richterswil. Seit 1997 Grafik Atelier Barragrafics in 8853 Lachen, Tel. 055 4601363, www.barragrafics.ch. Langjähriger Mitarbeiter von Sandro Bocola. Marcos Davi Carvalho dos Santos, geboren 1974 in Petropolis-RJ, Brasilien. Seit 1999 in Barcelona. Ausbildung als Grafiker, anschliessend Kurse in audiovisueller Gestaltung an der Universität Ramon Llull, Barcelona. Freiberufliche Arbeit für Sandro Bocola, Francesca Llopis und die Tanzgruppen Gelabert Azzopardi, Àngels Margarit/ Cia Mudances, Lapsus, Iliacan. email: mdmalungo@gmail. com Mike Gosteli, geboren 1963 in Boston. Kam im gleichen Jahr in die Schweiz, ging mit Dominic Lambelet zur Schule, studierte in Basel Geschichte, Philosophie sowie Kunstgeschichte und ist seit 1997 als freiberuflicher Historiker tätig. Augusto Mozetti, geboren 1979 in Buenos Aires, Argentinien. Seit 1981 in Rom, 1997 Übersiedlung der ganzen Familie nach Barcelna, wo er heute lebt. Seit 2000 widmet er sich der Gebrauchsgrafik und gründet 2004 das Studio Artis 2000, Visuelle Kommunikation, ein Unternehmen, das sich der „corporate image“, der Werbung und der grafischen Gestaltung widmet. email: augusto@artis2000.com Susanne Schnurrenberger, geboren 1939 in Bern. Ehemalige Sekretärin am Kantonsspital Basel und später in einer Anwaltsgemeinschaft, arbeitet seit vielen Jahren für Heidy, vor allem in der Katalogisierung der gesamten LambeletBildersammlung. Familien Schär und Bocola. Eine Familiengeschichte in Bildern und Texten. ©. 2009 by Sandro Bocola und Heidy Lambelet-BocolaPrivatdruck im Eigenverlag. Kontaktadresse: Sandro Bocola Forchstrasse 36, CH-8008 Zürich.