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NR 41 GENDER_GAP LEGEN, KLEBEN, LÜGEN In der Ausstellung «Das schwache Geschlecht. Neue Mannsbilder in der Kunst» im Kunstmuseum Bern entwerfen Silvie Zürcher und Pascal Häusermann ihre Perspektive auf Geschlechterverhältnisse. von Angela Wittwer Seite 26 – 28 EIN DIALOG ZWISCHEN KUNST UND MEDIZIN? Kunst von Michael Günzburger im Kantonsspital Aarau von Annelise Zwez Seite 38 / 39 EXIL/LOG Thomas Kern aus London Seite 29 KLEIN & FEIN Milchbüechli von Tina B. Zimmermann und Florian Vock Seite 30 TAUCHSIEDER Von Kuchenstücken und Stromgitarren von Ursula Huber Seite 31 BILDSCHIRM Veronika Spierenburg Seite 31– 33 FEDERLESEN Patti Basler und Rolf Keller über Beitragssprechungen aus Gendersicht Aufgezeichnet von Andrina Jörg Seite 34 / 35 HIMMEL & HÖLLE «Gender sei abgelutscht», meinte kürzlich eine Freundin. Wie bitte? Da gab es Ende 2013 eine Ausstellung zu Autorinnen im Literaturbetrieb im Strauhof in Zürich, das Kunstmuseum in Bern hinterfragt soeben Männ lichkeitsbilder in der Kunst und in Luzern zeigt die Alpineum Produzentengalerie mit «Corpus Delicti – Im Blick des Begehrens» eine Vielzahl der Blicke auf den nackten, menschlichen Körper. Es mag sein, dass der Geschlech terdiskurs sonst in der Öffentlichkeit wenig Priorität hat, trotzdem bestimmt er in nicht geringem Masse unseren Alltag und spielt in den aktuellen globalen Herausfor derungen überall eine Rolle. Auch wenn keine Wertehal tungen in der Art, wie sich Herbert von Karajan 1979 noch äusserte, dass Frauen hinter den Herd und nicht ins Orchester gehörten, jemanden des Geschlechts wegen von Kunst- und Kulturbetrieb fernhalten, erzeugen nach wie vor vielschichtige Gründe eine gläserne Decke über die Geschlechter. Unbestritten ist, dass Frauen jedenfalls nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung, nicht ihren Begabungen und nicht ihrer Ausbildung entspre chend in der Kunstproduktion vertreten sind. Eine andere Frage wäre, warum mehr Männer E-Gitarre als Harfe spielen? Spätestens seit Simone de Beauvoir wissen wir, dass das Geschlecht ein Konstrukt ist, das uns zugeschrieben wird. Das Leben besteht dann daraus, sich immer wieder zu versichern, dass es auch wirklich stimmt, eine Frau oder ein Mann zu sein. Doch so einfach ist es nicht mit den Identitäten. Neben den polarisierten Zuschreibungen «Mann» und «Frau» lenkt «Transgender» oder «Queer» die Aufmerksamkeit auf die unzähligen psychosozialen Geschlechtsidentitäten. Jenseits der vermeintlich natür lichen heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit, die nach wie vor Ausschlüsse produziert, geht es um alle Ge schlechter und Sexualitäten, um Homosexuelle, Schwule und Lesben, Bisexuelle, Trans*Personen, Intersexe, TransInterQueers, Falschsexuelle … Wenn das nicht neue sprachliche Zeichen braucht! Der Unterstrich «_» wird als Zeichen eingesetzt, das Möglichkeiten offenlässt, der Zwischenraum beziehe diejenigen Menschen ein, welche nicht in das ausschliessliche Frau-Mann-Schema hin einpassen oder nicht hineinpassen wollen. Oder das Gender-Sternchen. Das Sternchen wird als Suffix für eine beliebige Anzahl von Zeichen zwischen zwei Grenzen verwendet. Dann also Liebe_r Leser_in … oder wenn Sie wollen … Lieb* Les*, alles Gute und viel Glück im neuen Jahr! Andrina Jörg, Madeleine Rey, Redaktion e fraag von Simon Froehling Illustration von Naomi Bühlmann Seite 36/37 25 Legen, kleben, lügen im Raum verteilt sind. Alles zusammen – Objekte, Figuren; Stadt, Kunst und künstliche Natur – tritt in einen Dialog, der die physikalischen Gesetzmässig keiten geschickt umgeht. Silvie Zürchers Anliegen ist es, die gesellschaftlich definierten Grenzen von Geschlecht zu überschreiten, und sich anzueignen, was dem sogenannt anderen Geschlecht vorbehalten scheint. Ihre Figuren «plädie ren für komplexere Menschen, die die binäre, von Kultur, Medizin und Politik vorgeschriebene Auftei lung der Geschlechter nicht akzeptieren und in denen sich Unvereinbares zusammenfindet», so die Kuratorin Kathleen Bühler in der Publikation zur Ausstellung. Zürchers zweite in Bern gezeigte Arbeit «I Wanna Be a Son» ist eine Serie von Fotocollagen, bei der ihr Ge sicht auf Männerkörper montiert ist. «Mich beschäftigt die Frage, warum eine Frau, die in einer Lederjacke breitbeinig an einer Bar ein Bier trinkt, als männlich, burschikos oder unweiblich angesehen wird, und nicht einfach als eine Frau, die in einer Lederjacke in be quemer Haltung ein Bier trinkt. Es geht um die Zuord nung von Eigenschaften wie zum Beispiel Draufgän gertum, Tapferkeit, Mut, Verwegenheit – Eigenschaften, die immer noch als männliche empfunden werden. Mich interessieren die Momente, in denen ich mich als Frau wie eine Nachahmung, unzureichende Kopie von etwas empfinde.» Der in der Maskerade hergestellte Körper (die «Verkleidung» als Mann) entlarvt – im Sinne der Queer-Theoretikerin Judith Butler – das Original selbst als eine Kopie, denn weder «Frau» noch «Mann» gibt es als feste Grösse. Doch der Raum, in dem Kategorien verschwimmen und sich auflösen, drückt bei Silvie Zürcher eher ein Unbehagen aus als eine Euphorie angesichts des globa lisierten Supermarkts der Möglichkeiten: Für welches «Doing Gender», also für welches Ausagieren und Herstellen von sozialem Geschlecht sich entscheiden, welches Kleidungsstück anziehen, welche Pose wählen, mit welcher Stimme sprechen? Unsicherheiten scheinen auf, wo Stabilitäten und Konventionen verschwinden. Auch bei Pascal Häusermann ist das Verfehlen oder Scheitern Fluchtpunkt der Auseinandersetzung mit Geschlecht. In seiner 16-teiligen Werkserie «Megalo mania» (Grössenwahn) überblendet Häusermann Abbildungen adoleszenter Männer aus der Modewerbung in Lifestyle-Magazinen und der Webseite «how t o spend it» (ein Inlay der Financial Times) mit Motiven des Holzschnitt-Zyklus der Johannes-Offenbarung von Albrecht Dürer. So passiert es etwa, dass ein löwen ähnliches Geschöpf hinter einem Anzugsherren hervorlugt oder der Kopf eines Models mit einem Heili genschein versehen ist. Wenn die glatten Luxus-Oberflächen der Mode werbung mit den Holzschnitten Dürers konfrontiert werden, transferieren sich moralethische Fragen vom 15. Jahrhundert ins Heute. Denn schon bei Dürer ist die Kritik offen formuliert: Geistloser Materialis mus mündet in die Apokalypse. So verbindet sich bei Häusermann die Verdammnis der heidnischen und lasterhaften Menschheit mit der gegenwärtigen Krise von Angela Wittwer In der thematischen Gruppenausstellung «Das schwache Geschlecht. Neue Manns bilder in der Kunst» entwerfen die Künstler_innen Silvie Zürcher und Pascal Häusermann eine gesellschaftskritische Perspektive auf Geschlechterverhält nisse. Das künstlerische Mittel der Collage ermöglicht ihnen, tradierte Vorstellungen von Geschlecht zu zitieren, diese aber auch durcheinanderzubringen und neu zusammenzusetzen. Das Porträt Napoleon I. direkt neben Manets «Le Déjeu ner sur l’herbe», Fotos nackter Frauen mit Silikon brüsten neben ausgestopften Tierkörpern, eine Säulen halle mit Adonis-Skulpturen und barocke Decken gewölbe; Kronleuchter, stapelweise aufgeschichtete Bücher, ein Landschaftsgemälde aus der Zeit der Romantik; Schneeglöckchen, Tannenbaum und ein TV-Gerät mit Mattscheibe. Dazu ein Vergnügungspark in der Nacht und Stadtlandschaften mit Hochhäusern, Fernsehtürmen, engelsflügeligen Brunnen und Skulp turen, Pforten und Minaretten. – Und mitten in diesem Gewimmel von Kunstgeschichte, Bürgertum, kultu reller Globalisierung und mediatisierter Gegenwart sitzt eine junge Frau auf Polsterlandschaften, seriell ver vielfacht, gelangweilt, den Blick ins Leere gerichtet. Ihr Kopf scheint aufgesetzt auf einen hübsch drapierten Körper. Das Gesicht ist das der Künstlerin Silvie Zürcher und der beschriebene Raum findet sich als Foto-Collage auf der Vorderseite ihrer Arbeit «Paravent», einem tatsächlichen Paravent. Das fünfteilige Holzobjekt teilt den Raum, in dem es sich befindet, in ein Vorne und Hinten, in ein Innen und Aussen. Gleichzeitig ist der Paravent Bildträger. So teilt dieser Paravent den Raum nicht nur, sondern vervielfacht ihn gleichzeitig, indem er auf der Bildebene vorbehaltlos zitiert und überein anderlagert, und so Räume entstehen lässt, in denen sich einander unähnliche Dinge begegnen. In diesem Bild-Raum geraten Vorstellungen von Geschlecht in Schwingung, denn auch die typisiert auftauchenden und sich repetierenden Frauenfiguren verhalten sich zur Gesamtkomposition wie gewöhnliche Objekte, die 26 der neoliberalen und neokapitalistischen Werte. Das vom ökonomischen Aufschwung begleitete und männ lich konnotierte Modell des Erfolgs, der sexuellen und monetären Fitness ist durch die Finanzkrise und gesellschaftliche Transformationsprozesse selbst in die Krise geraten. Pascal Häusermann formuliert es so: «Das Auflösen der männlichen Herrschaft in Ge schlechterbeziehungen führt zwangsläufig zu Konflik ten, zu offen und verdeckt ausgetragenen Machtkämp fen. Eine der typisch männlichen Reaktionen auf die Ohnmacht ist diese der Aggression, des Starrsinns, der Abschottung und eventuell auch der Gewalt. Das alles sind Äusserungen des sich Gefangen-Fühlens.» Neben dieser grundlegenden Verunsicherung sind aber immer noch Momente von Heroisierung wirksam. «Is this Ronald Reagan?» – «Maybe a very young Re agan …» – «And this one? He must be famous.» – «This one looks like James Dean!» – Das mitgelauschte Gespräch zweier Betrachterinnen von Pascal Häuser manns Arbeit macht deutlich: Starkult, Idealisierung und Bildproduktion sind eng verknüpft. In Häuser manns Arbeit überlagern sich populärkulturelle und massenmediale Bildproduktionen mit der Konstruk tion von Geschlechterbildern. In der Werbung wird ein idealer männlicher Körper stilisiert, der sich misst mit den Helden Hollywoods und den Figuren der Welt politik. Bilder sind immer auch Austragungsort von Machtverhältnissen, von ihrer Aufrechterhaltung und Stabilisierung. Doch was für Möglichkeiten gibt es für die Kunst, in diese Machtverhältnisse zu intervenieren, Gegen- Bilder zu erfinden? Pascal Häusermann verweist auf die Darstellungen von Hermaphroditen in der Antike und erinnert daran, dass hybride Formen und Ge schlechterrollen in der Kunst eine lange Tradition haben: «Ich sehe die Kunst als prädestiniertes Spielfeld für changierende Geschlechterdefinitionen. Das kreative Schaffen erfindet da immer wieder noch unentdeckte Rollen, welche die Tradition aus den Angeln heben. Für mich persönlich bietet die Kunst die Möglichkeit, um die Zementierung, die herkömmliche Wahrneh mung unseres Lebens und wie wir uns in der Gesellschaft bewegen, zu durchbrechen.» Silvie Zürcher stimmt dem zu: «Die Kunst bietet eine Bühne, auf der man Behauptungen machen kann ohne Statistiken liefern zu müssen. Die Kunst kann alles. Sie kann lügen, schreien, unterstreichen, zerstören und im besten Fall neue Bilder erschaffen, die überholte Denkmuster lockern, um Wege für neue Ansätze zu ebnen.» Pascal Häusermann, geboren 1973, ist Künstler und Kurator und lebt in Zürich. Im Aargauer Kunsthaus war er Gast der «Auswahl 09». www.pascalhaeusermann.ch Silvie Zürcher, geboren 1977, ist Künstlerin. Sie lebt in Zürich. Silvie Zürcher und Pascal Häusermann zeigen ihre Arbeiten bis 9. Februar 2014 im Kunstmuseum Bern in der Ausstellung «Das schwache Geschlecht. Neue Mannsbilder in der Kunst.» www.kunstmuseumbern.ch Angela Wittwer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule der Künste und Künstlerin. Seite 27 Silvie Zürcher, Ohne Titel, 2005 / 2006 Aus der Serie «I Wanna Be a Son», Collage, 34.5 × 50 cm Courtesy Silvie Zürcher Seite 28 Pascal Häusermann, Nr. 3, 2009 Aus der Serie «Megalomania», Monotypie, Ölfarbe, Schellack, je 43 × 29 cm, Courtesy Pascal Häusermann 27 28 exil / log Thomas Kern aus London A Room With a View – So soll dieser Brief beginnen. Es muss sein. E.M. Fosters Roman mit demselben Titel sei eines der 100 wichtigsten Bücher der englischen Litera tur, und so könnte ich ohne weiteres auch sagen, dass die Aussicht aus meinem Atelier bestimmt eine der 100 besten Englands ist. Allein sie ist die Reise nach London wert. Von Möriken nach Bow Road. Veränderung, Tape tenwechsel, einmal kräftig durchschütteln. Vor mir liegen sechs Bahngleise von British Rail und der DLR (Docklands Light Rail), links neben mir ein Au tobahnzubringer. Gleich dahinter London Concrete, wo sieben Tage die Woche Beton gemischt wird. London ist eine boomende Stadt. Der Immobilienmarkt ist heiss. Wer kaufen kann, der kauft. Wer nicht, der zieht stadt auswärts. Die Geschichte ist dieselbe wie anderswo auch. Dennoch, es ist erstaunlich. Vor 25 Jahren bewohnte ich für kurze Zeit zusammen mit meiner Freundin ein Apart ment im Erdgeschoss einer in den 70er-Jahren gebauten Wohnsiedlung. Der Council Estate, wie man hier sagt, existiert noch. Ich stand vor ein paar Wochen draussen vor der Wohnung, die heute ein paar hundert Meter süd lich des Shard im Schatten des derzeit höchsten Gebäu des in London steht. Die Glasscherbe schiesst wie eine Rakete aus dem Bahnhof von London Bridge Station. So etwas war für uns damals unvorstellbar. Hinter London Concrete schliesst gleich eine weitere Baustelle an. Hier blinken die Lichter von Lastwagen und Baggern den ganzen Tag über. Rund um das Olym pische Stadion, den Olympischen Swimming Pool (von Zaha Hadid, die derzeit zusammen mit Premierminister Cameron als Teil einer offiziellen Wirtschaftsdelegation in China weilt) und den sehr eigenartigen Orbit Tower von Anish Kapoor entsteht hier der Queen Elisabeth Olympic Park. Auf den kommenden Frühling soll er fer tig sein. Der Orbit hat zwischenzeitlich auch schon den Namen geändert. Er heisst nun ArcelorMittal Orbit und huldigt damit dem Hauptsponsor des verdrehten Turms, dem indischen Stahlmagnaten Lakshmi Mittal, Gross britanniens reichstem Mann. Kapoor ist übrigens ein Sir und für das Weglassen seines Namens bestimmt gut ent schädigt worden. Nun wissen wir auch, woher der Wind weht in dieser Stadt. Und damit bin ich bei der Kunst. London bietet dem kunstinteressierten Besucher ein reiches Programm. Das kulturelle Grossereignis jeweils im Oktober in London heisst Frieze. Eine Kunstmesse. Kurz vor der Eröffnung treffe ich einen Kuratoren, der sich ausführlich über die Funktion und sein Verhältnis zu derartigen Anlässen äussert. Er überzeugt mich schlag artig von meinem Gefühl, dass dem Anlass auch ohne meine Anwesenheit ein grosser Erfolg beschieden sein wird. Also keine Neuentdeckungen meinerseits, sorry! In der National Gallery hängt eines meiner liebsten Gemälde, Venus und Cupido mit Spiegel, von Diego Velàsquez, gemalt zwischen 1648 und 1651. Wieso aus gerechnet dieses Bild? Vielleicht weil es eines der ersten Bilder war, das ich auch wirklich als Gemälde wahr nahm, dessen Pinselstriche ich sah, das mir den physi schen Akt des Malens bewusst machte (der sich doch recht unterschied vom damals noch üblichen mechani schen Auslösen beim Fotografieren) und – weil ich da mals John Berger’s «Ways of Seeing» las. Ein Text, der sich unter anderem auch mit diesem Bild befasste. Im Jahr 1914 verübte die militante Suffragette Mary Richardson ein Attentat auf das Gemälde. Mit einem Fleischerbeil zerschlug sie das Glas und brachte dem freiliegenden Bild dann mehrere Schnitte bei. Anlass für den Anschlag war die tags zuvor erfolgte Verhaftung von Emmeline Pankhurst (nach heutigem Standard wurde sie des feministischen Terrorismus beschuldigt): «Ich habe versucht, das Bild der schönsten Frau in der My thologie zu zerstören, als Protest gegen die Regierung, die Mrs. Pankhurst zerstört hat, die schönste Gestalt der modernen Geschichte.» Fast 40 Jahre später fügte sie dem noch hinzu: «I didn’t like the way men visitors gaped at it all day long …» Und hier stehe ich nun in London und schaue mir den massakrierten, längst res taurierten Rücken an, verborgene Wunden unter Velàs quez’ Pinselstrichen, wenn auch nicht gerade tagelang. Mein Atelier befindet sich im Osten der Stadt. Vor vielen Jahren noch verirrte sich kaum ein Tourist in die sen Teil der Stadt. Hier lebten vor allem Immigranten aus Pakistan und Bangladesch, zusammen mit dem Geist von Jack the Ripper. Heute wird bei der Einfahrt in die U-Bahn-Station von Aldgate East nicht nur der Name der Station ausgerufen, sondern dem Reisenden gleich noch ein Besuch der Whitechapel Gallery nahe gelegt. Dort wütet derzeit gerade Sarah Lucas, die einst Klassenkameradin von Tracy Emin und Damien Hirst war. Es ist einfach, diese Kunst auf den relativ ange strengten Gestus der Provokation zu reduzieren, aber der Gedanke drängt sich auf. Vor dem Eingang der Aus stellung steht dann auch die Warnung: The exhibition contains sexually explicit materials and is not recom mended for children. Ich sehe durchaus ein paar witzige Sachen, vielleicht sogar das eine oder andere tiefgrün dige Objekt oder Bild. Doch die Ausstellung ist ein wil der Haufen und der Effekt nutzt sich sehr schnell ab und man steht bald einmal mit hängenden Schultern zwi schen all den Brüsten, Penissen und Vaginas. Abends, wenn es dunkel ist und ich nicht mehr foto grafieren mag, besuche ich Aktzeichnenkurse für Amateurkünstler. Thomas Kern ist Fotograf, Bildredaktor und Künstler. Er war von Oktober bis Dezember 2013 im Atelier des Aargauer Kuratoriums in London. 29 klein & Fein Milchbüechli von Tina B. Zimmermann und Florian Vock – Du Flo, das JULI-Magazin hat spitzgekriegt, dass ich beim Milchbüechli irgendwie die Finger drin habe, ob ich was darüber erzählen könne … – JULI, das ist Kultur und so, oder? Aber das sprichst schon mit mir ab? – Na klar doch, du bist ja Chefredaktor. – Naja, aber das bedeutet vor allem koordinieren, nicht bestimmen. Das Milchbüechli ist als Zeitschrift für alle Jungen offen, die etwas schreiben wollen. Hauptsa che, aus ihrem Leben. – Genau, und ich lektoriere das dann. Als Nichtjugendliche. – Aber jugendlich charmant … Jedenfalls ist dieser partizipative Gedanke ganz wichtig: Jeder Interessierte kann Texte schicken, fotografieren, sich als Model mel den. Oder auch Heftli verteilen und Anlässe mitorgani sieren. Viermal im Jahr gibt es die falschsexuelle Jugend gedruckt, aber mit Partys, beispielsweise im KiFF, und Facebook sind wir auch sonst präsent. Und die Redakti onssitzungen sind offen für alle jungen falschsexuellen Menschen, die sich einbringen möchten. Da tauchen im mer wieder neue, unbekannte Gesichter mit spannen den Geschichten auf – Flo, sorry, ich unterbreche dich kurz: Das mit dem «für die falschsexuelle Jugend» im Untertitel des Milch büechli solltest du vielleicht kurz erklären. – Das «falschsexuell» soll provozieren, irritieren. Es ist auch eine Selbstbezeichnung, «positiv pervers» quasi, eine Aneignung von einem Begriff, der aneckt. Im Milch büechli versammelt sich unter den Falschsexuellen eine bunte Vielfalt von Menschen. Sie kommen zu Wort und zeigen ihre Lebensweisen, Identitätsvorstellungen, Träume und Probleme. Einfach «normal» und «gleich» zu sein, das würde uns langweilen. Wir sind ja nicht nor mal … Egal ob trans*, schwul, promisk oder queer. – Aber jung seid ihr alle, ein Heft von Jugendlichen für Jugendliche. – Ja, am liebsten würden wir an jeder Schule auflie gen, in jedem Jugendlokal. Aber auch Nichtjugendliche sollten uns lesen. Noch besser abonnieren oder Gön ner_innen werden. – Was sagen denn junge LeserInnen zur Zeitschrift? – Junge Lesben, Schwule, Bis und Trans*menschen, aber vor allem viele, die sich nicht in einer solchen Ka tegorie wiedererkennen, freuen sich sehr über diese Plattform. Es ist endlich wieder ein Ort, wo mensch sich sieht und liest. Nicht so selbstverständlich in dieser Schweiz, junge Falschsexuelle kennenzulernen. – Apropos, Flo, wo haben wir uns eigentlich kennengelernt? – Im Kalb, nicht? Ich habe dort kistenweise Bücher abgeholt, die noch heute mein halbes Regal füllen. – Ja, genau, du bist ins sterbende Kalb gekommen, hast in Büchern gewühlt und mir von einem Projekt er zählt. Mein Lektorinnenherz habt ihr gleich erobert. Und nun schaue ich grad mal, was es Neues gibt unter facebook.com/mibuli. Florian Vock, 23, Baden, ist Chefredaktor des Milchbüechli, studiert Soziologie und Philosophie und ist politisch enga giert bei der JUSO. Tina B. Zimmermann, 36, Zürich, hat das Goldene Kalb in Aarau gemetzget und lektoriert nun unter anderem das Milchbüechli. www.mibuli.ch Foto: Milchbüechli 2013, Redaktionssitzung 30 Bildschirm Tauchsieder Geometrie in Schwingung Von Kuchenstücken und Stromgitarren von Ursula Huber Letzthin an der Party: Ein männliches Wesen kommt, schneidet sich ein Stück Kuchen ab, isst es; ein weibliches Wesen kommt, schneidet ein paar Stücke Kuchen für die anderen und nimmt einen Keks. Was sagt uns das? Sagt uns das was? Oder die Stromgitarrendiskussion: Warum spielen viel mehr Männer elektrische Gitarre als Frauen? Aber es spielen ja Frauen elektrische Gitarre, und die sind so extrem cool – Courtney Love zum Beispiel! Was sagt uns das? Kein Mensch hindert die Frauen daran, massenweise Stromgitarre zu lernen, würde man meinen. Oder die Koch-Problematik: Bei uns in der WG kochen die Männer nicht. Obwohl auch die Frauen arbeiten, d.h. einer Erwerbsarbeit nachgehen. Er habe jeweils abends nicht so grossen Hunger, sagte der eine eines Tages zur Begründung. Was sagt uns das? Aber es gibt Männer, die kochen. Ich kenne selber welche. Worum geht es? Dass statistisch gesehen mehr Männer als Frauen zu viel Kuchen alleine essen und Stromgitarre spielen statt zu kochen? Und ist das nicht alles biologisch bedingt, wegen der Steinzeit? Die Männer müssen die Frauen beschützen – und dafür brauchen sie Kraft (deshalb Kuchen essen) und müssen die Feinde abschrecken (deshalb Lärm machen mit der Stromgitarre) und die Frauen sind extrem froh, dass sie jemand beschützt und schauen dafür, dass es dem Beschützer gut geht (deshalb kochen und Kuchenstücke schneiden). Ganz abgesehen davon können sie schneller fliehen, wenn sie nicht zu viel Kuchen selber gegessen haben; falls der Beschützer ausfällt oder seine Rolle irgendwie falsch interpretiert. Wo waren wir? Eigentlich geht es ums Prinzip; um die Statistik; um wissenschaftlich erhärtete Fakten, um immer wieder gemachte Erfahrungen: Die Emanzipation steckt erst in den Anfängen. Die Männer müssen mitziehen. Und die Frauen auch. Solche radikalen Veränderungen bräuchten viiiiel Zeit, hat mir ein männliches Wesen kürzlich gesagt. Das gehe nicht so von einem Tag auf den anderen, schliesslich sei das eine jahrtausendealte Entwicklung (eine seit der Steinzeit), die da rumgerissen werden müsse. Für das sei man eigentlich schon recht weit. Nur noch ein paar Jahrzehnte (oder etwas länger) warten! Dabei wäre es einfach. Statt differenzieren und verallgemeinern und theoretisieren und in die Steinzeit hineinprojizieren und rechtfertigen und sich nicht wertgeschätzt fühlen und Ausnahmen finden und Schuldzuweisungen machen: in jedem Kopf die Schublade mit den Rollenbildern leeren. Und wieder auffüllen mit Vorstellungen von Menschen beiderlei Geschlechts, die positive männliche und positive weibliche Eigenschaften kultivieren, zum Wohle ihrer Mitmenschen. There’s more to life than this. Mit minimalen Gesten erkundet die Tänzerin auf dem 9-minütigen Videofilm «Crossing of a Horizontal Body with a Vertical One» die gleichermassen funktionale wie ästhetische Architektur des Palacio Gustava Capanema, dem Ministerium für Bildung und Gesundheit in Rio de Janeiro. Die Tänzerin in Veronika Spierenburgs Video arbeit schreitet den modernistischen Bau ab, lotet das in den 30er-Jahren unter der Leitung von Le Corbusier konzipierte Gebäude mit ihrem Körper aus, erfasst da bei dessen Topologie und setzt ihm menschliches Mass entgegen. In den Video-Stills scheinen viele Themen auf, die von Spierenburg wiederkehrend in unterschied lichen Werken in den Fokus gerückt werden. Instituti onelle Architekturen wie beispielsweise Bibliotheken, die Archive der Kultur beherbergen, dienen der Künst lerin genau so als Forschungsfeld und Ausgangsmaterial für ihre Werke wie Wühlkisten auf Flohmärkten, die ei nen Wust an kulturellen Versatzstücken horten. Mit vor erst schlicht anmutenden Setzungen und Eingriffen bringt Veronika Spierenburg in Fotografien Performan ces, Videos und Installationen eine aufgeladene Geo metrie in Schwingung, die immer auch im Verhältnis zum Menschen steht. Sie schafft durch Neuanordnun gen visueller und akustischer Rhythmen dichte Über lagerungen in Raum und Zeit und legt dabei alte, kons truierte Ordnungen frei. Im Kunsthaus Aarau präsentiert die diesjährige Trä gerin des Manor Kunstpreises Aarau in ihrer ersten in stitutionellen Einzelausstellung eine multimediale Ins tallation, welche von ihrer Auseinandersetzung mit den spezifischen architektonischen Strukturen der drei Mu seen Kunsthaus Glarus, Östergötland Museum in Schwe den und Boijmans Museum in Rotterdam zeugt. Veronika Spierenburg Manor Kunstpreis 2013 Kunsthaus Aarau FR, 24. Januar, 18 Uhr, Vernissage SA, 25. Januar bis 21. April 2014 MI, 26. März, Rundgang und Gespräch Ursula Huber wohnt in einer WG im Freiamt; sie kann gut Gulaschsuppe kochen und unterrichtet an der Bezirksschule. Zur Ausstellung erscheint eine Publikation bei Edition Fink unter dem Titel «Ecke, Hoek, Hörn». Seite 32 / 33 Video-Stills aus «Crossing of a Horizontal Body with a Vertical One», HD Video, 12 min. www.veronikaspierenburg.com 31 32 33 FEDERLESEN Patti Basler, Slam-Poetin und Rolf Keller, Präsident des Aargauer Kuratoriums, über Genderfragen in der Kultur Nachgefragt und aufgezeichnet von Andrina Jörg Prüfungen vorzubereiten), wie auch sexueller Art. Mädchen und Frauen erleben es täglich: sie werden nicht ernst genommen, werden nach ihrem Äusseren beurteilt und nicht auf grund ihrer Intelligenz – oder sie wer den plump angemacht. Spitzenpositionen in der Berufswelt besetzen meist Männer. Wie sieht es im Kulturbetrieb aus? Rolf Keller In der Kulturwelt gibt es viele Frauen in leitenden Positionen. Das Bundesamt für Kultur hat eine Direktorin, die Nationalbibliothek, das Aargauer Kunsthaus oder das Mu seum für Kommunikation werden von Frauen geführt. Pat ti Basler Das sind Beamte oder Quasibeamte. Bei den staatlichen Stellen wird auf eine ausgeglichene Besetzung der Posten geachtet. Alles, was Richtung Kommerz geht, unter liegt den normalen marktwirtschaft lichen Regeln. Dort sind klar weniger Frauen am Ruder. Woher kommen die Unter schiede und wie steht es mit der Gleichheit? Rolf Keller Oft sind Frauen weniger karriereversessen als Männer. Viel leicht prägen uns halt auch uralte Rollenteilungen nach wie vor – Män ner als Jäger draussen, Frauen mit den Kindern am Feuer in der Höhle. Und biologische Unterschiede sind naturgegeben, Männer können z.B. nicht gebären, auch wenn viele das gerne würden. Patti Basler Ich hätte auch nichts da gegen, wenn der Mann das Kind aus tragen würde, dann würde meine Karriere nicht unterbrochen! Evolu tionistische Erklärungsmodelle finde ich jedoch billig, sie greifen zu kurz. Wir sind eine zivilisierte Gesell schaft. Es gibt einige Studien dazu, wie eingespielte Rollenmuster sich zu ändern beginnen, wenn man die ge sellschaftlichen Modelle auf struktu reller Ebene ändert. Die Gesellschaft spielt mindestens eine so grosse Rolle wie das Individuum bei der Ausfor mung des sozialen Geschlechts und der Ungleichheiten. Rolf Keller Wir sollten unterscheiden zwischen Gleichstellung und Chan cengleichheit. In der Schweiz haben alle jungen Leute dieselben Chancen: Alle, die wollen, können studieren, ei nen bestimmten Beruf wählen. Gleichstellung dagegen ist leider noch nicht überall erreicht, beispiels weise bei der Entlöhnung. Patti Basler Die Chancengleichheit ist auf einer rechtlichen Ebene vorhan den. Im realen Leben wird sie nie mals erreicht. Zu viele Faktoren müssten neutralisiert werden. Chan cengleichheit muss dennoch ein Ziel bleiben, wenn auch ein utopisches. Patti, Du berichtest in Deinem Blog darüber, wie Du als Mädchen und Frau auf unter schiedlichste Weise diskrimi niert wurdest/wirst. Patti Basler Ja, die Diskriminierungen sind oder waren sowohl strukturell bedingt (zum Beispiel musste ich in die Hauswirtschaft, durfte nicht ins Werken, die Knaben hatten weniger Schule, dafür mehr Zeit, um sich auf 34 Rolf, wurdest Du aufgrund Deines Geschlechts schon diskriminiert? Rolf Keller Ich habe bisher keine nen nenswerte Diskriminierung erlebt. Es gab aber vor 15 oder 20 Jahren noch mehr Ungleichbehandlung. Wenn meine Frau und ich gemeinsam etwas anschafften und den Kaufvertrag un terschrieben, wurde die Rechnung immer an mich geschickt. Ist das nun Diskriminierung? Und für wen? Für die Frau, weil sie nicht ernst genom men wird als Handelspartnerin oder für den Mann, der die gemeinsame Rechnung bezahlen soll? Wie geht Ihr gegen Diskrimi nierungen im Alltag vor? Patti Basler Kürzlich hat einer meiner Schüler voller Überzeugung zu mir gesagt, Frauen seien dümmer als Männer. Männer seien viel öfter Chef, dies beweise ihre überlegene Intelli genz. Ich entgegnete, Mädchen hätten im Schnitt die besseren Noten und seien öfter an der Uni. Auch biolo gisch gesehen seien die Männer viel weniger wichtig, für die Fortpflan zung brauche es nur einen Mann auf hundert Frauen. Das Gespräch hat das Weltbild des Schülers ins Wanken gebracht. Rolf Keller Ich unterrichte Erwach sene in Kulturmanagement, die seit Langem im Berufsleben stehen. In FEDERLESEN der Mehrheit studieren Frauen bei uns. Wir haben uns zum Beispiel im mer um geschlechtsneutrale Formu lierungen bemüht. Man kann ein wenden, das sei oberflächlich, aber es prägt wohl mit der Zeit das Den ken. So ist für deutsche Studentin nen die weibliche Form beim Spre chen kaum ein Thema. Locker sagen sie: ich als Anwalt, ich als Kulturma nager. Als Frau! Ihr seid beruflich in verschie denen sozialen, kulturellen Bereichen tätig. Wie sieht es mit der Gleichstellung und den Rollenbildern in Euren berufli chen Alltagen aus? Patti Basler Auf der Bühne ist es klar: Mann ist nicht gleich Frau. Wir arbei ten mit dem Körper, der entweder männlich oder weiblich ist und wenn er ein wenig beides ist, dann gibt es ein Riesengeschwätz. Viele Probleme in der Gleichstellung stellen sich erst in einem späteren Lebensabschnitt und oft nur den Frauen, die Kinder haben. Mit 30 Jahren gehen viele in die Mutterschaft und dann stagniert die Karriere. Zumindest bei den Büh nenberufen. Ich bin die einzige Slam poetin von etwa 120 sehr aktiven Slammern, die Mutter ist. Rolf Keller Sicher, wenn eine Frau Mutter wird, ändert sich vieles. Das muss aber nicht heissen, dass nach her keine Chancengleichheit beste hen kann. Patti Basler Die Unterschiede werden gesellschaftlich aber nicht kompen siert. Regula Späni, Sportmoderato rin, hat mit 43 Jahren gesagt, sie höre jetzt auf, denn Frauen hätten beim Fernsehen ein Verfallsdatum. Beni Turnheer ist 20 Jahre älter als sie und moderiert fröhlich weiter. Das sind 20 Jahre Arbeitszeit! Es ist nicht ein leuchtend, dass eine Frau sagen muss: Ich bin zu alt mit 40. Oder: Ich habe jetzt ein Kind, ich kann nicht mehr jeden Abend auf einen Poetry Slam. Das muss sich in den Köpfen der Frauen und Männer ändern. Rolf, Du bist Präsident des Aargauer Kuratoriums. Wie nimmst Du da die Gen derthematik wahr? Rolf Keller Bei der Gleichstellung und auch bei der Chancengleichheit sehe ich keine Differenz. Im Moment sind zwar im Kuratorium mehr Männer als Frauen. Als nächstes sollte wieder eine Frau gewählt werden. Ich glaube nicht, dass in der Kulturförderung ein Unterschied besteht zwischen den Geschlechtern. Letztes Jahr haben mehr Männer Werkbeiträge erhalten, dieses Jahr ist es ausgeglichener. Wir haben das analysiert und deuten es als Zufallsergebnis. Denkbar ist, dass Frauen zurückhaltender sind bei der Eingabe von Projekten. Patti Basler Ich bin davon überzeugt, dass Frauen bei der Gesuchstellung viel zurückhaltender sind. Sie haben das Gefühl, nicht zu genügen. Den Knaben sagt man schon von klein auf, sie sollen für ihre Anliegen einstehen, die Mädchen werden zu Präzision und Fleiss angehalten. Jungs, die grotten schlechte Texte produzieren, stehen voller Selbstbewusstsein hin, Mäd chen getrauen sich oft nicht. Jetzt sind wir wieder bei der Frage nach der Herkunft der Geschlechterdifferenzen. Rolf Keller Für mich stellt sich schon die Frage, wie diese Unterschiede der Verhaltensweisen entstehen. Unsere Tochter und unser Sohn sind jetzt 28 und 25 Jahre alt. Wir haben sehr da rauf geachtet, beide gleich zu erzie hen, aber es haben sich früh Unter schiede abgezeichnet. Klare Stereo typien. Ist das nun genetisch bedingt oder sozial? Patti Basler Es fängt damit an, dass ich meinem Kind keine geschlechts neutralen Kleider anziehen kann. Wenn ich einkaufen gehe, dann gibt es in der Mädchenabteilung Rosarot und Lillifee-Figürchen und in der Knabenabteilung Hellblau und Bob der Baumeister. Das prägt. Ist es tol 35 ler, wenn ein Knabe sich für Motoren interessiert als wenn ein Mädchen auf Pferde steht? Eine Pferdepflegerin verdient praktisch nichts, als Auto einkäufer kann man gutes Geld ma chen. Die Ungleichbehandlung ist im mer mit einer Wertung verbunden und oft abwertend bei weiblich kon notierten Angelegenheiten. Was haltet Ihr von Quoten frauen in der Förderung? Rolf Keller Quoten finde ich keine überzeugende Idee. Nicht weil ich da gegen bin, dass die Hälfte der Perso nen in einem Gremium Frauen sind. Aber wenn Alibifrauen gewählt wer den, die sich nicht bewähren, kann dies kontraproduktive Auswirkungen haben. Man sollte grundsätzlich von Qualifikationen und Eignungen ausgehen. Patti Basler Ich finde Quoten nicht nur schlecht. Die Antwort auf die Frage, wer qualifiziert ist, lautet an ders bei Frauen als bei Männern. Män ner ermuntern Frauen im Generellen nicht. Es gibt dieses Männerbündleri sche. Wenn ich Männerrunden belau sche – das mache ich von Berufs we gen oft, in der Beiz etwa – bin ich be stürzt: Da sind Frauen kein Thema. Wenn Männer das Sagen haben, wäh len sie, was ihnen ähnlich ist – da gibt es Studien dazu. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Man müsste Quoten machen, um Frauen zu pushen, es braucht Vorbilder. Rolf Keller ist Leiter des Studien zentrums Kulturmanagement a n der Universität Basel und Präsident des Aargauer Kuratoriums. Patti Basler tourt als Slam-Poetin, Moderatorin und Kabarettistin durch die Schweiz. Nebenbei studiert sie Erziehungswissenschaften und arbei tet als Lehrerin. www.patti-on-tour.ch Nächster Auftritt: DO, 9. Januar, Frauenrechte beider Basel, Basel 36 Himmel & Hölle e fraag vom Simon Froehling was sind das für hügel berge gipfel d alpe am änd kän blik zrugg und git s es maass für sentimentalitäät isch d fraag nach wi vil läbe passt in en chaschtewage wi wiit wi schnell schaftt er s vollgaas devoo wi schöön er isch de hoof under de hoochschpannigsläitig mit irem totempfaal mit sine sächs ärm und obe druf sitzt s wätter nööch zum aalange fasch was für e schtadt häsch verlaa was für fründe isch generell d fraag nach minere generatioon nach alem was ungsäit blibe wi luut s isch uf em land vo traktoore und chiisgruebe vo chüe und schaaf vo frücht wo ghäied und bletter und schtändig vom wind was händ ir öichi müetere nie gfraagt und vätere öichi eltere i irne häim wi guet s ine gaat und rächt s ne gscheet weli erinnerige paksch uus was bliibt i de chischte hät lengscht söle uf d mulde wi s schtinkt da usse vo güle de puur säit s letscht maal vor de räge chunt und bliibt wi chalt s dän wird und wi früe s na isch wi richtig mer ales gmacht hät oder falsch wi wiit mer choo isch mit welne muschter und wi lang isch s heu scho dine isch d fraag nach alem wo mer nie hät gwüsst d realisatioon wi frömd na ales isch nöd nur i de nacht was sind das für schterne konschtelatioone galaxie gaar wi dunkel de gaarte wi gfürchig jedes grüüsch was hät sich grad bewegt am morge nüüt nur di letschte öpfel modered uf bäidne siite vom haag de schpaatherbscht süess dehinder wäide wälder de fluss wi bruun er flüüst und fridlich wi de hund dööst und de alti kaater verbisse über d fälder schliicht di gfroornig erde wi vil hoffnig uf e muus und isch s erlaubt es bizli rue en fride vilicht di erschte bletter werded s bewiise es chunt wider en früelig was für es läbe söll me aafa nöi isch di alti fraag nach wi vil ziit laa si zie wi vil ziit verdammti ziit Simon Froehling, geboren 1978, ist schweizerisch- australischer Doppelbürger und wuchs in Riniken bei Brugg auf. Nach dem Abitur in Brisbane, Australien, sowie Studien- und Arbeitsaufenthalten in Berlin, Kairo und London, lebte er 13 Jahre lang in Zürich, bevor er 2013 ins Knonauer Amt zog. Zuletzt erschienen sein Roman «Lange Nächte Tag» (bilgerverlag, 2010) sowie das Hörspiel «Moi non plus» (SRF Radio 1/Südwestrundfunk SWR 4, 2012). Illustration: Naomi Bühlmann 37 Ein Dialog zwischen Kunst und Medizin? Kunst von Michael Günzburger im Kantons spital Aarau Dass Sadhyo Niederberger, Künstlerin und Kurato rin von «Kunst im Kantonsspital», «Arts and Medicine» aufgreift, liegt auf der Hand. Sie tat dies schon mehr fach, zum Beispiel in «Schmerzgrenzen», doch mit der Einladung von Michael Günzburger als «Artist in Residence» dreht sie den Spiess um. Nicht Empfindun gen zwischen «krank» und «gesund» spiegeln sich dieses Mal, sondern hauptsächlich die bildgebenden Computerprogramme der medizinischen Forschung. Dialogpartner für den Künstler waren zunächst die Ärzte und erst jetzt kommt das Publikum hinzu. Dass man im KSA auf das Ansinnen eines solchen Dialoges eintrat, ist nicht selbstverständlich, entspricht aber der von der Mediengesellschaft geforderten Öffnung der Wissenschaft. Michael Günzburger (*1974) sagt, sein wichtigstes «Instrument» sei die Linie. Mit ihr könne er seine Erkundungen visuell am besten um- und beschreiben. «Linie» ist allerdings weit zu fassen und auch die The matik ist unbegrenzt. Sie fokussiert aber immer wieder ein Kerninteresse, nämlich etwas Bild werden zu las sen, was nicht oder nur scheinbar existiert, vielleicht auch so noch nie zum Bild wurde. Dies drückte er an der «Auswahl 09» im Aargauer Kunsthaus mit einem von einer goldenen Kordel umwickelten «Rahmen» aus, der das Bild selbst nur als Potenzial zeigte. Ins Ge dächtnis eingeschrieben haben sich mir auch die fein ziselierten Monotypien ganzer Tiere und dass er sich mit dem «Himmel» befasst, verwundert im Kontext seines Interesses nicht. Man kann mit Fug und Recht behaupten, alle Kunst habe mit Forschung zu tun. Im Aargau ist dieses Thema vielfach diskutiert worden, man denke an Hugo Suter, Max Matter, Markus Müller usw. Der eine Gene ration jüngere Günzburger steht in dieser Tradition, von Annelise Zwez Zunächst verneinen wir vermutlich einen Zusammen hang zwischen Kunst und Medizin. Indes: Sowohl die Kunst wie die Medizin arbeiten mit Bildern. Schon Albrecht Dürer (1471–1528) erkundete den Körper des Menschen zeichnenderweise; um ihn zu verstehen. Das macht die Medizin immer noch, aber die digitale Bild generierung macht die «Zeichnungen» heute komplex. Tomografie, Zintigrafie, Ultraschall sind Stichworte. 38 wenn auch am Puls von heute. An «Arts and Medicine» habe ihn gereizt, mit Menschen in Dialog zu treten, die, wie er, mit dem Herstellen und Lesen von Bildern beschäftigt sind, dabei aber auf die wissenschaftliche Bildinformation fokussiert seien, während ihn das Entstehen der Bilder an sich interessiere. Er verneint ein medizinisches Interesse, diskutierte aber mit den Radiologen intensiv über Bilderscheinung und – zum Staunen der Ärzteschaft – über Fehlbilder, über Stör fälle, die hier «Artefakte» genannt werden. Unregel mässigkeiten haben Künstler schon immer fasziniert, weil sie Erwartetes sprengen. Die Besucher der Ausstellung im KSA erkennen schnell, dass ein Objekt zentrale Bedeutung hat, denn das wächsern anmutende, weisse, kleine Strahlenarte fakt wird auf einer grossen, schwarzen, samtenen Konst ruktion präsentiert. In der Begleitbroschüre erfährt man, dass das einem Schneestern ähnelnde Objekt ein 3D-Ausdruck eines «gestörten» Tomografie-Bildes eines menschlichen Hirns ist. Es materialisiert somit die Form eines während der Tomografie an einem mikrokleinen Gegenstand im Hirn (vermutlich Metall) entstandenen Strahlenkranzes – etwas, das nur in einem Zeit-Bruch teil durch die angewandte Bildmethode entstand, aber faktisch nie existierte. Spätestens da wird klar, was den Künstler faszi nierte, wieso er Zeit investierte, die anspruchsvolle Umwandlung des Tomografie-Stills in eine für einen 3D-Drucker lesbare digitale Struktur anzugehen und dabei die noch junge Technik zusammen mit einem Fachmann auszureizen. Denn der «Juwel» verkörpert etwas grundsätzlich Nichtexistentes in einer bisher nie realisierten Erscheinungsform. Daneben zeigt die Ausstellung «Falschfarben» beti telte Malerei. Die Farbverläufe in zusammenhängenden Hin- und Herbewegungen sind Übersetzungen von Grauskalen wie sie die Tomografie nutzt, um die Dichte von Knochen/Gewebe etc. anzuzeigen. Um diese zu veranschaulichen, ordnen ihnen die Ärzte – und nun auch Günzburger – Farben zu. Der Austausch zwischen Kunst und Medizin ist ein wechselseitiger! – Die Arte fakte im Hinterkopf, überlagert sie der Künstler mit schwarzen Lack-Klecksen, als wolle er die Ordnungen mit dem Potenzial des Unberechenbaren aufladen. Eingerahmt werden Strahlenartefakt und Falsch farben von Pinselstift-Zeichnungen, die im Operati onssaal entstandenen auf der einen, die 1:1-Monotypie eines Operationsmantels auf der andern Seite. Die Zeichnungen docken an die Tradition der Bild-Kunst an, zeigen skizzenhaft das emotionale Moment dessen, was für uns mit Medizin, mit Spital, mit krank und gesund, mit Leben und Tod zusammenhängt. Der Mantel mit seinen unterschiedlichen Transparenzen hingegen nimmt gleichsam die Dichte-Skalen auf und stellt sie in hintergründige Wechselwirkung zu den Menschen, die ihn im Operationssaal tragen. Annelise Zwez lebt als Kunstpublizistin in Twann/Biel. Bevor sie 1998 ins Bernbiet zog, war sie ab 1972 im Aargau als Kunstkritikerin tätig. Bilder von Michael Günzburger: S. 38: Strahlenartefakt, 2013, 3D-Druck aus Polymer S. 39: Badge Kantonsspital Aarau, 2013 Michael Günzburger – Besser sehen Bis 26. Januar 2014 Kantonsspital Aarau, Eingangshalle Hauptgebäude H1 MI, 15. Januar 2014, 19 Uhr Gesprächsrunde mit prominenten Gästen: «Wenn Kunst und Medizin mit dem gleichen Material arbeiten», www.guenz.ch 39 Ihr Ansprechpartner bei Energiefragen und Elektroinstallationen. www.kalkor.ch Küttigen 062 827 03 30 Aarau 062 823 16 70 Die Malschule in der Alten Bürsti Oberentfelden Atelier für Malerei Kursleitung: Hannes Egli 062 723 91 07 www.atelier-egli.ch Mit Energie bereit für morgen www.swl.ch Inserat_143x210.indd 1 3.8.2009 16:46:23 Uhr AKTUELLE KUNST U33 26. Januar – 16. März 2014 Vernissage: Sa, 25. Januar 2014, 17 Uhr Matinee: So, 23. Februar 2014, 11 Uhr, Konzert: Samuel Blatter, ab 13 Uhr Rundreise zu den beteiligten Häuser Forum: Mi, 12. März 2014, 20 Uhr Ausstellung an vier Orten: Sankturbanhof Sursee, Stadtmühle Willisau, Entlebucher Kunstverein, Kunsthaus Zofi ngen Künstlerinnen und Künstler: Eliane Hürlimann, Philipp Hänger, Judith Leupi, Franziska Bieri, Karin Kurzmeyer, Jeremias Bucher, Stofer & Stofer, Kantonsschule Zofi ngen www.kunsthauszofi ngen.ch Effingerhof AG Storchengasse 15 5201 Brugg Telefon 056 460 77 77 Fax 056 460 77 70 info@effingerhof.ch www.effingerhof.ch Geballte Medienkompetenz. ANzeigen Kal Kor Treuhand