art - Ensuite

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art - Ensuite
afrique noire 05
les poupées russes
25 jahre frauenhaus bern
queersichtfestival
bern rocks?
Es ist Zeit.
Mit diesem Satz versucht man heutzutage in Bern 8.7 Millionen «Aufstockung der städtischen Kulturförderung». ensuite - kulturmagazin gehört anscheinend nicht zur fördernswürdigen Berner Kultur und
wurde davon ausgeschlossen. Spätestens jetzt ist es höchste Zeit ein Abonnement zu lösen und jetzt ist es
erst recht Zeit, «dass sich die Stadt Bern klar zu ihrer Kultur bekennt und die nötigen Mittel bereitstellt.»
Wir brauchen dringend die finanzielle Unterstützung von den Menschen aus Bern - wenn wir nicht bis Ende
Jahr 30‘000 Franken zusammentrommeln können, müssen wir den Betrieb einstellen und die Schulden abarbeiten. Braucht Bern ein ensuite - kulturmagazin? Wenn ja, so helft mit - wir sind nicht selbstverständlich.
Jetzt.
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h
KULTUR&GESELLSCHAFT
mit der fingerspitze gegen die faust 6
anklang#1 - stegreifkunst der frau 8
queersicht auf leckere östlichkeit 8
n
LITERATUR
Vor allem...
■ ensuite - kulturmagazin hat nach 35 Nummern zum ersten Mal 72 Seiten erhalten - ein halbes Kulturbuch - und wir haben schon wieder Seitennotstand. Die Inhaltsmenge steht im krassen Gegensatz zu unserem
finanziellen Dilemma, doch sollte uns das Geld nicht an der Vision hindern
und die kulturelle Vielfalt von Bern macht uns mächtig Dampf. Mit Verlaub:
Wenn ein Stadttheater und andere Institutionen 50‘000 Franken-Beiträge
an die Konkurrenz bezahlen können, so sollten wir ebenfalls mit gleichen
Rudern im Boot sitzen dürfen. Sollten. Aber es scheint, dass die Politik
über den Verstand siegen will. Jetzt erst recht.
Ebenfalls scheint es in Bern Mode zu sein, dass Kultur erst ab 100‘000er
Summen stattfinden kann. Die Forderungen der Kulturinstitutionen übersteigen sich in den letzten Monaten und hinterlassen den Eindruck, dass
man mit wenig Geld keine Kultur oder gar, dass Kultur überhaupt nur aus
Geld bestehen kann. Das ist übel. Es ist ein gutes Zeichen, dass mehr und
mehr VeranstalterInnen Farbe bekennen und sich aktiv an unserer unabhängigen und günstigen Medieninstitution beteiligen. Wir haben interessante Zuwachsraten zu verzeichnen und die Gespräche laufen in ganz
neue Richtungen.
Aber den Höhepunkt vom Oktober haben wir noch nicht geschluckt:
Das Schauspiel des Stadttheaters soll aus der Stadt in die urbane Einsamkeit - obwohl der Sinn dieser Übung noch nicht einstimmig ist. Im VIDMARAreal in Köniz gibt‘s kein Bern-Billett und auch kein Restaurant, welches
300 Personen zum Schlummertrunk halten könnte. Und von wegen urban:
Das Industriehaus der Lista AG konnte nur schlecht ausgemietet werden.
Auf jeden Fall kann die Abendgardarobe in Zukunft im Schrank hängen
bleiben. Auf dem Velo ins Theater - notabene den Berg hoch! - wird wohl
nicht zum neuen Berner Volkssport mutieren. Eine solche Provinzbühne
wird uns auch kein nationales Interesse einbringen und damit eine verbesserte Finanzierung ermöglichen - im Gegenteil. Und über die zusätzlichen
Transportkosten hat noch niemand ein Wort verloren. Wir sehen auch
nicht darüber hinweg, dass das Ensemble die Nachrichten aus der Zeitung vernehmen musste und man eilligst für den nächsten Tag eine eine
Pressekonferenz arrangierte. Warum? Warum ist Bern nicht fähig, andere
Lösungen zu finden. Lösungen die uns längerfristig dem Theater näher
bringen und das Publikum gewinnend engagieren lässt. Die Ideen wäre da,
die Menschen, welche sie umsetzen könnten auch. Doch die Macht bleibt
unangetastet. Das kennen wir schon, es ist eine alte Geschichte und diese
ist unwürdig asozial.
Lukas Vogelsang
kirsten fuchs, harold pinter, walter wittmann 9
nur liebhaber können das unmögliche möglich machen 10
letzte lustseite 32
BÜHNE
i
Titelseite und rechts: Les Poupées Russes - Kinofilm von Cédric Klapisch mit Romain
Duris, Audrey Tautou, Cécile de France, Kelly Reilly (Seite 23)
l
t
3
die magie der puppen 11
lebendiges eisen - ein fenster nach russland 26
VERANSTALTER
afrique noire 11
MUSIK
bern rocks? 14
antifolk 19
aus den taschen gekramt - le cose che ami 20
cd - tipps 17
KINO/FILM
don juan im trainerjäckchen 23
corpse bride 22
a history of violence 22
les poupées russes - wiedersehen in st. petersburg 23
das andere kino 24
artensuite
ich weide meine pilze aus... 30
wie es ist. 31
farben wie an einem wintermorgen 32
willkommen in zombietown - knut åsdam 33
zarte farben, bewegte strukturen 33
galerien in bern 34
augenspiel 35
DIVERSES
kulturnotizen 4
stadtläufer 26
menschen & medien/ fauser cartoon 27
menschen: ...oder warum franz obrist neben einem dachs läuft 28
tratschundlaber 23
A G E N D A 38
kulturagenda bern 37
museen bern/biel/thun 65
kulturagenda biel 67
kulturagenda thun 70
4
K U L T U R N O T I Z E N
ZOOM IM MÜNSIGEN
■ Am 4. bis zum 6. November findet zum zweiten
Mal ein Festival für improvisierte Musik statt. Nationale und Internationale Musikgrössen versuchen
sich in der improvisierten Musik. Das ist nicht nur
chaotisches Geklinge, sondern hat durchaus wichtige Entdeckungen zu bieten. So meint die Sängerin
Saadet Türköz (Stimme): «Wenn ich improvisiere,
habe ich das Gefühl, ich selbst und gleichzeitig eine
andere Person zu sein.» Und mit der heutigen Technik und Improvisationsvielfalt wird Musik in einem
anderen Kontext, einem anderen Spannungsfeld,
zum Experiment für alle Beteiligten. Grenzerfahrungen für die ZuhörerInnen, wie auch Wohlklang,
werden zum laufenden Prozess - oder auch nicht. Wir
treffen am Festival auch auf Balts Nill, der nach dem
Stillen Has seine anderen Klänge vermitteln wird:
«Alles was chepft und tätscht hat mich schon immer
gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt.» Und so
geht es über drei Tage in Spannung und Entdeckung,
Neugierde und Flucht. «Zoom» eben. (vl)
Bild: zVg.
PHOENIX AUS DER ASCHE
Programmübersicht
Freitag 4. November 2005
20.30 SAADET TÜRKÖZ (Stimme)
21.30 BUCHER/GLAUSER
Christian Bucher (Schlagzeug), Andreas
Glauser (Elektronik)
22.30 BALTS NILL (Perkussion, Diverses)
Samstag 5. November 2005
20.30 ACTIVITY CENTER
Burkhard Beins (Perkussion, Saiten), Michael
Renkel (Gitarre, Perkussion)
22.00 HANS KOCH
(Bassklarinette, Sopransaxophon)
KOCH/KOBI
Hans Koch (Bassklarinette, Sopransaxophon), Christian Kobi, (Sopransaxophon)
Sonntag 6. November 2005
20.30 TRIO LEIMGRUBER/DEMIERRE/PHILLIPS
Urs Leimgruber (Saxophone), Jacques Demierre (Klavier), Barre Phillips (Kontrabass)
In Zusammenarbeit mit der Gemeinde und der
Volksschule organisiert »zoom in« Münsingen zwei
weitere Konzerte: BALTS NILL/SOLO (Perkussion,
Diverses):
Donnerstag 3. November 2005
11.00 in der Aula Rebacker Münsingen
13.30 in der Aula Schlossmatte Münsingen
Diese zwei Konzerte sind gratis
Reservationen unter info@zoominfestival.ch
■ Ab dem 3. November gastiert das Ensemble Phoenix aus Basel im Zentrum Paul Klee. Die Gruppe, welche 1998 von Jürg Henneberger, Christoph Bösch und
Daniel Buess gegründet wurde und sich seither gezielt
für zeitgenössische Musik einsetzt, ist bekannt für seine experimentell-gattungsübergreifende Projekte. Das
teilweise bis zu 25 Musikern erweiterte Gespann kann
auf eine weltweite Konzerttätigkeit zurückblicken und
erhielt 2003 gar den europäischen «Ensemble-Preis
Thies Knauf für Neue Musik». In jüngster Zeit suchten
die Musiker auch vermehrt die Zusammenarbeit mit
jungen, noch wenig bekannten Komponistinnen und
Komponisten unserer Zeit auf regionaler und internationaler Ebene. Der Gastauftritt im Zentrum Paul Klee ist
der erste in Bern. Im ersten Programm vom 3.11. werden
mit Beat Furrer, Jim Grimm, Georg Friedrich Haas und
Jakob Ullmann auch zwei Schweizer sowie zwei in der
Schweiz lebenden Komponisten aus drei Generationen
und mit verschiedenen ästhetischen Stilrichtungen vorgestellt. Traditionell spielt das Ensemble auch einmal in
seiner Gründerbesetzung.
Sicher, gegenüber zeitgenössisch-experimenteller
Musik darf man auch skeptisch sein; auf jene Musik aber,
die von der NZZ als physische Erfahrung an der Grenze
des Verkraftbaren bezeichnet wird, sollte im mindesten eingegangen werden; seichte und wenig fordernde
Klänge hört man ja bisweilen genug.
IN EIGENER SACHE
DIE ZWEITE SACHE
■ Wir möchten uns ganz herzlich (für eine Weile) von
unserem Mitschreiber Klaus Bonanomi verabschieden
und bedanken uns für den unermüdlichen Einsatz der
letzten drei Jahren. Er war der erste kontinuierliche
Schreiber in diesem Kulturmagazin. Seine Medienspiegelseite «Von Menschen und Medien» werden wir respektvoll weiterführen - und hoffen, dass seine Wege
wieder einmal bei uns kreuzen... Viel Glück mit dem
Nachwuchs!
■ ensuite - kulturmagazin hat Platzprobleme: Wir haben diese Nummer um 8 Seiten erweitert - doch schon
5 Minuten nach dieser Entscheidung waren die Seiten
bereits ausgebucht. Geschriebene Artikel mussten zum
ersten Mal in unserer Geschichte abgelehnt oder auf die
nächste Nummer verschoben werden. Noch mehr Seiten
ist ein finanzielles Risiko, welches wir langsam angehen
wollen. Wir entschuldigen uns für den Erfolg und verweisen für versprochenes auf die Dezember Ausgabe...
Programm:
3.11.
13.12.
Schweizer Komponisten, 19:30
Trio Bösch (Flöte), Buess (Schlagzeug), Henne
berger (Klavier/Cembalo), 19:30
7. 3.06 Italiener, 19:30
16.5.06 Programm 4 (Grisey, Sciarrino, Treiber), 19:30
jeweils im Zentrum Paul Klee.
K U L T U R N O T I Z E N
5
DAS REZEPT BRASILIEN
- BRASIL A GOSTO
■ Ein Fotoband mit dem sinnigen Namen «Brazil a
gosto» von Alexandre Schneider und kulinarische Starkocherei von Margarida Nogueira und Teresa Corção,
bilden eine weitere jährliche Verführung im Restaurant
Dona Flor in Frieswil. Was hier auf den Teller und den
Augen geboten werden, ist wie ein Ferienaufenthalt im
warmen Süden - wir müssen dabei nur knappe 20 Minuten aus Bern raus. Und das lohnt sich! Noch bis zum
5. November können wir im Schlaraffenland schwelgen.
Überzeugend ist nicht nur das Essen, sondern auch die
Einfachheit und familiäre Ambiente. Besonders Interessant ist der Kontakt zu den Köchinnen - wir erfahren
einiges über eine andere Art zu kochen... und das inspiriert. Der Winter wird auf uns warten müssen... (vl)
last minute:
vorpremiere!
Habana Blues
Der Regisseur Benito Zambrano (Solas) ist anwesend.
Infos zum Film und Zeiten auf unserer Webseite.
20 x 2 Gratistickets!
30.11. - 20:30 Uhr - Kino Movie Bern
Bestellen über www.ensuite.ch oder 031 318 6050!
DIFFERENT MOODS
IM THEATER NATIONAL
■ Stephan Rigert ist wieder auf Tour. Die Kulturaustauschprojekte haben schon viele Begeisterte ZuschauerInnen miterleben können - und ein Ende ist sicherlich
nicht in Sicht. Und das ist gut so. Auch diesmal haben
wir eine unglaubliche Vielfalt an multikulturellen Musikern auf der Bühne vereint: Pritha Roy (Indien/ voc),
Rupak Kulkarin (Indien/ flute), Kalinath Mishra (Indien/
tabla), Gabriel Rivano (Argentinien/ bandoneon), Leon
Duncan (Jamaica/ bass), Luis Ribeiro (Brasilien/ perc.),
Daniel Pezzotti (CH/ cello), Sandro Schneebeli (CH/ guitar & comp.) und natürlich Staphan Rigert selber (CH/
perc. & arr.). Hier vereinen sich spannende und interessante Klänge und Rhythmen - vor allem das Cello weckt
zusammen mit dem Bandoneon das Interesse. Heiss
wird es im Theater National werden - auch hier muss
der Winter noch etwas Geduld üben. Schön auch zu
wissen, dass Bern in Sachen Perkussion eine wichtige,
internationale Drehscheibe ist - und dies nicht nur für
Weltenbummler und Schöngeister...(vl)
«TÜRKISCHER HONIG
ODER FISCHBACHS ERBE»
■ Seit fünfzehn Jahren bringen Antonia Limacher und
Peter Freiburghaus als Lilian und Ernst Fischbach politische und gesellschaftliche Themen in Form von Alltagspossen auf die Bühne. Zeit die Lichter zu löschen, die
Böden feucht aufzunehmen und in Pension zu gehen?
«Mit dem Wohnwagen an einem Ort, wo man die Füsse
ins warme Meer strecken kann.» Dazu müsste aber in
korrekter Schweizer Manier zuerst die Nachfolge des
erfolgreichen Familienunternehmens (mit «Fischbachs
Hochzeit» füllten sie landesweit alle Säle, beim Zirkus
Knie waren sie mehrmals im Programm) geregelt sein.
Joint Ventures mit der nächsten Generation, Nischenprodukte und die Auslagerung der Senioren sollen helfen, den Firmenkarren aus dem Sumpf der «niederen
Künste» zu ziehen.
Zu der Türkei als Migrationsziel – immerhin, wie die
Schweiz, noch immer nicht-EU-Land – könnten sich die
«bodeständige» Entlebucher noch durchringen, auch
wenn Ernst «im Ausland erst so richtig den Inländer in
sich spürt». Auch gilt es für das Paar, das sich einst am
Ländlermusigtreffen in Trubschachen kennengelernt
hat, vorher noch die Scherben ihrer langen gemeinsamen Vergangenheit zu kitten - denn zu lachen hatte in
all den Jahren vorwiegend ihr Publikum. Und weitere
Vorlagen für Fischbachs legendäres Gezänk liefert die
nicht ganz einfache (den Fischbachs aber durchaus aus
dem Gesicht geschnittene) Verwandtschaft , die finanziell ebenfalls zufrieden gestellt sein will. So lässt sich
etwa die mit musikalischem Talent und einer eher nihilistisch-abgeklärten Sicht der Dinge ausgezeichnete
Schwiegertochter keinen Honig ums Maul schmieren,
nicht mal türkischen:
«Die Katz tut selten etwas.
Meistens tut sie nichts.
Sie bringt es aber auch zu nichts.
Vor allem Anfang war das Nichts.
Aus dem Nichts ist alles geworden.
Ist alles für die Katz.»
Ernst Fischbachs Motto gemäss, muss man aber ja
»nicht immer alles so tragisch nehmen, wie es wirklich
ist.» (jlf)
Vorstellungen:
22. - 26. November 2005 im National, Bern
NIK BIERI
AUF DIE
BÄUME, IHR AFFEN!
Winshluss: Smart Monkey. Cmic
■ Eine dicke Nase, grosse, abstehende Ohren und
die Intelligenz der ersten Stunde: Aus diesen Zutaten
ist die Hauptfigur in Winshluss‘ Comic gestrickt - ein
kleiner Schimpanse, der friedlich auf einem Ast eines
urzeitlichen Baumes döst. Doch diese Idylle währt
nicht lange. Schliesslich tummelt sich allerlei Getier
im Geäst, ständiges Fressen und Gefressenwerden
dominiert die Szenerie. Glücklicherweise wurde der
«Smart Monkey» evolutionär mit etwas Intelligenz
versehen und widersteht dadurch immer wieder den
hungrigen Säbelzahntigern, Pterodaktylen und Tyrannosauriern und der Unbill der entfesselten Natur.
Dass am Schluss doch die Kraft über die Intelligenz
siegt, ist zwar tragisch, aber natürlich: Auch dies eine
Spielform der Evolution. Im Epilog - Jahrmillionen
später wird in der naturkundlich interessierten Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts Darwins
Theorie diskutiert - wird dieser Faden wieder aufgenommen. Ein beflissener Forscher versucht sich für
erlittene Schmach zu rächen, in dem er stichfeste
Beweise für die Evolutionstheorie findet. Dazu reist
er in den Dschungel Afrikas, wo sich der Kreis des
«Smart Monkey» überraschend schliesst. Die Evolution findet statt, doch ist sie nicht mit dem Fortschritt
zu verwechseln. Dies scheint die Hauptaussage des
Autors zu sein, aus dessen Bildergeschichte der Evolutionspessimismus lacht. Die Zeichnung ist schwarzweiss und so fahrig, dynamisch und fliessend, dass
sie als natürliche Handschrift des Autors erscheint.
Winshluss erzählt die Geschichte vom smarten Affen
ohne Worte, dafür mit ausgeprägtem Sinn für Details
und Situationskomik. Erst im Epilog wird gesprochen,
und zwar französisch: Smart Monkey erschien beim
französischen Kleinverlag Cornélius und eine deutsche Übersetzung gibt es (noch?) nicht.
Winshluss: Smart Monkey. Comic. Editions Cornélius.
Paris 2004. ISBN 2-909990-91-5
6
K U L T U R
&
G E S E L L S C H A F T
TILL HILLBRECHT
mit der fingerspitze gegen die faust
Das Frauenhaus in Bern feiert 25 Jahre Engagement für die Gesellschaft
■ Ein Übel schafft es, sich derart fest in eine Gesellschaft einzuhocken, dass man es kaum mehr wegbringt.
Das Übel setzt sich an, setzt zu, sitzt fest und wird, irgendwann, normal. Einmal alltäglich geworden, mag die
Gesellschaft es nicht mehr wahr haben und lässt das
Bekämpfen sein. Und so wird das Übel erst richtig gefährlich: Es verschwindet zwar aus den Gedanken, nicht
aber aus der Gesellschaft.
Suchen und Finden. Ich stehe auf, bedanke mich und
gehe zu meinem Fahrrad. Diesem sonnigen Herbstag
fehlt nichts, wir haben unser Gespräch kurzerhand auf
die Terrasse des Restaurants verlegt, um dem vielleicht
letzten wirklich warmen Nachmittag des Jahres das
Sommergemüt abzuknöpfen und es für einen bevorstehenden tristen, regnerischen Novembertag zu sparen.
Einzig der Grund des Treffens ist in der Wurzel ein Trüber und nun, nach dem Gespräch, haben sich zumindest
in meinem Kopf ein paar dunkle Wolken breit gemacht
– Gedanken über unsere Gesellschaft und reichlich
Zweifel an ihr sind die Ursache. Sie haben mir die geheime Adresse nicht verraten, ich habe auch kein Interesse, sie zu erfahren. Aber Stephanie und Yasmin vom
Frauenhaus haben mir von den harten Schicksalen jener
Frauen erzählt, welche die Adresse erfahren dürfen, um
an diesem Ort Zuflucht zu finden. Beide arbeiten dort
– Stephanie Hartung als Leiterin, Yasmin Nüscheler-Gutiérrez als Beraterin. Und wenn diese zwei Frauen zu
meinem Erstaunen mit einer gewissen – oder professionellen – Leichtigkeit von Gewalt und Bedrohung erzählen, dann nicht, weil es sie nicht berührt. Sondern weil es
ihr Alltag ist, Opfern männlicher Gewalt zu helfen. Dabei
dreht es sich nebst physischer oftmals auch um psychische Gewalt: Drohung, Nötigung, Erniedrigung und vor
allem geistige Tortur treibt Frauen in einen Teufelskreis,
aus dem der Weg hinaus, sprich hinein ins Frauenhaus
kaum machbar scheint: Wenn du gehst, bring ich dich
um / wirst du dein Kind nie wieder sehen / mache ich
dein Leben zur Hölle / glaub ja nicht, ich werde dich
nicht finden… Stephanie und Yasmin zählen auf. So wagen viele Frauen und Kinder den Schritt ins Frauenhaus
gar nicht erst zu unternehmen. Dort versucht das Beraterinnenteam die Opfer aus der Gewaltspirale zu ziehen.
Die meist traurige und schwierige Vorgeschichte macht
diese Aufgabe jedoch zu einem sehr komplexen, subtilen Unterfangen, das viel Fingerspitzengefühl verlangt.
Denn viele Frauen stehen in einer so enormen Abhängigkeit, dass ein rund ein Drittel bald wieder zu ihrem
Peiniger zurückkehrt, bald wieder Leid erfährt und zuweilen auch bald wieder am Frauenhaus anklopft. Trotzdem – Stephanie sieht ihr Tun nicht als Sisyphosarbeit.
Wer den Weg ins Frauenhaus schafft, hat bereits einen
wichtigen Schritt gemacht.
Theorie und Praxis. Ich sitze an unserem Tisch, nippe
an meinem Glas Wasser. Es ist mir nicht ganz wohl in
meiner Haut. Stephanie und Yasmin erzählen mir ganz
offen über ihre Arbeit im Frauenhaus, obwohl sich mit
der unbekannten Adresse doch eigentlich die schützende Hand der Anonymität über die Institution legt. Ich
frage mich, was wohl die Kellnerin oder der Mann am
Tisch neben mir denken, ich weiss sie hören die Schilderungen mit einem Ohr mit. Ob sie wohl auch so wenig über ein Problem wissen, von dem mehr Menschen
betroffen sind, als die meisten denken? Dieser Punkt
stellt eine komplexe Aufgabe an die Leitung des Frauenhauses: Den mühseligen Gang zwischen Geheimhaltung
und Öffentlichkeitsarbeit zu meistern. Die Gesellschaft
bestmöglich über eine Institution zu informieren, von
der niemand wissen darf, wo sie ist. Den Frauen Angst
nehmen, ihnen näher bringen, was sie nicht sehen dürfen. Enttabuisieren, Schweigen brechen. Unterstützen.
Das Frauenhaus Bern ist eine anerkannte Opferhilfestelle und finanziert sich über Kantonsbeiträge, Landeskirchen, Kostgeldeinnahmen und Spenden. Der Auftrag der Häuser indes ist mit drei Schüsselbegriffen klar
definiert: Schutz, Beratung und Unterkunft für Frauen
und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Diese
Aufgabe beginnt damit, Hilfesuchenden einen ersten
Moment der Sicherheit und Ruhe zu schenken, dann
Grundlage des Falles zu analysieren und schlussendlich
mit weiterführenden Fachstellen zu vernetzen: ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, Polizei. Das
Frauenhaus sieht sich als stationäre Einrichtung für gewaltbetroffene Frauen und Kinder, als Beratungs- nicht
aber Therapiestelle. Doch so klar dieser Auftrag auf
dem Papier steht, so schwierig ist er in der Praxis umzusetzen und ihn auch einzuhalten. Die prekären Vorgeschichten der Betroffenen loten die Grenzen des Beratungsauftrages oftmals aus. Hinzu kommen Faktoren,
die ein standardisiertes Abwickeln der Fälle vorneweg
ausschliessen: Kultur- und Sprachbarrieren, religiöse
Hintergründe, kontinuierliche Gewaltandrohung, zunehmende Elterngewalt gegenüber jungen Frauen. So kann
ein Aufenthalt bis zu sechs Monaten dauern und endet
in einzelnen Fällen sogar mit Namen- und Ortswechsel.
Im Worst Case liegen Perücken bereit.
Nicht gerade mit Perücke und Schminke, aber mit
einer handvoll anderer Animationen ist der einzige
Mann im Hause engagiert. Seine Tätigkeit nennt sich
«Kinderanimator», das junge Klientel kennt ihn allerdings unter dem Namen «Kindermann». Im Gefüge des
Frauenhauses ist dem Kindermann diejenige Rolle zugeteilt, welche die untergebrachten Kinder vielleicht nur
vom Hörensagen kennen: Die Person des Guten Mannes.
Diese unternimmt mit den Kids kleine Ausflüge, geht in
den Tierpark oder auf die Schlittschuhbahn. Es klingt
simpel, aber die Wichtigkeit dieser Figur ist für ein Kind
nicht zu unterschätzen. Der Kindermann soll ihm den
Eindruck schenken, dass ein Mann auch nett, lieb und
vertrauenswürdig sein kann. Kann.
Die Kunst des Loslassens. Gegen das Klischee, häusliche Gewalt sei vorwiegend ein Migrantinnenproblem,
wehrt sich Yasmin vehement. Die betroffenen Frauen
kommen aus allen Schichten, durchschnittlich sind sie
32 Jahre alt. Doch die verschiedenen kulturellen Fundamente verlangen auch ein differenziertes Umgehen
mit den Frauen und Kindern. Die Beraterinnen bewegen
sich während dem Kontakt mit Hilfesuchenden auf dem
schmalen Grat zwischen Einfühlung und Abgrenzung.
Yasmin will keine Wand zwischen der Frau und ihrer Person bilden, im Gegenteil: Betroffenheit soll entstehen.
Dennoch darf die Option, Abschalten zu können, nicht
verloren gehen. Man reflektiert im Team Erlebnisse,
tauscht aus, was sonst aufgrund der Schweigepflicht
niemand hören darf. Psychohygiene nennen sich diese
Massnahmen: Die innere Balance finden, den Kopf frei
halten. Abschalten. Trotzdem – die Erlebnisse begleiten
Yasmin oftmals über die Schwelle des Frauenhauses hinaus.
Wir wollen auch mal. Der Beginn des Gespräches ist
kein Einfacher bei so einem ernsten Thema. Stephanie
hat kurzerhand Yasmin mitgenommen, sie kennt den
Frauenhausalltag als Beraterin aus erster Hand. Reden
wir erst über das 25. Jubiläum, denke ich, ein dankbarer
Einstieg in ein ernstes Thema. Locker anfangen. Ich halte den farbigen Flyer des Geburtstag-Events im Progr in
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der Hand. Er zeigt eine junge Frau hinter
bunten Strichen. Sie aber, die Frau, ist
schwarz gekleidet, ihre Augen verstecken
sich hinter einer dunklen Sonnenbrille.
Die Grafik legt die Karten der Kritiker
auf den Tisch: Eine ernste Sache will ein
fröhliches Fest feiern. Ein Widerspruch?
Eigentlich schon. Eigentlich aber auch
überhaupt nicht. Das Frauenhaus, 1980
als Projekt der neuen Frauenbewegung
entstanden, hat Grund genug sich selbst
feiern zu dürfen: Wer sich ein Vierteljahrhundert gegen Gewalt eingesetzt hat
und dies auch nur aus dem Versteckten,
darf den Schritt in die Öffentlichkeit tun.
«Wir wollen ganz einfach auch mal feiern», meinen Yasmin und Stephanie. Und
das locker, ohne Drohfinger. Es soll kein
schwerer Anlass werden, man will niemanden belehren. Die Menschen sollen
die Institution kennenlernen, aber auch
einfach die Freude der Frauenhäuslerinnen teilen, es bereits so lange geschafft
zu haben. 25 Jahre Frauenhaus, am 25.
November 2005 im Progr. Und als ob die
Zahlen 2 und 5 nicht schon Mysterium
genug wären, ist an diesem Tag gleich
auch noch der internationale Tag der Gewalt gegen Frauen. Ein Zeichen setzen.
Oder feiern, dass man in diesen 25 Jahren schon so manches Zeichen gesetzt
hat. Nur, dass kaum jemand davon etwas
weiss.
Ich mache mich auf zum Gespräch mit
Stephanie, wir haben in einem Restaurant
abgemacht. Als Fachstellenleiterin des
Frauenhauses sieht sie einem grossen
Anlass entgegen. Das Frauenhaus feiert
Geburtstag und ich soll mit ihr darüber
sprechen und was schreiben – über diese
Einrichtung, aber was genau? Ich weiss
nicht recht, recherchiere ein wenig im Internet, aber man findet kaum was. Habe
gar nicht gewusst, dass die eine geheime
Adresse haben.
FR 25.11. 17h
Programm:
25 Jahre Berner Frauenhaus
Ort: Turnhalle - PROGR_Zentrum für Kulturproduktion,
Eingang Innenhof Speichergasse, 3001 Bern
Das Frauenhaus, die stationäre Institution für gewaltbetroffene Frauen und Kinder feiert mit einem grossen
Fest ihr 25-jähriges Engagement für die Gesellschaft.
17h Apéro, Kunstinstallation «sweet home» von Tina
z’Rotz / Tanzeinlagen der Compagnie Afro Rhythme
Danse, 18h einen Vortrag von Maja Wicki, 20h Konzert
mit Lyn Leon. Anschliessend abtanzen mit DJ Anouk
Amok // www.frauenhaus-schweiz.ch / www.lynleon.com
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G E S E L L S C H A F T
ANKLANG#1 –
STEGREIFKUNST DER
FRAU
■ Wer ist IDA? Neben all dem Knatsch um die Reitschule, dieser Austobewiese lokaler Politaktiven
zwecks Ausschmückung ihres Palmarés, dringt nur
noch wenig Produktives aus dem Gemäuer der Kulturstätte. Konzerte, klar. Der Dachstock dabei meist
voll, der Vorplatz genau so. Dennoch schafft es die
Reitschule öfter in den Politteil als in die Kultursparte der Medien – wie auch immer. Ganz hinten in der
Reitschule, am Ende des gepflasterten Innenhofes, da
findet man eine Tür. Vom Raum dahinter könnte man
glauben, er trotze im Stillen ein wenig diesem Seilziehen um das Gebäude. Er bleibt oft unentdeckt ausserhalb des Laternenlichtkegels liegen, und manch
ein Ortskundiger kennt ihn nur vom Hörensagen.
Vielleicht gerade deshalb ist es einer der schönsten
Räumlichkeiten der Reitschule: Der Frauenraum. Darin waltet IDA. IDA ist ein Veranstaltungskollektiv von
Frauen und organisiert kulturelle und gesellschaftspolitische Veranstaltungen, 70 an der Zahl pro Jahr.
IDA sieht sich zwar als Plattform für Frauen, das Angebot richtet sich jedoch an alle Geschlechter, unabhängig von Glauben, Gesinnung oder auch sexueller
Orientierung.
Nun präsentiert IDA mit anKlang#1 ihren neusten
Wurf. anKlang#1 ist der Schweizweit erste Zyklus
improvisierter Musik, die von Musikerinnen und Tonkünstlerinnen produziert, gestaltet und präsentiert
wird. Zeitgenössisches Schaffen im Bereich der Audiokunst, konstruiert von Frauen aus dem In- und benachbarten Ausland. Dabei kommen die Künstlerinnen aus ganz unterschiedlichen musikalischen Ecken.
Regula Gerber aus Bern etwa, wanderte mit ihrem
Kontrabass im Gepäck aus der Klassik in Richtung
Freejazz und macht für ihr Spiel auch mal in Höhlen,
Kirchen oder Fabriken halt. Oder Elisabeth WandelerDeck: Ihre Texte bilden die Grundlage für die Musik
der «bunten Hörschlaufen» . Dabei geschehen Texterarbeitung und Improvisationskomposition unabhängig von einander und werden in der Aufführung
zusammengeführt. Anklang dürfte auch der Improvisations-Workshop am Freitag- und Samstagnachmittag finden. Unter der Leitung von Katharina Weber
( Hochschule der Künste Bern ) widmen sich die Teilnehmerinnen der Improvisation und werden im Vorprogramm des Samstagabends gleich selbst Teil des
Festivals. (th)
anKlang#1 findet vom 17. bis 20 November statt.
Im Frauenraum, Programmverweis: For women and
men.
Bild: zVg.
TILL HILLBRECHT
queersicht auf
leckere östlichkeit
■ Wenn im November jemand die Rosa Brille aufgesetzt bekommt, dann nicht als Geschenk von Amor
an Frischverliebte. In diesem Fall nämlich handelt es
sich vielmehr um den Filmpreis «Rosa Brille» für den
besten Kurzfilm am schwul-/lesbischen Filmfestival
QUEERSICHT. Queersicht, Sicht auf nichtalltägliches
oder nichtalltägliche Sicht. Die Sicht ist das Format der
Leinwand eines queeren Festivals. Sicht auf Queeres
aus dem In- und Ausland, auf Dokumentar-, Spiel- und
Kurzfilme. Unterhaltend, vergnügend. Erschütternd.
Das älteste schwul- / lesbische Filmfestival der
Schweiz steigt in diesem Jahr bereits zum neunten Mal
und hat sich zu einem festen Kulturereignis in Bern gemausert. Für das Festival hat der Trägerverein Queersicht fünf Kinos und Kulturlokale eingespannt. Film
und Rahmenprogramm findet im Kino ABC, Kellerkino,
Kunstmuseum, der Reithalle und im Gaskessel statt. 40
Produktionen aus verschiedenen Ländern hat das Komitee für die diesjährige Ausgabe zusammengetragen.
Was ist das Ziel eines schwul-/lesbischen Filmfestivals? Filmperlen unterschiedlichster Art den Zugang
ins Kino zu ermöglichen, die sonst an den Hürden der
Intoleranz und der Zensur scheitern. Oder am Finanziellen. Queersicht gräbt tief in unbekannten Filmkisten
und bringt uns Low-Budget-Kino, zum Beispiel aus Asien ( Yan Yan Mak: «Butterfly») oder Argentinien: «Un
año sin amor» von Anahí Bernerí zeigt auf erschütternde Weise, wie heutzutage mit Aids umgegangen wird.
Berneri schildert die Leidensgeschichte eines aidskranken, schwulen Autors, der in seiner Trauer langsam tiefer in die SM-Welt hinein gerät und sich schliesslich in
ihr verliert.
Im Osten nichts Neues? ist Name und Pogramm des
diesjährigen Festivalschwerpunktes. Der Osten im Aufbruch. Vieles mag besser werden, einiges bleibt wie es
ist und manches verschlechtert sich. Die aktuelle Situation für Lesben und Schwulen indes ist verworren: So
wurde in Polen zum zweiten Mal die Durchführung des
Christophers Street Day verboten, während umgekehrt
in Ungarn Lesben und Schwule eingetragene Partnerschaften eingehen können. Zeitgenössisches Ostkino
unter anderem aus Russland und der Slowakei. ben dem
aktuellen Filmschaffen wirft das Queersicht-Festival
aber auch eine Retrospektive auf die Zeit vor dem Systemwechsel. «Coming Out» von Heiner Carow etwa gilt
als erster bedeutender Schwulenfilm aus der ehemaligen DDR: Ein Zeitzeuge sowohl historischer Ereignisse
als auch damaliger homosexuellen Paradigmen.
Um diesem schwierigen und grossen Rahmen gerecht
zu werden wird unmittelbar vor dem Festival ein viertägiges Pre-Festivalprogramm in Salecina durchgeführt.
«Warming-up for exchange» nennt sich das Treffen in
den Schweizer Alpen, das darauf zielt, ost- und westeuropäisches Filmschaffen zusammenzubringen. Politisch
und kulturell engagierte Personen aus osteuropäischen
Ländern finden hier einen Austausch von Erfahrungen,
die sie beim Realisieren von Festivals und Filmen unter
widrigsten Umständen gemacht haben. Während dem
Festival werden die Ergebnisse aus Salecina am «Open
Forum» gezeigt und diskutiert.
Neues für alle Weg von der Ostthematik und hin zur
Wollust führt der Videovortrag von Manuela Kay: Wie
drehen wir gute lesbische Pornos? Dabei geht es um
sachliche Kriterien wie Authentizität, Schauspielkunst
und den Scharfmach-Faktor. Die Berliner Filmmacherin
muss es wissen: Sie ist unter vielem anderen Autorin
des Werkes «Schöner kommen», das Sexbuch für Lesben. Aber auch eine ganze Reihe anderer Leckerbissen im Rahmenprogramm des Festivals verkürzen dem
Cineasten die Filmpausen: Podiumsdiskussionen, die
Queersichtlounge im Frauenraum, die Festivalparty am
Samstagabend. Ein Wochenende lang wird Kultur geschaffen, die Bern gut tut. Schön unkonventionell, provokativ, erweiternd. Nicht nur wie die meisten Filme, ist
auch das Festival an sich eine Low-Budget-Produktion.
Aber: nicht billig gemacht. Sondern gewagt, ausgewogen, mit viel Umschwung. Queer eben.
L I T E R A T U R
Sprachgewaltige Newcomerin
Wider die gängige Moral
Wohin des Weges?
Kirsten Fuchs: Die Titanic und Herr Berg. Roman.
Harold Pinter: The Homecoming. Drama.
Walter Wittmann: Halbzeit – der Bundesrat
auf dem Prüfstand.
Die 1977 in Karl-Marx-Stadt geborene Kirsten Fuchs
lernte zunächst Tischlerin, bevor sie sich daran machte, ihre Wahlheimat Berlin literarisch zu erobern. Dieser
Feldzug lohnte sich insofern als sie 2003 den begehrten
Open Mike entgegennehmen durfte und mit ihrem Romanerstling verdientermassen weit über Deutschlands
Hauptstadt hinaus bekannt geworden ist.
In ihrer ureigenen Sprache lässt sie den Leser Anteil
haben an der Begegnung zwischen einer jungen Sozialhilfeempfängerin und deren Sachbearbeiter vom Sozialamt, mit Namen Berg. Dazu ein kleiner Auszug: «Und
dann war da mein neuer Sachbearbeiter. Den wollte ich
gar nicht anlügen. Den wollte ich mich mir in den Schlüpfer stecken, damit er sich aufwärmen kann.» (S. 13)
Zwei Welten prallen diametral aufeinander. Sie weiss
sofort: er ist der Mann, der Richtige, weil da sind noch
viele andere. Er aber, Vater zweier Kinder, mit zwei Trennungen im Rücken will nicht so recht und kann sich doch
nicht entziehen. Physisch können die beiden nicht voneinander lassen. Und doch scheint das Happy-End, welches der Leser unweigerlich erwartet, in immer weitere
Ferne zu rücken. Sie verliert sich zusehends in Traumwelten, während er nicht weiss, wohin mit sich selbst.
Es wird gefährlich für sie beide, denn schliesslich ist er
Herr Berg und sie ist die Titanic.
Für zusätzliche Spannung sorgt die Autorin dadurch,
dass sie ihren beiden Protagonisten eine eigene Stimme
verleiht und diese ihre jeweils individuellen Geschichten, welche sich immer wieder kreuzen, einzeln erzählen lässt.
Allen Unkenrufen zum Trotz beweist Kirsten Fuchs einmal mehr, dass die junge deutsche Literatur lebt...und
wie sie lebt!
Harold Pinter, der in den letzten Jahren vor allem aufgrund seiner kritischen Äusserungen bezüglich Tony
Blairs Irakpolitik von sich reden machte, erhielt vor wenigen Tagen den diesjährigen Nobelpreis für Literatur.
Ausgezeichnet wurde er insbesondere für seine Dramen
wider die bürgerliche Moral der 60er und 70er Jahre,
welchen er zu verdanken hat, schon zu Lebzeiten zur
Erweiterung der Englischen Sprache beigetragen zu haben. Das Ajektiv «pinteresk» leitet sich von jener Welt
ab, die Pinter in seinen Stücken zeichnet. Eine Welt, in
welcher wenige, an sich harmlose Worte genügen, um
eine Atmosphäre der Bedrohung zu schaffen.
The Homecoming beschreibt nun die Rückkehr des erfolgreichen, an einer amerikanischen Universität tätigen
Philosophieprofessors Teddy mit seiner Ehefrau Ruth in
sein Geburtshaus in London. Hier lebt sein Vater Max
gemeinsam mit seinem Bruder Sam und seinen beiden
weiteren Söhnen Lenny und Joey.
Scheint zunächst allseitig Freude über das Wiedersehen
zu herrschen, entwickelt sich die Beziehung zwischen
Ruth und den männlichen Mitgliedern der Familie schon
bald auf höchst seltsame Weise. Die seit sechs Jahren
verheiratete Mutter lässt sich von ihren Schwagern verführen beziehungsweise verführt diese ihrerseits. Dies
alles im Beisein ihres Mannes, welcher eine derartige
Entwicklung der Ereignisse schon vorausgesehen haben
musste, da er seine Angetraute möglichst schnell wieder hatte aus seinem Elternhaus wegbringen wollen.
In Anbetracht dessen, was sich nun abspielt, bleibt der
gehörnte Ehemann erstaunlich ruhig, er willigt sogar
ein, seine Frau für eine Weile in seinem Elternhaus wohnen zu lassen, wenn das ihrem Wunsch entspreche.
Ein verstörendes Drama, welches genauer zu verdeutlichen vermag, was unter dem Begriff «pinteresk» zu
verstehen ist.
Fuchs, Kirsten: Die Titanic und Herr Berg. Roman. Rowohlt Verlag. Berlin 2005. ISBN 3 87134 531 8. S. 286.
Pinter, Harold: The Homecoming. Drama. Faber and Faber. London 1965. Neuauflage 1999. ISBN 0-571-160808. S. 138.
9
Walter Wittmann, emiritierter Wirtschaftsprofessor der
Universität Freiburg, malt ein nicht eben positives Bild
der Schweiz. Nüchtern stellt er fest, dass die Erfolgsgeschichte nicht erst in den 90er Jahren des letzten
Jahrhunderts endet, sondern bereits 1973. Diese Trendwende in den frühen 70er Jahren führt Wittmann auf
unterschiedliche Faktoren zurück: einerseits auf die
fehlende Erneuerung des Produktionsapparates, andererseits auf den bis 1973 unterbewerteten Franken, was
der Schweiz Exportvorteile einbrachte, wichtige Innovationen jedoch verhinderte. Den Zuzug von nicht qualifizierten ausländischen Arbeitskräften führt er als einen
weiteren Punkt an.
Wittmann stellt klar, dass über die dringend nötigen
Reformen, welche das wirtschaftliche Wachstum, die Sicherung der Sozialwerke, den Anstieg der Gesundheitskosten etc. betreffen, inzwischen Konsens herrsche.
Darüber hinaus bezeichnet der Autor die Bundesratswahl 2003 als eine besondere, da hier erstmals seit
1959 mit der Zauberformel gebrochen wird, und stellt
diese im Pressespiegel dar. Darin wird deutlich, wie
gross die Hoffnungen, welche man in diesen nunmehr
bürgerlichen Bundesrat gesetzt hatte, zu Beginn der Legislaturperiode waren.
Akribisch, wenn auch etwas trocken, untersucht Wittmann im Hauptteil des Buches die Plattformen der
SVP und der FDP und deren jeweilige Umsetzung, um
mit der ernüchternden Festellung abzuschliessen, dass
die Reformen bis anhin auf der Strecke geblieben sind.
Der Hauptgrund des bisherigen Scheiterns ist gemäss
Wittmann insbesondere auf unsere direkte Demokratie
zurückzuführen, welche bisher den Beitritt der Schweiz
zur EU verhindert hat.
Eine Trendwende erhofft sich der zuweilen etwas polemische Autor für die Legislaturperiode von 2007-2011
von der «Allianz zur Revitalisierung der Schweiz» - worunter er eine Koalition von FDP, CVP und SP versteht
- und damit eine Öffnung der Schweiz hin zu Europa und
der restlichen Welt. Hoffen wir mit.
Wittmann, Walter: Halbzeit – der Bundesrat auf dem
Prüfstand. Orell Füssli verlag. Zürich 2005. ISBN 3-28005120-7.
10
L I T E R A T U R
SARAH ELENA SCHWERZMANN
nur liebhaber können das
unmögliche möglich machen
■ Literaturübersetzer stellen sich viele Leute als poetische und romantische Menschen vor. Und es stimmt
schon, dass ein literarisches Flair vorhanden sein muss.
Doch der Alltag eines Literaturübersetzers ist hauptsächlich von harten Arbeitsbedingungen geprägt: Kaum
einhaltbare Deadlines, konstante Stresssituationen und
eine schlechte Bezahlung. Ein Job für Liebhaber also,
wie zum Beispiel Werner Schmitz.
Die Liebe zum Detail Ursprünglich hatte der heute
52Jährige Deutsche Volkswirtschaft studiert. Angefangen hat seine Karriere als Literaturübersetzer mit den
Briefen von Hemingway. Seitdem hat er zahlreiche andere Werke von Hemingway sowie John le Carré, Henry
Miller und insgesamt fünf Bücher von Philip Roth übersetzt – darunter auch dessen neustes Werk «Verschwörung gegen Amerika».
Heute müssen Übersetzungen bekannter Autorinnen und Autoren beinahe zeitgleich mit dem Original
erscheinen, wie dies gerade bei Michel Houllebecqs «Die
Möglichkeit einer Insel» der Fall ist. Und darunter leidet
oftmals die Qualität der Übersetzung. Philip Roth’ Werke machen dabei aber eine Ausnahme: Sie gelten unter
einigen Übersetzungswissenschaftlern als unübersetzbar – und werden doch übersetzt. Deshalb hat Werner
Schmitz ganze sechs Monate Zeit bekommen.
Das Gefälle der Kulturen Doch was genau ist so
speziell an diesem Autor? «Die besondere Herausforderung der Roth-Bücher sind die Detail reichen Beschreibungen», weiss Werner Schmitz. «Das erfordert vom
Übersetzer zwar viel Geduld, doch das macht diesen
Autor auch interessant und seine Bücher lesenswert.»
Eine besondere Herausforderung stellen dabei Kulturspezifika dar, das heisst die Dinge, die einer Kultur und
Sprache eigen sind. Und diese verstecken sich meist in
scheinbar unbedeutenden Details. Beim aktuellen RothRoman waren dies unter anderem die amerikanischen
Briefmarken, die über Seiten hinweg beschrieben werden. «Jedes amerikanische Kind kennt diese Briefmarken. Sie sind Bestandteil der amerikanischen Kultur. Jeder weiss, wie sie aussehen. Nur: Weiss das jemand mit
einem deutschen Kulturhintergrund? Wahrscheinlich
nicht.»
Also hat sich Werner Schmitz die Briefmarken auf
dem Internet genau angesehen und versucht, sie so
Detail getreu wie möglich zu beschreiben. Detaillierter
als im Original versteht sich, um dem deutschen Leser
zu helfen. «Ein anderes Problem waren die amerikanischen Häuser. Wissen Sie, was ein Zweieinhalb-Familienhaus ist? Ich konnte mir darunter nichts vorstellen.
Also musste ich versuchen, Bilder von diesen Häusern
aufzutreiben. Da aber in Amerika die Häuser nach ein
paar Jahrzehnten abgerissen und neu gebaut werden,
hat sich das schwierig gestaltet.»
Ein weiterer Kultur spezifischer Aspekt, der sich hier
allerdings durch das ganze Buch zieht und sich nicht nur
auf eine einzelne Passage beschränkt, wie es bei «Der
menschliche Makel» der Fall war, ist die Problematik der
Deutschen Sprache der Kriegszeit. Denn die Geschichte
lebt im Original dadurch dass sie von einem amerikanischen Jungen, der in Amerika lebt im Amerikanischen
erzählt wird. In der Übersetzung allerdings wird die
Geschichte von einem amerikanischen Jungen, der in
Amerika lebt im Deutschen, und somit in der Sprache
des Feindes erzählt. Besonders auffallend ist dabei, dass
der kleine Philip nicht nur, für uns «normales» Deutsch
spricht, sondern Wörter wie Rasse, Volk und Heimat
verwendet. Wörter, die wir mit Deutschem Kulturhintergrund ganz klar nicht mehr benutzen, weil sie von Hitler
so überstrapaziert wurden und heute sehr negativ besetzt sind. Hier ist es also ein ganz klarer Verdienst des
Übersetzers, dass die Geschichte mit dem Sprachenwechsel nicht an Glaubwürdigkeit verliert. Denn beim
Lesen des Romans wird man sich dessen gar nicht bewusst. Erst später, wenn man über das Gelesene nachdenkt, fällt es auf.
Traumjob? Alles Kleinigkeiten, mag man denken,
doch gerade diese entscheiden, ob eine Übersetzung
gut ist oder nicht. Deshalb war es trotz Schmitz’ Vorkenntnissen für ihn unerlässlich, etwa Reden und die
Biographie von Charles Lindbergh zu lesen, dem Fliegerpionier und Herausforderer von Roosevelt bei der
Präsidentschaftswahl von 1940. Dieser ist in «Verschwörung gegen Amerika» nämlich eine von Roth’ Hauptfiguren.
Die Aufgabe des Literaturübersetzers besteht also
darin, eine Geschichte in eine andere Mentalität, in eine
andere Kultur zu übertragen. Ein sehr komplexer Prozess, der mit vielen Vorgaben und Einschränkungen verbunden ist. Trotzdem wird die Arbeit des Übersetzers
von der Öffentlichkeit in den wenigsten Fällen gewür-
digt, in Buchbesprechungen werden sie selten erwähnt.
Dazu Werner Schmitz: «Vielleicht wäre das auch nicht
klug. Man kann darauf hinweisen. Aber oftmals haben
Literaturkritiker auch nicht die nötigen Kompetenzen,
um das zu beurteilen.»
Zur Geschichte - Was wäre wenn? Philip Roth wagt
in «Verschwörung gegen Amerika» ein historisches Experiment mit Folgen. Einmal mehr brillant.
1940. Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, der
aber gleichzeitig Antisemit und Faschist ist, fordert
Franklin D. Roosevelt bei den Präsidentschaftswahlen
heraus – und gewinnt unerwartet. Hitler lädt den neuen Präsidenten nach Deutschland ein, wo dieser einen
Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland unterzeichnet.
Kurz darauf kommt es in Amerika zu ersten antisemitischen Ausschreitungen, die die Juden in Angst und
Schrecken versetzen.
In der Summit Avenue in Newark hingegen lebt der
sieben Jahre alte Philip Roth ein ganz normales Leben.
Mittelpunkt ist dabei seine über alles geliebte Briefmarkensammlung, die ihn überall hin begleitet. Erst als er
sich mit der Ohnmacht seines Vaters gegenüber der Bedrohung konfrontiert sieht, wird auch dem unbeschwerten Philip klar, dass hier etwas Gewaltiges im Gange ist.
Die einst so glückliche Familie zerbricht langsam.
«Verschwörung gegen Amerika» beginnt eigentlich mit
einer ganz harmlosen Frage: Was wäre gewesen wenn?
Der in Amerika geborene Jude Philip Roth spinnt aus
einer anfänglich kühnen Idee eine glaubwürdige Geschichte, die, im Nachhinein betrachtet, sehr gut auch
wirklich so hätte geschehen können. Dabei erzählt der
72Jährige aus der kindlich-naiven Sicht seines 7-jährigen Alter-Ego, aber mit dem Vokabular und den geistigen Fähigkeiten eines Intellektuellen. Ein Kunstgriff,
von dem man sich schnell einlullen lässt. Langsam und
schleichend lässt hier einer der besten Erzähler Amerikas den Faschismus wirken und porträtiert gleichzeitig
das Bild eines Landes, das dem heutigen Amerika unter
George W. Bush gefährlich nahe kommt.
Philip Roth: «Verschwörung gegen Amerika». Roman,
Hanser Verlag, 431 Seiten, Fr. 44.50.
B Ü H N E
11
ISABELLE LÜTHY
die magie
der puppen
■ Ein üppiges Festmahl ist im Gange. Damen und Herren sind in ihren schönsten Gewändern erschienen. Musik erklingt. Man prostet sich zu, es wird gelacht, gesungen und getanzt. Der Wein fliesst in immer grösseren
Mengen. Was mit zärtlichen Umarmungen beginnt, wird
alsbald zu einem Knäuel der Wolllust. Einzig „Jedermann“ ist nicht zum Feiern zu Mute. Geplagt von Visionen, sieht er seine Freunde bald im Totenhemd, bald
hört er Glockenklingen und eine schauerliche Stimme
seinen Namen rufen. – Der Tod tritt auf die Bühne. – Im
«Theater vis à vis» sind die letzten Proben des Klassikers „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal zugange. Darsteller: Jedermann (Frank Demenga) und die
Puppenbühne Demenga / Wirth.
Monika Demenga und Hans Wirth sind während des
grössten Teils der Vorstellung für das Publikum sichtbar. Sie halten die Tischfiguren direkt in der Hand, an
einem kurzen horizontalen Stab, der im Schulterbereich
der Puppe befestigt ist. Dennoch wird ihre Anwesenheit
auf der Bühne praktisch nicht wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit des Publikums fokussiert sich auf die Figuren und ihre Bewegungen.
Was auf der Bühne so leicht und graziös aussieht, ist
das Ergebnis einer langen Vorbereitungszeit. Ein halbes
Jahr dauert es, bis ein neues Stück steht, bis Figuren
und Kostüme hergestellt, die Stimmen auf Band gesprochen, die Bewegungen einstudiert und die ganze Choreografie mit Licht und Ton abgestimmt ist. Die Stücke
stammen oft aus der eigenen Feder. Auch die Figuren
kreiert Monika Demenga selbst. Die Kostüme schneidert
sie gemeinsam mit Maja Beck. Für die Mechanik der Figuren ist Hans Wirth zuständig. Für jedes Stück werden
neue Figuren gestaltet. «Während des Herstellungsprozesses gibt es immer wieder diesen magischen Moment,
an dem die Puppen plötzlich ein Eigenleben bekommen
und zu Persönlichkeiten werden», erzählt Monika Demenga. Weit über hundert Figuren hat sie bisher geschaffen, die jetzt in Koffern und Kisten schlafen oder
die Wände des Ateliers zieren.
Die Verbindung von schauspielerischen und bildnerischen Elementen hat Monika Demenga schon immer
fasziniert. Nach der Schauspielschule absolvierte sie
die Kunstgewerbeschule und nahm Kurse am Institut
für Puppenspiel in Bochum. Seit 36 Jahren arbeitet sie
nun schon als Puppenspielerin. Ein Beruf, den man nach
einem Arbeitstag nicht einfach ablegen könne, sondern
der «hundert Prozent Herzblut» erfordere. 1968 gründete sie die Puppenbühne, zu der Hans Wirth 1977 – mehr
«aus Zufall und Neugierde» – als fester Partner beitrat.
Seit 1992 führen sie zusammen das «Berner Puppentheater» sowie, seit 1999, das «Theater vis à vis».
Nach der Aufführung gibts Kaffee. «Auf der Bühne
ist es unglaublich heiss», seufzt Monika Demenga und
reibt sich die Arme. Das Spiel mit den Puppen ist an-
strengend und erfordert höchste geistige und körperliche Konzentration. Anders als beim gewöhnlichen
Theater wird hier die ganze physische Präsenz in die
Fingerspitzen gelegt. Der Puppenspieler fungiert quasi
als Übersetzer. Mit präzisen Handbewegungen überträgt
er Gefühle, Stimmungen oder Charaktereigenschaften
der Puppen in Bewegungen und macht sie so für die
Zuschauer sichtbar. Der Unterschied zwischen Theater
und Puppenspiel sei vergleichbar mit dem zwischen einem Sänger und einem Geiger, erläutert Regisseur Jiri
Ruzicka. Der Sänger brauche nur seine eigene Stimme,
der Geiger jedoch bringe die Geige indirekt durch die
Bewegung des Bogens zum Klingen.
Eine Frage brennt auf der Zunge: Welche Bedeutung
kommt dem Puppentheater in unserer digitalisierten
Welt zu?
Für Monika Demenga beginnt das Puppentheater
dort, wo das Menschentheater an seine Grenzen stösst
– im Bereich des Märchenhaften und Magischen. «Das
Spiel mit Figuren ist das ideale Medium, um die Magie
des Irrealen darzustellen, um Steine und Tiere sprechen
zu lassen, um Feen, Zauberer und Hexen zum Leben zu
erwecken.» Das Puppenspiel spreche unsere urmenschliche Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen und Übernatürlichen an. Dem fügt Hans Wirth hinzu: «Gerade in der
heutigen Zeit, in der alles sehr hektisch und laut zu und
her geht und wir von medial vermittelten Inhalten überflutet werden, hat die unmittelbare Art des Figurenheathers eine besondere Anziehung.» Es spreche nicht nur
den Intellekt und das Gefühl, sondern auch das ästhetische Empfinden des Zuschauenden an. Dieses Empfinden zu fördern, sei für ihn als Puppenspieler ein sehr
wichtiges Anliegen: «Puppenspiel ist auch Seelennahrung», betont Wirth. Es sei immer wieder erstaunlich,
was für eine Magie eine Figur entwickle. Vieles geschehe nicht auf der Bühne selbst, sondern in den Köpfen
der Zuschauenden. Die Figuren lassen Raum für eigene
Phantasien und Projektionen. Wirth erzählt, schon oft
seien Kinder nach der Vorstellung zu ihm hinter die Bühne gekommen und wollten wissen, wie er die Puppe zum
Weinen gebracht habe: «Kinder nehmen Solches wirklich wahr, obwohl es auf der Bühne nicht stattfindet.»
Das seien die magischen Moment, wenn eine Puppe in
den Augen des Publikums zu weinen beginne.
Für die Zukunft hat die Puppenbühne Demenga /
Wirth noch einiges vor. An neuen Ideen und Projekten
mangelt es nicht. Man wolle auch weiterhin gutes Theater machen und dem Publikum den Reichtum und die
Vielfalt des Figurentheaters näher bringen. Es sei leider
immer noch oft so, dass das Puppentheater aus Unwissenheit belächelt und als Kinderkram abgetan werde.
Wer allerdings selbst einmal eine Aufführung gesehen
hat, ist begeistert.
Programm
Jedermann (Puppenbühne Demenga/Wirth)
Fr 4. Nov. 20.15 Uhr
Sa 5. Nov. 20.15 Uhr
Fr 11. Nov. 20.15 Uhr
So 13. Nov. 17.00 Uhr
Fr 18. Nov. 20.15 Uhr
So 20. Nov. 17.00 Uhr
Fr 25. Nov. 20.15 Uhr
1 + 1 = Kofsalat (Figurentheater Lupine)
Mi 2. Nov. 14.30 Uhr
Sa 5. Nov. 14.30 Uhr
So 6. Nov. 10.30 Uhr
Zwerg Nase (Puppenbühne Demenga/Wirth)
Mi 9. Nov. 14.30 Uhr
Sa 12. Nov. 14.30 Uhr
So 13. Nov. 10.30 Uhr
Mi 16. Nov. 14.30 Uhr
Sa 19. Nov. 14.30 Uhr
So 20. Nov. 10.30 Uhr
Mi 23. Nov. 14.30 Uhr
Sa 26. Nov. 14.30 Uhr
So 27. Nov. 10.30 Uhr
Reservation:
Telefon: 031/ 311 95 85 von Di - Sa 13.30 bis 17.30 Uhr
- Tageskasse 1/2 Stunde vor Vorstellungsbeginn
«afrique noire.
urbane zeitgenössische kultur aus ouagadougou, cotonou, kinshasa und jo‘burg».
3. – 13. november 2005
V E R A N S T A L T E R
13
Bild: zVg. / Nelisiwe Xaba
■ Zum dritten Mal steht Bern im Zeichen zeitgenössischer Kultur made in Africa: Das Schlachthaus Theater
präsentiert mit «Afrique noire III» während 11 Tagen
sensible und radikale Kunstproduktionen aus afrikanischen Grossstädten. Im Zentrum stehen Theater und
Tanz, doch gibt es viele Ausflüge in die verschiedensten Sparten. Wichtiger Bestandteil des Programms
bilden Diskussionen mit den KünstlerInnen sowie drei
Podiumsgespräche. Mittags bieten «Homestories» in
intimer Atmosphäre die Möglichkeit des persönlichen
Austauschs, jeden Abend wird gemeinsam getafelt.
Theater «Omon-mi» (Mein Kind) heisst das neuste
Stück von Ousmane Aledji. Thema ist die Auseinandersetzung mit der in Schwarzafrika häufig fast uneingeschränkten elterlichen Gewalt. Entstanden ist ein tänzerisches, theatrales und musikalisches Gesamtkunstwerk,
das in diesen Tagen in Cotonou Premiere feiert. Bewusst
verwendet der aus der Yoruba Kultur stammende Regisseur dabei zum ersten Mal die indigenen Sprachen
seines und weiterer Völker Bénins.
Zum dritten Mal fanden letzten Herbst in Ouagadougou die «Récréâtrales» statt, ein Festival, das
gleichzeitig auch eine Produktionsplattform bildet und
sich um die Weiterbildung der Theaterschaffenden
kümmert. Dabei entstand von dem aus dem Niger stammenden Autoren Alfred Dogbé eine Adaptation von
Shakespeares «Richard III», in einer Inszenierung der
Schweizer Regisseurin Barbara Liebster. Gespielt wird
das Stück von einem gemischten Ensemble aus sieben
westafrikanischen Ländern.
Weiter sind zwei Solos zu sehen: Alfred Dogbé hat
mit «Tiens bon, Bonkano» einen furiosen Monolog eines
Bettlers verfasst. Ein Stück das sich nicht nur mit dem
individuellen Betteln befasst, sondern auch mit scharfem Blick die Beziehungen zwischen dem Norden und
Süden aufs Korn nimmt.
Aka Simon aus der Elfenbeinküste begibt sich in «Die
Legende des Santiago» nach Paulo Coelho auf Schatzsuche und erkundet die weite Welt.
Tanz Er gehört unterdessen zu den gefragtesten
Choreografen weltweit: der Südafrikaner Boyzie Cekwana. Wie nur wenigen anderen KünstlerInnen gelingt es
ihm politisch aktuelle Fragestellungen in ästhetisch hinreissende Tanzstücke zu fassen. Dies bewies er dieses
Frühjahr mit seinem neusten Werk «Cut!!».
Ebenfalls aus Südafrika kommt die Choreografin Robin
Orlyn. Sie hat mit der aus Bénin stammenden Tänzerin
Sophiatou Kossoko das Solo «...although I live inside...
my hair will always reach towards the sun...» kreiert.
Eine der herausragenden Figuren der boomenden Tanzszene West- und Zentralafrikas ist der Kongolese Faustin Linyekula. Seine radikalen Performances sorgen für
heftige Kontroversen. Im Juni dieses Jahres erhielt er
ein «Carte blanche» am Centre national de danse in Paris. Er konnte zehn junge afrikanische ChoregrafInnen
seiner Wahl einladen. Bei «Afrique noire» stellen wir
drei dieser Arbeiten vor.
Nouveau Cirque Seit vier Jahren arbeitet die Basler Gruppe Cirqu’enflex regelmässig in Südafrika und
baut mit arbeitslosen Jugendlichen die Gruppe Sirkona
auf. Ziel ist es, über diesen Zeitraum die angehenden
Artistinnen zu einer qualitativ hochstehenden Gruppe
auszubilden. Das Resultat dieser Arbeit ist nun erstmals
in Europa zu sehen: «Dreamflyer» ist die gelungene
Zusammenführung afrikanischer Tradition mit europäischer Kultur.
Musik Eine grosse Stimme aus Südafrika wird den
Abschluss des Festivals bestreiten: Busi Mhlongo hat
die traditionsreiche Zulu-Musik ihrer Heimat in die Welt
hinausgetragen, und verleiht ihr gleichzeitig einen urbanen, frischen und aufregenden Geschmack. Busi und
ihre achtköpfige Band spielen vielfältig vibrierende
Afro-Rythmen, denen es weder an Jazz noch an Funk
fehlt. In einem 2. Konzert wird der Multiinstrumentalist
Tim Winsé das Traditionsinstrument «l’Arc à bouche»
modern interpretieren.
Literatur Mit Fatou Diome ist eine junge, vielversprechende Schriftstellerin in Bern zu Gast. Ihr 2004
erschienener Roman «Der Bauch des Ozeans» erzählt
von den Träumen und Enttäuschungen senegalesischer
Einwanderer – und brachte Fatou Diome auf Anhieb in
die Champions League der erfolgreichen AutorInnen.
Film In den 90er Jahren ist in Nigeria eine Filmindustrie – genannt Nollywood, in Anlehnung an andere
grosse Filmmekkas – entstanden, die heute 300 000
Personen beschäftigt und bis 1200 Videofilme pro Jahr
hervorbringt. Vom abgefilmtes Wandertheater bis zum
Horror-Melodrama wird alles produziert und bis weit
über die Landesgrenzen hinaus verkauft. Der Nollywood
Spezialist Babson Ajibade von der Universität Basel hat
für «Afrique noire» eine Videoauswahl zusammen gestellt, welche er mit einer Einführung im Schlachthaus
Theater vorführen wird.
Specials Als Artist in residence wird der südafrikanische Designer und Herausgeber Peet Pienaar, Gründer
und künstlerischer Kopf der Agentur «Daddy buy me a
pony» für drei Wochen nach Bern kommen. Eine Werkausstellung mit dem Titel «How to avoid corner corner
love and win good love from girls» wird im PROGR zu
sehen sein.
Do 3.11.
Peet Pienaar Design - Vernissage im PROGR.
Ausstellung vom 3.11. bis 4.12.05
20:30 Theatre Agbo-N’koko «Omon-mi»
Theater, Schlachthaus Theater
19:00
Fr 4.11.
Cie Falinga und Cie Liebster «Richard III»
Theater, Dampfzentrale
22:00 «norient_s african clubnight» Funmi Adewole,
DJ Bro’Max Clubnight, Dampfzentrale
17:00
19:00
19:00
19:30
So 6.11.
Tropic Expression «La légende de Santiago»
Theater, Schlachthaus Theater
Arène Théâtre «Tiens bon, Bonkano!»
Theater, Schlachthaus Theater
Mo 7.11.
«Videos aus Nollywood»
Film, Schlachthaus Theater
Di 8.11.
Boyzie Cekwana The Floating Outfit Project
«Cut!!»
Tanz, Dampfzentrale
Mi 9.11.
20:00 Fatou Diome Literatur, Kornhaus Bibliothek
19:30
Do 10.11.
Boyzie Cekwana The Floating Outfit Project
«Cut!!»
Tanz, Dampfzentrale
Fr 11.11.
«Grafik und Kommunikation im Umgang mit
Afrika»
Diskussion, PROGR
19:30 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi
«Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» /
Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra»
Tanz, Dampfzentrale
22:00 Sophiatou Kossoko / Robyn Orlin « …although
I live inside… my hair will always reach towards
the sun… »
Tanz, Schlachthaus Theater
17:30
Sa 12.11.
«Zeitgenössischer Tanz und politische Stellungnahme»
Diskussion, Dampfzentrale
19:30 Sirkona «Dreamflyer» Zirkus, Dampfzentrale
21:00 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi
«Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» /
Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra»
Tanz, Dampfzentrale
23:00 DJ Ben E Disco, Dampfzentrale
17:30
19:30
Sa 5.11.
«Zeitgenössische Dramatik in West- und Zentralafrika»
Diskussion, Schlachthaus Theater
20:30 Théâtre Agbo-N’koko «Omon-mi»
Theater, Schlachthaus Theater
22:30 Tim Winsé, Sounds, Schlachthaus Theater
17:30
17:30
21:00
So 13.11.
Sirkona «Dreamflyer» Zirkus, Dampfzentrale
World Women Voices Busi Mhlongo
Sounds, PROGR
Ausserdem:
«Homestories», Schlachthaus Theater
Fr 4., Mo 7., Di 8., Mi 9., Do 10., Fr. 11.11. jeweils
um 12:30
14
M U S I K
Bild: Liebi, Tod + Tüüfu - Patent Ochsner
KATHRINA VON WARTBURG
bern rocks?
■ Parterre, Donnerstag abend, 22:00: die kleine Bar an
der Länggasse ist zum Bersten voll, man steht sich auf
den Füssen, schüttet sich Wein auf die Hosen, schaut
gespannt zur Bühne; dort, zum Greifen nah so klein ist
der Raum, stehen drei Jungs, die gleich mit Zigeunermusik aus dem Balkan einheizen werden. In breitem
Berndeutsch stellen sie sich vor - aber die meisten hier
kennen sowieso im mindesten einen der drei. Lokalmatadoren, wenn auch mit jugoslawischem Einfluss. Egal:
Willkommen in der Rockstadt Bern.
Bern, früher das Zentrum einheimischen Schaffens; «we‘d gross wosch usecho, de bruchsch e Bärner
i r Bänd», sang Polo noch vor ein paar Jahren. Nun, im
Rahmen des neuen Kulturleitbildes, stellt sich die Frage
nach dem Jetzt; was wird getan; was muss getan werden. Und wo steht die Stadt in Sachen Rock? Denn - unter bewusster Ausklammerung aller Vorbehalte seitens
einiger Kulturschaffenden, dass nämlich Rockmusik zu
kommerziell, zu populär und folglich nicht kulturell sei
- Pop/Rockmusik ist Teil der Kultur und wirkt identitätsstiftend. «Pop/Rock schafft Szenen regionaler Prägung.
Berner Rock klingt anders als Basler Rock. Die Zugehörigkeit zu diesen regionalen Szenen stiftet Identität
- für Musiker und Publikum» schreibt Bruno Marty, Geschäftsleiter von Action Swiss Music im Musikbericht
2003.
Zweifelsohne; und Bern war eine der ersten Schweizer Städte, die das erkannt hat. MItte der 1980er Jahre
wurden im Kino Splendid Rocknächte organisiert. Es
gab die 5-Liber-Konzerte, die es einem grossen Publikum ermöglichten, Berner Bands für wenig Geld zu
sehen. Und diesen, vor einem grösseren Publikum zu
spielen. Nach Klassik und Jazz wurde nun endlich auch
die Rockförderung ein kulturpolitisches Thema. Davon
profitierten nicht zuletzt Bands wie Züri West, Patent
Ochsner, oder Stiller Has. Sicher, dass sind klingende
Namen, Musiker die - offensichtlich - den Qualitätsansprüchen der Kulturpolitik als auch dem Publikum genügen konnten und können. Allein: auch sie waren einmal
unbekannt. Zu jener Zeit boten auch private Veranstalter Raum für aufstrebende, talentierte Berner Musiker.
Die Rocknächte im Bierhübeli oder - noch früher - in der
inneren Enge zum Beispiel. Einig sind sich die Beteiligten, von Promotern über Kulturförderer bis hin zu den
Veranstaltern: früher war es einfacher. Für Veranstalter
unbekannte Gruppen spielen zu lassen; für diese auch
ohne kulturpolitische Unterstützung durchzukommen;
für Radiomoderatoren zwischen internationalen Megastars auch ‚mal ein Demotape einer skurilen nationalen Band über den Äther laufen zu lassen. Heute wird
sogar Patent Ochsner, als Live-Band ein Selbstläufer mit
nationalem Bekanntheitsgrad, von den Bernern Lokalradios nur noch viermal die Woche gespielt.
Das seufzendes Grossmutter-Statement im Ohr,
fragt man sich: was ist passiert? Haben wir etwa keine
förderungswürdigen Talente mehr? Haben die zahlrei-
chen Talentshows, die importierte Rockgirlies und Boybands auch die hiesigen Gruppen der Beliebigkeit unterworfen, sie austauschbar gemacht? Peter Schranz, der
seit mehr als 15 Jahren für die Förderung von Rock- und
Popmusik seitens der Stadt zuständig ist, widerspricht:
«Das Niveau der Gesuchsteller ist heute viel höher als
noch vor 10 Jahren. Aber auch die Professionalitätsansprüche sind gestiegen, es herrscht ein knallharter
Wettbewerb».
An Konzertbühnen mangelt es in Bern nicht. ISC,
Bierhübeli, Wasserwerk, Mahogany Hall, Dampfzentrale,
Dachstock, Gaskessel, Progr; zahlreiche Möglichkeiten
also aufzutreten. Zudem zeigt das eingangs erwähnte Beispiel der Bar Parterre, dass es im Prinzip jedem
Gastgewerbebetrieb möglich ist, eine Bühne aufzustellen und jemanden spielen zu lassen. Sofern die gesetzlichen Bestimmungen zu Lärmschutz und zur Schall- und
Laserverordnung eingehalten werden, braucht es dazu
keine Sonderbewilligung. Bern also als New Orleans der
Schweiz, wo in jeder schummrigen Bar noch eine Band
den Blues spielt? Mitnichten. Das Parterre bestätigt als
Ausnahme eher die Regel: keine Bar-Musikspiel-Kultur
hierzulande. Für jene Veranstalter, die den Konzertbetrieb als Teil ihres Programms ansehen, sind die Zeiten
alles andere als rosig. «Konzerte in einem kleinen Lokal
wie dem ISC sind immer Verlustgeschäfte» sagt Frank
Lenggenhager vom ISC. «Nur dank der Einnahmen
unserer Discoveranstaltungen können wir die Kosten
15
WIE MAN‘S MACHT
– SKALADDIN
überhaupt decken.» Live-Musik wird folglich mehr als
Kultursponsoring und Imagepflege denn als gewinnbringendes Geschäft angesehen. Zwar bietet die Stadt eine
Defizitgarantie von bis zu 2000 sFr. pro Anlass sofern
mindestens zwei Berner Bands auftreten. Von den Veranstaltern werden die Kriterien allerdings als zu starr
empfunden, ausserdem ziehen sie es vor, unabhängig
zu bleiben. Im letzten Jahr bezogen einzig die Dampfzentrale und Appalooza (Bierhübeli) Kredite. Viele Clubs
richten sich vermehrt international aus, Schweizer- bzw.
Berner Bands versucht man - wenn überhaupt - als Support Act einzubinden. Aber auch das Publikum lässt sich
nicht mehr auf Unbekanntes ein. Man besucht meist nur
noch Konzerte von Bands, die man kennt und mag; eine
Ausgehkultur der Konzertbesuche existiert kaum mehr.
Früher ging man eben am Donnerstag an die Rocknacht
im Bierhübeli ohne sich um den Namen der spielenden
Band zu kümmern. Schwierig also, für unbekannte lokale
Talente, ein grösseres Publikum auf sich aufmerksam zu
machen. Schwierig - aber nicht chancenlos. Es wird natürlich versucht, auch unbekannten Gruppen Auftrittsmöglichkeiten zu bieten. Sofern die Qualität stimmt, der
Musikstil zum Club passt und eine Band eine gewisse
Bühnenpräsenz markieren kann, wird sie es vielleicht
sogar auf eine grösserer Bühne schaffen. Arci Friede
vom Wasserwerk empfiehlt, die ersten Konzerte selber
zu organisieren. «Wer ein finanzielles Risiko trägt, wirbt
effizienter und mehr» meint er. Dadurch schafft sich die
Band eine Hörgemeinde und fällt den potentiellen Veranstaltern auf. Funktioniert durchaus wie die Beispiele
von Skaladdin oder den Chocolate Rockets zeigen: Letztere organisierten ihre erstes Konzerte selbständig, im
März diesen Jahres hatten sie Plattentaufe im Wasserwerk, es folgten zahlreiche Gigs in der Schweiz; derzeit
touren sie in Deutschland.
Seitens der Stadt versucht man, jungen Musikgruppen zusätzlich Starthilfe zu geben. Das Förderungsmodell «Musik der Jungen», welches seit 1989 von Peter
Schranz geleitet wird, bietet neben einer kostenlose
(aber nicht mehr viel genutzten) Beratungsstelle finanzielle Unterstützung bei CD-Produktionen und Tonträger
zu Promotionszwecken. Ausserdem werden Projektbeiträge gesprochen und Veranstalter mit Defizitdeckungsbeiträgen unterstützt, sofern am organisierten Anlass
mindestens zwei Berner Gruppen auftreten. Der Begriff
Rock/Pop ist dabei im weitesten Sinne als Abgrenzung
zu Klassik, Jazz oder Volksmusik zu verstehen. Während
früher vor allem Rockgruppen Gesuche stellten und Unterstützung erhielten, sind heute zahlreiche verschiedene Bereiche, von HipHop bis Elektronik vertreten. Ziel
ist einerseits eine breite Berner Szene zu fördern, andererseits einzelnen herausragenden Bands wie Lunik
oder - zu früheren Zeiten - Züri West zum Sprung auf
nationales Niveau zu verhelfen. Die Förderung ist insofern nicht als Hitschmiede zu verstehen. «Wir unterstützen in der Regel eins bis zwei CD-Produktionen einer
Gruppe, danach muss sie sich die eigenständig auf dem
Markt behaupten können» sagt Peter Schranz. «Einige
Bands werden dann schnell zu Selbstläufern, spielen
mit ihrer Platte genug Geld ein um dann auf eigenen
Füssen und ohne stadtliche Unterstützung ihren Weg zu
gehen»
Dennoch - wirft man eine Blick über die Kantonsgrenzen hinaus, so wird deutlich, dass andere Städte
in Sachen Rockförderung aufgeholt haben. In Basel
beispielsweise fungiert der Rockförderverein als zentrale Anlaufstelle für Bands, als Bindeglied zwischen
Medien, Veranstaltern, Studios und Bands und als Organisator diverser Bandwettbewerbe. «Sprungbrett»,
«Strampolin»,»Basler Bands goes CH» sind solche Veranstaltungen, dem Sieger winken Plattenvertrag oder
finanzielle Unterstützung für die Tournee. Lovebugs
sind die bekanntesten Gewinner. Derartige Möglichkeiten fehlen in Bern. Für Peter Schranz sind Wettbewerbe
als Förderungsmassnahme eher ungeeignet, da es jeweils nur einen Sieger gäbe und alle anderen leer ausgingen. Allerdings räumt er ein, dass dem Rock in Bern
eine Trägerschaft fehlt, die systematisch Konzertreihen
veranstaltet. Und innovative Konzepte seitens der Veranstalter seien auch immer seltener.
Bern, beklagte der Bund vor kurzer Zeit, hätte als
Rockstadt ausgedient und sei bei internationalen Bands
und Labels verfemt. Mag sein. Statt über die Grenzen
hinaus, werfe man den Blick aber lieber auf das regionale musikalische Schaffen Denn gerockt wird immer
und an Talent mangelt es auch nicht. Vielleicht schaffen es ein paar Bars, demnächst eine Bühne aufzustellen und eine Band zwei Wochen lang spielen zu lassen.
Vielleicht schafft es die Stadt, eine zentrale Anlauf- und
Beratungsstelle einzurichten. Und vielleicht schafft es
der Leser am nächsten Donnerstag ins Parterre und
sich auf völlig Unbekanntes einzulassen. Nur so, um der
Musik willen.
■ Dass die Stadt gute Bands hat, und dass diese
auch auf eigene Faust und ohne grosse Unterstützung weit kommen, beweisen die Ska-Punker Skaladdin. Am Anfang war die Idee. Eine bunt gemischte
Truppe mit unterschiedlichen Qualifikationen und
Ambitionen und einem Gedanken: mit Ska-Punk die
Bühne rocken. Man spielte Coverversionen ein und
arbeitete hin zum ersten «grossen» Auftritt an einer Geburtstagsfete. Zwar erklangen da noch einige
schiefe Töne, die Show aber kam sehr gut an und die
Band wusste: das ist es. Man übte, spielte im Jugendkulturzentrum Hinterkappelen, im Gaskessel, nahm
teil an einem Bandwettbewerb an dem jede Gruppe
ihre Tickets selber verkaufen musste. «Jedes Konzert brachte uns wieder neue Kontakte zu anderen
Ska-Bands, neues Publikum» erzählt Phillip, Saxaphonist bei Skaladdin. Als Lückenbüsser schaffte
es die Band dann mit ihrem ersten eigene Song auf
einen Sampler, herausgegeben von Leech-Records,
dem Schweizer Ska Label. Das war nicht nur der Türöffner für ausserkantonale Konzerte sondern auch
der Startschuss zu eigenem Songmaterial. Über das
Label knüpfte die Band nun Kontakte zu ausländischen Bands und fing an, für diese Konzerte in der
Schweiz zu organisieren; mit sich als Support-Act.
Dennoch wollte Leech-Records die erste CD nicht
produzieren, versprach aber mit Beratung zur Seite
zu stehen. So produzierte die Band 2001 ihre erste
Platte «Rub the Lamp» beim eigenen Label Pimp Records, finanzierte sie durch Konzertaufnahmen und
startete eine Webauftritt. Die Plattentaufe im Uptown wurde ein voller Erfolg und ermöglichte 2002
einen Auftritt als Opener am Gurtenfestival. Auch für
die folgende Tour organisierte Skaladdin alle Konzerte selber. 2003 folgte die zweite CD «Far off from
Okay», wiederum selber produziert und finanziert.
Im Nachhinein bezeichnet die Band es als Glück, dass
sie die erste Platte selber produzierten. So seien sie
unabhängig und nicht angewiesen auf eine Plattenfirma oder einen Manager der die Kontakte knüpft.
Und was empfehlen sie jungen unbekannten Bands?
«Nicht darauf warten entdeckt zu werden, sondern
selber was machen!» (kvw)
Im nächsten Februar soll die neue Platte von Skaladdin erscheinen, danach gehen sie auf Welttournee.
Wir bleiben dran.
16
DAS FEST /
FESTEN
Nach dem Dogma-Klassiker von Thomas Vinterberg
Schweizer Erstaufführung
«Ebenso kluge wie beklemmende Inszenierung»
(Der Bund)
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November Sa 12 / So 27 / Di 29
STADT
THEATER
B E RN
C D - T I P P S
The Unborn Chicken Voices
THREE TRIOS
SARA TRAUFFER
■ Blutrote Farbe, ein Totenschädel und ein Typ, der mit
seiner Gitarre gar nicht fein umgeht. «We don’t play guitar», der Titel. Ist das jetzt die Wiederaufstehung der
Sex Pistols? (Diesmal als Hühner.......wobei, angeblich
ja ungeboren). Mal halblang, es handelt sich hierbei
um soliden Schweizer Rock. Laut, kräftig, schnell. Das
Head-banging mit standardmässiger Luftgitarre in den
eigenen vier Wänden ist vorprogrammiert. Das Album
ist sehr gitarrenlastig, einfache Riffs, ein tanztreibendes Schlagzeug....klingt alles sehr ähnlich; und irgendwie sehr cool. Zwischen all dem Positiv-Rock hat es aber
auch Raum für das schön-psychopatische und das Cover
bestätigende «I know what you wanted to do last tuesday»; wohl eine bewusste Referenz an das Teenie-Movie
mit ähnlichem Titel. Die ungeborenen Hühnerstimmen
verstehen sich laut Promotext als einfache Rock’n RollBand, die leicht verständliche Musik spielt und das LiveErlebnis in den Vordergrund stellt. «Was wirklich zählt,
ist was unter dem Strich rauskommt». Nun, unter’m
Strich war ich zwar noch nie an einem Konzert, aber
nach dem Hören der CD kann ich mir vorstellen, dass es
da ziemlich abgeht. Sicher lustig!
■ Die CD besteht aus drei Sets zu jeweils drei mehr
oder weniger berühmten Standards. Peter Frei (Bass)
und Dominic Egli (Drums) bilden jeweils die «Rhythm
section». Colin Vallon (Piano), Michael Zisman (Bandoneon), und Rafael Schilt (Tenor Sax) übernehmen die
«Leitung» ihres jeweiligen Sets. Frei ist seit über 30
Jahren aktiver Bassist in der Szene. Zisman studierte
in Buenos Aires bei Nestor Marconi Bandoneon und an
der Swiss Jazz School Improvisation / Komposition &
Arrangement. Das «Booklet» gibt an, Dominic Egli habe
die nötigen Impulse hin zur Verwirklichung dieser Aufnahmen gegeben.
Man fühlt sofort eine grosse Spontanität, viel Musikalität auch im Erweitern und Ausleuchten der Möglichkeiten dieser z.T. wohlbekannten Standards. Die Musiker
spielen präzise und finden immer auch etwas Neues mit
Geschmack.
Frei selbst dominiert nicht durch Lautstärke; es gelingt ihm seinen Mitmusikern die Möglichkeit einer aktiven Rolle im kreativen Prozess der Improvisation zu
geben. Man spürt deutlich, dass die Solisten sich ihrer
musikalischen Umgebung immer bewusst sind. Die drei
Solisten reagieren auf die Herausforderung recht unterschiedlich. Vallon verfolgt im ersten Set manchmal
beinahe jeden Turn. Zisman ist ein Virtuose auf dem
Bandoneon und er lässt hier und da wirkliche Tiefe
durchblicken. Schilt macht interessante Experimente im
dritten Set.
CD-Reinhör Tip: 2ND Set Nr.4 Come Rain or Come
Sine (Arlen) mit einem berührenden Bandoneon Intro.
Insgesamt eine gelungene, mehr als nur hörenswerte
CD!
Übrigens: Das Bandoneon ist ein Handzuginstrument das aus der Konzertina entwickelt wurde. 1846
von C.F.Zimmermann konstruiert und später nach Heinrich Band benannt. Diese «Band Union» verbreitete sich
schnell in Deutschland wurde jedoch allmählich durch
das einfacher spielbare Akkordeon verdrängt. Es besitzt
eine unverwechselbare, sich von den anderen Harmonikainstrumenten abhebende Klangfarbe. Interessanterweise ist das Instrument in Argentinien mit dem Tango
zu einem Volksinstrument geworden. Dorthin gelangte das Bandoneon vermutlich zunächst über die USA.
Später ist es mit einer neuen Spielweise und dem Tango
zurück nach Europa gekommen.
TANZENDES LAUB
The Unborn Chicken Voices – We don’t play guitars; seit
15. Oktober im Handel.
Es weihnachtet!
■ Reverend Horton Heat, dass ist eine dreiköpfige, seit
20 Jahren bestehende Band aus Amerika. Nun also ihr
neustes Album mit ihren Christmas-Favorites. Da denkt
man unweigerlich an säuselnde Stars im goldenen
Schneesturm singend und die obligate Santa Claus-Kappe tragend. Wie zum Beispiel Mariah Carey, brrr! Umso
freudiger die Überraschung hier: nix mit Stille, nix mit
besinnlicher Adventszeit, es geht um knallharten, fetzigen Old-School Rock’n Roll. Schon das erste Lied erinnert schwer an Jerry Lee Lewis und dabei bleibts auch.
Von «Jingle Bells» bis hin zu einer kult-verdächtigen
Version von «Rudolph the Red Nosed Reindeer» wird
alles durchgeackert, frisch fröhlich und so ganz und gar
nicht kitschig. Und das aus Amerika! Wir freuen uns darauf, Keckse zu backen, Geschenke einzupacken und den
Weihnachtsbaum zu schmücken. Denn mit dieser Musik
– und einem Glas Glühwein dazu – ist alles eine grosse
Party. Empfehlenswert für all jene, die den besinnlichen
Adventskram nicht ausstehen können.
Reverend Horton Heat – We Three Kings; jetzt im Handel
17
■ Das ist eine Herbst-CD. Sie verströmt diese Sehnsucht nach letzten wärmenden Sonnenstrahlen, die
Melancholie des fahler werdenden Lichts, der kühlen
Luft, der feuchten Nebelschwaden und des schweren,
erdigen Dufts in den Wäldern, aber ebenso die fast
übermütige Freude am zwischendurch wieder stahlblauen Himmel mit klarer Weitsicht oder am tanzenden, wirbelnden, raschelnden rot-goldenen Laub ...
Zwar ist sie bereits vor einem Jahr erschienen,
also nicht mehr ganz brandneu, und ausserdem mag
das äussere Erscheinungsbild eher bieder wirken,
doch die CD ist einfach zu gut, und sie sollte gehört
werden. Jetzt erst recht, weil die hier eingespielte Musik irgendwie so schön zum November passt.
Und weil die Interpreten, das Schweizer Klaviertrio,
gerade eben den ersten Preis am Internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb in Österreich gewonnen
haben – mit der Aufführung von Daniel Schnyders
«Piano Trio», das hier zum ersten Mal als Integralaufnahme zu hören ist. Ein umwerfendes Werk. Hinreissende Rhythmen und betörend schöne Klänge. Das
Schweizer Klaviertrio wechselt in den fünf Sätzen
virtuos zwischen unterschiedlichsten Stimmungen,
mal ruhig, sanft zurückhaltend und eingebettet, wie
etwa im zweiten, mal witzig-frech und tollkühn, wie
im vierten Satz, der mit «Tempo di Funk» überschrieben ist und wo Schnyders enger Bezug zum Jazz
deutlich wird. Die Interpretation des Trios fasziniert
durch die Gleichzeitigkeit von ungeheurer Präzision
und hemmungsloser Spielfreude. Das lebt. Und das
gilt genauso für die zwei Werke der beiden anderen
Schweizer Komponisten auf dieser CD: die Tondichtung «Litaniae» von Paul Juon, ein emotional höchst
expressives Stück, und das «Trio sur des mélodies
populaires irlandaises» von Frank Martin, eine klanglich duftende Komposition mit raffinierten Rhythmen
und Tempi. Stürmisches Gewirbel in neblig weiter
Landschaft. Irischer November eben.
Paul Juon, Frank Martin, Daniel Schnyder. Schweizer
Klaviertrio. 2004 Musiques Suisses MGB CD 6215
18
18
K I N O
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BENEDIKT SARTORIUS
antifolk
■ Die Welt als verschimmelter Pfirsich: Unerwiderte
Liebe, soziale Kälte, grauer Alltag, New York als Friedhof, Yuppies, Teenage Angst in allen Schattierungen,
«let‘s go to sleep…» Kurz: Die Welt ist aus den Fugen,
gebt mir Crack! Nun ist es ein leichtes, diesem Themenkreis mit Holzhammertexten, mit Härte zu begegnen.
Ungleich reizvoller, weil subtiler, lustiger, zugleich zwingender und desillusionierender, wirkt der dilettantische,
pubertäre Ansatz der Moldy Peaches. Herbe, mit einem
Lächeln vorgetragene Zeilen wie «Sucking dick for ecstasy» kollidierten mit der rumpelnden Low-Fi Instrumentierung und den Häschen-, Einhorn- und Robin Hood
Verkleidungen der beiden Protagonisten Adam Green
und seiner Partnerin Kimya Dawson. Sexistisch anmutende Sprüche von Green wie «Whose pussy hole needs
filling?» werden durch Kimya Dawsons simultan geäusserte Sehnsucht nach Nächstenliebe («Whose empty
heart needs filling?») ironisch gebrochen, so dass eine
eindeutige Lesart verhindert wird. Das Zwingende, das
Eindringliche der ersten und einzigen Platte der Moldy
Peaches liegt in diesen Widersprüchen, im teilnahmslos
anmutenden Vortrag, der Desorientiertheit ausdrückt
sowie in der liebenswerten Spontaneität und Intimität
der Aufnahmen. Lacher oder das Klingeln eines Telefons blieben der Produktion erhalten und unterstrichen
den Do It Yourself Charakter der Moldy Peaches.
Durch den Vertrag mit dem wiedergeborenen, legendären Indie Label Rough Trade, das fast zeitgleich das
Debüt der Strokes veröffentlichte und 2001 den Boom
der neuen Rock Welle einläutete, war dem Duo die
Aufmerksamkeit der Musikpresse sicher. Man dürstete
nach mehr und wurde im heimischen Umfeld der New
Yorker Moldy Peaches fündig, dessen Vielschichtigkeit
sich unter einer Vokabel zusammenfassen lässt: Antifolk. Der Begriff wurde durch Lach, seit zwanzig Jahren
Veranstalter der mittlerweile im Sidewalk Café sesshaft
gewordenen Antifolk «Open Mic Sessions», geprägt.
Angetreten um die reaktionären Tendenzen im Folk
aufzubrechen, liess Lach Songwriter ohne stilistische
Limitierungen auftreten. Prominente Namen der ersten
Jahre sind etwa Suzanne Vega, Michelle Shocked sowie
der junge Beck Hansen.
Die Verkrustungen aber blieben. Bis zur «zweiten
Generation», die den anarchistischen, dilettantischen
Ansatz gegenüber gängigen Songstrukturen bevorzugte. Die Moldy Peaches brachten Blockflöten mit, Jeffrey
Lewis, vielleicht der Grossartigste unter all den zum
grossen Teil nach wie vor unbekannten Gruppen und
Einzelgängern, illustrierte grossformatige Comic-«Videos», erzählte seine ureigene «History of Punk on the
Lower East Side» in Medley Version und legte so seine,
wenn nicht gar die geistigen und musikalischen Vorläufer des Antifolks offen. Eine Geschichtslektion von fast
zehn Minuten Dauer, die unter anderem von versprengten Beatniks (Harry Smith), dem Freakout-Strassenmusiker David Peel und seinem Marihuana geschwängerten Gefolge («The Pope Smokes Dope») erzählt, weiter
die Anarchos der Fugs, die Velvet Underground, krude
Obskuritäten (Godz), Richard Hell‘s Television und die
New York Dolls präsentiert.
Nun, genug der Namen: Wichtig ist, dass ein neues,
sich grösstenteils selbst organisierendes Netzwerk von
Gleichgesinnten entstand, das keine Dresscodes kennt,
Labels gründete und so der Krise der Musikindustrie
19
entgegentrat, weiter unermüdlich produziert, gesellschaftliche Normen hinterfragt und vielleicht am markantesten: ein Netzwerk, das aus Einzelgängern, Subjekten bestand und weiter bestehen wird, aus Künstlern
und Künstlerinnen, die keine Angst vor der Blamage
kennen. Künstlerinnen wie etwa Kimya Dawson.
Während ihr ehemaliger Moldy Peaches Partner
Adam Green mittlerweile zum Liebling aller Klassen
mutiert ist, werkelt Kimya Dawson, die Frau mit der
mächtigen Tingeltangel-Bob-Frisur, weiter an ihren massenuntauglichen, weil zu intimen, von Verletzungen gezeichneten Liedern. «Nichts ist Kimya Dawsons Musik so
fremd wie Coolness, Reserviertheit oder übertriebenes
Selbstbewusstsein», schreibt der Kulturjournalist Martin Büsser in seinem Buch «Antifolk». Ihre Musik fällt
nicht zuletzt deshalb ins Zeitlose, Posen zählen nichts:
Wie naiv ihre tagebuchartigen Texte auch anmuten mögen, sie treffen mitten ins Herz.
«Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer, alles zusammen», beschreibt sich Dawson selbst. Fröhlich
und traurig und schreckhaft und tapfer ist auch ihr mittlerweile drittes, erstmals in Bandbesetzung entstandenes Album «Hidden Vagenda» (K Records).
Es erzählt vom Verlust ihrer Grossmutter, von Anthrax und damit der Befindlichkeit des anderen Amerikas nach dem 11. September, verhandelt sozialen Druck
und Schwäche. Das vielleicht schönste Lied stellt «Singing Machine» dar. «Doesn‘t matter what you look like,
doesn‘t matter what you sound like, doesn‘t matter if
they like you, just remember to be kind,» singt Dawson
mit heiserer Stimme in ihrer Ode an die Herzlichkeit.
Dazwischen funkt der psychisch kranke, grossartige
Low-Fi Pionier und mittlerweile dem Antifolk Netz angeschlossene Daniel Johnston seine Cartoon Stimme
durchs Telefon und, wie blöd das nun klingen mag, die
Welt scheint kurzzeitig eine andere, eine bessere, weil
herzlichere zu sein. Nüchterner ausgedrückt: Die viel
gepriesene Authentizität, dieses grösste und unmöglich
zu erfüllende Versprechen der Popmusik, scheint bei Kimya Dawson endlich eingelöst zu sein.
Konzerte:
Dienstag, 15.11.05, 21h30
Herman Düne / Julie Doiron: In Paris ansässige Antifolk-Musiker, die es noch zu entdecken gibtÐ.
Samstag, 19.11.05, 21h30
Kimya Dawson/ Tiger Saw/ Jason Anderson
Alle Konzerte finden im Bad Bonn Düdingen statt.
CDs: The Moldy Peaches (Rough Trade)
Kimya Dawson «Hidden Vagenda» (K Records)
Jeffrey Lewis «It‘s The One Who‘ve Cracked That The
Light Shines Through (Rough Trade)
Buch:
Martin Büsser, Antifolk. Ventil Verlag. Mainz 2005
Antifolk im Internet:
www.antifolkonline.com
www.olivejuicemusic.com
www.antifolk.net
20
M U S I K
«AUS DEN TASCHEN GEKRAMT» ODER
LE COSE CHE AMI
(ITALIAN POETIC JAZZ)
■ Es ist kalt an jenem Abend. Ich stecke meine Hände in meine normalerweise immer
so leeren Taschen. Ein kurzes Tasten bringt diesmal eine kleine Überraschung hervor.
Ein graues, klein gefalztes Papierquadrat. Fünf Sekunden später entpuppt es sich
als ein kaleidoskopartig zerquetschter Flyer. Ich bin angenehm Angetan und beginne
sofort mit dem Lesen.
«Le cose che ami – Italian Poetic Jazz.» können meine Augen in der Dunkelheit
gerade noch entziffern. Jaja – denke ich - die wirklich wertvollen und angenehmen
Dinge des Lebens drängen sich nur sehr selten auf. Doch wenn; dann sollte man die
Chance nicht ungenützt lassen. Es ist wieder wärmer geworden und ich bin zu Hause angekommen. Ich braue mir einen wärmenden Kaffee, werfe meinen PC an und
google sofort «le cose che ami». Das Musigbistrot Bern bringt mir dazu die nötigen,
klärenden Worte:
«Le cose che ami», also «die Sachen, die du liebst», sind süsse italienische Balladen. Eine Mischung aus Pop, Jazz und Poesie, ein Stil der sich kurz mit dem Begriff
«Italian-Poetic-Jazz» umschreiben lässt. Die nostalgischen, herzerwärmenden Songs
sind hauptsächlich im vergangenen Jahr entstanden und entspringen der «Feder»
des Pianisten Thomas Reber und der italienischen Sängerin Annalisa Spagnoli. Grosses, unerschöpfliches Thema: die Liebe. Die Canzoni erzählen Geschichten, die der
Alltag schrieb Ein Ohrenschmaus für Romantiker, Nostalgiker und Liebhaber der Italienischen Sprache.
Längst habe ich beschlossen mindestens eines der insgesamt drei angebotenen
Konzerte (zwei davon in Bern) zu hören. Das wusste ich schon als ich diesen Flyer in
der Hand hielt.
«Wer sucht der findet.» – Dieses so abgedroschene Sprichwort gilt vielleicht
manchmal auch für die Berner Künstler-Szene und deren «Konsumenten». Doch es
ist für einmal nicht nötig dieses Klischee zu bedienen. Heute nicht. Man braucht ja nur
in den eigenen Taschen zu kramen. Manchmal fallen sie einem eben auch ganz von
alleine zu – die wirklich angenehmen Dinge des Lebens.
Konzerte Nov./Dez. «le cose che ami»
Annalisa Spagnoli (v), Paco Casanovas (g), Thomas Reber (p), Daniel Brélaz (b),
Beat Müller (dr)
Sa. 19.11. Kirchgemeindehaus Wichtrach / 20:30
(Ein Benefizkonzert für die Arbeit mit Drogensüchtigen)
Do. 24.11. Musig-Bistrot Monbijou, Mühlemattstrasse 48, Bern / 20:30
Do. 22.12. Café-Bar Parterre, Hallerstrasse 1, Bern / 21:00
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K I N O
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Bild: zVg.
SARAH STÄHLI
don juan im trainerjäckchen
Broken Flowers von Jim Jarmusch
■ Jim Jarmusch blickt immer noch als Aussenseiter
auf Amerika, als tschechisches Einwandererkind, als
das er sich im Innersten wohl immer noch fühlt. In seinem jüngsten Film Broken Flowers - der in Cannes mit
dem grossen Jurypreis ausgezeichnet wurde - erzählt
Jarmusch von einem Land mit all seinen skurrilen Auswüchsen: von White-Trash bis hin zu esoterischer »TierKommunikation». Er erzählt aber auch von einem Amerika, in dem ein gelangweilter middle-class Rentner auf
eine lebensvolle Afroamerikaner-Nachbarsfamilie trifft.
Don Johnston heisst dieser alternde Antiheld und wird
verkörpert von Bill Murray.
Murray hat es mittlerweile intus, völlig unbeteiligt auf
noch so bewegende Ereignisse zu reagieren. Mit Lost
in Translation feierte der Schauspieler sein Comeback
und in Wes Andersons verkanntem Meisterwerk The Life
Aquatic verzeichnete er als Steve Zissou seinen vorläufigen Höhepunkt in schauspielerischem Understatement.
Obwohl man sich zur Abwechslung auch einmal einen
etwas anderen Murray wünschen würde, überzeugt er in
Broken Flowers erneut in der immergleichen Rolle.
Don Johnston ist ein angegrauter Don Juan, der seine
besten Jahre offensichtlich hinter sich hat. Mit dem
Sonnyboy Don Johnson aus Miami Vice wird er trotzdem mehr als einmal verwechselt, obwohl er mit ihm
wirklich nur den Namen gemeinsam hat und dies auch
nur beinahe. Am liebsten sitzt Don im Trainingsanzug
auf der Couch und starrt ins Leere. Eines Tages erhält
er, nachdem er gerade von seiner neusten Flamme verlassen wird, einen ominösen rosa Brief ohne Absender.
In dem steht nichts Geringeres, als dass er vor 19 Jah-
ren einen Sohn in die Welt gesetzt habe. Diese Nachricht
würde Don kalt lassen und genauso an ihm abprallen wie
alles andere, wäre da nicht sein enthusiastischer Nachbar Winston (brillant: Jeffrey Wright), der diesen Brief
als wichtiges Zeichen deutet und Don dazu überredet,
endlich einmal aktiv zu werden. Aber zuerst gilt es herauszufinden, wer von seinen zahlreichen Freundinnen
die vermeintliche Mutter und Verfasserin des Briefes
sein könnte. Don begibt sich auf eine Reise quer durch
Amerika, in die eigene Vergangenheit. Unterwegs trifft
Murray auf eine ganze Reihe starker Schauspielerinnen
in den Rollen seiner Ex-Freundinnen: unter anderem
Sharon Stone, Jessica Lange, Tilda Swinton und Frances
Conroy.
Die relativ simple Ausgangslage inszeniert Jarmusch
gewohnt lakonisch als entspanntes Roadmovie; poetisch und voller sanften Humors.
Ob Don am Ende wirklich seinen Sohn findet, oder nur
die Möglichkeit eines Sohnes erahnt, ist gar nicht so
wichtig. Wie so oft scheint der Weg das Ziel zu sein. Jarmusch schafft es, mit dem offenen Ende des Filmes eine
Geschichte zu erzählen, die jenseits von Rührseligkeit
und ohne je zu moralisieren, völlig unaufgeregt daherkommt und trotzdem berührt.
Bleibend die Szene, in der Don auf seinen möglichen
Sohn trifft und krampfhaft versucht nicht als Pädophiler zu wirken. Im Gespräch mit dem jungen Mann wird
Don sogar zum Philosophen und kommt zur Erkenntnis:
«Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht
hier und ich kann sie nicht kontrollieren, daher gibt es
nur das hier».
Auch wenn Broken Flowers im Vergleich zu anderen
Jarmusch-Filmen kommerzieller ist, schafft es der Regisseur, seine unverkennbar coole Handschrift beizubehalten. Mit den langen Einstellungen und den beinahe
altmodisch wirkenden Überblendungen bleibt Jarmusch
seinem Stil treu, der seine Filme seit Stranger than Paradise ausmacht.
Ein Jarmusch-Film beinhaltet immer auch kleine Geheimtipps des Regisseurs, die es für sich zu entdecken
gilt: war es beispielsweise in Ghost Dog das Buch The
Way of the Samurai, so sind es in Broken Flowers die
ungewöhnlichen Klänge von äthiopischem Jazz, die
Winston seinem mürrischen Nachbarn unterjubelt. Der
Soundtrack agiert wie meistens bei Jarmusch wie ein
weiterer Schauspieler und ist wie immer grandios.
Broken Flowers mag auf den ersten Blick in seiner
Leichtigkeit beinahe belanglos, wie hingeworfen scheinen, hat jedoch im Nachhinein denselben Effekt wie ein
gutes Buch, eines, das man am liebsten immer und immer wieder lesen möchte.
Broken Flowers von Jim Jarmusch läuft ab 10. November im Kino
22
K I N O
Bild: zVg.
Bilder: zVg.
CORPSE BRIDE
■ Basierend auf einem russischen Volksmärchen und
zwölf Jahre nach «A Nightmare before Christmas»
erzählt Tim Burton erneut eine herzerwärmende Liebesgeschichte aus der Welt der Lebenden und Toten.
Der junge Victor (im Original gesprochen von
Johnny Depp) soll Victoria (gesprochen von Emily
Watson) heiraten um seinen Eltern den Aufstieg in
die Aristokratie zu ermöglichen und ihre Eltern vor
dem Abstieg ins Armenhaus zu bewahren. Doch die
Probe zur Hochzeit endet aufgrund Victors Nervosität in einem Debakel und der Pastor schickt ihn weg
um den Trauspruch zu üben. Alleine im Wald findet
Victor wieder zu sich selbst, kann den Spruch fehlerfrei aufsagen und streift aus lauter Vorfreude auf die
Hochzeit den Ehering sogar an eine alte Baumwurzel.
Doch welch Grauen erfasst ihn als er realisiert, dass
die Wurzel der Finger einer wunderschönen, verwesenden Leiche ist, die sich vor Victor in den Fetzen
eines Hochzeitskleides aus dem Grab erhebt. Seit sie
in der Hochzeitsnacht ermordet wurde wartet die Leichenbraut (gesprochen von Helena Bonham Carter)
auf ihren Bräutigam. Aufgrund seines Versehen muss
nun Victor diese Rolle übernehmen und wird ins Reich
der Toten entführt, welches jedoch um einiges lebendiger ist als die Welt der Lebenden. Mit ansteckend
guter Laune erzählen ihm die Gerippe von ihrem
«Leben» und was damals mit seiner neuen Braut geschah. Obwohl es ihn zurück zu seiner grossen Liebe
Victoria zieht, entschliesst sich Victor, zu seinem Wort
zu stehen und die unglückliche Leichenbraut zu heiraten. Bevor sich jedoch alles zum Guten wendet gilt es
noch einige Aufregungen zu überstehen.
Tim Burton und seinem Team ist es gelungen, die
Puppen mit einer Technik zu animieren, welche kleinste Details in Mimik und Bewegung ermöglichten. Mit
seiner überwältigenden Liebe zum Detail ist «Corpse Bride» eine wunderbare Geschichte über Leidenschaft, hinterhältigen Mord und die Frage, ob ein Herz
noch brechen kann, wenn es nicht mehr schlägt. (sw)
Der Film dauert 77 Minuten und kommt am
3.11.2005 in die Kinos.
SONJA WENGER
a history of violence
■ «A History of violence» sei ein Film gegen die Gewalt,
behauptet Kult-Regisseur David Cronenberg («The Fly»,
«Existenz»). Es geht um die dunkle Seite der Menschen,
um die Gewalt, die in uns allen steckt. Und Hauptdarsteller Viggo Mortensen («Lord of the Rings») meint: «David Cronenberg zeigt die Ursachen und Auswirkungen
der Gewalt auf, aber er stellt sie nie in den Mittelpunkt.
Er zelebriert oder verherrlicht sie nie. Gewalt muss man
immer ablehnen, aber er behauptet nicht, dass man sie
immer vermeiden kann.»
Nun ist es ja durchaus annehmbar, dass ein Filmemacher auf einfache, aber eingängige Bilder zurückgreift.
Dass er eine kurze Geschichte auch kurz hält und dem
Publikum die plakative Aussage mit schockierender
Deutlichkeit um die Ohren schlägt. Denn genau das und
nichts anderes wird im Film «A History of violence»
gemacht. Wenn man also ein Thema, hier eben Gewalt,
exzessiv zeigt, dann ist das automatisch als kritische
Aussage zu werten? Möglich.
Dieser Film bedient sich jedoch der billigsten, einfachst gestricktesten Klischees auf beiden Seiten der
Extremschiene, dass man sich nur schwer nicht veräppelt fühlen kann. Gewalt wird in diesem Film tatsächlich
nicht verherrlicht, sondern einfach in kurzen aber schonungslos detaillierten Szenen dargestellt. Allerdings
wird die Gewalt auch nicht wirklich abgelehnt, denn
sie wird nach ziemlich kurzem und lahmen Widerstand
plötzlich als das einzige und effizienteste Lösungsmittel
für alle Probleme eingesetzt.
So beginnt der Film mit der Vorstellung des absolut
Schlechten, in dem zwei düstere Gestalten ihre Rücksichtslosigkeit beim «killen statt frühstücken» beweisen.
Schnitt. Nun wird das vordergründig Gute eingeführt in
dem die ganze Familie mit Mami, Papi und grossem Bruder sich um das unerträglich blonde Mädchen scharen
und ihr bei der Verarbeitung eines «bösen» Traumes
zur Seite stehen. Monster unterm Bett den Monstern im
echten Leben gegenübergestellt also.
So weit so gut. Wie üblich in Filmen über das Leben in
einer amerikanischen Kleinstadt gibt es eine verstaubte Hauptstrasse, ein paar Stadtoriginale, einen gutmeinenden Sheriff und den obligaten Dinners. Hier treffen
beide Welten nun aufeinander. Die Bösen wollen wieder
sinnlose Gewalt anwenden, werden aber zu ihrer Überraschung mit den eigenen Waffen blutig vernichtet. Der
Gute wird zum Nationalheld und plötzlich ist in seinem
Dinners Hochbetrieb. Als Folge seiner Popularität tauchen andere düstere Gestalten auf und behaupten, dass
Tom gar nicht ist, wer er vorgibt zu sein und dass sie für
früheres Unrecht Vergeltung verlangen. Toms ganze Familie wird in einen Strudel aus Misstrauen, emotionalen
Abgründen und plötzlich hervorbrechenden Aggressionen hineingezogen.
Für einen eingefleischten Viggo Mortensen Fan ist
es ein Highlight, den Schauspieler in einer solcher Bestform zu sehen. Doch genau das macht diesen Film so
gefährlich. Die gesamte Besetzung, vom vermeintlichen
Gutmenschen Tom Stall (Viggo Mortensen), über die Bösewichte (Ed Harris und William Hurt), die Ehefrau (Maria Bello) bis hin zum Sohn (Ashton Holmes) ist schlicht
und einfach brilliant. So brilliant, dass jenes gigantische
Fragezeichen bezüglich Sinn, Inhalt und Aussage des
Filmes völlig in den Hintergrund gedrängt wird.
Nun kann man sich fragen, ob es legitim ist, einen
Film in den Himmel zu loben, weil die Schauspieler gut
sind oder zu verdammen, weil die Geschichte schlecht
ist. Auf jeden Fall irritiert der Film, hinterlässt Wut und
Leere. Sollte der Regisseur diesen emotionalen Effekt
bewusst bewirkt haben wollen, dann kann man ja vielleicht darin den Sinn dieser Geschichte erkennen. Doch
die absolute und diskussionslose Abwesenheit jeglicher
Konsequenzen von solch gewaltbereiten Verhaltens
sollte einen misstrauisch stimmen.
Der Film dauert 96 Minuten und ist seit dem 13.10.2005
im Kino.
K I N O
23
SONJA WENGER
TRATSCHUNDLABER
SONJA WENGER
les poupées russes – wiedersehen in st. petersburg
■ Vor vier Jahren drehte Regisseur und Drehbuchautor Cédric Klapisch mit kleinem Budget und relativ
unbekannten Schauspielern die multikulturelle Studentenkomödie «L’Auberge Espagnole». Der internationale
Erfolg um die bunte WG in Barcelona führte nun zu einer
Fortsetzung mit «Les Poupées russes».
Die Geschichte setzt fünf Jahre später ein und beschäftigt sich erneut mit den verworrenen Liebesmühen
von Ex-Student und Protagonist Xavier. Dieser ist weit
von seinem Traum, Schriftsteller zu werden entfernt
und hält sich mit Gelegenheitsjobs als Reporter oder
Ghost-Writer über Wasser. Sein grösster Auftrag ist ein
TV-Drehbuch für eine kitschige Liebesserie. Auch sein
eigenes Liebesleben ist geprägt vom Konflikt zwischen
Traum und Realität und der verzweifelten Suche nach
dem Sinn des Lebens oder der wahren Liebe. Erst als
er die Gelegenheit erhält, in London an einem grossen
Drehbuch zu schreiben, wendet sich das Blatt. Wendy
aus der WG in Barcelona stellt sich zu seiner grossen
Überraschung zudem als seine englischen Co-Autorin
heraus. Ihre Zusammenarbeit entwickelt sich nicht nur
in beruflicher Hinsicht gut, zumindest solange, bis sich
Xavier in das Model Celia verliebt. Erst als Wendys Bruder William in St. Petersburg seine russische Freundin
heiratet, führt dies noch einmal alle WG-Mitglieder zusammen und Xavier dazu, sich nicht nur die richtigen
Fragen zu stellen, sondern auch die richtigen Antworten
zu geben.
Obwohl eine Fortsetzung, ist «Les Poupées russes» in
mancher Hinsicht besser als das Original! Viele cineastische Erzählmittel wie Bildaufteilung, Rückblicke oder
visuelle Collagen hat Cédric Klapisch gekonnt übernommen und weiterentwickelt. Die Musik pendelt angenehm
zwischen Leichtfüssigkeit und Melancholie und der Film
führt das Publikum an wunderschöne Schauplätze in
Paris, London und St. Petersburg.
Die Geschichte selbst ist kompakter, reicher an Details und wird den Charakteren mehr gerecht. Sie lässt
dem Publikum sehr viel Raum für eigenes Gedankenspiel. Der Film konzentriert sich zwar auch hier wieder
auf Xavier, doch dominieren wesentlich weniger Nebenfiguren, welches die Geschichte wohltuend entschlackt.
Die Darsteller sind spürbar reifer und selbstbewusster geworden was sie in ihren Rollen auch vollumfänglich umsetzen dürfen. Romain Duris als Xavier ist
umgeben von einem wunderbaren Damentrio. Audrey
Tautou’s Martine hat sich von der zwischen Melancholie
und Tränendrüsen schwankenden Zicke in eine selbstständige alleinerziehende Mutter gewandelt und sorgt
mit ihrer Lebenseinstellung für nachdenkliche Momente. Cécile de France als lesbische Isabelle lebt diesmal
nicht nur ihre Sexualität aus, sondern sorgt unter anderem als Xaviers Alibi-Freundin und Vertraute für einige
der schönsten Augenblicke des Films. Kelly Reilly durfte
sich von der nur aufs Putzen fixierten Wendy emanzipieren und besticht als gestandene Drehbuchautorin.
Welch ein eindrücklicher Gegensatz zu ihrer Rolle als
lustlose Schwester von Mr.Bingley in «Pride and Prejudice», zur Zeit ebenfalls im Kino. Zudem sorgt Wendys
von Kevin Bishop verkörperter Bruder William, welcher
in diesem Film weniger für saloppe Sprüche als für Romantik sorgt, für zusätzliche Auflockerung.
Als eines der beständigsten Markenzeichen des französischen Films steht auch hier der Humor mit beiden
Beinen auf dem Boden. Trotz einer gnadenloser Ansammlung von Klischees entzieht sich der Film jeglicher
Klischiertheit. Auch, oder gerade ohne Kenntnis von
«L’Auberge Espagnole» ist «Les Poupées russes» eine
unterhaltsame, feinfühlige und kurzweilige Geschichte.
Der Film dauert 129 Minuten und ist seit dem 27.10.2005
im Kino
■ Die Schweiz hat endlich eine Spätshow! Das Rezept? Man nehme eine Kopie des Studios der Harald
Schmidt Show, stelle eine Band hin, die sich genauso
verrenkt wie bei Jay Leno, gebe einem schönen Moderator (obwohl sich Martina Hingis ja nicht entschieden konnte – und ist sie jetzt Single oder nicht?) ein
kurioses Faktotum et voilà, Black’n Blond! Da sich die
Programmverantwortlichen allerdings nichts trauen ist der Sendeplatz am Montagabend und zudem
scheint es in der Schweiz zwei Komödianten zu brauchen um wenigstens halb so lustig zu sein wie anderswo. Abgesehen von einem schauderhaften Gefühl des
Déjà Vues, war es doch ganz...nett. Provokativ, witzig,
schnell, weltoffen, schonungslos, mutig...das ganze
Lexikon halt!
Auch gesellschaftspolitisch kritisch war’s. Neben
einem unsäglichen Anwärter auf den Preis des Publikumlieblings ist nun mit dem Huhn Gaby die Vogelgrippe offiziell auch beim Fernsehen salonfähig.
Lachen soll ja übrigens das Immunsystem stärken.
Obwohl: der Chef des Bundesamts für Gesundheit
vermutet ja, dass in der Schweiz kaum jemand an
der Vogelgrippe erkranken werde. Vielleicht weil wir
mit all den Chemiekonzernen an der Quelle sitzen?
Mein Apotheker erzählte mir jedoch kürzlich, dass ihn
eine Dame fragte, ob sie eine Tamiflu-Packung auch
mit ihrer Nachbarschaftsgruppe teilen könne. Quasi
für jede eine Tablette zur Profilaxe. Das nenn ich Geschäftssinn!
Apropos Geschäft: das Modellbusiness ist ja nun
auch grosser Gefahr ausgesetzt. Man denke nur an
all die gackernden Hühner und schnatternden Gänse
welche sich inmitten einer grossen Menschenmenge
bewegen, in der ganzen Welt in Scharen herumreisen und durch all den Drogenkonsum ein äusserst
geschwächtes Immunsystem aufzuweisen haben.
Anders als der H5N1 Virus haben diese Vögel jedoch
bereits ihre destruktive Botschaft an die Menschen
weitergegeben. Seid dürr, dann liebt euch die Welt.
Ach die Liebe! Sie ist fürwahr eine Himmelsmacht.
Anders kann man ja wohl auch nicht erklären, weshalb Tom Cruise nun plötzlich Vater wird. Ist bei der
Scientology nicht Sex verboten? Wurden wir hier Zeuge einer unbefleckten Empfängnis? Die Frage ist nur,
wie die beiden dann ihr Kind taufen wollen, der Name
«Google» ist ja bereits vergeben!
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D A S
A N D E R E
K I N O
www.cinematte.ch / Telefon 031 312 4546
www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05
www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99
Wir machen weiter!
Mysterious Skin
(Gregg Araki, USA 2004, 99’, Englisch/d, Spielfilm)
Brian Lackey wacht mit blutiger Nase in einer Höhle auf.
Der Achtjährige hat keine Ahnung, was mit ihm passiert
ist. Er kann sich gar nicht mehr an die fünf voran gegangenen Stunden erinnern. Der Zwischenfall verändert
sein Leben drastisch: Angst vor der Dunkelheit, Alpträume und Ohnmachten plagen ihn. Zehn Jahre später ist
Brian davon überzeugt, als Kind von Ausserirdischen
entführt worden zu sein. Und er glaubt, einzig Neil Mc
Cormick könnte das Rätsel seiner Kindheit lösen. Neil ist
ein 18-jähriger Aussenseiter, der so gut aussieht, dass
sich alle auf der Stelle in ihn verlieben. Doch der Adonis
möchte sich an niemanden binden. Neils sexuelle Entdeckungsreise führt ihn nach New York, während die
Suche nach der eigenen Identität Brian zu Neil führt.
Bald merken die beiden, der Schlüssel für eine glückliche Zukunft liegt in der Verarbeitung ihrer dunklen Vergangenheit… (Ab 17.11.)
Pier-Paolo-Pasolini-Tage 5.-8.11.
Im Gedenken an diesen grossartigen italienischen Literaten, Intellektuellen und Regisseur, welcher vor dreissig Jahren unter tragischen Umständen ums Leben gekommen ist, zeigt das Kino Kunstmuseum eine kleine
Filmreihe mit Pasolinis wohl bedeutendsten Filmwerken:
«Accattone» (1961), «Mamma Roma» (1962), «Uccellacci e uccellini» (1965) und «Teorema» (1968). Höhepunkt
der Pasolini-Tage ist der Besuch des deutschen Literaturkritikers Peter Hamm sowie der Regisseurin Karin
Thome, welche am Sonntag, 6. November das 1969
realisierte Filmporträt «Pier Paolo Pasolini» präsentieren. Die beiden Gäste erzählen über die Umstände, in
denen dieses Filmdokument zu Pasolini entstanden ist,
und berichten über ihre persönlichen Begegnungen mit
ihm. Zur Einstimmung liest Peter Hamm einen selbst
verfassten, unveröffentlichten Text zu Pasolini.
Das Hochwasser vom August hat alles zerstört: Tische,
Stühle, Kinosessel, Türen, Wände, Esswaren, Dokumente, Geräte - kein schöner Anblick. Nach der Räumungsaktion mit viel externer Unterstützung steht die ganze
Cinématte leer und wartet darauf, renoviert zu werden.
Nach dem ersten Schock wecken die leeren Räume
Kreativität. Wir haben die Möglichkeit etwas Neues entstehen zu lassen. Diese (hoffentlich) einmalige Chance
werden wir nutzen. Vorerst gibt es noch viel anderes zu
tun: Versicherungsfragen klären, Mietverträge aushandeln, Architekturlösungen prüfen, Offerten einholen,
Bestellungen aufgeben, informieren… und alles braucht
seine Zeit.
Die Cinématte wird Ihnen und uns also erhalten bleiben.
Wir rechnen allerdings nicht damit, schon in diesem
Jahr wieder öffnen zu können. Zu Beginn des neuen
Jahres dürfen Sie mit uns rechnen. In alter Frische und
in neuem Gewand.
Sie können uns unterstützen, indem Sie uns treu bleiben. Kommen Sie wieder, alles wird gut!
Herzlich
Ihr Cinématte-Team
PS:
Vom 11. bis 14. November sind wir im Rahmen des Queersicht-Festivals zu Gast im Gaskessel. Weitere Aktionen
sind im Dezember geplant. Genauere Infos finden Sie in
der Tagespresse oder auf www.cinematte.ch.
Building the Gherkin
(Mirjam von Arx, CH 2005, 89’, Englisch/d, Dokumentarfilm, Videoprojektion)
Kann ein einziges Gebäude die Karriere eines Architekten beeinflussen, das Image einer globalen Firma und
die Skyline einer Weltstadt? Genau einen Monat und
einen Tag nach dem Anschlag aufs New Yorker World
Trade Center wird in London der erste Stahlträger eines neuen Wolkenkratzers in Position gehievt. Die Frage ist unvermeidlich: Ist es richtig, einen so Aufsehen
erregenden Turm mitten im Londoner Finanzviertel zu
bauen, auf einem Platz, wo schon einmal eine Bombe
hochging? Norman Foster, einer der visionärsten zeitgenössischen Architekten, nennt sein Design des Swiss
Re London Hauptquartiers «radikal - in sozialer, technischer, architektonischer und räumlicher Hinsicht».
Grösse und Form des neuen Turmes sind in der Tat so
radikal, dass das Gebäude in den Medien von Beginn
weg als «erotische Gurke» bezeichnet wird. (Ab 17.11.)
Ouaga Saga
(Dani Kouyaté, Burkina-Faso 2004, 85’, F/d, Spielfilm)
Aberwitzige Komödie mitten aus dem Leben in Afrika,
das auf der Leinwand in seiner ganzen Buntheit blüht.
(Ab 3.11.)
QUEERSICHT 12.-13.11.
Das Kino Kunstmuseum präsentiert eine Filmauswahl,
welche das Alltagsleben von Lesben und Schwulen in
den ehemaligen Ostblockländern zum Thema macht.
Filmar en América Latina 14.-29.11.
Während dreier Wochen werden im Rahmen des Festivals Filmar en América Latina in den Städten Genf,
Lausanne, Biel - und neu nun auch in Bern - südamerikanische Filmproduktionen vorgestellt. Das Kino Kunstmuseum zeigt dazu ein Auswahlprogramm mit verschiedenen Schwerpunkten: eine umfassende Retrospektive
über den bolivianischen Regisseur Jorge Sanjinés, eine
Werkschau des jungen chilenischen Filmemachers Andrés Wood, einen Themenabend zum Filmland Peru
und einen zu Migration. Als einer der bedeutendsten
südamerikanischen Filmemacher hat Jorge Sanjinés
in seinem Werk nicht nur die Geschichte Boliviens neu
erzählt. Er hat auch der bolivianischen Kinematografie,
über die kaum etwas bekannt ist, zu einer gewichtigen
Stimme verholfen. Berühmt ist Sanjinés vorwiegend
wegen seiner Beiträge zu einem revolutionären, auch
ästhetisch revolutionären Kino geworden. Mit seinem
‚Kino der Reflexion’ leistet Sanjinés heute einen wichtigen politischen Beitrag zur Identitätsfindung gesellschaftlicher Minderheiten.
F ü r d a s Ta g e s p r o g r a m m d i e Ta g e s z e i t u n g o d e r d a s I n t e r n e t W W W . B E R N E R K I N O . C H
K I NO
i n
d e r
R e i t s c h u l e
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LICHTSPIEL
www.reitschule.ch / Telefon 031 306 69 69
www.lichtspiel.ch / Telefon 031 381 15 05
www.pasquart.ch / Telefon 032 322 71 01
Nichts schwerer, nichts leichter als das ... leben mit
Behinderung
«Das Vorurteil ist von der Wahrheit weiter entfernt als
die Unkenntnis». Lenins Worte stehen als Leitsatz zum
Zyklus über behinderte Menschen. Mit ernsten und humorvollen Spiel- und Dokumentarfilmen über Behinderung sollen Unkenntnisse, Unwissenheit darüber umgewandelt und Ängste abgebaut werden. Die Filme werfen
Fragen auf, wer über welche Menschen Entscheidungen
treffen kann oder wer bestimmt, ob ein ungeborenes Leben, weil pränatal als behindert diagnostiziert, als nutzlos, von keinerlei Wert für die Gesellschaft abgestempelt
und daher entweder abzutreiben ist, oder als Frühgeburt zu Forschungszwecken verwendet werden kann.
Eindrücklich zeigt dies der autobiografische Film «Mein
kleines Kind» von Katja Baumgarten. Die Regisseurin
sowie betroffene Frauen und der Pränataldiagnostiker
Matthias Meyer-Wittkopf werden nach dem Film am 26.
November an einer Podiumsdiskussion teilnehmen.
Weniger ernst geht es im Film «Verrückt nach Paris» zu:
Drei Behinderte machen auf eigene Faust Urlaub vom
Heim. Daraus entwickelt sich ein temporeiches RoadMovie, das an Witz und Situationskomik manch andere
Komödie in den Schatten stellt und an dessen Ende die
drei mit beneidenswerter Kraft und Verstand die Verwirklichung ihrer Träume vorangetrieben haben werden. (17.11.-17.12.)
Dentro casa: la famiglia nel cinema italiano
Unser November-Zyklus zeigt die italienische Familie
in Klassikern wie, «Cronaca familiare» (1962) von Valerio Zurlini, der brillanten Verfilmung des Romans von
Pratolini in der sich zwei Brüder, die nach dem Tod ihrer Mutter getrennt wurden, nach Jahren wieder treffen (Mo 7.11., 20h) oder «La famiglia» von Ettore Scola
(1986), einer hervorragend inszenierten Chronik, welche das Schicksal einer Familie und einer Nation von
1906-86 spiegelt (Mo 14.11., 20h). In «La Stanza del figlio» (2001) erzählt Nanni Moretti berührend und präzis die Geschichte einer Familie, die einen schweren
Verlust erleidet und daran beinahe zerbricht (Mo 21.11.,
20h), «Ricordati di me» (2003) von Gabriele Muccino ist
ein turbulentes Drama über eine mittelständische Familie, deren Welt aus den Fugen gerät, als die Tochter
beschliesst, Showgirl am Fernsehen zu werden und die
Hormone von Vater Carlos verrückt spielen, als er seine
Jugendliebe wieder trifft (Mo 28.11., 20h)
10.11-12.12: Festival Filmar en América Latina im
FILMPODIUM BIEL/BIENNE
Nun bereits zum dritten Mal im FILMPODIUM BIEL/BIENNE: das Festival Filmar en América Latina - das einzige Filmfestival in der Schweiz, das sich ausschließlich
dem Filmschaffen Lateinamerikas widmet.
Die über zwanzig Filme lassen nicht nur die Herzen der
LiebhaberInnen von südamerikanischem Kino höher
schlagen: Vorpremieren und Reprisen, Dokumentar-,
Spiel- und Kurzfilme aus Mexiko, Kuba, Argentinien, Kolumbien, Chile und Brasilien bieten für alle einen Einblick in das jüngste und in der Schweiz kaum vertretene
Filmschaffen dieser Region.
Neue Dokumentarfilme aus der Schweiz,
Argentinien und Brasilien
«Oscar», «Bümpliz - ein Tag in der urbanen Schweiz»
und «Zwischen Mauern und Favelas» sind drei Beispiele über Menschen, die sich in den sich immer schneller
verändernden Gesellschaften kreativ behaupten. Der
argentinische Taxichauffeur Oscar lehnt sich mit künstlerischen Aktionen gegen die Auswüchse einer Krisengesellschaft auf, die ins ärmste Quartier Berns abgedrängten AusländerInnen und ArbeiterInnen lassen eine
farbige Subkultur aufblühen und in den brasilianischen
Slums organisieren sich die FavelabewohnerInnen gegen eine ständig zunehmende brutale Polizeigewalt. (3.5.11., 21.00h) www.reitschule.ch/reitschule/kino
Queersicht: vom10. bis 14. November 2005.
Sortie du labo
Erneut zeigt das Lichtspiel sechs frisch restaurierte
Kurzfilme aus der Cinémathèque suisse, die einen Einblick in die Vielfalt des Schweizer Dokumentarfilms von
1917 bis 1938 geben. Das Spektrum reicht von der stummen Reisereportage aus Russland über das touristische
Lehrstück bis hin zum avantgardistischen Industriefilm.
Präsentiert werden die Filme von den drei FilmwissenschaftlerInnen Anita Gertiser, Yvonne Zimmermann und
Pierre-Emmanuel Jacques. Livebegleitung am Piano
von Wieslaw Pipczynski (Mi 23.11., 20h).
Frankenstein
Zum Auftakt des Horror- und Gruselfilmzyklus des StudentInnenfilmclubs der Uni Bern im Lichtspiel gibt es
einen absoluten Klassiker des Genres mit erstaunlichen
Spezialeffekten und beeindruckenden Masken zu entdecken: den 1931 von James Whale gedrehten Stummfilm
«Frankenstein», in dem das Monster ins Leben gerufen
wird (Mi 30.11., 20h). Musikalisch begleitet wird der Film
von Andreas Bugs (Gitarre). Die ebenfalls von Whale gedrehte Fortsetzung, «The Bride of Frankenstein» (1935)
folgt am 7.12. (20h).
Zum Beispiel:
10.11: Die Vorpremiere von «Habana Blues» macht den
Auftakt im FILMPODIUM. Zambranos Film («Solas») widmet sich den Problemen zweier Möchtegern- Rockstars,
die gegen die Tücken des kubanischen Systems ankämpfen müssen.
13.11: Oliver Stone’s Interview mit dem «Comandante» Fidel Castro höchstpersönlich: Dreißig Stunden
Gesprächsmaterial hat Stone für den Film auf neunzig
Minuten gekürzt – seine Fragen und Castros Antworten
werden im O-Ton wiedergegeben.
18.11: Pablo Traperos neuer Film «Familia Rodante»
– ein vergnügliches Roadmovie, buntes Familiendrama
und deftige Komödie: Die 84jährige Emilia aus Buenos
Aires wird zur Hochzeit ihrer Nichte in ihren Geburtsort, im Norden des Landes, kurz vor der brasilianischen
Grenze, eingeladen. Emilia mobilisiert ihren Sohn, dieser sein altes Wohnmobil Marke Chevy Wiking 1956, und
die 14köpfige Großfamilie aus vier Generationen macht
sich auf die über tausend Kilometer lange Reise...
25.11: «Life and Dept» ist ein Dokumentarfilm über die
Auswirkungen der Globalisierung auf Jamaikas Industrie und Agrikultur.
Vom 9.12-12.12, als Abschluss des diesjährigen Festivals,
ein Film, der in die Beine fährt: «Brasileirinho» von Aki
Kaurismakis Bruder Mika, ist eine liebevolle und genaue
Dokumentation des Choro, der ersten urbanen, original
brasilianischen Musik, die sich im Laufe der vergangenen 130 Jahre zu einer faszinierenden Form moderner
tropischer Klänge entwickelt hat.
26
B Ü H N E
von ihnen ist es sogar die erste Reise nach «Europa»
- schauen sie voller Neugier und Spannung entgegen,
und sie hoffen, durch ihren Besuch auch in Berührung
zu kommen mit Mentalität, Sitten und Bräuche in der
Schweizerischen Hauptstadt. Sie freuen sich auf Reaktionen der hiesigen Bevölkerung auf ihr Schaffen, und es
wird nach der Vorstellung daher reichlich Gelegenheit
geben, diese Begegnung zweier Welten zu vertiefen und
persönlich werden zu lassen.
Spieldaten:
22., 24., 25. und 26. November 2005, jeweils
um 20.30 im Theater Tojo Reitschule Bern.
Abendkasse ab 19.30
Reservation: Boogie Secondhand, Zytgloggelaube 4,
Telefon 031 311 94 04
Bild: zVg.
ANDREA BAUMANN
«lebendiges eisen» ein fenster nach russland
■ Ende November kommt das Berner Publikum im
Theater Tojo in den Genuss eines russischen Theatererlebnisses, das in jeder Hinsicht unter die Haut geht:
sprachlich, schauspielerisch, kulinarisch. Eine junge
Theatertruppe aus St. Petersburg gastiert für vier Vorstellungen in Bern und gewährt Zuschauerinnen und
Zuschauern einen Einblick in zeitgenössisches russisches Theaterschaffen. Erwähnenswert daran: Die drei
Künstlerinnen und Künstler sprechen Russisch, entführen das Publikum in eine ferne, exotische Klangwelt,
und gleichzeitig ermöglicht eine deutsche auf Leinwand
projizierte Übersetzung Bernerinnen und Bernern, die
des Russischen nicht kundig sind, der Handlung und den
Dialogen auf der Bühne zu folgen.
Seinen Anfang nahm dieses Gastspiel aus St. Petersburg diesen Frühling, als eine Übersetzerin aus Bern und
drei junge Absolventinnen und Absolventen der Staatlichen Theaterakademie in St. Petersburg zusammentrafen und merkten, dass sie dank gemeinsamer Wünsche
und Ziele wie füreinander geschaffen waren. Eine Zusammenarbeit drängte sich auf. Für Vanya, Nastya und
Oleg, beseelt von der Idee, ihre Produktion «Schelesjaka» – unübersetzbar, kann in etwa jedoch mit «Lebendiges Eisen» wiedergegeben werden - ausserhalb ihres
Heimatlandes zu zeigen, war die Übersetzerin aus der
Schweiz ein Geschenk des Himmels. Umgekehrt waren
die drei Künstlerinnen und Künstler für die Schweizerin
ein Wink des Schicksals, ihren Wunsch zu verwirklichen,
den Wunsch, mit einem eigenen Projekt zwischen Russland und der Schweiz kulturell zu vermitteln. Sie riefen
das Projekt «Lebendiges Eisen» in die Welt, was so viel
hiess wie: Ein Gastspiel der bereits bestehenden Produktion «Schelesjaka» in Bern organisieren.
Worum geht es? «Schelesjaka» ist eine eigene Insze-
nierung der drei russischen Künstlerinnen und Künstler,
die auf dem zeitgenössischen russischen Theaterstück
«You» von Olga Muchina basiert. Zwei Männer und eine
Frau. Eine undefinierbare Eisenkonstruktion, die ebenso
ein Klettergerüst auf einem Kinderspielplatz sein kann,
wie ein zu Metall gewordenes Symbol von Schicksalen
und Wegen, die sich kreuzen. Dies ist das Ausgangsmaterial des vorliegenden Stücks; sein Grundgedanke ist
schne ll erfasst: Es geht um ein Thema, das die Menschen seit jeher bewegt, den Kampf zweier Männer um
eine Frau. In 18 Bildern bieten die Schauspielerinnen
und Schauspieler Einblick in intime, komische, akrobatische oder nachdenklich stimmende Episoden aus dem
Leben dreier Charaktere und deren Verstrickungen. Die
Reihenfolge dieser Bilder ist dabei nicht starr und ein
für allemal festgelegt, sondern wandelt und verändert
sich ständig, eine Beweglichkeit, die das Stück lebendig erhält. Die Künstlerinnen und Künstler können das
Stück somit an jeden neuen Ort anpassen und auf jedes
Publikum aufs Neue eingehen. So auch an das Tojo Theater in Bern und das anwesende Publikum.
Vanya, Nastya, Oleg und Barbara, alle sind sie überzeugt von der Verbindungskraft des Theaters über
Staatsgrenzen hinweg und alle hoffen sie, dass ausser
den Russinnen und Russen, die in und um Bern herum
leben, auch ein paar Neugierige aus Bern ins Theater
kommen und sich auf das interkulturelle Abenteuer einlassen. Mit russischer Originalsprache, hausgemachten
Blinis und Vodka – direkt aus Russland importiert – ist
ein direkter und unmittelbarer Zugang zur russischen
Kultur garantiert. Der Kulturtransfer ist dabei übrigens
nicht einseitig, denn auch für die Schauspielerinnen und
Schauspieler aus Russland ist der Besuch in Bern ein
Abenteuer. Ihrer ersten Reise in die Schweiz – für zwei
STADTLÄUFER
nr. 14 // bildschön. Was gibt es entspannenderes, als
am Sonntag spät aufzustehen, noch dazu, wenn es sich
um einen der letzten bildschönen Herbsttage handelt?
Ein schweres, englisches Frühstück in der Laube und
dann mit Schlaf in den Augen zum Verdauungsspaziergang an die Aare, wo es Ausflügler im Hochgefühl und
Enten im Tiefflug zu beobachten gibt.
Wir versuchens an der Riviera: Alle regulären Sitzgelegenheiten (Stühle, Liegestühle, Sofas) sind ausgebucht, aber auf der Glasplatte, durch die man direkt auf
die Schwelle hinab sehen kann, sind noch Plätze frei.
Die Sonnenstrahlen lassen die Herbstfarben so richtig
leuchten, wir wähnen uns im Paradies und rekapitulieren die Erlebnisse des Sommers. Nach zwei Stunden
ergattern wird doch noch zwei Liegestühle, und nun blicken wir direkt auf die Bäume mit ihren fallenden Blättern – irgendwie freue ich mich jetzt schon auf die kalte
Jahreszeit.
Wir reservieren uns einen Platz im Rosengarten für
den Abend und bekommen den grossen runden Tisch in
der Ecke. Freunde kommen dazu, die Sonne geht irgendwo hinter dem Jura unter und färbt alles rot, die ersten
Lichter der Stadt flackern auf.
Das Essen im Dämmerlicht ist köstlich: Maispoulardenbrust mit Babyananas, Saisongemüse und Reis.
Früher wäre ich wohl kaum hierher gekommen, aber in
zwei Etappen wurde die alte Beiz mit Fokus auf Fritteuse
und Stammtisch in ein Trendlokal mit Lounge-Charakter
umgewandelt. Die Transformation ist gelungen. An alle
Stadtläufer da draussen: Unbedingt den runden Tisch in
der Ecke reservieren! (al)
C A R T O O N
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www.fauser.ch
EVA PFIRTER
VON MENSCHEN UND MEDIEN
Weshalb unterstützt die Universitätsleitung das Fach Medienwissenschaft nicht?
■ Alles, was wir von der Welt wissen, wissen wir von den
Medien. In der Interaktion mit Kultur, Wirtschaft und Politik spielen Medien eine immer wichtigere Rolle. Medienschaffende können mit ihrer Berichterstattung CEO’s zu
Fall und Politiker in Erklärungsnotstände bringen. Oder
aber einem «Musicstar» mit entsprechender Publicity zu
kurzer Berühmtheit verhelfen.
Die Medien suchen in ihrer Orientierungsfunktion die
Wirklichkeit abzubilden und schaffen dadurch eine neue
Wirklichkeit, die nur selten objektiv ist. Wer Zeitung liest
oder die Tagesschau schaut, ist sich dessen kaum bewusst. Die immer stärkere Vernetzung der Welt macht
uns glauben, jederzeit via Medien objektiv informiert zu
sein. Den Tsunami in Südostasien scheinen wir ebenso
hautnah miterlebt zu haben wie die Stimmung nach der
Wiederwahl von George W. Bush in New York. Doch ist es
nicht gerade dann nötig, sich den Spielregeln und Tücken
der Medienmaschinerie bewusst zu werden, wenn diese
immer stärker unsere eigene Wirklichkeit prägen?
Ein Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft führt nicht zwingend ins Berufsfeld Journalismus
oder Pressearbeit. Künftige Bundesräte, Konzerleiter
und Kulturbetreiber sollten ebenso Bescheid wissen über
Propaganda und Pseudo-Ereignis wie angehende Feuilletonisten. Doch leider scheinen das viele noch immer misszuverstehen: Medien sind nicht bloss interessant für Medienschaffende, sondern betreffen uns alle, durchdringen
unser Leben tagtäglich - ob uns das lieb ist oder nicht.
Auch die Berner Universitätsleitung scheint sich
weder über Bedeutung noch Inhalt des Instituts für
Kommunikations- und Medienwissenschaft im Klaren zu
sein. Neben einigen medienpraktischen Kursen wird vor
allem Grundlagenforschung betrieben; jene Forschung,
die für die Fachhochschulen nötig ist, um Journalisten
und PR-Fachkräfte seriös ausbilden zu können.
Natürlich: Kommunikations- und Medienwissenschaft ist ein junges Fach. Und muss deshalb immer
wieder gegen Vorurteile kämpfen. Obwohl es besser ist
als sein Ruf. Während das Fach in Basel linguistisch, in
Zürich publizistisch und in Lugano unternehmenskommunikativ ausgerichtet ist, zeigt das Berner Institut klar
sozialwissenschaftliche Tendenzen mit Schwerpunkt
Politische Kommunikation - was begründet ist durch
die politische und mediale Bedeutung der Stadt Bern.
Das Berner Modell ist somit keinesfalls austauschbar
mit einem Kommunikations- und Medienwissenschaftsstudium in einer anderen Schweizer Stadt. Nicht zuletzt
auch, weil man mit Roger Blum einen äusserst fähigen
Praktiker und Vermittler an Land gezogen hat.
Am Podium «Wieviel Medienwissenschaft braucht
Bern?» versteckte sich Rektor Urs Würgler hinter Sparmassnahmen und fand, das «Problem Medienwissenschaft» müsse gesamtschweizerisch diskutiert werden.
Konkrete Gespräche fanden bisher aber keine statt.
Statt den hohen Studentenzahlen gerecht zu werden,
begründet Würgler die mangelhafte Unterstützung
damit, in erster Linie müssten Hauptfächer gefördert
werden. Da das Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft aber keine Ausbaumittel erhält, kann es nicht
Hauptfach werden. Und weil es nicht Hauptfach ist, erhält es keine Ausbaumittel.
Sieben positive externe Evaluationen, eine studentische
Petition und ein offener Brief des prominenten Beirats
des Fördervereins für Kommunikations- und Medienwissenschaft konnten die Verantwortlichen nicht zu einer
anderen Haltung bewegen. Man schämt sich nicht, zuzuschauen, wie sich der einzige Dozent mit 80 Stunden-Wochen abrackert. Und über 900 Studierende im
schlechtesten Betreuungsverhältnis des Schweiz ein
Fach studieren, das zweifelsohne Zukunft hat. Medien
schaffen Realitäten und haben eine Macht, die unheimlich ist. Die aktuelle Hysterie um eine allfällige Volgelgrippe-Epidemie zeigt dies auf eindrückliche Art und
Weise. Der Pharmakonzern Roche hat seinen Verkauf
von Tamiflu um mehr als 240 Prozent gesteigert. Ohne
Medien wüssten wir nicht einmal von den VolgelgrippeFällen in Kroatien und Russland.
Die alten, historisch begründeten Wissenschaften
haben ihre Berechtigung. Aber es wäre auch an der
Zeit, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung
Rechnung zu tragen und einem jungen Fach Raum zu
geben. Gerade hier, in der Stadt Bern. Anstatt das Problem typisch schweizerisch den anderen Kantonen und
ihren Universitäten zuzuschieben.
28
M E N S C H E N
EVA MOLLET
christoph simon
Bild: Eva Mollet
... oder warum Franz Obrist neben einem Dachs läuft
n Christoph Simon spricht manchmal grossväterlich:
«Ich bin geworden, der ich bin.» Und gleichzeitig blitzt in
seinem Gesicht schelmische Jugendlichkeit. Das verhilft
ihm dazu, eher als Schlitzohr, als mit stärkeren Ausdrücken bezeichnet zu werden, wenn er eine unliebsame
Handlung vollzieht. Er kann dich angucken mit glänzenden Augen, als stünde er vor dem Weihnachstbaum mit
einem Haufen Geschenke.
Christoph veröffentlicht nach «Franz oder warum Antilopen nebeneinander laufen» und «Luna Llena» seinen
dritten Roman mit dem Titel: «Planet Obrist».
Wie gelangt ein junger Autor zu so vielem Schreiben?
Christoph Simon kommt in Langnau zur Welt. Er wächst
in Unterseen auf. Der Vater ist Bankier, die Mutter Arztgehilfin. Christoph besucht die Mittelschule in Thun.
Schon während dieser Zeit füllt er Notizhefte mit Texten und Zeichnungen. Er spielt Gitarre und unterbricht
das Gymnasium, um sich auf die Jazzschule vorzubereiten. Es ist nicht der richtige Weg. Christoph kehrt an
den Gymer zurück. Da ist der Schauplatz seines ersten
Romans.
Der Vater gibt Christoph dreitausend Franken, um Auto
fahren zu lernen. Er kann bis heute nicht Auto fahren.
Er investiert das Geld in eine grosse Reise. In Israel, Aegypten, Jordanien und Südamerika verdient er Geld mit
Gelegenheitsjobs und er füllt Notizbücher mit seinen
Erlebnissen. Er merkt, die innere Unzufriedenheit, die
Suche nach dem Glück und Antworten auf die Frage,
was das Leben lebenswert macht, lassen sich beiseite schieben. Primäres ist auf der Reise wichtig: Wohin
führt mich der Weg? Auskommen mit wenig Geld, die
Suche, nach dem nächsten Dach über dem Kopf, flüchtige Bekanntschaften, manche amourös. «Man erlebt
viel unterwegs, ohne einer Ordnung oder einer Richtung
zu unterliegen. Reisen verdeckt innere Strukturen.» Die
Notizen von diesen Unterwegs-sein-Feelings dienen als
Ausgangslage für den neuen Roman «Planet Obrist».
Zurück in der Schweiz beginnt Christoph in Basel das
Psychologiestudium. Nach zwei Jahren bricht er ab. Das
Interesse an den Menschen bleibt, aber nicht auf eine
wissenschaftliche, sondern auf eine künstlerische Art.
Er schreibt sein erstes Buch.
Christoph zieht nach Bern. Er wohnt im Breitenrainquartier in verschiedenen WGs. Sein zweiter Roman
«Luna Llena» ist eine Liebeserklärung an das bevorzugte Quartier und an die Beiz mit dem fremdländischen
Namen. Mit dem Titel hofft Christoph auf lebenslänglichen Gratiskaffee im Luna Llena. Dieser Wunsch hat
sich bis heute nicht erfüllt.
Das Motiv für den neuen Roman ist die weite Welt. Zumindest schafft es der Protagonist Franz Obrist bis nach
Slowenien. Es ist für Christoph eine literarische Herausforderung, die verschiedenen von Franz bereisten Orte
zu beschreiben. Der dritte Roman knüpft an den ersten
an: Franz stürzt ab. Seine Mutter stirbt und Franz macht
einen Selbstmordversuch. Der Ausweg ist das Reisen nicht alleine - zusammen mit dem Dachs. «Die verlängerte Pubertät ist das Vorrecht junger Leute, bevor sie
sich in die Gesellschaft integrieren», findet Christoph
Simon.
Christoph ist gerade Vater geworden. Vielleicht ist das
Projekt Kind, die Reproduktion, abgeschlossen oder
hat gerade erst angefangen. Christoph hat ein romantisches Bild von der lebenslangen Liebe. Das tönt aber
auch nach lebenslänglich. Es ist sowohl Hoffnung, wie
Befürchtung. Christoph bezeichnet seine Familie lieber
als Planwagen. Seine Vorbilder sind u.a. die Revolverhelden. Sie lösen ihre Probleme selber oder sterben dabei. Gelöst ist gelöst.
Das Leben und das Umfeld sind der Rohstoff seiner Literatur. Das Schreiben ist die Raffinerie zur Veredelung.
«Es geht mir darum, die Welt schöner zu machen. Und
um Heiterkeit, die immer wieder gefährdet ist. Abgründe sind Material, um darüber zu schreiben.» Auf diesem
Weg will Christoph weiter gehen. Seit dem ersten Buch
kann er vom Schreiben leben. Sein Stundenlohn beträgt
die letzten vier Jahre sieben Franken neunzig. Das sagt
er ohne Bitterkeit. Christoph findet, er hat viel Glück, da
er durch das Schreiben machen kann, was ihm gefällt.
Gedanken festzuhalten, bedeutet Verwirklichung.
Ein nächstes Buch zu schreiben ist seine einzige angestrebte Zukunft. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen.
Seit fünf Jahren trifft sich Christoph Simon regelmässig zum literarischen Austausch mit den «Autören». Die
Gruppe von vier Schreiberlingen bespricht ihre Texte.
Gemeinsam suchen sie nach den Stolpersteinen. Sie verstehen das Schreiben als Prozess und distanzieren sich
vom Klischee des einsamen Literaten im stillen Kämmerlein. Die «Autören» verbindet eine freundschaftliche Vertrauensbasis. Männer mögen Clubstrukturen.
Christoph Simons Lieblingssatz aus dem Roman «Planet Obrist» lautet: «Ich kenne niemanden, bei dem die
Oberflächlichkeit so tief sitzt, wie bei Ihnen.», sagt der
Dachs zu Franz Obrist im gedanklichen Zwiegespräch.
Warum ist es ein Dachs, der neben Franz Obrist läuft?
«Weil Katzen und Hunde zu gewöhnlich sind, und ein
Pferd ist zu gross.»
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artensuite
30
Ich weide meine Pilze aus...
■ «Mein Vorschlag war, eine von
oben an rundum mit Wasser berieselte
Säule zu machen. Um die Säule sollte
eine Spirale aus unterbrochenen Rinnen laufen. Von einer Rinne in die anvon Simon Baur
Simon Baur, lebt als Kurator und Publizist in Basel
und Berlin. Er bereitet in
Zusammenarbeit mit Lisa
Wenger Oppenheim eine
Publikation vor, die Teile des
schriftlichen Nachlass von
Meret Oppenheim vorstellt.
Ab 1. Juni bis 15. Oktober
2006 zeigt das Kunstmuseum Bern eine Retrospektive
Meret Oppenheim.
dere sollte Wasser träufeln oder laufen.
Und zwischen dieser Spirale sollte sich
eine zweite mit grünen Pflanzen (Gras,
Unkraut) bewachsene Spirale winden.
Damit die Säule oben nicht wie abgeschnitten aussehe, hatte ich die Idee,
den kleinen Rund-Pavillon darauf zu
setzen.
Als ganzes machte der Brunnen
eher einen «romantischen» Eindruck,
und ich konnte mir vorstellen, dass er
sich gut in die Umgebung einpassen
werde.
Weil die Pflanzenspirale das vom Turm
herunter fliessende Wasser zu sich herüberleitet, sollte einem, wenn man sich
nahe an die Brunnensäule stellt, ein
leichter Sprühregen entgegenkommen,
wie in der Nähe eines Wasserfalles. (...)
Darum herum, auf die dem Brunnen
abgewendete Seite, sollen grössere und
kleinere Felsbrocken (oder Stücke), 50
– 80 cm hoch, gestellt werden, die auch
als Sitze benützt werden können.»
Der obenstehende Abschnitt stammt
aus einem Text mit dem Titel: «Habt
Geduld», gefunden im schriftlichen
Nachlass von Meret Oppenheim. Es ist
dieser Geduld zu verdanken, dass der
Brunnen heute noch steht, denn nach
wie vor scheiden sich die Geister über
den Sinn und Wert dieser Arbeit. Davon soll in diesem Text aber nicht die
Rede sein, da ich eine Position bereits
bezogen habe: bei jedem Bernbesuch
erweise ich ihm meine Referenz, und
auf die Geister kommen wir vielleicht
noch, sie spielen im Werk von Meret
Oppenheim eine zentrale Rolle.
Die Zitate scheinen mir doch einige
Hinweise auf Meret Oppenheims Gedanken zu geben, die sich in veränderten Formulierungen auch in anderen
Werken finden. Aus Anlass des 20.
Todestages von Meret Oppenheim, am
15. November, soll über dieses Wahrzeichen der Stadt Bern, das heute bekannter ist als der Bärengraben oder
das Bundeshaus, nach gedacht werden.
«Wildrose», «Kristall» und Wasserpavillon «Unterm Teich» heissen Brunnenmodelle, die Meret Oppenheim für
eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern
1982 schuf. Bereits die Titel verweisen
auf eine Vorstellung, das neben der realen noch eine weitere, verwunschene
Welt existiere. E.T.A. Hoffmann hat
einmal von sich behauptet er sei «ins
Kristall gefallen», womit er auf seine
Jugend in einer surrealen Welt anspielte. Doch auch die Wildrose lässt an
Dornröschen denken, hinter deren Dickicht eine eigene Welt im Tiefschlaf
ruhte und der Pavillon referiert auf eine
arkadische Landschaft, der solche Gebäude eigen sind. In den Zeichnungen,
die zum Brunnen in Bern erhalten sind,
finden sich pflanzliche Elemente, aber
auch die Spiralen und das Wasser und
jeweils auch der oben drauf sitzende
Pavillon.
Einige Monate nach diesen Arbeiten, entsteht im August 1981 die Arbeit
«Blaue Blume auf Schwarz», die als
Schlüsselwerk gesehen werden kann,
bei der Frage, um was es Meret Oppenheim mit ihrem Brunnen gehen könnte.
Auch in einer Zeichnung, die im Herbst
desselben Jahres entstand ist die Situation der Gesamtanlage zu sehen, wobei
sie die Blickrichtung so gewählt hat,
dass der Brunnen vor den entlaubten
Bäumen im Hintergrund steht. Je nach
Standort, den man vor dem Brunnen einnimmt, ändert sich auch seine
Aussage: Doch immer bleibt der locus
amoenus das Hauptthema, das ist kein
Zufall.
In der Einleitung zum Katalog, anlässlich des Legats Meret Oppenheims
an das Kunstmuseum Bern, hat Christoph von Tavel die künstlerische Qualität der Künstlerin treffend charakterisiert: «Im Unterschied zu ihren meisten
Zeitgenossen hat sie die Formen ihrer
Aussage nicht kontinuierlich vervollkommnet, sondern hat jedes Werk aus
schöpferischen Urgründen, Träumen,
Assoziationen, Spielen, Gedanken neu
erstehen lassen. So besteht eine wesentliche Qualität dieser Künstlerin im
unerwarteten, immer wieder wechselnden Zusammenfügen und Aneinanderreihen verschiedener Materialien und
Inhalte in bildnerischer und dichterischer Form.»
Das obenstehende Zitat Meret Oppenheims und die eben zitierte Charakterisierung implizieren, dass der
Brunnen aus verschiedenen Elementen besteht, die wie Zitate aus älteren
Arbeiten in diesen einfliessen. 1939
entsteht das Bild «Die Waldfrau». Ein
Kind macht mit dem linken Arm eine
Geste in Richtung einer gekrönten.
übergrossen Figur, die mit Blättern und
Blumen bedeckt, halb Mensch halb
Schlange ist und zwischen den Bäumen
eines Waldes hindurch geht. Gut zwanzig Jahre später entsteht der «Berggeist», eine zylinderförmige Figur, die
auf Armhöhe wie eine Bauchlade vor
sich trägt und deren obere Öffnung
von einer hutähnlichen Bedeckung
verschlossen ist. Ummantelt ist die Figur von Steinsplittern. Oder die Arbeit
«Wolken auf Brücke», die sechs asymmetrische Formen zeigt, die auf unterschiedlich gedrechselten Rohren sitzen
und eher an Pilze denn an Wolken erinnern. Analogien sind nicht bloss in der
äusseren Erscheinung auszumachen.
Das Ambiente des Pavillons findet eine
Entsprechung im «Belvedere» jenem
kleinen Gartenhaus neben der Kirche
in Carona, in das sich Meret Oppenheim gerne zurückzog, oder auch in der
Beschäftigung mit Spirale und Schlangenbewegungen, mit dem Wachsen und
Vergehen, in Gedichtstrophen wie «ich
weide meine Pilze aus...».
Wenn Meret Oppenheim über ihren
Brunnen sagt: «ich konnte mir vorstellen, dass er sich gut in die Umgebung
einpassen werde», so könnte sie, wenn
wir uns den Standort vergegenwärtigen, mit dem Brunnen an einen surrealen oder besser subversiven Angriff
gedacht haben. Neben Polizeikaserne,
einem trostlosen Platz und umgeben
von Schnellstrassen wirkt dieser Brunnen, wie eine Gegenwelt, ein «Paradies-Gärtlein» im städtischen Ambiente, in dem neben bunten Blumen,
Schmetterlingen und kleinen Wolken
auch eine kleine Ringelnatter und ein
Schar weidender Waldpilze gesehen
wurden. Nun fehlen nur noch die von
Meret Oppenheim vorgesehenen Steine, die zum Verweilen einladen.
artensuite
3127
Wie es ist.
■ Bild, Bewegung und Sprache. Damit beschäftigt sich seit gut 60 Jahren
Robert Frank - geboren 1924 in Zürich.
Mit «Les Américains» (1958) wurde
Robert Frank berühmt. 83 Fotografien
von Dominik Imhof
nahm Frank in diesen Fotoband auf,
nur ein Bruchteil der über 20ʻ000 Aufnahmen, die er zwischen April 1955
und Juni 1956 auf seiner Reise durch
48 Staaten der USA gemacht hat. Er
war nicht der erste Fotograf, der sich
mit den USA des 20. Jahrhunderts
beschäftigte (und schon gar nicht der
letzte). Bereits in den 30er Jahren fotografierten und dokumentierten Fotografen die amerikanische Bevölkerung der Depressionszeit. Oder Walker
Evans, der 1938 einen Fotoband über
Amerika publizierte. Doch Frank
schafft etwas ganz Neues. Unscharf,
grobkörnig und kontrastarm sind die
Fotografien. Nicht von Distanz und
Ironie, «nobler Zurückhaltung» und
«erhellender Untertreibung» (wie Susan Sontag es ausdrückt) gekennzeichnet, wie diejenigen von Evans. Sie sind
lyrisch und sind zutiefst subjektiv, aber
auch ungeschönt. Als der Band 1959 in
den USA unter dem Titel «The Americains» erschien, musste Frank harsche
Kritik entgegennehmen: Anti-amerikanisch seien seine Fotografien, dabei
hielt er doch nur fest, wie es ist. Aber
gerade sein subjektiver Blick zeigte
ungeschönt die Leere Amerikas am
Ende der 50er Jahre, die dunklen Seiten des «American way of life» wie sie
vorher vielleicht nur vom «Film Noir»
hervorgehoben wurden. Die Kehrseiten des «American dream». Die USFlagge, amerikanische Statussymbole und den Patriotismus der Zeit hält
er fest; assoziativ sind die einzelnen
Fotografien verbunden, mehr an wiederkehrenden Themen und Motiven
festhaltend, als an einer Erzählung.
Kein Anfang und kein Ende. Keine
erzählerische Situation, wobei ein Bild
auf das nächste und das vorhergehende
verweist. Vielmehr sind es Zeit-Bilder,
verweisen auf etwas dazwischen, auf
eine Bewegung.
Diesen Moment der Bewegung
thematisiert Frank 1958 in der Serie
«New York Bus». Aus dem fahrenden
Bus schiesst er scheinbar zufällige
Schnappschüsse von New York, seinen
Bewohnern, Strassen und Gebäuden.
Gerade in diesem Zufälligen erscheinen die Fotografien inszeniert, in ihrer
Spontaneität komponiert. Der Blick
zwischen zwei Bussen hindurch, hinein in eine für New York so typische
Strassenschlucht - im Gegenlicht. Und
dazwischen ein einzelner Mann, über
die Strasse hastend, einen unendlich
langen Schatten ziehend. Poetisch und
schlicht schön.
Noch 1947 war Frank in New York
und arbeitete als Modefotograf am
renommierten Magazin Harperʻs Bazaar, was ihn kaum befriedigte: zu
eingeschränkt die Möglichkeiten, zu
stark gebunden an das Magazinformat. Also brach Frank aus und auf,
reiste bis Mitte der 50er Jahre durch
Südamerika, Europa und die USA.
Er machte Fotoserien über Peru und
über Paris, über die einfachen Arbeiter, Banker und spielenden Kinder
im Nebel durchfluteten London, oder
über Ben James, einen Minenarbeiter
in Wales. Dazwischen steht aber noch
eine oft ausgeblendete Fotoserie, die
nun in Winterthur für einmal zu sehen
ist und damit die Ausstellung wunderbar abrundet. Frank dokumentierte
(wenn man dies bei Frank überhaupt
so nennen will oder kann) die Appenzeller Landsgemeinde in Hundwil.
Hier gibt es noch ein Anfang und ein
Ende. Eine Erzählung. Eine Form, die
Frank in seinen übrigen Arbeiten bewusst negiert.
Und plötzlich etwas vollkommen
Neues. Aber auf keinen Fall überraschend. Was Frank in Form der Fotografie bereits thematisiert hatte - Bild
und Bewegung -, beschäftigt ihn ab
1959 im Medium des Films. Aus Angst
sich in der Fotographie zu wiederholen, wollte er etwas Neues versuchen,
die erweiterten Möglichkeiten des
Films kamen ihm da nur entgegen. Zur
Wahl von Ausschnitt, Licht, Kontrast,
kommt jetzt noch Ton und Sprache
hinzu. Sein erster Film «Pull My Da-
isy» von 1959 ist auch ein Dokument
der Beat-Generation um Jack Kerouac
(der das Vorwort zu «The Americans»
schrieb) und Allen Ginsberg. Zwar im
Stil eines Home-Movies gedreht - wie
so viele von Franks Filmen -, doch in
Tat und Wahrheit präzis inszeniert, im
gut ausgeleuchteten Studio, teils mit
Schauspielern. Immer wieder bricht
Frank mit den Sehgewohnheiten des
Mainstream-Kinos in seinen Filmen.
Sie sind nicht Fiktion und nicht Dokumentarfilm, das Objektive geht ihnen
ab und an seine Stelle tritt der subjektive Blick der Kamera. Halbdokumentarisch und halbautobiografisch. Die
eigene Person, seine Familie und seine
Schicksalsschläge (seine beiden Kinder
sind früh gestorben) treten immer öfter
ins Zentrum.
Seit den 70er Jahren ist aber parallel
zum Film auch die Fotografie wieder
ein Thema, jetzt in Form des Polaroidbildes. Nicht mehr dem Einzelbild, sondern assoziativ verbundenen Bildfolgen
widmet Frank seine Aufmerksamkeit.
Eine ganz eigene Art der Collage entstand: Bild und Sprache. Sprache als
Orts- und Zeitangaben, als Einzelwörter und Wortreihen eingeschrieben in
Polariods: «Blind. Love. Faith»!
Bild, Bewegung und Sprache. Das
subjektive Bild eines Künstlers, der
zeigt, wie es ist. Bewegung, die zwischen Einzelbildern aufflackert und in
die Beschäftigung mit dem bewegten
Bild des Films mündet. Sprache, die
in Bilder integriert ist - als Verstärkung des Subjektiven. Robert Frank
als Künstler, der nie aufgibt und nie
aufhört, das Medium wechselt und sich
doch treu bleibt: Ganz subjektiv.
Bild: From the Bus, 1958
Silbergelatine-Abzug, 11x16.1 cm
(c) Robert Frank/ Courtesy
Pace/ MacGill Gallery, New
York
Robert Frank: Storylines
Fotomuseum Winterthur
und Fotostiftung Schweiz,
Gützenstrasse 44/45. Eine
Ausstellung organisiert von
der Tate Modern in Zusammenarbeit mit dem Fotomuseum Winterthur und der
Fotostiftung Schweiz. Geöffnet Dienstag bis Sonntag
11.00-18.00 Uhr, Mittwoch
11.00-20.00 Uhr. Bis 20.
November 2005. Zur Ausstellung erschien das Buch
«Robert Frank: Storylines»
und der Essayband «Essays
über Robert Frank».
Buch-Tipp: Susan Sontag,
«Über Fotografie». Erstmals
erschienen 1977.
artensuite
32
Farben wie an einem Wintermorgen
■ Die Galerie Tom Blaess zeigt Arbeiten, die im eigenen Druckatelier
entstanden sind. Tom Blaess wird
nächstes Jahr fünfzig Jahre alt und
fand den Zeitpunkt geeignet die letzten fünfzehn Jahre Revue passieren zu
lassen. Eine Retrospektive mit Wervon Helen Lagger
Retrospektive
Arbeiten des Druckateliers/
Galerie Tom Blaess
1990-2005
Uferweg 10, 3013 Bern
Vernissage:
Sonntag 6. November 11-17 h
Bis am 27. November 2005
ken von mehr als zehn renommierten
Kunstschaffenden.
Der aus den USA kommende Tom
Blaess ist gelernter Steindrucker,
Künstler und Galerist. Seine Lehre
absolvierte er in San Francisco bei Ernest F. de Soto. Begeistert erzählt er
von den dort entstandenen Kontakten
und der Ausrichtung auf südamerikanische Kunst, die ihn auch jetzt noch
fasziniert. Die eigene künstlerische
Arbeit hat Tom Blaess zurückgestuft.
Das Wichtigste ist ihm zurzeit das
Druckatelier zu führen und die Künstler beim Arbeitsprozess zu begleiten.
Die Beziehung zwischen Künstler und
Drucker sei sehr delikat. Der Drucker berät und schlägt vor, darf aber
niemals zu direkt auf das Werk Einfluss nehmen. Es ist ein kooperativer
Prozess, in welchem der Drucker das
Medium so nutzt, dass dem Feingefühl
der Kunstschaffenden am besten entsprochen werden kann. Der Drucker
fungiert als technischer Berater und
hilft Texturen, Linien und malerische
Formen herauszuarbeiten.
Vor fünfzehn Jahren hat Tom Blaess
sein Steindruck-Atelier in Merligen im
Berneroberland eröffnet. 1999 konnte
er schliesslich am Uferweg in Bern die
ehemalige Gassner-Brauerei beziehen.
Er hat mit unzähligen Künstlerinnen
und Künstlern zusammengearbeitet.
Die dabei entstandenen Lithographien
und Monotypien werden jetzt in einer
Retrospektive präsentiert. Darunter
Werke der exzellenten Zeichnerin
Minna Resnick aus New York oder des
vor zwei Jahren verstorbenen Künstlers Harald Studer. Dieser bevorzugte
Pflanzenmotive und stellte in seinen
Bildern den Mikrokosmos der Flora
dar. Die Textur eines Blattes wird bei
Harald Studer zu einem ornamentalen
Muster.
Die Arbeiten anderer Künstlerinnen und Künstler bestechen vor allem durch sensible Farbkombinationen oder Mix-Media-Technik. Einige
Kunstschaffende stammen aus dem
Ausland: Gustavo Rivera aus Mexiko, Patsy Payne und Minna Resnick
aus den USA und Marcin Kaligowski
aus Polen. Tom Blaess hat den Schwerpunkt seiner Retrospektive allerdings
auf Schweizerkünstler, oft aus Bern
stammend, gesetzt. So werden beispielsweise die zart-nebulösen Arbeiten Kotscha Reists zu sehen sein. Dieser benutzt Farbtöne wie man sie an
einem lieblichen Wintermorgen sieht.
Bilder über denen eine Art Schleier zu
hängen scheint. Kotscha Reists Motive
haben oft Bezug zu eigenen Erinnerungen. Dies geschieht sehr subtil. Ein
Stück Parkett der elterlichen Wohnung
in Muri kann ebenso zu seinem Sujet
werden wie ein faszinierender Schatten, den er in einem Pressebild gefunden hat.
Auch mit Babette Berger, die vor
allem durch ihre mit Oelfarbe gemalten Teppiche bekannt wurde, hat Tom
Blaess zusammengearbeitet. Entstanden ist unter anderem ein Bild mit Mikado-Stäbchen. Das Bild hat etwas hyperreales, als könnten wir die Stäbchen
packen. Die Arbeit ist gleichzeitig ein
Produkt des Zufalls und der Ordnung.
Das Bild ist konstruiert, wirkt aber als
hätte tatsächlich ein Spieler die Hölzer
zufällig hingeworfen und bei genauerem Hinsehen entdeckt der Betrachter
kleine Unvollständigkeiten, welche die
Illusion des Bildes durchbrechen.
Tom Blaess kam nach Bern weil
es Zeit war «sein eigenes Business»
zu machen. Jetzt kann er bereits fünfzehn Jahre Revue passieren lassen und
hat seinen Traum, ein Druckzentrum
mit internationaler Ausstrahlung zu
führen, verwirklicht. Kein American
Dream, sondern eine umgekehrte Immigration. Tom Blaess lebte als Kind
in Europa und wollte an den Ort des
Geschehens, sprich in die Alte Welt,
wo das Drucken entstanden ist, zurückkehren.
artensuite
33
Willkommen in Zombietown - Knut Åsdam
■ Grossstädte mit ihren Unorten,
Plätze die kalt und leer sind, auch
wenn sie von Menschen nur so wimmeln. Menschen, die vorbeihasten, auf
der Suche, nach was, wissen sie selbst
nicht und finden werden sie es sowieso nie. Die Anonymität der Grossstadt
und der Versuch des Einzelnen sich
darin einen Platz zu suchen, die Wechselwirkung von Individuum, Gruppe
und Raum stehen im Mittelpunkt der
drei Videoarbeiten des Norwegers
Knut Åsdam (1968 geboren), die Philippe Pirotte in der neuen Ausstellung
in der Kunsthalle Bern präsentiert. Die
Kunsthalle ist dazu zu einer einzigen
grossen Installation geworden: Die
Einganshalle ist leer. Der Hauptsaal zu
einem nächtlichen Park umgestaltet.
Töne sind bereits hier zu hören. Wer
sich durch den Park wagt, gelangt zu
den zwei Videoarbeiten «Blissed» und
«Filter City».
Die Videoarbeiten sind wenig zugänglich. Sie sind relativ lang, in englischer Sprache (ohne Untertitel). In
«Blissed« - einer Arbeit, die für die
Kunsthalle entstanden ist - hören wir
verschiedenen jungen Menschen in
ihren Diskussionen über ihre Beziehungen innerhalb der Clique zu, über
ihre Freundschaft, über Gruppendynamiken. Unterbrochen wird dieser «Erzählstrang» (der sehr filmisch-narrativ
wirkt) von langen Einstellungen, meist
langsamen Kameraschwenks, welche
Ansichten einer Stadt zeigen. Damit
rückt die Stadt als weiterer Protagonist
ins Zentrum, ist gleichgewichtig den
Menschen, die der Betrachter in ihren
ganz intimen Gesprächen belauscht.
Und schnell einmal wird deutlich, wie
wichtig die Stadt ist: die Orte und eben
Unorte, in denen sich die Protagonisten
aufhalten, die sie durchschreiten. Einer
dieser Unorte ist natürliche auch der
nächtliche Park, tagsüber ist er der Ort
zum Verweilen, wo man sich trifft und
Kinder spielen. Nachts das Gegenteil,
nur wer Verborgenes und Unerlaubtes
tun will, hält sich im nächtlichen Park
auf.
Die zweite Arbeit «Filter City» ist
noch intimer. Hier sind wir Zeugen von
Gesprächen zweier junger Frauen. Dabei ist spannend, wie sich die beiden in
ihren Gesprächen einbringen, wie sie
Rollen übernehmen und wie auch hier
ihre Umgebung - ein Spielplatz zum
Beispiel - einbezogen ist. Die Videoarbeit «Abyss» (im Untergeschoss) zeigt
schiesslich ein Kaleidoskop von Eindrücken: stets Stimmen, graue Leinwand, und wieder junge Menschen,
jedoch aus ihrer Umgebung losgelöst,
im luftleeren Raum schwebend.
Ein wenig Ausdauer ist von Nöten;
die Ausstellung ist sperrig; sobald man
jedoch den Zu- und Eingang gefunden
hat, werden sie spannend, gehen tief
und lassen keinesfalls kalt. Bern ist
ja nicht wirklich ein guter Boden für
Gegenwartskunst - die eher dürftig
spriesst - und gerade die Kunsthalle ist
arg bedrängt vom Progr einerseits und
wenn denn das Gegenwartskunst-Projekt am Kunstmuseum ausgereift ist,
wird die Lage noch einmal schwieriger. Oder aber: die Institutionen nehmen diese neue Landschaft als Chance
und gehen auch in Sachen Kooperation
neue Wege.
sigkeit der Bildstrukturen durchbricht.
Schwingungen, Spiralbewegungen und
Spiegelungen geben den Bildern Tiefenwirkung und fordern das Auge des
Betrachters.
Was auffällt ist die Affinität des
Holzschneiders zu Wasser oder zu
wasserähnlichen Formen. Das häufig
auftauchende Blaugrau, die sanften
Wellenlinien und eiskristallähnlichen
Formen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Holzschnitt-Kalender
2006. Die Farbtöne sind grundsätzlich
unserer Umwelt entlehnt: grün, braun,
blau-meist mit grau vermischt-erinnern an Bergseen, Moosflechten und
Gestein oder Geröll.
Der 1942 geborene Kunstschaffende arbeitet in drei Ateliers in Bern,
Huémoz und Schmitten. Nach einer
Lehre als Typograph genoss der Thuner Ausbildungen an den Schulen für
Gestaltung in Bern, Vevey und Genf.
Nebst diversen Stipendien unternahm
Thönen Studienreisen nach Marokkko,
Ägypten, Perus, Indonesien und Indien. Heute erteilt er neben seiner künstlerischen Tätigkeit Holzschnittkurze
im M-Arthaus, an der Hochschule
der Künste in Bern und der Thuner
Malschule. Nebst dem periodisch erscheinenden Holzschnittkalender gibt
Martin Thönen auch bibliophile Holzschnitt-Editionen heraus und präsidiert
die Xylon Schweiz.
Knut Åsdam:
The Care of the Self
Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz 1. Geöffnet Mittwoch
bis Sonntag 10.00-17.00 Uhr,
Dienstag 10.00-19.00 Uhr.
Bis 4. Dezember 2005.
Zarte Farben, bewegte Strukturen
■ Ende November erscheint der 41. Original-Holzschnitt-Kalender des Berner
Holzschneiders Martin Thönen. Alljährlich gibt der in Thun geborene Künstvon Eva Pfirter
ler zusammen mit seiner Frau im Eigenverlag einen Kalender heraus, der
sich durch zarte Farbtöne, feine Linien
und verspielte Strukturen auszeichnet.
Die Blätter, die Holzschnitt-Liebhaber
ein Jahr lang begleiten, befinden sich
allesamt im Spannungsfeld zwischen
«Chaos und Ordnung». Die 13 hand
signierten unaufdringlichen Farbholzschnitte tragen verträumte Namen,
die vor allem auf die Bildstruktur
aufmerksam machen: «Marmoriert»,
«Kalligraphisch», «Verflüssigt». Ideen
für die Struktur der Holzschnitte bietet die Natur; Muscheln, Pflanzen und
Eisblumen stehen Pate für Thönens
Bildwelt. Hinzu kommt das Element
der Bewegung, welche die Gleichmäs-
Der Original-Holzschnitt-Kalender 2006 erscheint in einer
Auflage von 340 Exemplaren
im Format 36 auf 50 Zentimeter. Die Ausstellung von
Martin Thönen «Chaos und
Ordnung» in der Galerie «Art
+ Vision» beginnt mit einer
Vernissage am Samstag, 26.
November und dauert bis zum
7. Januar 2006.
artensuite
34
GALERIEN IN BERN
annex14 - Galerie für zeitgenössische Kunst
Junkerngasse 14 3011 Bern // Tel 031 311 97 04
Mi - Fr 13:00-18:30 / Sa 11:00-16:00
Andreas Naun
05.11.05 - 17.12.05
Art + Vision
Junkerngasse 34 3011 Bern // Tel 031 311 31 91
Di - Fr 14:00-19:00 / Do 14:00-21:00 / Sa 11:00-16:00
Martin Thönen
Holzschnitte, bibliophile Edition
26.11.05 - 07.01.06
Bärtschihus Gümligen
Dorfstrasse 14 3073 Gümligen
Sa 19.11.05 /10:00-20:00 & So.11.05 / 10:00-17:00
Kunst auf den Würfel gebracht
Vernissage 18. November // 19:00
Es spricht Jacqueline Keller, Kulturmanagerin
18.11.05 - 20.11.05
Bendicht Friedli
01.11.05 - 26.11.05
Kornhausforum Forum für Medien und Gestaltung
Kornhausplatz 18 3011 Bern // Tel 031 312 91 10
Das Leben bis zuletzt gestalten
03.11.05 - 10.12.05
Design Preis Schweiz
05.11.05 - 08.01.06
Postgasse 20 3009 Bern // 031 311 53 76
Mi - Fr 16:00-17:00 / Sa & So 11:00-17:00
Niemand weiss
Alexandra Kunz malerei, maja Wagner Malerei & Hans
Weiss Fotografie.
Vernissage: Dienstag 15.11.05 / 19:00 Mit Musik:
Niemand weiss
Stauffacher Buchhandlung 3011 Bern
Tel 0844 88 00 40
Ladenöffnungszeiten
Gerechtigkeitsgasse 76 3011 Bern // Tel 031 311 48 49
Mo - Fr 09:00-18:30 / Do 09:00-20:00 / Sa 09:00-16:00
Heidi Reich
03:11.05 - 120.12.05
Galerie Tom Blaess
Kunstraum Oktogon
Uferweg 10 3018 Bern // Tel 079 222 46 61
Retrospektive 1990 - 2005
Vernissage: Sonntag 6. November / 11:00 - 17:00
Do - So 12:00 - 17:00
Finissage: Sonntag 27. November / 11:00 - 17:00
Aarstrasse 96, 3005 Bern
Fr 16:00-19:00 & Sa 11:00-15:00
Landʻs End
Druckgrafik von jaspoer Johns, Barnett Newman, Brice
Marden, Robert Rauschenberg
Vernissage: Freitag 16. November / 18:00 - 20:00
Galerie Beatrice Brunner
Nydeggstalden 26 3011 Bern // Tel. 031 312 40 12
Mi und Fr 14:00-18:00/ Do 14:00-20:00/ Sa 11:00-16:00
Galerie Kornfeld
Laupenstrasse 41 3001 Bern // Tel 031 381 46 73
www.kornfeld.ch
Mo - Fr 14:00-17:00 / Sa 10:00-12:00
Karl Gerstner
Altes und Neues - Zwei und Dreidimensionales - Originales und Multiples
19.10.05 - 12.12.05
KunstQuelle
Galerie Brunngasse 14 3011 Bern // 079 818 32 82
Mi & Fr 14:30-18:00, Do 16:00-20:00 & Sa 13:00-16:00
Walter Fuchs
Die neue Galerie in Bern
ONO Bühne Galerie Bar
Gerechtigkeitsgasse 31 3011 Bern // Tel 031 312 73 10
Fr und Sa 13:00-17:00 - Nachtgalerie: Mi - Sa ab 22:00
Gruppenausstellung «Barbie & Ken»
01.11.05 - 30.11.05
Galerie Ramseyer & Kaelin
PROGR Zentrum für Kulturproduktion
Junkerngasse 1 3011 Bern // Tel 031 311 41 72
Mi - Fr 16:00-19:00 / Sa 13:00-16:00
Speichergasse 4, Bern
«Bestform 05»
MI-SO 14-17
03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone
«How to avoid corner corner love and win good love
from girls»
MI - SO 14-17
03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone
Steinbrüchel (Zürich) / Bloom (Basel)
Leerraum [ ] SOUNDINSTALLATION:
03.11.05 - 27.11.05
Treppenhaus und Ausstellungszone
Galerieneintrag:
Auf den Seiten «Galerien in Bern» werden ab
November 2005 nur noch Galerien publiziert,
welche unsere jährliche Publikationsgebühr bezahlt
haben. Wer sich hier eintragen lassen möchte, melde
sich bei der Redaktion:
Telefon 031 318 6050 oder redaktion@ensuite.ch.
Militärstrasse 60, Bern
Mi-Fr 16-19 & Sa 12-16
Lisa Späni & Martina Späni
21.10.05 - 11.11.05
Stadtgalerie
Hodlerstr. 22 + 24A 3011 Bern // Tel 031 311 43 35
MI-SO 14-17
Touched - Sybilla Walpen
15.10.05 - 20.11.05
Künstlerhaus
Kunstreich
ESPACE Indigo
RAUM
Temporäre Ausstellungsräume
Atelier Postgasse
Postagsse 6 3011 Bern
Di - Sa 14:30 - 17:30
Roland Kocher
Die Kirchen von bern
27.10.05 - 19.11.05
Alterszentrum Viktoria
Schänzlistrasse 63 Bern
Täglich 08:00-17:30
Nicole Sonderer
Oelmalerei
Vernissage: 05.11.05 / 15:00-18:00
Galerie Silvia Steiner Biel
Seevorstadt 57 2502 Biel // Tel 023 46 56
Mo, Do, Fr 14-18h & Sa 14-17h & So 20.Nov 14-17
Alfred Wirz
Gemalte Welt
Vernissage: 19. November 17:00-19:00
19.11.05 - 17.12.05
Kunstforum Solothurn
Schaalgasse 9 4500 Solothurn // Tel. 032 621 38 58
Do & Fr 15:00 - 19:00 / Sa 14:00 - 17:00
Sybille Onnen
Leiber - figürliche Plastik und Zeichnung
10.09.05 - 29.01.06
Westrich
Bahnstrasse 22 3008 Bern
10.11.05, 17–22 Uhr, 11.11.05, 15–22 Uhr,
12.11.05, 10–20 Uhr, 13.11.05, 10–17 Uhr
Angst
Die Gaf 5.6 (Gruppe autodidaktischer FotografInnen
– Bern) lädt ein zu sieben fotografischen Arbeiten zum
Thema ANGST.
artensuite
35
Dominik Imhof
Augenspiel
«Angst» von der GAF 5.6 im Westrich, Bahnstrasse 22, 3008 Bern - Bild: zVg.
Andreas Naun in der Galerie annex14 - Bild: zVg.
■ An dieser Stelle soll von nun an eine Kolumne entstehen, in der Augenspielereien im Zentrum stehen: Natürlich Kunst, und alles was in ihrer Umgebung und im
Zusammenspiel mit ihr entsteht, sich entwickelt, verstaubt und zu Recht auch wieder vergeht und vergessen
wird. Der Titel «Augenspiel» verweist auf Elias Canettis gleichnamiges Buch, worin er seine Wiener Jahre
beschreibt, ein Bild des Lebens im damaligen Wien
malt und schildert, was in Künstler- und Intellektuellenkreisen geschah. In diesem Sinne sollen hier - ganz
bescheiden - «Kunstgeschichten» aufgegriffen werden,
die Bern und Berns Kunstszene (wenn es sie denn gibt)
bewegten und bewegen oder eben gerade nicht.
Fürs Erste der Blick zurück, auf den Berner Kunstsommer: Einiges ist geschehen und neu entstanden.
Nach mehr als einem Jahr blüht der Progr immer noch,
ist zum Magneten geworden, wo Kreativität zuhause
ist. Hoffen wir er bleibt etwas abseitig und wird nicht
in den institutionalisierten Betrieb aufgesogen. Im Monument im Fruchtland konnte bereits vor einiger Zeit
der 100ʻ000 Besucher begrüsst werden, aber wie lange
dauert der Besucherstrom wohl an? Und das Kunstmuseum Bern hat mit «Mahjong» dem ZPK die Stirn geboten, auch hier war das Interesse gross. Die nächsten
Monate wird es an diesem Ort wohl wieder etwas stiller
werden. Die ehemaligen Konkurrenten - die Streitigkeiten des letzten Jahres sind noch nicht ganz vergessen scheinen sich zusammengerauft zu haben, Kooperation
ist angesagt. Gut so!
Und wenn wir gerade beim Kunstmuseum sind, da
war doch was. Natürlich die Kontroverse um «Ruan».
Dieses Ereignis hat einige Fragen aufgeworfen: Was
darf man zeigen und was nicht? Oder: Was darf ein
Künstler produzieren und was nicht? Oder: Was wollen
wir sehen und was nicht? Muss ein Museum oder ein
Ausstellungsmacher Kunstinteressierten gewisse Dinge
vorenthalten, weil sie jemanden verletzen könnten oder
darf er mit der Mündigkeit der Besucher rechnen, die
selbst entscheiden, was sie sehen wollen? (Sicher sollten
die Verantwortlichen vor Ausstellungsbeginn ausreichend über ihre Exponate informiert sein!) Jetzt ist die
Ausstellung beendet, der Fötus nicht wie von gewisser
Seite erwünscht begraben, und die Fragen bleiben aktuell: Nach Hirschhorn und «Ruan» war es im Oktober
Pipilotti Rists Biennale-Beitrag, der für Aufruhr sorgte
(und geschlossen wurde).
36
L E T Z T E
L U S T S E I T E
Hinweis: Die Texte auf der letzten Lustseite sind nicht
ganz jugendfrei. Wir bitten die LeserInnen unter 18 Jahren, diese Texte aufzubewahren und erst bei bei voller
Reife zu lesen.
■ wenn ich an dich denke, dann kommt mir vielleicht
ganz als erstes der geruch des gechlorten wassers in
den sinn. die tiefe blauheit und die lichtreflexe im wasser. ich schwimme unter und über und neben dir, mal
ganz nah, dann wieder weiter entfernt. unsere haut
berührt sich nicht, nie, aber das nebeinander-gleiten
ist wie eine vorwegnahme späterer berührungen. wie
ein geträumtes zusammensein, ein schwereloses, sorgenloses. am rand des beckens dann sehen wir uns
zum ersten mal richtig an. sehen unsere körper mit den
wassertröpfchen als versprechen, dass wir zusammen
nackt sein werden und dass die glitzernde feuchtigkeit
eine andere sein wird. dass wir uns ausziehen werden,
dass wir inmitten von anderem licht in einem bett liegen werden. unser summen und das leise lächeln mit
geschlossenen augen wird unsere neue begleitmelodie.
wir erzählen und fragen, sehen uns an, entdecken uns
vorsichtig, geniessen die sonnenstunde, wie wenn sie
ein nicht endender tag wäre. wochen später liegen wir
nackt auf einem bett, scheu und doch hemmungslos. beschnuppern uns, trinken einander und lecken die salzige,
warme sommerhaut. unsere feuchten körper bewegen
sich wieder wie im wasser, unter, über und nebeneinander. und danach dann schwimmen wir im fluss und du
versprichst, mich zu retten, falls ich ertrinken möchte.
wir lassen uns treiben und berühren uns manchmal.
und plötzlich ist rund um uns herum herbst. klare, blaue
himmel, morgennebel und auch kälte; schon jetzt, überraschend. und dein körper glitzert nicht mehr. die lust
kommt mit in den herbst, verlässt das unbeschwerte,
leichte und sommerliche. ich sehe dich, wirklich dich,
im harten tageslicht. kein weichzeichner, keine abendsonne. es ist zeit, genau hinzuschauen und präzise zu
werden. kein um-dich-herum-tauchen und spielen mehr,
kein lautes lachen und summen, eher ein feines lächeln
in den mundwinkeln und eine beginnende melancholie.
dich verlieren, ohne dich je zu besitzen? die lust wird
fordernd, will dich noch vor dem winter in besitz nehmen. deinen körper, ganz, jetzt, schnell, ohne vorspiel,
ohne erkunden, ohne rücksichtnahme. ich will dich in
mir, will dein gewicht auf mir. sofort und ohne vorher.
und ich will, dass du dir nimmst, was dir eh gehört, und
ich will mir auch nehmen, was meines ist. und das bist
du, du als ganzes. ich imprägniere dich mit mir und du
mich mit dir. du gehörst mir und ich will dich besitzen.
jeden zentimeter von dir und jedes härchen, jeden speicheltropfen, jede pore, jeden atemzug und gedanken,
jeden blick aus deinen augen und jedes wort. das alles
gehört mir jetzt und für immer – ich gebe nichts mehr
her und teile auch nicht. kein kuschelfest ist das, es ist
rohe und unverfälschte gier. du presst mich mit deinem
körper einen kurzen, gefährlich geheimen augenblick
an eine wand: deine herbsthände auf meiner nackten
brust, dein geschlecht an meines gedrückt, kein raum
auszuweichen, wildes tasten und küssen. in einem park,
im wald, oder auf einer toilette: überall, wo wir ein paar
minuten zusammen sein können, nehmen wir uns soviel
wie möglich. deine hand ist dauergast auf und in mir,
unsere körper sind wund vor sehnsucht, unsere nerven
liegen bloss und warten auf segnendes streicheln. wir
schreien, wir schwitzen, wir atmen schnell und laut. die
lust taucht in sekundenschnelle auf und kühlt sich nie
ganz ab. angst. einsamkeit. ein tiefes misstrauen und
ebensolche geilheit. in verzweifelter umarmung warten
wir auf den winter. (vonfrau)
impressum
ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich als Gratis- und Abonnentzeitung. Auflage: 10‘000 / davon 1‘300 Aboversand Adresse: ensuite – kulturmagazin; Sandrainstrasse 3; 3007 Bern; Telefon
031 318 6050; mail: redaktion@ensuite.ch Herausgeber: Verein WE
ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Stephan Fuchs (sf) //
Helen Lagger, Isabelle Lüthy (il), Till Hillbrecht (th), Dominik Imhof (di),
Andy Limacher (al), Marta Nawrocka (mn), Eva Mollet, Eva Pfirter, Nicolas Richard (nr), Sarah Stähli (ss), Sara Trauffer, Simone Wahli (sw),
Sarah Elena Schwerzmann (ses); Kathrina von Wartburg (kvw), Sonja
Wenger (sjw), Vonfrau (Redaktion) Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Telefon 031 312 64 76 Agenda: bewegungsmelder, Bern, allevents, Biel;
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