art - Ensuite
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afrique noire 05 les poupées russes 25 jahre frauenhaus bern queersichtfestival bern rocks? Es ist Zeit. Mit diesem Satz versucht man heutzutage in Bern 8.7 Millionen «Aufstockung der städtischen Kulturförderung». ensuite - kulturmagazin gehört anscheinend nicht zur fördernswürdigen Berner Kultur und wurde davon ausgeschlossen. Spätestens jetzt ist es höchste Zeit ein Abonnement zu lösen und jetzt ist es erst recht Zeit, «dass sich die Stadt Bern klar zu ihrer Kultur bekennt und die nötigen Mittel bereitstellt.» Wir brauchen dringend die finanzielle Unterstützung von den Menschen aus Bern - wenn wir nicht bis Ende Jahr 30‘000 Franken zusammentrommeln können, müssen wir den Betrieb einstellen und die Schulden abarbeiten. Braucht Bern ein ensuite - kulturmagazin? Wenn ja, so helft mit - wir sind nicht selbstverständlich. Jetzt. TELEFON 031 318 6050 ABO@ENSUITE.CH WWW.ENSUITE.CH a h KULTUR&GESELLSCHAFT mit der fingerspitze gegen die faust 6 anklang#1 - stegreifkunst der frau 8 queersicht auf leckere östlichkeit 8 n LITERATUR Vor allem... ■ ensuite - kulturmagazin hat nach 35 Nummern zum ersten Mal 72 Seiten erhalten - ein halbes Kulturbuch - und wir haben schon wieder Seitennotstand. Die Inhaltsmenge steht im krassen Gegensatz zu unserem finanziellen Dilemma, doch sollte uns das Geld nicht an der Vision hindern und die kulturelle Vielfalt von Bern macht uns mächtig Dampf. Mit Verlaub: Wenn ein Stadttheater und andere Institutionen 50‘000 Franken-Beiträge an die Konkurrenz bezahlen können, so sollten wir ebenfalls mit gleichen Rudern im Boot sitzen dürfen. Sollten. Aber es scheint, dass die Politik über den Verstand siegen will. Jetzt erst recht. Ebenfalls scheint es in Bern Mode zu sein, dass Kultur erst ab 100‘000er Summen stattfinden kann. Die Forderungen der Kulturinstitutionen übersteigen sich in den letzten Monaten und hinterlassen den Eindruck, dass man mit wenig Geld keine Kultur oder gar, dass Kultur überhaupt nur aus Geld bestehen kann. Das ist übel. Es ist ein gutes Zeichen, dass mehr und mehr VeranstalterInnen Farbe bekennen und sich aktiv an unserer unabhängigen und günstigen Medieninstitution beteiligen. Wir haben interessante Zuwachsraten zu verzeichnen und die Gespräche laufen in ganz neue Richtungen. Aber den Höhepunkt vom Oktober haben wir noch nicht geschluckt: Das Schauspiel des Stadttheaters soll aus der Stadt in die urbane Einsamkeit - obwohl der Sinn dieser Übung noch nicht einstimmig ist. Im VIDMARAreal in Köniz gibt‘s kein Bern-Billett und auch kein Restaurant, welches 300 Personen zum Schlummertrunk halten könnte. Und von wegen urban: Das Industriehaus der Lista AG konnte nur schlecht ausgemietet werden. Auf jeden Fall kann die Abendgardarobe in Zukunft im Schrank hängen bleiben. Auf dem Velo ins Theater - notabene den Berg hoch! - wird wohl nicht zum neuen Berner Volkssport mutieren. Eine solche Provinzbühne wird uns auch kein nationales Interesse einbringen und damit eine verbesserte Finanzierung ermöglichen - im Gegenteil. Und über die zusätzlichen Transportkosten hat noch niemand ein Wort verloren. Wir sehen auch nicht darüber hinweg, dass das Ensemble die Nachrichten aus der Zeitung vernehmen musste und man eilligst für den nächsten Tag eine eine Pressekonferenz arrangierte. Warum? Warum ist Bern nicht fähig, andere Lösungen zu finden. Lösungen die uns längerfristig dem Theater näher bringen und das Publikum gewinnend engagieren lässt. Die Ideen wäre da, die Menschen, welche sie umsetzen könnten auch. Doch die Macht bleibt unangetastet. Das kennen wir schon, es ist eine alte Geschichte und diese ist unwürdig asozial. Lukas Vogelsang kirsten fuchs, harold pinter, walter wittmann 9 nur liebhaber können das unmögliche möglich machen 10 letzte lustseite 32 BÜHNE i Titelseite und rechts: Les Poupées Russes - Kinofilm von Cédric Klapisch mit Romain Duris, Audrey Tautou, Cécile de France, Kelly Reilly (Seite 23) l t 3 die magie der puppen 11 lebendiges eisen - ein fenster nach russland 26 VERANSTALTER afrique noire 11 MUSIK bern rocks? 14 antifolk 19 aus den taschen gekramt - le cose che ami 20 cd - tipps 17 KINO/FILM don juan im trainerjäckchen 23 corpse bride 22 a history of violence 22 les poupées russes - wiedersehen in st. petersburg 23 das andere kino 24 artensuite ich weide meine pilze aus... 30 wie es ist. 31 farben wie an einem wintermorgen 32 willkommen in zombietown - knut åsdam 33 zarte farben, bewegte strukturen 33 galerien in bern 34 augenspiel 35 DIVERSES kulturnotizen 4 stadtläufer 26 menschen & medien/ fauser cartoon 27 menschen: ...oder warum franz obrist neben einem dachs läuft 28 tratschundlaber 23 A G E N D A 38 kulturagenda bern 37 museen bern/biel/thun 65 kulturagenda biel 67 kulturagenda thun 70 4 K U L T U R N O T I Z E N ZOOM IM MÜNSIGEN ■ Am 4. bis zum 6. November findet zum zweiten Mal ein Festival für improvisierte Musik statt. Nationale und Internationale Musikgrössen versuchen sich in der improvisierten Musik. Das ist nicht nur chaotisches Geklinge, sondern hat durchaus wichtige Entdeckungen zu bieten. So meint die Sängerin Saadet Türköz (Stimme): «Wenn ich improvisiere, habe ich das Gefühl, ich selbst und gleichzeitig eine andere Person zu sein.» Und mit der heutigen Technik und Improvisationsvielfalt wird Musik in einem anderen Kontext, einem anderen Spannungsfeld, zum Experiment für alle Beteiligten. Grenzerfahrungen für die ZuhörerInnen, wie auch Wohlklang, werden zum laufenden Prozess - oder auch nicht. Wir treffen am Festival auch auf Balts Nill, der nach dem Stillen Has seine anderen Klänge vermitteln wird: «Alles was chepft und tätscht hat mich schon immer gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt.» Und so geht es über drei Tage in Spannung und Entdeckung, Neugierde und Flucht. «Zoom» eben. (vl) Bild: zVg. PHOENIX AUS DER ASCHE Programmübersicht Freitag 4. November 2005 20.30 SAADET TÜRKÖZ (Stimme) 21.30 BUCHER/GLAUSER Christian Bucher (Schlagzeug), Andreas Glauser (Elektronik) 22.30 BALTS NILL (Perkussion, Diverses) Samstag 5. November 2005 20.30 ACTIVITY CENTER Burkhard Beins (Perkussion, Saiten), Michael Renkel (Gitarre, Perkussion) 22.00 HANS KOCH (Bassklarinette, Sopransaxophon) KOCH/KOBI Hans Koch (Bassklarinette, Sopransaxophon), Christian Kobi, (Sopransaxophon) Sonntag 6. November 2005 20.30 TRIO LEIMGRUBER/DEMIERRE/PHILLIPS Urs Leimgruber (Saxophone), Jacques Demierre (Klavier), Barre Phillips (Kontrabass) In Zusammenarbeit mit der Gemeinde und der Volksschule organisiert »zoom in« Münsingen zwei weitere Konzerte: BALTS NILL/SOLO (Perkussion, Diverses): Donnerstag 3. November 2005 11.00 in der Aula Rebacker Münsingen 13.30 in der Aula Schlossmatte Münsingen Diese zwei Konzerte sind gratis Reservationen unter info@zoominfestival.ch ■ Ab dem 3. November gastiert das Ensemble Phoenix aus Basel im Zentrum Paul Klee. Die Gruppe, welche 1998 von Jürg Henneberger, Christoph Bösch und Daniel Buess gegründet wurde und sich seither gezielt für zeitgenössische Musik einsetzt, ist bekannt für seine experimentell-gattungsübergreifende Projekte. Das teilweise bis zu 25 Musikern erweiterte Gespann kann auf eine weltweite Konzerttätigkeit zurückblicken und erhielt 2003 gar den europäischen «Ensemble-Preis Thies Knauf für Neue Musik». In jüngster Zeit suchten die Musiker auch vermehrt die Zusammenarbeit mit jungen, noch wenig bekannten Komponistinnen und Komponisten unserer Zeit auf regionaler und internationaler Ebene. Der Gastauftritt im Zentrum Paul Klee ist der erste in Bern. Im ersten Programm vom 3.11. werden mit Beat Furrer, Jim Grimm, Georg Friedrich Haas und Jakob Ullmann auch zwei Schweizer sowie zwei in der Schweiz lebenden Komponisten aus drei Generationen und mit verschiedenen ästhetischen Stilrichtungen vorgestellt. Traditionell spielt das Ensemble auch einmal in seiner Gründerbesetzung. Sicher, gegenüber zeitgenössisch-experimenteller Musik darf man auch skeptisch sein; auf jene Musik aber, die von der NZZ als physische Erfahrung an der Grenze des Verkraftbaren bezeichnet wird, sollte im mindesten eingegangen werden; seichte und wenig fordernde Klänge hört man ja bisweilen genug. IN EIGENER SACHE DIE ZWEITE SACHE ■ Wir möchten uns ganz herzlich (für eine Weile) von unserem Mitschreiber Klaus Bonanomi verabschieden und bedanken uns für den unermüdlichen Einsatz der letzten drei Jahren. Er war der erste kontinuierliche Schreiber in diesem Kulturmagazin. Seine Medienspiegelseite «Von Menschen und Medien» werden wir respektvoll weiterführen - und hoffen, dass seine Wege wieder einmal bei uns kreuzen... Viel Glück mit dem Nachwuchs! ■ ensuite - kulturmagazin hat Platzprobleme: Wir haben diese Nummer um 8 Seiten erweitert - doch schon 5 Minuten nach dieser Entscheidung waren die Seiten bereits ausgebucht. Geschriebene Artikel mussten zum ersten Mal in unserer Geschichte abgelehnt oder auf die nächste Nummer verschoben werden. Noch mehr Seiten ist ein finanzielles Risiko, welches wir langsam angehen wollen. Wir entschuldigen uns für den Erfolg und verweisen für versprochenes auf die Dezember Ausgabe... Programm: 3.11. 13.12. Schweizer Komponisten, 19:30 Trio Bösch (Flöte), Buess (Schlagzeug), Henne berger (Klavier/Cembalo), 19:30 7. 3.06 Italiener, 19:30 16.5.06 Programm 4 (Grisey, Sciarrino, Treiber), 19:30 jeweils im Zentrum Paul Klee. K U L T U R N O T I Z E N 5 DAS REZEPT BRASILIEN - BRASIL A GOSTO ■ Ein Fotoband mit dem sinnigen Namen «Brazil a gosto» von Alexandre Schneider und kulinarische Starkocherei von Margarida Nogueira und Teresa Corção, bilden eine weitere jährliche Verführung im Restaurant Dona Flor in Frieswil. Was hier auf den Teller und den Augen geboten werden, ist wie ein Ferienaufenthalt im warmen Süden - wir müssen dabei nur knappe 20 Minuten aus Bern raus. Und das lohnt sich! Noch bis zum 5. November können wir im Schlaraffenland schwelgen. Überzeugend ist nicht nur das Essen, sondern auch die Einfachheit und familiäre Ambiente. Besonders Interessant ist der Kontakt zu den Köchinnen - wir erfahren einiges über eine andere Art zu kochen... und das inspiriert. Der Winter wird auf uns warten müssen... (vl) last minute: vorpremiere! Habana Blues Der Regisseur Benito Zambrano (Solas) ist anwesend. Infos zum Film und Zeiten auf unserer Webseite. 20 x 2 Gratistickets! 30.11. - 20:30 Uhr - Kino Movie Bern Bestellen über www.ensuite.ch oder 031 318 6050! DIFFERENT MOODS IM THEATER NATIONAL ■ Stephan Rigert ist wieder auf Tour. Die Kulturaustauschprojekte haben schon viele Begeisterte ZuschauerInnen miterleben können - und ein Ende ist sicherlich nicht in Sicht. Und das ist gut so. Auch diesmal haben wir eine unglaubliche Vielfalt an multikulturellen Musikern auf der Bühne vereint: Pritha Roy (Indien/ voc), Rupak Kulkarin (Indien/ flute), Kalinath Mishra (Indien/ tabla), Gabriel Rivano (Argentinien/ bandoneon), Leon Duncan (Jamaica/ bass), Luis Ribeiro (Brasilien/ perc.), Daniel Pezzotti (CH/ cello), Sandro Schneebeli (CH/ guitar & comp.) und natürlich Staphan Rigert selber (CH/ perc. & arr.). Hier vereinen sich spannende und interessante Klänge und Rhythmen - vor allem das Cello weckt zusammen mit dem Bandoneon das Interesse. Heiss wird es im Theater National werden - auch hier muss der Winter noch etwas Geduld üben. Schön auch zu wissen, dass Bern in Sachen Perkussion eine wichtige, internationale Drehscheibe ist - und dies nicht nur für Weltenbummler und Schöngeister...(vl) «TÜRKISCHER HONIG ODER FISCHBACHS ERBE» ■ Seit fünfzehn Jahren bringen Antonia Limacher und Peter Freiburghaus als Lilian und Ernst Fischbach politische und gesellschaftliche Themen in Form von Alltagspossen auf die Bühne. Zeit die Lichter zu löschen, die Böden feucht aufzunehmen und in Pension zu gehen? «Mit dem Wohnwagen an einem Ort, wo man die Füsse ins warme Meer strecken kann.» Dazu müsste aber in korrekter Schweizer Manier zuerst die Nachfolge des erfolgreichen Familienunternehmens (mit «Fischbachs Hochzeit» füllten sie landesweit alle Säle, beim Zirkus Knie waren sie mehrmals im Programm) geregelt sein. Joint Ventures mit der nächsten Generation, Nischenprodukte und die Auslagerung der Senioren sollen helfen, den Firmenkarren aus dem Sumpf der «niederen Künste» zu ziehen. Zu der Türkei als Migrationsziel – immerhin, wie die Schweiz, noch immer nicht-EU-Land – könnten sich die «bodeständige» Entlebucher noch durchringen, auch wenn Ernst «im Ausland erst so richtig den Inländer in sich spürt». Auch gilt es für das Paar, das sich einst am Ländlermusigtreffen in Trubschachen kennengelernt hat, vorher noch die Scherben ihrer langen gemeinsamen Vergangenheit zu kitten - denn zu lachen hatte in all den Jahren vorwiegend ihr Publikum. Und weitere Vorlagen für Fischbachs legendäres Gezänk liefert die nicht ganz einfache (den Fischbachs aber durchaus aus dem Gesicht geschnittene) Verwandtschaft , die finanziell ebenfalls zufrieden gestellt sein will. So lässt sich etwa die mit musikalischem Talent und einer eher nihilistisch-abgeklärten Sicht der Dinge ausgezeichnete Schwiegertochter keinen Honig ums Maul schmieren, nicht mal türkischen: «Die Katz tut selten etwas. Meistens tut sie nichts. Sie bringt es aber auch zu nichts. Vor allem Anfang war das Nichts. Aus dem Nichts ist alles geworden. Ist alles für die Katz.» Ernst Fischbachs Motto gemäss, muss man aber ja »nicht immer alles so tragisch nehmen, wie es wirklich ist.» (jlf) Vorstellungen: 22. - 26. November 2005 im National, Bern NIK BIERI AUF DIE BÄUME, IHR AFFEN! Winshluss: Smart Monkey. Cmic ■ Eine dicke Nase, grosse, abstehende Ohren und die Intelligenz der ersten Stunde: Aus diesen Zutaten ist die Hauptfigur in Winshluss‘ Comic gestrickt - ein kleiner Schimpanse, der friedlich auf einem Ast eines urzeitlichen Baumes döst. Doch diese Idylle währt nicht lange. Schliesslich tummelt sich allerlei Getier im Geäst, ständiges Fressen und Gefressenwerden dominiert die Szenerie. Glücklicherweise wurde der «Smart Monkey» evolutionär mit etwas Intelligenz versehen und widersteht dadurch immer wieder den hungrigen Säbelzahntigern, Pterodaktylen und Tyrannosauriern und der Unbill der entfesselten Natur. Dass am Schluss doch die Kraft über die Intelligenz siegt, ist zwar tragisch, aber natürlich: Auch dies eine Spielform der Evolution. Im Epilog - Jahrmillionen später wird in der naturkundlich interessierten Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts Darwins Theorie diskutiert - wird dieser Faden wieder aufgenommen. Ein beflissener Forscher versucht sich für erlittene Schmach zu rächen, in dem er stichfeste Beweise für die Evolutionstheorie findet. Dazu reist er in den Dschungel Afrikas, wo sich der Kreis des «Smart Monkey» überraschend schliesst. Die Evolution findet statt, doch ist sie nicht mit dem Fortschritt zu verwechseln. Dies scheint die Hauptaussage des Autors zu sein, aus dessen Bildergeschichte der Evolutionspessimismus lacht. Die Zeichnung ist schwarzweiss und so fahrig, dynamisch und fliessend, dass sie als natürliche Handschrift des Autors erscheint. Winshluss erzählt die Geschichte vom smarten Affen ohne Worte, dafür mit ausgeprägtem Sinn für Details und Situationskomik. Erst im Epilog wird gesprochen, und zwar französisch: Smart Monkey erschien beim französischen Kleinverlag Cornélius und eine deutsche Übersetzung gibt es (noch?) nicht. Winshluss: Smart Monkey. Comic. Editions Cornélius. Paris 2004. ISBN 2-909990-91-5 6 K U L T U R & G E S E L L S C H A F T TILL HILLBRECHT mit der fingerspitze gegen die faust Das Frauenhaus in Bern feiert 25 Jahre Engagement für die Gesellschaft ■ Ein Übel schafft es, sich derart fest in eine Gesellschaft einzuhocken, dass man es kaum mehr wegbringt. Das Übel setzt sich an, setzt zu, sitzt fest und wird, irgendwann, normal. Einmal alltäglich geworden, mag die Gesellschaft es nicht mehr wahr haben und lässt das Bekämpfen sein. Und so wird das Übel erst richtig gefährlich: Es verschwindet zwar aus den Gedanken, nicht aber aus der Gesellschaft. Suchen und Finden. Ich stehe auf, bedanke mich und gehe zu meinem Fahrrad. Diesem sonnigen Herbstag fehlt nichts, wir haben unser Gespräch kurzerhand auf die Terrasse des Restaurants verlegt, um dem vielleicht letzten wirklich warmen Nachmittag des Jahres das Sommergemüt abzuknöpfen und es für einen bevorstehenden tristen, regnerischen Novembertag zu sparen. Einzig der Grund des Treffens ist in der Wurzel ein Trüber und nun, nach dem Gespräch, haben sich zumindest in meinem Kopf ein paar dunkle Wolken breit gemacht – Gedanken über unsere Gesellschaft und reichlich Zweifel an ihr sind die Ursache. Sie haben mir die geheime Adresse nicht verraten, ich habe auch kein Interesse, sie zu erfahren. Aber Stephanie und Yasmin vom Frauenhaus haben mir von den harten Schicksalen jener Frauen erzählt, welche die Adresse erfahren dürfen, um an diesem Ort Zuflucht zu finden. Beide arbeiten dort – Stephanie Hartung als Leiterin, Yasmin Nüscheler-Gutiérrez als Beraterin. Und wenn diese zwei Frauen zu meinem Erstaunen mit einer gewissen – oder professionellen – Leichtigkeit von Gewalt und Bedrohung erzählen, dann nicht, weil es sie nicht berührt. Sondern weil es ihr Alltag ist, Opfern männlicher Gewalt zu helfen. Dabei dreht es sich nebst physischer oftmals auch um psychische Gewalt: Drohung, Nötigung, Erniedrigung und vor allem geistige Tortur treibt Frauen in einen Teufelskreis, aus dem der Weg hinaus, sprich hinein ins Frauenhaus kaum machbar scheint: Wenn du gehst, bring ich dich um / wirst du dein Kind nie wieder sehen / mache ich dein Leben zur Hölle / glaub ja nicht, ich werde dich nicht finden… Stephanie und Yasmin zählen auf. So wagen viele Frauen und Kinder den Schritt ins Frauenhaus gar nicht erst zu unternehmen. Dort versucht das Beraterinnenteam die Opfer aus der Gewaltspirale zu ziehen. Die meist traurige und schwierige Vorgeschichte macht diese Aufgabe jedoch zu einem sehr komplexen, subtilen Unterfangen, das viel Fingerspitzengefühl verlangt. Denn viele Frauen stehen in einer so enormen Abhängigkeit, dass ein rund ein Drittel bald wieder zu ihrem Peiniger zurückkehrt, bald wieder Leid erfährt und zuweilen auch bald wieder am Frauenhaus anklopft. Trotzdem – Stephanie sieht ihr Tun nicht als Sisyphosarbeit. Wer den Weg ins Frauenhaus schafft, hat bereits einen wichtigen Schritt gemacht. Theorie und Praxis. Ich sitze an unserem Tisch, nippe an meinem Glas Wasser. Es ist mir nicht ganz wohl in meiner Haut. Stephanie und Yasmin erzählen mir ganz offen über ihre Arbeit im Frauenhaus, obwohl sich mit der unbekannten Adresse doch eigentlich die schützende Hand der Anonymität über die Institution legt. Ich frage mich, was wohl die Kellnerin oder der Mann am Tisch neben mir denken, ich weiss sie hören die Schilderungen mit einem Ohr mit. Ob sie wohl auch so wenig über ein Problem wissen, von dem mehr Menschen betroffen sind, als die meisten denken? Dieser Punkt stellt eine komplexe Aufgabe an die Leitung des Frauenhauses: Den mühseligen Gang zwischen Geheimhaltung und Öffentlichkeitsarbeit zu meistern. Die Gesellschaft bestmöglich über eine Institution zu informieren, von der niemand wissen darf, wo sie ist. Den Frauen Angst nehmen, ihnen näher bringen, was sie nicht sehen dürfen. Enttabuisieren, Schweigen brechen. Unterstützen. Das Frauenhaus Bern ist eine anerkannte Opferhilfestelle und finanziert sich über Kantonsbeiträge, Landeskirchen, Kostgeldeinnahmen und Spenden. Der Auftrag der Häuser indes ist mit drei Schüsselbegriffen klar definiert: Schutz, Beratung und Unterkunft für Frauen und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Diese Aufgabe beginnt damit, Hilfesuchenden einen ersten Moment der Sicherheit und Ruhe zu schenken, dann Grundlage des Falles zu analysieren und schlussendlich mit weiterführenden Fachstellen zu vernetzen: ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, Polizei. Das Frauenhaus sieht sich als stationäre Einrichtung für gewaltbetroffene Frauen und Kinder, als Beratungs- nicht aber Therapiestelle. Doch so klar dieser Auftrag auf dem Papier steht, so schwierig ist er in der Praxis umzusetzen und ihn auch einzuhalten. Die prekären Vorgeschichten der Betroffenen loten die Grenzen des Beratungsauftrages oftmals aus. Hinzu kommen Faktoren, die ein standardisiertes Abwickeln der Fälle vorneweg ausschliessen: Kultur- und Sprachbarrieren, religiöse Hintergründe, kontinuierliche Gewaltandrohung, zunehmende Elterngewalt gegenüber jungen Frauen. So kann ein Aufenthalt bis zu sechs Monaten dauern und endet in einzelnen Fällen sogar mit Namen- und Ortswechsel. Im Worst Case liegen Perücken bereit. Nicht gerade mit Perücke und Schminke, aber mit einer handvoll anderer Animationen ist der einzige Mann im Hause engagiert. Seine Tätigkeit nennt sich «Kinderanimator», das junge Klientel kennt ihn allerdings unter dem Namen «Kindermann». Im Gefüge des Frauenhauses ist dem Kindermann diejenige Rolle zugeteilt, welche die untergebrachten Kinder vielleicht nur vom Hörensagen kennen: Die Person des Guten Mannes. Diese unternimmt mit den Kids kleine Ausflüge, geht in den Tierpark oder auf die Schlittschuhbahn. Es klingt simpel, aber die Wichtigkeit dieser Figur ist für ein Kind nicht zu unterschätzen. Der Kindermann soll ihm den Eindruck schenken, dass ein Mann auch nett, lieb und vertrauenswürdig sein kann. Kann. Die Kunst des Loslassens. Gegen das Klischee, häusliche Gewalt sei vorwiegend ein Migrantinnenproblem, wehrt sich Yasmin vehement. Die betroffenen Frauen kommen aus allen Schichten, durchschnittlich sind sie 32 Jahre alt. Doch die verschiedenen kulturellen Fundamente verlangen auch ein differenziertes Umgehen mit den Frauen und Kindern. Die Beraterinnen bewegen sich während dem Kontakt mit Hilfesuchenden auf dem schmalen Grat zwischen Einfühlung und Abgrenzung. Yasmin will keine Wand zwischen der Frau und ihrer Person bilden, im Gegenteil: Betroffenheit soll entstehen. Dennoch darf die Option, Abschalten zu können, nicht verloren gehen. Man reflektiert im Team Erlebnisse, tauscht aus, was sonst aufgrund der Schweigepflicht niemand hören darf. Psychohygiene nennen sich diese Massnahmen: Die innere Balance finden, den Kopf frei halten. Abschalten. Trotzdem – die Erlebnisse begleiten Yasmin oftmals über die Schwelle des Frauenhauses hinaus. Wir wollen auch mal. Der Beginn des Gespräches ist kein Einfacher bei so einem ernsten Thema. Stephanie hat kurzerhand Yasmin mitgenommen, sie kennt den Frauenhausalltag als Beraterin aus erster Hand. Reden wir erst über das 25. Jubiläum, denke ich, ein dankbarer Einstieg in ein ernstes Thema. Locker anfangen. Ich halte den farbigen Flyer des Geburtstag-Events im Progr in 7 der Hand. Er zeigt eine junge Frau hinter bunten Strichen. Sie aber, die Frau, ist schwarz gekleidet, ihre Augen verstecken sich hinter einer dunklen Sonnenbrille. Die Grafik legt die Karten der Kritiker auf den Tisch: Eine ernste Sache will ein fröhliches Fest feiern. Ein Widerspruch? Eigentlich schon. Eigentlich aber auch überhaupt nicht. Das Frauenhaus, 1980 als Projekt der neuen Frauenbewegung entstanden, hat Grund genug sich selbst feiern zu dürfen: Wer sich ein Vierteljahrhundert gegen Gewalt eingesetzt hat und dies auch nur aus dem Versteckten, darf den Schritt in die Öffentlichkeit tun. «Wir wollen ganz einfach auch mal feiern», meinen Yasmin und Stephanie. Und das locker, ohne Drohfinger. Es soll kein schwerer Anlass werden, man will niemanden belehren. Die Menschen sollen die Institution kennenlernen, aber auch einfach die Freude der Frauenhäuslerinnen teilen, es bereits so lange geschafft zu haben. 25 Jahre Frauenhaus, am 25. November 2005 im Progr. Und als ob die Zahlen 2 und 5 nicht schon Mysterium genug wären, ist an diesem Tag gleich auch noch der internationale Tag der Gewalt gegen Frauen. Ein Zeichen setzen. Oder feiern, dass man in diesen 25 Jahren schon so manches Zeichen gesetzt hat. Nur, dass kaum jemand davon etwas weiss. Ich mache mich auf zum Gespräch mit Stephanie, wir haben in einem Restaurant abgemacht. Als Fachstellenleiterin des Frauenhauses sieht sie einem grossen Anlass entgegen. Das Frauenhaus feiert Geburtstag und ich soll mit ihr darüber sprechen und was schreiben – über diese Einrichtung, aber was genau? Ich weiss nicht recht, recherchiere ein wenig im Internet, aber man findet kaum was. Habe gar nicht gewusst, dass die eine geheime Adresse haben. FR 25.11. 17h Programm: 25 Jahre Berner Frauenhaus Ort: Turnhalle - PROGR_Zentrum für Kulturproduktion, Eingang Innenhof Speichergasse, 3001 Bern Das Frauenhaus, die stationäre Institution für gewaltbetroffene Frauen und Kinder feiert mit einem grossen Fest ihr 25-jähriges Engagement für die Gesellschaft. 17h Apéro, Kunstinstallation «sweet home» von Tina z’Rotz / Tanzeinlagen der Compagnie Afro Rhythme Danse, 18h einen Vortrag von Maja Wicki, 20h Konzert mit Lyn Leon. Anschliessend abtanzen mit DJ Anouk Amok // www.frauenhaus-schweiz.ch / www.lynleon.com 8 G E S E L L S C H A F T ANKLANG#1 – STEGREIFKUNST DER FRAU ■ Wer ist IDA? Neben all dem Knatsch um die Reitschule, dieser Austobewiese lokaler Politaktiven zwecks Ausschmückung ihres Palmarés, dringt nur noch wenig Produktives aus dem Gemäuer der Kulturstätte. Konzerte, klar. Der Dachstock dabei meist voll, der Vorplatz genau so. Dennoch schafft es die Reitschule öfter in den Politteil als in die Kultursparte der Medien – wie auch immer. Ganz hinten in der Reitschule, am Ende des gepflasterten Innenhofes, da findet man eine Tür. Vom Raum dahinter könnte man glauben, er trotze im Stillen ein wenig diesem Seilziehen um das Gebäude. Er bleibt oft unentdeckt ausserhalb des Laternenlichtkegels liegen, und manch ein Ortskundiger kennt ihn nur vom Hörensagen. Vielleicht gerade deshalb ist es einer der schönsten Räumlichkeiten der Reitschule: Der Frauenraum. Darin waltet IDA. IDA ist ein Veranstaltungskollektiv von Frauen und organisiert kulturelle und gesellschaftspolitische Veranstaltungen, 70 an der Zahl pro Jahr. IDA sieht sich zwar als Plattform für Frauen, das Angebot richtet sich jedoch an alle Geschlechter, unabhängig von Glauben, Gesinnung oder auch sexueller Orientierung. Nun präsentiert IDA mit anKlang#1 ihren neusten Wurf. anKlang#1 ist der Schweizweit erste Zyklus improvisierter Musik, die von Musikerinnen und Tonkünstlerinnen produziert, gestaltet und präsentiert wird. Zeitgenössisches Schaffen im Bereich der Audiokunst, konstruiert von Frauen aus dem In- und benachbarten Ausland. Dabei kommen die Künstlerinnen aus ganz unterschiedlichen musikalischen Ecken. Regula Gerber aus Bern etwa, wanderte mit ihrem Kontrabass im Gepäck aus der Klassik in Richtung Freejazz und macht für ihr Spiel auch mal in Höhlen, Kirchen oder Fabriken halt. Oder Elisabeth WandelerDeck: Ihre Texte bilden die Grundlage für die Musik der «bunten Hörschlaufen» . Dabei geschehen Texterarbeitung und Improvisationskomposition unabhängig von einander und werden in der Aufführung zusammengeführt. Anklang dürfte auch der Improvisations-Workshop am Freitag- und Samstagnachmittag finden. Unter der Leitung von Katharina Weber ( Hochschule der Künste Bern ) widmen sich die Teilnehmerinnen der Improvisation und werden im Vorprogramm des Samstagabends gleich selbst Teil des Festivals. (th) anKlang#1 findet vom 17. bis 20 November statt. Im Frauenraum, Programmverweis: For women and men. Bild: zVg. TILL HILLBRECHT queersicht auf leckere östlichkeit ■ Wenn im November jemand die Rosa Brille aufgesetzt bekommt, dann nicht als Geschenk von Amor an Frischverliebte. In diesem Fall nämlich handelt es sich vielmehr um den Filmpreis «Rosa Brille» für den besten Kurzfilm am schwul-/lesbischen Filmfestival QUEERSICHT. Queersicht, Sicht auf nichtalltägliches oder nichtalltägliche Sicht. Die Sicht ist das Format der Leinwand eines queeren Festivals. Sicht auf Queeres aus dem In- und Ausland, auf Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilme. Unterhaltend, vergnügend. Erschütternd. Das älteste schwul- / lesbische Filmfestival der Schweiz steigt in diesem Jahr bereits zum neunten Mal und hat sich zu einem festen Kulturereignis in Bern gemausert. Für das Festival hat der Trägerverein Queersicht fünf Kinos und Kulturlokale eingespannt. Film und Rahmenprogramm findet im Kino ABC, Kellerkino, Kunstmuseum, der Reithalle und im Gaskessel statt. 40 Produktionen aus verschiedenen Ländern hat das Komitee für die diesjährige Ausgabe zusammengetragen. Was ist das Ziel eines schwul-/lesbischen Filmfestivals? Filmperlen unterschiedlichster Art den Zugang ins Kino zu ermöglichen, die sonst an den Hürden der Intoleranz und der Zensur scheitern. Oder am Finanziellen. Queersicht gräbt tief in unbekannten Filmkisten und bringt uns Low-Budget-Kino, zum Beispiel aus Asien ( Yan Yan Mak: «Butterfly») oder Argentinien: «Un año sin amor» von Anahí Bernerí zeigt auf erschütternde Weise, wie heutzutage mit Aids umgegangen wird. Berneri schildert die Leidensgeschichte eines aidskranken, schwulen Autors, der in seiner Trauer langsam tiefer in die SM-Welt hinein gerät und sich schliesslich in ihr verliert. Im Osten nichts Neues? ist Name und Pogramm des diesjährigen Festivalschwerpunktes. Der Osten im Aufbruch. Vieles mag besser werden, einiges bleibt wie es ist und manches verschlechtert sich. Die aktuelle Situation für Lesben und Schwulen indes ist verworren: So wurde in Polen zum zweiten Mal die Durchführung des Christophers Street Day verboten, während umgekehrt in Ungarn Lesben und Schwule eingetragene Partnerschaften eingehen können. Zeitgenössisches Ostkino unter anderem aus Russland und der Slowakei. ben dem aktuellen Filmschaffen wirft das Queersicht-Festival aber auch eine Retrospektive auf die Zeit vor dem Systemwechsel. «Coming Out» von Heiner Carow etwa gilt als erster bedeutender Schwulenfilm aus der ehemaligen DDR: Ein Zeitzeuge sowohl historischer Ereignisse als auch damaliger homosexuellen Paradigmen. Um diesem schwierigen und grossen Rahmen gerecht zu werden wird unmittelbar vor dem Festival ein viertägiges Pre-Festivalprogramm in Salecina durchgeführt. «Warming-up for exchange» nennt sich das Treffen in den Schweizer Alpen, das darauf zielt, ost- und westeuropäisches Filmschaffen zusammenzubringen. Politisch und kulturell engagierte Personen aus osteuropäischen Ländern finden hier einen Austausch von Erfahrungen, die sie beim Realisieren von Festivals und Filmen unter widrigsten Umständen gemacht haben. Während dem Festival werden die Ergebnisse aus Salecina am «Open Forum» gezeigt und diskutiert. Neues für alle Weg von der Ostthematik und hin zur Wollust führt der Videovortrag von Manuela Kay: Wie drehen wir gute lesbische Pornos? Dabei geht es um sachliche Kriterien wie Authentizität, Schauspielkunst und den Scharfmach-Faktor. Die Berliner Filmmacherin muss es wissen: Sie ist unter vielem anderen Autorin des Werkes «Schöner kommen», das Sexbuch für Lesben. Aber auch eine ganze Reihe anderer Leckerbissen im Rahmenprogramm des Festivals verkürzen dem Cineasten die Filmpausen: Podiumsdiskussionen, die Queersichtlounge im Frauenraum, die Festivalparty am Samstagabend. Ein Wochenende lang wird Kultur geschaffen, die Bern gut tut. Schön unkonventionell, provokativ, erweiternd. Nicht nur wie die meisten Filme, ist auch das Festival an sich eine Low-Budget-Produktion. Aber: nicht billig gemacht. Sondern gewagt, ausgewogen, mit viel Umschwung. Queer eben. L I T E R A T U R Sprachgewaltige Newcomerin Wider die gängige Moral Wohin des Weges? Kirsten Fuchs: Die Titanic und Herr Berg. Roman. Harold Pinter: The Homecoming. Drama. Walter Wittmann: Halbzeit – der Bundesrat auf dem Prüfstand. Die 1977 in Karl-Marx-Stadt geborene Kirsten Fuchs lernte zunächst Tischlerin, bevor sie sich daran machte, ihre Wahlheimat Berlin literarisch zu erobern. Dieser Feldzug lohnte sich insofern als sie 2003 den begehrten Open Mike entgegennehmen durfte und mit ihrem Romanerstling verdientermassen weit über Deutschlands Hauptstadt hinaus bekannt geworden ist. In ihrer ureigenen Sprache lässt sie den Leser Anteil haben an der Begegnung zwischen einer jungen Sozialhilfeempfängerin und deren Sachbearbeiter vom Sozialamt, mit Namen Berg. Dazu ein kleiner Auszug: «Und dann war da mein neuer Sachbearbeiter. Den wollte ich gar nicht anlügen. Den wollte ich mich mir in den Schlüpfer stecken, damit er sich aufwärmen kann.» (S. 13) Zwei Welten prallen diametral aufeinander. Sie weiss sofort: er ist der Mann, der Richtige, weil da sind noch viele andere. Er aber, Vater zweier Kinder, mit zwei Trennungen im Rücken will nicht so recht und kann sich doch nicht entziehen. Physisch können die beiden nicht voneinander lassen. Und doch scheint das Happy-End, welches der Leser unweigerlich erwartet, in immer weitere Ferne zu rücken. Sie verliert sich zusehends in Traumwelten, während er nicht weiss, wohin mit sich selbst. Es wird gefährlich für sie beide, denn schliesslich ist er Herr Berg und sie ist die Titanic. Für zusätzliche Spannung sorgt die Autorin dadurch, dass sie ihren beiden Protagonisten eine eigene Stimme verleiht und diese ihre jeweils individuellen Geschichten, welche sich immer wieder kreuzen, einzeln erzählen lässt. Allen Unkenrufen zum Trotz beweist Kirsten Fuchs einmal mehr, dass die junge deutsche Literatur lebt...und wie sie lebt! Harold Pinter, der in den letzten Jahren vor allem aufgrund seiner kritischen Äusserungen bezüglich Tony Blairs Irakpolitik von sich reden machte, erhielt vor wenigen Tagen den diesjährigen Nobelpreis für Literatur. Ausgezeichnet wurde er insbesondere für seine Dramen wider die bürgerliche Moral der 60er und 70er Jahre, welchen er zu verdanken hat, schon zu Lebzeiten zur Erweiterung der Englischen Sprache beigetragen zu haben. Das Ajektiv «pinteresk» leitet sich von jener Welt ab, die Pinter in seinen Stücken zeichnet. Eine Welt, in welcher wenige, an sich harmlose Worte genügen, um eine Atmosphäre der Bedrohung zu schaffen. The Homecoming beschreibt nun die Rückkehr des erfolgreichen, an einer amerikanischen Universität tätigen Philosophieprofessors Teddy mit seiner Ehefrau Ruth in sein Geburtshaus in London. Hier lebt sein Vater Max gemeinsam mit seinem Bruder Sam und seinen beiden weiteren Söhnen Lenny und Joey. Scheint zunächst allseitig Freude über das Wiedersehen zu herrschen, entwickelt sich die Beziehung zwischen Ruth und den männlichen Mitgliedern der Familie schon bald auf höchst seltsame Weise. Die seit sechs Jahren verheiratete Mutter lässt sich von ihren Schwagern verführen beziehungsweise verführt diese ihrerseits. Dies alles im Beisein ihres Mannes, welcher eine derartige Entwicklung der Ereignisse schon vorausgesehen haben musste, da er seine Angetraute möglichst schnell wieder hatte aus seinem Elternhaus wegbringen wollen. In Anbetracht dessen, was sich nun abspielt, bleibt der gehörnte Ehemann erstaunlich ruhig, er willigt sogar ein, seine Frau für eine Weile in seinem Elternhaus wohnen zu lassen, wenn das ihrem Wunsch entspreche. Ein verstörendes Drama, welches genauer zu verdeutlichen vermag, was unter dem Begriff «pinteresk» zu verstehen ist. Fuchs, Kirsten: Die Titanic und Herr Berg. Roman. Rowohlt Verlag. Berlin 2005. ISBN 3 87134 531 8. S. 286. Pinter, Harold: The Homecoming. Drama. Faber and Faber. London 1965. Neuauflage 1999. ISBN 0-571-160808. S. 138. 9 Walter Wittmann, emiritierter Wirtschaftsprofessor der Universität Freiburg, malt ein nicht eben positives Bild der Schweiz. Nüchtern stellt er fest, dass die Erfolgsgeschichte nicht erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts endet, sondern bereits 1973. Diese Trendwende in den frühen 70er Jahren führt Wittmann auf unterschiedliche Faktoren zurück: einerseits auf die fehlende Erneuerung des Produktionsapparates, andererseits auf den bis 1973 unterbewerteten Franken, was der Schweiz Exportvorteile einbrachte, wichtige Innovationen jedoch verhinderte. Den Zuzug von nicht qualifizierten ausländischen Arbeitskräften führt er als einen weiteren Punkt an. Wittmann stellt klar, dass über die dringend nötigen Reformen, welche das wirtschaftliche Wachstum, die Sicherung der Sozialwerke, den Anstieg der Gesundheitskosten etc. betreffen, inzwischen Konsens herrsche. Darüber hinaus bezeichnet der Autor die Bundesratswahl 2003 als eine besondere, da hier erstmals seit 1959 mit der Zauberformel gebrochen wird, und stellt diese im Pressespiegel dar. Darin wird deutlich, wie gross die Hoffnungen, welche man in diesen nunmehr bürgerlichen Bundesrat gesetzt hatte, zu Beginn der Legislaturperiode waren. Akribisch, wenn auch etwas trocken, untersucht Wittmann im Hauptteil des Buches die Plattformen der SVP und der FDP und deren jeweilige Umsetzung, um mit der ernüchternden Festellung abzuschliessen, dass die Reformen bis anhin auf der Strecke geblieben sind. Der Hauptgrund des bisherigen Scheiterns ist gemäss Wittmann insbesondere auf unsere direkte Demokratie zurückzuführen, welche bisher den Beitritt der Schweiz zur EU verhindert hat. Eine Trendwende erhofft sich der zuweilen etwas polemische Autor für die Legislaturperiode von 2007-2011 von der «Allianz zur Revitalisierung der Schweiz» - worunter er eine Koalition von FDP, CVP und SP versteht - und damit eine Öffnung der Schweiz hin zu Europa und der restlichen Welt. Hoffen wir mit. Wittmann, Walter: Halbzeit – der Bundesrat auf dem Prüfstand. Orell Füssli verlag. Zürich 2005. ISBN 3-28005120-7. 10 L I T E R A T U R SARAH ELENA SCHWERZMANN nur liebhaber können das unmögliche möglich machen ■ Literaturübersetzer stellen sich viele Leute als poetische und romantische Menschen vor. Und es stimmt schon, dass ein literarisches Flair vorhanden sein muss. Doch der Alltag eines Literaturübersetzers ist hauptsächlich von harten Arbeitsbedingungen geprägt: Kaum einhaltbare Deadlines, konstante Stresssituationen und eine schlechte Bezahlung. Ein Job für Liebhaber also, wie zum Beispiel Werner Schmitz. Die Liebe zum Detail Ursprünglich hatte der heute 52Jährige Deutsche Volkswirtschaft studiert. Angefangen hat seine Karriere als Literaturübersetzer mit den Briefen von Hemingway. Seitdem hat er zahlreiche andere Werke von Hemingway sowie John le Carré, Henry Miller und insgesamt fünf Bücher von Philip Roth übersetzt – darunter auch dessen neustes Werk «Verschwörung gegen Amerika». Heute müssen Übersetzungen bekannter Autorinnen und Autoren beinahe zeitgleich mit dem Original erscheinen, wie dies gerade bei Michel Houllebecqs «Die Möglichkeit einer Insel» der Fall ist. Und darunter leidet oftmals die Qualität der Übersetzung. Philip Roth’ Werke machen dabei aber eine Ausnahme: Sie gelten unter einigen Übersetzungswissenschaftlern als unübersetzbar – und werden doch übersetzt. Deshalb hat Werner Schmitz ganze sechs Monate Zeit bekommen. Das Gefälle der Kulturen Doch was genau ist so speziell an diesem Autor? «Die besondere Herausforderung der Roth-Bücher sind die Detail reichen Beschreibungen», weiss Werner Schmitz. «Das erfordert vom Übersetzer zwar viel Geduld, doch das macht diesen Autor auch interessant und seine Bücher lesenswert.» Eine besondere Herausforderung stellen dabei Kulturspezifika dar, das heisst die Dinge, die einer Kultur und Sprache eigen sind. Und diese verstecken sich meist in scheinbar unbedeutenden Details. Beim aktuellen RothRoman waren dies unter anderem die amerikanischen Briefmarken, die über Seiten hinweg beschrieben werden. «Jedes amerikanische Kind kennt diese Briefmarken. Sie sind Bestandteil der amerikanischen Kultur. Jeder weiss, wie sie aussehen. Nur: Weiss das jemand mit einem deutschen Kulturhintergrund? Wahrscheinlich nicht.» Also hat sich Werner Schmitz die Briefmarken auf dem Internet genau angesehen und versucht, sie so Detail getreu wie möglich zu beschreiben. Detaillierter als im Original versteht sich, um dem deutschen Leser zu helfen. «Ein anderes Problem waren die amerikanischen Häuser. Wissen Sie, was ein Zweieinhalb-Familienhaus ist? Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Also musste ich versuchen, Bilder von diesen Häusern aufzutreiben. Da aber in Amerika die Häuser nach ein paar Jahrzehnten abgerissen und neu gebaut werden, hat sich das schwierig gestaltet.» Ein weiterer Kultur spezifischer Aspekt, der sich hier allerdings durch das ganze Buch zieht und sich nicht nur auf eine einzelne Passage beschränkt, wie es bei «Der menschliche Makel» der Fall war, ist die Problematik der Deutschen Sprache der Kriegszeit. Denn die Geschichte lebt im Original dadurch dass sie von einem amerikanischen Jungen, der in Amerika lebt im Amerikanischen erzählt wird. In der Übersetzung allerdings wird die Geschichte von einem amerikanischen Jungen, der in Amerika lebt im Deutschen, und somit in der Sprache des Feindes erzählt. Besonders auffallend ist dabei, dass der kleine Philip nicht nur, für uns «normales» Deutsch spricht, sondern Wörter wie Rasse, Volk und Heimat verwendet. Wörter, die wir mit Deutschem Kulturhintergrund ganz klar nicht mehr benutzen, weil sie von Hitler so überstrapaziert wurden und heute sehr negativ besetzt sind. Hier ist es also ein ganz klarer Verdienst des Übersetzers, dass die Geschichte mit dem Sprachenwechsel nicht an Glaubwürdigkeit verliert. Denn beim Lesen des Romans wird man sich dessen gar nicht bewusst. Erst später, wenn man über das Gelesene nachdenkt, fällt es auf. Traumjob? Alles Kleinigkeiten, mag man denken, doch gerade diese entscheiden, ob eine Übersetzung gut ist oder nicht. Deshalb war es trotz Schmitz’ Vorkenntnissen für ihn unerlässlich, etwa Reden und die Biographie von Charles Lindbergh zu lesen, dem Fliegerpionier und Herausforderer von Roosevelt bei der Präsidentschaftswahl von 1940. Dieser ist in «Verschwörung gegen Amerika» nämlich eine von Roth’ Hauptfiguren. Die Aufgabe des Literaturübersetzers besteht also darin, eine Geschichte in eine andere Mentalität, in eine andere Kultur zu übertragen. Ein sehr komplexer Prozess, der mit vielen Vorgaben und Einschränkungen verbunden ist. Trotzdem wird die Arbeit des Übersetzers von der Öffentlichkeit in den wenigsten Fällen gewür- digt, in Buchbesprechungen werden sie selten erwähnt. Dazu Werner Schmitz: «Vielleicht wäre das auch nicht klug. Man kann darauf hinweisen. Aber oftmals haben Literaturkritiker auch nicht die nötigen Kompetenzen, um das zu beurteilen.» Zur Geschichte - Was wäre wenn? Philip Roth wagt in «Verschwörung gegen Amerika» ein historisches Experiment mit Folgen. Einmal mehr brillant. 1940. Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, der aber gleichzeitig Antisemit und Faschist ist, fordert Franklin D. Roosevelt bei den Präsidentschaftswahlen heraus – und gewinnt unerwartet. Hitler lädt den neuen Präsidenten nach Deutschland ein, wo dieser einen Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland unterzeichnet. Kurz darauf kommt es in Amerika zu ersten antisemitischen Ausschreitungen, die die Juden in Angst und Schrecken versetzen. In der Summit Avenue in Newark hingegen lebt der sieben Jahre alte Philip Roth ein ganz normales Leben. Mittelpunkt ist dabei seine über alles geliebte Briefmarkensammlung, die ihn überall hin begleitet. Erst als er sich mit der Ohnmacht seines Vaters gegenüber der Bedrohung konfrontiert sieht, wird auch dem unbeschwerten Philip klar, dass hier etwas Gewaltiges im Gange ist. Die einst so glückliche Familie zerbricht langsam. «Verschwörung gegen Amerika» beginnt eigentlich mit einer ganz harmlosen Frage: Was wäre gewesen wenn? Der in Amerika geborene Jude Philip Roth spinnt aus einer anfänglich kühnen Idee eine glaubwürdige Geschichte, die, im Nachhinein betrachtet, sehr gut auch wirklich so hätte geschehen können. Dabei erzählt der 72Jährige aus der kindlich-naiven Sicht seines 7-jährigen Alter-Ego, aber mit dem Vokabular und den geistigen Fähigkeiten eines Intellektuellen. Ein Kunstgriff, von dem man sich schnell einlullen lässt. Langsam und schleichend lässt hier einer der besten Erzähler Amerikas den Faschismus wirken und porträtiert gleichzeitig das Bild eines Landes, das dem heutigen Amerika unter George W. Bush gefährlich nahe kommt. Philip Roth: «Verschwörung gegen Amerika». Roman, Hanser Verlag, 431 Seiten, Fr. 44.50. B Ü H N E 11 ISABELLE LÜTHY die magie der puppen ■ Ein üppiges Festmahl ist im Gange. Damen und Herren sind in ihren schönsten Gewändern erschienen. Musik erklingt. Man prostet sich zu, es wird gelacht, gesungen und getanzt. Der Wein fliesst in immer grösseren Mengen. Was mit zärtlichen Umarmungen beginnt, wird alsbald zu einem Knäuel der Wolllust. Einzig „Jedermann“ ist nicht zum Feiern zu Mute. Geplagt von Visionen, sieht er seine Freunde bald im Totenhemd, bald hört er Glockenklingen und eine schauerliche Stimme seinen Namen rufen. – Der Tod tritt auf die Bühne. – Im «Theater vis à vis» sind die letzten Proben des Klassikers „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal zugange. Darsteller: Jedermann (Frank Demenga) und die Puppenbühne Demenga / Wirth. Monika Demenga und Hans Wirth sind während des grössten Teils der Vorstellung für das Publikum sichtbar. Sie halten die Tischfiguren direkt in der Hand, an einem kurzen horizontalen Stab, der im Schulterbereich der Puppe befestigt ist. Dennoch wird ihre Anwesenheit auf der Bühne praktisch nicht wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit des Publikums fokussiert sich auf die Figuren und ihre Bewegungen. Was auf der Bühne so leicht und graziös aussieht, ist das Ergebnis einer langen Vorbereitungszeit. Ein halbes Jahr dauert es, bis ein neues Stück steht, bis Figuren und Kostüme hergestellt, die Stimmen auf Band gesprochen, die Bewegungen einstudiert und die ganze Choreografie mit Licht und Ton abgestimmt ist. Die Stücke stammen oft aus der eigenen Feder. Auch die Figuren kreiert Monika Demenga selbst. Die Kostüme schneidert sie gemeinsam mit Maja Beck. Für die Mechanik der Figuren ist Hans Wirth zuständig. Für jedes Stück werden neue Figuren gestaltet. «Während des Herstellungsprozesses gibt es immer wieder diesen magischen Moment, an dem die Puppen plötzlich ein Eigenleben bekommen und zu Persönlichkeiten werden», erzählt Monika Demenga. Weit über hundert Figuren hat sie bisher geschaffen, die jetzt in Koffern und Kisten schlafen oder die Wände des Ateliers zieren. Die Verbindung von schauspielerischen und bildnerischen Elementen hat Monika Demenga schon immer fasziniert. Nach der Schauspielschule absolvierte sie die Kunstgewerbeschule und nahm Kurse am Institut für Puppenspiel in Bochum. Seit 36 Jahren arbeitet sie nun schon als Puppenspielerin. Ein Beruf, den man nach einem Arbeitstag nicht einfach ablegen könne, sondern der «hundert Prozent Herzblut» erfordere. 1968 gründete sie die Puppenbühne, zu der Hans Wirth 1977 – mehr «aus Zufall und Neugierde» – als fester Partner beitrat. Seit 1992 führen sie zusammen das «Berner Puppentheater» sowie, seit 1999, das «Theater vis à vis». Nach der Aufführung gibts Kaffee. «Auf der Bühne ist es unglaublich heiss», seufzt Monika Demenga und reibt sich die Arme. Das Spiel mit den Puppen ist an- strengend und erfordert höchste geistige und körperliche Konzentration. Anders als beim gewöhnlichen Theater wird hier die ganze physische Präsenz in die Fingerspitzen gelegt. Der Puppenspieler fungiert quasi als Übersetzer. Mit präzisen Handbewegungen überträgt er Gefühle, Stimmungen oder Charaktereigenschaften der Puppen in Bewegungen und macht sie so für die Zuschauer sichtbar. Der Unterschied zwischen Theater und Puppenspiel sei vergleichbar mit dem zwischen einem Sänger und einem Geiger, erläutert Regisseur Jiri Ruzicka. Der Sänger brauche nur seine eigene Stimme, der Geiger jedoch bringe die Geige indirekt durch die Bewegung des Bogens zum Klingen. Eine Frage brennt auf der Zunge: Welche Bedeutung kommt dem Puppentheater in unserer digitalisierten Welt zu? Für Monika Demenga beginnt das Puppentheater dort, wo das Menschentheater an seine Grenzen stösst – im Bereich des Märchenhaften und Magischen. «Das Spiel mit Figuren ist das ideale Medium, um die Magie des Irrealen darzustellen, um Steine und Tiere sprechen zu lassen, um Feen, Zauberer und Hexen zum Leben zu erwecken.» Das Puppenspiel spreche unsere urmenschliche Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen und Übernatürlichen an. Dem fügt Hans Wirth hinzu: «Gerade in der heutigen Zeit, in der alles sehr hektisch und laut zu und her geht und wir von medial vermittelten Inhalten überflutet werden, hat die unmittelbare Art des Figurenheathers eine besondere Anziehung.» Es spreche nicht nur den Intellekt und das Gefühl, sondern auch das ästhetische Empfinden des Zuschauenden an. Dieses Empfinden zu fördern, sei für ihn als Puppenspieler ein sehr wichtiges Anliegen: «Puppenspiel ist auch Seelennahrung», betont Wirth. Es sei immer wieder erstaunlich, was für eine Magie eine Figur entwickle. Vieles geschehe nicht auf der Bühne selbst, sondern in den Köpfen der Zuschauenden. Die Figuren lassen Raum für eigene Phantasien und Projektionen. Wirth erzählt, schon oft seien Kinder nach der Vorstellung zu ihm hinter die Bühne gekommen und wollten wissen, wie er die Puppe zum Weinen gebracht habe: «Kinder nehmen Solches wirklich wahr, obwohl es auf der Bühne nicht stattfindet.» Das seien die magischen Moment, wenn eine Puppe in den Augen des Publikums zu weinen beginne. Für die Zukunft hat die Puppenbühne Demenga / Wirth noch einiges vor. An neuen Ideen und Projekten mangelt es nicht. Man wolle auch weiterhin gutes Theater machen und dem Publikum den Reichtum und die Vielfalt des Figurentheaters näher bringen. Es sei leider immer noch oft so, dass das Puppentheater aus Unwissenheit belächelt und als Kinderkram abgetan werde. Wer allerdings selbst einmal eine Aufführung gesehen hat, ist begeistert. Programm Jedermann (Puppenbühne Demenga/Wirth) Fr 4. Nov. 20.15 Uhr Sa 5. Nov. 20.15 Uhr Fr 11. Nov. 20.15 Uhr So 13. Nov. 17.00 Uhr Fr 18. Nov. 20.15 Uhr So 20. Nov. 17.00 Uhr Fr 25. Nov. 20.15 Uhr 1 + 1 = Kofsalat (Figurentheater Lupine) Mi 2. Nov. 14.30 Uhr Sa 5. Nov. 14.30 Uhr So 6. Nov. 10.30 Uhr Zwerg Nase (Puppenbühne Demenga/Wirth) Mi 9. Nov. 14.30 Uhr Sa 12. Nov. 14.30 Uhr So 13. Nov. 10.30 Uhr Mi 16. Nov. 14.30 Uhr Sa 19. Nov. 14.30 Uhr So 20. Nov. 10.30 Uhr Mi 23. Nov. 14.30 Uhr Sa 26. Nov. 14.30 Uhr So 27. Nov. 10.30 Uhr Reservation: Telefon: 031/ 311 95 85 von Di - Sa 13.30 bis 17.30 Uhr - Tageskasse 1/2 Stunde vor Vorstellungsbeginn «afrique noire. urbane zeitgenössische kultur aus ouagadougou, cotonou, kinshasa und jo‘burg». 3. – 13. november 2005 V E R A N S T A L T E R 13 Bild: zVg. / Nelisiwe Xaba ■ Zum dritten Mal steht Bern im Zeichen zeitgenössischer Kultur made in Africa: Das Schlachthaus Theater präsentiert mit «Afrique noire III» während 11 Tagen sensible und radikale Kunstproduktionen aus afrikanischen Grossstädten. Im Zentrum stehen Theater und Tanz, doch gibt es viele Ausflüge in die verschiedensten Sparten. Wichtiger Bestandteil des Programms bilden Diskussionen mit den KünstlerInnen sowie drei Podiumsgespräche. Mittags bieten «Homestories» in intimer Atmosphäre die Möglichkeit des persönlichen Austauschs, jeden Abend wird gemeinsam getafelt. Theater «Omon-mi» (Mein Kind) heisst das neuste Stück von Ousmane Aledji. Thema ist die Auseinandersetzung mit der in Schwarzafrika häufig fast uneingeschränkten elterlichen Gewalt. Entstanden ist ein tänzerisches, theatrales und musikalisches Gesamtkunstwerk, das in diesen Tagen in Cotonou Premiere feiert. Bewusst verwendet der aus der Yoruba Kultur stammende Regisseur dabei zum ersten Mal die indigenen Sprachen seines und weiterer Völker Bénins. Zum dritten Mal fanden letzten Herbst in Ouagadougou die «Récréâtrales» statt, ein Festival, das gleichzeitig auch eine Produktionsplattform bildet und sich um die Weiterbildung der Theaterschaffenden kümmert. Dabei entstand von dem aus dem Niger stammenden Autoren Alfred Dogbé eine Adaptation von Shakespeares «Richard III», in einer Inszenierung der Schweizer Regisseurin Barbara Liebster. Gespielt wird das Stück von einem gemischten Ensemble aus sieben westafrikanischen Ländern. Weiter sind zwei Solos zu sehen: Alfred Dogbé hat mit «Tiens bon, Bonkano» einen furiosen Monolog eines Bettlers verfasst. Ein Stück das sich nicht nur mit dem individuellen Betteln befasst, sondern auch mit scharfem Blick die Beziehungen zwischen dem Norden und Süden aufs Korn nimmt. Aka Simon aus der Elfenbeinküste begibt sich in «Die Legende des Santiago» nach Paulo Coelho auf Schatzsuche und erkundet die weite Welt. Tanz Er gehört unterdessen zu den gefragtesten Choreografen weltweit: der Südafrikaner Boyzie Cekwana. Wie nur wenigen anderen KünstlerInnen gelingt es ihm politisch aktuelle Fragestellungen in ästhetisch hinreissende Tanzstücke zu fassen. Dies bewies er dieses Frühjahr mit seinem neusten Werk «Cut!!». Ebenfalls aus Südafrika kommt die Choreografin Robin Orlyn. Sie hat mit der aus Bénin stammenden Tänzerin Sophiatou Kossoko das Solo «...although I live inside... my hair will always reach towards the sun...» kreiert. Eine der herausragenden Figuren der boomenden Tanzszene West- und Zentralafrikas ist der Kongolese Faustin Linyekula. Seine radikalen Performances sorgen für heftige Kontroversen. Im Juni dieses Jahres erhielt er ein «Carte blanche» am Centre national de danse in Paris. Er konnte zehn junge afrikanische ChoregrafInnen seiner Wahl einladen. Bei «Afrique noire» stellen wir drei dieser Arbeiten vor. Nouveau Cirque Seit vier Jahren arbeitet die Basler Gruppe Cirqu’enflex regelmässig in Südafrika und baut mit arbeitslosen Jugendlichen die Gruppe Sirkona auf. Ziel ist es, über diesen Zeitraum die angehenden Artistinnen zu einer qualitativ hochstehenden Gruppe auszubilden. Das Resultat dieser Arbeit ist nun erstmals in Europa zu sehen: «Dreamflyer» ist die gelungene Zusammenführung afrikanischer Tradition mit europäischer Kultur. Musik Eine grosse Stimme aus Südafrika wird den Abschluss des Festivals bestreiten: Busi Mhlongo hat die traditionsreiche Zulu-Musik ihrer Heimat in die Welt hinausgetragen, und verleiht ihr gleichzeitig einen urbanen, frischen und aufregenden Geschmack. Busi und ihre achtköpfige Band spielen vielfältig vibrierende Afro-Rythmen, denen es weder an Jazz noch an Funk fehlt. In einem 2. Konzert wird der Multiinstrumentalist Tim Winsé das Traditionsinstrument «l’Arc à bouche» modern interpretieren. Literatur Mit Fatou Diome ist eine junge, vielversprechende Schriftstellerin in Bern zu Gast. Ihr 2004 erschienener Roman «Der Bauch des Ozeans» erzählt von den Träumen und Enttäuschungen senegalesischer Einwanderer – und brachte Fatou Diome auf Anhieb in die Champions League der erfolgreichen AutorInnen. Film In den 90er Jahren ist in Nigeria eine Filmindustrie – genannt Nollywood, in Anlehnung an andere grosse Filmmekkas – entstanden, die heute 300 000 Personen beschäftigt und bis 1200 Videofilme pro Jahr hervorbringt. Vom abgefilmtes Wandertheater bis zum Horror-Melodrama wird alles produziert und bis weit über die Landesgrenzen hinaus verkauft. Der Nollywood Spezialist Babson Ajibade von der Universität Basel hat für «Afrique noire» eine Videoauswahl zusammen gestellt, welche er mit einer Einführung im Schlachthaus Theater vorführen wird. Specials Als Artist in residence wird der südafrikanische Designer und Herausgeber Peet Pienaar, Gründer und künstlerischer Kopf der Agentur «Daddy buy me a pony» für drei Wochen nach Bern kommen. Eine Werkausstellung mit dem Titel «How to avoid corner corner love and win good love from girls» wird im PROGR zu sehen sein. Do 3.11. Peet Pienaar Design - Vernissage im PROGR. Ausstellung vom 3.11. bis 4.12.05 20:30 Theatre Agbo-N’koko «Omon-mi» Theater, Schlachthaus Theater 19:00 Fr 4.11. Cie Falinga und Cie Liebster «Richard III» Theater, Dampfzentrale 22:00 «norient_s african clubnight» Funmi Adewole, DJ Bro’Max Clubnight, Dampfzentrale 17:00 19:00 19:00 19:30 So 6.11. Tropic Expression «La légende de Santiago» Theater, Schlachthaus Theater Arène Théâtre «Tiens bon, Bonkano!» Theater, Schlachthaus Theater Mo 7.11. «Videos aus Nollywood» Film, Schlachthaus Theater Di 8.11. Boyzie Cekwana The Floating Outfit Project «Cut!!» Tanz, Dampfzentrale Mi 9.11. 20:00 Fatou Diome Literatur, Kornhaus Bibliothek 19:30 Do 10.11. Boyzie Cekwana The Floating Outfit Project «Cut!!» Tanz, Dampfzentrale Fr 11.11. «Grafik und Kommunikation im Umgang mit Afrika» Diskussion, PROGR 19:30 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi «Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» / Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra» Tanz, Dampfzentrale 22:00 Sophiatou Kossoko / Robyn Orlin « …although I live inside… my hair will always reach towards the sun… » Tanz, Schlachthaus Theater 17:30 Sa 12.11. «Zeitgenössischer Tanz und politische Stellungnahme» Diskussion, Dampfzentrale 19:30 Sirkona «Dreamflyer» Zirkus, Dampfzentrale 21:00 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi «Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» / Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra» Tanz, Dampfzentrale 23:00 DJ Ben E Disco, Dampfzentrale 17:30 19:30 Sa 5.11. «Zeitgenössische Dramatik in West- und Zentralafrika» Diskussion, Schlachthaus Theater 20:30 Théâtre Agbo-N’koko «Omon-mi» Theater, Schlachthaus Theater 22:30 Tim Winsé, Sounds, Schlachthaus Theater 17:30 17:30 21:00 So 13.11. Sirkona «Dreamflyer» Zirkus, Dampfzentrale World Women Voices Busi Mhlongo Sounds, PROGR Ausserdem: «Homestories», Schlachthaus Theater Fr 4., Mo 7., Di 8., Mi 9., Do 10., Fr. 11.11. jeweils um 12:30 14 M U S I K Bild: Liebi, Tod + Tüüfu - Patent Ochsner KATHRINA VON WARTBURG bern rocks? ■ Parterre, Donnerstag abend, 22:00: die kleine Bar an der Länggasse ist zum Bersten voll, man steht sich auf den Füssen, schüttet sich Wein auf die Hosen, schaut gespannt zur Bühne; dort, zum Greifen nah so klein ist der Raum, stehen drei Jungs, die gleich mit Zigeunermusik aus dem Balkan einheizen werden. In breitem Berndeutsch stellen sie sich vor - aber die meisten hier kennen sowieso im mindesten einen der drei. Lokalmatadoren, wenn auch mit jugoslawischem Einfluss. Egal: Willkommen in der Rockstadt Bern. Bern, früher das Zentrum einheimischen Schaffens; «we‘d gross wosch usecho, de bruchsch e Bärner i r Bänd», sang Polo noch vor ein paar Jahren. Nun, im Rahmen des neuen Kulturleitbildes, stellt sich die Frage nach dem Jetzt; was wird getan; was muss getan werden. Und wo steht die Stadt in Sachen Rock? Denn - unter bewusster Ausklammerung aller Vorbehalte seitens einiger Kulturschaffenden, dass nämlich Rockmusik zu kommerziell, zu populär und folglich nicht kulturell sei - Pop/Rockmusik ist Teil der Kultur und wirkt identitätsstiftend. «Pop/Rock schafft Szenen regionaler Prägung. Berner Rock klingt anders als Basler Rock. Die Zugehörigkeit zu diesen regionalen Szenen stiftet Identität - für Musiker und Publikum» schreibt Bruno Marty, Geschäftsleiter von Action Swiss Music im Musikbericht 2003. Zweifelsohne; und Bern war eine der ersten Schweizer Städte, die das erkannt hat. MItte der 1980er Jahre wurden im Kino Splendid Rocknächte organisiert. Es gab die 5-Liber-Konzerte, die es einem grossen Publikum ermöglichten, Berner Bands für wenig Geld zu sehen. Und diesen, vor einem grösseren Publikum zu spielen. Nach Klassik und Jazz wurde nun endlich auch die Rockförderung ein kulturpolitisches Thema. Davon profitierten nicht zuletzt Bands wie Züri West, Patent Ochsner, oder Stiller Has. Sicher, dass sind klingende Namen, Musiker die - offensichtlich - den Qualitätsansprüchen der Kulturpolitik als auch dem Publikum genügen konnten und können. Allein: auch sie waren einmal unbekannt. Zu jener Zeit boten auch private Veranstalter Raum für aufstrebende, talentierte Berner Musiker. Die Rocknächte im Bierhübeli oder - noch früher - in der inneren Enge zum Beispiel. Einig sind sich die Beteiligten, von Promotern über Kulturförderer bis hin zu den Veranstaltern: früher war es einfacher. Für Veranstalter unbekannte Gruppen spielen zu lassen; für diese auch ohne kulturpolitische Unterstützung durchzukommen; für Radiomoderatoren zwischen internationalen Megastars auch ‚mal ein Demotape einer skurilen nationalen Band über den Äther laufen zu lassen. Heute wird sogar Patent Ochsner, als Live-Band ein Selbstläufer mit nationalem Bekanntheitsgrad, von den Bernern Lokalradios nur noch viermal die Woche gespielt. Das seufzendes Grossmutter-Statement im Ohr, fragt man sich: was ist passiert? Haben wir etwa keine förderungswürdigen Talente mehr? Haben die zahlrei- chen Talentshows, die importierte Rockgirlies und Boybands auch die hiesigen Gruppen der Beliebigkeit unterworfen, sie austauschbar gemacht? Peter Schranz, der seit mehr als 15 Jahren für die Förderung von Rock- und Popmusik seitens der Stadt zuständig ist, widerspricht: «Das Niveau der Gesuchsteller ist heute viel höher als noch vor 10 Jahren. Aber auch die Professionalitätsansprüche sind gestiegen, es herrscht ein knallharter Wettbewerb». An Konzertbühnen mangelt es in Bern nicht. ISC, Bierhübeli, Wasserwerk, Mahogany Hall, Dampfzentrale, Dachstock, Gaskessel, Progr; zahlreiche Möglichkeiten also aufzutreten. Zudem zeigt das eingangs erwähnte Beispiel der Bar Parterre, dass es im Prinzip jedem Gastgewerbebetrieb möglich ist, eine Bühne aufzustellen und jemanden spielen zu lassen. Sofern die gesetzlichen Bestimmungen zu Lärmschutz und zur Schall- und Laserverordnung eingehalten werden, braucht es dazu keine Sonderbewilligung. Bern also als New Orleans der Schweiz, wo in jeder schummrigen Bar noch eine Band den Blues spielt? Mitnichten. Das Parterre bestätigt als Ausnahme eher die Regel: keine Bar-Musikspiel-Kultur hierzulande. Für jene Veranstalter, die den Konzertbetrieb als Teil ihres Programms ansehen, sind die Zeiten alles andere als rosig. «Konzerte in einem kleinen Lokal wie dem ISC sind immer Verlustgeschäfte» sagt Frank Lenggenhager vom ISC. «Nur dank der Einnahmen unserer Discoveranstaltungen können wir die Kosten 15 WIE MAN‘S MACHT – SKALADDIN überhaupt decken.» Live-Musik wird folglich mehr als Kultursponsoring und Imagepflege denn als gewinnbringendes Geschäft angesehen. Zwar bietet die Stadt eine Defizitgarantie von bis zu 2000 sFr. pro Anlass sofern mindestens zwei Berner Bands auftreten. Von den Veranstaltern werden die Kriterien allerdings als zu starr empfunden, ausserdem ziehen sie es vor, unabhängig zu bleiben. Im letzten Jahr bezogen einzig die Dampfzentrale und Appalooza (Bierhübeli) Kredite. Viele Clubs richten sich vermehrt international aus, Schweizer- bzw. Berner Bands versucht man - wenn überhaupt - als Support Act einzubinden. Aber auch das Publikum lässt sich nicht mehr auf Unbekanntes ein. Man besucht meist nur noch Konzerte von Bands, die man kennt und mag; eine Ausgehkultur der Konzertbesuche existiert kaum mehr. Früher ging man eben am Donnerstag an die Rocknacht im Bierhübeli ohne sich um den Namen der spielenden Band zu kümmern. Schwierig also, für unbekannte lokale Talente, ein grösseres Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Schwierig - aber nicht chancenlos. Es wird natürlich versucht, auch unbekannten Gruppen Auftrittsmöglichkeiten zu bieten. Sofern die Qualität stimmt, der Musikstil zum Club passt und eine Band eine gewisse Bühnenpräsenz markieren kann, wird sie es vielleicht sogar auf eine grösserer Bühne schaffen. Arci Friede vom Wasserwerk empfiehlt, die ersten Konzerte selber zu organisieren. «Wer ein finanzielles Risiko trägt, wirbt effizienter und mehr» meint er. Dadurch schafft sich die Band eine Hörgemeinde und fällt den potentiellen Veranstaltern auf. Funktioniert durchaus wie die Beispiele von Skaladdin oder den Chocolate Rockets zeigen: Letztere organisierten ihre erstes Konzerte selbständig, im März diesen Jahres hatten sie Plattentaufe im Wasserwerk, es folgten zahlreiche Gigs in der Schweiz; derzeit touren sie in Deutschland. Seitens der Stadt versucht man, jungen Musikgruppen zusätzlich Starthilfe zu geben. Das Förderungsmodell «Musik der Jungen», welches seit 1989 von Peter Schranz geleitet wird, bietet neben einer kostenlose (aber nicht mehr viel genutzten) Beratungsstelle finanzielle Unterstützung bei CD-Produktionen und Tonträger zu Promotionszwecken. Ausserdem werden Projektbeiträge gesprochen und Veranstalter mit Defizitdeckungsbeiträgen unterstützt, sofern am organisierten Anlass mindestens zwei Berner Gruppen auftreten. Der Begriff Rock/Pop ist dabei im weitesten Sinne als Abgrenzung zu Klassik, Jazz oder Volksmusik zu verstehen. Während früher vor allem Rockgruppen Gesuche stellten und Unterstützung erhielten, sind heute zahlreiche verschiedene Bereiche, von HipHop bis Elektronik vertreten. Ziel ist einerseits eine breite Berner Szene zu fördern, andererseits einzelnen herausragenden Bands wie Lunik oder - zu früheren Zeiten - Züri West zum Sprung auf nationales Niveau zu verhelfen. Die Förderung ist insofern nicht als Hitschmiede zu verstehen. «Wir unterstützen in der Regel eins bis zwei CD-Produktionen einer Gruppe, danach muss sie sich die eigenständig auf dem Markt behaupten können» sagt Peter Schranz. «Einige Bands werden dann schnell zu Selbstläufern, spielen mit ihrer Platte genug Geld ein um dann auf eigenen Füssen und ohne stadtliche Unterstützung ihren Weg zu gehen» Dennoch - wirft man eine Blick über die Kantonsgrenzen hinaus, so wird deutlich, dass andere Städte in Sachen Rockförderung aufgeholt haben. In Basel beispielsweise fungiert der Rockförderverein als zentrale Anlaufstelle für Bands, als Bindeglied zwischen Medien, Veranstaltern, Studios und Bands und als Organisator diverser Bandwettbewerbe. «Sprungbrett», «Strampolin»,»Basler Bands goes CH» sind solche Veranstaltungen, dem Sieger winken Plattenvertrag oder finanzielle Unterstützung für die Tournee. Lovebugs sind die bekanntesten Gewinner. Derartige Möglichkeiten fehlen in Bern. Für Peter Schranz sind Wettbewerbe als Förderungsmassnahme eher ungeeignet, da es jeweils nur einen Sieger gäbe und alle anderen leer ausgingen. Allerdings räumt er ein, dass dem Rock in Bern eine Trägerschaft fehlt, die systematisch Konzertreihen veranstaltet. Und innovative Konzepte seitens der Veranstalter seien auch immer seltener. Bern, beklagte der Bund vor kurzer Zeit, hätte als Rockstadt ausgedient und sei bei internationalen Bands und Labels verfemt. Mag sein. Statt über die Grenzen hinaus, werfe man den Blick aber lieber auf das regionale musikalische Schaffen Denn gerockt wird immer und an Talent mangelt es auch nicht. Vielleicht schaffen es ein paar Bars, demnächst eine Bühne aufzustellen und eine Band zwei Wochen lang spielen zu lassen. Vielleicht schafft es die Stadt, eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle einzurichten. Und vielleicht schafft es der Leser am nächsten Donnerstag ins Parterre und sich auf völlig Unbekanntes einzulassen. Nur so, um der Musik willen. ■ Dass die Stadt gute Bands hat, und dass diese auch auf eigene Faust und ohne grosse Unterstützung weit kommen, beweisen die Ska-Punker Skaladdin. Am Anfang war die Idee. Eine bunt gemischte Truppe mit unterschiedlichen Qualifikationen und Ambitionen und einem Gedanken: mit Ska-Punk die Bühne rocken. Man spielte Coverversionen ein und arbeitete hin zum ersten «grossen» Auftritt an einer Geburtstagsfete. Zwar erklangen da noch einige schiefe Töne, die Show aber kam sehr gut an und die Band wusste: das ist es. Man übte, spielte im Jugendkulturzentrum Hinterkappelen, im Gaskessel, nahm teil an einem Bandwettbewerb an dem jede Gruppe ihre Tickets selber verkaufen musste. «Jedes Konzert brachte uns wieder neue Kontakte zu anderen Ska-Bands, neues Publikum» erzählt Phillip, Saxaphonist bei Skaladdin. Als Lückenbüsser schaffte es die Band dann mit ihrem ersten eigene Song auf einen Sampler, herausgegeben von Leech-Records, dem Schweizer Ska Label. Das war nicht nur der Türöffner für ausserkantonale Konzerte sondern auch der Startschuss zu eigenem Songmaterial. Über das Label knüpfte die Band nun Kontakte zu ausländischen Bands und fing an, für diese Konzerte in der Schweiz zu organisieren; mit sich als Support-Act. Dennoch wollte Leech-Records die erste CD nicht produzieren, versprach aber mit Beratung zur Seite zu stehen. So produzierte die Band 2001 ihre erste Platte «Rub the Lamp» beim eigenen Label Pimp Records, finanzierte sie durch Konzertaufnahmen und startete eine Webauftritt. Die Plattentaufe im Uptown wurde ein voller Erfolg und ermöglichte 2002 einen Auftritt als Opener am Gurtenfestival. Auch für die folgende Tour organisierte Skaladdin alle Konzerte selber. 2003 folgte die zweite CD «Far off from Okay», wiederum selber produziert und finanziert. Im Nachhinein bezeichnet die Band es als Glück, dass sie die erste Platte selber produzierten. So seien sie unabhängig und nicht angewiesen auf eine Plattenfirma oder einen Manager der die Kontakte knüpft. Und was empfehlen sie jungen unbekannten Bands? «Nicht darauf warten entdeckt zu werden, sondern selber was machen!» (kvw) Im nächsten Februar soll die neue Platte von Skaladdin erscheinen, danach gehen sie auf Welttournee. Wir bleiben dran. 16 DAS FEST / FESTEN Nach dem Dogma-Klassiker von Thomas Vinterberg Schweizer Erstaufführung «Ebenso kluge wie beklemmende Inszenierung» (Der Bund) ! gen n lu tel s r o eV g i n we h oc rn u N November Sa 12 / So 27 / Di 29 STADT THEATER B E RN C D - T I P P S The Unborn Chicken Voices THREE TRIOS SARA TRAUFFER ■ Blutrote Farbe, ein Totenschädel und ein Typ, der mit seiner Gitarre gar nicht fein umgeht. «We don’t play guitar», der Titel. Ist das jetzt die Wiederaufstehung der Sex Pistols? (Diesmal als Hühner.......wobei, angeblich ja ungeboren). Mal halblang, es handelt sich hierbei um soliden Schweizer Rock. Laut, kräftig, schnell. Das Head-banging mit standardmässiger Luftgitarre in den eigenen vier Wänden ist vorprogrammiert. Das Album ist sehr gitarrenlastig, einfache Riffs, ein tanztreibendes Schlagzeug....klingt alles sehr ähnlich; und irgendwie sehr cool. Zwischen all dem Positiv-Rock hat es aber auch Raum für das schön-psychopatische und das Cover bestätigende «I know what you wanted to do last tuesday»; wohl eine bewusste Referenz an das Teenie-Movie mit ähnlichem Titel. Die ungeborenen Hühnerstimmen verstehen sich laut Promotext als einfache Rock’n RollBand, die leicht verständliche Musik spielt und das LiveErlebnis in den Vordergrund stellt. «Was wirklich zählt, ist was unter dem Strich rauskommt». Nun, unter’m Strich war ich zwar noch nie an einem Konzert, aber nach dem Hören der CD kann ich mir vorstellen, dass es da ziemlich abgeht. Sicher lustig! ■ Die CD besteht aus drei Sets zu jeweils drei mehr oder weniger berühmten Standards. Peter Frei (Bass) und Dominic Egli (Drums) bilden jeweils die «Rhythm section». Colin Vallon (Piano), Michael Zisman (Bandoneon), und Rafael Schilt (Tenor Sax) übernehmen die «Leitung» ihres jeweiligen Sets. Frei ist seit über 30 Jahren aktiver Bassist in der Szene. Zisman studierte in Buenos Aires bei Nestor Marconi Bandoneon und an der Swiss Jazz School Improvisation / Komposition & Arrangement. Das «Booklet» gibt an, Dominic Egli habe die nötigen Impulse hin zur Verwirklichung dieser Aufnahmen gegeben. Man fühlt sofort eine grosse Spontanität, viel Musikalität auch im Erweitern und Ausleuchten der Möglichkeiten dieser z.T. wohlbekannten Standards. Die Musiker spielen präzise und finden immer auch etwas Neues mit Geschmack. Frei selbst dominiert nicht durch Lautstärke; es gelingt ihm seinen Mitmusikern die Möglichkeit einer aktiven Rolle im kreativen Prozess der Improvisation zu geben. Man spürt deutlich, dass die Solisten sich ihrer musikalischen Umgebung immer bewusst sind. Die drei Solisten reagieren auf die Herausforderung recht unterschiedlich. Vallon verfolgt im ersten Set manchmal beinahe jeden Turn. Zisman ist ein Virtuose auf dem Bandoneon und er lässt hier und da wirkliche Tiefe durchblicken. Schilt macht interessante Experimente im dritten Set. CD-Reinhör Tip: 2ND Set Nr.4 Come Rain or Come Sine (Arlen) mit einem berührenden Bandoneon Intro. Insgesamt eine gelungene, mehr als nur hörenswerte CD! Übrigens: Das Bandoneon ist ein Handzuginstrument das aus der Konzertina entwickelt wurde. 1846 von C.F.Zimmermann konstruiert und später nach Heinrich Band benannt. Diese «Band Union» verbreitete sich schnell in Deutschland wurde jedoch allmählich durch das einfacher spielbare Akkordeon verdrängt. Es besitzt eine unverwechselbare, sich von den anderen Harmonikainstrumenten abhebende Klangfarbe. Interessanterweise ist das Instrument in Argentinien mit dem Tango zu einem Volksinstrument geworden. Dorthin gelangte das Bandoneon vermutlich zunächst über die USA. Später ist es mit einer neuen Spielweise und dem Tango zurück nach Europa gekommen. TANZENDES LAUB The Unborn Chicken Voices – We don’t play guitars; seit 15. Oktober im Handel. Es weihnachtet! ■ Reverend Horton Heat, dass ist eine dreiköpfige, seit 20 Jahren bestehende Band aus Amerika. Nun also ihr neustes Album mit ihren Christmas-Favorites. Da denkt man unweigerlich an säuselnde Stars im goldenen Schneesturm singend und die obligate Santa Claus-Kappe tragend. Wie zum Beispiel Mariah Carey, brrr! Umso freudiger die Überraschung hier: nix mit Stille, nix mit besinnlicher Adventszeit, es geht um knallharten, fetzigen Old-School Rock’n Roll. Schon das erste Lied erinnert schwer an Jerry Lee Lewis und dabei bleibts auch. Von «Jingle Bells» bis hin zu einer kult-verdächtigen Version von «Rudolph the Red Nosed Reindeer» wird alles durchgeackert, frisch fröhlich und so ganz und gar nicht kitschig. Und das aus Amerika! Wir freuen uns darauf, Keckse zu backen, Geschenke einzupacken und den Weihnachtsbaum zu schmücken. Denn mit dieser Musik – und einem Glas Glühwein dazu – ist alles eine grosse Party. Empfehlenswert für all jene, die den besinnlichen Adventskram nicht ausstehen können. Reverend Horton Heat – We Three Kings; jetzt im Handel 17 ■ Das ist eine Herbst-CD. Sie verströmt diese Sehnsucht nach letzten wärmenden Sonnenstrahlen, die Melancholie des fahler werdenden Lichts, der kühlen Luft, der feuchten Nebelschwaden und des schweren, erdigen Dufts in den Wäldern, aber ebenso die fast übermütige Freude am zwischendurch wieder stahlblauen Himmel mit klarer Weitsicht oder am tanzenden, wirbelnden, raschelnden rot-goldenen Laub ... Zwar ist sie bereits vor einem Jahr erschienen, also nicht mehr ganz brandneu, und ausserdem mag das äussere Erscheinungsbild eher bieder wirken, doch die CD ist einfach zu gut, und sie sollte gehört werden. Jetzt erst recht, weil die hier eingespielte Musik irgendwie so schön zum November passt. Und weil die Interpreten, das Schweizer Klaviertrio, gerade eben den ersten Preis am Internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb in Österreich gewonnen haben – mit der Aufführung von Daniel Schnyders «Piano Trio», das hier zum ersten Mal als Integralaufnahme zu hören ist. Ein umwerfendes Werk. Hinreissende Rhythmen und betörend schöne Klänge. Das Schweizer Klaviertrio wechselt in den fünf Sätzen virtuos zwischen unterschiedlichsten Stimmungen, mal ruhig, sanft zurückhaltend und eingebettet, wie etwa im zweiten, mal witzig-frech und tollkühn, wie im vierten Satz, der mit «Tempo di Funk» überschrieben ist und wo Schnyders enger Bezug zum Jazz deutlich wird. Die Interpretation des Trios fasziniert durch die Gleichzeitigkeit von ungeheurer Präzision und hemmungsloser Spielfreude. Das lebt. Und das gilt genauso für die zwei Werke der beiden anderen Schweizer Komponisten auf dieser CD: die Tondichtung «Litaniae» von Paul Juon, ein emotional höchst expressives Stück, und das «Trio sur des mélodies populaires irlandaises» von Frank Martin, eine klanglich duftende Komposition mit raffinierten Rhythmen und Tempi. Stürmisches Gewirbel in neblig weiter Landschaft. Irischer November eben. Paul Juon, Frank Martin, Daniel Schnyder. Schweizer Klaviertrio. 2004 Musiques Suisses MGB CD 6215 18 18 K I N O RETTE UNS WER KANN! ensuite - kulturmagazin im ABONNENMENT 11/05 ➡ ➽ JETZT ABONNIEREN! AB 1.1.2006 MÜSSEN WIR MEHR VERLANGEN... ❒ kultur ist mir wichtig! ich will nicht blöd werden und abonniere ensuite - kulturmagazin bis auf wiederruf. ❒ ich will mithelfen, das defizit zu decken. nehmen sie mit mir kontakt auf... ❒ ❒ ❒ ❒ abonnement Fr. 45.00 studierende/ ahv/ iv Fr. 25.00 gönner/ geschenke/ sponsoring ab Fr. 300.00 ich bin bereits abonnentin und möchte ein abo verschenken. mein name, adresse und wohnohrt: vorname name adresse plz/ ort KULTUR IST DER SOZIALE LEIM EINER GESELLSCHAFT! TEILEN WIR? email datum/ ort/ unterschrift ■ ausschneiden und einsenden an: ensuite - kulturmagazin // sandrainstrasse 3 // 3007 Bern // Tel. 031 318 60 50 - schneller: www.ensuite.ch oder rettet die Wale - aber tut etwas! M U S I K Bild: zVg. BENEDIKT SARTORIUS antifolk ■ Die Welt als verschimmelter Pfirsich: Unerwiderte Liebe, soziale Kälte, grauer Alltag, New York als Friedhof, Yuppies, Teenage Angst in allen Schattierungen, «let‘s go to sleep…» Kurz: Die Welt ist aus den Fugen, gebt mir Crack! Nun ist es ein leichtes, diesem Themenkreis mit Holzhammertexten, mit Härte zu begegnen. Ungleich reizvoller, weil subtiler, lustiger, zugleich zwingender und desillusionierender, wirkt der dilettantische, pubertäre Ansatz der Moldy Peaches. Herbe, mit einem Lächeln vorgetragene Zeilen wie «Sucking dick for ecstasy» kollidierten mit der rumpelnden Low-Fi Instrumentierung und den Häschen-, Einhorn- und Robin Hood Verkleidungen der beiden Protagonisten Adam Green und seiner Partnerin Kimya Dawson. Sexistisch anmutende Sprüche von Green wie «Whose pussy hole needs filling?» werden durch Kimya Dawsons simultan geäusserte Sehnsucht nach Nächstenliebe («Whose empty heart needs filling?») ironisch gebrochen, so dass eine eindeutige Lesart verhindert wird. Das Zwingende, das Eindringliche der ersten und einzigen Platte der Moldy Peaches liegt in diesen Widersprüchen, im teilnahmslos anmutenden Vortrag, der Desorientiertheit ausdrückt sowie in der liebenswerten Spontaneität und Intimität der Aufnahmen. Lacher oder das Klingeln eines Telefons blieben der Produktion erhalten und unterstrichen den Do It Yourself Charakter der Moldy Peaches. Durch den Vertrag mit dem wiedergeborenen, legendären Indie Label Rough Trade, das fast zeitgleich das Debüt der Strokes veröffentlichte und 2001 den Boom der neuen Rock Welle einläutete, war dem Duo die Aufmerksamkeit der Musikpresse sicher. Man dürstete nach mehr und wurde im heimischen Umfeld der New Yorker Moldy Peaches fündig, dessen Vielschichtigkeit sich unter einer Vokabel zusammenfassen lässt: Antifolk. Der Begriff wurde durch Lach, seit zwanzig Jahren Veranstalter der mittlerweile im Sidewalk Café sesshaft gewordenen Antifolk «Open Mic Sessions», geprägt. Angetreten um die reaktionären Tendenzen im Folk aufzubrechen, liess Lach Songwriter ohne stilistische Limitierungen auftreten. Prominente Namen der ersten Jahre sind etwa Suzanne Vega, Michelle Shocked sowie der junge Beck Hansen. Die Verkrustungen aber blieben. Bis zur «zweiten Generation», die den anarchistischen, dilettantischen Ansatz gegenüber gängigen Songstrukturen bevorzugte. Die Moldy Peaches brachten Blockflöten mit, Jeffrey Lewis, vielleicht der Grossartigste unter all den zum grossen Teil nach wie vor unbekannten Gruppen und Einzelgängern, illustrierte grossformatige Comic-«Videos», erzählte seine ureigene «History of Punk on the Lower East Side» in Medley Version und legte so seine, wenn nicht gar die geistigen und musikalischen Vorläufer des Antifolks offen. Eine Geschichtslektion von fast zehn Minuten Dauer, die unter anderem von versprengten Beatniks (Harry Smith), dem Freakout-Strassenmusiker David Peel und seinem Marihuana geschwängerten Gefolge («The Pope Smokes Dope») erzählt, weiter die Anarchos der Fugs, die Velvet Underground, krude Obskuritäten (Godz), Richard Hell‘s Television und die New York Dolls präsentiert. Nun, genug der Namen: Wichtig ist, dass ein neues, sich grösstenteils selbst organisierendes Netzwerk von Gleichgesinnten entstand, das keine Dresscodes kennt, Labels gründete und so der Krise der Musikindustrie 19 entgegentrat, weiter unermüdlich produziert, gesellschaftliche Normen hinterfragt und vielleicht am markantesten: ein Netzwerk, das aus Einzelgängern, Subjekten bestand und weiter bestehen wird, aus Künstlern und Künstlerinnen, die keine Angst vor der Blamage kennen. Künstlerinnen wie etwa Kimya Dawson. Während ihr ehemaliger Moldy Peaches Partner Adam Green mittlerweile zum Liebling aller Klassen mutiert ist, werkelt Kimya Dawson, die Frau mit der mächtigen Tingeltangel-Bob-Frisur, weiter an ihren massenuntauglichen, weil zu intimen, von Verletzungen gezeichneten Liedern. «Nichts ist Kimya Dawsons Musik so fremd wie Coolness, Reserviertheit oder übertriebenes Selbstbewusstsein», schreibt der Kulturjournalist Martin Büsser in seinem Buch «Antifolk». Ihre Musik fällt nicht zuletzt deshalb ins Zeitlose, Posen zählen nichts: Wie naiv ihre tagebuchartigen Texte auch anmuten mögen, sie treffen mitten ins Herz. «Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer, alles zusammen», beschreibt sich Dawson selbst. Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer ist auch ihr mittlerweile drittes, erstmals in Bandbesetzung entstandenes Album «Hidden Vagenda» (K Records). Es erzählt vom Verlust ihrer Grossmutter, von Anthrax und damit der Befindlichkeit des anderen Amerikas nach dem 11. September, verhandelt sozialen Druck und Schwäche. Das vielleicht schönste Lied stellt «Singing Machine» dar. «Doesn‘t matter what you look like, doesn‘t matter what you sound like, doesn‘t matter if they like you, just remember to be kind,» singt Dawson mit heiserer Stimme in ihrer Ode an die Herzlichkeit. Dazwischen funkt der psychisch kranke, grossartige Low-Fi Pionier und mittlerweile dem Antifolk Netz angeschlossene Daniel Johnston seine Cartoon Stimme durchs Telefon und, wie blöd das nun klingen mag, die Welt scheint kurzzeitig eine andere, eine bessere, weil herzlichere zu sein. Nüchterner ausgedrückt: Die viel gepriesene Authentizität, dieses grösste und unmöglich zu erfüllende Versprechen der Popmusik, scheint bei Kimya Dawson endlich eingelöst zu sein. Konzerte: Dienstag, 15.11.05, 21h30 Herman Düne / Julie Doiron: In Paris ansässige Antifolk-Musiker, die es noch zu entdecken gibtÐ. Samstag, 19.11.05, 21h30 Kimya Dawson/ Tiger Saw/ Jason Anderson Alle Konzerte finden im Bad Bonn Düdingen statt. CDs: The Moldy Peaches (Rough Trade) Kimya Dawson «Hidden Vagenda» (K Records) Jeffrey Lewis «It‘s The One Who‘ve Cracked That The Light Shines Through (Rough Trade) Buch: Martin Büsser, Antifolk. Ventil Verlag. Mainz 2005 Antifolk im Internet: www.antifolkonline.com www.olivejuicemusic.com www.antifolk.net 20 M U S I K «AUS DEN TASCHEN GEKRAMT» ODER LE COSE CHE AMI (ITALIAN POETIC JAZZ) ■ Es ist kalt an jenem Abend. Ich stecke meine Hände in meine normalerweise immer so leeren Taschen. Ein kurzes Tasten bringt diesmal eine kleine Überraschung hervor. Ein graues, klein gefalztes Papierquadrat. Fünf Sekunden später entpuppt es sich als ein kaleidoskopartig zerquetschter Flyer. Ich bin angenehm Angetan und beginne sofort mit dem Lesen. «Le cose che ami – Italian Poetic Jazz.» können meine Augen in der Dunkelheit gerade noch entziffern. Jaja – denke ich - die wirklich wertvollen und angenehmen Dinge des Lebens drängen sich nur sehr selten auf. Doch wenn; dann sollte man die Chance nicht ungenützt lassen. Es ist wieder wärmer geworden und ich bin zu Hause angekommen. Ich braue mir einen wärmenden Kaffee, werfe meinen PC an und google sofort «le cose che ami». Das Musigbistrot Bern bringt mir dazu die nötigen, klärenden Worte: «Le cose che ami», also «die Sachen, die du liebst», sind süsse italienische Balladen. Eine Mischung aus Pop, Jazz und Poesie, ein Stil der sich kurz mit dem Begriff «Italian-Poetic-Jazz» umschreiben lässt. Die nostalgischen, herzerwärmenden Songs sind hauptsächlich im vergangenen Jahr entstanden und entspringen der «Feder» des Pianisten Thomas Reber und der italienischen Sängerin Annalisa Spagnoli. Grosses, unerschöpfliches Thema: die Liebe. Die Canzoni erzählen Geschichten, die der Alltag schrieb Ein Ohrenschmaus für Romantiker, Nostalgiker und Liebhaber der Italienischen Sprache. Längst habe ich beschlossen mindestens eines der insgesamt drei angebotenen Konzerte (zwei davon in Bern) zu hören. Das wusste ich schon als ich diesen Flyer in der Hand hielt. «Wer sucht der findet.» – Dieses so abgedroschene Sprichwort gilt vielleicht manchmal auch für die Berner Künstler-Szene und deren «Konsumenten». Doch es ist für einmal nicht nötig dieses Klischee zu bedienen. Heute nicht. Man braucht ja nur in den eigenen Taschen zu kramen. Manchmal fallen sie einem eben auch ganz von alleine zu – die wirklich angenehmen Dinge des Lebens. Konzerte Nov./Dez. «le cose che ami» Annalisa Spagnoli (v), Paco Casanovas (g), Thomas Reber (p), Daniel Brélaz (b), Beat Müller (dr) Sa. 19.11. Kirchgemeindehaus Wichtrach / 20:30 (Ein Benefizkonzert für die Arbeit mit Drogensüchtigen) Do. 24.11. Musig-Bistrot Monbijou, Mühlemattstrasse 48, Bern / 20:30 Do. 22.12. Café-Bar Parterre, Hallerstrasse 1, Bern / 21:00 QSFTFOU ,0/;&354"*40/o 5)&"5&3 *./"5*0/"- 6IS 5)&%"7$#&$,26"35&5 6IS #*3&-*-"(3&/&(*14:26"35&5 6IS 3*$)"3%("--*"/0 ("3:#6350/26"35&5 3B C B UU C JT 3B C B UU JN " C P 7037&3,"6'"#0&*/;&-,"35&/ 5FM $)' $)'NJO N 5JDLFUDPSOFS.BOPS4##tXXXUJDLFUDPSOFSDIt#&3/#FSOFS;FJUVOH%FS#VOE+µHHJ(MPCVT '3*#063(0GGJDFEV5PVSJTNFt 7&3"/45"-5&3"MM#MVFT,PO[FSU(NC)VOE(SPPWFTPVOE(NC) K I N O 23 Bild: zVg. SARAH STÄHLI don juan im trainerjäckchen Broken Flowers von Jim Jarmusch ■ Jim Jarmusch blickt immer noch als Aussenseiter auf Amerika, als tschechisches Einwandererkind, als das er sich im Innersten wohl immer noch fühlt. In seinem jüngsten Film Broken Flowers - der in Cannes mit dem grossen Jurypreis ausgezeichnet wurde - erzählt Jarmusch von einem Land mit all seinen skurrilen Auswüchsen: von White-Trash bis hin zu esoterischer »TierKommunikation». Er erzählt aber auch von einem Amerika, in dem ein gelangweilter middle-class Rentner auf eine lebensvolle Afroamerikaner-Nachbarsfamilie trifft. Don Johnston heisst dieser alternde Antiheld und wird verkörpert von Bill Murray. Murray hat es mittlerweile intus, völlig unbeteiligt auf noch so bewegende Ereignisse zu reagieren. Mit Lost in Translation feierte der Schauspieler sein Comeback und in Wes Andersons verkanntem Meisterwerk The Life Aquatic verzeichnete er als Steve Zissou seinen vorläufigen Höhepunkt in schauspielerischem Understatement. Obwohl man sich zur Abwechslung auch einmal einen etwas anderen Murray wünschen würde, überzeugt er in Broken Flowers erneut in der immergleichen Rolle. Don Johnston ist ein angegrauter Don Juan, der seine besten Jahre offensichtlich hinter sich hat. Mit dem Sonnyboy Don Johnson aus Miami Vice wird er trotzdem mehr als einmal verwechselt, obwohl er mit ihm wirklich nur den Namen gemeinsam hat und dies auch nur beinahe. Am liebsten sitzt Don im Trainingsanzug auf der Couch und starrt ins Leere. Eines Tages erhält er, nachdem er gerade von seiner neusten Flamme verlassen wird, einen ominösen rosa Brief ohne Absender. In dem steht nichts Geringeres, als dass er vor 19 Jah- ren einen Sohn in die Welt gesetzt habe. Diese Nachricht würde Don kalt lassen und genauso an ihm abprallen wie alles andere, wäre da nicht sein enthusiastischer Nachbar Winston (brillant: Jeffrey Wright), der diesen Brief als wichtiges Zeichen deutet und Don dazu überredet, endlich einmal aktiv zu werden. Aber zuerst gilt es herauszufinden, wer von seinen zahlreichen Freundinnen die vermeintliche Mutter und Verfasserin des Briefes sein könnte. Don begibt sich auf eine Reise quer durch Amerika, in die eigene Vergangenheit. Unterwegs trifft Murray auf eine ganze Reihe starker Schauspielerinnen in den Rollen seiner Ex-Freundinnen: unter anderem Sharon Stone, Jessica Lange, Tilda Swinton und Frances Conroy. Die relativ simple Ausgangslage inszeniert Jarmusch gewohnt lakonisch als entspanntes Roadmovie; poetisch und voller sanften Humors. Ob Don am Ende wirklich seinen Sohn findet, oder nur die Möglichkeit eines Sohnes erahnt, ist gar nicht so wichtig. Wie so oft scheint der Weg das Ziel zu sein. Jarmusch schafft es, mit dem offenen Ende des Filmes eine Geschichte zu erzählen, die jenseits von Rührseligkeit und ohne je zu moralisieren, völlig unaufgeregt daherkommt und trotzdem berührt. Bleibend die Szene, in der Don auf seinen möglichen Sohn trifft und krampfhaft versucht nicht als Pädophiler zu wirken. Im Gespräch mit dem jungen Mann wird Don sogar zum Philosophen und kommt zur Erkenntnis: «Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht hier und ich kann sie nicht kontrollieren, daher gibt es nur das hier». Auch wenn Broken Flowers im Vergleich zu anderen Jarmusch-Filmen kommerzieller ist, schafft es der Regisseur, seine unverkennbar coole Handschrift beizubehalten. Mit den langen Einstellungen und den beinahe altmodisch wirkenden Überblendungen bleibt Jarmusch seinem Stil treu, der seine Filme seit Stranger than Paradise ausmacht. Ein Jarmusch-Film beinhaltet immer auch kleine Geheimtipps des Regisseurs, die es für sich zu entdecken gilt: war es beispielsweise in Ghost Dog das Buch The Way of the Samurai, so sind es in Broken Flowers die ungewöhnlichen Klänge von äthiopischem Jazz, die Winston seinem mürrischen Nachbarn unterjubelt. Der Soundtrack agiert wie meistens bei Jarmusch wie ein weiterer Schauspieler und ist wie immer grandios. Broken Flowers mag auf den ersten Blick in seiner Leichtigkeit beinahe belanglos, wie hingeworfen scheinen, hat jedoch im Nachhinein denselben Effekt wie ein gutes Buch, eines, das man am liebsten immer und immer wieder lesen möchte. Broken Flowers von Jim Jarmusch läuft ab 10. November im Kino 22 K I N O Bild: zVg. Bilder: zVg. CORPSE BRIDE ■ Basierend auf einem russischen Volksmärchen und zwölf Jahre nach «A Nightmare before Christmas» erzählt Tim Burton erneut eine herzerwärmende Liebesgeschichte aus der Welt der Lebenden und Toten. Der junge Victor (im Original gesprochen von Johnny Depp) soll Victoria (gesprochen von Emily Watson) heiraten um seinen Eltern den Aufstieg in die Aristokratie zu ermöglichen und ihre Eltern vor dem Abstieg ins Armenhaus zu bewahren. Doch die Probe zur Hochzeit endet aufgrund Victors Nervosität in einem Debakel und der Pastor schickt ihn weg um den Trauspruch zu üben. Alleine im Wald findet Victor wieder zu sich selbst, kann den Spruch fehlerfrei aufsagen und streift aus lauter Vorfreude auf die Hochzeit den Ehering sogar an eine alte Baumwurzel. Doch welch Grauen erfasst ihn als er realisiert, dass die Wurzel der Finger einer wunderschönen, verwesenden Leiche ist, die sich vor Victor in den Fetzen eines Hochzeitskleides aus dem Grab erhebt. Seit sie in der Hochzeitsnacht ermordet wurde wartet die Leichenbraut (gesprochen von Helena Bonham Carter) auf ihren Bräutigam. Aufgrund seines Versehen muss nun Victor diese Rolle übernehmen und wird ins Reich der Toten entführt, welches jedoch um einiges lebendiger ist als die Welt der Lebenden. Mit ansteckend guter Laune erzählen ihm die Gerippe von ihrem «Leben» und was damals mit seiner neuen Braut geschah. Obwohl es ihn zurück zu seiner grossen Liebe Victoria zieht, entschliesst sich Victor, zu seinem Wort zu stehen und die unglückliche Leichenbraut zu heiraten. Bevor sich jedoch alles zum Guten wendet gilt es noch einige Aufregungen zu überstehen. Tim Burton und seinem Team ist es gelungen, die Puppen mit einer Technik zu animieren, welche kleinste Details in Mimik und Bewegung ermöglichten. Mit seiner überwältigenden Liebe zum Detail ist «Corpse Bride» eine wunderbare Geschichte über Leidenschaft, hinterhältigen Mord und die Frage, ob ein Herz noch brechen kann, wenn es nicht mehr schlägt. (sw) Der Film dauert 77 Minuten und kommt am 3.11.2005 in die Kinos. SONJA WENGER a history of violence ■ «A History of violence» sei ein Film gegen die Gewalt, behauptet Kult-Regisseur David Cronenberg («The Fly», «Existenz»). Es geht um die dunkle Seite der Menschen, um die Gewalt, die in uns allen steckt. Und Hauptdarsteller Viggo Mortensen («Lord of the Rings») meint: «David Cronenberg zeigt die Ursachen und Auswirkungen der Gewalt auf, aber er stellt sie nie in den Mittelpunkt. Er zelebriert oder verherrlicht sie nie. Gewalt muss man immer ablehnen, aber er behauptet nicht, dass man sie immer vermeiden kann.» Nun ist es ja durchaus annehmbar, dass ein Filmemacher auf einfache, aber eingängige Bilder zurückgreift. Dass er eine kurze Geschichte auch kurz hält und dem Publikum die plakative Aussage mit schockierender Deutlichkeit um die Ohren schlägt. Denn genau das und nichts anderes wird im Film «A History of violence» gemacht. Wenn man also ein Thema, hier eben Gewalt, exzessiv zeigt, dann ist das automatisch als kritische Aussage zu werten? Möglich. Dieser Film bedient sich jedoch der billigsten, einfachst gestricktesten Klischees auf beiden Seiten der Extremschiene, dass man sich nur schwer nicht veräppelt fühlen kann. Gewalt wird in diesem Film tatsächlich nicht verherrlicht, sondern einfach in kurzen aber schonungslos detaillierten Szenen dargestellt. Allerdings wird die Gewalt auch nicht wirklich abgelehnt, denn sie wird nach ziemlich kurzem und lahmen Widerstand plötzlich als das einzige und effizienteste Lösungsmittel für alle Probleme eingesetzt. So beginnt der Film mit der Vorstellung des absolut Schlechten, in dem zwei düstere Gestalten ihre Rücksichtslosigkeit beim «killen statt frühstücken» beweisen. Schnitt. Nun wird das vordergründig Gute eingeführt in dem die ganze Familie mit Mami, Papi und grossem Bruder sich um das unerträglich blonde Mädchen scharen und ihr bei der Verarbeitung eines «bösen» Traumes zur Seite stehen. Monster unterm Bett den Monstern im echten Leben gegenübergestellt also. So weit so gut. Wie üblich in Filmen über das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt gibt es eine verstaubte Hauptstrasse, ein paar Stadtoriginale, einen gutmeinenden Sheriff und den obligaten Dinners. Hier treffen beide Welten nun aufeinander. Die Bösen wollen wieder sinnlose Gewalt anwenden, werden aber zu ihrer Überraschung mit den eigenen Waffen blutig vernichtet. Der Gute wird zum Nationalheld und plötzlich ist in seinem Dinners Hochbetrieb. Als Folge seiner Popularität tauchen andere düstere Gestalten auf und behaupten, dass Tom gar nicht ist, wer er vorgibt zu sein und dass sie für früheres Unrecht Vergeltung verlangen. Toms ganze Familie wird in einen Strudel aus Misstrauen, emotionalen Abgründen und plötzlich hervorbrechenden Aggressionen hineingezogen. Für einen eingefleischten Viggo Mortensen Fan ist es ein Highlight, den Schauspieler in einer solcher Bestform zu sehen. Doch genau das macht diesen Film so gefährlich. Die gesamte Besetzung, vom vermeintlichen Gutmenschen Tom Stall (Viggo Mortensen), über die Bösewichte (Ed Harris und William Hurt), die Ehefrau (Maria Bello) bis hin zum Sohn (Ashton Holmes) ist schlicht und einfach brilliant. So brilliant, dass jenes gigantische Fragezeichen bezüglich Sinn, Inhalt und Aussage des Filmes völlig in den Hintergrund gedrängt wird. Nun kann man sich fragen, ob es legitim ist, einen Film in den Himmel zu loben, weil die Schauspieler gut sind oder zu verdammen, weil die Geschichte schlecht ist. Auf jeden Fall irritiert der Film, hinterlässt Wut und Leere. Sollte der Regisseur diesen emotionalen Effekt bewusst bewirkt haben wollen, dann kann man ja vielleicht darin den Sinn dieser Geschichte erkennen. Doch die absolute und diskussionslose Abwesenheit jeglicher Konsequenzen von solch gewaltbereiten Verhaltens sollte einen misstrauisch stimmen. Der Film dauert 96 Minuten und ist seit dem 13.10.2005 im Kino. K I N O 23 SONJA WENGER TRATSCHUNDLABER SONJA WENGER les poupées russes – wiedersehen in st. petersburg ■ Vor vier Jahren drehte Regisseur und Drehbuchautor Cédric Klapisch mit kleinem Budget und relativ unbekannten Schauspielern die multikulturelle Studentenkomödie «L’Auberge Espagnole». Der internationale Erfolg um die bunte WG in Barcelona führte nun zu einer Fortsetzung mit «Les Poupées russes». Die Geschichte setzt fünf Jahre später ein und beschäftigt sich erneut mit den verworrenen Liebesmühen von Ex-Student und Protagonist Xavier. Dieser ist weit von seinem Traum, Schriftsteller zu werden entfernt und hält sich mit Gelegenheitsjobs als Reporter oder Ghost-Writer über Wasser. Sein grösster Auftrag ist ein TV-Drehbuch für eine kitschige Liebesserie. Auch sein eigenes Liebesleben ist geprägt vom Konflikt zwischen Traum und Realität und der verzweifelten Suche nach dem Sinn des Lebens oder der wahren Liebe. Erst als er die Gelegenheit erhält, in London an einem grossen Drehbuch zu schreiben, wendet sich das Blatt. Wendy aus der WG in Barcelona stellt sich zu seiner grossen Überraschung zudem als seine englischen Co-Autorin heraus. Ihre Zusammenarbeit entwickelt sich nicht nur in beruflicher Hinsicht gut, zumindest solange, bis sich Xavier in das Model Celia verliebt. Erst als Wendys Bruder William in St. Petersburg seine russische Freundin heiratet, führt dies noch einmal alle WG-Mitglieder zusammen und Xavier dazu, sich nicht nur die richtigen Fragen zu stellen, sondern auch die richtigen Antworten zu geben. Obwohl eine Fortsetzung, ist «Les Poupées russes» in mancher Hinsicht besser als das Original! Viele cineastische Erzählmittel wie Bildaufteilung, Rückblicke oder visuelle Collagen hat Cédric Klapisch gekonnt übernommen und weiterentwickelt. Die Musik pendelt angenehm zwischen Leichtfüssigkeit und Melancholie und der Film führt das Publikum an wunderschöne Schauplätze in Paris, London und St. Petersburg. Die Geschichte selbst ist kompakter, reicher an Details und wird den Charakteren mehr gerecht. Sie lässt dem Publikum sehr viel Raum für eigenes Gedankenspiel. Der Film konzentriert sich zwar auch hier wieder auf Xavier, doch dominieren wesentlich weniger Nebenfiguren, welches die Geschichte wohltuend entschlackt. Die Darsteller sind spürbar reifer und selbstbewusster geworden was sie in ihren Rollen auch vollumfänglich umsetzen dürfen. Romain Duris als Xavier ist umgeben von einem wunderbaren Damentrio. Audrey Tautou’s Martine hat sich von der zwischen Melancholie und Tränendrüsen schwankenden Zicke in eine selbstständige alleinerziehende Mutter gewandelt und sorgt mit ihrer Lebenseinstellung für nachdenkliche Momente. Cécile de France als lesbische Isabelle lebt diesmal nicht nur ihre Sexualität aus, sondern sorgt unter anderem als Xaviers Alibi-Freundin und Vertraute für einige der schönsten Augenblicke des Films. Kelly Reilly durfte sich von der nur aufs Putzen fixierten Wendy emanzipieren und besticht als gestandene Drehbuchautorin. Welch ein eindrücklicher Gegensatz zu ihrer Rolle als lustlose Schwester von Mr.Bingley in «Pride and Prejudice», zur Zeit ebenfalls im Kino. Zudem sorgt Wendys von Kevin Bishop verkörperter Bruder William, welcher in diesem Film weniger für saloppe Sprüche als für Romantik sorgt, für zusätzliche Auflockerung. Als eines der beständigsten Markenzeichen des französischen Films steht auch hier der Humor mit beiden Beinen auf dem Boden. Trotz einer gnadenloser Ansammlung von Klischees entzieht sich der Film jeglicher Klischiertheit. Auch, oder gerade ohne Kenntnis von «L’Auberge Espagnole» ist «Les Poupées russes» eine unterhaltsame, feinfühlige und kurzweilige Geschichte. Der Film dauert 129 Minuten und ist seit dem 27.10.2005 im Kino ■ Die Schweiz hat endlich eine Spätshow! Das Rezept? Man nehme eine Kopie des Studios der Harald Schmidt Show, stelle eine Band hin, die sich genauso verrenkt wie bei Jay Leno, gebe einem schönen Moderator (obwohl sich Martina Hingis ja nicht entschieden konnte – und ist sie jetzt Single oder nicht?) ein kurioses Faktotum et voilà, Black’n Blond! Da sich die Programmverantwortlichen allerdings nichts trauen ist der Sendeplatz am Montagabend und zudem scheint es in der Schweiz zwei Komödianten zu brauchen um wenigstens halb so lustig zu sein wie anderswo. Abgesehen von einem schauderhaften Gefühl des Déjà Vues, war es doch ganz...nett. Provokativ, witzig, schnell, weltoffen, schonungslos, mutig...das ganze Lexikon halt! Auch gesellschaftspolitisch kritisch war’s. Neben einem unsäglichen Anwärter auf den Preis des Publikumlieblings ist nun mit dem Huhn Gaby die Vogelgrippe offiziell auch beim Fernsehen salonfähig. Lachen soll ja übrigens das Immunsystem stärken. Obwohl: der Chef des Bundesamts für Gesundheit vermutet ja, dass in der Schweiz kaum jemand an der Vogelgrippe erkranken werde. Vielleicht weil wir mit all den Chemiekonzernen an der Quelle sitzen? Mein Apotheker erzählte mir jedoch kürzlich, dass ihn eine Dame fragte, ob sie eine Tamiflu-Packung auch mit ihrer Nachbarschaftsgruppe teilen könne. Quasi für jede eine Tablette zur Profilaxe. Das nenn ich Geschäftssinn! Apropos Geschäft: das Modellbusiness ist ja nun auch grosser Gefahr ausgesetzt. Man denke nur an all die gackernden Hühner und schnatternden Gänse welche sich inmitten einer grossen Menschenmenge bewegen, in der ganzen Welt in Scharen herumreisen und durch all den Drogenkonsum ein äusserst geschwächtes Immunsystem aufzuweisen haben. Anders als der H5N1 Virus haben diese Vögel jedoch bereits ihre destruktive Botschaft an die Menschen weitergegeben. Seid dürr, dann liebt euch die Welt. Ach die Liebe! Sie ist fürwahr eine Himmelsmacht. Anders kann man ja wohl auch nicht erklären, weshalb Tom Cruise nun plötzlich Vater wird. Ist bei der Scientology nicht Sex verboten? Wurden wir hier Zeuge einer unbefleckten Empfängnis? Die Frage ist nur, wie die beiden dann ihr Kind taufen wollen, der Name «Google» ist ja bereits vergeben! 24 D A S A N D E R E K I N O www.cinematte.ch / Telefon 031 312 4546 www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05 www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99 Wir machen weiter! Mysterious Skin (Gregg Araki, USA 2004, 99’, Englisch/d, Spielfilm) Brian Lackey wacht mit blutiger Nase in einer Höhle auf. Der Achtjährige hat keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Er kann sich gar nicht mehr an die fünf voran gegangenen Stunden erinnern. Der Zwischenfall verändert sein Leben drastisch: Angst vor der Dunkelheit, Alpträume und Ohnmachten plagen ihn. Zehn Jahre später ist Brian davon überzeugt, als Kind von Ausserirdischen entführt worden zu sein. Und er glaubt, einzig Neil Mc Cormick könnte das Rätsel seiner Kindheit lösen. Neil ist ein 18-jähriger Aussenseiter, der so gut aussieht, dass sich alle auf der Stelle in ihn verlieben. Doch der Adonis möchte sich an niemanden binden. Neils sexuelle Entdeckungsreise führt ihn nach New York, während die Suche nach der eigenen Identität Brian zu Neil führt. Bald merken die beiden, der Schlüssel für eine glückliche Zukunft liegt in der Verarbeitung ihrer dunklen Vergangenheit… (Ab 17.11.) Pier-Paolo-Pasolini-Tage 5.-8.11. Im Gedenken an diesen grossartigen italienischen Literaten, Intellektuellen und Regisseur, welcher vor dreissig Jahren unter tragischen Umständen ums Leben gekommen ist, zeigt das Kino Kunstmuseum eine kleine Filmreihe mit Pasolinis wohl bedeutendsten Filmwerken: «Accattone» (1961), «Mamma Roma» (1962), «Uccellacci e uccellini» (1965) und «Teorema» (1968). Höhepunkt der Pasolini-Tage ist der Besuch des deutschen Literaturkritikers Peter Hamm sowie der Regisseurin Karin Thome, welche am Sonntag, 6. November das 1969 realisierte Filmporträt «Pier Paolo Pasolini» präsentieren. Die beiden Gäste erzählen über die Umstände, in denen dieses Filmdokument zu Pasolini entstanden ist, und berichten über ihre persönlichen Begegnungen mit ihm. Zur Einstimmung liest Peter Hamm einen selbst verfassten, unveröffentlichten Text zu Pasolini. Das Hochwasser vom August hat alles zerstört: Tische, Stühle, Kinosessel, Türen, Wände, Esswaren, Dokumente, Geräte - kein schöner Anblick. Nach der Räumungsaktion mit viel externer Unterstützung steht die ganze Cinématte leer und wartet darauf, renoviert zu werden. Nach dem ersten Schock wecken die leeren Räume Kreativität. Wir haben die Möglichkeit etwas Neues entstehen zu lassen. Diese (hoffentlich) einmalige Chance werden wir nutzen. Vorerst gibt es noch viel anderes zu tun: Versicherungsfragen klären, Mietverträge aushandeln, Architekturlösungen prüfen, Offerten einholen, Bestellungen aufgeben, informieren… und alles braucht seine Zeit. Die Cinématte wird Ihnen und uns also erhalten bleiben. Wir rechnen allerdings nicht damit, schon in diesem Jahr wieder öffnen zu können. Zu Beginn des neuen Jahres dürfen Sie mit uns rechnen. In alter Frische und in neuem Gewand. Sie können uns unterstützen, indem Sie uns treu bleiben. Kommen Sie wieder, alles wird gut! Herzlich Ihr Cinématte-Team PS: Vom 11. bis 14. November sind wir im Rahmen des Queersicht-Festivals zu Gast im Gaskessel. Weitere Aktionen sind im Dezember geplant. Genauere Infos finden Sie in der Tagespresse oder auf www.cinematte.ch. Building the Gherkin (Mirjam von Arx, CH 2005, 89’, Englisch/d, Dokumentarfilm, Videoprojektion) Kann ein einziges Gebäude die Karriere eines Architekten beeinflussen, das Image einer globalen Firma und die Skyline einer Weltstadt? Genau einen Monat und einen Tag nach dem Anschlag aufs New Yorker World Trade Center wird in London der erste Stahlträger eines neuen Wolkenkratzers in Position gehievt. Die Frage ist unvermeidlich: Ist es richtig, einen so Aufsehen erregenden Turm mitten im Londoner Finanzviertel zu bauen, auf einem Platz, wo schon einmal eine Bombe hochging? Norman Foster, einer der visionärsten zeitgenössischen Architekten, nennt sein Design des Swiss Re London Hauptquartiers «radikal - in sozialer, technischer, architektonischer und räumlicher Hinsicht». Grösse und Form des neuen Turmes sind in der Tat so radikal, dass das Gebäude in den Medien von Beginn weg als «erotische Gurke» bezeichnet wird. (Ab 17.11.) Ouaga Saga (Dani Kouyaté, Burkina-Faso 2004, 85’, F/d, Spielfilm) Aberwitzige Komödie mitten aus dem Leben in Afrika, das auf der Leinwand in seiner ganzen Buntheit blüht. (Ab 3.11.) QUEERSICHT 12.-13.11. Das Kino Kunstmuseum präsentiert eine Filmauswahl, welche das Alltagsleben von Lesben und Schwulen in den ehemaligen Ostblockländern zum Thema macht. Filmar en América Latina 14.-29.11. Während dreier Wochen werden im Rahmen des Festivals Filmar en América Latina in den Städten Genf, Lausanne, Biel - und neu nun auch in Bern - südamerikanische Filmproduktionen vorgestellt. Das Kino Kunstmuseum zeigt dazu ein Auswahlprogramm mit verschiedenen Schwerpunkten: eine umfassende Retrospektive über den bolivianischen Regisseur Jorge Sanjinés, eine Werkschau des jungen chilenischen Filmemachers Andrés Wood, einen Themenabend zum Filmland Peru und einen zu Migration. Als einer der bedeutendsten südamerikanischen Filmemacher hat Jorge Sanjinés in seinem Werk nicht nur die Geschichte Boliviens neu erzählt. Er hat auch der bolivianischen Kinematografie, über die kaum etwas bekannt ist, zu einer gewichtigen Stimme verholfen. Berühmt ist Sanjinés vorwiegend wegen seiner Beiträge zu einem revolutionären, auch ästhetisch revolutionären Kino geworden. Mit seinem ‚Kino der Reflexion’ leistet Sanjinés heute einen wichtigen politischen Beitrag zur Identitätsfindung gesellschaftlicher Minderheiten. F ü r d a s Ta g e s p r o g r a m m d i e Ta g e s z e i t u n g o d e r d a s I n t e r n e t W W W . B E R N E R K I N O . C H K I NO i n d e r R e i t s c h u l e 25 LICHTSPIEL www.reitschule.ch / Telefon 031 306 69 69 www.lichtspiel.ch / Telefon 031 381 15 05 www.pasquart.ch / Telefon 032 322 71 01 Nichts schwerer, nichts leichter als das ... leben mit Behinderung «Das Vorurteil ist von der Wahrheit weiter entfernt als die Unkenntnis». Lenins Worte stehen als Leitsatz zum Zyklus über behinderte Menschen. Mit ernsten und humorvollen Spiel- und Dokumentarfilmen über Behinderung sollen Unkenntnisse, Unwissenheit darüber umgewandelt und Ängste abgebaut werden. Die Filme werfen Fragen auf, wer über welche Menschen Entscheidungen treffen kann oder wer bestimmt, ob ein ungeborenes Leben, weil pränatal als behindert diagnostiziert, als nutzlos, von keinerlei Wert für die Gesellschaft abgestempelt und daher entweder abzutreiben ist, oder als Frühgeburt zu Forschungszwecken verwendet werden kann. Eindrücklich zeigt dies der autobiografische Film «Mein kleines Kind» von Katja Baumgarten. Die Regisseurin sowie betroffene Frauen und der Pränataldiagnostiker Matthias Meyer-Wittkopf werden nach dem Film am 26. November an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Weniger ernst geht es im Film «Verrückt nach Paris» zu: Drei Behinderte machen auf eigene Faust Urlaub vom Heim. Daraus entwickelt sich ein temporeiches RoadMovie, das an Witz und Situationskomik manch andere Komödie in den Schatten stellt und an dessen Ende die drei mit beneidenswerter Kraft und Verstand die Verwirklichung ihrer Träume vorangetrieben haben werden. (17.11.-17.12.) Dentro casa: la famiglia nel cinema italiano Unser November-Zyklus zeigt die italienische Familie in Klassikern wie, «Cronaca familiare» (1962) von Valerio Zurlini, der brillanten Verfilmung des Romans von Pratolini in der sich zwei Brüder, die nach dem Tod ihrer Mutter getrennt wurden, nach Jahren wieder treffen (Mo 7.11., 20h) oder «La famiglia» von Ettore Scola (1986), einer hervorragend inszenierten Chronik, welche das Schicksal einer Familie und einer Nation von 1906-86 spiegelt (Mo 14.11., 20h). In «La Stanza del figlio» (2001) erzählt Nanni Moretti berührend und präzis die Geschichte einer Familie, die einen schweren Verlust erleidet und daran beinahe zerbricht (Mo 21.11., 20h), «Ricordati di me» (2003) von Gabriele Muccino ist ein turbulentes Drama über eine mittelständische Familie, deren Welt aus den Fugen gerät, als die Tochter beschliesst, Showgirl am Fernsehen zu werden und die Hormone von Vater Carlos verrückt spielen, als er seine Jugendliebe wieder trifft (Mo 28.11., 20h) 10.11-12.12: Festival Filmar en América Latina im FILMPODIUM BIEL/BIENNE Nun bereits zum dritten Mal im FILMPODIUM BIEL/BIENNE: das Festival Filmar en América Latina - das einzige Filmfestival in der Schweiz, das sich ausschließlich dem Filmschaffen Lateinamerikas widmet. Die über zwanzig Filme lassen nicht nur die Herzen der LiebhaberInnen von südamerikanischem Kino höher schlagen: Vorpremieren und Reprisen, Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilme aus Mexiko, Kuba, Argentinien, Kolumbien, Chile und Brasilien bieten für alle einen Einblick in das jüngste und in der Schweiz kaum vertretene Filmschaffen dieser Region. Neue Dokumentarfilme aus der Schweiz, Argentinien und Brasilien «Oscar», «Bümpliz - ein Tag in der urbanen Schweiz» und «Zwischen Mauern und Favelas» sind drei Beispiele über Menschen, die sich in den sich immer schneller verändernden Gesellschaften kreativ behaupten. Der argentinische Taxichauffeur Oscar lehnt sich mit künstlerischen Aktionen gegen die Auswüchse einer Krisengesellschaft auf, die ins ärmste Quartier Berns abgedrängten AusländerInnen und ArbeiterInnen lassen eine farbige Subkultur aufblühen und in den brasilianischen Slums organisieren sich die FavelabewohnerInnen gegen eine ständig zunehmende brutale Polizeigewalt. (3.5.11., 21.00h) www.reitschule.ch/reitschule/kino Queersicht: vom10. bis 14. November 2005. Sortie du labo Erneut zeigt das Lichtspiel sechs frisch restaurierte Kurzfilme aus der Cinémathèque suisse, die einen Einblick in die Vielfalt des Schweizer Dokumentarfilms von 1917 bis 1938 geben. Das Spektrum reicht von der stummen Reisereportage aus Russland über das touristische Lehrstück bis hin zum avantgardistischen Industriefilm. Präsentiert werden die Filme von den drei FilmwissenschaftlerInnen Anita Gertiser, Yvonne Zimmermann und Pierre-Emmanuel Jacques. Livebegleitung am Piano von Wieslaw Pipczynski (Mi 23.11., 20h). Frankenstein Zum Auftakt des Horror- und Gruselfilmzyklus des StudentInnenfilmclubs der Uni Bern im Lichtspiel gibt es einen absoluten Klassiker des Genres mit erstaunlichen Spezialeffekten und beeindruckenden Masken zu entdecken: den 1931 von James Whale gedrehten Stummfilm «Frankenstein», in dem das Monster ins Leben gerufen wird (Mi 30.11., 20h). Musikalisch begleitet wird der Film von Andreas Bugs (Gitarre). Die ebenfalls von Whale gedrehte Fortsetzung, «The Bride of Frankenstein» (1935) folgt am 7.12. (20h). Zum Beispiel: 10.11: Die Vorpremiere von «Habana Blues» macht den Auftakt im FILMPODIUM. Zambranos Film («Solas») widmet sich den Problemen zweier Möchtegern- Rockstars, die gegen die Tücken des kubanischen Systems ankämpfen müssen. 13.11: Oliver Stone’s Interview mit dem «Comandante» Fidel Castro höchstpersönlich: Dreißig Stunden Gesprächsmaterial hat Stone für den Film auf neunzig Minuten gekürzt – seine Fragen und Castros Antworten werden im O-Ton wiedergegeben. 18.11: Pablo Traperos neuer Film «Familia Rodante» – ein vergnügliches Roadmovie, buntes Familiendrama und deftige Komödie: Die 84jährige Emilia aus Buenos Aires wird zur Hochzeit ihrer Nichte in ihren Geburtsort, im Norden des Landes, kurz vor der brasilianischen Grenze, eingeladen. Emilia mobilisiert ihren Sohn, dieser sein altes Wohnmobil Marke Chevy Wiking 1956, und die 14köpfige Großfamilie aus vier Generationen macht sich auf die über tausend Kilometer lange Reise... 25.11: «Life and Dept» ist ein Dokumentarfilm über die Auswirkungen der Globalisierung auf Jamaikas Industrie und Agrikultur. Vom 9.12-12.12, als Abschluss des diesjährigen Festivals, ein Film, der in die Beine fährt: «Brasileirinho» von Aki Kaurismakis Bruder Mika, ist eine liebevolle und genaue Dokumentation des Choro, der ersten urbanen, original brasilianischen Musik, die sich im Laufe der vergangenen 130 Jahre zu einer faszinierenden Form moderner tropischer Klänge entwickelt hat. 26 B Ü H N E von ihnen ist es sogar die erste Reise nach «Europa» - schauen sie voller Neugier und Spannung entgegen, und sie hoffen, durch ihren Besuch auch in Berührung zu kommen mit Mentalität, Sitten und Bräuche in der Schweizerischen Hauptstadt. Sie freuen sich auf Reaktionen der hiesigen Bevölkerung auf ihr Schaffen, und es wird nach der Vorstellung daher reichlich Gelegenheit geben, diese Begegnung zweier Welten zu vertiefen und persönlich werden zu lassen. Spieldaten: 22., 24., 25. und 26. November 2005, jeweils um 20.30 im Theater Tojo Reitschule Bern. Abendkasse ab 19.30 Reservation: Boogie Secondhand, Zytgloggelaube 4, Telefon 031 311 94 04 Bild: zVg. ANDREA BAUMANN «lebendiges eisen» ein fenster nach russland ■ Ende November kommt das Berner Publikum im Theater Tojo in den Genuss eines russischen Theatererlebnisses, das in jeder Hinsicht unter die Haut geht: sprachlich, schauspielerisch, kulinarisch. Eine junge Theatertruppe aus St. Petersburg gastiert für vier Vorstellungen in Bern und gewährt Zuschauerinnen und Zuschauern einen Einblick in zeitgenössisches russisches Theaterschaffen. Erwähnenswert daran: Die drei Künstlerinnen und Künstler sprechen Russisch, entführen das Publikum in eine ferne, exotische Klangwelt, und gleichzeitig ermöglicht eine deutsche auf Leinwand projizierte Übersetzung Bernerinnen und Bernern, die des Russischen nicht kundig sind, der Handlung und den Dialogen auf der Bühne zu folgen. Seinen Anfang nahm dieses Gastspiel aus St. Petersburg diesen Frühling, als eine Übersetzerin aus Bern und drei junge Absolventinnen und Absolventen der Staatlichen Theaterakademie in St. Petersburg zusammentrafen und merkten, dass sie dank gemeinsamer Wünsche und Ziele wie füreinander geschaffen waren. Eine Zusammenarbeit drängte sich auf. Für Vanya, Nastya und Oleg, beseelt von der Idee, ihre Produktion «Schelesjaka» – unübersetzbar, kann in etwa jedoch mit «Lebendiges Eisen» wiedergegeben werden - ausserhalb ihres Heimatlandes zu zeigen, war die Übersetzerin aus der Schweiz ein Geschenk des Himmels. Umgekehrt waren die drei Künstlerinnen und Künstler für die Schweizerin ein Wink des Schicksals, ihren Wunsch zu verwirklichen, den Wunsch, mit einem eigenen Projekt zwischen Russland und der Schweiz kulturell zu vermitteln. Sie riefen das Projekt «Lebendiges Eisen» in die Welt, was so viel hiess wie: Ein Gastspiel der bereits bestehenden Produktion «Schelesjaka» in Bern organisieren. Worum geht es? «Schelesjaka» ist eine eigene Insze- nierung der drei russischen Künstlerinnen und Künstler, die auf dem zeitgenössischen russischen Theaterstück «You» von Olga Muchina basiert. Zwei Männer und eine Frau. Eine undefinierbare Eisenkonstruktion, die ebenso ein Klettergerüst auf einem Kinderspielplatz sein kann, wie ein zu Metall gewordenes Symbol von Schicksalen und Wegen, die sich kreuzen. Dies ist das Ausgangsmaterial des vorliegenden Stücks; sein Grundgedanke ist schne ll erfasst: Es geht um ein Thema, das die Menschen seit jeher bewegt, den Kampf zweier Männer um eine Frau. In 18 Bildern bieten die Schauspielerinnen und Schauspieler Einblick in intime, komische, akrobatische oder nachdenklich stimmende Episoden aus dem Leben dreier Charaktere und deren Verstrickungen. Die Reihenfolge dieser Bilder ist dabei nicht starr und ein für allemal festgelegt, sondern wandelt und verändert sich ständig, eine Beweglichkeit, die das Stück lebendig erhält. Die Künstlerinnen und Künstler können das Stück somit an jeden neuen Ort anpassen und auf jedes Publikum aufs Neue eingehen. So auch an das Tojo Theater in Bern und das anwesende Publikum. Vanya, Nastya, Oleg und Barbara, alle sind sie überzeugt von der Verbindungskraft des Theaters über Staatsgrenzen hinweg und alle hoffen sie, dass ausser den Russinnen und Russen, die in und um Bern herum leben, auch ein paar Neugierige aus Bern ins Theater kommen und sich auf das interkulturelle Abenteuer einlassen. Mit russischer Originalsprache, hausgemachten Blinis und Vodka – direkt aus Russland importiert – ist ein direkter und unmittelbarer Zugang zur russischen Kultur garantiert. Der Kulturtransfer ist dabei übrigens nicht einseitig, denn auch für die Schauspielerinnen und Schauspieler aus Russland ist der Besuch in Bern ein Abenteuer. Ihrer ersten Reise in die Schweiz – für zwei STADTLÄUFER nr. 14 // bildschön. Was gibt es entspannenderes, als am Sonntag spät aufzustehen, noch dazu, wenn es sich um einen der letzten bildschönen Herbsttage handelt? Ein schweres, englisches Frühstück in der Laube und dann mit Schlaf in den Augen zum Verdauungsspaziergang an die Aare, wo es Ausflügler im Hochgefühl und Enten im Tiefflug zu beobachten gibt. Wir versuchens an der Riviera: Alle regulären Sitzgelegenheiten (Stühle, Liegestühle, Sofas) sind ausgebucht, aber auf der Glasplatte, durch die man direkt auf die Schwelle hinab sehen kann, sind noch Plätze frei. Die Sonnenstrahlen lassen die Herbstfarben so richtig leuchten, wir wähnen uns im Paradies und rekapitulieren die Erlebnisse des Sommers. Nach zwei Stunden ergattern wird doch noch zwei Liegestühle, und nun blicken wir direkt auf die Bäume mit ihren fallenden Blättern – irgendwie freue ich mich jetzt schon auf die kalte Jahreszeit. Wir reservieren uns einen Platz im Rosengarten für den Abend und bekommen den grossen runden Tisch in der Ecke. Freunde kommen dazu, die Sonne geht irgendwo hinter dem Jura unter und färbt alles rot, die ersten Lichter der Stadt flackern auf. Das Essen im Dämmerlicht ist köstlich: Maispoulardenbrust mit Babyananas, Saisongemüse und Reis. Früher wäre ich wohl kaum hierher gekommen, aber in zwei Etappen wurde die alte Beiz mit Fokus auf Fritteuse und Stammtisch in ein Trendlokal mit Lounge-Charakter umgewandelt. Die Transformation ist gelungen. An alle Stadtläufer da draussen: Unbedingt den runden Tisch in der Ecke reservieren! (al) C A R T O O N 27 www.fauser.ch EVA PFIRTER VON MENSCHEN UND MEDIEN Weshalb unterstützt die Universitätsleitung das Fach Medienwissenschaft nicht? ■ Alles, was wir von der Welt wissen, wissen wir von den Medien. In der Interaktion mit Kultur, Wirtschaft und Politik spielen Medien eine immer wichtigere Rolle. Medienschaffende können mit ihrer Berichterstattung CEO’s zu Fall und Politiker in Erklärungsnotstände bringen. Oder aber einem «Musicstar» mit entsprechender Publicity zu kurzer Berühmtheit verhelfen. Die Medien suchen in ihrer Orientierungsfunktion die Wirklichkeit abzubilden und schaffen dadurch eine neue Wirklichkeit, die nur selten objektiv ist. Wer Zeitung liest oder die Tagesschau schaut, ist sich dessen kaum bewusst. Die immer stärkere Vernetzung der Welt macht uns glauben, jederzeit via Medien objektiv informiert zu sein. Den Tsunami in Südostasien scheinen wir ebenso hautnah miterlebt zu haben wie die Stimmung nach der Wiederwahl von George W. Bush in New York. Doch ist es nicht gerade dann nötig, sich den Spielregeln und Tücken der Medienmaschinerie bewusst zu werden, wenn diese immer stärker unsere eigene Wirklichkeit prägen? Ein Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft führt nicht zwingend ins Berufsfeld Journalismus oder Pressearbeit. Künftige Bundesräte, Konzerleiter und Kulturbetreiber sollten ebenso Bescheid wissen über Propaganda und Pseudo-Ereignis wie angehende Feuilletonisten. Doch leider scheinen das viele noch immer misszuverstehen: Medien sind nicht bloss interessant für Medienschaffende, sondern betreffen uns alle, durchdringen unser Leben tagtäglich - ob uns das lieb ist oder nicht. Auch die Berner Universitätsleitung scheint sich weder über Bedeutung noch Inhalt des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft im Klaren zu sein. Neben einigen medienpraktischen Kursen wird vor allem Grundlagenforschung betrieben; jene Forschung, die für die Fachhochschulen nötig ist, um Journalisten und PR-Fachkräfte seriös ausbilden zu können. Natürlich: Kommunikations- und Medienwissenschaft ist ein junges Fach. Und muss deshalb immer wieder gegen Vorurteile kämpfen. Obwohl es besser ist als sein Ruf. Während das Fach in Basel linguistisch, in Zürich publizistisch und in Lugano unternehmenskommunikativ ausgerichtet ist, zeigt das Berner Institut klar sozialwissenschaftliche Tendenzen mit Schwerpunkt Politische Kommunikation - was begründet ist durch die politische und mediale Bedeutung der Stadt Bern. Das Berner Modell ist somit keinesfalls austauschbar mit einem Kommunikations- und Medienwissenschaftsstudium in einer anderen Schweizer Stadt. Nicht zuletzt auch, weil man mit Roger Blum einen äusserst fähigen Praktiker und Vermittler an Land gezogen hat. Am Podium «Wieviel Medienwissenschaft braucht Bern?» versteckte sich Rektor Urs Würgler hinter Sparmassnahmen und fand, das «Problem Medienwissenschaft» müsse gesamtschweizerisch diskutiert werden. Konkrete Gespräche fanden bisher aber keine statt. Statt den hohen Studentenzahlen gerecht zu werden, begründet Würgler die mangelhafte Unterstützung damit, in erster Linie müssten Hauptfächer gefördert werden. Da das Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft aber keine Ausbaumittel erhält, kann es nicht Hauptfach werden. Und weil es nicht Hauptfach ist, erhält es keine Ausbaumittel. Sieben positive externe Evaluationen, eine studentische Petition und ein offener Brief des prominenten Beirats des Fördervereins für Kommunikations- und Medienwissenschaft konnten die Verantwortlichen nicht zu einer anderen Haltung bewegen. Man schämt sich nicht, zuzuschauen, wie sich der einzige Dozent mit 80 Stunden-Wochen abrackert. Und über 900 Studierende im schlechtesten Betreuungsverhältnis des Schweiz ein Fach studieren, das zweifelsohne Zukunft hat. Medien schaffen Realitäten und haben eine Macht, die unheimlich ist. Die aktuelle Hysterie um eine allfällige Volgelgrippe-Epidemie zeigt dies auf eindrückliche Art und Weise. Der Pharmakonzern Roche hat seinen Verkauf von Tamiflu um mehr als 240 Prozent gesteigert. Ohne Medien wüssten wir nicht einmal von den VolgelgrippeFällen in Kroatien und Russland. Die alten, historisch begründeten Wissenschaften haben ihre Berechtigung. Aber es wäre auch an der Zeit, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen und einem jungen Fach Raum zu geben. Gerade hier, in der Stadt Bern. Anstatt das Problem typisch schweizerisch den anderen Kantonen und ihren Universitäten zuzuschieben. 28 M E N S C H E N EVA MOLLET christoph simon Bild: Eva Mollet ... oder warum Franz Obrist neben einem Dachs läuft n Christoph Simon spricht manchmal grossväterlich: «Ich bin geworden, der ich bin.» Und gleichzeitig blitzt in seinem Gesicht schelmische Jugendlichkeit. Das verhilft ihm dazu, eher als Schlitzohr, als mit stärkeren Ausdrücken bezeichnet zu werden, wenn er eine unliebsame Handlung vollzieht. Er kann dich angucken mit glänzenden Augen, als stünde er vor dem Weihnachstbaum mit einem Haufen Geschenke. Christoph veröffentlicht nach «Franz oder warum Antilopen nebeneinander laufen» und «Luna Llena» seinen dritten Roman mit dem Titel: «Planet Obrist». Wie gelangt ein junger Autor zu so vielem Schreiben? Christoph Simon kommt in Langnau zur Welt. Er wächst in Unterseen auf. Der Vater ist Bankier, die Mutter Arztgehilfin. Christoph besucht die Mittelschule in Thun. Schon während dieser Zeit füllt er Notizhefte mit Texten und Zeichnungen. Er spielt Gitarre und unterbricht das Gymnasium, um sich auf die Jazzschule vorzubereiten. Es ist nicht der richtige Weg. Christoph kehrt an den Gymer zurück. Da ist der Schauplatz seines ersten Romans. Der Vater gibt Christoph dreitausend Franken, um Auto fahren zu lernen. Er kann bis heute nicht Auto fahren. Er investiert das Geld in eine grosse Reise. In Israel, Aegypten, Jordanien und Südamerika verdient er Geld mit Gelegenheitsjobs und er füllt Notizbücher mit seinen Erlebnissen. Er merkt, die innere Unzufriedenheit, die Suche nach dem Glück und Antworten auf die Frage, was das Leben lebenswert macht, lassen sich beiseite schieben. Primäres ist auf der Reise wichtig: Wohin führt mich der Weg? Auskommen mit wenig Geld, die Suche, nach dem nächsten Dach über dem Kopf, flüchtige Bekanntschaften, manche amourös. «Man erlebt viel unterwegs, ohne einer Ordnung oder einer Richtung zu unterliegen. Reisen verdeckt innere Strukturen.» Die Notizen von diesen Unterwegs-sein-Feelings dienen als Ausgangslage für den neuen Roman «Planet Obrist». Zurück in der Schweiz beginnt Christoph in Basel das Psychologiestudium. Nach zwei Jahren bricht er ab. Das Interesse an den Menschen bleibt, aber nicht auf eine wissenschaftliche, sondern auf eine künstlerische Art. Er schreibt sein erstes Buch. Christoph zieht nach Bern. Er wohnt im Breitenrainquartier in verschiedenen WGs. Sein zweiter Roman «Luna Llena» ist eine Liebeserklärung an das bevorzugte Quartier und an die Beiz mit dem fremdländischen Namen. Mit dem Titel hofft Christoph auf lebenslänglichen Gratiskaffee im Luna Llena. Dieser Wunsch hat sich bis heute nicht erfüllt. Das Motiv für den neuen Roman ist die weite Welt. Zumindest schafft es der Protagonist Franz Obrist bis nach Slowenien. Es ist für Christoph eine literarische Herausforderung, die verschiedenen von Franz bereisten Orte zu beschreiben. Der dritte Roman knüpft an den ersten an: Franz stürzt ab. Seine Mutter stirbt und Franz macht einen Selbstmordversuch. Der Ausweg ist das Reisen nicht alleine - zusammen mit dem Dachs. «Die verlängerte Pubertät ist das Vorrecht junger Leute, bevor sie sich in die Gesellschaft integrieren», findet Christoph Simon. Christoph ist gerade Vater geworden. Vielleicht ist das Projekt Kind, die Reproduktion, abgeschlossen oder hat gerade erst angefangen. Christoph hat ein romantisches Bild von der lebenslangen Liebe. Das tönt aber auch nach lebenslänglich. Es ist sowohl Hoffnung, wie Befürchtung. Christoph bezeichnet seine Familie lieber als Planwagen. Seine Vorbilder sind u.a. die Revolverhelden. Sie lösen ihre Probleme selber oder sterben dabei. Gelöst ist gelöst. Das Leben und das Umfeld sind der Rohstoff seiner Literatur. Das Schreiben ist die Raffinerie zur Veredelung. «Es geht mir darum, die Welt schöner zu machen. Und um Heiterkeit, die immer wieder gefährdet ist. Abgründe sind Material, um darüber zu schreiben.» Auf diesem Weg will Christoph weiter gehen. Seit dem ersten Buch kann er vom Schreiben leben. Sein Stundenlohn beträgt die letzten vier Jahre sieben Franken neunzig. Das sagt er ohne Bitterkeit. Christoph findet, er hat viel Glück, da er durch das Schreiben machen kann, was ihm gefällt. Gedanken festzuhalten, bedeutet Verwirklichung. Ein nächstes Buch zu schreiben ist seine einzige angestrebte Zukunft. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen. Seit fünf Jahren trifft sich Christoph Simon regelmässig zum literarischen Austausch mit den «Autören». Die Gruppe von vier Schreiberlingen bespricht ihre Texte. Gemeinsam suchen sie nach den Stolpersteinen. Sie verstehen das Schreiben als Prozess und distanzieren sich vom Klischee des einsamen Literaten im stillen Kämmerlein. Die «Autören» verbindet eine freundschaftliche Vertrauensbasis. Männer mögen Clubstrukturen. Christoph Simons Lieblingssatz aus dem Roman «Planet Obrist» lautet: «Ich kenne niemanden, bei dem die Oberflächlichkeit so tief sitzt, wie bei Ihnen.», sagt der Dachs zu Franz Obrist im gedanklichen Zwiegespräch. Warum ist es ein Dachs, der neben Franz Obrist läuft? «Weil Katzen und Hunde zu gewöhnlich sind, und ein Pferd ist zu gross.» meret oppenheim-brunnen ein ewiges berner diskussionsmal ei la ge : artensuite pr en ä s su en ite t ie r t ku di ltu e K rm u n ag st a z - S in on de rb ar te ns ui te 2927 artensuite 30 Ich weide meine Pilze aus... ■ «Mein Vorschlag war, eine von oben an rundum mit Wasser berieselte Säule zu machen. Um die Säule sollte eine Spirale aus unterbrochenen Rinnen laufen. Von einer Rinne in die anvon Simon Baur Simon Baur, lebt als Kurator und Publizist in Basel und Berlin. Er bereitet in Zusammenarbeit mit Lisa Wenger Oppenheim eine Publikation vor, die Teile des schriftlichen Nachlass von Meret Oppenheim vorstellt. Ab 1. Juni bis 15. Oktober 2006 zeigt das Kunstmuseum Bern eine Retrospektive Meret Oppenheim. dere sollte Wasser träufeln oder laufen. Und zwischen dieser Spirale sollte sich eine zweite mit grünen Pflanzen (Gras, Unkraut) bewachsene Spirale winden. Damit die Säule oben nicht wie abgeschnitten aussehe, hatte ich die Idee, den kleinen Rund-Pavillon darauf zu setzen. Als ganzes machte der Brunnen eher einen «romantischen» Eindruck, und ich konnte mir vorstellen, dass er sich gut in die Umgebung einpassen werde. Weil die Pflanzenspirale das vom Turm herunter fliessende Wasser zu sich herüberleitet, sollte einem, wenn man sich nahe an die Brunnensäule stellt, ein leichter Sprühregen entgegenkommen, wie in der Nähe eines Wasserfalles. (...) Darum herum, auf die dem Brunnen abgewendete Seite, sollen grössere und kleinere Felsbrocken (oder Stücke), 50 – 80 cm hoch, gestellt werden, die auch als Sitze benützt werden können.» Der obenstehende Abschnitt stammt aus einem Text mit dem Titel: «Habt Geduld», gefunden im schriftlichen Nachlass von Meret Oppenheim. Es ist dieser Geduld zu verdanken, dass der Brunnen heute noch steht, denn nach wie vor scheiden sich die Geister über den Sinn und Wert dieser Arbeit. Davon soll in diesem Text aber nicht die Rede sein, da ich eine Position bereits bezogen habe: bei jedem Bernbesuch erweise ich ihm meine Referenz, und auf die Geister kommen wir vielleicht noch, sie spielen im Werk von Meret Oppenheim eine zentrale Rolle. Die Zitate scheinen mir doch einige Hinweise auf Meret Oppenheims Gedanken zu geben, die sich in veränderten Formulierungen auch in anderen Werken finden. Aus Anlass des 20. Todestages von Meret Oppenheim, am 15. November, soll über dieses Wahrzeichen der Stadt Bern, das heute bekannter ist als der Bärengraben oder das Bundeshaus, nach gedacht werden. «Wildrose», «Kristall» und Wasserpavillon «Unterm Teich» heissen Brunnenmodelle, die Meret Oppenheim für eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern 1982 schuf. Bereits die Titel verweisen auf eine Vorstellung, das neben der realen noch eine weitere, verwunschene Welt existiere. E.T.A. Hoffmann hat einmal von sich behauptet er sei «ins Kristall gefallen», womit er auf seine Jugend in einer surrealen Welt anspielte. Doch auch die Wildrose lässt an Dornröschen denken, hinter deren Dickicht eine eigene Welt im Tiefschlaf ruhte und der Pavillon referiert auf eine arkadische Landschaft, der solche Gebäude eigen sind. In den Zeichnungen, die zum Brunnen in Bern erhalten sind, finden sich pflanzliche Elemente, aber auch die Spiralen und das Wasser und jeweils auch der oben drauf sitzende Pavillon. Einige Monate nach diesen Arbeiten, entsteht im August 1981 die Arbeit «Blaue Blume auf Schwarz», die als Schlüsselwerk gesehen werden kann, bei der Frage, um was es Meret Oppenheim mit ihrem Brunnen gehen könnte. Auch in einer Zeichnung, die im Herbst desselben Jahres entstand ist die Situation der Gesamtanlage zu sehen, wobei sie die Blickrichtung so gewählt hat, dass der Brunnen vor den entlaubten Bäumen im Hintergrund steht. Je nach Standort, den man vor dem Brunnen einnimmt, ändert sich auch seine Aussage: Doch immer bleibt der locus amoenus das Hauptthema, das ist kein Zufall. In der Einleitung zum Katalog, anlässlich des Legats Meret Oppenheims an das Kunstmuseum Bern, hat Christoph von Tavel die künstlerische Qualität der Künstlerin treffend charakterisiert: «Im Unterschied zu ihren meisten Zeitgenossen hat sie die Formen ihrer Aussage nicht kontinuierlich vervollkommnet, sondern hat jedes Werk aus schöpferischen Urgründen, Träumen, Assoziationen, Spielen, Gedanken neu erstehen lassen. So besteht eine wesentliche Qualität dieser Künstlerin im unerwarteten, immer wieder wechselnden Zusammenfügen und Aneinanderreihen verschiedener Materialien und Inhalte in bildnerischer und dichterischer Form.» Das obenstehende Zitat Meret Oppenheims und die eben zitierte Charakterisierung implizieren, dass der Brunnen aus verschiedenen Elementen besteht, die wie Zitate aus älteren Arbeiten in diesen einfliessen. 1939 entsteht das Bild «Die Waldfrau». Ein Kind macht mit dem linken Arm eine Geste in Richtung einer gekrönten. übergrossen Figur, die mit Blättern und Blumen bedeckt, halb Mensch halb Schlange ist und zwischen den Bäumen eines Waldes hindurch geht. Gut zwanzig Jahre später entsteht der «Berggeist», eine zylinderförmige Figur, die auf Armhöhe wie eine Bauchlade vor sich trägt und deren obere Öffnung von einer hutähnlichen Bedeckung verschlossen ist. Ummantelt ist die Figur von Steinsplittern. Oder die Arbeit «Wolken auf Brücke», die sechs asymmetrische Formen zeigt, die auf unterschiedlich gedrechselten Rohren sitzen und eher an Pilze denn an Wolken erinnern. Analogien sind nicht bloss in der äusseren Erscheinung auszumachen. Das Ambiente des Pavillons findet eine Entsprechung im «Belvedere» jenem kleinen Gartenhaus neben der Kirche in Carona, in das sich Meret Oppenheim gerne zurückzog, oder auch in der Beschäftigung mit Spirale und Schlangenbewegungen, mit dem Wachsen und Vergehen, in Gedichtstrophen wie «ich weide meine Pilze aus...». Wenn Meret Oppenheim über ihren Brunnen sagt: «ich konnte mir vorstellen, dass er sich gut in die Umgebung einpassen werde», so könnte sie, wenn wir uns den Standort vergegenwärtigen, mit dem Brunnen an einen surrealen oder besser subversiven Angriff gedacht haben. Neben Polizeikaserne, einem trostlosen Platz und umgeben von Schnellstrassen wirkt dieser Brunnen, wie eine Gegenwelt, ein «Paradies-Gärtlein» im städtischen Ambiente, in dem neben bunten Blumen, Schmetterlingen und kleinen Wolken auch eine kleine Ringelnatter und ein Schar weidender Waldpilze gesehen wurden. Nun fehlen nur noch die von Meret Oppenheim vorgesehenen Steine, die zum Verweilen einladen. artensuite 3127 Wie es ist. ■ Bild, Bewegung und Sprache. Damit beschäftigt sich seit gut 60 Jahren Robert Frank - geboren 1924 in Zürich. Mit «Les Américains» (1958) wurde Robert Frank berühmt. 83 Fotografien von Dominik Imhof nahm Frank in diesen Fotoband auf, nur ein Bruchteil der über 20ʻ000 Aufnahmen, die er zwischen April 1955 und Juni 1956 auf seiner Reise durch 48 Staaten der USA gemacht hat. Er war nicht der erste Fotograf, der sich mit den USA des 20. Jahrhunderts beschäftigte (und schon gar nicht der letzte). Bereits in den 30er Jahren fotografierten und dokumentierten Fotografen die amerikanische Bevölkerung der Depressionszeit. Oder Walker Evans, der 1938 einen Fotoband über Amerika publizierte. Doch Frank schafft etwas ganz Neues. Unscharf, grobkörnig und kontrastarm sind die Fotografien. Nicht von Distanz und Ironie, «nobler Zurückhaltung» und «erhellender Untertreibung» (wie Susan Sontag es ausdrückt) gekennzeichnet, wie diejenigen von Evans. Sie sind lyrisch und sind zutiefst subjektiv, aber auch ungeschönt. Als der Band 1959 in den USA unter dem Titel «The Americains» erschien, musste Frank harsche Kritik entgegennehmen: Anti-amerikanisch seien seine Fotografien, dabei hielt er doch nur fest, wie es ist. Aber gerade sein subjektiver Blick zeigte ungeschönt die Leere Amerikas am Ende der 50er Jahre, die dunklen Seiten des «American way of life» wie sie vorher vielleicht nur vom «Film Noir» hervorgehoben wurden. Die Kehrseiten des «American dream». Die USFlagge, amerikanische Statussymbole und den Patriotismus der Zeit hält er fest; assoziativ sind die einzelnen Fotografien verbunden, mehr an wiederkehrenden Themen und Motiven festhaltend, als an einer Erzählung. Kein Anfang und kein Ende. Keine erzählerische Situation, wobei ein Bild auf das nächste und das vorhergehende verweist. Vielmehr sind es Zeit-Bilder, verweisen auf etwas dazwischen, auf eine Bewegung. Diesen Moment der Bewegung thematisiert Frank 1958 in der Serie «New York Bus». Aus dem fahrenden Bus schiesst er scheinbar zufällige Schnappschüsse von New York, seinen Bewohnern, Strassen und Gebäuden. Gerade in diesem Zufälligen erscheinen die Fotografien inszeniert, in ihrer Spontaneität komponiert. Der Blick zwischen zwei Bussen hindurch, hinein in eine für New York so typische Strassenschlucht - im Gegenlicht. Und dazwischen ein einzelner Mann, über die Strasse hastend, einen unendlich langen Schatten ziehend. Poetisch und schlicht schön. Noch 1947 war Frank in New York und arbeitete als Modefotograf am renommierten Magazin Harperʻs Bazaar, was ihn kaum befriedigte: zu eingeschränkt die Möglichkeiten, zu stark gebunden an das Magazinformat. Also brach Frank aus und auf, reiste bis Mitte der 50er Jahre durch Südamerika, Europa und die USA. Er machte Fotoserien über Peru und über Paris, über die einfachen Arbeiter, Banker und spielenden Kinder im Nebel durchfluteten London, oder über Ben James, einen Minenarbeiter in Wales. Dazwischen steht aber noch eine oft ausgeblendete Fotoserie, die nun in Winterthur für einmal zu sehen ist und damit die Ausstellung wunderbar abrundet. Frank dokumentierte (wenn man dies bei Frank überhaupt so nennen will oder kann) die Appenzeller Landsgemeinde in Hundwil. Hier gibt es noch ein Anfang und ein Ende. Eine Erzählung. Eine Form, die Frank in seinen übrigen Arbeiten bewusst negiert. Und plötzlich etwas vollkommen Neues. Aber auf keinen Fall überraschend. Was Frank in Form der Fotografie bereits thematisiert hatte - Bild und Bewegung -, beschäftigt ihn ab 1959 im Medium des Films. Aus Angst sich in der Fotographie zu wiederholen, wollte er etwas Neues versuchen, die erweiterten Möglichkeiten des Films kamen ihm da nur entgegen. Zur Wahl von Ausschnitt, Licht, Kontrast, kommt jetzt noch Ton und Sprache hinzu. Sein erster Film «Pull My Da- isy» von 1959 ist auch ein Dokument der Beat-Generation um Jack Kerouac (der das Vorwort zu «The Americans» schrieb) und Allen Ginsberg. Zwar im Stil eines Home-Movies gedreht - wie so viele von Franks Filmen -, doch in Tat und Wahrheit präzis inszeniert, im gut ausgeleuchteten Studio, teils mit Schauspielern. Immer wieder bricht Frank mit den Sehgewohnheiten des Mainstream-Kinos in seinen Filmen. Sie sind nicht Fiktion und nicht Dokumentarfilm, das Objektive geht ihnen ab und an seine Stelle tritt der subjektive Blick der Kamera. Halbdokumentarisch und halbautobiografisch. Die eigene Person, seine Familie und seine Schicksalsschläge (seine beiden Kinder sind früh gestorben) treten immer öfter ins Zentrum. Seit den 70er Jahren ist aber parallel zum Film auch die Fotografie wieder ein Thema, jetzt in Form des Polaroidbildes. Nicht mehr dem Einzelbild, sondern assoziativ verbundenen Bildfolgen widmet Frank seine Aufmerksamkeit. Eine ganz eigene Art der Collage entstand: Bild und Sprache. Sprache als Orts- und Zeitangaben, als Einzelwörter und Wortreihen eingeschrieben in Polariods: «Blind. Love. Faith»! Bild, Bewegung und Sprache. Das subjektive Bild eines Künstlers, der zeigt, wie es ist. Bewegung, die zwischen Einzelbildern aufflackert und in die Beschäftigung mit dem bewegten Bild des Films mündet. Sprache, die in Bilder integriert ist - als Verstärkung des Subjektiven. Robert Frank als Künstler, der nie aufgibt und nie aufhört, das Medium wechselt und sich doch treu bleibt: Ganz subjektiv. Bild: From the Bus, 1958 Silbergelatine-Abzug, 11x16.1 cm (c) Robert Frank/ Courtesy Pace/ MacGill Gallery, New York Robert Frank: Storylines Fotomuseum Winterthur und Fotostiftung Schweiz, Gützenstrasse 44/45. Eine Ausstellung organisiert von der Tate Modern in Zusammenarbeit mit dem Fotomuseum Winterthur und der Fotostiftung Schweiz. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11.00-18.00 Uhr, Mittwoch 11.00-20.00 Uhr. Bis 20. November 2005. Zur Ausstellung erschien das Buch «Robert Frank: Storylines» und der Essayband «Essays über Robert Frank». Buch-Tipp: Susan Sontag, «Über Fotografie». Erstmals erschienen 1977. artensuite 32 Farben wie an einem Wintermorgen ■ Die Galerie Tom Blaess zeigt Arbeiten, die im eigenen Druckatelier entstanden sind. Tom Blaess wird nächstes Jahr fünfzig Jahre alt und fand den Zeitpunkt geeignet die letzten fünfzehn Jahre Revue passieren zu lassen. Eine Retrospektive mit Wervon Helen Lagger Retrospektive Arbeiten des Druckateliers/ Galerie Tom Blaess 1990-2005 Uferweg 10, 3013 Bern Vernissage: Sonntag 6. November 11-17 h Bis am 27. November 2005 ken von mehr als zehn renommierten Kunstschaffenden. Der aus den USA kommende Tom Blaess ist gelernter Steindrucker, Künstler und Galerist. Seine Lehre absolvierte er in San Francisco bei Ernest F. de Soto. Begeistert erzählt er von den dort entstandenen Kontakten und der Ausrichtung auf südamerikanische Kunst, die ihn auch jetzt noch fasziniert. Die eigene künstlerische Arbeit hat Tom Blaess zurückgestuft. Das Wichtigste ist ihm zurzeit das Druckatelier zu führen und die Künstler beim Arbeitsprozess zu begleiten. Die Beziehung zwischen Künstler und Drucker sei sehr delikat. Der Drucker berät und schlägt vor, darf aber niemals zu direkt auf das Werk Einfluss nehmen. Es ist ein kooperativer Prozess, in welchem der Drucker das Medium so nutzt, dass dem Feingefühl der Kunstschaffenden am besten entsprochen werden kann. Der Drucker fungiert als technischer Berater und hilft Texturen, Linien und malerische Formen herauszuarbeiten. Vor fünfzehn Jahren hat Tom Blaess sein Steindruck-Atelier in Merligen im Berneroberland eröffnet. 1999 konnte er schliesslich am Uferweg in Bern die ehemalige Gassner-Brauerei beziehen. Er hat mit unzähligen Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet. Die dabei entstandenen Lithographien und Monotypien werden jetzt in einer Retrospektive präsentiert. Darunter Werke der exzellenten Zeichnerin Minna Resnick aus New York oder des vor zwei Jahren verstorbenen Künstlers Harald Studer. Dieser bevorzugte Pflanzenmotive und stellte in seinen Bildern den Mikrokosmos der Flora dar. Die Textur eines Blattes wird bei Harald Studer zu einem ornamentalen Muster. Die Arbeiten anderer Künstlerinnen und Künstler bestechen vor allem durch sensible Farbkombinationen oder Mix-Media-Technik. Einige Kunstschaffende stammen aus dem Ausland: Gustavo Rivera aus Mexiko, Patsy Payne und Minna Resnick aus den USA und Marcin Kaligowski aus Polen. Tom Blaess hat den Schwerpunkt seiner Retrospektive allerdings auf Schweizerkünstler, oft aus Bern stammend, gesetzt. So werden beispielsweise die zart-nebulösen Arbeiten Kotscha Reists zu sehen sein. Dieser benutzt Farbtöne wie man sie an einem lieblichen Wintermorgen sieht. Bilder über denen eine Art Schleier zu hängen scheint. Kotscha Reists Motive haben oft Bezug zu eigenen Erinnerungen. Dies geschieht sehr subtil. Ein Stück Parkett der elterlichen Wohnung in Muri kann ebenso zu seinem Sujet werden wie ein faszinierender Schatten, den er in einem Pressebild gefunden hat. Auch mit Babette Berger, die vor allem durch ihre mit Oelfarbe gemalten Teppiche bekannt wurde, hat Tom Blaess zusammengearbeitet. Entstanden ist unter anderem ein Bild mit Mikado-Stäbchen. Das Bild hat etwas hyperreales, als könnten wir die Stäbchen packen. Die Arbeit ist gleichzeitig ein Produkt des Zufalls und der Ordnung. Das Bild ist konstruiert, wirkt aber als hätte tatsächlich ein Spieler die Hölzer zufällig hingeworfen und bei genauerem Hinsehen entdeckt der Betrachter kleine Unvollständigkeiten, welche die Illusion des Bildes durchbrechen. Tom Blaess kam nach Bern weil es Zeit war «sein eigenes Business» zu machen. Jetzt kann er bereits fünfzehn Jahre Revue passieren lassen und hat seinen Traum, ein Druckzentrum mit internationaler Ausstrahlung zu führen, verwirklicht. Kein American Dream, sondern eine umgekehrte Immigration. Tom Blaess lebte als Kind in Europa und wollte an den Ort des Geschehens, sprich in die Alte Welt, wo das Drucken entstanden ist, zurückkehren. artensuite 33 Willkommen in Zombietown - Knut Åsdam ■ Grossstädte mit ihren Unorten, Plätze die kalt und leer sind, auch wenn sie von Menschen nur so wimmeln. Menschen, die vorbeihasten, auf der Suche, nach was, wissen sie selbst nicht und finden werden sie es sowieso nie. Die Anonymität der Grossstadt und der Versuch des Einzelnen sich darin einen Platz zu suchen, die Wechselwirkung von Individuum, Gruppe und Raum stehen im Mittelpunkt der drei Videoarbeiten des Norwegers Knut Åsdam (1968 geboren), die Philippe Pirotte in der neuen Ausstellung in der Kunsthalle Bern präsentiert. Die Kunsthalle ist dazu zu einer einzigen grossen Installation geworden: Die Einganshalle ist leer. Der Hauptsaal zu einem nächtlichen Park umgestaltet. Töne sind bereits hier zu hören. Wer sich durch den Park wagt, gelangt zu den zwei Videoarbeiten «Blissed» und «Filter City». Die Videoarbeiten sind wenig zugänglich. Sie sind relativ lang, in englischer Sprache (ohne Untertitel). In «Blissed« - einer Arbeit, die für die Kunsthalle entstanden ist - hören wir verschiedenen jungen Menschen in ihren Diskussionen über ihre Beziehungen innerhalb der Clique zu, über ihre Freundschaft, über Gruppendynamiken. Unterbrochen wird dieser «Erzählstrang» (der sehr filmisch-narrativ wirkt) von langen Einstellungen, meist langsamen Kameraschwenks, welche Ansichten einer Stadt zeigen. Damit rückt die Stadt als weiterer Protagonist ins Zentrum, ist gleichgewichtig den Menschen, die der Betrachter in ihren ganz intimen Gesprächen belauscht. Und schnell einmal wird deutlich, wie wichtig die Stadt ist: die Orte und eben Unorte, in denen sich die Protagonisten aufhalten, die sie durchschreiten. Einer dieser Unorte ist natürliche auch der nächtliche Park, tagsüber ist er der Ort zum Verweilen, wo man sich trifft und Kinder spielen. Nachts das Gegenteil, nur wer Verborgenes und Unerlaubtes tun will, hält sich im nächtlichen Park auf. Die zweite Arbeit «Filter City» ist noch intimer. Hier sind wir Zeugen von Gesprächen zweier junger Frauen. Dabei ist spannend, wie sich die beiden in ihren Gesprächen einbringen, wie sie Rollen übernehmen und wie auch hier ihre Umgebung - ein Spielplatz zum Beispiel - einbezogen ist. Die Videoarbeit «Abyss» (im Untergeschoss) zeigt schiesslich ein Kaleidoskop von Eindrücken: stets Stimmen, graue Leinwand, und wieder junge Menschen, jedoch aus ihrer Umgebung losgelöst, im luftleeren Raum schwebend. Ein wenig Ausdauer ist von Nöten; die Ausstellung ist sperrig; sobald man jedoch den Zu- und Eingang gefunden hat, werden sie spannend, gehen tief und lassen keinesfalls kalt. Bern ist ja nicht wirklich ein guter Boden für Gegenwartskunst - die eher dürftig spriesst - und gerade die Kunsthalle ist arg bedrängt vom Progr einerseits und wenn denn das Gegenwartskunst-Projekt am Kunstmuseum ausgereift ist, wird die Lage noch einmal schwieriger. Oder aber: die Institutionen nehmen diese neue Landschaft als Chance und gehen auch in Sachen Kooperation neue Wege. sigkeit der Bildstrukturen durchbricht. Schwingungen, Spiralbewegungen und Spiegelungen geben den Bildern Tiefenwirkung und fordern das Auge des Betrachters. Was auffällt ist die Affinität des Holzschneiders zu Wasser oder zu wasserähnlichen Formen. Das häufig auftauchende Blaugrau, die sanften Wellenlinien und eiskristallähnlichen Formen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Holzschnitt-Kalender 2006. Die Farbtöne sind grundsätzlich unserer Umwelt entlehnt: grün, braun, blau-meist mit grau vermischt-erinnern an Bergseen, Moosflechten und Gestein oder Geröll. Der 1942 geborene Kunstschaffende arbeitet in drei Ateliers in Bern, Huémoz und Schmitten. Nach einer Lehre als Typograph genoss der Thuner Ausbildungen an den Schulen für Gestaltung in Bern, Vevey und Genf. Nebst diversen Stipendien unternahm Thönen Studienreisen nach Marokkko, Ägypten, Perus, Indonesien und Indien. Heute erteilt er neben seiner künstlerischen Tätigkeit Holzschnittkurze im M-Arthaus, an der Hochschule der Künste in Bern und der Thuner Malschule. Nebst dem periodisch erscheinenden Holzschnittkalender gibt Martin Thönen auch bibliophile Holzschnitt-Editionen heraus und präsidiert die Xylon Schweiz. Knut Åsdam: The Care of the Self Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz 1. Geöffnet Mittwoch bis Sonntag 10.00-17.00 Uhr, Dienstag 10.00-19.00 Uhr. Bis 4. Dezember 2005. Zarte Farben, bewegte Strukturen ■ Ende November erscheint der 41. Original-Holzschnitt-Kalender des Berner Holzschneiders Martin Thönen. Alljährlich gibt der in Thun geborene Künstvon Eva Pfirter ler zusammen mit seiner Frau im Eigenverlag einen Kalender heraus, der sich durch zarte Farbtöne, feine Linien und verspielte Strukturen auszeichnet. Die Blätter, die Holzschnitt-Liebhaber ein Jahr lang begleiten, befinden sich allesamt im Spannungsfeld zwischen «Chaos und Ordnung». Die 13 hand signierten unaufdringlichen Farbholzschnitte tragen verträumte Namen, die vor allem auf die Bildstruktur aufmerksam machen: «Marmoriert», «Kalligraphisch», «Verflüssigt». Ideen für die Struktur der Holzschnitte bietet die Natur; Muscheln, Pflanzen und Eisblumen stehen Pate für Thönens Bildwelt. Hinzu kommt das Element der Bewegung, welche die Gleichmäs- Der Original-Holzschnitt-Kalender 2006 erscheint in einer Auflage von 340 Exemplaren im Format 36 auf 50 Zentimeter. Die Ausstellung von Martin Thönen «Chaos und Ordnung» in der Galerie «Art + Vision» beginnt mit einer Vernissage am Samstag, 26. November und dauert bis zum 7. Januar 2006. artensuite 34 GALERIEN IN BERN annex14 - Galerie für zeitgenössische Kunst Junkerngasse 14 3011 Bern // Tel 031 311 97 04 Mi - Fr 13:00-18:30 / Sa 11:00-16:00 Andreas Naun 05.11.05 - 17.12.05 Art + Vision Junkerngasse 34 3011 Bern // Tel 031 311 31 91 Di - Fr 14:00-19:00 / Do 14:00-21:00 / Sa 11:00-16:00 Martin Thönen Holzschnitte, bibliophile Edition 26.11.05 - 07.01.06 Bärtschihus Gümligen Dorfstrasse 14 3073 Gümligen Sa 19.11.05 /10:00-20:00 & So.11.05 / 10:00-17:00 Kunst auf den Würfel gebracht Vernissage 18. November // 19:00 Es spricht Jacqueline Keller, Kulturmanagerin 18.11.05 - 20.11.05 Bendicht Friedli 01.11.05 - 26.11.05 Kornhausforum Forum für Medien und Gestaltung Kornhausplatz 18 3011 Bern // Tel 031 312 91 10 Das Leben bis zuletzt gestalten 03.11.05 - 10.12.05 Design Preis Schweiz 05.11.05 - 08.01.06 Postgasse 20 3009 Bern // 031 311 53 76 Mi - Fr 16:00-17:00 / Sa & So 11:00-17:00 Niemand weiss Alexandra Kunz malerei, maja Wagner Malerei & Hans Weiss Fotografie. Vernissage: Dienstag 15.11.05 / 19:00 Mit Musik: Niemand weiss Stauffacher Buchhandlung 3011 Bern Tel 0844 88 00 40 Ladenöffnungszeiten Gerechtigkeitsgasse 76 3011 Bern // Tel 031 311 48 49 Mo - Fr 09:00-18:30 / Do 09:00-20:00 / Sa 09:00-16:00 Heidi Reich 03:11.05 - 120.12.05 Galerie Tom Blaess Kunstraum Oktogon Uferweg 10 3018 Bern // Tel 079 222 46 61 Retrospektive 1990 - 2005 Vernissage: Sonntag 6. November / 11:00 - 17:00 Do - So 12:00 - 17:00 Finissage: Sonntag 27. November / 11:00 - 17:00 Aarstrasse 96, 3005 Bern Fr 16:00-19:00 & Sa 11:00-15:00 Landʻs End Druckgrafik von jaspoer Johns, Barnett Newman, Brice Marden, Robert Rauschenberg Vernissage: Freitag 16. November / 18:00 - 20:00 Galerie Beatrice Brunner Nydeggstalden 26 3011 Bern // Tel. 031 312 40 12 Mi und Fr 14:00-18:00/ Do 14:00-20:00/ Sa 11:00-16:00 Galerie Kornfeld Laupenstrasse 41 3001 Bern // Tel 031 381 46 73 www.kornfeld.ch Mo - Fr 14:00-17:00 / Sa 10:00-12:00 Karl Gerstner Altes und Neues - Zwei und Dreidimensionales - Originales und Multiples 19.10.05 - 12.12.05 KunstQuelle Galerie Brunngasse 14 3011 Bern // 079 818 32 82 Mi & Fr 14:30-18:00, Do 16:00-20:00 & Sa 13:00-16:00 Walter Fuchs Die neue Galerie in Bern ONO Bühne Galerie Bar Gerechtigkeitsgasse 31 3011 Bern // Tel 031 312 73 10 Fr und Sa 13:00-17:00 - Nachtgalerie: Mi - Sa ab 22:00 Gruppenausstellung «Barbie & Ken» 01.11.05 - 30.11.05 Galerie Ramseyer & Kaelin PROGR Zentrum für Kulturproduktion Junkerngasse 1 3011 Bern // Tel 031 311 41 72 Mi - Fr 16:00-19:00 / Sa 13:00-16:00 Speichergasse 4, Bern «Bestform 05» MI-SO 14-17 03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone «How to avoid corner corner love and win good love from girls» MI - SO 14-17 03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone Steinbrüchel (Zürich) / Bloom (Basel) Leerraum [ ] SOUNDINSTALLATION: 03.11.05 - 27.11.05 Treppenhaus und Ausstellungszone Galerieneintrag: Auf den Seiten «Galerien in Bern» werden ab November 2005 nur noch Galerien publiziert, welche unsere jährliche Publikationsgebühr bezahlt haben. Wer sich hier eintragen lassen möchte, melde sich bei der Redaktion: Telefon 031 318 6050 oder redaktion@ensuite.ch. Militärstrasse 60, Bern Mi-Fr 16-19 & Sa 12-16 Lisa Späni & Martina Späni 21.10.05 - 11.11.05 Stadtgalerie Hodlerstr. 22 + 24A 3011 Bern // Tel 031 311 43 35 MI-SO 14-17 Touched - Sybilla Walpen 15.10.05 - 20.11.05 Künstlerhaus Kunstreich ESPACE Indigo RAUM Temporäre Ausstellungsräume Atelier Postgasse Postagsse 6 3011 Bern Di - Sa 14:30 - 17:30 Roland Kocher Die Kirchen von bern 27.10.05 - 19.11.05 Alterszentrum Viktoria Schänzlistrasse 63 Bern Täglich 08:00-17:30 Nicole Sonderer Oelmalerei Vernissage: 05.11.05 / 15:00-18:00 Galerie Silvia Steiner Biel Seevorstadt 57 2502 Biel // Tel 023 46 56 Mo, Do, Fr 14-18h & Sa 14-17h & So 20.Nov 14-17 Alfred Wirz Gemalte Welt Vernissage: 19. November 17:00-19:00 19.11.05 - 17.12.05 Kunstforum Solothurn Schaalgasse 9 4500 Solothurn // Tel. 032 621 38 58 Do & Fr 15:00 - 19:00 / Sa 14:00 - 17:00 Sybille Onnen Leiber - figürliche Plastik und Zeichnung 10.09.05 - 29.01.06 Westrich Bahnstrasse 22 3008 Bern 10.11.05, 17–22 Uhr, 11.11.05, 15–22 Uhr, 12.11.05, 10–20 Uhr, 13.11.05, 10–17 Uhr Angst Die Gaf 5.6 (Gruppe autodidaktischer FotografInnen – Bern) lädt ein zu sieben fotografischen Arbeiten zum Thema ANGST. artensuite 35 Dominik Imhof Augenspiel «Angst» von der GAF 5.6 im Westrich, Bahnstrasse 22, 3008 Bern - Bild: zVg. Andreas Naun in der Galerie annex14 - Bild: zVg. ■ An dieser Stelle soll von nun an eine Kolumne entstehen, in der Augenspielereien im Zentrum stehen: Natürlich Kunst, und alles was in ihrer Umgebung und im Zusammenspiel mit ihr entsteht, sich entwickelt, verstaubt und zu Recht auch wieder vergeht und vergessen wird. Der Titel «Augenspiel» verweist auf Elias Canettis gleichnamiges Buch, worin er seine Wiener Jahre beschreibt, ein Bild des Lebens im damaligen Wien malt und schildert, was in Künstler- und Intellektuellenkreisen geschah. In diesem Sinne sollen hier - ganz bescheiden - «Kunstgeschichten» aufgegriffen werden, die Bern und Berns Kunstszene (wenn es sie denn gibt) bewegten und bewegen oder eben gerade nicht. Fürs Erste der Blick zurück, auf den Berner Kunstsommer: Einiges ist geschehen und neu entstanden. Nach mehr als einem Jahr blüht der Progr immer noch, ist zum Magneten geworden, wo Kreativität zuhause ist. Hoffen wir er bleibt etwas abseitig und wird nicht in den institutionalisierten Betrieb aufgesogen. Im Monument im Fruchtland konnte bereits vor einiger Zeit der 100ʻ000 Besucher begrüsst werden, aber wie lange dauert der Besucherstrom wohl an? Und das Kunstmuseum Bern hat mit «Mahjong» dem ZPK die Stirn geboten, auch hier war das Interesse gross. Die nächsten Monate wird es an diesem Ort wohl wieder etwas stiller werden. Die ehemaligen Konkurrenten - die Streitigkeiten des letzten Jahres sind noch nicht ganz vergessen scheinen sich zusammengerauft zu haben, Kooperation ist angesagt. Gut so! Und wenn wir gerade beim Kunstmuseum sind, da war doch was. Natürlich die Kontroverse um «Ruan». Dieses Ereignis hat einige Fragen aufgeworfen: Was darf man zeigen und was nicht? Oder: Was darf ein Künstler produzieren und was nicht? Oder: Was wollen wir sehen und was nicht? Muss ein Museum oder ein Ausstellungsmacher Kunstinteressierten gewisse Dinge vorenthalten, weil sie jemanden verletzen könnten oder darf er mit der Mündigkeit der Besucher rechnen, die selbst entscheiden, was sie sehen wollen? (Sicher sollten die Verantwortlichen vor Ausstellungsbeginn ausreichend über ihre Exponate informiert sein!) Jetzt ist die Ausstellung beendet, der Fötus nicht wie von gewisser Seite erwünscht begraben, und die Fragen bleiben aktuell: Nach Hirschhorn und «Ruan» war es im Oktober Pipilotti Rists Biennale-Beitrag, der für Aufruhr sorgte (und geschlossen wurde). 36 L E T Z T E L U S T S E I T E Hinweis: Die Texte auf der letzten Lustseite sind nicht ganz jugendfrei. Wir bitten die LeserInnen unter 18 Jahren, diese Texte aufzubewahren und erst bei bei voller Reife zu lesen. ■ wenn ich an dich denke, dann kommt mir vielleicht ganz als erstes der geruch des gechlorten wassers in den sinn. die tiefe blauheit und die lichtreflexe im wasser. ich schwimme unter und über und neben dir, mal ganz nah, dann wieder weiter entfernt. unsere haut berührt sich nicht, nie, aber das nebeinander-gleiten ist wie eine vorwegnahme späterer berührungen. wie ein geträumtes zusammensein, ein schwereloses, sorgenloses. am rand des beckens dann sehen wir uns zum ersten mal richtig an. sehen unsere körper mit den wassertröpfchen als versprechen, dass wir zusammen nackt sein werden und dass die glitzernde feuchtigkeit eine andere sein wird. dass wir uns ausziehen werden, dass wir inmitten von anderem licht in einem bett liegen werden. unser summen und das leise lächeln mit geschlossenen augen wird unsere neue begleitmelodie. wir erzählen und fragen, sehen uns an, entdecken uns vorsichtig, geniessen die sonnenstunde, wie wenn sie ein nicht endender tag wäre. wochen später liegen wir nackt auf einem bett, scheu und doch hemmungslos. beschnuppern uns, trinken einander und lecken die salzige, warme sommerhaut. unsere feuchten körper bewegen sich wieder wie im wasser, unter, über und nebeneinander. und danach dann schwimmen wir im fluss und du versprichst, mich zu retten, falls ich ertrinken möchte. wir lassen uns treiben und berühren uns manchmal. und plötzlich ist rund um uns herum herbst. klare, blaue himmel, morgennebel und auch kälte; schon jetzt, überraschend. und dein körper glitzert nicht mehr. die lust kommt mit in den herbst, verlässt das unbeschwerte, leichte und sommerliche. ich sehe dich, wirklich dich, im harten tageslicht. kein weichzeichner, keine abendsonne. es ist zeit, genau hinzuschauen und präzise zu werden. kein um-dich-herum-tauchen und spielen mehr, kein lautes lachen und summen, eher ein feines lächeln in den mundwinkeln und eine beginnende melancholie. dich verlieren, ohne dich je zu besitzen? die lust wird fordernd, will dich noch vor dem winter in besitz nehmen. deinen körper, ganz, jetzt, schnell, ohne vorspiel, ohne erkunden, ohne rücksichtnahme. ich will dich in mir, will dein gewicht auf mir. sofort und ohne vorher. und ich will, dass du dir nimmst, was dir eh gehört, und ich will mir auch nehmen, was meines ist. und das bist du, du als ganzes. ich imprägniere dich mit mir und du mich mit dir. du gehörst mir und ich will dich besitzen. jeden zentimeter von dir und jedes härchen, jeden speicheltropfen, jede pore, jeden atemzug und gedanken, jeden blick aus deinen augen und jedes wort. das alles gehört mir jetzt und für immer – ich gebe nichts mehr her und teile auch nicht. kein kuschelfest ist das, es ist rohe und unverfälschte gier. du presst mich mit deinem körper einen kurzen, gefährlich geheimen augenblick an eine wand: deine herbsthände auf meiner nackten brust, dein geschlecht an meines gedrückt, kein raum auszuweichen, wildes tasten und küssen. in einem park, im wald, oder auf einer toilette: überall, wo wir ein paar minuten zusammen sein können, nehmen wir uns soviel wie möglich. deine hand ist dauergast auf und in mir, unsere körper sind wund vor sehnsucht, unsere nerven liegen bloss und warten auf segnendes streicheln. wir schreien, wir schwitzen, wir atmen schnell und laut. die lust taucht in sekundenschnelle auf und kühlt sich nie ganz ab. angst. einsamkeit. ein tiefes misstrauen und ebensolche geilheit. in verzweifelter umarmung warten wir auf den winter. (vonfrau) impressum ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich als Gratis- und Abonnentzeitung. Auflage: 10‘000 / davon 1‘300 Aboversand Adresse: ensuite – kulturmagazin; Sandrainstrasse 3; 3007 Bern; Telefon 031 318 6050; mail: redaktion@ensuite.ch Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Stephan Fuchs (sf) // Helen Lagger, Isabelle Lüthy (il), Till Hillbrecht (th), Dominik Imhof (di), Andy Limacher (al), Marta Nawrocka (mn), Eva Mollet, Eva Pfirter, Nicolas Richard (nr), Sarah Stähli (ss), Sara Trauffer, Simone Wahli (sw), Sarah Elena Schwerzmann (ses); Kathrina von Wartburg (kvw), Sonja Wenger (sjw), Vonfrau (Redaktion) Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Telefon 031 312 64 76 Agenda: bewegungsmelder, Bern, allevents, Biel; ensuite - kulturmagazin Abonnemente: 45 Franken für ein Jahr/ 11 Ausgaben. 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Die Texte repräsentieren die Meinungen der Autoren/innen, nicht jene der Redaktion. sandrainstrasse 3 3007 bern +41 (0)31 318 6050 Copyright für alle Informationen und Bilder liegt beim Verein WE ARE in Bern und interwerk gmbh.
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