- HILTI Foundation

Transcription

- HILTI Foundation
ohne
Fenster
ohne
Türen*
Jahresbericht 2014
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Schaan, März 2015
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4
Editorial
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Kultur und Wissenschaft
Sozialer Wandel mithilfe
von Musik
Was vor vierzig Jahren in Venezuela
als Vision begann, erobert heute die Welt.
Ein Bericht über eine beeindruckend
humane Idee und ihre Folgen in Peru.
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Gesellschaftliche Entwicklung
Der Zukunft ein Haus bauen
Hilti-Lehrlinge sind nach Bosnien gefahren, um in Srebrenica zwei Holzhäuser zu
bauen. Sie haben viel gearbeitet und viel
gelernt. Zurückgekommen sind junge
Menschen, die plötzlich anders über sich
und ihre Welt denken.
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Katastrophenhilfe
Medizinische Hilfe
in Extremsituationen
Die Hilti Foundation unterstützt die
Tätigkeit von Médecins Sans Frontières
in der Syrienkrise. Ausserdem hat die
Stiftung zwei bahnbrechende Innovationen finanziert, die vielen Menschen
das Leben retten werden.
Fenster ohne Türen
* ohne
In Bosnien sind die Spuren des
Krieges weiterhin sichtbar.
Besonders erschütterte die
Hilti-Lehrlinge, dass Menschen
in Srebrenica noch immer in
halbverfallenen Häusern ohne
Fenster und ohne Türen
leben.
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Zahlen & Fakten
Strategie & Zielsetzung. Sechs Grundsätze
für erfolgreiche Projekte. Finanzen.
Organisation.
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Hilti
Foundation
2014: Hilfe,
die bleibt.
Egbert Appel
Präsident des Stiftungsrats
Michael Hilti
Mitglied des Stiftungsrats
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Liebe Leserin, lieber Leser
Wir freuen uns, Ihnen den Jahresbericht 2014 der Hilti Foundation vorzulegen. Mitgefühl ist nichts, was man planen kann. Vermutlich kennen alle, die Zeitung lesen oder fernsehen, die spontane Regung des
Helfenwollens. Was man hingegen planen kann, ist der nachhaltige
Nutzen eines Engagements.
Die Hilti Foundation hat einen Lernprozess durchlaufen. Die Stiftung hat
beschlossen, weniger Projekte, dafür thematisch stärker fokussiert
und mit substanziellen Beträgen zu unterstützen. Im Zentrum steht dabei
die Nachhaltigkeit eines Projektes und dessen Chance, systemische
Veränderungen zu bewirken.
Was damit gemeint ist, wird am Beispiel der Musikinitiative «El Sistema»
sehr deutlich. Der Musikunterricht in Gruppen stärkt die Persönlichkeit der Kinder, er schafft Perspektiven und weckt die persönliche Verantwortung. Lauter Dinge, die für ein konstruktives Zusammenleben
von entscheidender Bedeutung sind. Die Erfahrungen von «El Sistema»
sind überwältigend positiv. Umso mehr freut sich die Hilti Foundation,
mit einem ähnlichen Modell in Peru zu starten.
Es gibt eine zweite Veränderung in der Strategie der Stiftung. Bisher
stammten die meisten Mittel aus dem Familienvermögen. In Zukunft sollen die Projekte der Hilti Foundation breiter abgestützt werden. Die Hilti
Gruppe wird sich finanziell, mit Know-how und dem Einsatz von Fachleuten an Projekten beteiligen. Dies eröffnet den Engagements der Hilti
Foundation eine neue Dimension.
Wir danken allen, die sich für die Projekte der Stiftung starkgemacht und
ein Zeichen gegen die Unmenschlichkeit gesetzt haben: Zuerst natürlich danken wir unseren Kunden. Ohne sie und ihre Treue zu den Produkten der Hilti Gruppe wäre die Arbeit der Hilti Foundation gar nicht
möglich. Dann danken wir den Hilti-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern,
den professionell aufgestellten Partnerorganisationen und nicht zuletzt den Betroffenen selbst. Dass man voneinander lernen kann, gehört
schliesslich zu den Benefits, von denen alle profitieren dürfen.
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Mit Musik gegen die Armut
Christine Rhomberg
Geschäftsführung
Als die Hilti Foundation im Jahr 2008 begann, mit der
venezolanischen Musikinitiative «El Sistema» zu arbeiten,
entsprach dies der neu gefassten Strategie der Stiftung. Die Hilti
Foundation sollte sich in Zukunft auch im Bereich von Bildung und
Kultur auf Projekte mit sozialer Ausrichtung konzentrieren. Diesen Weg
gehen wir seither ganz konsequent. Das Engagement für «El Sistema»
bleibt bestehen, der Akzent liegt auf der Basisarbeit mit möglichst
grosser Reichweite. Daneben haben wir das Feld geöffnet und unterstützen heute mehrere Projekte in Südamerika, in Südafrika und
Europa. Sie haben mit «El Sistema» eines gemeinsam: den Glauben
daran, dass man eine Gesellschaft verändern kann, indem man
Kindern und Jugendlichen eine vertiefte Beschäftigung mit Musik
ermöglicht.
«El Sistema» feiert im Jahr 2015 sein 40-jähriges Bestehen. Fast alle
anderen von der Hilti Foundation unterstützten Musikprojekte stehen am
Beginn, dürfen aber auf der Erfahrung des venezolanischen Vorbilds
aufbauen. José Antonio Abreu, der Gründer von «El Sistema», hat viele
von diesen Projekten angeregt und zu den ersten Schritten ermuntert.
So war es auch bei «Sinfonía por el Perú».
Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez gründete das Projekt 2011.
In der Systematik und Methodik ist es eng angelehnt an «El Sistema»,
allerdings wurde «Sinfonía por el Perú» an die Gegebenheiten und
Bedürfnisse des Landes angepasst. In den knapp vier Jahren seit der
Gründung entstanden dreizehn Musikzentren, sogenannte «núcleos»,
in allen Regionen Perus. Die «núcleos» erreichen zurzeit über 2000
Kinder. Angesiedelt sind sie in den bedürftigsten Gegenden des Landes,
an entlegenen Orten in den peruanischen Anden und in den ärmsten
Vierteln der Hauptstadt und der Region um Lima.
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Kultur, Wissenschaft und Bildung
2014
Sozialer
Wandel
mithilfe
von Musik
«El Sistema» wurde in Venezuela
erfunden und richtet sich an Kinder
aus ärmeren Schichten. Das Erfolgsmodell inspiriert weltweit unzählige Menschen. So auch in Peru, wo
die Hilti Foundation die Initiative
«Sinfonía por el Perú» unterstützt.
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Lima an einem trüben, nebligen Tag im November. Es ist früh
am Morgen, und wir sind unterwegs nach Manchay, einer Wüstenstadt
am südöstlichen Rande der peruanischen Hauptstadt. Wir wollen
Carmen Jimena Huamán treffen, eines der rund 2000 Kinder, die am
Projekt «Sinfonía por el Perú» beteiligt sind. Schon zu dieser frühen
Tageszeit staut sich der Verkehr in der peruanischen Hauptstadt. Etwa
10 Millionen Einwohner leben in Lima, immer mehr Menschen verlassen die ländlichen Gebiete, um ihr Glück in der Stadt zu suchen. Wir
fahren durch den Nobelbezirk La Molina. Hohe Mauern, Barrieren
und Checkpoints, die den Zugang kontrollieren. Das ist alles, was man
von der Strasse aus sieht. Dann verändert sich das Bild. Entlang der
staubigen, sandigen Strasse ziehen sich Blechhütten und kleine, ärmliche
Häuser. Lebensmittelläden mit Gittern, durch die bedient wird. Werkstätten, die verwenden, was irgendwie noch brauchbar scheint. Händler,
die sich auf einer Plastikplane am Boden eingerichtet haben und das
wenige, was sie zu verkaufen haben, anbieten.
Zunehmende Jugendkriminalität und Bandenwesen
sind «ideale» Voraussetzungen
für die Eröffnung eines
musikalischen «núcleos».
Leben in der Steinwüste.
Immer höher hinauf breiten
sich die Hütten auf die
Hügel aus, erreichbar
oft nur noch auf schmalen
Wegen und über steile
Treppen.
Am Beginn eines langen
Tages. Kurz nach sieben Uhr
verlässt Carmen das Haus
und macht sich auf den
langen Weg in Richtung
Schule.
«Bienvenidos a Manchay» – eine grosse bunte Schrift auf einer
Stützmauer heisst uns willkommen. Wir haben es fast geschafft. Die neu
asphaltierte Strasse – wohl eines der eingelösten Versprechen des eben
gewählten Bürgermeisters – steigt kurvenreich auf eine Art Hochplateau.
Vor uns öffnet sich ein hügeliges Wüstental, links und rechts dicht besiedelt mit einfachen Einzimmer – Hütten aus Blech oder dünnen Holzplatten. Da und dort eine schüttere Pflanze, die der Trockenheit trotzt.
Das Grau des nebligen Himmels geht über in das triste Grau der Steinwüste, nur Staub und Sand.
Manchay, der Name ist Quechua und bedeutet «Angst». Das Gebiet
wurde in den 1980er-Jahren besiedelt, vorwiegend von Menschen,
die – vertrieben durch den Terrorismus der Organisation «Leuchtender
Pfad» – ein neues Zuhause suchten. Die Nähe zur Stadt war wohl der
einzige Grund, sich in diesem unwirtlichen Landstrich niederzulassen. Inzwischen leben hier zwischen 60 000 und 80 000 Menschen, rund
50 % davon in absoluter Armut. Arm heisst: Man verdient weniger als
15 Euro im Monat. Nur 10 % der Bevölkerung haben ein regelmässiges
Einkommen, die Arbeitslosenrate liegt bei 35 %. Zunehmende Jugendkriminalität und wachsendes Bandenwesen sind die Folge.
«Ideale» Voraussetzungen also für die Eröffnung eines «núcleos»,
einer Musikschule der Organisation «Sinfonía por el Perú», denn
das Ziel des Projektes ist es ja gerade, in den schwierigen Gegenden
des Landes präsent zu sein, um über die Musik zur Verbesserung
der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sowie deren
Familien beizutragen.
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«Construyamos un Perú
con valores» – so lautet der
Wahlspruch der Schule
«Virgen del Rosario» in
Manchay, in der rund 1200
Kinder aller Schulstufen
nicht nur lesen und schreiben lernen, sondern auch
gesellschaftliche Werte
vermittelt bekommen sollen.
Für viele von ihnen ist die
Schule das zweite Zuhause.
Ihre Eltern arbeiten vielfach die ganze Woche
auswärts und kommen oft
nicht einmal am Abend
nach Hause.
MUSIK UND
SOZIALE
INTEGRATION
Die Studie aus
Peru und ihre
Ergebnisse
Projektzeitraum:
16–19 Monate
Projekteilnehmer:
«núcleo» Huánuco 377
«núcleo» Manchay 392
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Wir sind beim Haus von Carmen angekommen. Sie hat ihre Schulsachen schon gepackt, verabschiedet sich von ihrer Mutter und vom
klei­nen Bruder und macht sich auf den Weg in die Schule. Die Familie
lebt in einem kleinen Holzhaus, das aus zwei aneinandergebauten
Räumen besteht. Alles ist sauber und ordentlich, es gibt Strom im Haus,
einen Computer und ein Fernsehgerät. Carmens Vater ist selbststän­d ig
und arbeitet in der Werbebranche. Dadurch kann die Mutter zu Hause
bleiben und sich um die Familie kümmern.
Carmens Schulweg führt über eine neu betonierte Treppe in Richtung Tal. Sie passiert ein grosses Tor, das der Kontrolle des Bezirkes
dient und sicherstellen soll, dass nur die Bewohner des Viertels Zugang
haben. Eine Massnahme, die nötig geworden ist, weil die Kriminialität ständig steigt.
Kinder involviert in «Sinfonía por
el Perú» zeigen:
Kinder involviert in «Sinfonía por
el Perú» erfahren:
30%
physische Gewalt
30% weniger
durch die Eltern
höhere
Selbstachtung
Engagement
34% mehr
in der Schule
physische und
29% weniger
verbale Aggressivität
psychische Gewalt
46% weniger
durch die Eltern
Durch die Musik hat sich
Carmen geöffnet und
ist heute eine der Engagiertesten.
Zielorientierung
19% höhere
und Durchhaltevermögen
höhere
20%
Kreativität
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Unser Lehrer sagt immer:
«Spielt, aber spielt mit dem
Herzen. Nicht mit dem
Verstand, mit dem Herzen.»
Mein Traum ist es, eine
grosse Saxophonistin zu
werden und im Fernsehen aufzutreten. Und
ich wünsche mir, dass die
Magazine und Zeitungen
über mich berichten.
Carmen
Carmen lebt seit ihrer Geburt in Manchay und war
unter den ersten Bewerberinnen für die Musikschule. Die Musik hat sie verändert, sie ist selbstbewusster geworden, kommuniziert mehr in der
Familie und mit den Mitschülern und sie ist konzen­
trierter in der Schule. Und sie träumt davon, eines
Tages berühmt zu sein. So wie ihr grosses Vorbild
Juan Diego Flórez.
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Ich bin stolz auf die
2000 Kinder, die in den
«núcleos» üben. Diese
Kinder haben ein ungeheures Selbstvertrauen,
und das bedeutet, dass
sie keine armen Kinder
mehr sind. Wenn Kinder
wissen, dass sie wichtig
sind, trauen sie sich
zu, jede Schwierigkeit
zu meistern.
Juan Diego Flórez
Juan Diego Flórez wurde 1973 in Lima geboren. Er
begann seine Karriere als Pop- und Rocksänger
und widmete sich intensiv der peruanischen Volksmusik. Seit 1990 konzentriert er sich auf die klassische Musik. Heute zählt Flórez zu den gefragtesten
Tenören der Welt und gilt als der Belcanto-Tenor
par excellence. Im Jahr 2011 gründete er das Projekt
«Sinfonía por el Perú», das er kritisch und mit
grosser Hingabe begleitet.
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Das Mädchen hat einen langen Tag vor sich. Die Schule beginnt
vor acht Uhr und dauert meist bis zum frühen Nachmittag. Danach isst
die ganze Klasse in der Schulmensa, und anschliessend geht Carmen
in die Musikschule, die im angrenzenden Kloster «Virgen del Rosario»
untergebracht ist. Von den über 1500 Kindern der Schule haben sich
etwa 10 % gemeldet, als «Sinfonía por el Perú» vor drei Jahren mit ihrer
Tätigkeit in Manchay begonnen hat.
Canto, toco, crezco
Manchay war einer der ersten «núcleos» im Programm, das der peruanische Tenor Juan Diego Flórez, der wichtigste Kulturbotschafter des
Landes, vor fünf Jahren ins Leben gerufen hat. Inspiriert vom venezolanischen «El Sistema» ergriff Flórez die Initiative. Er wollte auch den
Kindern und Jugendlichen seines Landes über die Musik konstruktive
Werte vermitteln und sie durch das Spiel im Orchester und in Ensembles
zu gelebter Gemeinschaft inspirieren und ihr Selbstwertgefühl stärken. «Canto, toco, crezco» – «Ich singe, spiele, wachse» ist das Leitmotiv
von «Sinfonía por el Perú». Hoher Qualitätsanspruch auf allen Ebenen
ist das verbindende Element der zurzeit dreizehn «núcleos», die sich,
über das ganze Land verteilt, mit unterschiedlichsten Rahmenbedingungen und Anforderungen konfrontiert sehen. Dank der Methodik des
gemeinsamen Musizierens im Orchester und Ensemble kann man aber
doch Rücksicht auf die lokalen Bedürfnisse nehmen und so eine grosse
Zahl an Kindern und Jugendlichen erreichen.
Flórez, der das Programm trotz gut gefüllter Agenda intensiv und
kritisch begleitet und versucht, mindesten zwei- bis dreimal pro Jahr
persönlich vor Ort zu sein, weiss um die Bedeutung der Qualität bei solchen Initiativen. Dies umso mehr, als das Schulsystem in Peru in den
letzten Jahrzehnten sukzessive an Qualität eingebüsst hat.
VIER FRAGEN AN …
JUAN DIEGO
FLÓREZ
Wie kam es zur Gründung von
«Sinfonía por el Perú»?
2006/07 erzählten mir verschiedene
Leute von «El Sistema» in Venezuela.
Ich wusste damals gar nichts darüber,
war dann aber sehr interessiert.
2007 gewann ich den Grammophone
Award mit Gustavo Dudamel. So
entstand ein erster direkter Kontakt.
Im Februar 2009 wurde ich eingeladen, in Caracas zu singen, und bei
dieser Gelegenheit zeigten mir
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Dudamel und José Antonio Abreu
das Projekt vor Ort. Bereits im März
kam Abreu nach Lima. Wir besuchten verschiedene Regierungsstellen, Banken, potenzielle Sponsoren
und sprachen viel über organisatorische Aspekte. José Antonio lieferte
mir das gesamte Know-how, das
wir schliesslich auch für Peru nutzen
konnten.
Was überzeugte Sie an
«El Sistema»?
Ganz sicher der soziale Aspekt, die
Möglichkeit, eine Gesellschaft durch
ihre Kinder zu verändern. Kinder sind
für mich etwas ganz Besonderes. Es
ist auch kein Zufall, dass ich «Sinfonía
por el Perú» 2011 gründete. In diesem Jahr wurde mein Sohn Leandro
geboren.
Trotz seiner vielen internationalen Verpflichtungen
nimmt sich Juan Diego
Flórez regelmässig die Zeit,
die Musikschulen in Peru
zu besuchen und sich selbst
ein Bild von der Entwicklung
und den Fortschritten der
Kinder zu machen.
Welches sind die grössten
Herausforderungen für
die Zukunft?
Wir müssen einen Weg finden, Unterstützung von der Regierung zu erhalten, eine Unterstützung, die uns
aber nicht einschränkt. Das würde
uns auch dabei helfen, andere öffentliche Partner zu finden. Und wir
möchten mehr Unterstützung von
privater Seite, von Freundeskreisen
in Peru, aber auch z. B. in Wien,
wo ich lebe.
Und auf der künstlerischen Seite?
Wir möchten eine Akademie gründen,
in der wir besonders begabte Kinder
aus den verschiedenen Regionen Perus
intensiver ausbilden können. Dabei
sollen auch die Themen Gesang und
Oper eine besondere Rolle spielen.
Juan Diego Flórez als
Volksheld: Ein Besuch des
weltberühmten Tenors in
Manchay artet zum Volksfest
aus. Da wird gesungen,
getanzt und getrommelt, und
die Orchester und Big
Bands zeigen, was sie ge-
lernt haben. Mit dabei auch
die Familien der jungen
Musiker und Musikerinnen.
Sie haben längst erkannt,
was «Sinfonía por el Perú»
für ihre Kinder bedeutet:
einen ersten Schritt in eine
selbstbestimmte Zukunft.
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Die Kinder müssen gefordert werden, und Flórez mit seiner Weltkarriere ist natürlich ihr grösstes Vorbild. Ein Besuch im «núcleo»
von Juan Diego, wie sie ihn alle freundschaftlich nennen, ist ein Volksfest, nicht nur für die Musiker und Musikerinnen, sondern auch für
ihre Mitschüler, für die Eltern, für die ganze Familie. Sein Besuch motiviert die Kinder, man spürt, wie sie beim Vorspielen beweisen
wollen, was sie gelernt haben.
«Ihr müsst auf eure Ohren aufpassen, euer Gehör schützen. Steckt
euch Watte hinein, wenn ihr in der Nähe der Blechbläser sitzt», mahnt
Flórez die Musiker des Jugendorchesters von Manchay. «Schaut auf den
Dirigenten, nicht auf mich. Konzentriert euch und lasst euch nicht
ablenken. Das macht euch zu professionellen Musikern.»
«Konzentriert euch und
lasst euch nicht ablenken.
Das macht euch zu
professionellen Musikern.»
Er ist ein Idol zum Anfassen. Wie Trauben hängen sie an ihm beim
anschliessenden Weg in den grossen Schulhof, wo sich der halbe Bezirk
versammelt hat. Selfies, Fotos, Kurzfilme – jeder möchte ein Stück Nähe.
«Construyamos un Peru con valores» – «Lasst uns ein Peru der Werte
schaffen», so steht es in grossen Lettern auf einer Wand im Schulhof. Und
Flórez lässt keinen Zweifel daran auf kommen, dass er diese Aufforderung ernst nimmt. Seine Botschaft an die Jugendlichen ist ein Aufruf zu
Fleiss und Konsequenz, seine Bitte an die Eltern ist die um Unterstützung
und Förderung ihrer Kinder, darum, ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen und sie in ihrer musikalischen Ambition ernst zu nehmen.
Dass die Botschaft bei den Eltern angekommen ist, zeigt sich im persönlichen Gespräch: Sie erzählen von Kindern, die früher aufstehen,
um noch letzte Aufgaben für die Schule zu erledigen, damit am Nachmittag genügend Zeit ist für den Musikunterricht. Von Kindern, die früher
verschlossen waren, sich jetzt aber, seit sie in die Musikschule gehen, wieder mehr mitteilen und zu Hause begeistert erzählen, was sie erlebt
haben. Bemerkt wird eine geringere Aggression und Gewaltbereitschaft
gegenüber Geschwistern und Schulkollegen und besseres Betragen in
der Schule sowie mehr Respekt zu Hause.
Raumnot macht erfinderisch.
Kammermusikprobe unter
der Treppe.
Das eigene Instrument als
Statussymbol, aber auch als
Verpflichtung. Ein Instrument zu erlernen ist für die
jungen Musiker mehr als
ein sinnvoller Zeitvertreib.
Sie wissen um das Privileg
und um die Chance, über
die Musik den sozialen Aufstieg zu schaffen.
Musik verändert
«Sinfonía por el Perú» begnügt sich aber nicht mit diesen persönlichen
Aussagen, sondern hat in den vergangenen zwei Jahren den Auf bau
der «núcleos» von Manchay und Huánuco, einer Stadt in den peruanischen Anden, zum Anlass genommen, um die Auswirkungen des
Projektes wissenschaftlich zu untersuchen. In Zusammenarbeit mit
der Interamerikanischen Entwicklungsbank BID wurden die Kinder aus dem Musikprojekt in ihrer Entwicklung verglichen mit ihren
Mitschülern, die nicht in das Projekt eingebunden sind. Die Ergebnisse überzeugen und bestätigen die Richtigkeit des Weges.
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1 Peruanisches Perkussionsinstrument aus Holz, mit Schallloch, das mit den Händen,
einem Hammer oder Trommelstöcken gespielt wird. Die
Musiker sitzen auf dem Instrument, während sie es spielen.
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18.15 Uhr
13.45 Uhr
14.11.2014
Carmen
1
Jimena-Huamán
Blockflöte
Bratsche
Cello
Geige
Klarinette
Saxophon
Querflöte
Oboe
Fagott
Blechblasinstrumente
Percussion,
u. a. Cajón
Austritt
Instrumente
Eintritt
Orchesterprobe
Datum
Anschliessend an den
Gruppenunterricht
Vorname
Freie Wahl des
Instruments;
Gruppenunterricht
mit Instrument,
in Stimmgruppen
Name
Ab Monat 3
2000
Musikalische
Grundkenntnisse
NÚCLEO MANCHAY – ANWESENHEITSKONTROLLBLATT
Monat 1 bis 3
1 Geigenbauschule
in Andahuaylillas
Cusco
8 Regionen
133 núcleos
2000 Kinder
Miraflores
La Victoria
Edelnor
Manchay
El Agustino
Huaraz
San Marco
Puno y Juliaca
Cusco
Cajamarca
Trujillo
Huancayo
Huànuco
Carmen ist eines von 2000 Kindern, das von
dem Programm profitiert und sich damit verpflichtet,
regelmässig den Unterricht zu besuchen. Buch
wird auch aus Sicherheitsgründen geführt. Von der
Kriminalität in Peru sind überdies immer die Kinder
betroffen.
núcleo (span.) Kern, Herzstück;
Bezeichnung für die Musikschulen
im Projekt.
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SECHS FRAGEN AN …
CARMEN
JIMENA HUAMÁN
TUPAHUACAYLLO
Wie hast du von «Sinfonía por
el Perú» erfahren?
Durch eine Werbung an meiner
Schule. Zuerst dachte ich, es würde
mich langweilen, aber dann habe
ich begonnen und es hat mir gefallen.
Was gefällt dir am meisten
an dem Projekt?
Die Auftritte und vor all den Menschen ohne Angst zu spielen.
Und Freunde zu finden und Juan
Diego zu sehen!
Was gefällt dir weniger?
Wenn manche Kinder im Unterricht
nicht still sind. Das stört mich.
Würdest du anderen Kindern
raten, bei «Sinfonía por el Perú»
mitzumachen?
Ja, damit sie die Musik geniessen
können. Ich würde ihnen gerne
helfen und ihnen beibringen, wie
sie sich verbessern können.
Wie hat «Sinfonía por el Perú»
dein Leben verändert?
Seit ich begonnen habe, gefällt es
mir sehr. Ich bin besser geworden in
der Schule. Und meine Eltern
kommen besser miteinander aus.
Was ist dein Traum für deine
Zukunft?
Ich möchte eine grosse Saxophonistin
werden und im Fernsehen auftreten.
Und ich wünsche mir, dass Magazine
und Zeitungen über mich berichten.
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«Peer-Teaching» heisst das
Zauberwort für schnelles und
nachhaltiges Lernen in
der Gruppe, im Ensemble:
Das hierarchische Prinzip
zwischen Lehrenden und
Lernenden ist aufgehoben,
die Musiker helfen sich
gegenseitig, die Fortgeschrittenen lehren die Jüngeren
und sind für sie Ansporn und
Motivation.
Auch Carmens Mutter und der Direktor des «núcleo» von Manchay,
Santiago Paredes, beschreiben eine ähnliche Veränderung bei Carmen.
Bevor sie in die Musikschule kam, war sie ein verschlossenes und introvertiertes Kind, fleissig in der Schule, aber sehr zurückhaltend und
scheu. Durch die Musik hat sie sich geöffnet und ist heute eine der Engagiertesten. Als ihre Basketballstunde sich mit dem Musikunterricht
zu überschneiden drohte, war sie sehr beunruhigt, aber es fand sich eine
Lösung. Carmen ist stolz darauf, ein Instrument zu spielen. Nach ersten Versuchen mit Geige, Cello und Trompete landete sie schliesslich
beim Saxophon, das sie heute mit grosser Leidenschaft spielt. Sie ist
damit auch Mitglied der Brass Band, die jeder «núcleo» neben dem klassischen Sinfonieorchester und dem Chor im Angebot hat. Die Musik
hat ihr Selbstbewusstsein gegeben. Es macht ihr Freude aufzutreten,
nicht nur in der Gruppe, sondern auch als Solistin. Und auch zu Hause ist
sie ausgeglichener, übernimmt Verantwortung für den kleinen Bruder
und hilft der Mutter im Haushalt.
«Wir pflegen einen engen Austausch mit den Eltern», so erzählt Santiago Paredes, «einmal im Monat laden wir sie ein in den ‹núcleo›, um
mit ihnen anstehende Fragen und Probleme zu diskutieren, aber auch,
um Vertrauen zu schaffen und ihnen einen unmittelbaren Einblick
zu geben. Viele Mütter arbeiten inzwischen im ‹núcleo› mit, und jene,
die aus den bescheidensten Verhältnissen kommen, sind die Engagiertesten. Sie kontrollieren die Anwesenheit – wir registrieren jedes
Kind, wenn es in die Musikschule kommt und wenn es wieder geht –,
sie waschen die Hemden und T-Shirts, die die Kinder bei ihren Auftritten tragen, und sie organisieren Snacks und Getränke für besondere Feste. Der ‹núcleo› ist für sie zu einem Treffpunkt geworden, und
manche von ihnen kommen ebenso regelmässig wie ihre Kinder. Sie
empfinden es als Privileg, einen Beitrag zu leisten», freut sich der
engagierte Direktor, der neben seiner Funktion in der Musikschule
auch an der Grundschule unterrichtet.
Das Interesse am Musikunterricht ist ungebrochen. Jedes Jahr gibt
es eine Vorspielmöglichkeit, um einen der freien Plätze in der Musikschule zu bekommen. Im Juli 2014 wurden 61 neue Schüler aufgenommen. «Wir verlangen von den Kindern ein grosses Engagement.
Wer nicht regelmässig kommt oder unentschuldigt fernbleibt, verliert
seinen Platz», erklärt Santiago Paredes. Das hat sich herumgesprochen, und so bewerben sich praktisch nur Kinder, die wirklich dazugehören wollen.
Ein grosses Problem für alle Standorte, an denen «Sinfonía por el
Perú» tätig ist, ist die räumliche Infrastruktur. In Manchay fand die Musikschule ihren Platz in einem Kloster, an anderen Orten sind es Räume
der Universitäten oder der öffentlichen Verwaltung, die zur Verfügung
stehen. Aber überall gibt es Platzprobleme oder Schwierigkeiten bei
der Koordination der Räumlichkeiten aufgrund unterschiedlicher Nutzung. Und natürlich soll das Projekt wachsen, nachhaltig und ohne die
Dinge zu überstürzen, aber doch. Das Interesse im ganzen Land ist gross,
die finanziellen Ressourcen jedoch sind beschränkt. Noch hat sich die
Regierung nicht bereit erklärt, einen ständigen Beitrag zu leisten, und so
sind es vorwiegend ausländische Stiftungen und Private aus Peru, die
Zum Schluss hat Carmen uns
noch verraten, dass es ihr
grosses Ziel ist, eine berühmte
Saxophonistin werden.
das Projekt zurzeit finanziell tragen. Aber Juan Diego Flórez ist zuversichtlich. Und er träumt von einem eigenen Zentrum für «Sinfonía
por el Perú», um hochbegabte Musikerinnen und Musiker weiterzubilden. Ein Traum für die Zukunft. Einer von vielen.
Inzwischen ist es Abend geworden. Wir begleiten Carmen nach
Hause und kaufen unterwegs noch ein paar Kilo Reis, Kekse und Schokolade für die Familie ein. Das freut vor allem den kleinen Bruder.
Carmen ist stolz auf diesen aufregenden Tag, und wir verabschieden uns
mit dem Versprechen, eine Kopie unseres Jahresberichts zu schicken.
Dass sie eine berühmte Saxophonistin werden möchte, das hat Carmen uns zum Schluss noch verraten. Das ist ihr grosses Ziel. Ein Ziel,
das sie ernst nimmt und an dem sie konsequent arbeiten will.
Juan Diego Flórez weiss um
seine Rolle als Botschafter seines eigenen Projektes.
Seine Auftritte mit den
Kinder- und Jugendorchestern sind der beste Weg,
um Aufmerksamkeit zu wecken und Unterstützung
für «Sinfonía por el Perú»
zu generieren, die immer
noch zum Grossteil von privater Seite kommt.
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Menschen, die Hilfe brauchen,
sind nicht das Problem.
Sie sind Teil der Lösung.
Bruno Walt
Geschäftsführung
2014 war ein Jahr voller Gewalt. Selten zuvor gerieten so
viele Menschen zwischen die Fronten unversöhnlicher
Konfliktparteien. Zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen entstanden neu oder flammten wieder auf. Andere verschwanden zwar vom
Radar der Medien, gingen aber in den betroffenen Ländern mit unverminderter Härte weiter.
Menschen auf der Flucht brauchen ohne jeden Zweifel Hilfe. Dennoch
wäre es falsch, sie nur als Bedürftige zu sehen. Sie sind Menschen mit
Fähigkeiten, Ideen und der Kraft, sich selbst zu helfen. Der Hilti Foundation ist es ein Anliegen, diese Menschen bei der Entfaltung ihrer Ressourcen zu unterstützen. Den dringlichen Wunsch von Flüchtlingen,
ein neues Leben zu beginnen, möchten wir realisieren helfen.
Mit dem Engagement der Hilti Foundation bei «Médecins Sans Frontières»
verfolgen wir genau dieses Ziel. So ging ein Teil unserer Unterstützung
in den Libanon, wo «Médecins Sans Frontières» das Zusammenleben der
syrischen Flüchtlinge leichter macht und die Infrastruktur in der Zeltstadt sicherstellt. Der Mut, mit dem sich «Médecins Sans Frontières» und
die Betroffenen selbst der Unmenschlichkeit widersetzen, relativiert
in vielem das düstere Bild, das man aus den Medien gewinnt. Dieser Mut
inspiriert auch uns.
Die Hilti Foundation hat 2014 ein zweites, ausgesprochen innovatives
Projekt von «Médecins Sans Frontières» ermöglicht. Es handelt sich
um die Entwicklung von zwei Dispositiven für chirurgische Notoperationen. Es ist wichtig, Verwundete möglichst rasch und gut operieren
zu können, denn die Qualität chirurgischer Versorgung beeinflusst ganz
wesentlich das spätere Leben der Patienten.
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Katastrophenhilfe
2014
Medizinische Hilfe
in Extremsituationen
Die Hilti Foundation hat 2014
erneut «Médecins Sans Frontières»
(MSF) unterstützt. Neben der
Hilfe im Rahmen der Syrienkrise
hat die Hilti Foundation die
Entwicklung von RISK und RDSU
finanziert. Die beiden Dispositive für mobile Notfallchirurgie
werden zahlreichen Menschen
das Leben retten.
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«Ich habe schreckliche Bilder gesehen», sagt Thomas Nierle. «7000
Flüchtlinge sind angekommen, und weil es nirgends Platz gab, haben sie
sich in einem Wohnturm eingerichtet, der nicht fertig gebaut ist. Stellen
Sie sich das vor. Keine Wände rundherum, kein Schutz vor Wind und
Kälte, kein Wasser. Fünfzehn, zwanzig Stockwerke hoch. Wie sollen die
Menschen da ihre Notdurft verrichten?» Thomas Nierle ist seit Mai 2014
Präsident von MSF Schweiz, und er macht sich grosse Sorgen, was die
Lage im Mittleren Osten angeht.
Die Syrienkrise begann 2011, und sie begann voller Hoffnung. Als
die Menschen in Damaskus auf die Strasse gingen, sah es ganz danach
aus, als ob der arabische Frühling eine syrische Fortsetzung finden würde. Noch 2012 versprach Präsident Baschar al-Assad Reformen und
freie Wahlen. Aus diesen Versprechungen ist nichts geworden. Was als
demokratische Bewegung begann, ist zu einem Bürgerkrieg geworden, der mit äusserster Brutalität geführt wird. Die oppositionellen Kräfte kämpfen gegen die Regierungstruppen und den Islamischen Staat.
Beinahe die Hälfte der syrischen
Bevölkerung, ungefähr zehn
Millionen Menschen, befindet
sich auf der Flucht.
Die Regierungstruppen bombardieren Zivilisten. Die internationale
Allianz bombardiert Stützpunkte der Dschihadisten. Und der Islamische Staat hat das Machtvakuum genutzt, um zwischen Damaskus und
dem kurdisch kontrollierten Norden des Landes eine Herrschaft des
Schreckens einzurichten.
Das Land, das gute Chancen für einen Neuanfang gehabt hätte,
liegt in Trümmern. «In Syrien gab es eine Mittelklasse, ein gutes Bildungssystem. Das Gesundheitswesen funktionierte. Das vergisst man
gern», erinnert Thomas Nierle. «Nach drei Jahren Krieg haben die
Familien ihre Reserven aufgebraucht. Fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung, ungefähr zehn Millionen Menschen, befindet sich auf der
Flucht. Das sind Flüchtlinge, die sich mit ihrem Status schwertun, viele
von ihnen sehr gebildet.»
Eiskalte Winter
Die Lage im Mittleren Osten ist unübersichtlich und so verfahren, dass
kaum Aussicht auf Besserung besteht. Die Nachbarländer, wie etwa
der kleine Libanon, haben die Flüchtlinge anfangs sehr herzlich aufgenommen, stossen aber an ihre Grenzen. Inzwischen tragen vier Millionen Libanesen die Last von einer Million syrischer Flüchtlinge. Ähnlich ist die Situation in Jordanien und im Irak. Umso wichtiger erschien
es der Hilti Foundation, die Ärzte und das Pflegepersonal von MSF
bei ihrer Arbeit in der Krisenregion finanziell zu unterstützen. Hilfsorganisationen haben es ausgesprochen schwer, Gelder zu finden, die
32
Viele Syrerinnen und Syrer,
die ins Ausland flüchten,
sind schon jahrelang auf der
Flucht. Als Binnenflüchtlinge wurden sie innerhalb
ihres eigenen Landes mehrfach vertrieben. Sie sind
erschöpft, oft schwer traumatisiert und geschwächt
aufgrund der andauernd
prekären Versorgungslage.
in Gebieten eingesetzt werden dürfen, in denen sich Krisen chronifiziert
haben. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich rasch auf neue Krisen,
sodass die Gefahr besteht, dass Menschen in höchster Not einfach vergessen gehen.
Grossen Herausforderungen sieht sich MSF in der Bekaa-Ebene gegenüber. Dort leben inzwischen rund 400 000 syrische Flüchtlinge in
Rohbauten, Garagen oder Zelten. Ihre körperliche Verfassung ist schlecht,
das aride Klima greift die Atemwege an. Bronchitis und Lungenentzündungen kommen gehäuft vor. Die Bekaa-Ebene gilt als Gemüse- und Obstkammer des Libanon, das Klima jedoch ist sehr hart. Bis zu acht Meter
Schnee fallen während eines Winters. Monatelang ist es um die Zelte herum feucht und schlammig, was natürlich die Infektionsgefahr für alle
erhöht. MSF betreibt in der Bekaa-Ebene vier Spitäler, versorgt die Flüchtlinge medizinisch und bietet Impfungen, Geburtshilfe und psychologische Unterstützung an. Ausserdem verteilen die Teams Hilfsgüter. Das
Personal von MSF besteht zu einem grossen Teil aus einheimischen
Mitarbeitern. Darunter finden sich auch syrische Flüchtlinge, die selber
Ärzte und Pflegefachleute sind und nun ihren Landsleuten helfen.
Für den Winter 2013/2014 hat die Hilti Foundation zusätzlich zur
Krisenhilfe ein Budget für die sogenannte «winterization» von 1000
Familien zur Verfügung gestellt. MSF versteht darunter das gesamte
Hilfspaket, das Betroffenen über den Winter helfen soll. Dazu gehören
wetterfeste Zelte, Öfen, Gutscheine für Brennstoff, Decken etc.
Als eine der letzten verbliebenen Hilfsorganisationen ist MSF auch
noch in Syrien tätig. MSF betreibt drei Krankenhäuser in Nordsyrien.
In anderen Gebieten kann die Hilfsorganisation nicht arbeiten, da sie
keine Erlaubnis erhalten hat oder es zu gefährlich wäre. Um syrische Mediziner zu unterstützen, hat MSF ein umfassendes Hilfsprogramm entwickelt, das einen besonderen Schwerpunkt auf belagerte Gebiete legt,
die von direkter Hilfe abgeschnitten sind. «Die Lage ist auch in Nordsyrien sehr angespannt», sagt Thomas Nierle. «Wir haben ein sehr stren­ges Sicherheitsmanagement für unser Personal. Daher wissen wir
nicht, wie lange wir noch in Syrien bleiben können. Solange es aber geht,
werden wir den Menschen dort helfen, denn die Bedürfnisse sind sehr
gross. Viele Menschen in Syrien sind eingeklemmt zwischen den Fronten
und der Grenze zum Libanon. Die Libanesen haben getan, was sie
konnten, aber nun machen sie langsam ihre Grenzen dicht.»
MSF bemüht sich um eine
rasche und verlässliche
medizinische Versorgung
im Syrienkonflikt. In den
Ländern, die syrische
Flüchtlinge aufnehmen,
achtet MSF darauf,
auch die einheimischen
Bedürftigen kostenfrei zu
behandeln. Dies als Beitrag zur Entschärfung von
sozialen Spannungen.
33
Wir haben die Flüchtlinge
im Libanon nach ihrem
grössten Wunsch gefragt.
Wir dachten, sie würden
sich mehr Nahrung,
Wasser oder ein besseres
Zelt wünschen. Die meisten von ihnen sagten
aber: Wir möchten wieder
nach Hause.
Thomas Nierle
Der gebürtige Deutsche ist seit 2014 Präsident von
MSF Schweiz. Er wusste bereits als Assistenzarzt, dass ihn die Krankenhausarbeit alleine nicht
glücklich machen würde. Nierle begann seine
humanitäre Arbeit 1997 mit einer Mission in Afghanistan. Seit 2004 ist er auch wieder klinisch tätig
in der Schweiz.
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35
Nicht immer stehen zur
Weiterbeförderung der MSFAusrüstung Flugzeuge zur
Verfügung. Lücken in der
Logistik erfordern innovative
Lösungen, wie zum Beispiel
RISK und RDSU.
RDSU beim Testlauf im
Mai 2014, auf einem Parkplatz in Bordeaux.
EINE FRAGE AN …
MATHIEU
SOUPART
Direktor Logistik MSF Schweiz
Wir leben hier im Wohlstand, mit
viel Komfort. Nun können ja nicht
alle ins Krisengebiet reisen, um
zu helfen. Man muss dazu ja auch
ausgebildet sein. Was ist Ihrer
Ansicht nach am hilfreichsten als
Unterstützung? Was können wir
von hier aus tun?
Zwei Dinge sind wichtig. Erstens: Sie
müssen sich vor Augen halten, dass
Médecins Sans Frontières unabhängig
ist, finanziell, logistisch und professionell. Das bedeutet, dass wir uns
auch auf Krisen fokussieren können,
die im Fernsehen nicht mehr stattfinden, die sogenannt «vergessenen
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Krisen». Mit einer Spende als Privatperson delegieren Sie die Hilfe im
Krisengebiet an professionelle Organisationen wie MSF. Zweitens: Als
Bürgerin, als Bürger gehen Sie zur
Wahl. Sie können Einfluss nehmen
auf Ihre Vertreter in der Politik,
indem Sie diese fragen, was Ihr Land
im internationalen Kontext unternimmt. Wir von MSF brauchen eine
starke Zivilgesellschaft, die unsere
Arbeit mitträgt und unterstützt.
Am 13. Oktober 2014 fand in Schaan
eine Informationsveranstaltung
von MSF statt. Mathieu Soupart
und Tankred Stöbe (Präsident MSF
Deutschland) stellten die Projekte
RISK und RDSU vor, die von der Hilti
Foundation 2014 unterstützt wurden.
Die Möglichkeit, den Vertretern von
MSF persönlich Fragen zu stellen,
wurde im Anschluss an die Präsentation
rege genutzt.
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Phase I
RISK
Rapid Intervention
Surgical Kit
Das Material reist im gleichen
Flugzeug wie das Chirurgenteam
Total 400 kg Material inkl.
Operationszelt
400kg
Kisten max. 32 kg schwer. Alles
kann von Hand getragen werden
Phase II
RDSU
VERPACKT IN BOXEN
À MAX.
UND REIST IM SELBEN
FLUGZEUG WIE DIE
NOTFALLCREW VON MSF
32 KG
Rapid Deployment
Surgical Unit
Erforderliche Fläche 1300 m²
Belegschaft Medizin und
Logistik: 15 Personen
Phase IIl
MFH
Modular Field
Hospital
Zusammenfallen der Zelte
bei einer Havarie.
Feldkrankenhaus in Zelten.
Betriebsbereit innerhalb von
21 Tagen
Alle medizinischen Leistungen
sind möglich, auch die längere
Hospitalisation
Zwei Operationssäle
Erforderliche Fläche:
20 000 m²
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Dank Niederdrucksystem kein
plötzliches
+
Ensemble aus 6 bis 8 Zelten
Nach Eintreffen am Einsatzort
betriebsbereit innerhalb von 24 h
Triagebereich
Kleines Behandlungszimmer
Notaufnahme
Röntgenraum
Hub
Labor & Sterilisationsraum
Operationsvorbereitungsraum
Operationsraum
Aufwachzone & Intensivstation
Autonom im Betrieb (Elektrizität,
Wasser, Abfallentsorgung)
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ZWEI FRAGEN AN …
TANKRED
STÖBE
Präsident MSF Deutschland
Wie gehen Sie bei MSF vor,
um – global gesehen – deren
Prioritäten zu setzen?
2014 war ein herausforderndes Jahr,
es gab zahlreiche Engpässe. Denken
Sie an all die Krisen: Ukraine, Gaza,
Südsudan, Syrien, Zentralafrika,
Ebola. Die Rekrutierung für einen
Ersteinsatz war nicht einmal so
schwierig. Wir finden immer junge
und hochmotivierte Leute, die bereit sind, in ein Projekt zu gehen.
Schwieriger war es, genügend
erfahrene Leute zu finden. Gerade
solche zum Beispiel, die fähig
wären, mit einem RDSU zu arbeiten.
Grundsätzlich jedoch ist es so, dass
wir auf die Nachfrage reagieren.
Wenn der Bedarf steigt, erhöhen wir
die Anzahl der Einsätze.
Sie haben uns von Ihrem
Einsatz an der Front erzählt.
Wie stecken Sie so etwas
persönlich weg?
Ich muss gestehen, dass die vier
Wochen, die ich pro Jahr im Einsatz
bin, jeweils mein medizinisches
Highlight sind. Die Patienten, die
wir behandeln, erzählen mir erschütternde Geschichten. Wir erleben
eine ungeheure Gastfreundschaft.
Die Einheimischen kommen dreimal
am Tag vorbei und versorgen uns
mit Essen und wollen dafür nicht
einmal bezahlt werden. Die Menschen, denen wir helfen, sind sehr
dankbar. Das ist befriedigend für
mich. Ausserdem empfinde ich mich
als privilegiert, ich kann ihr Leid
lindern. Und im Gegensatz zu meinen
Patienten kann ich ja wieder nach
Hause, wenn das Projekt beendet ist.
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Flankierende Massnahmen
zur Verbesserung der Gesundheit: In Syrien finanzierte
Hilti Fundation die sogenannte
«winterization» von MSF für
tausend Familien. Das
Massnahmenpaket umfasst
u.a. die Abgabe von warmen
Decken.
Sosehr Mitgefühl eine Rolle spielen mag, Helfen ist auch ein Beruf.
In Extremsituationen ist es äusserst wichtig, dass jeder und jede weiss,
wo anzupacken ist und dass das Equipment zu den vorgefundenen Situationen passt. In dieser Hinsicht konnte die Hilti Foundation 2014 ein
innovatives Projekt von MSF im Bereich Notfallchirurgie unterstützen.
Mathieu Soupart, Direktor der Logistik, erklärt, worum es geht: «Mit
jeder Stunde, die vergeht, haben die Chirurgen einen anderen Patiententypus vor sich. Wenn sie nicht sofort intervenieren können, werden sie
manche Patienten verlieren. Was uns bisher fehlte, war eine gut durchdachte, phasengerechte Struktur, um in Krisengebieten Notoperationen
vorzunehmen.»
2002 und 2005 waren Katastrophenjahre. Erinnert sei an die Hurrikane, den Tsunami oder das Erdbeben in Pakistan. MSF war mit Einsätzen in riesig grossen, komplett verwüsteten Gebieten konfrontiert, in
denen die Infrastruktur zerstört worden war. Wenn MSF in dieser Art
von akuten Notfällen angemessen helfen wollte, bedeutete dies, dass die
Organisation ihre Kapazität steigern und die Qualität ihres Equipments
verbessern musste. Einen ersten Schritt in diese Richtung machte MSF in
den Jahren 2006/2007 mit der Entwicklung von MFH (Modular Field
Hospital).
Wenn das entsprechende
Equipment vorhanden ist,
verbessert sich die Qualität
chirurgischer Eingriffe.
Es ist tragisch, wenn Menschen sterben oder etwa
Gliedmassen verlieren, weil
es am Equipment fehlt.
Dank der Unterstützung
der Hilti Foundation
wurden RISK und RDSU
entwickelt, zwei Dispositive
für chirurgische Noteinsätze im Katastrophenfall.
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42
43
MFH ist ein allgemeines Krankenhaus, das in auf blasbaren Zelten
untergebracht ist. Es verfügt über zwei Operationssäle und ermöglicht den Patienten auch eine längere Hospitalisation. Der Auf bau des
Feldkrankenhauses auf rund 20 000 Quadratmetern ist allerdings mit
Aufwand verbunden und braucht Zeit. Zeit, die man nicht hat, wenn es
darum geht, die chirurgische Versorgung sicherzustellen und Menschenleben zu retten. Um die zeitliche Lücke zwischen dem Katastrophenereignis und der Inbetriebnahme von MFH zu füllen, hat MSF
Schweiz zwei weitere Lösungen entwickelt: RISK (Rapid Intervention
Surgical Kit) für die erste Interventionsphase und RDSU (Rapid Deployment Surgical Unit) für die zweite Interventionsphase nach Eintritt
einer Katastrophe.
Alle Instrumente bei RISK
und RDSU sind ultraleicht,
um möglichst rasch zum
Einsatzort zu gelangen. Was
von Hand getragen werden
muss, darf nicht auf eine
komplizierte Logistik
angewiesen sein. Entsprechend hoch ist der Materialverschleiss. Nach rund zwei
Jahren müssen die RDSU Zelte einer anderen Nutzung
zugeführt werden. Sie werden
z. B. als einfache Gesundheitsstationen oder als
Empfangszelte für Flücht­linge weiterverwendet.
Innovation im Team
Die Schwierigkeiten, mit denen sich das Team um Mathieu Soupart bei
der Entwicklung dieser innovativen Lösungen konfrontiert sah, waren weniger technischer als organisatorischer Natur. Das Wissen ganz
unterschiedlicher Berufsgruppen musste in das Projekt einfliessen
und ständig abgeglichen werden. Beteiligt an der Entwicklung waren
Architekten, Ingenieure, Zeltbauer, Anästhesisten, Chirurgen, Möbellieferanten, Logistiker, Spezialisten der Luftfahrt, Zollfunktionäre
und Operationsschwestern. «Wenn zum Beispiel ein Anästhesist gerne
einen bestimmten Apparat gehabt hätte, mussten wir ihm unter Umständen antworten: Was du haben möchtest, wiegt eine Tonne. Das geht
nicht, wir müssen eine Lösung finden, die weniger wiegt, damit wir
garantiert mobil bleiben», erklärt Soupart.
Insbesondere beim Verlust
der lokalen Infrastruktur
sind mobile Lösungen wichtig.
Neben der eigentlichen
Nothilfe soll auch die medizinische Grundversorgung
der Bevölkerung sichergestellt
werden.
«Ich harre hier meines
Schicksals und warte. Worauf ?
Worauf warte ich? Ich weiss
es nicht mit Sicherheit.
Auf die Zukunft? Auf Hoffnung? Auf Veränderung? Das
Einzige, was zählt, ist jedoch,
dass ich noch lebe.»
(Der Schriftsteller Abbas
Khider über das Leben im
Flüchtlingscamp.)
Leben retten:
das TriageVerfahren von
Médecins Sans
Frontières
Bis zu 50 Patienten gleichzeitig können am Eingang zum RDSU angenommen werden. Die Patienten
erhalten eine farbige Karte, welche
die Dringlichkeit ihres Falles signalisiert. Regelmässig wird die vorgenommene Triage überprüft
und angepasst.
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GRÜN
Kann noch gehen
ORANGE
Schwere Verletzung
ROT
Lebendsbedrohliche Verletzung
BLAU
Hilfe unmöglich
SCHWARZ
Verstorben
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Die Hilti Foundation hat
den ganzheitlichen Ansatz
des Projektes sofort unterstützt. Es ging ja nicht
darum, passende Zelte
zu finden. Wir haben Ärzte,
Logistiker und Techniker
in den Entscheidungsprozess miteinbezogen,
um neues Material zu
entwickeln.
Mathieu Soupart
Mathieu Soupart leitet bei MSF den Bereich Logistik. Der gebürtige Franko-Belgier ist Ingenieur
von Beruf und verfügt über einen Master im
Kata­strophenmanagement. Er arbeitet seit 1993
für MSF.
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Phase I: RISK
RISK ist ein ultraleichtes Equipment, das im gleichen Flugzeug reist wie
das Chirurgenteam. Es umfasst einen transportfähigen Operationssaal
und das gesamte Material, das für Operationen nötig ist. RISK wiegt
insgesamt 400 kg, kann aber von den Chirurgen und den Anästhesisten
von Hand getragen werden. Besonders wichtig war Mathieu Soupart,
dass die Volumina nicht zu gross wurden, damit die Fluggesellschaften
eine prioritäre Verschickung über den ganzen Reiseweg hinweg garantieren können.
Phase ll: RDSU
RDSU kommt in der zweiten Interventionsphase zum Einsatz. Dieses
Dispositiv umfasst einen Notaufnahmeraum und Operationsäle in
auf blasbaren Zelten. Die Einrichtung verfügt über eine eigene Stromversorgung, eine Wasserauf bereitungsanlage und eine Einrichtung
zur Sterilisation der Instrumente. Mehrere chirurgische Teams können
hier rund um die Uhr arbeiten. Es können unter Vollnarkose Laparo­
tomien vorgenommen werden, sowie die Verschliessung und Behandlung von allen Wunden, die in der ersten Interventionsphase erkannt
und behandelt wurden. Das Dispositiv ist innerhalb weniger Tage
betriebsbereit und kann, sobald es den Einsatzort erreicht hat, innerhalb von 24 Stunden aufgestellt werden.
RDSU verfügt über einen
neuartigen Generator und eine
eigene Anlage zur Aufbereitung
des Wassers. Zum Konzept
gehört auch die Schulung des
Notfallteams.
Auch bei RDSU war es wichtig, dass jedes einzelne Modul von Hand
getragen werden kann. «Das Gewicht», so Soupart, «spielt dabei noch
nicht einmal eine so grosse Rolle. Entscheidend ist dagegen, dass bei
schweren Teilen Handgriffe angebracht sind, sodass man sie zu sechst
oder zu acht bewegen kann.» Grundsätzlich ist es nämlich so, dass die
Transportmöglichkeiten immer bescheidener werden, je näher man dem
Einsatzort kommt. «Erst fliegt man von Europa in die Hauptstadt des
Landes. Von dort aus geht es mit dem Lastwagen oder Helikopter weiter
in die Provinzstadt. Zum Schluss hält man auf der Strasse einen Pickup oder einen Karren an und zahlt dem Fahrer etwas, um weiterzukommen», fasst der Franko-Belgier zusammen.
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RISK: Diese Kisten enthal-
ten alles für die erste
Interventionsphase nach
Eintritt einer Katastrophe.
Die Kosten für das Übergepäck sind laut MSF kein
Problem. Wichtiger ist
die Garantie der Fluglinien,
das RISK-Equipment vollzählig und über die gesamte
Strecke zu transportieren.
Lücken in der Ausrüstung
sind fatal, wenn am Zielort
Menschenleben auf dem
Spiel stehen.
Zwei Jahre lang tüftelte das Team um Mathieu Soupart an den Prototypen für RISK und RDSU. Ein erster Testlauf auf einem Parkplatz
in Bordeaux im Mai 2014 verlief erfolgreich. Nun werden die Prototypen
verbessert und validiert, die Notfall-Crews werden geschult für den
Einsatz mit den neuen Equipments. Ab Frühling 2015 stehen RISK und
RDSU bereit zum Abruf für den Ernstfall.
«Bisher brauchten wir 21 Tage, um Menschen im Medical Field
Hospital zu helfen. Man mag einwenden, dass 21 Tage keine sehr lange
Zeit sind. Wenn aber jemand verwundet ist, dann ist schon eine Stunde
zu viel. Wir sind sehr froh, dass wir dank der Hilti Foundation RISK
und RDSU entwickeln und so das fehlende Glied in der Kette ergänzen
konnten», freut sich Mathieu Soupart.
RDSU bestehend aus:
Triagebereich, kleinem
Behandlungszimmer, Notaufnahme, Röntgenraum,
Hub, Labor & Sterilisation,
OP-Vorbereitungsraum,
OP-Raum, Aufwachzone &
Intensivstation.
RDSU können Sie in einem
kurzen Film von MSF
entdecken. Scannen Sie
den QR-Code mit Ihrem
Handy!
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Mit Lehrlingen in Srebrenica
Beatrix Bättig Staud
Projektmanagerin der Hilti Foundation
Die Projekte der Hilti Foundation werden mit Geldern aus
dem Familienvermögen und aus der Hilti Gruppe finanziert.
Anders sieht es mit den Engagements aus, für die sich Mitarbeitende
der Hilti Gruppe persönlich starkmachen. In diesen Fällen bietet
sich die Hilti Foundation als «enabler» an. Die Stiftung hilft – falls dies
gewünscht wird – mit Know-how, Kontakten, Projektadministration
oder Ideen. So kam 2014 das Projekt in Srebrenica zustande. Daniel
Bitschnau, Ausbildungsleiter im Werk 4 der Hilti Gruppe, wollte seine
Lehrlinge dahin bringen, vermehrt soziale Verantwortung zu übernehmen.
Im gemeinsamen Gespräch mit der Hilti Foundation wurde schliesslich
die Idee entwickelt, mit den Lehrlingen aus dem österreichischen
Thüringen nach Bosnien zu fahren, um dort zwei Häuser für Bedürftige
zu bauen.
Da die Hilti Foundation gut vernetzt ist, gelang es ihr, mit der Hilfsorganisation «Bauern helfen Bauern» in Kontakt zu treten und deren Netzwerk
in Bosnien zu nutzen. «Bauern helfen Bauern», gegründet 1992 von
Doraja und Alexander Eberle, kümmert sich um den Wiederaufbau und
die Wiederbelebung von Dörfern im ehemaligen Kriegsgebiet des
Bosnienkonfliktes.
Das positive Echo, sowohl von den Menschen in Bosnien wie auch von
den beteiligten Lehrlingen, hat die Betreuungspersonen darin bestärkt, das Pilotprojekt mit Unterstützung der Hilti Foundation in den
kommenden Jahren zu wiederholen.
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51
Gesellschaftliche Entwicklung
2014
Der
Zukunft
ein Haus
bauen
Neben der Hilti Foundation engagieren sich auch die Mitarbeitenden
der Hilti Gruppe direkt. Zu den
vielen Mitarbeiter-Projekten im
Jahre 2014 gehörte eine Reise nach
Srebrenica. Lernende von Hilti
Thüringen bauten dort zwei Häuser.
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53
Was ich an den Menschen
in Srebrenica schätze,
ist ihre Hilfsbereitschaft.
Du hast ein Problem
mit dem Auto, morgens
um vier, es regnet.
Du machst einen einzigen
Telefonanruf, und wenige
Minuten später stehen
zehn Leute da, um dir zu
helfen. Versuch das mal
in Sarajewo!
Namir Porić
Namir Porić überstand den Krieg im Exil in Deutschland. Danach kehrte der Jurist in seine Heimat
zurück. Seit 2002 ist er als Projektmanager für das
Hilfswerk «Bauern helfen Bauern» in Bosnien tätig.
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55
Viele Ruinen in Srebrenica
erinnern noch immer an die
schrecklichen Ereignisse
im Bosnienkrieg. Die Ruinen
sollten – auch aus Gründen
der Sicherheit – abgerissen
werden, doch ein Abriss kostet
Geld. Zahlreiche Ruinen gehören zudem Menschen,
die inzwischen im Exil leben.
Wozu Geld ausgeben für
einen Ort, an den man ohnehin nicht zurückkehren
möchte?
Mit jedem Kind, das in Bo­s­nien geboren wird, verbindet sich Hoffnung, dass die
erlittenen Traumata einer
Zukunft Platz machen, in der
Versöhnung und ein gemeinschaftliches Miteinander
möglich sind.
BAUERN HELFEN
BAUERN
GEGRÜNDET
1992 AUS
PERSÖNLICHEM
ENGAGEMENT
56
Der Verein «Bauern helfen Bauern»
wurde 1992 von Doraja und Alexander Eberle in Salzburg gegründet,
um Flüchtlingen im Balkankonflikt
zu helfen. «BhB» finanziert sich
ausschliesslich über private Spenden
und ist in Bosnien und Kroatien
tätig. Der Verein entwickelte einen
Holzhaus-Typ, der sich rasch aufbauen lässt und trotz seiner bescheidenen Dimension gut bewohnbar
ist. Die Holzhäuser dienen als
Provisorium. Rückkehrer haben so
die Möglichkeit, nah bei ihrem
zerstörten Haus zu wohnen, während sie dieses wiederauf bauen.
Nach seiner Übergabe bleibt das Holzhaus während drei Jahren im Besitz
des Vereins. Danach fällt es an seine
Bewohner, die es nach dem Wieder-
auf bau eines Steinhauses weiternut­z en können als Wohnsitz für die
ältere Generation, Werkstatt, Stall etc.
«BhB» ist bekannt für integre und
pragmatische Direkthilfe. Darunter
fallen Lebensmittellieferungen,
Vermittlung von Werkzeug und landwirtschaftlichen Maschinen sowie
der Kauf von Tieren wie Rindern,
Schafen, Hühnern. «BhB» ist seit 1997
in Bosnien tätig, wo die Organisation
auch Bildungsprojekte unterstützt.
So konnte ab 2011 in Srebrenica eine
Musikschule für Kinder aller Ethnien
aufgebaut werden, die vor kurzem
von «Superar» übernommen wurde.
Projektmanager in Bosnien-Herzegowina ist der Jurist Namir Porić.
57
Srebrenica ist ein zauberhaft schönes Tal im Osten von Bosnien, das
sich über eine Länge von 50 Kilometern sachte in die Berge schiebt. Die
sanfte Hügellandschaft ist durchströmt von der Drina und unzähligen
kleinen Flüssen, in denen man fischen und im Sommer herrlich baden
kann. Abends, wenn die Dämmerung einsetzt, schimmern die Weiden
am Fluss und die Obstbäume in einem aprikosenfarbenen Licht, das
seinen Widerhall gefunden hat in den Liedern und den Gedichten der
Gegend. Man kann verstehen, warum über hundert Jahre lang unzählige
Touristen aus Österreich und dem ehemaligen Jugoslawien ihren Weg
in dieses Tal gefunden haben. Srebrenica war berühmt für seine 47
Heil­quellen. Die Kurgäste kamen, um hier ihren Eisenmangel und das
Rheuma zu kurieren und sich im Übrigen an den prächtigen Gärten zu
erfreuen. Der schönste Garten im Städtchen Srebrenica, das den gleichen Namen trägt wie der gesamte Bezirk, wurde jeweils im Sommer
von der Gemeinde prämiert. Viele Sommer lang bestand der bevorzugte Gesprächsstoff unter Nachbarn in der Frage: Wer bekommt dieses Jahr den Preis?
Spuren des Krieges
Inzwischen ist das Leben in Srebrenica schwer geworden, sehr schwer.
Die Spuren des Krieges sind überall noch sichtbar. Zerstörte Häuser
ohne Fenster und Türen, Industrieruinen, die vor sich hinrosten und mit
toten Fenstern in den Himmel ragen. Hierher verirrt sich kein Investor.
Auf den zerbrochenen Gehsteigen sind die Menschen zu Fuss unterwegs,
ein Auto kann sich kaum jemand leisten. «Man muss sich vorstellen»,
sagt Namir Porić von «Bauern helfen Bauern», «dass die Leute vor dem
Krieg alle einen Beruf hatten. Einer war Schreiner, andere waren Ingenieur oder Physiotherapeutin. Viele arbeiteten in der Fabrik. Es gab
keine Arbeitslosigkeit. Heute sind alle Bauern. Nicht weil sie das
wollen, sondern ganz einfach, weil sie sonst nicht überleben können.»
DREI FRAGEN AN …
DANIEL
BITSCHNAU
Wie kam es dazu, dass Sie mit
Lehrlingen nach Srebrenica
gefahren sind, um dort zwei Holzhäuser zu bauen?
Viele Jugendliche finden es ganz
normal, dass alles da ist. Als Ausbildungsleiter bei Hilti finde ich es
wichtig, dass sich die Lehrlinge auch
persönlich weiterentwickeln. Wenn
man weiterkommen möchte, muss
man Einsatz zeigen, sich engagieren.
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Es reicht nicht, ein Fachgenie zu sein.
Die Fähigkeit, ein soziales Netzwerk
aufzubauen, ein guter Umgang mit
Menschen, das ist genauso wichtig.
Bei Hilti legt man grossen Wert auf
Teamfähigkeit. Das Projekt in Srebrenica hat die Lehrlinge in einer Art
und Weise zusammengeschweisst,
wie man es sonst mit einem Workshop
nicht erreichen kann.
stehen: Warum sind wir hier? Was ist in
Srebrenica passiert? Die Lehrlinge waren noch nicht auf der Welt, als der Bosnienkrieg stattfand. Ihnen war nicht
bewusst, wie schlecht es den Menschen
in Bosnien noch immer geht. Sie waren extrem schockiert. Es war auch ein
Schock für mich. Der krasse Unterschied
hat sie aber sehr motiviert, sich zu engagieren.
Waren die Jugendlichen nicht
überfordert mit dem, was sie in
Srebrenica erfahren und erlebt
haben?
Wir haben mit den Lehrlingen die
Gedenkstätte besucht und mit ihnen die
Geschichte angeschaut, damit sie ver-
Ja. Nächstes Jahr bauen wir mit den
Lehrlingen vom 3. Lehrjahr drei
Häuser in Srebrenica, und wir überlegen uns schon, wie wir die Bauzeit
verkürzen und noch schneller
werden können.
Wird das Projekt wiederholt?
Das Holz wurde ungeordnet
angeliefert. Die erste Aufgabe für die Lehrlinge
bestand also darin, das Holz
zu ordnen und die verschiedenen Brettertypen
bereitzulegen.
Bisher wurden alle Häuser
der Hilfsorganisation
«Bauern helfen Bauern»
genagelt. Das hat viele Vorteile, aber auch gewisse
Nachteile. Beispielsweise
lassen sich die Häuser nur
schwer wieder auseinandernehmen, wenn sie genagelt sind. Beim Schrauben könnte man ausserdem
den Aufbau mit dem Einsatz von Akku-Bohrern
beschleunigen. Die Hilti
Foundation hat bereits
die ersten Geräte inklusiv
Wartung in Bosnien zur
Verfügung gestellt.
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Sie standen gerne auf,
keiner hat verschlafen, alle
waren pünktlich. Es war
genial. Dabei war ich mir
zuerst keineswegs sicher,
ob die Lehrlinge das
durchhalten würden. Die
Woche war sehr streng.
Wir haben von morgens
sieben Uhr bis abends
sieben Uhr auf den Baustellen gearbeitet.
Daniel Bitschnau
Daniel Bitschnau ist Ausbildungsleiter im Werk 4
von Hilti. Dieses befindet sich in Österreich, im
vorarlbergischen Thüringen. Bitschnau belegte als
Maschinenschlosser 1993 an den Berufsweltmeisterschaften den 3. Platz. Privat trainiert der
zweifache Vater den Skiclub Klostertal.
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61
Ich denke viel nach über
das, was ich in Srebrenica
gesehen habe. Ich denke
auch viel darüber nach,
wie wir hier leben. Man
lernt es zu schätzen, dass
man genug zu essen hat,
Kleider, ein Dach über
dem Kopf. Die Menschen
dort leben in Ruinen, teilweise ohne Fenster und
Türen. Das hat mich sehr
erschreckt.
Selina Rudigier
Selina Rudigier schliesst im Februar 2015 ihre Lehre
als Zerspanungstechnikerin ab. Ihre Hobbys sind
Snowboarden, Radfahren und Schwimmen. Ihre
Lieblingsarbeit im Hilti-Werk ist Fräsen.
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63
TAG 1
DIE REISE
Samstag, 3. Mai 2014, morgens
um vier. Es geht los! Noch
etwas verschlafen von der
kurzen Nacht laden wir das
Reisegepäck, die Mitbringsel
und einige Hilti-Maschinen
in die beiden Kleinbusse.
Kurz nach sieben Uhr haben wir die
ersten 300 Kilometer hinter uns.
In Anif, einer Gemeinde südlich von
Salzburg, treffen wir uns mit den
Leuten von «Bauern helfen Bauern».
Was für eine Freude! Im «Hubertushof» warten nicht nur Heinz, Landolf
und Edith auf uns. Nein, Doraja –
die Gründerin von BhB – sowie Susi
und Michaela sind auch da. Mmh,
es gibt Hefeschnecken. Wir müssen
aber gleich wieder los. Schliesslich
liegen noch mehr als 800 Kilometer
vor uns. Heinz, Landolf und Edith
steigen zu, und weiter geht es Richtung Srebrenica. Quer durch Österreich, durch Slowenien und Kroatien.
Es regnet, um halb acht Uhr abends
kommen wir an. Pension «Misirlije».
Wir sind still und nachdenklich.
Kaputte Häuser, Minenfelder, überall Spuren der Verwüstung. Beim
Abendessen lernen wir Namir Porić
kennen, die gute Seele von «Bauern
helfen Bauern» in Bosnien. Dann
heisst es gute Nacht!
64
TAG 2
DIE GEDENKSTÄTTE
Sonntag, 4. Mai 2014. Nach
dem Frühstück machen wir
uns auf nach Potočari, wenige
Fahrminuten nördlich von
Srebrenica gelegen.
Dort befindet sich die Gedenkstätte,
die an die Menschen erinnert, die
im Juli 1995 von den serbischen Truppen massakriert wurden. Wir stehen
in der Halle, in der so viele bosnische
Frauen, Kinder, kranke und alte Menschen vergeblich Zuflucht gesucht
haben. Erschüttert sehen wir uns den
Film an und besuchen den Friedhof,
auf dem die Toten ihre letzte Ruhe
gefunden haben. So bekommen
wir eine Ahnung von den schrecklichen Geschehnissen in Srebrenica.
Beim Mittagessen lernen wir die
Genossenschaft «Potonica» (Vergissmeinnicht) kennen. Es handelt sich
um Frauen aller Ethnien, die sich zusammengeschlossen haben, um
gegen Entgelt für andere zu kochen.
Für Besucher, Firmen oder für Reisende, wie wir es sind. Wir bringen der
Genossenschaft eine Kücheneinrichtung mit. Die Freude ist gross, und
zwar auf beiden Seiten! Das Mittagessen schmeckt, und zum Schluss
bekommen wir alle etwas geschenkt:
ein Glas Pek-Mez, hausgemachte
Traubenmarmelade! Nass und durchfroren erreichen wir die Pension in
Srebrenica.
TAG 3
DIE
FAMILIEN
Montag, 5. Mai 2014. Kaum zu
glauben, aber es hat aufgehört
zu regnen! Ideal für unsere
Arbeit. Um sieben fahren wir
los zu den beiden Baustellen.
Das erste Haus, das die Hilti-Lehrlinge mithilfe lokaler Handwerker
bauen werden, ist für Hajra Mujic
bestimmt. Frau Mujic hat während
des Krieges alles verloren. Lange lebte
sie in Holland im Exil, wo schliesslich auch ihr Mann starb. Nun ist sie
nach Bosnien zurückgekehrt, hat
aber keine eigene Bleibe mehr. Sie
kommt entweder bei ihrer Schwester
unter, die 250 Kilometer weit weg
von Srebrenica wohnt, oder aber bei
ihrem Neffen.
Das zweite Haus, ganz nah an der
Drina, bauen wir für Familie Harbas.
Frau Harbas hat ihren ersten Ehemann im Krieg verloren. In zweiter
Ehe ist sie mit einem Mann verheiratet, der im Krieg schwer verwundet
wurde und einen Arm verloren hat.
Gemeinsam mit ihrem fünfjährigen
Sohn Namil möchte Familie Harbas
von vorn beginnen.
Wir studieren Pläne, sortieren das
angelieferte Holz. Die Verständigung
ist nicht ganz einfach, wir behelfen
uns mit Mimik und Gestik. «Langsam
bitte», das heisst «polako». «Hvala»,
vielen Dank! Ein paar Worte haben
wir schon gelernt. Abends sind
wir ziemlich erledigt, aber die Aussenwände stehen, und mit dem Dachstuhl haben wir bereits begonnen.
65
TAG 4
DIE ARBEIT
Dienstag, 6. Mai 2014. Früh los
und Arbeit bis abends spät.
Heute schafften wir die Fenster und
die Türen, das Dach und die gesamte
Isolierung. Die bosnischen Zimmermänner schneiden alles mit der
Kettensäge, verblüffend. Die Männer
kommen mit Meterstab, Hammer
und Nägeln, einer Wasserwaage und
einem Fuchsschwanz aus.
Erstaunlich!
TAG 5
ZWEI
BAUSTELLEN
Mittwoch, 7. Mai 2014.
Arbeit, Arbeit. Bis zum Abend
haben wir das Erdgeschoss
geschafft und fast alles im
oberen Stock.
Eine Seite des Daches wird mit Ziegeln gedeckt. Dazwischen gibt es
Kaffee und Kuchen von den zukünftigen Bewohnern des Holzhauses.
Auch am Mittag werden wir bestens
verköstigt. Besonders schön sitzt man
in der Mittagspause auf Baustelle 2.
Dort gibt es unten am Wasser der
Drina einen kleinen Pavillon. Seit die
Hiltis da waren, ist dieser nun auch
mit Treppe, Tisch und Bänken
ausgestattet!
TAG 6
DIE
ÜBERGABE
TAG 7 UND 8
DIE
RÜCKREISE
Freitag, 9. Mai, und Samstag,
10. Mai 2014. Um acht fahren
wir von Srebrenica aus wieder
nach Hause.
Langes Fahren, Übernachtung am
Wörthersee. Wir hängen noch ein
bisschen ab in der Bar, am nächsten
Morgen geht es weiter Richtung
Westen. Um 14 Uhr sind wir wieder
daheim im Vorarlberg.
Donnerstag, 8. Mai 2014.
Um 15 Uhr ist das erste Haus
fertig.
Ein wunderschönes Gefühl! Die
Lehrlinge von Baustelle 1 fahren zu
Baustelle 2 hinüber, um noch mitzuhelfen. Um 17 Uhr steht auch das
zweite Haus. Darauf wird mit einem «pivo», einem Bier, angestossen.
Schlüsselübergabe und unbeschreibliche Freude bei den neuen Hausbesitzern. Auch wir sind glücklich und
dankbar für die vielen positiven Erfahrungen, die wir gemacht haben. Die
Warmherzigkeit der Menschen in
Srebrenica hat uns tief beeindruckt.
66
67
Kilo
17
10
10
10
4
3
70 mm
100 mm
120 mm
140 mm
160 mm
30 mm
60 m² Dachpappe
20 Firstziegel
90 m² Vertäfelung
50 m² Schiffsboden
90 m Eckleisten
72 m² Tyvek®-Folie
Nägel
99 m²
Glaswolle … und die juckt!!!
5013
Bretter &
Dachlatten
Die bosnischen
Zimmermänner
schneiden alles mit
der Kettensäge,
verblüffend!
*
68
1 Türe
3 Fenster
1 Holzofen mit
Rohren
69
Heute Morgen ist
meine Rose erblüht
Ich schaue die Rose an
Und dann kommen
mir die Tränen
Rose, ich hab dir
meine Jugend geschenkt
Und dich mit meinen
Tränen gegossen
Wie oft habe ich deine
Knospe geküsst
Wie oft habe ich von
deinem Tau getrunken
Anstatt meinen
Liebsten zu küssen
70
Rose, ich habe dir
meine Jugend geschenkt
Und dich mit meinen
Tränen gegossen
Traditionelles Svedah-Lied
A capella gesungen von Muharem Hasanovich.
Scannen Sie den QR-Code mit Ihrem Handy, um sich
das Tondokument anzuhören!
71
an und warteten, bis sie niedergebrannt waren und mit ihnen die Menschen darin. Noch während die internationale Gemeinschaft einen
Luftangriff diskutierte, wurden am 11. Juli 1995 Männer und Frauen in
einer ausgedienten Batteriefabrik in Potočari zusammengetrieben
und getrennt. Nach drei Tagen waren 8000 Männer tot, ermordet von
den serbischen Streitkräften und verscharrt in Mässengräbern. «Es ist
zwanzig Jahre her», sagt Namir Porić. «Aber es ist wie gestern.»
Neue Existenz
Beatrix Bättig Staud von
der Hilti Foundation und
Namir Porić von «Bauern
helfen Bauern» im neuen
Holzhaus von Hajra Mujic.
Die Freude über das
einfache Haus ist gross.
Die Weltöffentlichkeit nimmt
Konflikte wahr, selten aber
begleitet sie den schildkrötenhaft langsamen Weg des
Wiederaufbaus.
«Zu einem menschenwürdigen Leben gehört doch,
dass man sich waschen und
seine Notdurft verrichten
kann. Die meisten unserer
Spender finanzieren
mit dem Haus auch den
Bau einer Nasszelle.»
Namir Porić
Die Weltöffentlichkeit nimmt Konflikte wahr, selten aber begleitet sie
den schildkrötenhaft langsamen Weg des Wiederauf baus und der
Versöhnung. Die österreichische Organisation «Bauern helfen Bauern»
hält sich entschieden fern von der Politik und hilft den Menschen in
Srebrenica seit 1997 mit handfester Unterstützung. So wurden bisher
über 400 Holzhäuser gebaut, um den Rückkehrern eine menschenwürdige Bleibe zu verschaffen. Die Häuser erlauben es den Überlebenden,
die noch bestehenden Ruinen wiederaufzubauen und das Land, das
ihnen gehört, ohne lange Anfahrtswege zu bestellen. «Wir sind ziemlich
unkompliziert», sagt Namir Porić. «Wenn jemand eine gute Idee hat,
dann helfen wir. Mit Saatgut, landwirtschaftlichen Maschinen. Wir haben auch beim Auf bau einer grossen Gärtnerei mitgeholfen. Und
gerade kürzlich sind uns ausgediente Maschinen einer Bäckerei angeboten worden. Das verhilft mehreren Menschen hier wieder zu einer
Existenz. Insgesamt versuchen wir eine Atmosphäre zu schaffen, in der
es sich lohnt, zu leben.» Die beiden Häuser, die von den Hilti-Lehrlingen mit der Hilfe von «Bauern helfen Bauern» gebaut wurden, sind
zwar ein kleiner Beitrag an die Entwicklung der Region. Für die Familien aber, die inzwischen darin wohnen, bedeuten sie eine grosse
Freude und eine unschätzbare Hilfe.
Noch schlimmer als der wirtschaftliche Niedergang ist die seelische
Verwüstung der Überlebenden. Srebrenica reicht wie ein Finger in das
Staatsgebiet Serbiens hinein und wurde so zum Schauplatz des grausamen
Wahns vom grossserbischen Reich. Im April 1995 wurde das Tal von den
serbischen Streitkräften umzingelt. Die orthodoxen Serben, die bis dahin in gutem Einvernehmen mit ihren bosnisch-muslimischen Nachbarn
gelebt hatten, wurden evakuiert. Danach begann jenes Grauen, das die
Zeit in Srebrenica in ein Vorher und ein Nachher teilt. Im heissesten
Sommer des Jahrzehnts wurden die Menschen beschossen, mit Granaten
beworfen und systematisch ausgehungert. Ältere Menschen starben,
Babys starben. Verwundete konnten nicht operiert werden, weil es keine
Medikamente und keine Anästhesie gab und das Spital zerstört wurde.
Die Menschen dörrten aus. Die Stadt Srebrenica, die einst 8000 Einwohner
gehabt hatte, fasste nun 40 000 Flüchtlinge, weil die Menschen ihre
Dörfer verlassen hatten, um im Tal Schutz zu suchen. Die serbischen
Soldaten gingen an den Hängen durch die Dörfer, zündeten die Häuser
72
73
Finanzbericht
2014
Zahlen &
Fakten
Strategie & Zielsetzung
Die Hilti Foundation wurde 1996 als gemeinnützige Stiftung des Martin Hilti Family Trusts ins
Leben gerufen. Seit 2007 ist die Hilti Foundation eine
gemein­same Einrichtung des Martin Hilti Family
Trusts und der Hilti Gruppe.
Die Hilti Foundation unterstützt weltweit Projekte und Institutionen, die einen nachhaltigen
Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten.
Um die Lebensqualität von möglichst vielen Menschen langfristig zu verbessern und effektive Hilfe zu
bieten, setzt die Hilti Foundation auf eine Strategie
mit klar definierten Schwerpunktbereichen und einen
gemeinsamen Ansatz mit der Hilti Gruppe.
Die Hilti Foundation zielt mit ihren Aktivitäten
auf Nachhaltigkeit und stärkt Grundqualitäten einer
modernen Gesellschaft. Über ihre Projekte will sie
benachteiligten Menschen ermöglichen, ihr Leben aus
eigener Kraft zu verbessern (Hilfe zur Selbsthilfe).
Dabei legt die Hilti Foundation Wert auf betriebswirtschaftlich tragfähige Initiativen, die messbar und
multiplizierbar sind, um eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.
Weitere Informationen finden Sie auf:
www.hiltifoundation.org
74
Sechs Grundsätze
für erfolgreiche
Projekte
1
Fokussiertes Engagement:
Sechs Schwerpunktbereiche
Kultur, Wissenschaft und Bildung
Bezahlbarer Wohnraum
Katastrophenhilfe
Berufliche Aus- und Weiterbildung
Soziales Unternehmertum
Gesellschaftliche Entwicklung
2
Ziele gemeinsam angehen:
Dialog und Teamarbeit
Die Umsetzung der Projekte erfolgt
durch eine offene und konstruk­tive Zusammenarbeit zwischen der
Hilti Foundation, den lokalen
Organisationen der Hilti Gruppe
und den Partnerinstitutionen.
3
Sich sinnvoll vernetzen:
Ausgewählte Partnerschaften
Um die Bedürfnisse der ärmsten
Bevölkerungsschichten zu verstehen
und geeignete Lösungen zu entwickeln, arbeitet die Hilti Foundation
mit ausgewählten Organisationen
und Netzwerken zusammen. Voraussetzung für die Zusammenarbeit
ist die Übereinstimmung der Zielsetzungen sowie der Wirkungsgrad
der jeweiligen Organisation.
4
In die Zukunft denken:
Ganzheitliche und langfristige
Lösungen
5
Nicht nur Geld:
Finanzielles, intellektuelles
und soziales Engagement
Die Hilti Foundation unterstützt
innovative und replizierbare Ideen,
die langfristig zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen und
damit die Lebensqualität von möglichst vielen Menschen verbessern.
Die Hilti Foundation unterstützt die
Partnerorganisationen nicht nur
in Form von finanziellen Zuwendungen, sondern stellt auch unternehmerisches und produktionsrelevantes
Know-how zur Verfügung und
vermittelt Sozialwissen, beispielsweise durch den Zugang zu wichtigen
Netzwerken und Institutionen.
6
Nutzen nachweisen:
Wirkungsmessung
Zusammen mit ihren Partnern
will die Hilti Foundation Standards
entwickeln, die eine langfristige,
transparente und vergleichbare Wirkungsmessung erlauben.
75
Organisation
Finanzen
Die Hilti Foundation ist eine gemeinnützige
Stiftung. Finanziell wird die Stiftung getragen
vom Martin Hilti Family Trust und der Hilti Gruppe. Die Hilti Foundation engagiert sich in sechs
Bereichen offensiv, unbürokratisch und flexibel.
Das Engagement kommt Projekten weltweit
zugute, die nach klar defi nierten Kriterien unterstützt werden. Im Berichtsjahr überschritt
das Vergabevolumen erstmals die Grenze von
11 Millionen Schweizer Franken.
Unverändert hoch ist das Engagement der
Hilti Foundation im Bereich Kultur, Wissenschaft und Bildung. Fast die Hälfte der eingesetzten Mittel entfiel auf diesen Bereich. Motiviert
wird diese Förderung von der Überzeugung,
dass die persönliche Entwicklung von Menschen
positiv zum Gemeinwesen beiträgt.
Deutlich mehr Mittel wurden 2014 für die
Bereiche bezahlbarer Wohnraum sowie gesellschaftliche Entwicklung zur Verfügung gestellt.
Stärker investiert wurde auch in das soziale
Unternehmertum. In den erwähnten drei Bereichen stand der Wunsch im Vordergrund, Hilfe
zur Selbsthilfe zu leisten.
Stiftungsrat
Zuwendungen 2007 bis 2014
in Mio. CHF
Der Stiftungsrat der Hilti Foundation setzt sich
aus Vertretern des Martin Hilti Family Trusts und
der Hilti Aktiengesellschaft zusammen.
11,3
2014
10,0
2013
Präsident des Stiftungsrats
8
2012
2011
Egbert Appel
Trustee des Martin Hilti Family Trusts
8,5
2010
6,8
2009
Mitglieder des Stiftungsrats
10,4
2008
7,8
2007
8,0
0
2
4
6
Michael Hilti
Mitglied des Verwaltungsrats der
Hilti Aktiengesellschaft und Trustee des
Martin Hilti Family Trusts
8
10
12
Unterstützungsleistungen 2014
Dr. Christoph Loos
Vorsitzender der Konzernleitung der
Hilti Aktiengesellschaft
Total 11,3 Mio. CHF
Für die kommenden Jahre sind höhere
Projektzuwendungen geplant. Die Hilti Foundation wird in Zukunft – ideell, mit Arbeit und
fi nanziell – noch stärker von der Hilti Gruppe
unterstützt werden.
Soziales
Unternehmertum
6,2 % | 0,7 Mio. CHF
Bezahlbarer
Wohnraum
32,5 % | 3,7 Mio. CHF
Dr. Michael Jacobi
Mitglied des Verwaltungsrats der
Hilti Aktiengesellschaft und Trustee des
Martin Hilti Family Trusts
Kultur, Wissenschaft
und Bildung
43,2 % | 4,9 Mio. CHF
Jörg Kampmeyer
Mitglied der Konzernleitung der
Hilti Aktiengesellschaft
Geschäftsstelle
Dr. Christine Rhomberg, Bruno Walt
Geschäftsführung
Beatrix Bättig Staud
Administration und Projekte
Corinna Salzer, Regula Schegg, Elisa Sologni
Projekte
Gesellschaftliche
Entwicklung
9 % | 1 Mio. CHF
Berufl iche
Aus- und Weiterbildung
6,6 % | 0,8 Mio. CHF
Katastrophenhilfe
2,5 % | 0,3 Mio. CHF
76
77
Projekte der
Hilti Foundation
Kultur, Wissenschaft und Bildung
 Unterwasser-
archäologische
Forschungen von
Franck Goddio in
Ägypten. Aufarbeitung
und Publikation in
Zusammenarbeit
mit der Universität
Oxford
 Changing lives
through music: «El
Sistema» Venezuela und
weitere Musikinitiativen in Südamerika,
Südafrika und Europa
(Projekt siehe Seiten 7 bis 27)
 Kooperationen
mit international
renommierten Festivals
im Bereich Jugendarbeit: Int. Stiftung
Mozarteum Salzburg,
Bregenzer Festspiele
und Lucerne Festival
78
Bezahlbarer Wohnraum
Berufliche Aus- und Weiterbildung
 Bauen mit Bambus
 Berufsschule für
in Asien: Base Bahay,
Philippinen
 Genossenschaft­
licher Wohnungsbau im
ländlichen Sambia:
SolidarMed, Schweiz
 Weltweite Ver­­gabe
von Kleinkrediten für
Wohnraumverbesse­
rungen: Habitat
for H
­ umanity International, USA
Katastrophenhilfe
 Medizinische
Betreuung in Krisenund Katastrophengebieten: Médecins Sans
Frontières, Schweiz
 Syrienhilfe, Entwicklung und Realisierung von RISK und
RDSU: Médecins Sans
Frontières, Schweiz
(Projekt siehe Seiten 30 bis 49)
 Zementblock-­
Herstellung in Haiti:
Baufachleute in der
Build Change Inc.,
Republik Moldau: Liech- USA
tensteinischer EntStipendien für

wicklungsdienst, FürsSozialunternehmer:
tentum Liechtenstein
Ashoka Arab World,
 Bauarbeiterschulung Ägypten
in Kolumbien: Swisscontact, Schweiz
Gesellschaftliche Entwicklung
Krankenschwes­
t
ern­

 Medizinische
ausbildung im länd­
Betreuung mit mobilen
lichen Sambia:
Kliniken im Gebiet
SolidarMed, Schweiz
der Palästinensischen
Weltweite
Exper
Autonomiebehörde:
­teneinsätze für lokale
Physicians for Human
Gewerbebetriebe:
Rights, Israel
Swisscontact – Senior
 Projekte von HiltiExpert Corps, Schweiz
Mitarbeitenden und
Hilti-Organisationen
Soziales Unternehmertum
weltweit: Hilti
Solarenergie-­

Gruppe und Partner
Installationen im
(Bauern helfen Bauern,
­ländlichen Indien:
Österreich; BookSimpa Networks ­
bridge, Schweiz etc.)
Inc., USA
(Projekt siehe Seiten 51 bis 73)
79
Impressum
Konzept Denken und schreiben, nordföhn
Texte Nicole Müller, Denken und schreiben
Text «Sozialer Wandel durch Musik» Christine Rhomberg,
Geschäftsleitung Hilti Foundation
Redaktion Nicole Müller, Denken und schreiben, Zürich
Gestaltung nordföhn. Visuelle Gestaltung.
Angela Reinhard, Zürich
Übersetzung deutsch-englisch Dr. Elizabeth
Wollner-Grandville, Luzern
Korrektorat deutsch Dominik Süess, Zürich
Korrektorat englisch Julia Hickey, USA
Fotografie
Vignetten Portraits: Uli Reitz (Seiten 4, 7, 29, 51)
Sozialer Wandel mithilfe von Musik:
Aissa Chrem (Seiten 11, 12, 13, 15, 26)
Anna Janson (Seiten 9, 19, 20/21, 23 unten, 52, 27 )
Christine Rhomberg (Seite 23 oben)
Johanna Valcárcel-Correo Semanal (Seite 1)
Laurent Ziegler (Seite 16)
Medizinische Hilfe in Extremsituationen:
Nagham Awada (Seite 40)
Pierre-Yves Bernard (Seite 33 unten)
Favila Escobio (Seite 33 oben)
Laurence Hoenig (Seiten 36, 45 unten)
Anne Khoudiacoff (Seiten 31, 37, 42/43, 49 oben und unten)
Florian Lems (Seite 41)
Uli Reitz (Seiten 35, 46)
Julie Remy ( Seiten 44, 49 mitte)
Meinrad Schade (Seite 39)
Mario Travaini (Seite 45 oben)
Der Zukunft ein Haus bauen:
Uli Reitz (Seiten 61, 62)
Susanne Reiß und Manuel Reichl (Seiten 53, 59, 63, 64 oben,
65, 66, 67 links und oben, 69)
Martin Walser (Seiten 55, 56, 57, 64 unten, 67 unten, 72, 73)
Litho Thomas Humm dtp, Matzingen
Druck und Ausrüstung Kösel GmbH & Co. KG, Altusried
© 2015 Hilti Foundation, FL - S chaan
Alle Rechte vorbehalten
80
Herausgeberin
Hilti Foundation
Feldkircherstrasse 100
Postfach 550
9494 Schaan
Liechtenstein
T +423 234 4313
info@hiltifoundation.org
www.hiltifoundation.org
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