- HILTI Foundation
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ohne Fenster ohne Türen* Jahresbericht 2014 1 Schaan, März 2015 1 4 Editorial 7 Kultur und Wissenschaft Sozialer Wandel mithilfe von Musik Was vor vierzig Jahren in Venezuela als Vision begann, erobert heute die Welt. Ein Bericht über eine beeindruckend humane Idee und ihre Folgen in Peru. 51* Gesellschaftliche Entwicklung Der Zukunft ein Haus bauen Hilti-Lehrlinge sind nach Bosnien gefahren, um in Srebrenica zwei Holzhäuser zu bauen. Sie haben viel gearbeitet und viel gelernt. Zurückgekommen sind junge Menschen, die plötzlich anders über sich und ihre Welt denken. 29 Katastrophenhilfe Medizinische Hilfe in Extremsituationen Die Hilti Foundation unterstützt die Tätigkeit von Médecins Sans Frontières in der Syrienkrise. Ausserdem hat die Stiftung zwei bahnbrechende Innovationen finanziert, die vielen Menschen das Leben retten werden. Fenster ohne Türen * ohne In Bosnien sind die Spuren des Krieges weiterhin sichtbar. Besonders erschütterte die Hilti-Lehrlinge, dass Menschen in Srebrenica noch immer in halbverfallenen Häusern ohne Fenster und ohne Türen leben. 74 Zahlen & Fakten Strategie & Zielsetzung. Sechs Grundsätze für erfolgreiche Projekte. Finanzen. Organisation. 3 Hilti Foundation 2014: Hilfe, die bleibt. Egbert Appel Präsident des Stiftungsrats Michael Hilti Mitglied des Stiftungsrats 4 Liebe Leserin, lieber Leser Wir freuen uns, Ihnen den Jahresbericht 2014 der Hilti Foundation vorzulegen. Mitgefühl ist nichts, was man planen kann. Vermutlich kennen alle, die Zeitung lesen oder fernsehen, die spontane Regung des Helfenwollens. Was man hingegen planen kann, ist der nachhaltige Nutzen eines Engagements. Die Hilti Foundation hat einen Lernprozess durchlaufen. Die Stiftung hat beschlossen, weniger Projekte, dafür thematisch stärker fokussiert und mit substanziellen Beträgen zu unterstützen. Im Zentrum steht dabei die Nachhaltigkeit eines Projektes und dessen Chance, systemische Veränderungen zu bewirken. Was damit gemeint ist, wird am Beispiel der Musikinitiative «El Sistema» sehr deutlich. Der Musikunterricht in Gruppen stärkt die Persönlichkeit der Kinder, er schafft Perspektiven und weckt die persönliche Verantwortung. Lauter Dinge, die für ein konstruktives Zusammenleben von entscheidender Bedeutung sind. Die Erfahrungen von «El Sistema» sind überwältigend positiv. Umso mehr freut sich die Hilti Foundation, mit einem ähnlichen Modell in Peru zu starten. Es gibt eine zweite Veränderung in der Strategie der Stiftung. Bisher stammten die meisten Mittel aus dem Familienvermögen. In Zukunft sollen die Projekte der Hilti Foundation breiter abgestützt werden. Die Hilti Gruppe wird sich finanziell, mit Know-how und dem Einsatz von Fachleuten an Projekten beteiligen. Dies eröffnet den Engagements der Hilti Foundation eine neue Dimension. Wir danken allen, die sich für die Projekte der Stiftung starkgemacht und ein Zeichen gegen die Unmenschlichkeit gesetzt haben: Zuerst natürlich danken wir unseren Kunden. Ohne sie und ihre Treue zu den Produkten der Hilti Gruppe wäre die Arbeit der Hilti Foundation gar nicht möglich. Dann danken wir den Hilti-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, den professionell aufgestellten Partnerorganisationen und nicht zuletzt den Betroffenen selbst. Dass man voneinander lernen kann, gehört schliesslich zu den Benefits, von denen alle profitieren dürfen. 5 Mit Musik gegen die Armut Christine Rhomberg Geschäftsführung Als die Hilti Foundation im Jahr 2008 begann, mit der venezolanischen Musikinitiative «El Sistema» zu arbeiten, entsprach dies der neu gefassten Strategie der Stiftung. Die Hilti Foundation sollte sich in Zukunft auch im Bereich von Bildung und Kultur auf Projekte mit sozialer Ausrichtung konzentrieren. Diesen Weg gehen wir seither ganz konsequent. Das Engagement für «El Sistema» bleibt bestehen, der Akzent liegt auf der Basisarbeit mit möglichst grosser Reichweite. Daneben haben wir das Feld geöffnet und unterstützen heute mehrere Projekte in Südamerika, in Südafrika und Europa. Sie haben mit «El Sistema» eines gemeinsam: den Glauben daran, dass man eine Gesellschaft verändern kann, indem man Kindern und Jugendlichen eine vertiefte Beschäftigung mit Musik ermöglicht. «El Sistema» feiert im Jahr 2015 sein 40-jähriges Bestehen. Fast alle anderen von der Hilti Foundation unterstützten Musikprojekte stehen am Beginn, dürfen aber auf der Erfahrung des venezolanischen Vorbilds aufbauen. José Antonio Abreu, der Gründer von «El Sistema», hat viele von diesen Projekten angeregt und zu den ersten Schritten ermuntert. So war es auch bei «Sinfonía por el Perú». Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez gründete das Projekt 2011. In der Systematik und Methodik ist es eng angelehnt an «El Sistema», allerdings wurde «Sinfonía por el Perú» an die Gegebenheiten und Bedürfnisse des Landes angepasst. In den knapp vier Jahren seit der Gründung entstanden dreizehn Musikzentren, sogenannte «núcleos», in allen Regionen Perus. Die «núcleos» erreichen zurzeit über 2000 Kinder. Angesiedelt sind sie in den bedürftigsten Gegenden des Landes, an entlegenen Orten in den peruanischen Anden und in den ärmsten Vierteln der Hauptstadt und der Region um Lima. 6 7 Kultur, Wissenschaft und Bildung 2014 Sozialer Wandel mithilfe von Musik «El Sistema» wurde in Venezuela erfunden und richtet sich an Kinder aus ärmeren Schichten. Das Erfolgsmodell inspiriert weltweit unzählige Menschen. So auch in Peru, wo die Hilti Foundation die Initiative «Sinfonía por el Perú» unterstützt. 8 9 Lima an einem trüben, nebligen Tag im November. Es ist früh am Morgen, und wir sind unterwegs nach Manchay, einer Wüstenstadt am südöstlichen Rande der peruanischen Hauptstadt. Wir wollen Carmen Jimena Huamán treffen, eines der rund 2000 Kinder, die am Projekt «Sinfonía por el Perú» beteiligt sind. Schon zu dieser frühen Tageszeit staut sich der Verkehr in der peruanischen Hauptstadt. Etwa 10 Millionen Einwohner leben in Lima, immer mehr Menschen verlassen die ländlichen Gebiete, um ihr Glück in der Stadt zu suchen. Wir fahren durch den Nobelbezirk La Molina. Hohe Mauern, Barrieren und Checkpoints, die den Zugang kontrollieren. Das ist alles, was man von der Strasse aus sieht. Dann verändert sich das Bild. Entlang der staubigen, sandigen Strasse ziehen sich Blechhütten und kleine, ärmliche Häuser. Lebensmittelläden mit Gittern, durch die bedient wird. Werkstätten, die verwenden, was irgendwie noch brauchbar scheint. Händler, die sich auf einer Plastikplane am Boden eingerichtet haben und das wenige, was sie zu verkaufen haben, anbieten. Zunehmende Jugendkriminalität und Bandenwesen sind «ideale» Voraussetzungen für die Eröffnung eines musikalischen «núcleos». Leben in der Steinwüste. Immer höher hinauf breiten sich die Hütten auf die Hügel aus, erreichbar oft nur noch auf schmalen Wegen und über steile Treppen. Am Beginn eines langen Tages. Kurz nach sieben Uhr verlässt Carmen das Haus und macht sich auf den langen Weg in Richtung Schule. «Bienvenidos a Manchay» – eine grosse bunte Schrift auf einer Stützmauer heisst uns willkommen. Wir haben es fast geschafft. Die neu asphaltierte Strasse – wohl eines der eingelösten Versprechen des eben gewählten Bürgermeisters – steigt kurvenreich auf eine Art Hochplateau. Vor uns öffnet sich ein hügeliges Wüstental, links und rechts dicht besiedelt mit einfachen Einzimmer – Hütten aus Blech oder dünnen Holzplatten. Da und dort eine schüttere Pflanze, die der Trockenheit trotzt. Das Grau des nebligen Himmels geht über in das triste Grau der Steinwüste, nur Staub und Sand. Manchay, der Name ist Quechua und bedeutet «Angst». Das Gebiet wurde in den 1980er-Jahren besiedelt, vorwiegend von Menschen, die – vertrieben durch den Terrorismus der Organisation «Leuchtender Pfad» – ein neues Zuhause suchten. Die Nähe zur Stadt war wohl der einzige Grund, sich in diesem unwirtlichen Landstrich niederzulassen. Inzwischen leben hier zwischen 60 000 und 80 000 Menschen, rund 50 % davon in absoluter Armut. Arm heisst: Man verdient weniger als 15 Euro im Monat. Nur 10 % der Bevölkerung haben ein regelmässiges Einkommen, die Arbeitslosenrate liegt bei 35 %. Zunehmende Jugendkriminalität und wachsendes Bandenwesen sind die Folge. «Ideale» Voraussetzungen also für die Eröffnung eines «núcleos», einer Musikschule der Organisation «Sinfonía por el Perú», denn das Ziel des Projektes ist es ja gerade, in den schwierigen Gegenden des Landes präsent zu sein, um über die Musik zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien beizutragen. 10 11 «Construyamos un Perú con valores» – so lautet der Wahlspruch der Schule «Virgen del Rosario» in Manchay, in der rund 1200 Kinder aller Schulstufen nicht nur lesen und schreiben lernen, sondern auch gesellschaftliche Werte vermittelt bekommen sollen. Für viele von ihnen ist die Schule das zweite Zuhause. Ihre Eltern arbeiten vielfach die ganze Woche auswärts und kommen oft nicht einmal am Abend nach Hause. MUSIK UND SOZIALE INTEGRATION Die Studie aus Peru und ihre Ergebnisse Projektzeitraum: 16–19 Monate Projekteilnehmer: «núcleo» Huánuco 377 «núcleo» Manchay 392 12 Wir sind beim Haus von Carmen angekommen. Sie hat ihre Schulsachen schon gepackt, verabschiedet sich von ihrer Mutter und vom kleinen Bruder und macht sich auf den Weg in die Schule. Die Familie lebt in einem kleinen Holzhaus, das aus zwei aneinandergebauten Räumen besteht. Alles ist sauber und ordentlich, es gibt Strom im Haus, einen Computer und ein Fernsehgerät. Carmens Vater ist selbstständ ig und arbeitet in der Werbebranche. Dadurch kann die Mutter zu Hause bleiben und sich um die Familie kümmern. Carmens Schulweg führt über eine neu betonierte Treppe in Richtung Tal. Sie passiert ein grosses Tor, das der Kontrolle des Bezirkes dient und sicherstellen soll, dass nur die Bewohner des Viertels Zugang haben. Eine Massnahme, die nötig geworden ist, weil die Kriminialität ständig steigt. Kinder involviert in «Sinfonía por el Perú» zeigen: Kinder involviert in «Sinfonía por el Perú» erfahren: 30% physische Gewalt 30% weniger durch die Eltern höhere Selbstachtung Engagement 34% mehr in der Schule physische und 29% weniger verbale Aggressivität psychische Gewalt 46% weniger durch die Eltern Durch die Musik hat sich Carmen geöffnet und ist heute eine der Engagiertesten. Zielorientierung 19% höhere und Durchhaltevermögen höhere 20% Kreativität 13 Unser Lehrer sagt immer: «Spielt, aber spielt mit dem Herzen. Nicht mit dem Verstand, mit dem Herzen.» Mein Traum ist es, eine grosse Saxophonistin zu werden und im Fernsehen aufzutreten. Und ich wünsche mir, dass die Magazine und Zeitungen über mich berichten. Carmen Carmen lebt seit ihrer Geburt in Manchay und war unter den ersten Bewerberinnen für die Musikschule. Die Musik hat sie verändert, sie ist selbstbewusster geworden, kommuniziert mehr in der Familie und mit den Mitschülern und sie ist konzen trierter in der Schule. Und sie träumt davon, eines Tages berühmt zu sein. So wie ihr grosses Vorbild Juan Diego Flórez. 14 15 Ich bin stolz auf die 2000 Kinder, die in den «núcleos» üben. Diese Kinder haben ein ungeheures Selbstvertrauen, und das bedeutet, dass sie keine armen Kinder mehr sind. Wenn Kinder wissen, dass sie wichtig sind, trauen sie sich zu, jede Schwierigkeit zu meistern. Juan Diego Flórez Juan Diego Flórez wurde 1973 in Lima geboren. Er begann seine Karriere als Pop- und Rocksänger und widmete sich intensiv der peruanischen Volksmusik. Seit 1990 konzentriert er sich auf die klassische Musik. Heute zählt Flórez zu den gefragtesten Tenören der Welt und gilt als der Belcanto-Tenor par excellence. Im Jahr 2011 gründete er das Projekt «Sinfonía por el Perú», das er kritisch und mit grosser Hingabe begleitet. 16 17 Das Mädchen hat einen langen Tag vor sich. Die Schule beginnt vor acht Uhr und dauert meist bis zum frühen Nachmittag. Danach isst die ganze Klasse in der Schulmensa, und anschliessend geht Carmen in die Musikschule, die im angrenzenden Kloster «Virgen del Rosario» untergebracht ist. Von den über 1500 Kindern der Schule haben sich etwa 10 % gemeldet, als «Sinfonía por el Perú» vor drei Jahren mit ihrer Tätigkeit in Manchay begonnen hat. Canto, toco, crezco Manchay war einer der ersten «núcleos» im Programm, das der peruanische Tenor Juan Diego Flórez, der wichtigste Kulturbotschafter des Landes, vor fünf Jahren ins Leben gerufen hat. Inspiriert vom venezolanischen «El Sistema» ergriff Flórez die Initiative. Er wollte auch den Kindern und Jugendlichen seines Landes über die Musik konstruktive Werte vermitteln und sie durch das Spiel im Orchester und in Ensembles zu gelebter Gemeinschaft inspirieren und ihr Selbstwertgefühl stärken. «Canto, toco, crezco» – «Ich singe, spiele, wachse» ist das Leitmotiv von «Sinfonía por el Perú». Hoher Qualitätsanspruch auf allen Ebenen ist das verbindende Element der zurzeit dreizehn «núcleos», die sich, über das ganze Land verteilt, mit unterschiedlichsten Rahmenbedingungen und Anforderungen konfrontiert sehen. Dank der Methodik des gemeinsamen Musizierens im Orchester und Ensemble kann man aber doch Rücksicht auf die lokalen Bedürfnisse nehmen und so eine grosse Zahl an Kindern und Jugendlichen erreichen. Flórez, der das Programm trotz gut gefüllter Agenda intensiv und kritisch begleitet und versucht, mindesten zwei- bis dreimal pro Jahr persönlich vor Ort zu sein, weiss um die Bedeutung der Qualität bei solchen Initiativen. Dies umso mehr, als das Schulsystem in Peru in den letzten Jahrzehnten sukzessive an Qualität eingebüsst hat. VIER FRAGEN AN … JUAN DIEGO FLÓREZ Wie kam es zur Gründung von «Sinfonía por el Perú»? 2006/07 erzählten mir verschiedene Leute von «El Sistema» in Venezuela. Ich wusste damals gar nichts darüber, war dann aber sehr interessiert. 2007 gewann ich den Grammophone Award mit Gustavo Dudamel. So entstand ein erster direkter Kontakt. Im Februar 2009 wurde ich eingeladen, in Caracas zu singen, und bei dieser Gelegenheit zeigten mir 18 Dudamel und José Antonio Abreu das Projekt vor Ort. Bereits im März kam Abreu nach Lima. Wir besuchten verschiedene Regierungsstellen, Banken, potenzielle Sponsoren und sprachen viel über organisatorische Aspekte. José Antonio lieferte mir das gesamte Know-how, das wir schliesslich auch für Peru nutzen konnten. Was überzeugte Sie an «El Sistema»? Ganz sicher der soziale Aspekt, die Möglichkeit, eine Gesellschaft durch ihre Kinder zu verändern. Kinder sind für mich etwas ganz Besonderes. Es ist auch kein Zufall, dass ich «Sinfonía por el Perú» 2011 gründete. In diesem Jahr wurde mein Sohn Leandro geboren. Trotz seiner vielen internationalen Verpflichtungen nimmt sich Juan Diego Flórez regelmässig die Zeit, die Musikschulen in Peru zu besuchen und sich selbst ein Bild von der Entwicklung und den Fortschritten der Kinder zu machen. Welches sind die grössten Herausforderungen für die Zukunft? Wir müssen einen Weg finden, Unterstützung von der Regierung zu erhalten, eine Unterstützung, die uns aber nicht einschränkt. Das würde uns auch dabei helfen, andere öffentliche Partner zu finden. Und wir möchten mehr Unterstützung von privater Seite, von Freundeskreisen in Peru, aber auch z. B. in Wien, wo ich lebe. Und auf der künstlerischen Seite? Wir möchten eine Akademie gründen, in der wir besonders begabte Kinder aus den verschiedenen Regionen Perus intensiver ausbilden können. Dabei sollen auch die Themen Gesang und Oper eine besondere Rolle spielen. Juan Diego Flórez als Volksheld: Ein Besuch des weltberühmten Tenors in Manchay artet zum Volksfest aus. Da wird gesungen, getanzt und getrommelt, und die Orchester und Big Bands zeigen, was sie ge- lernt haben. Mit dabei auch die Familien der jungen Musiker und Musikerinnen. Sie haben längst erkannt, was «Sinfonía por el Perú» für ihre Kinder bedeutet: einen ersten Schritt in eine selbstbestimmte Zukunft. 19 20 21 Die Kinder müssen gefordert werden, und Flórez mit seiner Weltkarriere ist natürlich ihr grösstes Vorbild. Ein Besuch im «núcleo» von Juan Diego, wie sie ihn alle freundschaftlich nennen, ist ein Volksfest, nicht nur für die Musiker und Musikerinnen, sondern auch für ihre Mitschüler, für die Eltern, für die ganze Familie. Sein Besuch motiviert die Kinder, man spürt, wie sie beim Vorspielen beweisen wollen, was sie gelernt haben. «Ihr müsst auf eure Ohren aufpassen, euer Gehör schützen. Steckt euch Watte hinein, wenn ihr in der Nähe der Blechbläser sitzt», mahnt Flórez die Musiker des Jugendorchesters von Manchay. «Schaut auf den Dirigenten, nicht auf mich. Konzentriert euch und lasst euch nicht ablenken. Das macht euch zu professionellen Musikern.» «Konzentriert euch und lasst euch nicht ablenken. Das macht euch zu professionellen Musikern.» Er ist ein Idol zum Anfassen. Wie Trauben hängen sie an ihm beim anschliessenden Weg in den grossen Schulhof, wo sich der halbe Bezirk versammelt hat. Selfies, Fotos, Kurzfilme – jeder möchte ein Stück Nähe. «Construyamos un Peru con valores» – «Lasst uns ein Peru der Werte schaffen», so steht es in grossen Lettern auf einer Wand im Schulhof. Und Flórez lässt keinen Zweifel daran auf kommen, dass er diese Aufforderung ernst nimmt. Seine Botschaft an die Jugendlichen ist ein Aufruf zu Fleiss und Konsequenz, seine Bitte an die Eltern ist die um Unterstützung und Förderung ihrer Kinder, darum, ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen und sie in ihrer musikalischen Ambition ernst zu nehmen. Dass die Botschaft bei den Eltern angekommen ist, zeigt sich im persönlichen Gespräch: Sie erzählen von Kindern, die früher aufstehen, um noch letzte Aufgaben für die Schule zu erledigen, damit am Nachmittag genügend Zeit ist für den Musikunterricht. Von Kindern, die früher verschlossen waren, sich jetzt aber, seit sie in die Musikschule gehen, wieder mehr mitteilen und zu Hause begeistert erzählen, was sie erlebt haben. Bemerkt wird eine geringere Aggression und Gewaltbereitschaft gegenüber Geschwistern und Schulkollegen und besseres Betragen in der Schule sowie mehr Respekt zu Hause. Raumnot macht erfinderisch. Kammermusikprobe unter der Treppe. Das eigene Instrument als Statussymbol, aber auch als Verpflichtung. Ein Instrument zu erlernen ist für die jungen Musiker mehr als ein sinnvoller Zeitvertreib. Sie wissen um das Privileg und um die Chance, über die Musik den sozialen Aufstieg zu schaffen. Musik verändert «Sinfonía por el Perú» begnügt sich aber nicht mit diesen persönlichen Aussagen, sondern hat in den vergangenen zwei Jahren den Auf bau der «núcleos» von Manchay und Huánuco, einer Stadt in den peruanischen Anden, zum Anlass genommen, um die Auswirkungen des Projektes wissenschaftlich zu untersuchen. In Zusammenarbeit mit der Interamerikanischen Entwicklungsbank BID wurden die Kinder aus dem Musikprojekt in ihrer Entwicklung verglichen mit ihren Mitschülern, die nicht in das Projekt eingebunden sind. Die Ergebnisse überzeugen und bestätigen die Richtigkeit des Weges. 22 23 1 Peruanisches Perkussionsinstrument aus Holz, mit Schallloch, das mit den Händen, einem Hammer oder Trommelstöcken gespielt wird. Die Musiker sitzen auf dem Instrument, während sie es spielen. 24 18.15 Uhr 13.45 Uhr 14.11.2014 Carmen 1 Jimena-Huamán Blockflöte Bratsche Cello Geige Klarinette Saxophon Querflöte Oboe Fagott Blechblasinstrumente Percussion, u. a. Cajón Austritt Instrumente Eintritt Orchesterprobe Datum Anschliessend an den Gruppenunterricht Vorname Freie Wahl des Instruments; Gruppenunterricht mit Instrument, in Stimmgruppen Name Ab Monat 3 2000 Musikalische Grundkenntnisse NÚCLEO MANCHAY – ANWESENHEITSKONTROLLBLATT Monat 1 bis 3 1 Geigenbauschule in Andahuaylillas Cusco 8 Regionen 133 núcleos 2000 Kinder Miraflores La Victoria Edelnor Manchay El Agustino Huaraz San Marco Puno y Juliaca Cusco Cajamarca Trujillo Huancayo Huànuco Carmen ist eines von 2000 Kindern, das von dem Programm profitiert und sich damit verpflichtet, regelmässig den Unterricht zu besuchen. Buch wird auch aus Sicherheitsgründen geführt. Von der Kriminalität in Peru sind überdies immer die Kinder betroffen. núcleo (span.) Kern, Herzstück; Bezeichnung für die Musikschulen im Projekt. 25 SECHS FRAGEN AN … CARMEN JIMENA HUAMÁN TUPAHUACAYLLO Wie hast du von «Sinfonía por el Perú» erfahren? Durch eine Werbung an meiner Schule. Zuerst dachte ich, es würde mich langweilen, aber dann habe ich begonnen und es hat mir gefallen. Was gefällt dir am meisten an dem Projekt? Die Auftritte und vor all den Menschen ohne Angst zu spielen. Und Freunde zu finden und Juan Diego zu sehen! Was gefällt dir weniger? Wenn manche Kinder im Unterricht nicht still sind. Das stört mich. Würdest du anderen Kindern raten, bei «Sinfonía por el Perú» mitzumachen? Ja, damit sie die Musik geniessen können. Ich würde ihnen gerne helfen und ihnen beibringen, wie sie sich verbessern können. Wie hat «Sinfonía por el Perú» dein Leben verändert? Seit ich begonnen habe, gefällt es mir sehr. Ich bin besser geworden in der Schule. Und meine Eltern kommen besser miteinander aus. Was ist dein Traum für deine Zukunft? Ich möchte eine grosse Saxophonistin werden und im Fernsehen auftreten. Und ich wünsche mir, dass Magazine und Zeitungen über mich berichten. 26 «Peer-Teaching» heisst das Zauberwort für schnelles und nachhaltiges Lernen in der Gruppe, im Ensemble: Das hierarchische Prinzip zwischen Lehrenden und Lernenden ist aufgehoben, die Musiker helfen sich gegenseitig, die Fortgeschrittenen lehren die Jüngeren und sind für sie Ansporn und Motivation. Auch Carmens Mutter und der Direktor des «núcleo» von Manchay, Santiago Paredes, beschreiben eine ähnliche Veränderung bei Carmen. Bevor sie in die Musikschule kam, war sie ein verschlossenes und introvertiertes Kind, fleissig in der Schule, aber sehr zurückhaltend und scheu. Durch die Musik hat sie sich geöffnet und ist heute eine der Engagiertesten. Als ihre Basketballstunde sich mit dem Musikunterricht zu überschneiden drohte, war sie sehr beunruhigt, aber es fand sich eine Lösung. Carmen ist stolz darauf, ein Instrument zu spielen. Nach ersten Versuchen mit Geige, Cello und Trompete landete sie schliesslich beim Saxophon, das sie heute mit grosser Leidenschaft spielt. Sie ist damit auch Mitglied der Brass Band, die jeder «núcleo» neben dem klassischen Sinfonieorchester und dem Chor im Angebot hat. Die Musik hat ihr Selbstbewusstsein gegeben. Es macht ihr Freude aufzutreten, nicht nur in der Gruppe, sondern auch als Solistin. Und auch zu Hause ist sie ausgeglichener, übernimmt Verantwortung für den kleinen Bruder und hilft der Mutter im Haushalt. «Wir pflegen einen engen Austausch mit den Eltern», so erzählt Santiago Paredes, «einmal im Monat laden wir sie ein in den ‹núcleo›, um mit ihnen anstehende Fragen und Probleme zu diskutieren, aber auch, um Vertrauen zu schaffen und ihnen einen unmittelbaren Einblick zu geben. Viele Mütter arbeiten inzwischen im ‹núcleo› mit, und jene, die aus den bescheidensten Verhältnissen kommen, sind die Engagiertesten. Sie kontrollieren die Anwesenheit – wir registrieren jedes Kind, wenn es in die Musikschule kommt und wenn es wieder geht –, sie waschen die Hemden und T-Shirts, die die Kinder bei ihren Auftritten tragen, und sie organisieren Snacks und Getränke für besondere Feste. Der ‹núcleo› ist für sie zu einem Treffpunkt geworden, und manche von ihnen kommen ebenso regelmässig wie ihre Kinder. Sie empfinden es als Privileg, einen Beitrag zu leisten», freut sich der engagierte Direktor, der neben seiner Funktion in der Musikschule auch an der Grundschule unterrichtet. Das Interesse am Musikunterricht ist ungebrochen. Jedes Jahr gibt es eine Vorspielmöglichkeit, um einen der freien Plätze in der Musikschule zu bekommen. Im Juli 2014 wurden 61 neue Schüler aufgenommen. «Wir verlangen von den Kindern ein grosses Engagement. Wer nicht regelmässig kommt oder unentschuldigt fernbleibt, verliert seinen Platz», erklärt Santiago Paredes. Das hat sich herumgesprochen, und so bewerben sich praktisch nur Kinder, die wirklich dazugehören wollen. Ein grosses Problem für alle Standorte, an denen «Sinfonía por el Perú» tätig ist, ist die räumliche Infrastruktur. In Manchay fand die Musikschule ihren Platz in einem Kloster, an anderen Orten sind es Räume der Universitäten oder der öffentlichen Verwaltung, die zur Verfügung stehen. Aber überall gibt es Platzprobleme oder Schwierigkeiten bei der Koordination der Räumlichkeiten aufgrund unterschiedlicher Nutzung. Und natürlich soll das Projekt wachsen, nachhaltig und ohne die Dinge zu überstürzen, aber doch. Das Interesse im ganzen Land ist gross, die finanziellen Ressourcen jedoch sind beschränkt. Noch hat sich die Regierung nicht bereit erklärt, einen ständigen Beitrag zu leisten, und so sind es vorwiegend ausländische Stiftungen und Private aus Peru, die Zum Schluss hat Carmen uns noch verraten, dass es ihr grosses Ziel ist, eine berühmte Saxophonistin werden. das Projekt zurzeit finanziell tragen. Aber Juan Diego Flórez ist zuversichtlich. Und er träumt von einem eigenen Zentrum für «Sinfonía por el Perú», um hochbegabte Musikerinnen und Musiker weiterzubilden. Ein Traum für die Zukunft. Einer von vielen. Inzwischen ist es Abend geworden. Wir begleiten Carmen nach Hause und kaufen unterwegs noch ein paar Kilo Reis, Kekse und Schokolade für die Familie ein. Das freut vor allem den kleinen Bruder. Carmen ist stolz auf diesen aufregenden Tag, und wir verabschieden uns mit dem Versprechen, eine Kopie unseres Jahresberichts zu schicken. Dass sie eine berühmte Saxophonistin werden möchte, das hat Carmen uns zum Schluss noch verraten. Das ist ihr grosses Ziel. Ein Ziel, das sie ernst nimmt und an dem sie konsequent arbeiten will. Juan Diego Flórez weiss um seine Rolle als Botschafter seines eigenen Projektes. Seine Auftritte mit den Kinder- und Jugendorchestern sind der beste Weg, um Aufmerksamkeit zu wecken und Unterstützung für «Sinfonía por el Perú» zu generieren, die immer noch zum Grossteil von privater Seite kommt. 27 Menschen, die Hilfe brauchen, sind nicht das Problem. Sie sind Teil der Lösung. Bruno Walt Geschäftsführung 2014 war ein Jahr voller Gewalt. Selten zuvor gerieten so viele Menschen zwischen die Fronten unversöhnlicher Konfliktparteien. Zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen entstanden neu oder flammten wieder auf. Andere verschwanden zwar vom Radar der Medien, gingen aber in den betroffenen Ländern mit unverminderter Härte weiter. Menschen auf der Flucht brauchen ohne jeden Zweifel Hilfe. Dennoch wäre es falsch, sie nur als Bedürftige zu sehen. Sie sind Menschen mit Fähigkeiten, Ideen und der Kraft, sich selbst zu helfen. Der Hilti Foundation ist es ein Anliegen, diese Menschen bei der Entfaltung ihrer Ressourcen zu unterstützen. Den dringlichen Wunsch von Flüchtlingen, ein neues Leben zu beginnen, möchten wir realisieren helfen. Mit dem Engagement der Hilti Foundation bei «Médecins Sans Frontières» verfolgen wir genau dieses Ziel. So ging ein Teil unserer Unterstützung in den Libanon, wo «Médecins Sans Frontières» das Zusammenleben der syrischen Flüchtlinge leichter macht und die Infrastruktur in der Zeltstadt sicherstellt. Der Mut, mit dem sich «Médecins Sans Frontières» und die Betroffenen selbst der Unmenschlichkeit widersetzen, relativiert in vielem das düstere Bild, das man aus den Medien gewinnt. Dieser Mut inspiriert auch uns. Die Hilti Foundation hat 2014 ein zweites, ausgesprochen innovatives Projekt von «Médecins Sans Frontières» ermöglicht. Es handelt sich um die Entwicklung von zwei Dispositiven für chirurgische Notoperationen. Es ist wichtig, Verwundete möglichst rasch und gut operieren zu können, denn die Qualität chirurgischer Versorgung beeinflusst ganz wesentlich das spätere Leben der Patienten. 28 29 Katastrophenhilfe 2014 Medizinische Hilfe in Extremsituationen Die Hilti Foundation hat 2014 erneut «Médecins Sans Frontières» (MSF) unterstützt. Neben der Hilfe im Rahmen der Syrienkrise hat die Hilti Foundation die Entwicklung von RISK und RDSU finanziert. Die beiden Dispositive für mobile Notfallchirurgie werden zahlreichen Menschen das Leben retten. 30 31 «Ich habe schreckliche Bilder gesehen», sagt Thomas Nierle. «7000 Flüchtlinge sind angekommen, und weil es nirgends Platz gab, haben sie sich in einem Wohnturm eingerichtet, der nicht fertig gebaut ist. Stellen Sie sich das vor. Keine Wände rundherum, kein Schutz vor Wind und Kälte, kein Wasser. Fünfzehn, zwanzig Stockwerke hoch. Wie sollen die Menschen da ihre Notdurft verrichten?» Thomas Nierle ist seit Mai 2014 Präsident von MSF Schweiz, und er macht sich grosse Sorgen, was die Lage im Mittleren Osten angeht. Die Syrienkrise begann 2011, und sie begann voller Hoffnung. Als die Menschen in Damaskus auf die Strasse gingen, sah es ganz danach aus, als ob der arabische Frühling eine syrische Fortsetzung finden würde. Noch 2012 versprach Präsident Baschar al-Assad Reformen und freie Wahlen. Aus diesen Versprechungen ist nichts geworden. Was als demokratische Bewegung begann, ist zu einem Bürgerkrieg geworden, der mit äusserster Brutalität geführt wird. Die oppositionellen Kräfte kämpfen gegen die Regierungstruppen und den Islamischen Staat. Beinahe die Hälfte der syrischen Bevölkerung, ungefähr zehn Millionen Menschen, befindet sich auf der Flucht. Die Regierungstruppen bombardieren Zivilisten. Die internationale Allianz bombardiert Stützpunkte der Dschihadisten. Und der Islamische Staat hat das Machtvakuum genutzt, um zwischen Damaskus und dem kurdisch kontrollierten Norden des Landes eine Herrschaft des Schreckens einzurichten. Das Land, das gute Chancen für einen Neuanfang gehabt hätte, liegt in Trümmern. «In Syrien gab es eine Mittelklasse, ein gutes Bildungssystem. Das Gesundheitswesen funktionierte. Das vergisst man gern», erinnert Thomas Nierle. «Nach drei Jahren Krieg haben die Familien ihre Reserven aufgebraucht. Fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung, ungefähr zehn Millionen Menschen, befindet sich auf der Flucht. Das sind Flüchtlinge, die sich mit ihrem Status schwertun, viele von ihnen sehr gebildet.» Eiskalte Winter Die Lage im Mittleren Osten ist unübersichtlich und so verfahren, dass kaum Aussicht auf Besserung besteht. Die Nachbarländer, wie etwa der kleine Libanon, haben die Flüchtlinge anfangs sehr herzlich aufgenommen, stossen aber an ihre Grenzen. Inzwischen tragen vier Millionen Libanesen die Last von einer Million syrischer Flüchtlinge. Ähnlich ist die Situation in Jordanien und im Irak. Umso wichtiger erschien es der Hilti Foundation, die Ärzte und das Pflegepersonal von MSF bei ihrer Arbeit in der Krisenregion finanziell zu unterstützen. Hilfsorganisationen haben es ausgesprochen schwer, Gelder zu finden, die 32 Viele Syrerinnen und Syrer, die ins Ausland flüchten, sind schon jahrelang auf der Flucht. Als Binnenflüchtlinge wurden sie innerhalb ihres eigenen Landes mehrfach vertrieben. Sie sind erschöpft, oft schwer traumatisiert und geschwächt aufgrund der andauernd prekären Versorgungslage. in Gebieten eingesetzt werden dürfen, in denen sich Krisen chronifiziert haben. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich rasch auf neue Krisen, sodass die Gefahr besteht, dass Menschen in höchster Not einfach vergessen gehen. Grossen Herausforderungen sieht sich MSF in der Bekaa-Ebene gegenüber. Dort leben inzwischen rund 400 000 syrische Flüchtlinge in Rohbauten, Garagen oder Zelten. Ihre körperliche Verfassung ist schlecht, das aride Klima greift die Atemwege an. Bronchitis und Lungenentzündungen kommen gehäuft vor. Die Bekaa-Ebene gilt als Gemüse- und Obstkammer des Libanon, das Klima jedoch ist sehr hart. Bis zu acht Meter Schnee fallen während eines Winters. Monatelang ist es um die Zelte herum feucht und schlammig, was natürlich die Infektionsgefahr für alle erhöht. MSF betreibt in der Bekaa-Ebene vier Spitäler, versorgt die Flüchtlinge medizinisch und bietet Impfungen, Geburtshilfe und psychologische Unterstützung an. Ausserdem verteilen die Teams Hilfsgüter. Das Personal von MSF besteht zu einem grossen Teil aus einheimischen Mitarbeitern. Darunter finden sich auch syrische Flüchtlinge, die selber Ärzte und Pflegefachleute sind und nun ihren Landsleuten helfen. Für den Winter 2013/2014 hat die Hilti Foundation zusätzlich zur Krisenhilfe ein Budget für die sogenannte «winterization» von 1000 Familien zur Verfügung gestellt. MSF versteht darunter das gesamte Hilfspaket, das Betroffenen über den Winter helfen soll. Dazu gehören wetterfeste Zelte, Öfen, Gutscheine für Brennstoff, Decken etc. Als eine der letzten verbliebenen Hilfsorganisationen ist MSF auch noch in Syrien tätig. MSF betreibt drei Krankenhäuser in Nordsyrien. In anderen Gebieten kann die Hilfsorganisation nicht arbeiten, da sie keine Erlaubnis erhalten hat oder es zu gefährlich wäre. Um syrische Mediziner zu unterstützen, hat MSF ein umfassendes Hilfsprogramm entwickelt, das einen besonderen Schwerpunkt auf belagerte Gebiete legt, die von direkter Hilfe abgeschnitten sind. «Die Lage ist auch in Nordsyrien sehr angespannt», sagt Thomas Nierle. «Wir haben ein sehr strenges Sicherheitsmanagement für unser Personal. Daher wissen wir nicht, wie lange wir noch in Syrien bleiben können. Solange es aber geht, werden wir den Menschen dort helfen, denn die Bedürfnisse sind sehr gross. Viele Menschen in Syrien sind eingeklemmt zwischen den Fronten und der Grenze zum Libanon. Die Libanesen haben getan, was sie konnten, aber nun machen sie langsam ihre Grenzen dicht.» MSF bemüht sich um eine rasche und verlässliche medizinische Versorgung im Syrienkonflikt. In den Ländern, die syrische Flüchtlinge aufnehmen, achtet MSF darauf, auch die einheimischen Bedürftigen kostenfrei zu behandeln. Dies als Beitrag zur Entschärfung von sozialen Spannungen. 33 Wir haben die Flüchtlinge im Libanon nach ihrem grössten Wunsch gefragt. Wir dachten, sie würden sich mehr Nahrung, Wasser oder ein besseres Zelt wünschen. Die meisten von ihnen sagten aber: Wir möchten wieder nach Hause. Thomas Nierle Der gebürtige Deutsche ist seit 2014 Präsident von MSF Schweiz. Er wusste bereits als Assistenzarzt, dass ihn die Krankenhausarbeit alleine nicht glücklich machen würde. Nierle begann seine humanitäre Arbeit 1997 mit einer Mission in Afghanistan. Seit 2004 ist er auch wieder klinisch tätig in der Schweiz. 34 35 Nicht immer stehen zur Weiterbeförderung der MSFAusrüstung Flugzeuge zur Verfügung. Lücken in der Logistik erfordern innovative Lösungen, wie zum Beispiel RISK und RDSU. RDSU beim Testlauf im Mai 2014, auf einem Parkplatz in Bordeaux. EINE FRAGE AN … MATHIEU SOUPART Direktor Logistik MSF Schweiz Wir leben hier im Wohlstand, mit viel Komfort. Nun können ja nicht alle ins Krisengebiet reisen, um zu helfen. Man muss dazu ja auch ausgebildet sein. Was ist Ihrer Ansicht nach am hilfreichsten als Unterstützung? Was können wir von hier aus tun? Zwei Dinge sind wichtig. Erstens: Sie müssen sich vor Augen halten, dass Médecins Sans Frontières unabhängig ist, finanziell, logistisch und professionell. Das bedeutet, dass wir uns auch auf Krisen fokussieren können, die im Fernsehen nicht mehr stattfinden, die sogenannt «vergessenen 36 Krisen». Mit einer Spende als Privatperson delegieren Sie die Hilfe im Krisengebiet an professionelle Organisationen wie MSF. Zweitens: Als Bürgerin, als Bürger gehen Sie zur Wahl. Sie können Einfluss nehmen auf Ihre Vertreter in der Politik, indem Sie diese fragen, was Ihr Land im internationalen Kontext unternimmt. Wir von MSF brauchen eine starke Zivilgesellschaft, die unsere Arbeit mitträgt und unterstützt. Am 13. Oktober 2014 fand in Schaan eine Informationsveranstaltung von MSF statt. Mathieu Soupart und Tankred Stöbe (Präsident MSF Deutschland) stellten die Projekte RISK und RDSU vor, die von der Hilti Foundation 2014 unterstützt wurden. Die Möglichkeit, den Vertretern von MSF persönlich Fragen zu stellen, wurde im Anschluss an die Präsentation rege genutzt. 37 Phase I RISK Rapid Intervention Surgical Kit Das Material reist im gleichen Flugzeug wie das Chirurgenteam Total 400 kg Material inkl. Operationszelt 400kg Kisten max. 32 kg schwer. Alles kann von Hand getragen werden Phase II RDSU VERPACKT IN BOXEN À MAX. UND REIST IM SELBEN FLUGZEUG WIE DIE NOTFALLCREW VON MSF 32 KG Rapid Deployment Surgical Unit Erforderliche Fläche 1300 m² Belegschaft Medizin und Logistik: 15 Personen Phase IIl MFH Modular Field Hospital Zusammenfallen der Zelte bei einer Havarie. Feldkrankenhaus in Zelten. Betriebsbereit innerhalb von 21 Tagen Alle medizinischen Leistungen sind möglich, auch die längere Hospitalisation Zwei Operationssäle Erforderliche Fläche: 20 000 m² 38 Dank Niederdrucksystem kein plötzliches + Ensemble aus 6 bis 8 Zelten Nach Eintreffen am Einsatzort betriebsbereit innerhalb von 24 h Triagebereich Kleines Behandlungszimmer Notaufnahme Röntgenraum Hub Labor & Sterilisationsraum Operationsvorbereitungsraum Operationsraum Aufwachzone & Intensivstation Autonom im Betrieb (Elektrizität, Wasser, Abfallentsorgung) 39 ZWEI FRAGEN AN … TANKRED STÖBE Präsident MSF Deutschland Wie gehen Sie bei MSF vor, um – global gesehen – deren Prioritäten zu setzen? 2014 war ein herausforderndes Jahr, es gab zahlreiche Engpässe. Denken Sie an all die Krisen: Ukraine, Gaza, Südsudan, Syrien, Zentralafrika, Ebola. Die Rekrutierung für einen Ersteinsatz war nicht einmal so schwierig. Wir finden immer junge und hochmotivierte Leute, die bereit sind, in ein Projekt zu gehen. Schwieriger war es, genügend erfahrene Leute zu finden. Gerade solche zum Beispiel, die fähig wären, mit einem RDSU zu arbeiten. Grundsätzlich jedoch ist es so, dass wir auf die Nachfrage reagieren. Wenn der Bedarf steigt, erhöhen wir die Anzahl der Einsätze. Sie haben uns von Ihrem Einsatz an der Front erzählt. Wie stecken Sie so etwas persönlich weg? Ich muss gestehen, dass die vier Wochen, die ich pro Jahr im Einsatz bin, jeweils mein medizinisches Highlight sind. Die Patienten, die wir behandeln, erzählen mir erschütternde Geschichten. Wir erleben eine ungeheure Gastfreundschaft. Die Einheimischen kommen dreimal am Tag vorbei und versorgen uns mit Essen und wollen dafür nicht einmal bezahlt werden. Die Menschen, denen wir helfen, sind sehr dankbar. Das ist befriedigend für mich. Ausserdem empfinde ich mich als privilegiert, ich kann ihr Leid lindern. Und im Gegensatz zu meinen Patienten kann ich ja wieder nach Hause, wenn das Projekt beendet ist. 40 Flankierende Massnahmen zur Verbesserung der Gesundheit: In Syrien finanzierte Hilti Fundation die sogenannte «winterization» von MSF für tausend Familien. Das Massnahmenpaket umfasst u.a. die Abgabe von warmen Decken. Sosehr Mitgefühl eine Rolle spielen mag, Helfen ist auch ein Beruf. In Extremsituationen ist es äusserst wichtig, dass jeder und jede weiss, wo anzupacken ist und dass das Equipment zu den vorgefundenen Situationen passt. In dieser Hinsicht konnte die Hilti Foundation 2014 ein innovatives Projekt von MSF im Bereich Notfallchirurgie unterstützen. Mathieu Soupart, Direktor der Logistik, erklärt, worum es geht: «Mit jeder Stunde, die vergeht, haben die Chirurgen einen anderen Patiententypus vor sich. Wenn sie nicht sofort intervenieren können, werden sie manche Patienten verlieren. Was uns bisher fehlte, war eine gut durchdachte, phasengerechte Struktur, um in Krisengebieten Notoperationen vorzunehmen.» 2002 und 2005 waren Katastrophenjahre. Erinnert sei an die Hurrikane, den Tsunami oder das Erdbeben in Pakistan. MSF war mit Einsätzen in riesig grossen, komplett verwüsteten Gebieten konfrontiert, in denen die Infrastruktur zerstört worden war. Wenn MSF in dieser Art von akuten Notfällen angemessen helfen wollte, bedeutete dies, dass die Organisation ihre Kapazität steigern und die Qualität ihres Equipments verbessern musste. Einen ersten Schritt in diese Richtung machte MSF in den Jahren 2006/2007 mit der Entwicklung von MFH (Modular Field Hospital). Wenn das entsprechende Equipment vorhanden ist, verbessert sich die Qualität chirurgischer Eingriffe. Es ist tragisch, wenn Menschen sterben oder etwa Gliedmassen verlieren, weil es am Equipment fehlt. Dank der Unterstützung der Hilti Foundation wurden RISK und RDSU entwickelt, zwei Dispositive für chirurgische Noteinsätze im Katastrophenfall. 41 42 43 MFH ist ein allgemeines Krankenhaus, das in auf blasbaren Zelten untergebracht ist. Es verfügt über zwei Operationssäle und ermöglicht den Patienten auch eine längere Hospitalisation. Der Auf bau des Feldkrankenhauses auf rund 20 000 Quadratmetern ist allerdings mit Aufwand verbunden und braucht Zeit. Zeit, die man nicht hat, wenn es darum geht, die chirurgische Versorgung sicherzustellen und Menschenleben zu retten. Um die zeitliche Lücke zwischen dem Katastrophenereignis und der Inbetriebnahme von MFH zu füllen, hat MSF Schweiz zwei weitere Lösungen entwickelt: RISK (Rapid Intervention Surgical Kit) für die erste Interventionsphase und RDSU (Rapid Deployment Surgical Unit) für die zweite Interventionsphase nach Eintritt einer Katastrophe. Alle Instrumente bei RISK und RDSU sind ultraleicht, um möglichst rasch zum Einsatzort zu gelangen. Was von Hand getragen werden muss, darf nicht auf eine komplizierte Logistik angewiesen sein. Entsprechend hoch ist der Materialverschleiss. Nach rund zwei Jahren müssen die RDSU Zelte einer anderen Nutzung zugeführt werden. Sie werden z. B. als einfache Gesundheitsstationen oder als Empfangszelte für Flüchtlinge weiterverwendet. Innovation im Team Die Schwierigkeiten, mit denen sich das Team um Mathieu Soupart bei der Entwicklung dieser innovativen Lösungen konfrontiert sah, waren weniger technischer als organisatorischer Natur. Das Wissen ganz unterschiedlicher Berufsgruppen musste in das Projekt einfliessen und ständig abgeglichen werden. Beteiligt an der Entwicklung waren Architekten, Ingenieure, Zeltbauer, Anästhesisten, Chirurgen, Möbellieferanten, Logistiker, Spezialisten der Luftfahrt, Zollfunktionäre und Operationsschwestern. «Wenn zum Beispiel ein Anästhesist gerne einen bestimmten Apparat gehabt hätte, mussten wir ihm unter Umständen antworten: Was du haben möchtest, wiegt eine Tonne. Das geht nicht, wir müssen eine Lösung finden, die weniger wiegt, damit wir garantiert mobil bleiben», erklärt Soupart. Insbesondere beim Verlust der lokalen Infrastruktur sind mobile Lösungen wichtig. Neben der eigentlichen Nothilfe soll auch die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. «Ich harre hier meines Schicksals und warte. Worauf ? Worauf warte ich? Ich weiss es nicht mit Sicherheit. Auf die Zukunft? Auf Hoffnung? Auf Veränderung? Das Einzige, was zählt, ist jedoch, dass ich noch lebe.» (Der Schriftsteller Abbas Khider über das Leben im Flüchtlingscamp.) Leben retten: das TriageVerfahren von Médecins Sans Frontières Bis zu 50 Patienten gleichzeitig können am Eingang zum RDSU angenommen werden. Die Patienten erhalten eine farbige Karte, welche die Dringlichkeit ihres Falles signalisiert. Regelmässig wird die vorgenommene Triage überprüft und angepasst. 44 GRÜN Kann noch gehen ORANGE Schwere Verletzung ROT Lebendsbedrohliche Verletzung BLAU Hilfe unmöglich SCHWARZ Verstorben 45 Die Hilti Foundation hat den ganzheitlichen Ansatz des Projektes sofort unterstützt. Es ging ja nicht darum, passende Zelte zu finden. Wir haben Ärzte, Logistiker und Techniker in den Entscheidungsprozess miteinbezogen, um neues Material zu entwickeln. Mathieu Soupart Mathieu Soupart leitet bei MSF den Bereich Logistik. Der gebürtige Franko-Belgier ist Ingenieur von Beruf und verfügt über einen Master im Katastrophenmanagement. Er arbeitet seit 1993 für MSF. 46 47 Phase I: RISK RISK ist ein ultraleichtes Equipment, das im gleichen Flugzeug reist wie das Chirurgenteam. Es umfasst einen transportfähigen Operationssaal und das gesamte Material, das für Operationen nötig ist. RISK wiegt insgesamt 400 kg, kann aber von den Chirurgen und den Anästhesisten von Hand getragen werden. Besonders wichtig war Mathieu Soupart, dass die Volumina nicht zu gross wurden, damit die Fluggesellschaften eine prioritäre Verschickung über den ganzen Reiseweg hinweg garantieren können. Phase ll: RDSU RDSU kommt in der zweiten Interventionsphase zum Einsatz. Dieses Dispositiv umfasst einen Notaufnahmeraum und Operationsäle in auf blasbaren Zelten. Die Einrichtung verfügt über eine eigene Stromversorgung, eine Wasserauf bereitungsanlage und eine Einrichtung zur Sterilisation der Instrumente. Mehrere chirurgische Teams können hier rund um die Uhr arbeiten. Es können unter Vollnarkose Laparo tomien vorgenommen werden, sowie die Verschliessung und Behandlung von allen Wunden, die in der ersten Interventionsphase erkannt und behandelt wurden. Das Dispositiv ist innerhalb weniger Tage betriebsbereit und kann, sobald es den Einsatzort erreicht hat, innerhalb von 24 Stunden aufgestellt werden. RDSU verfügt über einen neuartigen Generator und eine eigene Anlage zur Aufbereitung des Wassers. Zum Konzept gehört auch die Schulung des Notfallteams. Auch bei RDSU war es wichtig, dass jedes einzelne Modul von Hand getragen werden kann. «Das Gewicht», so Soupart, «spielt dabei noch nicht einmal eine so grosse Rolle. Entscheidend ist dagegen, dass bei schweren Teilen Handgriffe angebracht sind, sodass man sie zu sechst oder zu acht bewegen kann.» Grundsätzlich ist es nämlich so, dass die Transportmöglichkeiten immer bescheidener werden, je näher man dem Einsatzort kommt. «Erst fliegt man von Europa in die Hauptstadt des Landes. Von dort aus geht es mit dem Lastwagen oder Helikopter weiter in die Provinzstadt. Zum Schluss hält man auf der Strasse einen Pickup oder einen Karren an und zahlt dem Fahrer etwas, um weiterzukommen», fasst der Franko-Belgier zusammen. 48 RISK: Diese Kisten enthal- ten alles für die erste Interventionsphase nach Eintritt einer Katastrophe. Die Kosten für das Übergepäck sind laut MSF kein Problem. Wichtiger ist die Garantie der Fluglinien, das RISK-Equipment vollzählig und über die gesamte Strecke zu transportieren. Lücken in der Ausrüstung sind fatal, wenn am Zielort Menschenleben auf dem Spiel stehen. Zwei Jahre lang tüftelte das Team um Mathieu Soupart an den Prototypen für RISK und RDSU. Ein erster Testlauf auf einem Parkplatz in Bordeaux im Mai 2014 verlief erfolgreich. Nun werden die Prototypen verbessert und validiert, die Notfall-Crews werden geschult für den Einsatz mit den neuen Equipments. Ab Frühling 2015 stehen RISK und RDSU bereit zum Abruf für den Ernstfall. «Bisher brauchten wir 21 Tage, um Menschen im Medical Field Hospital zu helfen. Man mag einwenden, dass 21 Tage keine sehr lange Zeit sind. Wenn aber jemand verwundet ist, dann ist schon eine Stunde zu viel. Wir sind sehr froh, dass wir dank der Hilti Foundation RISK und RDSU entwickeln und so das fehlende Glied in der Kette ergänzen konnten», freut sich Mathieu Soupart. RDSU bestehend aus: Triagebereich, kleinem Behandlungszimmer, Notaufnahme, Röntgenraum, Hub, Labor & Sterilisation, OP-Vorbereitungsraum, OP-Raum, Aufwachzone & Intensivstation. RDSU können Sie in einem kurzen Film von MSF entdecken. Scannen Sie den QR-Code mit Ihrem Handy! 49 Mit Lehrlingen in Srebrenica Beatrix Bättig Staud Projektmanagerin der Hilti Foundation Die Projekte der Hilti Foundation werden mit Geldern aus dem Familienvermögen und aus der Hilti Gruppe finanziert. Anders sieht es mit den Engagements aus, für die sich Mitarbeitende der Hilti Gruppe persönlich starkmachen. In diesen Fällen bietet sich die Hilti Foundation als «enabler» an. Die Stiftung hilft – falls dies gewünscht wird – mit Know-how, Kontakten, Projektadministration oder Ideen. So kam 2014 das Projekt in Srebrenica zustande. Daniel Bitschnau, Ausbildungsleiter im Werk 4 der Hilti Gruppe, wollte seine Lehrlinge dahin bringen, vermehrt soziale Verantwortung zu übernehmen. Im gemeinsamen Gespräch mit der Hilti Foundation wurde schliesslich die Idee entwickelt, mit den Lehrlingen aus dem österreichischen Thüringen nach Bosnien zu fahren, um dort zwei Häuser für Bedürftige zu bauen. Da die Hilti Foundation gut vernetzt ist, gelang es ihr, mit der Hilfsorganisation «Bauern helfen Bauern» in Kontakt zu treten und deren Netzwerk in Bosnien zu nutzen. «Bauern helfen Bauern», gegründet 1992 von Doraja und Alexander Eberle, kümmert sich um den Wiederaufbau und die Wiederbelebung von Dörfern im ehemaligen Kriegsgebiet des Bosnienkonfliktes. Das positive Echo, sowohl von den Menschen in Bosnien wie auch von den beteiligten Lehrlingen, hat die Betreuungspersonen darin bestärkt, das Pilotprojekt mit Unterstützung der Hilti Foundation in den kommenden Jahren zu wiederholen. 50 51 Gesellschaftliche Entwicklung 2014 Der Zukunft ein Haus bauen Neben der Hilti Foundation engagieren sich auch die Mitarbeitenden der Hilti Gruppe direkt. Zu den vielen Mitarbeiter-Projekten im Jahre 2014 gehörte eine Reise nach Srebrenica. Lernende von Hilti Thüringen bauten dort zwei Häuser. 52 53 Was ich an den Menschen in Srebrenica schätze, ist ihre Hilfsbereitschaft. Du hast ein Problem mit dem Auto, morgens um vier, es regnet. Du machst einen einzigen Telefonanruf, und wenige Minuten später stehen zehn Leute da, um dir zu helfen. Versuch das mal in Sarajewo! Namir Porić Namir Porić überstand den Krieg im Exil in Deutschland. Danach kehrte der Jurist in seine Heimat zurück. Seit 2002 ist er als Projektmanager für das Hilfswerk «Bauern helfen Bauern» in Bosnien tätig. 54 55 Viele Ruinen in Srebrenica erinnern noch immer an die schrecklichen Ereignisse im Bosnienkrieg. Die Ruinen sollten – auch aus Gründen der Sicherheit – abgerissen werden, doch ein Abriss kostet Geld. Zahlreiche Ruinen gehören zudem Menschen, die inzwischen im Exil leben. Wozu Geld ausgeben für einen Ort, an den man ohnehin nicht zurückkehren möchte? Mit jedem Kind, das in Bosnien geboren wird, verbindet sich Hoffnung, dass die erlittenen Traumata einer Zukunft Platz machen, in der Versöhnung und ein gemeinschaftliches Miteinander möglich sind. BAUERN HELFEN BAUERN GEGRÜNDET 1992 AUS PERSÖNLICHEM ENGAGEMENT 56 Der Verein «Bauern helfen Bauern» wurde 1992 von Doraja und Alexander Eberle in Salzburg gegründet, um Flüchtlingen im Balkankonflikt zu helfen. «BhB» finanziert sich ausschliesslich über private Spenden und ist in Bosnien und Kroatien tätig. Der Verein entwickelte einen Holzhaus-Typ, der sich rasch aufbauen lässt und trotz seiner bescheidenen Dimension gut bewohnbar ist. Die Holzhäuser dienen als Provisorium. Rückkehrer haben so die Möglichkeit, nah bei ihrem zerstörten Haus zu wohnen, während sie dieses wiederauf bauen. Nach seiner Übergabe bleibt das Holzhaus während drei Jahren im Besitz des Vereins. Danach fällt es an seine Bewohner, die es nach dem Wieder- auf bau eines Steinhauses weiternutz en können als Wohnsitz für die ältere Generation, Werkstatt, Stall etc. «BhB» ist bekannt für integre und pragmatische Direkthilfe. Darunter fallen Lebensmittellieferungen, Vermittlung von Werkzeug und landwirtschaftlichen Maschinen sowie der Kauf von Tieren wie Rindern, Schafen, Hühnern. «BhB» ist seit 1997 in Bosnien tätig, wo die Organisation auch Bildungsprojekte unterstützt. So konnte ab 2011 in Srebrenica eine Musikschule für Kinder aller Ethnien aufgebaut werden, die vor kurzem von «Superar» übernommen wurde. Projektmanager in Bosnien-Herzegowina ist der Jurist Namir Porić. 57 Srebrenica ist ein zauberhaft schönes Tal im Osten von Bosnien, das sich über eine Länge von 50 Kilometern sachte in die Berge schiebt. Die sanfte Hügellandschaft ist durchströmt von der Drina und unzähligen kleinen Flüssen, in denen man fischen und im Sommer herrlich baden kann. Abends, wenn die Dämmerung einsetzt, schimmern die Weiden am Fluss und die Obstbäume in einem aprikosenfarbenen Licht, das seinen Widerhall gefunden hat in den Liedern und den Gedichten der Gegend. Man kann verstehen, warum über hundert Jahre lang unzählige Touristen aus Österreich und dem ehemaligen Jugoslawien ihren Weg in dieses Tal gefunden haben. Srebrenica war berühmt für seine 47 Heilquellen. Die Kurgäste kamen, um hier ihren Eisenmangel und das Rheuma zu kurieren und sich im Übrigen an den prächtigen Gärten zu erfreuen. Der schönste Garten im Städtchen Srebrenica, das den gleichen Namen trägt wie der gesamte Bezirk, wurde jeweils im Sommer von der Gemeinde prämiert. Viele Sommer lang bestand der bevorzugte Gesprächsstoff unter Nachbarn in der Frage: Wer bekommt dieses Jahr den Preis? Spuren des Krieges Inzwischen ist das Leben in Srebrenica schwer geworden, sehr schwer. Die Spuren des Krieges sind überall noch sichtbar. Zerstörte Häuser ohne Fenster und Türen, Industrieruinen, die vor sich hinrosten und mit toten Fenstern in den Himmel ragen. Hierher verirrt sich kein Investor. Auf den zerbrochenen Gehsteigen sind die Menschen zu Fuss unterwegs, ein Auto kann sich kaum jemand leisten. «Man muss sich vorstellen», sagt Namir Porić von «Bauern helfen Bauern», «dass die Leute vor dem Krieg alle einen Beruf hatten. Einer war Schreiner, andere waren Ingenieur oder Physiotherapeutin. Viele arbeiteten in der Fabrik. Es gab keine Arbeitslosigkeit. Heute sind alle Bauern. Nicht weil sie das wollen, sondern ganz einfach, weil sie sonst nicht überleben können.» DREI FRAGEN AN … DANIEL BITSCHNAU Wie kam es dazu, dass Sie mit Lehrlingen nach Srebrenica gefahren sind, um dort zwei Holzhäuser zu bauen? Viele Jugendliche finden es ganz normal, dass alles da ist. Als Ausbildungsleiter bei Hilti finde ich es wichtig, dass sich die Lehrlinge auch persönlich weiterentwickeln. Wenn man weiterkommen möchte, muss man Einsatz zeigen, sich engagieren. 58 Es reicht nicht, ein Fachgenie zu sein. Die Fähigkeit, ein soziales Netzwerk aufzubauen, ein guter Umgang mit Menschen, das ist genauso wichtig. Bei Hilti legt man grossen Wert auf Teamfähigkeit. Das Projekt in Srebrenica hat die Lehrlinge in einer Art und Weise zusammengeschweisst, wie man es sonst mit einem Workshop nicht erreichen kann. stehen: Warum sind wir hier? Was ist in Srebrenica passiert? Die Lehrlinge waren noch nicht auf der Welt, als der Bosnienkrieg stattfand. Ihnen war nicht bewusst, wie schlecht es den Menschen in Bosnien noch immer geht. Sie waren extrem schockiert. Es war auch ein Schock für mich. Der krasse Unterschied hat sie aber sehr motiviert, sich zu engagieren. Waren die Jugendlichen nicht überfordert mit dem, was sie in Srebrenica erfahren und erlebt haben? Wir haben mit den Lehrlingen die Gedenkstätte besucht und mit ihnen die Geschichte angeschaut, damit sie ver- Ja. Nächstes Jahr bauen wir mit den Lehrlingen vom 3. Lehrjahr drei Häuser in Srebrenica, und wir überlegen uns schon, wie wir die Bauzeit verkürzen und noch schneller werden können. Wird das Projekt wiederholt? Das Holz wurde ungeordnet angeliefert. Die erste Aufgabe für die Lehrlinge bestand also darin, das Holz zu ordnen und die verschiedenen Brettertypen bereitzulegen. Bisher wurden alle Häuser der Hilfsorganisation «Bauern helfen Bauern» genagelt. Das hat viele Vorteile, aber auch gewisse Nachteile. Beispielsweise lassen sich die Häuser nur schwer wieder auseinandernehmen, wenn sie genagelt sind. Beim Schrauben könnte man ausserdem den Aufbau mit dem Einsatz von Akku-Bohrern beschleunigen. Die Hilti Foundation hat bereits die ersten Geräte inklusiv Wartung in Bosnien zur Verfügung gestellt. 59 Sie standen gerne auf, keiner hat verschlafen, alle waren pünktlich. Es war genial. Dabei war ich mir zuerst keineswegs sicher, ob die Lehrlinge das durchhalten würden. Die Woche war sehr streng. Wir haben von morgens sieben Uhr bis abends sieben Uhr auf den Baustellen gearbeitet. Daniel Bitschnau Daniel Bitschnau ist Ausbildungsleiter im Werk 4 von Hilti. Dieses befindet sich in Österreich, im vorarlbergischen Thüringen. Bitschnau belegte als Maschinenschlosser 1993 an den Berufsweltmeisterschaften den 3. Platz. Privat trainiert der zweifache Vater den Skiclub Klostertal. 60 61 Ich denke viel nach über das, was ich in Srebrenica gesehen habe. Ich denke auch viel darüber nach, wie wir hier leben. Man lernt es zu schätzen, dass man genug zu essen hat, Kleider, ein Dach über dem Kopf. Die Menschen dort leben in Ruinen, teilweise ohne Fenster und Türen. Das hat mich sehr erschreckt. Selina Rudigier Selina Rudigier schliesst im Februar 2015 ihre Lehre als Zerspanungstechnikerin ab. Ihre Hobbys sind Snowboarden, Radfahren und Schwimmen. Ihre Lieblingsarbeit im Hilti-Werk ist Fräsen. 62 63 TAG 1 DIE REISE Samstag, 3. Mai 2014, morgens um vier. Es geht los! Noch etwas verschlafen von der kurzen Nacht laden wir das Reisegepäck, die Mitbringsel und einige Hilti-Maschinen in die beiden Kleinbusse. Kurz nach sieben Uhr haben wir die ersten 300 Kilometer hinter uns. In Anif, einer Gemeinde südlich von Salzburg, treffen wir uns mit den Leuten von «Bauern helfen Bauern». Was für eine Freude! Im «Hubertushof» warten nicht nur Heinz, Landolf und Edith auf uns. Nein, Doraja – die Gründerin von BhB – sowie Susi und Michaela sind auch da. Mmh, es gibt Hefeschnecken. Wir müssen aber gleich wieder los. Schliesslich liegen noch mehr als 800 Kilometer vor uns. Heinz, Landolf und Edith steigen zu, und weiter geht es Richtung Srebrenica. Quer durch Österreich, durch Slowenien und Kroatien. Es regnet, um halb acht Uhr abends kommen wir an. Pension «Misirlije». Wir sind still und nachdenklich. Kaputte Häuser, Minenfelder, überall Spuren der Verwüstung. Beim Abendessen lernen wir Namir Porić kennen, die gute Seele von «Bauern helfen Bauern» in Bosnien. Dann heisst es gute Nacht! 64 TAG 2 DIE GEDENKSTÄTTE Sonntag, 4. Mai 2014. Nach dem Frühstück machen wir uns auf nach Potočari, wenige Fahrminuten nördlich von Srebrenica gelegen. Dort befindet sich die Gedenkstätte, die an die Menschen erinnert, die im Juli 1995 von den serbischen Truppen massakriert wurden. Wir stehen in der Halle, in der so viele bosnische Frauen, Kinder, kranke und alte Menschen vergeblich Zuflucht gesucht haben. Erschüttert sehen wir uns den Film an und besuchen den Friedhof, auf dem die Toten ihre letzte Ruhe gefunden haben. So bekommen wir eine Ahnung von den schrecklichen Geschehnissen in Srebrenica. Beim Mittagessen lernen wir die Genossenschaft «Potonica» (Vergissmeinnicht) kennen. Es handelt sich um Frauen aller Ethnien, die sich zusammengeschlossen haben, um gegen Entgelt für andere zu kochen. Für Besucher, Firmen oder für Reisende, wie wir es sind. Wir bringen der Genossenschaft eine Kücheneinrichtung mit. Die Freude ist gross, und zwar auf beiden Seiten! Das Mittagessen schmeckt, und zum Schluss bekommen wir alle etwas geschenkt: ein Glas Pek-Mez, hausgemachte Traubenmarmelade! Nass und durchfroren erreichen wir die Pension in Srebrenica. TAG 3 DIE FAMILIEN Montag, 5. Mai 2014. Kaum zu glauben, aber es hat aufgehört zu regnen! Ideal für unsere Arbeit. Um sieben fahren wir los zu den beiden Baustellen. Das erste Haus, das die Hilti-Lehrlinge mithilfe lokaler Handwerker bauen werden, ist für Hajra Mujic bestimmt. Frau Mujic hat während des Krieges alles verloren. Lange lebte sie in Holland im Exil, wo schliesslich auch ihr Mann starb. Nun ist sie nach Bosnien zurückgekehrt, hat aber keine eigene Bleibe mehr. Sie kommt entweder bei ihrer Schwester unter, die 250 Kilometer weit weg von Srebrenica wohnt, oder aber bei ihrem Neffen. Das zweite Haus, ganz nah an der Drina, bauen wir für Familie Harbas. Frau Harbas hat ihren ersten Ehemann im Krieg verloren. In zweiter Ehe ist sie mit einem Mann verheiratet, der im Krieg schwer verwundet wurde und einen Arm verloren hat. Gemeinsam mit ihrem fünfjährigen Sohn Namil möchte Familie Harbas von vorn beginnen. Wir studieren Pläne, sortieren das angelieferte Holz. Die Verständigung ist nicht ganz einfach, wir behelfen uns mit Mimik und Gestik. «Langsam bitte», das heisst «polako». «Hvala», vielen Dank! Ein paar Worte haben wir schon gelernt. Abends sind wir ziemlich erledigt, aber die Aussenwände stehen, und mit dem Dachstuhl haben wir bereits begonnen. 65 TAG 4 DIE ARBEIT Dienstag, 6. Mai 2014. Früh los und Arbeit bis abends spät. Heute schafften wir die Fenster und die Türen, das Dach und die gesamte Isolierung. Die bosnischen Zimmermänner schneiden alles mit der Kettensäge, verblüffend. Die Männer kommen mit Meterstab, Hammer und Nägeln, einer Wasserwaage und einem Fuchsschwanz aus. Erstaunlich! TAG 5 ZWEI BAUSTELLEN Mittwoch, 7. Mai 2014. Arbeit, Arbeit. Bis zum Abend haben wir das Erdgeschoss geschafft und fast alles im oberen Stock. Eine Seite des Daches wird mit Ziegeln gedeckt. Dazwischen gibt es Kaffee und Kuchen von den zukünftigen Bewohnern des Holzhauses. Auch am Mittag werden wir bestens verköstigt. Besonders schön sitzt man in der Mittagspause auf Baustelle 2. Dort gibt es unten am Wasser der Drina einen kleinen Pavillon. Seit die Hiltis da waren, ist dieser nun auch mit Treppe, Tisch und Bänken ausgestattet! TAG 6 DIE ÜBERGABE TAG 7 UND 8 DIE RÜCKREISE Freitag, 9. Mai, und Samstag, 10. Mai 2014. Um acht fahren wir von Srebrenica aus wieder nach Hause. Langes Fahren, Übernachtung am Wörthersee. Wir hängen noch ein bisschen ab in der Bar, am nächsten Morgen geht es weiter Richtung Westen. Um 14 Uhr sind wir wieder daheim im Vorarlberg. Donnerstag, 8. Mai 2014. Um 15 Uhr ist das erste Haus fertig. Ein wunderschönes Gefühl! Die Lehrlinge von Baustelle 1 fahren zu Baustelle 2 hinüber, um noch mitzuhelfen. Um 17 Uhr steht auch das zweite Haus. Darauf wird mit einem «pivo», einem Bier, angestossen. Schlüsselübergabe und unbeschreibliche Freude bei den neuen Hausbesitzern. Auch wir sind glücklich und dankbar für die vielen positiven Erfahrungen, die wir gemacht haben. Die Warmherzigkeit der Menschen in Srebrenica hat uns tief beeindruckt. 66 67 Kilo 17 10 10 10 4 3 70 mm 100 mm 120 mm 140 mm 160 mm 30 mm 60 m² Dachpappe 20 Firstziegel 90 m² Vertäfelung 50 m² Schiffsboden 90 m Eckleisten 72 m² Tyvek®-Folie Nägel 99 m² Glaswolle … und die juckt!!! 5013 Bretter & Dachlatten Die bosnischen Zimmermänner schneiden alles mit der Kettensäge, verblüffend! * 68 1 Türe 3 Fenster 1 Holzofen mit Rohren 69 Heute Morgen ist meine Rose erblüht Ich schaue die Rose an Und dann kommen mir die Tränen Rose, ich hab dir meine Jugend geschenkt Und dich mit meinen Tränen gegossen Wie oft habe ich deine Knospe geküsst Wie oft habe ich von deinem Tau getrunken Anstatt meinen Liebsten zu küssen 70 Rose, ich habe dir meine Jugend geschenkt Und dich mit meinen Tränen gegossen Traditionelles Svedah-Lied A capella gesungen von Muharem Hasanovich. Scannen Sie den QR-Code mit Ihrem Handy, um sich das Tondokument anzuhören! 71 an und warteten, bis sie niedergebrannt waren und mit ihnen die Menschen darin. Noch während die internationale Gemeinschaft einen Luftangriff diskutierte, wurden am 11. Juli 1995 Männer und Frauen in einer ausgedienten Batteriefabrik in Potočari zusammengetrieben und getrennt. Nach drei Tagen waren 8000 Männer tot, ermordet von den serbischen Streitkräften und verscharrt in Mässengräbern. «Es ist zwanzig Jahre her», sagt Namir Porić. «Aber es ist wie gestern.» Neue Existenz Beatrix Bättig Staud von der Hilti Foundation und Namir Porić von «Bauern helfen Bauern» im neuen Holzhaus von Hajra Mujic. Die Freude über das einfache Haus ist gross. Die Weltöffentlichkeit nimmt Konflikte wahr, selten aber begleitet sie den schildkrötenhaft langsamen Weg des Wiederaufbaus. «Zu einem menschenwürdigen Leben gehört doch, dass man sich waschen und seine Notdurft verrichten kann. Die meisten unserer Spender finanzieren mit dem Haus auch den Bau einer Nasszelle.» Namir Porić Die Weltöffentlichkeit nimmt Konflikte wahr, selten aber begleitet sie den schildkrötenhaft langsamen Weg des Wiederauf baus und der Versöhnung. Die österreichische Organisation «Bauern helfen Bauern» hält sich entschieden fern von der Politik und hilft den Menschen in Srebrenica seit 1997 mit handfester Unterstützung. So wurden bisher über 400 Holzhäuser gebaut, um den Rückkehrern eine menschenwürdige Bleibe zu verschaffen. Die Häuser erlauben es den Überlebenden, die noch bestehenden Ruinen wiederaufzubauen und das Land, das ihnen gehört, ohne lange Anfahrtswege zu bestellen. «Wir sind ziemlich unkompliziert», sagt Namir Porić. «Wenn jemand eine gute Idee hat, dann helfen wir. Mit Saatgut, landwirtschaftlichen Maschinen. Wir haben auch beim Auf bau einer grossen Gärtnerei mitgeholfen. Und gerade kürzlich sind uns ausgediente Maschinen einer Bäckerei angeboten worden. Das verhilft mehreren Menschen hier wieder zu einer Existenz. Insgesamt versuchen wir eine Atmosphäre zu schaffen, in der es sich lohnt, zu leben.» Die beiden Häuser, die von den Hilti-Lehrlingen mit der Hilfe von «Bauern helfen Bauern» gebaut wurden, sind zwar ein kleiner Beitrag an die Entwicklung der Region. Für die Familien aber, die inzwischen darin wohnen, bedeuten sie eine grosse Freude und eine unschätzbare Hilfe. Noch schlimmer als der wirtschaftliche Niedergang ist die seelische Verwüstung der Überlebenden. Srebrenica reicht wie ein Finger in das Staatsgebiet Serbiens hinein und wurde so zum Schauplatz des grausamen Wahns vom grossserbischen Reich. Im April 1995 wurde das Tal von den serbischen Streitkräften umzingelt. Die orthodoxen Serben, die bis dahin in gutem Einvernehmen mit ihren bosnisch-muslimischen Nachbarn gelebt hatten, wurden evakuiert. Danach begann jenes Grauen, das die Zeit in Srebrenica in ein Vorher und ein Nachher teilt. Im heissesten Sommer des Jahrzehnts wurden die Menschen beschossen, mit Granaten beworfen und systematisch ausgehungert. Ältere Menschen starben, Babys starben. Verwundete konnten nicht operiert werden, weil es keine Medikamente und keine Anästhesie gab und das Spital zerstört wurde. Die Menschen dörrten aus. Die Stadt Srebrenica, die einst 8000 Einwohner gehabt hatte, fasste nun 40 000 Flüchtlinge, weil die Menschen ihre Dörfer verlassen hatten, um im Tal Schutz zu suchen. Die serbischen Soldaten gingen an den Hängen durch die Dörfer, zündeten die Häuser 72 73 Finanzbericht 2014 Zahlen & Fakten Strategie & Zielsetzung Die Hilti Foundation wurde 1996 als gemeinnützige Stiftung des Martin Hilti Family Trusts ins Leben gerufen. Seit 2007 ist die Hilti Foundation eine gemeinsame Einrichtung des Martin Hilti Family Trusts und der Hilti Gruppe. Die Hilti Foundation unterstützt weltweit Projekte und Institutionen, die einen nachhaltigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. Um die Lebensqualität von möglichst vielen Menschen langfristig zu verbessern und effektive Hilfe zu bieten, setzt die Hilti Foundation auf eine Strategie mit klar definierten Schwerpunktbereichen und einen gemeinsamen Ansatz mit der Hilti Gruppe. Die Hilti Foundation zielt mit ihren Aktivitäten auf Nachhaltigkeit und stärkt Grundqualitäten einer modernen Gesellschaft. Über ihre Projekte will sie benachteiligten Menschen ermöglichen, ihr Leben aus eigener Kraft zu verbessern (Hilfe zur Selbsthilfe). Dabei legt die Hilti Foundation Wert auf betriebswirtschaftlich tragfähige Initiativen, die messbar und multiplizierbar sind, um eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. Weitere Informationen finden Sie auf: www.hiltifoundation.org 74 Sechs Grundsätze für erfolgreiche Projekte 1 Fokussiertes Engagement: Sechs Schwerpunktbereiche Kultur, Wissenschaft und Bildung Bezahlbarer Wohnraum Katastrophenhilfe Berufliche Aus- und Weiterbildung Soziales Unternehmertum Gesellschaftliche Entwicklung 2 Ziele gemeinsam angehen: Dialog und Teamarbeit Die Umsetzung der Projekte erfolgt durch eine offene und konstruktive Zusammenarbeit zwischen der Hilti Foundation, den lokalen Organisationen der Hilti Gruppe und den Partnerinstitutionen. 3 Sich sinnvoll vernetzen: Ausgewählte Partnerschaften Um die Bedürfnisse der ärmsten Bevölkerungsschichten zu verstehen und geeignete Lösungen zu entwickeln, arbeitet die Hilti Foundation mit ausgewählten Organisationen und Netzwerken zusammen. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist die Übereinstimmung der Zielsetzungen sowie der Wirkungsgrad der jeweiligen Organisation. 4 In die Zukunft denken: Ganzheitliche und langfristige Lösungen 5 Nicht nur Geld: Finanzielles, intellektuelles und soziales Engagement Die Hilti Foundation unterstützt innovative und replizierbare Ideen, die langfristig zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen und damit die Lebensqualität von möglichst vielen Menschen verbessern. Die Hilti Foundation unterstützt die Partnerorganisationen nicht nur in Form von finanziellen Zuwendungen, sondern stellt auch unternehmerisches und produktionsrelevantes Know-how zur Verfügung und vermittelt Sozialwissen, beispielsweise durch den Zugang zu wichtigen Netzwerken und Institutionen. 6 Nutzen nachweisen: Wirkungsmessung Zusammen mit ihren Partnern will die Hilti Foundation Standards entwickeln, die eine langfristige, transparente und vergleichbare Wirkungsmessung erlauben. 75 Organisation Finanzen Die Hilti Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung. Finanziell wird die Stiftung getragen vom Martin Hilti Family Trust und der Hilti Gruppe. Die Hilti Foundation engagiert sich in sechs Bereichen offensiv, unbürokratisch und flexibel. Das Engagement kommt Projekten weltweit zugute, die nach klar defi nierten Kriterien unterstützt werden. Im Berichtsjahr überschritt das Vergabevolumen erstmals die Grenze von 11 Millionen Schweizer Franken. Unverändert hoch ist das Engagement der Hilti Foundation im Bereich Kultur, Wissenschaft und Bildung. Fast die Hälfte der eingesetzten Mittel entfiel auf diesen Bereich. Motiviert wird diese Förderung von der Überzeugung, dass die persönliche Entwicklung von Menschen positiv zum Gemeinwesen beiträgt. Deutlich mehr Mittel wurden 2014 für die Bereiche bezahlbarer Wohnraum sowie gesellschaftliche Entwicklung zur Verfügung gestellt. Stärker investiert wurde auch in das soziale Unternehmertum. In den erwähnten drei Bereichen stand der Wunsch im Vordergrund, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Stiftungsrat Zuwendungen 2007 bis 2014 in Mio. CHF Der Stiftungsrat der Hilti Foundation setzt sich aus Vertretern des Martin Hilti Family Trusts und der Hilti Aktiengesellschaft zusammen. 11,3 2014 10,0 2013 Präsident des Stiftungsrats 8 2012 2011 Egbert Appel Trustee des Martin Hilti Family Trusts 8,5 2010 6,8 2009 Mitglieder des Stiftungsrats 10,4 2008 7,8 2007 8,0 0 2 4 6 Michael Hilti Mitglied des Verwaltungsrats der Hilti Aktiengesellschaft und Trustee des Martin Hilti Family Trusts 8 10 12 Unterstützungsleistungen 2014 Dr. Christoph Loos Vorsitzender der Konzernleitung der Hilti Aktiengesellschaft Total 11,3 Mio. CHF Für die kommenden Jahre sind höhere Projektzuwendungen geplant. Die Hilti Foundation wird in Zukunft – ideell, mit Arbeit und fi nanziell – noch stärker von der Hilti Gruppe unterstützt werden. Soziales Unternehmertum 6,2 % | 0,7 Mio. CHF Bezahlbarer Wohnraum 32,5 % | 3,7 Mio. CHF Dr. Michael Jacobi Mitglied des Verwaltungsrats der Hilti Aktiengesellschaft und Trustee des Martin Hilti Family Trusts Kultur, Wissenschaft und Bildung 43,2 % | 4,9 Mio. CHF Jörg Kampmeyer Mitglied der Konzernleitung der Hilti Aktiengesellschaft Geschäftsstelle Dr. Christine Rhomberg, Bruno Walt Geschäftsführung Beatrix Bättig Staud Administration und Projekte Corinna Salzer, Regula Schegg, Elisa Sologni Projekte Gesellschaftliche Entwicklung 9 % | 1 Mio. CHF Berufl iche Aus- und Weiterbildung 6,6 % | 0,8 Mio. CHF Katastrophenhilfe 2,5 % | 0,3 Mio. CHF 76 77 Projekte der Hilti Foundation Kultur, Wissenschaft und Bildung Unterwasser- archäologische Forschungen von Franck Goddio in Ägypten. Aufarbeitung und Publikation in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford Changing lives through music: «El Sistema» Venezuela und weitere Musikinitiativen in Südamerika, Südafrika und Europa (Projekt siehe Seiten 7 bis 27) Kooperationen mit international renommierten Festivals im Bereich Jugendarbeit: Int. Stiftung Mozarteum Salzburg, Bregenzer Festspiele und Lucerne Festival 78 Bezahlbarer Wohnraum Berufliche Aus- und Weiterbildung Bauen mit Bambus Berufsschule für in Asien: Base Bahay, Philippinen Genossenschaft licher Wohnungsbau im ländlichen Sambia: SolidarMed, Schweiz Weltweite Vergabe von Kleinkrediten für Wohnraumverbesse rungen: Habitat for H umanity International, USA Katastrophenhilfe Medizinische Betreuung in Krisenund Katastrophengebieten: Médecins Sans Frontières, Schweiz Syrienhilfe, Entwicklung und Realisierung von RISK und RDSU: Médecins Sans Frontières, Schweiz (Projekt siehe Seiten 30 bis 49) Zementblock- Herstellung in Haiti: Baufachleute in der Build Change Inc., Republik Moldau: Liech- USA tensteinischer EntStipendien für wicklungsdienst, FürsSozialunternehmer: tentum Liechtenstein Ashoka Arab World, Bauarbeiterschulung Ägypten in Kolumbien: Swisscontact, Schweiz Gesellschaftliche Entwicklung Krankenschwes t ern Medizinische ausbildung im länd Betreuung mit mobilen lichen Sambia: Kliniken im Gebiet SolidarMed, Schweiz der Palästinensischen Weltweite Exper Autonomiebehörde: teneinsätze für lokale Physicians for Human Gewerbebetriebe: Rights, Israel Swisscontact – Senior Projekte von HiltiExpert Corps, Schweiz Mitarbeitenden und Hilti-Organisationen Soziales Unternehmertum weltweit: Hilti Solarenergie- Gruppe und Partner Installationen im (Bauern helfen Bauern, ländlichen Indien: Österreich; BookSimpa Networks bridge, Schweiz etc.) Inc., USA (Projekt siehe Seiten 51 bis 73) 79 Impressum Konzept Denken und schreiben, nordföhn Texte Nicole Müller, Denken und schreiben Text «Sozialer Wandel durch Musik» Christine Rhomberg, Geschäftsleitung Hilti Foundation Redaktion Nicole Müller, Denken und schreiben, Zürich Gestaltung nordföhn. Visuelle Gestaltung. Angela Reinhard, Zürich Übersetzung deutsch-englisch Dr. Elizabeth Wollner-Grandville, Luzern Korrektorat deutsch Dominik Süess, Zürich Korrektorat englisch Julia Hickey, USA Fotografie Vignetten Portraits: Uli Reitz (Seiten 4, 7, 29, 51) Sozialer Wandel mithilfe von Musik: Aissa Chrem (Seiten 11, 12, 13, 15, 26) Anna Janson (Seiten 9, 19, 20/21, 23 unten, 52, 27 ) Christine Rhomberg (Seite 23 oben) Johanna Valcárcel-Correo Semanal (Seite 1) Laurent Ziegler (Seite 16) Medizinische Hilfe in Extremsituationen: Nagham Awada (Seite 40) Pierre-Yves Bernard (Seite 33 unten) Favila Escobio (Seite 33 oben) Laurence Hoenig (Seiten 36, 45 unten) Anne Khoudiacoff (Seiten 31, 37, 42/43, 49 oben und unten) Florian Lems (Seite 41) Uli Reitz (Seiten 35, 46) Julie Remy ( Seiten 44, 49 mitte) Meinrad Schade (Seite 39) Mario Travaini (Seite 45 oben) Der Zukunft ein Haus bauen: Uli Reitz (Seiten 61, 62) Susanne Reiß und Manuel Reichl (Seiten 53, 59, 63, 64 oben, 65, 66, 67 links und oben, 69) Martin Walser (Seiten 55, 56, 57, 64 unten, 67 unten, 72, 73) Litho Thomas Humm dtp, Matzingen Druck und Ausrüstung Kösel GmbH & Co. KG, Altusried © 2015 Hilti Foundation, FL - S chaan Alle Rechte vorbehalten 80 Herausgeberin Hilti Foundation Feldkircherstrasse 100 Postfach 550 9494 Schaan Liechtenstein T +423 234 4313 info@hiltifoundation.org www.hiltifoundation.org 81 83