Eine grosse Schuld
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Eine grosse Schuld
N ° 22 — 30. M A I 2015 ZU BESUCH IM CHALET VON CLAUDE NOBS S. 26 MAX KÜNG ÜBER CHLAMYDIEN S. 9 «Die Wahrheit ist, dass jeder überleben will» Der Blauhelmsoldat Boudewijn Kok und das Massaker von Srebrenica Grande Reverso Night & Day Eduardo Novillo Astrada, Polospieler, Gewinner der argentinischen Triple Crown. Open a whole new world DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 — BI L D C OV E R : J E ROEN HOF M A N; BI L D E DI T OR I A L: LU K A S WA S S M A N N EDITOR IAL/INHALT Wir befinden uns in einem mehrfachen Jubiläumsjahr, mit der Schlacht von Morgarten (1315), Marignano (1515) – eine detaillierte Schilderung dieser Schlacht lesen Sie in diesem Heft – und dem Wiener Kongress (1815) werden gleich drei Daten erinnert, die für die Schweizer von Bedeutung waren. Schweizer Geschichte war immer schon ein Zankapfel. Doch nicht der Gegensatz zwischen Mythos und Wirklichkeit liegt hinter dem Historiker streit im diesem Jahr. Entscheidend ist vielmehr: Wie weit muss man zurückgehen, um die Schweiz zu ver stehen? Am 1. Juni 2015 um 20 Uhr fin det im Theater Neumarkt in Zürich zu dieser Frage eine Veranstaltung des «Magazins» statt. Unter dem Titel «Historikerschlichtung» diskutieren unter der Leitung des «Magazin»-Mit Der Geist von Montreux im Chalet von Claude Nobs, S. 26 arbeiters und Historikers Thomas Zaugg: Dr. Erika Hebeisen (Kuratorin Schweiz. Nationalmuseum), Markus Somm (Chefredaktor und Verleger der «Basler Zeitung»), Prof. Jakob Tanner (Universität Zürich) und Prof. Oliver Zimmer (Universität Oxford). Karten können bezogen werden unter www.theaterneumarkt.ch Finn Canonica S. 10 Eine grosse Schuld. Vor zwanzig Jahren ermordeten Serben 8000 Bosnier in Srebrenica. Niederländische Blauhelmsoldaten schauten tatenlos zu. Einer hat es bis heute nicht verkraftet. Von Erwin Koch S. 20 Die Stunden von Marignano. Eine Rekonstruktion der Schlacht. Von Thomas Zaugg S. 26 Die Schätze von Fort Nobs. Zu Besuch im Chalet von Claude Nobs, dem verstorbenen Gründer des berühmtesten Musikfestivals der Welt. Von Frank Heer 3 KOMMENTAR ZUM SCHADEN DER DEMOKRATIE neue Eskalationsstufe dar. Bis zu einem gewissen Grad wird man die Entgleisungen der «Gewerbezeitung» wohl den persönlichen Hassdelirien eines profilierungssüchtigen Verbandsdirektors zuschreiben dürfen. Noch erstaunlicher als das Übersteuern von Hans-Ulrich Bigler und seiner Kampftruppe ist jedoch die Nachsichtigkeit, mit der an Orten, wo man ein Minimum an demokratischem Rückgrat erwarten dürfte, auf die Hasspropaganda reagiert wird. Immerhin: Es gibt auch politische und publizistische Akteure in unserem Land, deren staatsbürgerliche Basisinstinkte nach wie vor intakt sind. Nationalrat Beat Flach, der als Grünliberaler ins RTVG-Nein-Lager gehört, zögert dennoch keine Sekunde, im «SonntagsBlick» das Offensichtliche auszusprechen: «Der Gewerbeverband hat hier jede Contenance und jeden Anstand verloren.» Der «SonntagsBlick» selber – ob wohl man den Ringier-Medien weiss Gott nicht vorwerfen kann, sie würden eine Pro-RTVG-Kampagne führen – denunziert die «Demagogie» und das «Wutgebrüll» der SRG-Gegner. Boulevardmedien kultivieren zwar selber die «Zuspitzung», aber beim «SonntagsBlick» weiss man zwischen Volkstümlichkeit und Volksverhetzung zu unterscheiden. Eine völlig andere Behandlung erfährt die Causa Bigler allerdings am anderen Ende des publizistischen Spektrums, nämlich bei der NZZ. Wer erwartet hätte, dass das Leitblatt des Schweizer Bürgertums sich unzweideutig von der degoutanten Desinformationskampagne distanziert, wird eines Besseren belehrt. Der Inlandchef der Zeitung hält sich in einem Kommentar zwar die Nase zu angesichts des «Ge- rangels um die TV-Gebühren», will aber zu beiden Seiten strikte Äquidistanz bewahren. Schliesslich würden «hüben und drüben» Vorwürfe erhoben. «Wahr oder falsch?» Diese Frage mag der Kommentator nicht entscheiden. Indem er Biglers Methoden mit denen seiner Kontrahenten gleichsetzt (wofür es nicht den geringsten Anlass gibt), exkulpiert er ihn de facto. An der Falkenstrasse findet man den pöbelnden Gewerbler unfein – aber ihn in die Schranken weisen? Das wäre denn doch zu viel verlangt. Noch deutlicher wird dieser Standpunkt in einem weiteren Artikel der NZZ. Der Gewerbeverband wage mit seiner Kampagne einen «Kantengang». Ein Problem hat der Artikel nicht mit der primitiven Niveaulosigkeit der Kampagne– eine Beurteilung «nach ästhetischmoralischen Gesichtspunkten» hält er für nicht zielführend –, sondern ausschliesslich damit, dass sie nicht funktionieren könnte. Es ist eine schlichte Tragödie, dass einem immer ideologisierteren Bürgertum offenbar jeder Sinn dafür abhandenkommt, dass die Substanz der Schweizer Demokratie nicht darauf gründet, welches Lager einen Abstimmungskampf gewinnt, sondern darauf, wie solche Debatten ausgefochten werden. Es gibt selbstverständlich auch legitime Argumente gegen die RTVG-Revision. Aber sollte die Hasskampagne des Gewerbeverbandes erfolgreich sein und Schule machen, dürfte ernster Schaden entstehen für unser Land. DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin». 4 SWISS MADE Weltneuheit P.E.P.© von JURA: Dank Puls-Extraktionsprozess zum perfekten Espresso DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Von DANIEL BINSWANGER Demokratie ist kein Regierungsprogramm, sondern eine Regierungsmethode. Sie liefert keine inhaltlichen Vorgaben, wie eine Sachfrage zu entscheiden ist, sondern ein Verfahren, um über Sachfragen Entscheide zu fällen. Nichts ist deshalb wichtiger für einen demokratischen Staat, als dass er zu seinen Entscheidungsprozeduren Sorge trägt – und in ganz besonderem Masse gilt das von der direkten Demokratie. Ein fairer öffentlicher Diskurs, eine qualitativ hinreichende vierte Gewalt, ein minimal informierter Bürger: All dies sind nicht fakultative Gütemerkmale, sondern die absoluten Grundvoraussetzungen funktionierender Volkssouveränität. Man sollte eigentlich glauben, dass in einem Land wie der Schweiz über diese Tatsache ein fester Grundkonsens besteht. Es sollte selbstverständlich sein, dass über alle politischen Lager und alle inhaltlichen Differenzen hinweg ein fundamentales Fairnessgebot nicht infrage steht. Allerdings zeigt sich heute in dramatischer Deutlichkeit, dass diese Selbstverständlichkeit immer weniger gegeben ist. Der Gewerbeverband hat mit seiner Anti-SRG-Kampagne eine neue Benchmark des Propaganda-Zynismus gesetzt. Sicherlich hat uns die SVP mit Schäfchen-Plakaten und «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» schon lange an verschärfte Standards der Ruchlosigkeit gewöhnt. Dass mittlerweile jedoch eine amtierende Bundesrätin und der SRG-Generaldirektor in bester «Stürmer»-Manier karikiert und obsessiv wiederholte, völlig groteske Fantasiezahlen (die 1000Franken-Gebühr) zum Totschlagargument stilisiert werden können, stellt eine Schweizer Innovationskraft auf höchstem Niveau: Mit der Z6 hebt JURA die Kaffeespezialitäten-Vollautomaten auf den nächsten Level. Der Puls-Extraktionsprozess (P.E.P.©) optimiert die Extraktionszeit und garantiert Spezialitäten in höchster KaffeebarQualität. Die Zubereitung von Trendspezialitäten gelingt dank automatischen Umschaltens von Milch auf Milchschaum so leicht wie noch nie. Für kultivierte Funktionalität sorgen der frontale Zugang zu Wassertank, Bohnenbehälter und allen Bedienelementen sowie das Intelligent Water System (I.W.S.®), das den Wasserfilter automatisch erkennt. www.jura-z6.com JURA – If you love coffee DR AUSSEN SEIN MIT: OPAVIVAR Á! Während eines öffentlichen Duschbads in Rio de Janeiro zeigt das brasilianische Künstlerkollektiv, wie man mit Kunst soziale Probleme angeht. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Von FINN CANONICA Wie kommt ein Künstler zu seiner Kunst? Wie kann man wis sen, ob etwas Kunst ist? Das sind gewiss die falschen Fragen. Die Kunstwelt ist eine Sphäre, in der Menschen eben nicht nur arbeiten als Künstler, Galeristen, Sammler oder Kritiker, son dern vor allem auch leben; eine Welt, in der Ideen und Kon zepte durch Beziehungsnetze fliessen und sich niederschlagen in dem, was man dann ein «Werk» oder eine «Arbeit» nennt. Manchmal sehen diese Arbeiten dann auch aus «wie Kunst», was meistens nicht so gut ist. Und manchmal sieht ein Werk so gar nicht aus «wie Kunst» – ist es aber auf unerklärliche Art doch. Wie genau er vor sich geht, dieser Bewertungsprozess, wie eine Arbeit in den Blick der Kunstkritik gerät, zirkuliert und an Wert gewinnt – richtig erklären konnte das noch nie je mand. Ein reiches Land der Armen Das Künstlerkollektiv Opavivará! jedenfalls macht Kunst, die nicht augenscheinlich wie Kunst aussieht. Ausgangspunkt un seres Spaziergangs ist eine kleine Strasse im Zentrum von Rio de Janeiro. Sie zu finden ist bereits eine kleine Herausforde rung. Die Fahrt geht zunächst vorbei am geschwungenen Strand von Ipanema, vorbei an der bezaubernden Laguna und durch ein paar staubige Tunnels ins historische Zentrum der Stadt. Alles, was lebt, ist hier gerade draussen auf der Strasse. Opavivará! hocken auf einer Treppe vor ihrer Galerie «A Gentil Carioca». Eigentlich ist die Gruppe zu fünft, aber eine der bei den Frauen war verhindert. Ein Mann, der aussieht wie der jun ge Che, aber in nett, kauft Kokosnüsse zum Austrinken. «Nein, unsere Namen sind nicht wichtig, wir treten nie als Individu en auf», sagen sie, es gibt nur Opavivará!. Wir kämpfen uns durch die paar Strassen ihrer Nachbarschaft, es riecht nach Barbecuefleisch, die dominierenden Farben sind grell: Grell orange, Grellgelb und Grellgrün. Der Ort ihrer Kunst ist schliesslich die Strasse, der öffent liche Raum, und ihr Medium ist die Aktion oder die Installati on. Vor der Fussball-WM organisierten die fünf eine kleine De monstration an der Copacabana, «todo poder à praia», alle Macht dem Strand, druckten sie auf die typischen brasiliani schen Strandtücher. In einer anderen Aktion wurden auf Rios historischer PraÇa Tiradentes öffentliche Küchen eingerich tet und Filme gezeigt. Für die Biennale in Taipeh im vergan genen Jahr bauten Opavivará! eine Installation: kreisförmig angeordnete Hängematten, in ihrer Mitte ein Teetisch, an dem Mate gebraut wurde – ein Ort der Entspannung in der Hektik einer dichten asiatischen Stadt. Aber die Stadt hier und jetzt ist Rio de Janeiro, ein Name, der gleich eine ganze Kette furchtbar klischierter Assoziationen freisetzt. Ja, das Girl von Ipanema hat es gegeben; nein, die Brasilianer hören nicht ständig Samba oder Bossa nova; ja, der Christus auf dem Cor covado wacht über dem Fussballclub Flamengo. Wir reden über Sérgio Buarque de Holanda und sein Buch «Die Wurzeln Brasiliens». Es ist das Standardwerk über das Land, jeder gebildete Brasilianer kennt es. Buarque schreibt, Brasilien sei ein «reiches Land der Armen». Buarque schreibt auch, etwas schwarzseherisch, dass es in diesen von Portugie sen eroberten Tropen an sozialem Zusammenhalt fehle. Euro päer und Afrikaner, die als Sklaven nach Brasilien verschleppt wurden, und die indigene Bevölkerung hätten sich zwar rasch vermischt, aber so etwas wie eine gemeinsame Geschichte gebe es eben nicht. Folglich sei der soziale Zusammenhalt ein Problem. Das war seine Meinung 1936, als der Text erschien. «Das ist heute immer noch so», sagt eine Künstlerin von Opa vivará!. Zwar wachse die Wirtschaft des Landes anständig, aber die sozialen Probleme würden eher grösser. Business und Politik spannen in Brasilien auf Kosten der Bevölkerung zu sammen, da sind sich die Künstler absolut einig. Dieser Glau be hat das Kollektiv geformt, ihrer Kunst eine klare Ausrichtung gegeben: Es geht Opavivará! darum, Informationen in Um lauf zu bringen und Situationen zu schaffen, an denen teilneh men kann, wer will. Wir bleiben vor einer hohen Mauer stehen. An der Wand installiert ist ein neueres Werk von Opavivará!: fünf öffentli che Duschstationen. Wer will, kann sich hier jederzeit unter den Wasserstrahl stellen und waschen. Sogar Seifen liegen bereit. Die Duschinstallation ist ein gutes Beispiel für ein engagiertes Werk, das in einem bestimmten sozialen Umfeld funktioniert. «Schau dich mal um», sagt einer der Künstler, «es gibt in die ser Stadt keine öffentlichen Brunnen, die Armen können sich nirgendwo waschen, und das mitten in Rio de Janeiro.» Es wird vermutet, dass auch die Getränkeindustrie hinter dem in der Tat seltsamen Fehlen von Brunnenanlagen steckt. Wer Durst hat, muss Geld ausgeben, für die Künstler jedenfalls ist der Fall klar. Tatsächlich erfüllt die Duschwand in der kleinen Strasse ihren Zweck. Immer wieder entledigen sich Passanten ihrer Kleider und stellen sich unter den Wasserstrahl. Manche plaudern dabei miteinander, als wäre dies das Normalste auf der Welt, während rundherum die Leute in diesem engen Quartier ihre Waren anbieten oder einfach vor der Haustür sitzen und einander gegenseitig hallo und guten Tag sagen. Die Leute von Opavivará! stellen sich jetzt, am Ende unseres Spa ziergangs, selbst unter die Dusche. Die neusten Arbeiten des Künstlerkollektivs werden an der Art Basel Unlimited 2015 zu sehen sein. Opavivará! beim Duschen im Zentrum von Rio Bild A N DR I P OL 7 K ATJA FRÜH BERÜHMT, ABER TOT Wenn jemand berühmt ist, hat er es an seiner Beerdigung gut. Denn so viele Freunde und Aufträge hatte er zu Lebzeiten nie. Zu Lebzeiten war er nur, wie er sich selbst sah. Ein strampelnder Schriftsteller, eher etwas einsam, wie das der Beruf so mit sich bringt, oft belächelt, oft von der Kritik verrissen, von Selbstzweifeln gequält. Die Kirche ist rappelvoll. Man kennt sich, und die Gelegenheit ist mehr als günstig, ein paar alte Kontakte aufzufrischen. Alle sind da. Man begrüsst einander, lächelt sich schmerzlich an, ach das Leben, so schnell ists vorbei. Vielleicht drückt man sich noch kurz und besonders innig, gibt einander Trost. Man hat sich passend angezogen, dunkel, das schon, aber auch mit lebensbejahenden, bunten Akzenten. Auf der Kanzel steht ein Verleger, der ausnahmslos von sich selbst spricht, schon eine halbe Ewigkeit. Wie er den armen Verstorbenen entdeckt hat, was für einen guten Riecher er damals hatte, wie er ihn bekniet hat, den zweiten Roman zu schreiben, was für ein Erfolg der dann wurde, wie er bei den Verfilmungen geholfen hat und gekämpft hat, damit diese einigermassen werktreu rüberkamen, wie wichtig für ihn die langen Spaziergänge mit dem Schriftsteller waren, wie er ihn auf die richtigen Geschichten brachte, wie streng er mit ihm war, aber auch wie enorm er ihn gefördert hat. Und gerade vor Kurzem sind sie ein neues Projekt angegangen. Danach spricht eine Schauspielerin, die den Verstorbenen zwar ewig nicht gesehen hat, aber eine ganz besonders tiefe Bindung zu ihm empfindet, seine Texte liiiebt, in Stücken von ihm riiiesen Erfolg hatte und gerade eben ein Projekt angehen wollte, einen seiner Romane für sich und die Bühne zu adaptieren. Die Schauspielerin weint, während sie spricht, denn sie ist ja Schauspielerin. Dann kommt ein Fernsehredaktor, der gerade vor Kurzem, also in allernächster Zeit, mit dem Schriftsteller in Kontakt treten wollte, um ihn dazu zu ermuntern, ein Serienprojekt einzugeben. Und das wird jetzt nichts mehr, ach wie schade. Wie traurig. Der Redaktor ist sichtlich von seiner Rede gerührt. Der Pfarrer spricht, wie Pfarrer eben sprechen. Normal. Man stelle sich vor, normal! bei einem toten Atheisten! Das nervt ein paar Leute, sie empfinden es als unpassend und unehr- lich, zu religiös. Das alles wird ausführlich beklatscht beim anschliessenden Salami/Schinken-Plättli, wo man sich betrinken darf, und das für einmal mit Fug und Recht. Denn die Beerdigung, da ist man sich einig, ist eigentlich grauenhaft. Jeder will der beste Freund des Toten gewesen sein, jeder hatte noch vor, mit ihm zu arbeiten, jeder hat nur die besten Erinnerungen, und jedem geht es nur um sich selbst. Ja hallo, um wen denn sonst? Wie soll man seinen Schrecken und seine Hilflosigkeit denn sonst ausdrücken als in persönlichen Erinnerungen? Wie sonst einen Verlust ausdrücken, den man vermutlich zwar empfindet, aber doch nicht ganz so, wie man sollte. Wie soll man sonst sagen, hallo ich lebe noch und habe eine Bedeutung? Merkwürdig, dieses Bedürfnis, dem Verstorbenen besonders nahe gewesen zu sein. Vielleicht ist es der Wunsch, ein bisschen mitzusterben, vielleicht auch eher das Gegenteil: Ha, ich leb noch, ich habs gut, es hat mich noch nicht erwischt. Ich hasse es. Ich geh nie wieder auf eine Promibeerdigung, schwöre ich mir. Alles Lug und Trug. Ich bin ganz anders. Dann werde ich aufgefordert, auch ein paar Worte zu sagen. Und bin gar nicht anders. Höre mich davon erzählen, wie ich früher mit dem Schriftsteller in Basel ein Hörspiel gemacht habe, wie gut das ankam und wie ich schon immer wusste, wie viel in dem Mann steckte. Und bin froh, richtig angezogen zu sein. Schwarz mit unkonventionellen Farbakzenten. Die Drehbuchautorin und Regisseurin K AT JA F RÜ H schreibt hier im Wechsel mit Hazel Brugger. Bild LU K A S WA S SM A N N DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 M A X KÜNG WILLKOMMEN ZURÜCK ZUR MILCH Das Wort, ich hatte es noch nie zuvor gehört. Wie konnte das sein? Ein Wort, das im Gespräch zwischen meinen Freunden hin und her ging wie ein Pingpongball. Also musste ich fragen: «Was redet ihr da? Geht es um ein neues veganes Rezept?» Die Freunde schauten mich an und schüttelten die Köpfe. «Ein neu eröffnetes Restaurant?» Köpfeschütteln. Ich dachte nach. Der Klang des Wortes könnte auch in eine andere Richtung deuten, ich versuchte es: «Es geht um eine Pflanze, diese Orchideen, die überall rumstehen?» «Nein», sagte der eine Freund, und der andere: «Die heis sen Phalaenopsis.» «Dann geht es um einen paradiesischen Ort, wohin man nun in die Ferien fährt? Eine griechische Inselgruppe? ‹Condé Nast Traveller› hat drüber berichtet?» Köpfeschütteln. «Etwas im hohen Norden, neben den Äusseren Hebriden?» Köpfeschütteln. «Neben den Inneren Hebriden?» Köpfeschütteln. «Eine neue Fernsehserie mit my thologischem Background, aber auch viel Sex und Gewalt?» Köpfeschütteln. «Ein junges Modelabel? Der heisseste Scheiss aus Schwe den? Eine Turnschuhmarke?» Köpfeschütteln. «Und wie spricht man es gleich noch mal aus?» – «Chlamydien. ‹Chla› wie in ‹Klassenlehrer› und ‹mydien› wie ‹müdes Indien›.» «Chlamydien», sagte ich vor mich hin, probierte das Wort aus wie einen Bissen eines unbekannten Gerichtes, das man zum ersten Mal in seinen Mund lässt, beispielsweise geschmorte Hühnerfüsse an Pilzsosse. «Chlamydien.» Betonte mal den An fang mehr, mal das Ende, bis ich fand, es klinge richtig. «Chla mydien; und was sind Chlamydien?» Die Freunde klärten mich auf, es gehe um eine Geschlechts krankheit, die Zeitungen seinen davon voll gewesen, im Fern sehen sei es gekommen, im Radio, überall. An mir jedoch wa ren die Chlamydien spurlos vorbeigegangen. Meine Freunde sagten: «Du hast nichts davon mitbekommen? Wo lebst du denn? Hinter dem Mond?» Ehrlich gesagt stelle ich es mir hin ter dem Mond recht schön vor. Sicher ist es dort sehr ruhig, und keine bestens informierten Freunde gehen einem mit ihrem allumfassenden Kontemporärwissen auf die Nerven. Das Gespräch der Freunde drehte sich noch eine Weile um die Krankheit mit dem Namen, der klingt wie ein politisch tur bulentes Land in einem «Tim und Struppi»-Comic, dann ging es bald um das neue Album einer Band, von dem ich noch nie gehört hatte («Welcome Back to Milk» von Du Blonde), dann um das angesagteste Gesellschaftsspiel, das mir absolut nichts sagte («Cards Against Humanity»), bald um ein Buch, das man einfach gelesen haben muss («Andrew’s Brain» von E.L. Doctorow), die neuen Skateboards von Daft Punk, die Hervet Manufacturier herstellt, den neuen Zweireiher «Skeppsbron» von Stutterheim und so weiter. Ich notierte mir alles, liess mir alles buchstabieren, und als ich mit der langen Liste der mir unbekannten Dinge nach Hause ging, zurück hinter den Mond, da war ich doch etwas geknickt – ich war nicht mehr auf dem Laufenden. Ich wusste nicht mehr Bescheid. Ich hatte keine Ahnung mehr. So nahm ich mir vor, mich sofort zu informie ren. Also steuerte ich gleich tags darauf den nächsten Buchla den an, ging zum Info-Desk und sagte: «Einmal Pschyrembel bitte, aber subito!» Die Buchhändlerin hatte mich nicht rich tig verstanden, sie blickte fragend, also wiederholte ich meine Bitte. «Einmal, bitte schön, Pschyrembel, das Buch mit den Chlamydien drin, Ulcus molle, Granuloma inguinale, Bowe noide Papulose. Die Buchhändlerin schaute mich eine Weile an. Bevor sie sagen konnte: «Kochbücher finden Sie im zweiten Stock», ging ich schnell wieder aus dem Laden, «sorry» rief ich der Buchverkäuferin zu, die Hand zum Abschied winkend erhoben, «falscher Anfang». Vielleicht sollte ich doch mit der Musik beginnen, mit «Welcome Back to Milk» von Du Blonde. Also machte ich mich auf in Richtung Plattenladen. Den Weg dorthin wusste ich noch. Halbwegs, vage. M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin». 9 BI L D: PAOL O PE L L E GR I N / M AGN U M PHO T O S EINE GROSSE SCHULD Der Völkermord von Srebrenica jährt sich im Juli zum zwanzigsten Mal. Der niederländische Blauhelmsoldat Boudewijn Kok liess sich das Datum in seine Haut stechen. Text Erwin Koch Srebrenica-Potočari-Gedenkstätte für die Opfer des Genozids von Srebrenica. Der Friedhof zählt mehr als 6000 Gräber. Noch Jahre später werden weitere Opfer identifiziert und hier beerdigt. Im Juli 1995 überrannten 5000 christliche Serben, ausgerüstet mit Panzern und Kanonen, den Ort Srebrenica, überfüllt mit muslimischen Flüchtlingen, beschützt von einer Truppe der Vereinten Nationen, 300 Blauhelmen aus den Niederlanden, Dutchbat III. 8000 tote Bosnier, zumeist Männer und Knaben zwischen 12 und 77, industriell hingerichtet, maschinell verscharrt. Aber wären wir, sagt Boudewijn im Keller des Hotels Helvetia, Sonnenblumen an der Wand, Stühle auf den Tischen, wären wir nicht dort gewesen, wären nun Zehntausende tot. Boudewijn, das ist deine Theorie. Trotzdem, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich lerne endlich, meinen Krieg zu ertragen. Mich nicht zu schämen, dass ich in Srebrenica war. Er holt Luft. Ich, Boudewijn Kok, war einer von denen – ich war ein Dutchbatter. Und habe getan, was mir möglich war. Noch Schüler sei er gewesen, etwas faul und naiv, sagt Boudewijn, Sohn eines Fabrikarbeiters in Hardenberg, Provinz Overijssel, Freund von Kriegsfilmen, Mädchen und Bier, als er beschlossen habe, Soldat zu werden. Das hätte er nicht werden müssen, weil zwei seiner drei älteren Brüder es schon waren, und dennoch, bereits das gute Entlassungsgeld vor Augen, 25 000 Gulden, unterschrieb Boudewijn Kok für vier Jahre und wurde am 2. Oktober 1992 Soldat, grüne Uniform, drei Monate in Weert, Provinz Limburg, rennen, schiessen, rennen, warten, rennen, warten, warten, rennen, dann drei Monate in Utrecht, Ausbildung zum Automechaniker, zwei Monate in Soesterberg, Panzermechaniker, ein Monat Veldhoven, Lastwagenmechaniker, schliesslich Havelte, Korporal in der 43. Panzergeniekompanie, nicht weit von Hardenberg, wo die Eltern wohnten, totale Spiesser, mit denen ich kaum noch sprach. Wann hast du zum letzten Mal geweint? Am Tag der Befreiung, 5. Mai, vorgestern. Erzähl. Was soll ich erzählen? Man hatte mich, den Veteranen, gebeten, am Tag der Befreiung drei Minuten lang zu reden, vor 10 000 Leuten, vielleicht waren es 15 000. In Assen, Hauptstadt der Provinz Drenthe, wo ich nun lebe. Drei Minuten zum Thema Freiheit. Van Dik Hout spielten auf, sie spielten ihr berühmtes Lied Stil in mij. Het is zo stil in mij, es ist so still in mir. Ik heb nergens woorden voor, ich habe keine Worte dafür. Dann stand ich dort auf der Bühne, ein Mikrofon in der Hand – Und? Ich sagte, ich sei in Srebrenica gewesen, ich wisse, was Friede bedeute, weil ich wisse, was Krieg sei. Hass gehöre nicht zum Menschen, Hass sei anerzogen. Also könne man sich davon auch wieder befreien. Denn nur Liebe bringe die Menschen weiter. Friede, sagte ich, ist ein rares Gut, geht sorgsam damit um. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 — BI L D: PR I VAT Kein Mikrofon liess er aus – schlaflos war er nach jedem Gespräch, traurig, nervös, Boudewijn Kok, geboren am 25. Juni 1974, Kriegsveteran: Doch nun ist genug geplappert, zumindest auf dem Boden des Landes, wo viele ihn einen Feigling nennen, weshalb, Boudewijn, hast du nichts getan, als die Serben kamen, weshalb dem Massaker zugeschaut? Ignoranten!, stöhnt er und legt die Rechte auf den linken Arm, darauf, tief in weisse Haut geschrieben, sein Gebot: Never forget 11.7.1995. Über Srebrenica zu reden, sagt er, fällt mir im Ausland leichter. Seit einem halben Jahr, endlich, sagt er, sei er in Therapie. Boudewijn Kok, vor einer Stunde aus den Niederlanden angereist, sitzt in der Kellerbar des Hotels Helvetia, nur Schritte neben dem Bahnhof Basel SBB, sein Handy auf dem Tisch, ein Paket Marlboro. Srebrenica, sagt er mit klarer Stimme, ist eine Stadt in Bosnien. Ich bin ihr Gefangener. Und werde es immer sein. Er schweigt und atmet, schaut zum Bild an der Wand, Sonnenblumen. Erzähl. Du weisst nicht, was Küssen ist, bevor du es tust, du weisst nicht, was Sterben ist, bevor du stirbst, und du weisst nicht, was Krieg bedeutet, bevor du darinsteckst. Boudewijn Kok, ausgemusterter Soldat Nummer 740625267 der Koninklijke Landmacht der Niederlande, legt seine Hände flach auf den schweren dunklen Tisch, spreizt die Finger. Krieg ist – Wenn du nicht weisst, ob man dich erschiesst, nur weil du einer alten Frau Wasser gibst. Wenn Männer sich aus Angst erhängen. Wenn du plötzlich ein schreiendes Kind in den Armen hast und es der Frau reichst, von der du glaubst, sie sei die Mutter, und zwei Tage später in einer Mülltonne ein totes Baby entdeckt wird, ich hatte nicht den Mut, es anzuschauen, ich wollte nicht wissen, ob es das Kind war, das ich auf meinen Armen getragen hatte. Wenn du gewusst hättest, was nun begann – hättest du dich anders verhalten? Ich weiss es nicht, sagt er. Vielleicht. Vielleicht nicht, schweigt er. Weshalb wurdest du Soldat? Er lacht auf. Aus Lust auf Abenteuer, aus Langeweile, ich war noch ein Kind, achtzehn. Wieder spreizt er die bleichen Finger, drückt sie aufs Holz, grölt die eigenen Worte nach – Lust auf Abenteuer! Srebrenica! Genozid! Das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg! Und als ich dann von der Bühne stieg und Van Dik Hout wieder zu spielen begannen – Stil im mij Zo stil in mij Dann hab ich geheult. Du warst ein braver Soldat? Es war mein Beruf. Er sei zwar, sagt Boudewijn Kok, nicht einer gewesen, der Befehle nie hinterfragt habe, militärischer Gehorsam, die ganze Disziplin habe ihm zu schaffen gemacht, immer wieder, aber schliesslich, nicht auf den Kopf gefallen, habe er sich zu helfen gewusst, er sei Minimalist geworden, habe sich lieber hinter seinen Motoren versteckt als vorgedrängt, ich war wohl nicht brav, schon gar nicht stolz, aber brauchbar, geil auf mein Bier und das Austrittsgeld nach vier Jahren, 25 000 Gulden. Worauf bist du stolz? Worauf bin ich stolz?, sagt er und legt die Rechte auf den linken Arm, Never forget 11.7.1995, daneben, blau auf weiss, das Zeichen des Dutchbat III, eine grosse römische Drei. Dass ich Hilfe annehmen kann, darauf bin ich stolz, seit einem halben Jahr bin ich in Therapie. Wo? Im Sinai Centrum Amersfoort, einer jüdischen Klinik, die sich einst um Menschen kümmerte, die den Holocaust überlebt hatten, heute um solche, die anderswie im Krieg waren – um Leute wie mich. Mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Boudewijn, wie zeigt sich das? Er dreht am breiten Daumenring. Die das haben, halten sich selbst nicht aus. Die können nicht allein sein. Sie rennen weg. Sind ständig auf der Flucht vor irgendwas. In Bosnien war Krieg, Serben gegen Bosnier, Christen gegen Muslime, ein Schlachten unter Nachbarn. Im März 1993 reiste General Philippe Morillon, Kommandant der United Nations Protection Force in Bosnien, UNPROFOR, eine internationale Schutztruppe der Vereinten Nationen zur Überwachung von Waffenstillständen in den Jugoslawienkriegen, ins ostbosnische Srebrenica, gebaut für 6000 Menschen. Nun drängten sich dort 50 000 Flüchtlinge aus den Dörfern der Umgebung, Bosniaken, Muslime, umzingelt und gejagt von serbischen Truppen, die immer näher kamen. Kaum Wasser, kaum Strom, wenig Nahrung, keine Medikamente. Morillon, als er das Elend nach zwei Tagen verliess, gelobte, die UNO werde Srebrenica und seine Bewohner nicht im Stich lassen. Srebrenica war jenseits meiner Welt, sagt Boudewijn Kok, kurzes blondes Haar, schmales Gesicht. Ich muss mal, sagt er, klopft sich eine Zigarette aus der Schachtel und steigt hinauf ins Strassenlicht, zieht den Rauch tief in seine Gestalt. Drei Tage nach der Drohung der Serben, Srebrenica zu erobern, wenn es sich nicht innerhalb von 48 Stunden ergebe, am 16. April 1993, erliess der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 819, rief den Ort und seine Umgebung zur Schutzzone aus, verbot jeden Angriff oder unfreundlichen Akt. Und wieder zwei Tage später fuhren zum Schutz der Belagerten 170 Kanadier vor und schlugen ihr Lager auf, weisse Container, gesäumt von einem hohen Zaun. Lustlos fuhr Korporal Boudewijn Kok ins deutsche Seedorf, Niedersachsen, Mechanisierte Brigade 41 des Heeres der Niederlande, kroch unter Lastwagen, reparierte, was zu reparieren war, legte nachts eine Matratze auf die Werkbank, trank sich warm, schlief schnell weg, Februar 1994, ein ganzes Jahr lang, hiess es, habe er in Deutschland zu bleiben. Im März rückten die ersten Niederländer in Srebrenica ein, versehen mit kugelsicheren Westen und blauen Helmen, das Dutchbat I, im Juni, zwanzig Jahre alt geworden, erhielt Boudewijn den Bescheid, er sei bestimmt, nach Bosnien zu fahren. Wo ist denn das?, fragte er. Hättest du dich weigern können? Dann hätte ich meinen Job verloren. Was sagten die Eltern dazu? Ich weiss nicht mehr, ob ich es ihnen erzählte. Und deine Freundin? Komm gesund wieder. Ein Arzt warnte vor Tripper, Syphilis, Aids, vor Chlamydien und Trichomonaden, ein Offizier redete über die Waffen der Serben, Panzer, Mörser, Haubitzen, ich kann mich nicht erinnern, was man uns noch erzählte, ich weiss nicht, ob jemand erklärte, worum es ging in diesem verdammten Krieg am Arsch der Welt. Du weisst nicht, was Küssen ist, bevor du küsst – Im August hiess es, das Dutchbat III, dessen Mitglied Boudewijn bald sei, reise im Oktober, im Oktober sagten sie, im Januar. Sie bestellten Korporal B. Kok nach Assen, Provinz Drenthe, 13 Luchtmobiele Brigade. Am 6. Januar 1995 war Abschiedsfeier, die Eltern, nun doch, standen im Hof der Kaserne von Assen, drei Brüder, die Freundin, Musik spielte, dann Boudewijn Kok im Frühjahr 1995 mit Kindern aus dem Dorf Potočari bei Srebrenica, wo das niederländische UN-Bataillon Dutchbat stationiert war. Wenige Wochen später verübten hier die Truppen von General Ratko Mladic einen Genozid an 8000 Bosniaken. 12 13 E S I E R M U A R T NEU: Chance auf 1 von 3000 Sofortgewinnen in jedem Sticker-Set. –––––––––––––––––––––––––––––––––––– Sticker sammeln und gewinnen. Preise im Gesamtwert von Fr. 800 000.— warten auf Sie. –––––––––––––––––––––––––––––––––––– Gratisteilnahme und Teilnahmebedingungen auf www.migros.ch/megawin Ich war noch ein Kind, sagt Boudewijn. Einem Knaben, der stumm am Zaun stand, schenkte er seine Adidas Torsion. Am Morgen des 25. Juni 1995 weckte mich ein Kamerad, Kok, steh auf, am Zaun sind Kinder, die rufen nach dir! Ich ging zum Zaun, Samira war dort und andere Mädchen, dann sangen sie mir zum Geburtstag ein Lied – seine Stimme stockt: Nicht heulen jetzt! Die sangen mir ein Lied und warfen dann eine kleine Geige über den Zaun, grobes Holz, vier Saiten, ein Geschenk, darauf, mit Bleistift, die Worte: UNPROFOR, DUTCHBAT III, SREBRENICA. Anfang Juli 1995. In Srebrenica verhungerten Menschen. Der Kommandant des Dutchbat III bat die UNPROFOR, die Stellungen der Serben, die immer näher kamen, aus Flugzeugen zu beschiessen, die Flieger kamen nicht, einzig zwei niederländische Maschinen zerstörten einen Panzer. Die Serben drohten, einige Blauhelme, die sie gefangen hielten, beim nächsten Angriff zu töten. General Mladic (links) stösst auf den Erfolg der serbischen Truppen an. Mit dabei: Thomas Karremans (Mitte), Befehlshaber der niederländischen Schutztruppe von Srebrenica. 14 G EWI N N E N S I E I H R E Kok. And your name? Samira. Nach zwei Monaten gab es kaum noch Diesel im Lager des Dutchbat III, keine Ersatzteile mehr, kein Gemüse, die Serben fingen den Nachschub ab, März 1995, Hunger in der Schutzzone Srebrenica. Boudewijn Kok, seine neue Aufgabe, zog von Wachposten zu Wachposten, notierte stündlich die Zahl der Salven, die zu hören waren, ständig mehr, April, Mai, Juni 1995. Abends stand er hinter der Theke in der Bar, schenkte Bier aus, zwei Dosen pro Mann pro Nacht. Manchmal kam Post aus Hardenberg, Provinz Overijssel, das Lokalblatt De Toren, und Boudewijn, obwohl jede Kamera verboten war, holte aus der Unterhose seine Kamera, fotografierte sich lesend und schickte das Bild der Zeitung. Weshalb? DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 — BI L D: S I PA PR E S S / R E X hörte sie zu spielen auf, alles war ruhig, jemand schluchzte, meine Freundin. Und du? Was? Hast du geweint? Nein. Hast du in Srebrenica nie geweint? Einmal – als die Bosniaken Raviv van Renssen umbrachten, einen von uns. Weshalb? Weil die wollten, dass wir mit ihnen gegen die Serben kämpften. Also erschossen sie einen von euch? Der Krieg – und das begreift keiner, der nie im Krieg war – hat keine zivile Logik, kein Krieg hat nur unschuldige Opfer, nur schuldhafte Täter, Krieg ist Verrohung, Krieg ist das Menschenmögliche. Der 9. Januar 1995 war ein Montag, Schnee lag in den Strassen von Assen, als die Soldaten, die nach Srebrenica sollten, in die Busse stiegen, vorbei an denen, die zurückblieben, aufgestellt in Reihen, die Hand an der Schläfe. Wie fühltest du dich? Vergessen! Von wem? Ich habe vergessen, wie ich mich fühlte, sagt Boudewijn am schweren hölzernen Tisch, blickt hinüber zum Klavier an der Wand, bedeckt mit einem weissen Tuch, zwei Rosen darauf, Plastik. Sie reisten zum Flughafen Schiphol, stiegen ein, landeten gegen drei Uhr in Zagreb, Kroatien, und hatten zwei Stunden Zeit, sich umzusehen auf dem Gelände der UNPROFOR, Burger King, Duty-free, Boudewijn Kok kaufte ein Aftershave der Marke Davidoff. Dann die Fahrt durch die Nacht. Srebrenica. Leben in Containern, drei Betten, zwei Fenster, eine Tür. Zwei Dosen Bier pro Mann pro Tag. Bruce Springsteen ab CD, Garth Brooks. Und ab und zu eine Gewehrsalve in den Wäldern. Du wusstest, wo die Front war? Auch das habe er vergessen, sagt Boudewijn, er sei Mechaniker gewesen, zuständig für alles, was Diesel verbrauchte, vom Lastwagen bis zur Kettensäge, Teil der Kompanie Charlie, 5000 Gulden Sold im Monat, keine Angst, eher Routine, Davidoff nach der Rasur, nachts ein Anruf nach Hause, gratis, weil er den Telefonisten kannte. Manchmal stand ein Mädchen am Zaun, zwölf Jahre alt, langes schwarzes Haar, Boudewijn schenkte ihr Schokolade, eine Tube Zahnpaste, er gab ihr Geld, damit sie im Dorf Zigaretten für ihn kaufte, ein paar Eier. What’s your name? 16 17 Angst? Noch nicht. Boudewijn atmet laut. Dann ging alles sehr schnell, sagt er. Am 6. Juli 1995, einem heissen stickigen Donnerstag, strömten Flüchtlinge ins Lager der Niederländer, vielleicht 25 000 Menschen, vielleicht 30 000, und wir waren 300, du weisst nicht, was jetzt passiert, du weisst nichts mehr, es gibt nichts mehr, worauf du dich verlassen kannst, nur Chaos, nur Panik, du siehst in den Gesichtern der Menschen Angst, Angst, Angst, das ist es, was ich nie vergessen werde, die Angst in den Gesichtern dieser Menschen, was ich nie löschen kann. Eigentlich, sagt jetzt Boudewijn Kok, die Hände zu Fäusten geballt, eigentlich kann man darüber nicht reden. Immer häufiger schlugen die Granaten ein, immer näher, Häuser brannten, Felder, schliesslich fuhren die Serben mit Lastwagen vor, mit Bussen, 5000 Serben, und drängten die Bosniaken in alte Fabriken, kein Wasser, keine Luft, kein Entkommen, manche erhängten sich. Ich sah alte Menschen, verdurstend, sterbend, irgendwo, am Strassenrand, von keinem beachtet, und in den Gesichtern der Serben der Tod, der Hass. Und wir waren 300, sagt Boudewijn Kok und schnäuzt. Man kann darüber nicht reden – Zu Hause nennen sie uns Feiglinge! Sie riefen uns Nazis! Zwanzig Schuss Munition besass ich. Wer nicht dort war, versteht nicht – Die Serben, gut bewaffnet, begannen, die Flüchtlinge in Busse zu treiben, getrennt nach Geschlechtern, die Niederländer stellten sich daneben, manche halfen den Menschen ins Fahrzeug, am Abend des 13. Juli 1995 war Srebrenica geräumt, kein Muslim mehr im Ort. 8000 tote Bosniaken, zumeist Männer und Knaben zwischen 12 und 77, hingerichtet zwischen dem 13. und 17. Juli, sofort verscharrt. Jetzt brauche ich eine Zigarette – Er erinnere sich nicht, wie lange sie noch in Srebrenica geblieben seien, sagt Boudewijn, er erinnere sich daran, dass er alle dienstlichen Schriften, Ordner und Handbücher, verbrannt habe, dass er, um den Serben nichts zu hinterlassen, die Matratze aufschlitzte und den ganzen Wohnraum verpisste, ich war, sagt er, als ich Srebrenica verliess, fünfzehn Kilo leichter als ein halbes Jahr zuvor, aber um fünfzehn Albträume schwerer. Der Ministerpräsident kam nach Zagreb geflogen, um seine Soldaten abzuholen, man trank wie seit Monaten nicht mehr, manche weinten, andere tanzten, auch Kronprinz Willem Alexander war da und reichte jedem die Hand. Ich verweigerte sie ihm. Weshalb? Ich kam mir betrogen vor, im Stich gelassen. Von wem? Von der ganzen Welt. Du kamst als anderer Mensch zurück? Ich war nicht mehr ich. Wieder unter einen Motor gekrümmt, erschrak Soldat Nummer 740625267 der Koninklijke Landmacht bei jedem Hammerschlag, beim Geschrei eines Babys. Er roch, wo es nach Schweinen roch, den Gestank der Flüchtlinge, die tagelang in alten Fabriken ausharrten, ohne Wasser, ohne Luft. Kollegen fragten, wie viele Leichen hast du gesehen?, erzähl!, und das Lokalblatt De Toren, dem er einst sein Foto geschickt hatte – ein Hardenberger in Srebrenica –, schrieb über Boudewijns Rückkehr ins Dorf. Ach, du bist das, du Feigling, du Nazi, sagte jemand auf der Strasse. Ende Oktober 1995 stellte der niederländische Verteidigungsminister eine Untersuchung vor, 106 Seiten. Um Exzesse zu vermeiden, habe der Bataillonskommandant damals beschlossen, bei der Evakuation der Flüchtlinge mitzuarbeiten, was aber nicht bedeute, man habe mit den Serben kooperiert. Es wird immer an uns haften bleiben, dass wir diese Katastrophe nicht verhindern konnten, sprach der Politiker. Weisse Autos machten mir Angst, weiss wie die Fahrzeuge der UNO, sagt Boudewijn Kok im Keller des Helvetia. Ende Februar 1996 verliess er die Armee, zog zu den Eltern, dann in ein Bauernhaus, abends fuhr er nach Amsterdam oder Utrecht und trank durch die Nacht, die Freundin gab auf, kam zurück, gab auf, Boudewijn schlief kaum noch, versuchte sich als Mechaniker, aha, du warst in Srebrenica! Im April brannte das Haus ab, das er gemietet hatte, übrig blieb der Helm, nun grau statt blau, und Samiras Geige aus rohem Holz, UNPROFOR, DUTCHBAT III, SREBRENICA. SREBRENICA! hiess das Theaterstück, das man in Amsterdam spielte, eine Abrechnung mit dem Dutchbat III, die Zeitungen berichteten, Radio, Fernsehen, Mai 1996, Roberto, ein Blauhelm, lärmt freudig von der Bühne, ich hörte die Kno- chen der Muslime krachen unter den Rädern, und ich dachte, gut, krepiert nur, ihre Schweinehunde. Nichts ging mehr, sagt Boudewijn Kok. Eines Nachts setzte er sich auf das Geleise der Bahn, die nach Zwolle fährt, er sass und wartete, ich weiss nicht, wie lange, dann stand er auf, ich weiss nicht, wie ich wegkam von dort, irgendwann sass ich wieder im Auto, benommen, bewusstlos, und fuhr nach Hause. Schluss mit der Freundin. Schulden. Boudewijn Kok war nun Vertreter für Reklame im Internet, er lernte eine andere Frau kennen, heiratete, 27. Februar 1999, schied ein Jahr später, sass eines Nachts wieder auf dem Geleise der Bahn. Nichts! Du weisst nicht, was Krieg mit dir macht, bevor du ihn selber erlebst. Im Jahr 2000 verliebte sich Boudewijn in Silvia, er begann zu erzählen, Nacht für Nacht, immer wieder dachte er an Samira und schrieb dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, ob man wisse, wo sie sei, er schrieb der Unicef, den Ärzten ohne Grenzen, ihr Name war auf keiner Liste, nicht auf der der Lebenden, nicht auf der der Toten. 2005 gebar Silvia einen Sohn, Denzel, 2006 schickte der Verteidigungsminister des Königreichs der Niederlande, in Ausführung des ministeriellen Beschlusses vom 18.06.2006, ein Ehrenabzeichen, 2007 reiste Boudewijn Kok, getrieben von irgendwas, nach Srebrenica, bosnische Polizisten an der Seite, einer sagte, du bist doch Kok, bist du nicht Kok?, es war Diese Berge. Diese Seen. Dieses Licht! Wer hätte gedacht, dass man das Paradies mit der Bergbahn erreichen kann! Bergbahnen mit der 2. Hotelübernachtung inklusive. Jetzt buchen: www.engadin.stmoritz.ch 4 Wechseln Sie doch gleich zu Swisscom TV 2.0 im Paket. Willkommen im Land der Möglichkeiten. swisscom.ch/willkommen <wm>10CAsNsjY0MDQx0TW2MDCxMAcAy2Ir3w8AAAA=</wm> <wm>10CFXLoQ5CMRBE0S_aZna6025ZSZ57QRB8DUHz_4qAQ1x37nmWGn5dj9vjuJfDI6wnImdpqXEOjErMljMK8k64Lh4Mgoq_wyKSAvbXGGTet9NIk7b74vIY7f18fQANAl1_eQAAAA==</wm> Swisscom TV 2.0 light mit Internet und Festnetz ACADEMY AWARDS © INKLUSIVE BESTER FILM 39.50/Mt.* Besuchen Sie jetzt die Demowochen im Swisscom Shop. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 ©A.M.P.A.S.® GEWINNER VON Schauen Sie noch analoges TV und wird dieses demnächst abgeschaltet? Boudewijn Kok fuhr nach Den Haag, Ende Mai 2011, um dabei zu sein, als Polizisten General Ratko Mladic, dessen Truppen die Männer von Srebrenica ermordet, viele Mädchen und Frauen vergewaltigt hatten, in eine Zelle des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien brachten. Denn ich hatte nicht vergessen, wie er dastand im Juli vor zwanzig Jahren, als wir Srebrenica verliessen, die Daumen im Gürtel, sein Grinsen im Gesicht – nun wollte ich ihn sehen. Und? Nichts. Im Juni 2012, eingeladen vom niederländischen Fernsehsender NTR, reiste Boudewijn wieder nach Srebrenica, ging über das Gelände von einst, sprach in die Kamera, strich dem hohen Zaun entlang, der immer noch stand, und entdeckte, vom Fernsehen erwirkt, in der Ferne eine Frau, Samira, langes schwarzes Haar, sie fielen sich in die Arme, Samira und Boudewijn, hielten sich fest und weinten. Sie ist nun 32, längst Mutter eines Sohnes, sagt Boudewijn. Sie sagte, sie sei mir dankbar, dass ich ihr damals in den Bus geholfen hätte. Vermutlich deswegen, sagte sie, sei sie nicht vergewaltigt worden. Vielleicht war mein Krieg nicht ganz sinnlos, sagt Boudewijn im Helvetia. Er beschloss, den Rest seines Lebens in Srebrenica zu verbringen, flog schnell in die Niederlande, dann wieder nach Bosnien, blieb nur eine Woche. Zurück in meinem Café de Buren, ging nichts mehr. Boudewijn Kok stand erst mittags auf, stritt mit seiner Frau, setzte sich ins Auto, fuhr nach Amsterdam, anderthalb Stunden weit, einfach so, ich fuhr zurück, ständig auf der Flucht, bezahlte meine Rechnungen nicht mehr, verliebte mich in eine andere, zog zu ihr, Scheisse, Scheidung, Scheisse. Und heute? Bin ich in Therapie. Bin arbeitslos, krankgeschrieben, ohne Frau. Ein Schlusswort, Boudewijn? Er lacht laut. Noch dieses Jahr, sobald ich das Geld beisammenhabe, lasse ich mir ein weiteres Tattoo stechen, einen knienden Soldaten, einen Dämon in seinem Rücken, den Dolch gezückt. Wer ist der Dämon? Die Politik. Nur Samira schickt ab und zu ein Smiley. CHF der Mensch, dem ich zwölf Jahre zuvor meine Adidas geschenkt hatte. Boudewijn schiebt die Schultern hoch und schweigt. Ich weiss nicht, ob ich etwas fühlte. Trauer? Ich weiss es nicht. Wut? Keine Ahnung. Ja, vielleicht Wut. Und Trauer. Im März 2008 übernahm Boudewijn, nun 34, Kriegsveteran, das Café de Buren in Witharen, siebzig Einwohner, Niemandsland im niederländischen Norden, er stellte künstliche Blumen auf die Simse, weisse Orchideen, Laternen, an die Wände hängte er Reklame, Heineken, Jack Daniel’s Tennessee Whiskey, unter die Decke ein Bild, Öl auf Leinwand, weinende Frauen, schreiende Soldaten, der Völkermord von Srebrenica, daneben das T-Shirt der Vergangenheit, DUTCHBAT III, und den Artikel aus einer Zeitung, 4. Dezember 2006: Srebrenica was zelfmoordmissie – manchmal lud er zu einer Runde Billard oder Bingo, Poker, Dart, brachte sich über die Runden. Irgendwie so, sagt er. Ab und zu stand ein Reporter vor der Tür, Boudewijn liess kein Mikrofon aus. Weil ich will, dass die Wahrheit gewinnt. Die Wahrheit ist, dass wir nicht anders konnten. Ohne getötet zu werden. Die Wahrheit ist, dass jeder überleben will. Krieg macht Egoisten. JETZT AUF BLU-RAY, DVD & DIGITAL HD! 18 ERW I N KO CH ist freier Autor und schreibt regelmässig für «Das Magazin»; erwinkoch@bluewin.ch Die Schweizer Kabelnetzunternehmen bieten auch digitales Fernsehen an. * Paket Swisscom Casa. Einmalige Kosten: Router CHF 49.–, Aktivierung Swisscom TV 2.0 CHF 99.–. Die Swisscom TV-Box 2.0 muss mittels HDMI-Kabel mit dem Fernseher verbunden werden. Festnetztelefonie mit attraktiven Minutentarifen. Einen Tag und eine Nacht dauerte es, dann war die schlimmste Niederlage der Eidgenossen besiegelt. Eine historische Rekonstruktion Von Thomas Zaugg 20 A L E X A N DR E E VA R I S T E F R AG ON A R D: S C H L AC H T BE I M A R IGN A NO, 18 3 6. BI L D: BR I D GE M A N I M AGE S DIE STUNDEN VON MARIGNANO 1519, vier Jahre nach der Schlacht bei Marignano, sass der Zuger Werner Stei ner in der Ambrosiusbasilika zu Mailand, vielleicht hatte er eine Messe besucht, wahrscheinlich gebetet. Erinnerungen an 1515, an die Schlacht vor den Toren Mailands, überkamen Steiner. Er, der in jungen Jahren in Paris studiert hatte, schrieb Notizen auf den Innenspiegel eines Buches aus schöns tem Kalbsleder. Er zeichnete die Banner und Fähnlein der eidgenössischen Orte und ihrer Verbündeten, die mit ihm ge kämpft hatten. Auch erwähnte er seinen Vater, den Altammann, der bereits am Schwabenkrieg 1499 teilgenommen und in Marignano die Vorhut angeführt hatte. Er beklagte den Tod seines Bruders Mi chael. Sie, die Zuger, waren noch kurz vor der Schlacht für einen Frieden mit Frankreich gewesen. An seinen achtzehn Verwundungen sei Michael schliesslich am 18. September im Schloss von Mai land gestorben, als Werner sich bereits geschlagen auf dem Nachhauseweg be fand. Steiner erhob sich irgendwann von seiner Kirchenbank, er musste von Mai land aus weiterziehen, mit einer Pilger gemeinschaft nach Jerusalem. Sein Kalbslederbuch, das Missale Ambrosia num, gedruckt 1515 in Mailand, einen Monat nach der Niederlage, liegt heute in der Zentralbibliothek Zürich. Steiners Bruder war als einer der «Fürnemmen» bis zu seinem Tod im Castello gepflegt und in der Schlosskir che zu Mailand begraben worden. Die einfacheren Toten dagegen blieben in den Flüssen, den Sträuchern vor Mari gnano liegen. Noch Anfang 1516 finden eidgenössische Söldner ihre Kampfge nossen «unverwesen und unbegraben» auf dem einstigen Schlachtfeld, und so mancher stand da «mit grossem herzen und weinenden ougen», berichtet der Berner Chronist Anshelm. Wohl jeder hat damals über die verlo rene Schlacht gesprochen oder bereits über ihre Bedeutung gestritten. Der gan ze Kontinent, sogar England mischte mit in diesem Machtkampf aller um Mai land. Fast jeder Hof, jedes Bauernhaus hatte jemanden in Marignano verloren. Es sei ein «Kampf der Giganten» gewe sen, jeder andere Krieg, den er erlebt habe, ein Kinderspiel dagegen, meinte Trivulzio, der erfahrene Feldherr der Franzosen. Derweil scherten sich in Zü rich und anderswo die Bauern wenig um derlei Superlative. Sie schäumten nach Marignano, weil sie ihre Eliten des Ver rats verdächtigten. War die Niederlage der Schweizer der Beginn ihrer Neutralitätsgeschichte, wenigstens in embryonaler Form? Unbe stritten ist, dass diese Diskussion an der Schlacht bei Marignano vorbeiführt, vor allem an ihrer Zeit und ihren Realitäten. Das Erleben ist ein ganz anderes, wenn Zeugen von damals die Geschichte er zählen. Unbesiegbare Eidgenossen Um 1500 jassten eidgenössische Söldner im Feldlager, und sie änderten die Spiel regeln: Den Bauern erhoben sie zum Trumpf, er «sticht» bezeichnenderweise den König. Was kompliziert begann – mit Verteidigungskriegen und inneren Kon flikten im 14. Jahrhundert –, ging weiter mit Schlachtensiegen gegen Königshäu ser. Bald umgab die Eidgenossen der Nimbus der Unbesiegbarkeit. Nach den Burgunderkriegen 1474 bis 1477 und dem Schwabenkrieg 1499 war die acht-, bald zehn- und um 1513 dreizehnörtige Eidge nossenschaft gegen Norden konsolidiert. Eine Bündnisversammlung ohne Bun desvertrag, führte die Tagsatzung in Ba den die eidgenössischen Geschäfte, ohne über Befehlsgewalt zu verfügen. Die Eid genossen galten als Schlägertruppe, die keine Gefangenen machte. Ihre Kampf weise, als «Gewalthaufen» die Feinde druckvoll zu überrennen, machte Schule. «Item, di sguizari, è bon averli», schrieb 1510 der venezianische Histori ker Marino Sanudo – Schweizer zu ha ben, das sei gut. Seit Julius Caesar seien sie unbesiegt, erzählte man sich und heuerte massenhaft eidgenössische Söld ner an. Massenhaft standen sie auch zur Verfügung, nachdem die Bevölkerung im 15. Jahrhundert rasant anstieg und der Umstieg auf die Viehwirtschaft nicht für alle einen Arbeitsplatz bedeutete. Frank reich, der Papst und andere zahlten ho hen Herren in der Schweiz «Pensionen», Bestechungsgelder, dafür, dass sie ihnen eidgenössische Söldner organisierten. Diese Praxis wurde Anfang des 16. Jahr 21 hunderts verboten, war aber zu einträg lich, um darauf zu verzichten, und wur de bald wieder legalisiert. In manchem Konflikt standen sich eidgenössische Kontingente gegenüber und hatten sich für Sold gegenseitig zu töten. So arm waren die meisten, dass sie dafür bekannt waren, nach der Schlacht über die Berge zurückzueilen, um den heimischen Acker zu bestellen. Sie waren eine grausame, aus den Al pen kommende Plage, die schnell ver schwand. Ein Gewalthaufen, der zu schlug, aber nicht halten, geschweige denn besetzen konnte. So betrieb die Eidgenossenschaft auch ihre Expansi onspolitik: nie als Grossmacht, nie un ter einheitlichem Willen. Und da war nun dieses Mailand, die ses fast heilige Land. Es lag in einem Fli ckenteppich namens Italien, in dem sich Genueser, Venezianer, der Papst, Franzo sen, Habsburger, Spanier und Eidgenos sen um Macht und Einfluss stritten. Mai land, ein internationales Handelszen trum, ein fruchtbares Gebiet, in dem alle drei Wochen das Gras geschnitten wer den konnte. Nicht zuletzt ein Hort der Kultur, in dem Leonardo da Vinci gerade mit dem «Abendmahl» den Höhepunkt seines malerischen Schaffens erreichte. Ob Kaiser, Könige oder Päpste: Alle woll ten Mailand besitzen, und die, die es meist besetzten, die Sforza, waren Auf steiger, unrechtmässige Herrscher in den Augen der Gegner. In der Eidgenossen schaft waren Uri und Obwalden, aber auch Luzern, Schwyz und Nidwalden in teressiert. Zollfrei bis in die Lombardei, das war ihr Wahlspruch. Zürich und viele andere Orte machten halbherzig mit. Bern, Freiburg und Solothurn dagegen blickten lieber nach Westen und interes sierten sich kaum für die ennetbirgischen Träume der Innerschweizer. Die Eroberung Wie kam es zustande, das schweizerische Mailand? Viele eidgenössische Söldner 22 hatten den Franzosen 1499 geholfen, die sen Zankapfel zu erobern. Mancher Eid genosse aber hatte aufseiten der Gegner seinen Sold verdient. So halfen sie denn bald auch Frankreichs Feinden, Mailand den Franzosen wieder wegzunehmen. 1509 erneuerten die Eidgenossen das Bündnis mit dem französischen König Ludwig XII. nicht mehr, er zahlte ihnen zu wenig. Stattdessen gewann ein Mann an Einfluss, der Grosses vorhatte und später fast Papst geworden wäre: Kardinal Mat thäus Schiner aus dem Oberwallis, in ein fache Verhältnisse hineingeboren. Unter Schiners Einfluss beteiligten sich eidge nössische Orte an den Feldzügen der Hei ligen Liga, eines Bündnisses gegen Frank reich, geschlossen zwischen Venedig, Spanien, England und Papst Julius II. Mit hilfe von Schweizer Kontingenten ver trieb die Liga 1512 die Franzosen aus der Lombardei. So kraftvoll und selbstsicher war ihr Vorstoss, dass sie, durch einen Fluss von den Gegnern abgeschnitten, sich auszogen. Sie schwammen hinüber, lehrten die Franzosen nackt das Fürch ten. Es seien «all mentschen begierig an die Frantzosen zů geratten», schrieb ein Freiburger Hauptmann. Im eroberten Mailand wurde Massi miliano Sforza als Herzog eingesetzt, die Eidgenossen schützten ihn dort. Mai land war ein Protektorat der Eidgenos senschaft geworden, und die Schweizer liessen sich diesen Dienst von Sforza fürstlich bezahlen. Grosser Siegesjubel setzte ein: Der Papst sandte den Eidgenossen zur Aner kennung ein Prunkschwert – bis dahin ein Geschenk nur für Fürsten –, einen päpst lichen Hut samt Schachtel sowie zwei Banner mit den gekreuzten Schlüsseln – sein Juliusbanner. Jeder Ort, zahlreiche Gemeinden verlangten eifersüchtig ihr eigenes Juliusbanner, auch für Frauen feld musste ein Exemplar nachgefertigt werden. In Rom durften die Eidgenossen die päpstlichen Ehren empfangen, vor al len andern. Julius II. segnete sie als «Be schützer der Freiheit der Kirche», doch er ging auf Nummer sicher, liess ihnen vor dem grossen Auftritt rechte Kleider entgegenschicken. Die eigenen Mängel zeigten sich früh. Gerade bei den Bernern hielt sich der Eifer schon immer in Grenzen, ih nen seien «lang reisen ußer land sau er», wie sie zu Protokoll gaben. Gewiss waren sie auch überfordert mit diesem weiten Land und seiner Hochkultur. Als sie ein römisches Amphitheater be staunen, versuchen sie Vergleiche zu ziehen. Ein Luzerner denkt ans Mähen einer Wiese: Keiner könnte dieses Ge bäude in einem Tag abmähen, wenn es inwendig voll Gras wäre. Das Gebäude, es ist «hoch alß kein huß in Lucern». Sforza, der junge Herzog von Mai land, den sie für Sold beschützten, be hagte ihnen schon gar nicht. Der junge Mann schlafe den ganzen Tag und führe sein Leben nachts, schrieb ein eidgenös sischer Hauptmann nach Hause. Und Sforza «dienett gott klein», er hört keine Messe, meint, er habe «das leben von sim selber», in der Nacht «důtt er nüt den stechen und jubylieren». In Frankreich bestieg Anfang 1515 ein Machthaber von ganz anderem Zu schnitt den Thron. Franz I. sah sich wie sein Vorgänger als Erbe der Visconti, de nen Mailand zuvor gehört hatte. Im Au gust bereits bewegte sich das Gros des französischen Heers über den Col de l’Argentière, einen Pass, der als unbe gehbar galt. Mineure sprengten den Weg frei. Über siebzig, je fast zwei Tonnen wiegende Kanonen, die den Schweizern später das Leben schwer machten, mussten über den Pass gezogen werden. Die Eidgenossen waren verblüfft. Tatsächlich hatten sie die Franzosen nicht über den Col de l’Argentière erwar tet, sondern andere Pässe gesperrt. Sie überliessen dem französischen Heer schnell, nach einigen Scharmützeln, das Piemont. Dieser Rückzug aus dem Pie mont war weniger heroisch als der späte re Rückzug von Marignano. Häufig blieb der Sold aus. Die eidgenössischen Trup pen hungerten, die Stimmung schwank te. Auf ihrem Weg plünderten sie Villa franca und Settimo, überfielen Chivas so, erschlugen fünfhundert Bewohner oder mehr. Ihre Anführer unternahmen kaum etwas dagegen. Sie berichteten, die Knechte drohten, sie zu erstechen, falls man ihnen widerspräche. Die Knechte würden gar eigene «Gemeinden» zur Beratung abhalten. Überall diese «uff rurigenn meynungenn»! Und die Trup pe verhalte sich bald ärger als die schlimmsten Wilden, die Gascogner! Hagelregen prasselte nieder, sie sa hen ihn als Strafe Gottes für ihre Schand taten im Piemont. Die Bewohner der Stadt Ivrea ergaben sich den Eidgenossen aus Angst kampflos. Man verfluchte sie. Während Franz I. weiter vorrückte, dezimierten sich die Eidgenossen, denn «der gemein man hat niendert gelt und müssen armut halb heimziechen», ja der Grossteil sei «hinwäg und heimgezo gen». Der Eindruck machte sich breit, man sei hier fehl am Platz. In Gallarate kam es zu Verhandlun gen. Franz I. bot hohe Summen für einen Frieden an. Manche Schweizer Haupt leute hätten mit dem französischen Kö nig kurz vor der Schlacht getafelt, hiess es sogar gerüchteweise. Die Unterhändler, die sich mit den französischen Vertretern trafen, waren uneinig, ob sie deren Auf merksamkeiten annehmen sollten: Ent schädigungen, auch Bestechungen («ei ner welts nen, der ander welts nit nen»). Schon verhandelten gefangene Franzo sen mit ihren eidgenössischen Bewa chern: Der eine oder andere liess sich bereits für künftige französische Feldzü ge verpflichten. Die Schweizer seien «volubili» und «contadini senza alcuna fede o gentile za» – unbeständig, Bauern ohne Glauben oder Adel, erzählte man sich bald in Itali en. Würden sie überhaupt kämpfen? Er solle Mut fassen, mahnten die Eid genossen Herzog Massimiliano Sforza elf Tage vor der Schlacht. Sie würden seine Feinde bald aus Italien vertreiben oder alle umbringen. Sie würden von nie mandem in der Welt Hilfe verlangen. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Die Eidgenossen galten als Schlägertruppe, die keine Gefangenen machte. Ihre Kampfweise, als «Gewalthaufen» die Feinde druckvoll zu überrennen, machte Schule. Die Schlacht Staub, Wolken von Staub kündigten den Franzosen den Angriff der Eidgenossen an. Das Erdreich hier war «ganz dürr und desshalb vast staubig», erinnert sich der eidgenössische Augenzeuge Schodoler. Dem Entscheid zum Angriff war wieder einmal Chaos vorausgegangen. Die Ber ner, Freiburger, Solothurner und Bieler hatten sich bereits zuvor verabschiedet, sie waren über alle Berge. Auch in Mai land, wo sich der Rest neu versammelt hatte, gab es Streit. Ja, «das gab ein söm liche Zwytrach unter den Eidgnoßen», erinnert sich Werner Steiner. Sollte man nun angreifen oder heimziehen? Das Fussvolk stimmte ab, es wollte kämpfen, die Hauptleute blieben zögerlich. Plötzlich war Alarm geschlagen wor den, «da liesind die Schloßknecht den Lärmen gon». Der Franzose habe einige Eidgenossen vor den Stadttoren ange griffen, hiess es. In Wirklichkeit hatte Kardinal Schiner wohl das Scharmützel provoziert. Man eilte den Freunden je denfalls zu Hilfe, der eine ohne Kopfbe deckung, der andere ohne Schuhe, man che sogar ohne Waffen. Wer noch immer nicht angreifen wollte, der wurde «hoch gemant, bys sy sich der sach ouch erga bendt», schreibt der Berner Chronist Schwinkhart. Aus dem Schloss liefen sie, bald auf eine grosse Wiese. Was an Fein den sich dort gesammelt hatte, wurde niedergemacht. ters, des Sohnes und des Heiligen Geis tes: Das soll unser Kirchhof sein, fromme, liebe Eidgenossen», rief er. Fünf Pater noster, fünf Ave-Maria forderte Haupt mann Steiner, niederkniend mit «zer tanen» Armen. Sie beteten ganz so, wie der Sohn Gottes am Kreuz gelitten hat te. Eine Art der Andacht, für welche der Papst die Eidgenossen immer wieder kritisierte. «Das Schlachtfeld», schreibt Hein rich Harkensee in seiner Studie von 1909, «ist eine flache Ebene, mit Wiesen-, Gar ten- und Weinland, von zahlreichen na türlichen und künstlichen Wasserläufen durchzogen, auch die Wege waren viel fach von Gräben eingefasst.» Ein schwie riges Terrain für die Eidgenossen, die ge wohnt waren, den Gegner mit Wucht zu überrennen und niederzumachen. Der Angriff kam ins Rollen, es gab ein Duell der Artillerie. Zuerst schossen die Büchsenschützen, tausend bei den Eid genossen, sechstausend bei den Fran zosen. Kaum einer traf, die Franzosen schossen zu hoch, aber der Staub wurde immer unerträglicher. Den Bernern seien «lang reisen ußer land sauer», wie sie zu Protokoll gaben. Gewiss waren sie auch überfordert mit diesem weiten Land und seiner Hochkultur. Kardinal Schiner kam aufs Feld geritten. Er versprach den Eidgenossen mit päpst licher Vollmacht die Vergebung all ihrer Sünden, falls sie in der Schlacht fallen würden. Zwingli, damals Feldprediger der Glarner, hatte ihnen bereits Tage zuvor in Monza eingeheizt. Es war gegen siebzehn Uhr. Die Son ne senkte sich tiefer, sie «fing an nider ja schier für Gold gan». Doch war man dem Feind bereits so nah, dass man kein Nachtlager aufschlagen wollte. Es kam zum Gebet vor der Schlacht. Werner Steiner, Zuger Hauptmann und Vater des gleichnamigen Chronisten, 63 Jahre alt, liess sich drei Schollen Erde auf den Hengst reichen. Er warf die Schollen über die Vorhut, die flinken jun gen Männer, die den ersten Angriff wa gen sollten. «Das ist im Namen des Va Ein gewisser Caspar Bächli stieg auf das Dach eines Hauses. Er zeigte manchen Verbänden die Angriffslinie und wies sie absichtlich in Richtung der französi schen Kanonenläufe. Bezahlt vom Feind, wurde Bächli später, in Wädenswil, mit dem Schwert hingerichtet und gevier teilt. Dann wateten sie durchs Wasser, bis «in das herzgrüblin» reichte es. Oder sie blieben in Sträuchern stecken, Bachlauf für Bachlauf mussten sie überqueren, «durch die tiefen Gräben und scharffen Dörn», ehe sie erschossen wurden. So «voll erschossner lüthen» waren die Bä che bald, «dass man kümerlich vor den todten Eydtgnossen und fynden hin durch watten mocht», schreibt Schodo ler. Doch überwältigten sie, wie 1513 bei Novara, die gefürchtete Artillerie. Tiefe, 23 «tot wie Schweine», berichtet ein Vene zianer vom Gang über das Schlachtfeld, «schlecht gekleidet und kaum oder gar nicht bewaffnet». Einträglich waren die se Toten nicht, das Landvolk fand kaum Geld in den Leichenhaufen. Mit «furken und isengablen» erstachen sie die Ver letzten oder erwürgten sie und zogen sie aus «bis an das nestel hemblin». Das Leiden muss grenzenlos gewe sen sein, die Quellen sind der Klagen voll. Ein Basler namens Hans Bär verliert sei ne Beine und sein Leben, ihm wurden durch eine Kanonenkugel «auß einem grossen Stuck beide Schenckel hinge nommen», hörte der Basler Chronist Wurstisen. Der Chronist Anshelm be richtet, der Urner Ammann Püntiner, ein Eine Folge von Marignano war, dass in der Eidgenossenschaft vieles beim Alten blieb. Vielleicht wäre dieses sensible Gefüge zu einer Macht geworden, vielleicht aber auch von inneren Spannungen zerrissen worden. eidgenössische Haufen gegenseitig, ehe sie einander erkannten. Zwischendurch waren die Trompeten der Franzosen zu hören oder das Schlachthorn der Urner, der Uristier. Manche wärmten sich an an gezündeten Häusern in der Gegend, ein Haus stürzte ein und begrub sechzehn Eidgenossen unter sich. Am nächsten Morgen zeigten sich die Franzosen in neuer Ordnung. Sie hat ten «das grob Geschütz auff alle seiten» neu ausgerichtet. Hatten während der Nacht neue Gräben ausgehoben, ihr Ge horsam war blind, der König auch in der Nacht eine Orientierung. Es waren «nit sonders vill Eydtgnossen mehr im land», bedauert Schodoler. Ein letztes Mal lie fen sie dem Gegner frontal in die Kano nenläufe. Dann betraten die Venezianer das Schlachtfeld, die Eidgenossen waren demoralisiert, geschlagen. Allmählich begann der Rückzug von der Schlacht bei Marignano. Manche hat ten sich bereits frühmorgens darum ge rissen, Verletzte in die Stadt zu tragen, um selbst mit dem Leben davonzukom men. Dreihundert Schweizer flüchteten sich in ein Kloster, ihre Gegner steckten es in Brand. Die «sguizari», sie lagen da beleibter Mann, sei von den Feinden auf geschlitzt worden, sie hätten mit seinem Fett «ire spiess und stifel» eingesalbt, ja «liessend d’ross haber uss sinem buch fressen». Oben bestaubt, unten gebadet seien die Eidgenossen in Mailand eingetroffen, berichtet der dortige Chronist Burigozzo. Die gewöhnlichen Verwundeten legten sie in die Spitäler, die Reichen ins Castel lo. Kein eidgenössischer Ort sei ohne grossen Schaden heimgekommen, fasst Anshelm zusammen: «Der hoptman Bur germeister von Rotwyl ward zů einem kind sin leben lang.» Der Berner Hans Frisching verflucht Kardinal Schiner, dieses Italien war doch die Idee «deß mörderschen und vererter schen, schantlichen böszwichtz». Er be trauert den Tod seines Sohnes Ludwig, dem sie «beid schenckell» zerschossen hätten, vierzehn Jahre alt, «XIIII jär, XV wochen unn 1 tag», schreibt der Vater. Triumph der französischen Nation In Frankreich dagegen begann mit Mari gnano eine neue Zeitrechnung. Auf einer Medaille lässt sich Franz I. als ersten Sie ger über die Helvetier seit Caesar feiern. Leonardo da Vinci, der unter den Sforza gedient hatte, nahm Franz I. sozusagen als Kriegsbeute mit in sein Königreich. In Frankreich wurde 1515 zum Triumph der Nation, während die Eidgenossenschaft noch weit davon entfernt war, ein Bun desstaat zu sein. Was sind die Folgen von Marignano? Ahistorisch wäre die Annahme, die Schlacht sei ein zivilisatorisches Trauma wie der Erste und Zweite Weltkrieg ge wesen. Krieg und Tod waren an der Ta gesordnung im Mittelalter. Zwar berich tet der Chronist Anshelm zwanzig Jahre nach Marignano von einer Eidgenossen schaft, die in Italien ihren alten Kern ge waltig «vermalen und verzert» habe. Doch weniger Marignano selbst als sei ne Zeit beschreibt eine Wende. Am 10. Dezember 1515 zogen aufge brachte Bauern, aus Mailand zurückge kehrte Knechte und Söldner – vor allem aus Meilen, Horgen und Wädenswil – vor Zürichs Stadttore. Sie hatten genug von ihrer Oberschicht. Sie forderten, dass den «Franzosenfreunden» der Prozess ge macht werde. Hatte nicht Rudolf Rahn, der Zürcher Hauptmann, nach der Schlacht vierhundert Verwundete und Kranke aus Mailand gewiesen, derer sich dann («wurden al bi der haselstuden er stochen») der Feind annahm? Solcher Ei ter gehöre ausgerottet, meinte ein Horge ner, ansonsten «ein Eidgnoschaft müs se zergan». Bald stand das Landvolk auf dem Lindenhof und drohte zu plündern, «dan es stecket der uffrürisch geist in vilen puwren», schrieb Chronist Stumpf. Zor nig und hungrig überfielen sie die städ tischen Krämer, tranken deren Wein, as sen sich satt an den Lebkuchen der Vor weihnachtszeit. Der «Lebkuchenkrieg», wie man ihn nannte, war einer von vielen Bauernaufständen der Zeit. Zwei Jahre zuvor, im Könizer Aufstand, betranken sie sich während einer Kirchweihe und zogen dann vor Berns Stadttore, weil sie nach der Schlacht bei Novara Verräter un ter den Edelleuten vermuteten. In Zürich hatte sich in der Wendezeit vom 15. zum 16. Jahrhundert die Landbe völkerung innert fünfzig Jahren verdop pelt. Nun forderten sie ihre Rechte ein, die sie noch nicht so recht kannten. Doch hatten ihnen die Jahre vor Marignano DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 blutige Lücken wurden in ihre Reihen ge schossen, aber die Taktik, mit Schnellig keit und Gewalt als «Haufen» die Feinde zu überrennen, schien aufzugehen. Sie sandten schon Siegesboten nach Hause. Dann brach die Nacht herein. Eine Nacht zunächst «mit blůtfarbnem him mel», behauptet der Berner Chronist Anshelm zwanzig Jahre danach (dersel be rote Himmel wurde «an vil enden, ouch zů Bern, gesehen»). Nächte waren damals stockfinster, nirgends der ferne Schimmer einer Stadt. So verkeilt lagen die Heere in den dunklen Bachläufen, dass das Gemetzel auch die Nacht über nicht zur Ruhe kam. Da lagen sie «in grossem frost und hunger», hielten Freund für Feind, einmal erstachen sich nicht Ernteausfälle eingebrockt, die zu horrenden Preisstei gerungen führten? Ging in diesen Jahren nicht immer wieder die Pest um? Hatten sie nicht ihre Söhne in den Krieg geschickt (und sie vielleicht auch deswegen so zahlreich gezeugt), da mit sie ihren Sold heimbrachten? Wo blieb er nun, dieser Sold? Der Verdacht, das ganze Söldnerunwesen diene nur einer korrupten Oberschicht, wog schwer. Das Gerücht, es könnten sich einige vom französischen König haben kaufen lassen, trieb die Leute um. In den Zürcher Prozessen, die dem Lebku chenkrieg folgten, wurden einige Führer und Verräter von Marignano dem Volkszorn geopfert. Doch der Aufstand war nur geprobt. Ein neutrales Stillsitzen forderten auch die Bau ern nicht. Sie wollten Sold für ihre toten Kinder oder Lebku chen, wenn es denn nichts anderes gab. Eine Folge von Marignano war, dass in der Eidgenossen schaft vieles beim Alten blieb. Vielleicht wäre dieses sensible Gefüge zu einer Macht geworden, hätte es in Marignano ge wonnen und die Lombardei halten können. Vielleicht aber wäre die Eidgenossenschaft von inneren Spannungen, von ih ren verschiedenen «Eidgenossenschaften» zerrissen worden. Schiner, der den Staatenbund zur Grossmacht hatte formen wollen, starb 1522 an der Pest. Zwingli, der nach Marignano gegen das Söldnerwesen predigte, bald aber Zürich zu einer expansiven reformatorischen Kraft hätte werden lassen, wur de 1531 im Krieg gegen die katholischen Orte getötet. Kaum das grosse neutrale Heil, vielmehr der Ewige Frieden mit Frankreich war die wichtigste Konsequenz der Niederlage bei Marignano. Franz I. sicherte sich damit 1516 den Zugang zum eidgenössischen Söldnermarkt. Frankreich zahlte unge heuer gut, gewährte den Eidgenossen Handelsprivilegien, über liess ihnen das Gebiet des heutigen Kantons Tessin, ja war eine eigentliche Schutzmacht des dreizehnörtigen Bundes gewor den. An der Tagsatzung in Baden nahm nun jeweils ein franzö sischer Gesandter teil. Indem Frankreich den Orten die militä rische Ausbildung und das Heer finanzierte, blieben die Steuern tief. Kriege führten die Orte kaum mehr für sich, sondern für andere. Deshalb blieb die Zentralisierung des Staates aus. Das Söldnerwesen wurde weiter betrieben, insbesondere nach dem Frieden mit Frankreich erlebte es eine Hochkonjunktur. Später, Mitte des 16. Jahrhunderts, entstand in der Refor mation eine frühe patriotische Kritik am ausländischen Kriegsdienst. Hatte der alte Eidgenosse für Heim und Herd gekämpft, waren die jungen Schweizer der Sucht nach frem dem Sold verfallen. Was wollten sie sein, Patrioten oder Söld ner? Konnten sie noch zurück zu ihren Wurzeln? Aufseiten der Franzosen kämpften nun 1522 eidgenössi sche Truppen bei Bicocca im Norden Mailands, sieben Jahre nach Marignano. Vergebens kämpften sie, denn ihre gelieb ten Handwaffen waren den neusten Entwicklungen der Artil lerie endgültig unterlegen. «Das gschütz gieng wie der hagel – noch lüffend wir üch darin», heisst es trotzig in einem Spott lied des Berners Niklaus Manuel nach der Schlacht bei Bicocca. Die Schusswaffen erschienen ihnen feige, wieder, wie bei Mari gnano, versteckten sich die Gegner «wie die tachs und mur meltier». Kaum einer mochte sich mehr mit den Eidgenossen schlagen. Von nun an tötete man aus sicherer Distanz. T HOM A S Z AUG G ist Reporter bei «Das Magazin»; thomas.zaugg@me.com 24 Sehen wie man gut aussieht Cornelia Kaufholz geht mit der Mode Hand in Hand, oft ist <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2N7M0NQIAV7MMtQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWLoQ4CQQwFv6ib1_Z126WSnLsgCP4MQfP_igOHmGTEzL53DPy4brfHdm-FkuI5V1jb0rFmobqQo5LacKNB46LB1EjOv0XIsgCObyNwMR6ncIr7KTnez9cHZ0PmTnUAAAA=</wm> sie ihr sogar einen Schritt voraus. Die begeisterte Fashionista hat ihr Hobby zum Beruf gemacht – und verbindet ihre Modepassion mit einer anderen Faszination, dem guten Sehen. «Gutes Aussehen und gut Sehen ist nicht dasselbe, aber lässt sich wunderbar in Einklang bringen.» Die leidenschaftliche Augenoptikerin hat das Auge für Ihren perfekten Stil. Kochoptik liegt Ihre Sehkraft am Herzen, gutes Sehen bedeutet schliesslich pure Lebensfreude. Unsere ausgewiesenen Spezialisten setzen alles daran, dass Sie gut Sehen und gut aussehen. Kommen Sie zu uns und lassen Sie sich beraten. Wir freuen uns darauf. www.kochoptik.ch Gratisnummer 0800 33 33 10 DIE SCH ÄTZE VON FORT NOBS Jay Kay von Jamiroquai soll auf Nobs’ Telefonbeantworter die Nachricht «please adopt me!» hinterlassen haben. Nach seinem Montreux-Konzert 2003 schenkte er Nobs diesen Bühnenkopfschmuck. Die Schaltzentrale des Festivals: Nobs’ Arbeitsplatz im vierten Stock des Chalet Le Grillon. Der Produzent Quincy Jones, überwältigt von der Aussicht, tippte auf Gottes Arbeitsplatz. Die Stars des Musikbetriebs pilgerten zum Chalet von Claude Nobs. David Bowie hinterliess ihm seine Schuhe, Freddie Mercury seinen Kimono. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Von Frank Heer Bilder Lukas Wassmann Die Strecke von Montreux nach Caux ist steil und kurvig. Vermutlich gibt es keine andere Bergstrasse, die von so vielen Stars befahren wurde: B. B. King, Freddie Mercury, Etta James, Neil Young, Aretha Franklin, Miles Davis ... Die Liste ist endlos, denn alle kamen sie zu «Funky Claude», wie ihn die Rockband Deep Purple in ihrem Welthit «Smoke On The Water» nannte. Carlos Santana sagte: «Er war der Einzige im Musikgeschäft, den ich respektierte.» Steht man dann auf dem Balkon seiner Villa, an einem Hang, so steil, dass einem schwindelt, ahnt man, was der Musikproduzent Quincy Jones meinte, als er sagte, Gott müsse in diesem Haus leben. Dabei ist heute keiner dieser Tage, an denen sich der Himmel über schneebestäubten Gipfeln biegt. Nur selten reisst der Wind Löcher ins Gewölk. An Weihnachten 2012 stürzte der Hausherr beim Langlauf so schwer, dass er zwei Wochen später seinen Verletzungen erlag. Claude Nobs, Gründer des Montreux Jazz Festival, hinterliess eine Weltmarke und zwei sagenumwobene Chalets, die über einen Garten miteinander verbunden sind: Le Grillon, dessen vier Stockwerke er 2006 bezog. Und Le Picotin, ein uralter Stall, den Nobs vor 40 Jahren zum bewohnbaren Setzkasten umbaute: Zwischen Louis-XV-Polsterlandschaften aus Grandhotel-Auktionen stehen mehrere Konzertflügel und blinkende Jukeboxen, Art-déco-Lampen und Statuetten bronzener Jünglinge, futuristische Lautsprechertürme neben Vitrinen voller Modelleisenbahnen. Nobs’ Schreibtisch sieht aus, als hätte er ihn eben verlassen. Telefonapparate, Bildschirme, Fernbedienungen, Musik abspiel- und Faxgeräte. Willkommen in Fort Nobs, der Schaltzentrale des Montreux Jazz Festival. Hier war sein Erfinder mit der Welt verbunden, die er seit 1967 an den Genfersee lockte. Er habe die Stille nicht ertragen, sagt Thierry Amsallem über seinen Lebensgefährten, als wir auf dem Balkon stehen. Der Wind bläst ein Fenster in den Nebel. Wir sehen die Berge, den See und die Wolken: Smoke on the water! 27 Extravagantes Bühnenoutfit: Den legendären Kimono von Freddie Mercury trug Claude Nobs bei passender Gelegenheit. Seltener Anblick: Claude Nobs schläft! An der Schulter von Jazzlegende Quincy Jones. Überall Lautsprechertürme aus vier Jahrzehnten Hi-Fi-Technik. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Die Gibson-Gitarre von B. B. King. 28 Für jedes Abspielgerät eine eigene Fernbedienung. Leuchtende Schuhe – ein Geschenk von David Bowie. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Kiku und Kuki, die beiden wohlgenährten Berner Sennenhunde, die Nobs täglich spazieren führte. Sie sind heute in der Obhut seines früheren Assistenten und heutigen Chalet-Bewohners Simon Lepêtre. Aretha Franklin 1971 live in Montreux. Kürzlich wurde das 4000 Film- und Tonaufnahmen umfassende Archiv ins Memory of the World Register der Unesco aufgenommen. Aufbewahrt werden die Schätze in einem Betonbunker unter dem Chalet Le Picotin, digitalisiert an der Polytechnischen Hochschule in Lausanne. Dankeschön auf Plastik: «Dearest Claude, you have made my life! Sheryl Crow» (1997). Und: «Dear Claude, we haven’t aged a bit! We’ve only gotten better! Thanks for having me back. Love, Sheryl Crow» (2008). Im Reich der Küche: Hier verwöhnte der gelernte Koch Freunde wie Stars, darunter Keith Richards, David Bowie, Freddie Mercury. «Hausklassiker war ‹viande rassie› mit gedünsteten Eierschwämmen, dazu eine Flasche Château d’Yquem», erinnert sich Thierry Amsallem, Präsident der Claude Nobs Foundation und langjähriger Weggefährte des Gastgebers. Montreux Jazz Festival 2015: 3. bis 18. Juli. www.montreuxjazzfestival.com F R A N K H EER ist Redaktor bei «Annabelle»; frank.heer@annabelle.ch Der Fotograf LU K A S WA S SM A N N lebt in Zürich; www.lukaswassmann.com Mehr ist mehr. Besonders bei Zinsen. u Bis z 0V,o7rzu5gs% zins Sichern Sie sich jetzt bis zu 0,75% Vorzugszins. Mit dem umfassenden Bonviva Banking Paket. Jetzt abschliessen auf credit-suisse.com/bonviva CHR ISTIAN SEILER DIE GESCHMACKSVER MEIDUNGSFOR MEL Wir können uns auf unseren Reisen noch so sehr um vernünftige Planung bemühen, aber irgendwann landen wir in der Hotelbar und haben Hunger. Kennen Sie das Gefühl der aufsteigenden Panik, wenn Sie auf der aus dickem Hochglanzpapier gefalteten «Barkarte» nach den Seiten mit den Wodka- und denen mit den Champagnerdrinks auf einen Hinweis hoffen, dass hinter dem schwarzen Loch, in dem der Kellner regelmässig verschwindet, nicht nur ein Kühlschrank, sondern auch eine Küche sein möge und in der Küche ein Mensch, der ein paar Jahre seines Lebens darauf verwendet hat, Nahrungsmittel zuzubereiten? Dass uns dieser Mensch eventuell einen Teller Pasta kocht? Oder ein Stück Fleisch in die Pfanne haut und mit ein paar Blättern Salat garniert oder gar mit einem Klecks Kartoffelstock? Eine Suppe aufwärmt? Oder vielleicht nur ein Stück Schwarzbrot von einem voluminösen Laib säbelt und etwas Käse danebenlegt und ein paar Oliven? Die Enttäuschung folgt auf dem Fuss. Das höchste der Gefühle ist der obligatorische Weissbrottoast, dessen einzige Finesse darin besteht, dass er diagonal in zwei Hälften geschnitten und mit Industrieketchup serviert wird. Okay, dieser Toast ist immer noch besser als die verführerischen Schüsselchen voller Wasabi-Nüsse, die einen epidemischen Erfolgslauf rund um die Welt angetreten haben. Diese Erdnüsse, die von einem mit asiatischem Meerrettich gewürzten Teigmantel umgeben sind, verfügen über eine magische Wirkung. Obwohl ihr Geruch abstossend ist und ihre Farbe «Achtung, giftig!» schreit, kann man, sobald zum kleinen Bier auch das Schälchen mit den Wasabi-Nüssen auf die Bar gestellt wird, nicht widerstehen und nimmt eine Nuss, wirklich nur eine. Hat man aber diese eine gekostet, hängt man an der Angel, vor allem wenn man hungrig ist – man frisst die Nüsse wie ein Hund sein Trocken- futter und bestellt Bier, damit neue kommen. Gegen ein spätes Abendessen, das aus Bier und Nüssen besteht, ist aber selbst ein Happy Meal ein gesundes, ausgewogenes Essen, weil wenigstens frisches Gemüse dabei ist: Pommes frites. Verzeihen Sie mir den Sarkasmus. Aber ich musste erst zuletzt wieder zur Kenntnis nehmen, dass die Formel für den idealen Hotelimbiss auf die komplette Vermeidung von Geschmack zielt. Das gilt für den diagonal geschnittenen Spezialtoast genauso wie für den ebenso obligatorischen «Caesar Salad». Ich würde mit meiner Vermutung sogar so weit gehen, dass das trockene Weissbrot, zwischen dem eine rosafarbene und eine mattgelbe Schicht Kunststoff getoastet werden, aus demselben 3-D-Drucker stammt wie das angebliche Hühnerfilet, das auf den ebenfalls völlig geschmacklosen Salatblättern liegt. Ein Hauch von Salzigkeit, die Konsistenz einer monatelangen Dürrekatastrophe und, wenn das nicht genügt, die Höchststrafe in Gestalt des picksüssen Geschmackshammers namens Ketchup: So funktioniert die Verpflegung von Reisenden am letzten Wasserloch, an dem sie Zuflucht finden. Aber auch interessant: Warum finden sich auf der Barkarte mehr oder weniger dieselben Speisen, wie manche Restaurants sie auch einfühlsam für Kinder anbieten? Weil der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich heikle Kinder und Reisende aus aller Welt verständigen können, der ist, spezifischen Geschmäckern auszuweichen und sich stattdessen auf geschmacksneutralen Abfall zu konzentrieren. Etwas Salz, etwas Karton, viel Süsses, am besten alles auf einem Teller, ohne Besteck, nur mit den Fingern zu essen. Die Hotelbar, Freunde, ist die Heimat der kulinarischen Barbarei. Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K 34 DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 Warum das Essen an Hotelbars alles darf – bloss nicht schmecken. Das Magazin «Even» schlägt neue Seiten auf und macht vieles anders als die meisten Kunstzeitschriften. DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 — BI L D: E V EN M AG A Z I N E HANS ULR ICH OBR IST ANDRUCK Der Mai war ein ausgesprochener Kunstmonat: Eröffnung des Prada-Museums in Mailand, Eröffnung der Biennale von Venedig und zuletzt noch die Kunstmesse Frieze in New York. Trotz dieser erdrückenden Konkurrenz grosser Themen möchte ich mich einem vergleichsweise kleinen Thema widmen. Genauer: Es ist dem Format nach klein, nicht dem Inhalt nach, das grossartige neue Kunstmagazin mit dem lakonischen Namen «Even». Der spielt an auf eines der berühmtesten Werke Marcel Duchamps, eine Glasmalerei mit dem Titel «Junggesellenmaschine», auf der man eine Gruppe junger Menschen sieht, deren Liebe so stark ist, dass sie eine riesige Schokoladenmühle antreibt. Und so ist es auch mit dem Kunstmagazin: Die Liebe zur Kunst ist bei den Autorinnen und Autoren so stark, dass sie eine publizistische Maschine in Gang setzt, die nur die allervorzüglichsten Texte hervorbringt. Gegründet hat das Magazin der Journalist und Schriftsteller Jason Farago, Kolumnist des Londoner «Guardian» und Autor der prestigeträchtigen Zeitschrift «The New Yorker». Manches bei «Even» erinnert auch an dieses Magazin: das zurückgenommene Layout etwa oder die langen, brillant recherchierten und geschriebe- nen Texte. «Even» macht vieles anders als die meisten Kunstmagazine: Es setzt nicht auf schnelle Information, mit einer Flut kurzer Artikel und vor allem Ausstellungsbesprechungen, sondern konzentriert sich auf wenige Themen, die dann vertieft und für ein breites Publikum behandelt werden. In der ersten Nummer sind das die amerikanische Künstlerin Joan Jonas, die den US-Pavillon in Venedig bespielt, die Frage, wie sich Musik im Museum ausstellen lässt, und schliesslich ein enorm kluger Text der jungen Kritikerin Laura McLean-Ferris über die Rolle der virtuellen Bilderplattform Instagram für die zeitgenössische Kunst. Vor allem aber haben es mir die Interviews angetan, eines mit dem Belgier Luc Tuymans und eines mit der libanesischen Künstlerin Marwa Arsanios. In jedem Heft wird es zwei ausführliche Künstlerinterviews geben, eine Form der Gedankenkonservierung, die mich seit Jahren fasziniert. Inspiriert dazu wurde Farago von «The Paris Review», einer Literaturzeitschrift, die 1953 in Paris gegründet wurde und nun schon seit Längerem in New York herausgegeben wird – wie auch «Even», das ebenfalls viermal im Jahr erscheint. Ich kann die nächste Nummer kaum erwarten. evenmagazine.com H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London. 35 TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D 1 6 3 2 7 4 8 14 5 9 15 10 16 FR ENKEL DAS ER STKLASSABTEIL WAR SCHON ZIEMLICH VOLL 11 12 13 Auf Geschäftsspesen durfte ich letzte Woche erster Klasse nach Bern fahren. Ich bin noch nie in meinem Leben erster Klasse gefahren. Meine Grosseltern wären stolz auf mich. Leider konnten sie das nicht mehr erleben. Sie sind schon seit vielen Jahren tot. Am Tag der Abreise bin ich sehr früh aufgestanden. Weil ich schon am Vorabend die Kleider ausgewählt hatte, brauchte ich nicht lange, mich anzuziehen. Im Hauptbahnhof Zürich steuerte ich zum Kiosk und kaufte mir für die lange Reise ein Thonsandwich, zwei Kägi fret, drei Gipfeli, eine Banane, eine Limonade und Kaugummi. Dann klemmte ich mir noch eine «20 Minuten» unter den Arm und stieg in den Zug ein. Das Erstklassabteil war leider schon ziemlich voll. Nur noch ein Gangplatz war frei. Ich packte das viele 17 19 18 20 22 21 24 29 34 25 26 30 31 35 36 37 40 23 38 27 32 28 33 39 41 HAUSMANN MIT BESEN: Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend. Essen auf meinen Schoss und blickte schüchtern um mich. In dem Abteil sah ich keinen einzigen Ausländer. Erst bei Olten kam ein Dunkelhäutiger rein und brüllte «Kaffigiffeli?» Was mir auch auffiel: Ich war der Einzige ohne Computer! Die anderen guckten angestrengt auf ihre Rechner. Etwas zögerlich versuchte ich die Plastikverpackung vom Sandwich aufzumachen. Leider riss mir die Lasche ab. Mist, dachte ich. Ich kramte meinen Hausschlüssel hervor und drückte mit dem Eisenstück auf die Plastikverpackung. Ich musste sehr fest drücken, bis es einen Knall gab (wegen des Unterdrucks). Die Passagiere guckten mich genervt an. Schnell schob ich das Thonsandwich in meinen gefrässigen Mund. Möglich, dass ich dabei ein bisschen hörbar und unangenehm schmatzte. Ich bin ja Erste- Klasse-Neuling! Die Menschen guckten mich noch finsterer an. Denn jetzt roch es im ganzen Abteil nach diesem 3,95-Franken–Thonsandwich. Um die Sache zu beenden, verzichtete ich auf die Banane, die Schokoladeriegel und auf die bröseligen Gipfeli. Aber Durst auf die Limonade hatte ich. Ich öffnete den Flaschendeckel, und da machte es laut «zisch!». Jetzt stank alles nach Thon und Fanta. Ich entschuldigte mich bei den Passagieren. Schnell trank ich die Flasche leer und schämte mich. Was bin ich für ein Loser. Es gibt halt doch einen Klassenunterschied bei den Menschen. Auf dem Rückweg fuhr ich zweiter Klasse. BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich. HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / A nruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / A nruf vom Festnetz). WA AGRECHT (J + Y = I): 6 Sichtweise, die mal Privileg von Fink und Star war. 14 County, in dem Richard III. laut Barden zum Rosstausch bereit. 18 Was ein Archäologe zum andern sagt: gemahnt an Verschiedene. 19 Was an dieser Sonnenblume mundet, steckt im Grunde. 20 Wie Monsieur Bond seinen Martini mag. 22 Damit liierter Blaster beschallt das Viertel. 23 Ungebraucht, wo humo Rauch. 24 Kriegt, wer Café de Paris bestellt, serviert. 25 Sorgen in der Hochzeit für Umweltverträglichkeit. 27 Gedrehter Steinbrück ist ein Gedrehter. 29 Hiesige Kunst (mit Bindestrich)? Sorgt beim Daten salat, denglisch, für Übersicht! 30 Worauf Federer steht in der Zweitbedeutung. 32 Der, Abrahams Gottesfurcht wegen, schier ums Leben kam. 34 Mit Brand verbandelt: Anklage von oben herab. 35 Für Kohldampfschieber das Mahl im Gourmetlokal. 36 Folterkammermaid ists, substanziell. 37 Kommt gross heraus, wenn sie beim einstigen Herrn der Ringe Sepp ersetzt. 38 Tippt für VIP. 40 Tag in Caesars Kalender würde Frau im Habit, wenn geringfügig verändert. 41 Busen der Natur – hier mit Minderbemittelten endend. LÖSUNG RÄTSEL Nº 21: PASSKONTROLLE WAAGRECHT (J + Y = I): 7 RESTAURANTTESTER. 13 INTERNETBETRUEGER. 18 INSELWITZ. 19 ACHTERN. 20 GIULIA (ital. für Julia). 21 RENKE, Ränke. 22 ANNINA («La Traviata»). 23 OFENBANK. 25 DOODLE. 28 Julia SANER, Anagramm: Arsen. 29 WEINROT. 31 RHETT Butler («Vom Winde verweht»). 32 ALBERTA (nach Königin Victorias Tochter benannt). 34 OSAKA. 35 RIAD, Anagramm: Radi. 36 SPEER, Peer. 37 GUERTEL. 38 FOG (engl. für Nebel). 39 FRIEDFERTIG. 40 STUHL. SENKRECHT (J + Y = I): 1 PENSIONAER. 2 Charles DARWIN. 3 KATZENNARR. 4 STECKDOSE. 5 Dicke BERTA. 6 STERN (in Hamburg erscheinendes Magazin). 7 RINGKAMPF. 8 TELLER. 9 UNIA, von unten: Ainu. 10 RETRAITE (franz. für Pensionierung). 11 SUENDHAFT. 12 RENNSTALL. 14 TEUFELEI. 15 BANKROTT. 16 THEO (Theodor = Geschenk Gottes). 17 GNIETIG (übellaunig). 24 BERUF. 26 ORKUS. 27 Gaston LEROUX («Das Phantom der Oper»). 29 WEG. 30 TALG (Bibeli). 33 BREI. SENKRECHT (J + Y = I): 1 Sein Habitat liquidiert sich zunehmend. 2 Vereinssäckelmeisters liebstes Spiel. 3 35 Waagrechts opulente Verwandte. 4 Pumuckl in England ist auch Limobrand. 5 Immergrüne im bayrischen Stammgebiet. 6 Prozess – auf dem Weg von A nach B ein Ärgernis. 7 «Vokabeln» des nicht Sprachbegabten. 8 Ärmellose, die halbwegs fussballlegendär. 9 Kurzum: das Intervall im Kalender. 10 Nomadenfürst – wird nach einem Dreh zu Wasser gelassen. 11 So genannt spielt Tamerlan, der Mongole, auch in «Turandot» eine Rolle. 12 Ist, frischgebacken, meist triste – nicht so bei Léhar, wo sie joyeuse ist. 13 Als was sich SVP-Mitglied höchstens geografisch sieht. 15 Eilandsleute, die im Evergreen aufs Meer hinausziehen. 16 Süsses Häpp chen mit – igitt! – Abtritt. 17 Ist bei den «Kleinigkeiten» häufig als First-Dog gezeichnet. 21 Die Hennen hier haben viel von Wladimir. 25 Putzteufelszeug für den, der dem Schlichten verpflichtet. 26 Sowas wird, steht der Dritte am Schluss, russischer Fluss. 28 Anders sortiert wäre Chelubs Sohn Anrede für den Mann auf dem Thron. 31 Hat bei Pirelli ein eigenes Kalenderblatt. 32 Der Cotton: kein Thema fürs Feuilleton. 33 Lateinisches Vorwort in britischen Zeitangaben. 39 Auf den Punkt gebrachte Zahl, die noch kürzer 007-Vorgesetzte. «DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung», der «Berner Zeitung» und von «Der Bund». Ruf Lanz HERAUSGEBERIN Tamedia AG, Werdstrasse 21, 8004 Zürich Verleger: Pietro Supino Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) kämpft für tiergerechte Gesetze und ihren konsequenten Vollzug. Unterstützen auch Sie uns dabei mit Ihrer Spende: Postkonto 87-700700-7. Herzlichen Dank. 36 DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 WenN Tiere selber richten könNten, würde Tierquälerei härter bestraft werden. REDAKTION Das Magazin Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich Telefon 044 248 45 01 Telefax 044 248 44 87 E-Mail redaktion@dasmagazin.ch Chefredaktor: Finn Canonica Redaktion: Sacha Batthyany, Sven Behrisch, Daniel Binswanger, Anuschka Roshani, Bruno Ziauddin Artdirektion: Michael Bader Bildredaktion: Frauke Schnoor, Christiane Ludena / Studio Andreas Wellnitz Berater: Andreas Wellnitz (Bild) Abschlussredaktion: Isolde Durchholz Redaktionelle Mitarbeit: Denise Bucher, Anja Bühlmann, Miklós Gimes, Hannes Grassegger, Max Küng, Trudy Müller-Bosshard, Paula Scheidt, Christian Seiler, Thomas Zaugg Honorar: Claire Wolfer VERLAG Das Magazin Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich Telefon 044 248 41 11 Verlagsleiter: Walter Vontobel Lesermarkt: Bernt Maulaz (Leitung), Nicole Ehrat (Leitung Leserservice) Werbemarkt: Walter Vontobel (Leitung), Jean-Claude Plüss (Anzeigenleitung), Michel Mariani (Agenturen), Katia Toletti (Romandie), Esther Martin-Cavegn (Verkaufsförderung) Werbemarktdisposition: Jasmin Koolen (Leitung), Selina Iten Anzeigen: Tamedia AG, ANZEIGEN-Service, Das Magazin, Postfach, 8021 Zürich Telefon Deutschschweiz 044 248 41 31 Telefon Westschweiz 044 248 52 72 anzeigen@dasmagazin.ch www.mytamedia.ch Trägertitel: «Tages-Anzeiger», Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich, Tel. 044 404 64 64, abo@tagesanzeiger.ch; «Berner Zeitung», Tel. 0844 844 466, abo@bernerzeitung.ch; «Basler Zeitung», Tel. 061 639 13 13, abo@baz.ch; «Der Bund», Tel. 0844 385 144, abo@derbund.ch Nachbestellung: redaktion@dasmagazin.ch Ombudsmann der Tamedia AG: Ignaz Staub, Postfach 837, CH-6330 Cham 1 ombudsmann.tamedia@bluewin.ch Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen der Tamedia AG i.S.v. Art. 322 StGB: 20 Minuten AG, 20 minuti Ticino SA, Aktiengesellschaft des Winterthurer Stadtanzeigers, Berner Oberland Medien AG BOM, car4you Schweiz AG, CIL Centre d’Impression Lausanne SA, Distributions kompagniet ApS, Doodle AG, DZB Druckzentrum Bern AG, DZO Druck Oetwil a.S. AG, DZZ Druckzentrum Zürich AG, Edita S.A., Editions Le Régional SA, Espace Media AG, FashionFriends AG, homegate AG, JobCloud AG, Jobsuchmaschine AG, LC Lausanne-cités S.A., LS Distribution Suisse SA, MetroXpress Denmark A/S, Olmero AG, Schaer Thun AG, search.ch AG, Société de Publications Nouvelles SPN SA, Soundvenue A/S, Starticket AG, Swiss Classified Media AG, Tagblatt der Stadt Zürich AG, Tamedia Publications romandes SA, Trendsales ApS, tutti.ch AG, Verlag Finanz und Wirtschaft AG, Zürcher Oberland Medien AG, Zürcher Regionalzeitungen AG 37 Der Zürcher SVEN HAUSHER R, 37, verliebte sich in New York in Rei aus Tokio. Sie entschieden sich schnell für ein gemeinsames Leben – in Berlin. Aber damit war es noch nicht getan. Die Schlangen, die ich kannte, waren die vor Clubs. An denen war ich immer vorbeigelaufen. Bis Mitte zwanzig verdiente ich mein Geld mit dem Entwerfen von Partyflyern und als DJ. In Zürich stand ich immer auf der Gästeliste, musste nirgends anstehen. In der Berliner Ausländerbehörde war das anders. Die liegt in Moabit: ein Flachdachbau mit kahlen Wänden, alles ist festgeschraubt, sehr kühl. Da wartete ich jedes Mal stundenlang zwischen all den Frauen mit Kopftuch, schreienden Kindern, Familien aus Afrika. Ich war Schweizer, aber das half nichts. Ich wollte das Gleiche wie alle hier. Jedes Mal wurde ich weggeschickt, neue Unterlagen besorgen. Es schien mir aussichtslos. Angefangen hat alles mit Ferien im Sommer 2006: In New York lernte ich Rei kennen. Sie war aus Tokio. Und es war Liebe. Wir hatten drei Wochen zusammen in Manhattan, um eine gemeinsame Zukunft zu finden. Sassen vor dem Computer und suchten. Etwa in der Mitte der Luftlinie zwischen New York und Tokio liegt eine Stadt, die wir beide nie besucht hatten: Berlin. Sie wirkte traumhaft und bezahlbar. Ich klickte eine Dachwohnung am Kollwitzplatz an, rief an – schon hatten wir sie. Für 400 Euro, Untermiete, im coolen Prenzlauer Berg. Ich hab immer verdammt viel Glück gehabt in meinem Leben, und es sah aus, als ob es so weitergehen würde. In Zürich löste ich alles auf, meine Firma, mein Büro, es ging alles so schnell, ich weiss nicht mehr, ob ich eine Abschiedsparty gab. Drei Wochen nachdem ich aus New York zurückgekehrt war, sass ich bereits im Zug nach Berlin. Und Rei im Flugzeug. Wir kamen am selben Tag an. Dann der Schock: Wir waren allein, jeder von uns hatte genau einen einzigen Freund in der Stadt. Und cool war es in Prenzlauer Berg längst nicht mehr. Kinderwagen überall. Einen Monat später war es auch bei uns so weit. Ich rief meine Mama an: «Kennst du schon meine Freundin Rei? Sie ist schwanger.» Wir hatten nicht mal Möbel. Ich schlug mich mit Jobs aus Zürich durch, Rei mit Erspartem. Wir brauchten dringend eine eigene Wohnung, Geld, und was war mit einer Krippe? In Deutschland gibt es super Kindergartenplätze und sogar Kindergeld. Aber nur mit gesichertem Aufenthaltsstatus. Und wir waren Ausländer. So begannen meine Besuche in Moabit. Zuerst wollten sie dort wissen, dass ich mein Leben selbst finanzieren konnte. Damals betrieb ich noch nicht «Cee Cee», den meistgelesenen Newsletter Berlins, arbeitete in einem Fashion-Outlet namens Cash. Für fünf Euro die Stunde. Das reichte dem Amt nicht. Ich kannte einen, der kannte einen mit einer Grafikagentur. Schüchtern fragte ich, ob sie mir eine Arbeitsbestätigung ausstellen könnten. Zum Glück waren sie so nett, doch auch das reichte nicht. Monatelang ging das so. Inzwischen war es Winter geworden und eiskalt. Rei und ich heirateten. Eines Tages war mein Sachbearbeiter krank. Beim Eintreten in sein Büro sah ich einen Vertreter. Ich witterte meine Chance – und behauptete, ich sei zur Abholung meiner Aufenthaltserlaubnis da. Der Beamte hatte keine Ahnung. Er zog meine Akte aus der Schublade, sah kurz drauf, stempelte – das wars. Als unser Baby kam, erhielten wir zehn Monate lang Kindergeld, 1200 Euro im Monat. Und ich hatte bis dahin noch nicht einmal Steuern in Deutschland gezahlt. Protokoll H A N N E S GR A S SEG GER ; Bild M A X I M E BA L L E S T ERO S 38 GELESEN Ständig auf der Suche nach Schnäppchen und Stil Hippe Label – unfaire Produktion DA S M AGA Z I N 2 2/201 5 DR EI WOCHEN IM LEBEN Zwei Beiträge aus dem Tages-Anzeiger. Gedruckt, online, als App und in unserer Vielfalt an Blogs.