Sven Aretz - Heinz-Kühn

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Sven Aretz - Heinz-Kühn
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben.
Heinz-Kühn-Stiftung 22. Jahrbuch
Grußwort zum 22. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung
Seit mehr als 25 Jahren ist es eine gute Tradition, dass junge Journalistinnen
und Journalisten, die mit einem Heinz-Kühn-Stipendium in der Welt unterwegs waren, ihre Erfahrungen und Erlebnisse im Jahrbuch unserer Stiftung
veröffentlichen. Das ist eine gute Schule für Journalisten. Wir brauchen in
Deutschland Journalisten mit einem breiten Horizont. Wer einmal weg war,
der sieht auch unser Land durch eine andere Brille. Gleichzeitig berichten
unsere ausländischen Stipendiatinnen und Stipendiaten über ihre Eindrücke, die sie während ihres Aufenthaltes bei uns in Nordrhein-Westfalen gewonnen haben.
Ich freue mich, dass ich Ihnen heute das 22. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung vorstellen kann. Es ist wie immer ein buntes und spannendes Kompendium, das von vielen Teilen unserer Welt berichtet, die in der täglichen medialen Berichterstattung oft nur selten oder gar nicht vorkommen. Von kleinen
Ländern wie Malawi oder Costa Rica hört man hier selten, und wenn wir
in den Medien etwas hören, sehen oder lesen über Sierra Leone oder Liberia, dann merken wir oftmals selber, wie wenig wir über diese Länder wirklich wissen. Deshalb ist es so wichtig, dass junge Journalistinnen und Journalisten mit einem Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung vor Ort ohne den
sonst üblichen redaktionellen Zeitdruck gründlich und unabhängig recherchieren können. Gerade für junge Journalisten, die noch am Anfang ihrer
beruflichen Karriere stehen, ist eine solche Möglichkeit eine ganz besondere
Chance. Wie gut unsere diesjährigen Kandidatinnen und Kandidaten diese
seltene Freiheit genutzt und die Herausforderung bewältigt haben, das zeigen die spannenden Geschichten des diesjährigen Jahrbuches, die uns mitnehmen auf eine Reise und die uns manchmal nachdenklich zurücklassen.
Ich danke herzlich allen Autorinnen und Autoren für ihre Sorgfalt und Mühe,
die sie sich mit ihren Geschichten gegeben haben und wünsche allen Leserinnen und Lesern anregende Stunden mit einer spannenden Lektüre über
nahe und ferne Orte unserer Einen Welt.
Jürgen Rüttgers
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
Vorsitzender des Kuratoriums der Heinz-Kühn-Stiftung
Inhaltsübersicht
Sven Aretz aus Deutschland
Malawi, vom 26. Mai bis 22. August 2007
11
Mathias Bölinger aus Deutschland
China, vom 19. August bis 1. Oktober 2007
49
Esther Broders aus Deutschland
Laos, vom 5. November bis 16. Dezember 2007
79
Stefanie Duckstein aus Deutschland
Liberia, vom 7. Februar bis 20. März 2008
137
Katrin Gänsler aus Deutschland
Nigeria, vom 1. Januar bis 27. März 2008
165
Alexander Göbel aus Deutschland
Sierra Leone, vom 6. Januar bis 16. Februar 2008
209
Andreas Große Halbuer aus Deutschland
Indien, vom 22. Oktober bis 30. November 2007
261
Anastasiya Khonyakina aus der Ukraine
Nordrhein-Westfalen, vom 1. September bis 30. Dezember 2007
305
Nadia Leihs aus Deutschland
Jordanien, vom 1. Januar bis 31. März 2008
319
Iryna Rosowyk aus der Ukraine
Nordrhein-Westfalen, vom 1. September bis 30. Dezember 2007
357
Uwe Schmidt aus Deutschland
Äthiopien, vom 6. Dezember 2007 bis 28. Januar 2008
371
Petra Tabeling aus Deutschland
Indonesien, vom 2. Dezember 2007 bis 08. Januar 2008
405
Cristiane Teixeira aus Brasilien
Nordrhein-Westfalen, vom 1. Juli bis 30. Dezember 2007
435
7
Jana Tošic aus Deutschland
Ägypten, vom 10. Oktober 2007 bis 05. Januar 2008‚
457
Christiane Wolters aus Deutschland
Costa Rica, vom 28. Januar bis 20. März 2008
495
Ameyo Yevoo aus Togo
Nordrhein-Westfalen, vom 1. August bis 30. November 2007
525
Itzel Zúniga aus Mexiko
Nordrhein-Westfalen, vom 1. August bis 30. November 2007
539
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Sven Aretz
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Malawi
vom 26. Mai bis 22. August 2007
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Malawi
Sven Aretz
„Bildung für alle“ – gibt es noch längst nicht für jeden.
Die Entwicklung des Grundschulsektors in Malawi
nach Abschaffung der Schulgebühren 1994
Von Sven Aretz
Malawi, vom 26. Mai bis 22. August 2007
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Inhalt
1. Zur Person
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2. Eine Reform mit Sprengkraft – das Ziel: „Bildung für alle“
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3. Doppelt so viele Schüler wie vor der Reform –
aber etliche brechen ab
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4. Die Qualität soll endlich besser werden.
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5. Der Kampf gegen Aids – Engagement vor allem an der Basis
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6. Infrastruktur: Wer lernt schon gern ohne Bücher in einer Ruine?
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7. Personalmangel im Ministerium und die Dezentralisierung des
Grundschulbereiches
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8. Die Reform von 1994 – wirtschaftlich falsch aber politisch richtig
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1. Zur Person
Innerhalb von Sekunden bin ich umringt und es gibt kein Entkommen.
Die Kinder auf dem Pausenhof und Sportplatz haben mich sofort entdeckt,
als ich nach dem Besuch ihrer Schule mit meiner Kamera zum Wagen zurückgehe. „Boss, give me a picture!“, rufen einige: Mach ein Foto von mir!
Und alle winken und strahlen übers ganze Gesicht, als ich die Kamera hebe
und den Auslöser betätige. Einige halten stolz ihre Schulhefte empor. Als
ich schließlich abfahre, laufen etliche Kinder noch ein Stück winkend hinter
mir her. Auch das gehört zu Malawi – nicht nur Armut und Probleme oder
wilde Tiere und Safaris.
Mein Bild von Afrika ist natürlich längst nicht vollständig. Immerhin ist
dieser Kontinent um etliches größer als Europa und natürlich weitaus vielfältiger als sein Bild in der Öffentlichkeit. Aber ich konnte einige interessante Einblicke gewinnen – zum ersten Mal bereits im Jahr 2000, als ich ein
knapp dreimonatiges Praktikum bei der Allgemeinen Zeitung in Namibia
absolvierte. Zuvor hatte ich mein Studium der Geschichte und Deutschen
Literatur in Köln beendet. Nach dem Praktikum in Namibia volontierte ich
bei einer Lokal-Zeitung, arbeitete dann in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eines Führungskräfteverbandes und schließlich bei einem Wirtschaftsfachverlag. Doch Afrika hat mich seit Namibia nie wieder losgelassen. „Es
ist wie ein Fieber“, hatte die Redaktionssekretärin der Allgemeinen Zeitung einmal zu mir gesagt. „Wer einmal hier war, kommt immer wieder.“
Und ich wollte unbedingt weitere Eindrücke sammeln und darüber berichten. Mit Unterstützung der Heinz-Kühn-Stiftung konnte ich nun tatsächlich
zu einem zweiten – und hoffentlich nicht letzten – Besuch nach Afrika reisen, nach Malawi, um über die Entwicklung des Grundschulbereiches zu
recherchieren.
2. Eine Reform mit Sprengkraft – das Ziel: „Bildung für alle“
Ein Klassenraum in Malawi – ohne Stühle, ohne Tische: Auf dem nackten
Fußboden sitzt der zwölfjährige Mavudo Andwatch Schulter an Schulter inmitten seiner über hundert Mitschüler. Alle schauen konzentriert nach vorne
auf die Tafel und lesen im Chor auf Englisch, was Lehrerin Rennie Masauli mit einem Zeigestock vorgibt: „Vor langer Zeit arbeitete ein Hund für die
Menschen. Er bewachte nachts ihre Ziegen. In einer kalten Nacht schlief der
Hund in der Küche – da kam eine Hyäne.“ Wie alle Jungen und Mädchen in
der Klasse trägt Mavudo das schwarze krause Haar kurz geschnitten. Er hat
das grüne Hemd der Schuluniform und kurze Hosen an. Zu Mavudos Rech-
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ten fehlt ein Teil der Wand aus roten Lehmziegeln, hier tragen eiserne Stützpfosten das Wellblechdach des eingeschossigen Klassenraums. Die Schüler
lesen weiter: „Die Hyäne tötete alle Ziegen. Als der Hund aufwachte, bekam
er Angst.“
Rennie Masauli bringt einer dritten Klasse Englisch bei. Die Schüler besuchen die Chembera-Grundschule im Dorf Mbera, Balaka-Distrikt, ungefähr 200 Kilometer südöstlich von Malawis Hauptstadt Lilongwe, auf halbem Weg zum Wirtschaftszentrum Blantyre gelegen. Es ist eine ländliche
Gegend: Die meisten Dorfbewohner sind Bauern. Sie pflanzen vor allem
Gemüse, wie Mais oder Tomaten, für den Eigenbedarf an. Nicht immer
reicht die Ernte. Das überwiegend landwirtschaftlich geprägte Malawi wurde in den vergangenen Jahren wiederholt von Lebensmittelknappheit oder
sogar Hungersnot geplagt. Kein Tourist verirrt sich in diese Gegend, denn
die Chembera-Grundschule und die sie umgebenden Dörfer liegen abseits
der geteerten Hauptverbindungsstraße. Nur eine Lehm-Piste führt hierher.
Ohne genügend Schulbücher muss Lehrerin Masauli improvisieren, deshalb hat sie den Text an die Tafel geschrieben: „Der Hund nahm den Schwanz
zwischen die Beine und floh. Zunächst wussten die Leute nicht, warum der
Hund fortgelaufen war, doch dann sahen sie das Blut.“ Nach der Leseübung
gehen die Kinder nach draußen und setzen sich unter dem blauen Himmel
vor dem Schulgebäude in Gruppen zu fünft auf den Boden. Jeder Gruppe
gibt die Lehrerin einige kleine quadratische Zettel, auf die sie je einen Buchstaben geschrieben hat. „Jetzt setzt diese Buchstaben so zusammen, dass sie
Wörter ergeben, die in dem Text vorkamen, den ihr gerade gelesen habt!“
Die Kinder spielen Scrabble.
Für solche Gruppenarbeit haben Mavudo Andwatch und seine Mitschüler
im Klassenraum nicht genügend Platz, deshalb gehen sie vor die Tür. „Uns
fehlen aber auch etwa zehn ausgebildete Lehrer“, stellt Schulleiter Sydney
Masauli fest. Während in Nordrhein-Westfalens Grundschulen statistisch
nur etwa 23 Schüler auf einen Lehrer kommen, sind es an der ChemberaSchule 117 Schüler pro Lehrer: Die insgesamt 1.170 Kinder an dieser Schule lernen in den Klassen 1 bis 8 bei derzeit nur zehn qualifizierten Lehrern
– unterstützt von drei Freiwilligen ohne Ausbildung. „Möglicherweise können wir 2008 weitere Kollegen bekommen“, sagt Schulleiter Masauli. „Aber
wenn es zwei sind, können wir uns schon glücklich schätzen.“ In den Schulstunden hocken nicht nur die Schüler von Lehrerin Rennie Masauli auf dem
Fußboden: Nur in zwei der acht Klassenräume können die Kinder auf Stühlen an Pulten sitzen. „Seit drei Jahren kämpfen wir darum, mehr Möbel zu
bekommen“, klagt der Schulleiter, „doch vergebens.“
Fehlende Schulgebäude, zu kleine Räume, zu viele Schüler und nicht genügend ausgebildete Lehrer sowie fehlende Schulbücher und Unterrichts-
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materialien – damit kämpft nicht nur die Chembera-Schule. Der gesamte
Primarbereich in Malawi leidet unter den Folgen der Reform von 1994, mit
der die Schulgebühren abgeschafft wurden. Mehr Kinder als bisher sollten an den Grundschulen lernen können. Das war das Ziel der Regierung
des damaligen Präsidenten, Dr. Bakili Muluzi, die kurz zuvor aus der ersten Mehrparteienwahl hervorgegangen war. Gerade Kinder armer Familien
sollten so die Chance auf eine bessere Zukunft bekommen. Vielen Eltern
wurde damit eine große finanzielle Last von den Schultern genommen.
Denn in Malawi, einem der ärmsten Länder der Welt, lebt über die Hälfte der Bevölkerung von täglich weniger als 1 US-Dollar pro Kopf, umgerechnet rund 140 Malawi Kwacha. Dabei kostet schon eine einzige Mahlzeit im Restaurant zwischen 350 und 1.500 Kwacha. Doch niemand – auch
nicht die Regierung – ahnte damals, was noch auf die Schulen zukommen
sollte.
Nach Abschaffung der Gebühren wuchs die Infrastruktur nicht mit den
explosionsartig gestiegenen Schülerzahlen mit: Statt wie vor der Reform
rund 1,8 Millionen, kamen 1994/95 auf einmal rund 3,2 Million Kinder in
die Grundschulen Malawis. Das Wachstum betraf vor allem die ersten Klassen, diese besuchten statt etwa 500.000 auf einmal über eine Millionen Kinder – mehr als doppelt so viele, ohne dass es einen Lehrer, ein Schulbuch
oder einen Klassenraum mehr gegeben hätte. Die Verantwortlichen versuchten deshalb 1994/95 zunächst, zu retten, was zu retten war: In einer Notmaßnahme stellte die Regierung rund 22.000 Lehrer ein, die nur einen zweiwöchigen Orientierungskurs durchliefen und dann an die Schulen geschickt
wurden. Die Folge: Die Qualität des Unterrichtes sank drastisch.
„Regierung und Stakeholder waren von diesem Ansturm völlig überrascht und überwältigt“, sagt Zikani Kaunda, Direktor des Creative Centre
for Community Mobilisation (Creccom), einer malawischen Hilfsorganisation in Zomba, die Gemeinden und deren Schulen bei ihrer Entwicklung unterstützt. „Diese Reform 1994 war überhaupt nicht richtig vorbereitet. Niemand hatte zu den Folgen vorher jemals eine Studie durchgeführt.“
Trotz dieser Schwierigkeiten soll es bald die Grundschulbildung für alle
geben. Dies versprach die Regierung Muluzi im Jahr 2000: Bis 2015 soll das
Grundschulsystem Malawis so entwickelt sein, dass alle Kinder im schulfähigen Alter – Jungen und Mädchen – eine Schulbildung erhalten können.
2001 entwarf die Regierung einen Plan, wie sie dieses Ziel erreichen wollte:
Der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten für alle Malawier sollte verbessert,
bestehende Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen und Regionen abgebaut und die Qualität der Bildung gesteigert werden. Die Qualität des Managements sollte im Rahmen der eingeführten Dezentralisierung und stärkeren Autonomie der Schulen verbessert werden. Und schließlich wollte die
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Regierung auch die Finanzierung sichern. 2007 ist für Malawi Halbzeit auf
dem Weg, bis 2015 die universelle Grundschulbildung einzuführen – wie
sieht die Zwischenbilanz aus? Wird das Land sein Ziel erreichen?
3. Doppelt so viele Schüler wie vor der Reform – aber etliche brechen ab
Die dreizehnjährige Evelesi Elisa macht sich bei Sonnenaufgang auf den
Weg. Sie geht aber nicht in die Schule, sondern mit einem Eimer zur Wasserstelle ihres Dorfes Bungwe im Lilongwe Distrikt. Als sie sich für den
Rückweg den vollen Behälter auf den Kopf hebt, schwappt Wasser auf ihr
weißes knielanges Kleid. Nur mit einer Hand stützt sie das Gefäß ab und
balanciert es nach Hause. Sie bringt das Wasser in die mit Schilf gedeckte Lehmziegelhütte ihrer Großmutter. Dann sucht das Mädchen im nahen
Busch außerhalb des Dorfes Feuerholz zusammen. Zurück in der Hütte entzündet sie das Kochfeuer und bereitet das Frühstück zu. Immer wieder muss
sie den zähen weißen Maisbrei im Topf auf dem Feuer umrühren, damit er
nicht anbrennt – Nsima heißt er in Malawi.
Evelesi Elisa ist keine Waise, ihre Eltern wohnen mit ihren fünf Geschwistern in der Nähe. Die Eltern sind Tabakfarmer. Sie wollen, dass die Tochter
bei ihrer Großmutter lebt und ihr hilft. So muss Evelesi nicht nur das Frühstück für ihre Oma zubereiten, sondern auch mittags und abends kochen.
Außerdem hilft sie im Garten: Unkraut jäten, die Erde umgraben und immer
wieder Feuerholz und Wasser holen. Altersheime oder Pflegedienste gibt es
in Malawi nicht. Für die Schule bleibt da nur selten Zeit. Dabei lernt Evelesi
gerne, vor allem Chichewa, die einheimische Verkehrssprache, und Mathematik. Sie hofft, eines Tages Lehrerin werden zu können.
Schule – ja oder nein: die Entscheidung der Eltern
Die allgemeine Schulpflicht hat Malawi zwar noch nicht eingeführt, doch
im Alter von sechs Jahren sollen die Kinder eigentlich eingeschult werden.
Aber viele Eltern wissen nicht, wie alt ihre Kinder sind, und können sie
nicht zum richtigen Zeitpunkt einschulen. Malawi hat keine Einwohnerregistrierung und die meisten Kinder erhalten keine Geburtsurkunde. Deshalb
akzeptieren die Grundschulen sogar Jugendliche bis 16 Jahre noch als IDötzchen. Dennoch sei die Netto-Anmelderate von 82 Prozent in 2004 auf
73 Prozent in 2006 gesunken, meldet die Regierung. Zikani Kaunda von
Creccom ist sicher: „Das Ziel, bis 2015 rund 95 Prozent aller Kinder im
Schulalter auch tatsächlich unterrichten zu lassen, ist noch lange nicht erreicht.“ Schließlich bleibt es den Eltern überlassen, ob sie ihre Kinder zur
Schule schicken.
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Und wenn die darüber entscheiden, spielt noch immer das Geld eine wichtige Rolle. Denn auch wenn die Schulgebühren abgeschafft wurden, bleiben
die Kosten für Schulhefte, Stifte oder geeignete Kleidung nicht nur für Evelesis Familie eine schwere Bürde. Außerdem sind die Kinder ja wertvolle
Arbeitskräfte im Haushalt und in der Landwirtschaft.
Dabei benachteiligt die traditionelle Rollen- und Arbeitsverteilung in den
Familien tendenziell die Mädchen, das fanden Wissenschaftler der University of Malawi bereits im Jahr 2000 heraus. Im Auftrag von Unicef untersuchten sie die Bedingungen im Klassenraum, in der Schule und zu Hause, die
die Schulbildung, insbesondere von Mädchen, negativ beeinflussen. Das Ergebnis: Mehr Mädchen als Jungen arbeiten im Haushalt, kochen, waschen,
putzen, holen Feuerholz und Wasser. Jungen arbeiten dagegen mehr auf dem
Feld, hüten das Vieh oder fangen Fische – sie verrichten traditionelle Männerarbeit, die besser angesehen ist als Frauenarbeit. Oder sie haben frei und
spielen.
Dieses Rollenverständnis gilt auch, wenn Eltern entscheiden, welche Kinder zur Schule gehen dürfen: Über die Hälfte der befragten Eltern dachte,
dass Jungen intelligenter seien und ihr Schulbesuch der Familie mehr Vorteile biete. Die Mehrheit unterstützt eher ihre Söhne als die Töchter. Eine
große Rolle spielt auch die Bildung der Eltern: Sie ermutigen und unterstützen ihre Kinder vor allem dann zum Lernen, wenn sie selbst die Schule besucht haben. Andernfalls bleibt es Aufgabe der Lehrer, die Eltern ohne Bildung vom Nutzen der Schule zu überzeugen.
In Malawi hat sich eine Schere geöffnet: Jungen, Schüler aus besserem
sozialem Umfeld und aus der Stadt haben größere Chancen, gut lesen und
rechnen zu lernen, als Mädchen, Kinder aus schlechterem sozialem Umfeld oder vom Land. Das sind die Ergebnisse der Sacmeq-Studie (Southern
and Eastern Africa Consortium for Monitoring Educational Quality) zu den
Bedingungen an den Schulen und der Qualität der Bildung in der sechsten
Klasse. Dieses Ungleichgewicht bestätigt die Statistik des Bildungsministeriums: Die Abschlussprüfung bestanden 2005 in den Städten rund 83 Prozent der Schüler, auf dem Land nur zirka 65 Prozent.
Gerade auf dem Land finden nur wenige Kinder zu Hause ein geeignetes
Lernumfeld vor: Hefte und Stifte haben die meisten, von den Eltern selbst
gekauft oder von der Schule zur Verfügung gestellt. Bücher oder Zeitungen
hingegen lesen weniger als die Hälfte der Familien. Elektrisches Licht haben die meisten Familien nicht. Oft finden die Kinder nicht genügend Platz
und Ruhe zum lernen, denn sie schlafen in einem Raum mit den Eltern, Geschwistern oder Großeltern. Jugendliche führen häufig schon ihren eigenen
Haushalt und schlafen in separaten Hütten. Die Eltern kontrollieren dann
kaum noch, ob sie für die Schule lernen.
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Malawi
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Viele Schüler müssen mindestens ein Jahr wiederholen, weil ihre Eltern
und Lehrer sie nicht unterstützen und zum Lernen anhalten – 2006 waren es
im Durchschnitt 18 Prozent. Sie brauchen länger als die vorgesehenen acht
Jahre, nach Schätzung der Experten im Durchschnitt 14 Jahre. Deshalb gehen fast 600.000 Kinder mehr zu Schule, als die rund 2,7 Millionen Kinder
im Alter von sechs bis dreizehn Jahren. Große Klassen, schlecht ausgebildete Lehrer, zu wenig Lehr- und Lernmaterial und mangelnde Ernährung
sind weitere Gründe, warum Schüler „sitzen bleiben“ oder die Schule sogar
ganz verlassen.
Zu arm zum Lernen – warum Kinder die Schule abbrechen
Tikhale James hat die Armut ihrer Familie aus der Schule vertrieben.
Tikhale ist acht oder neun Jahre alt, genau weiß sie es selbst nicht. Jeden
Morgen beginnt der Überlebenskampf aufs Neue in der kleinen, mit Schilf
gedeckten Lehmziegelhütte der Familie James. Wenn Mutter Geneloza und
ihre Kinder aufstehen, ist es dunkel, obwohl draußen bereits die Sonne aufgeht – die Hütte hat keine Fenster. Die Familie besitzt weder Tisch und
Stühle noch Betten: Geneloza, Tikhale und ihre drei jüngeren Geschwister
schlafen auf dünnen Laken auf dem festgestampften Lehmboden – sogar
im Winter, wenn die Temperaturen nachts bis in den einstelligen Bereich
sinken können. In den Nebenraum fällt etwas Licht, wenn die Haustür aus
zusammengebundenem Schilf offen steht. Hier ist auch die Kochecke. Der
Rauch des Kochfeuers hat die nackte, graue Wand schwarz gefärbt. Neben der offenen Feuerstelle liegt ein Haufen abgenagter Maiskolben. Auf
dem Boden steht eine mit einem Teller zugedeckte Schüssel, darin bewahrt
die Mutter einen letzten Rest Nsima auf – Maisbrei. Das ist alles, was die
Familie noch zu essen hat. Jeden Tag zieht Tikhale dasselbe schmutzige,
braune Kleid an. Längst ist es abgetragen und zerschlissen, aber sie hat nur
dieses eine.
Dambo, das Dorf im Dowa-Distrikt, in dem die Familie lebt, ist eine kleine Ansammlung von grauen und braunen mit Schilf gedeckten Lehmziegelhütten irgendwo im Busch. Von der Hauptstadt Lilongwe ist das Dorf
nur eine halbstündige Autofahrt entfernt – zum Teil über Lehmpisten mit
tiefen Schlaglöchern. Doch die Menschen leben hier wie in einer anderen
Welt. Die meisten Bewohner tragen schmutzige, gebrauchte Kleidung. Es
gibt keine Elektrizität, keine befestigten Straßen und kein fließendes Wasser in den Hütten.
Tikhale traut sich nicht mehr in die Grundschule – die anderen Kinder
hänseln sie wegen ihrer Kleidung. Aus Scham hat sie nach der zweiten Klasse die Schule verlassen. Ihre Mutter Geneloza kann ihr kein neues Kleid
kaufen, sie ist zu arm.
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Malawi
Ihr Ehemann ist Kleinfarmer, der Ertrag reicht gerade für die Familie zum
Leben. Doch er sei auch Alkoholiker, erzählt die Mutter, und habe für seine Sucht die gesamte Maisernte verkauft. Sie und die vier Kinder müssen
nun selbst sehen, woher sie etwas zu essen bekommen. Doch trotz der schier
ausweglosen Lage, trotz der Armut, verlässt Geneloza ihren trinkenden Ehemann nicht – aus Angst vor der Schande einer gescheiterten Ehe. Dabei
hatte sie bis vor kurzem auch für Tikhales kleineren Bruder Dikilani nichts
zum Anziehen: Er trug nur ein zerschlissenes T-Shirt, das riesige Loch vorne lässt Brust und Bauch unbedeckt. Hosen hatte er keine. Dann bekam Dikilani eine gebrauchte Jeans geschenkt. Jetzt geht er zur Schule, in die erste
Klasse.
Armut ist einer der häufigsten Gründe, warum Kinder in Malawi überhaupt nicht oder zu spät zur Schule gehen oder sie vorzeitig wieder verlassen. „Weniger als 30 Prozent der Kinder schließen die Grundschule ab“,
beklagt Limbani Nsapato, Koordinator der Civil Society Coalition for the
Quality of Basic Education (CSCQBE) in der Presse anlässlich des Nationalen Tages der Bildung am 19. Juli 2007. Die CSCQBE, ein Zusammenschluss von malawischen Nichtregierungsorganisationen, hat es sich zur
Aufgabe gemacht, die Bildungspolitik der Regierung zu beobachten und
auf Verbesserungen zu drängen. Weil viele Familien in Malawi arm sind,
beeinflussen auch die Ernteergebnisse die Schulkarrieren stark, vor allem
die der Mädchen. Die Hungersnot in Malawi im Jahr 2005 zwang viele, die
Schule abzubrechen. Generell brechen überdurchschnittlich mehr Mädchen
als Jungen die Schule ab, gerade in den späteren Schuljahren ab Klasse 4 bis
6. Die Statistik des Bildungsministeriums offenbart: Der Weg zur Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen ist noch lang.
Neben Armut ist Desinteresse – oder vielmehr die mangelnde Qualität des
Unterrichts – schon seit 1995 ein wichtiges Motiv für den Schulabbruch:
Nach der Abschaffung der Schulgebühren sei das Interesse an der Schule
zunächst stark gestiegen, erklärt Creccom-Direktor Zikani Kaunda. Doch
wegen des schlechten Unterrichts hätten sich viele Kinder gelangweilt und
seien dann zu Hause geblieben. Die 1994/95 von der Regierung rekrutierten
22.000 neuen Lehrer, die nur zwei Wochen lang ausgebildet wurden, „wussten nicht, wie man lehrt und kannten weder das Curriculum noch die Inhalte der einzelnen Fächer. Ich glaube, viele Kinder waren sehr enttäuscht über
den Unterricht“, sagt Kaunda. „Und die Politik war kompromittiert.“
Ein weiterer Grund für den Schulabbruch ist laut Bildungsstatistik 2006
Arbeit. Denn manche Kinder brechen die Schule auch ab, um etwas zum Familienunterhalt dazuzuverdienen – meist in der Landwirtschaft. Das ist illegal, wenn die Kinder nicht mehr nur ihrer Familie helfen, sondern ein externer Arbeitgeber sie gegen Lohn beschäftigt und sie deshalb nicht zur Schule
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gehen. Lehrer im Dedza-Distrikt, rund 90 Kilometer südöstlich von Lilongwe, erhalten mittlerweile Unterstützung von lokalen Komitees gegen Kinderarbeit, in denen sich Dorfbewohner und traditionelle Häuptlinge zusammengeschlossen haben. Der Gedanke dahinter ist, dass ein Lehrer alleine
einen Arbeitgeber, der illegal Kinder beschäftigt, nicht effektiv ansprechen
kann. Er braucht Unterstützung. Wenn nun die Mitglieder eines Kinderschutz-Komitees diesen Lehrer begleiten, wird seine Autorität gestärkt. Bei
einer Anzeige kann ein Arbeitgeber, der illegal Kinder beschäftigt, in Malawi zu fünf Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von 20.000 Kwacha verurteilt werden – umgerechnet rund 100 Euro. Doch das eigentliche Problem
bleibt meist ungelöst: die Armut.
Frühe Heirat und Schwangerschaft
Als Gründe für den Schulabbruch stechen bei den Mädchen auch frühe
Heirat und Schwangerschaft hervor. Weil sie in der 7. Klasse schwanger
wurde, musste Ruth C. die Schule abbrechen: Die heute 40-jährige mit kurz
geschnittenem krausem Haar trägt eine braun-weiß gestreifte Bluse, auf
ihrem türkisfarbenem Rock ranken sich dunkelrote Efeu-artige Pflanzenmuster. Sie wäscht gerade im Hof die Wäsche in einer Plastikschüssel, als
ihre jüngste Tochter, die sechsjährige Katherine, von der Schule nach Hause kommt. Sie hat die gleiche Frisur wie ihre Mutter, trägt eine blau-weiß
gemusterte Strickjacke zu ihrem roten Rock. Schuhe besitzen beide nicht.
Sie gehen ins Haus, die zweistufige Treppe zur Haustür fehlt. Im Wohnzimmer ihrer Lehmziegel-Reihen-Hütte kleben nur Reste alter Zeitungsartikel
an der Wand. In einer Ecke steht ein hüfthohes Holzregal, sonst ist der Raum
leer.
Ruth C. hat jetzt insgesamt sechs Kinder, von denen die beiden ältesten
bereits verheiratet sind. Ihr Ehemann sei im Jahr 2000 an Malaria gestorben, erzählt sie. Die allein erziehende Mutter selbst arbeitet als Haushaltshilfe und muss mit rund 3.000 Kwacha im Monat sich selbst und die drei
noch zu Hause lebenden Kinder versorgen. Die älteren sind arbeitslos. Auch
um ihre jüngste Tochter Katherine sorgt sich Ruth C.: „Sie ist in der Schule noch nicht so weit wie ihre Mitschüler.“ Katherine kann nach einem Jahr
Unterricht noch keinen Buchstaben schreiben. Die Mutter vermutet die Ursache in der Vergewaltigung ihrer Tochter: „Es passierte 2003, als sie gerade
zwei Jahre alt war“, erzählt Ruth C. mit leiser Stimme. „Die Polizei fand sie
schwer verletzt unter einer Brücke und brachte sie ins Krankenhaus.“ Das
Mädchen sitzt wie unbeteiligt daneben, während die Mutter spricht. Katherine könne sich aber nur noch daran erinnern, dass die Männer, die ihr das
antaten, schwarze Kleidung trugen und ihr den Mund zuhielten, damit sie
nicht schreien konnte.
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Damit mehr Mädchen eine Chance erhalten, diesem Kreislauf aus Armut
und Elend zu entkommen, versuchten Schüler der siebten und achten Klassen an der Nsiyaludzu-Grundschule im Ntcheu-Distrikt, die Eltern in ihrem
Ort und den Nachbardörfern mit einem Theaterstück aufzurütteln: „Wir haben ein Drama über die Zwangsehe aufgeführt“, erzählt die heute 21-jährige Esther Banda, die daran teilnahm. „Es handelte von einem Mädchen,
das früh verheiratet wurde und dann kurze Zeit später ein Kind bekam. Sie
musste die Schule abbrechen.“ Mädchen würden zum Teil schon im Alter
von 14 oder 15 Jahren von ihren Eltern verheiratet, sagt Esther. „Oft werden
sie dann kurze Zeit später schwanger. Das ist meiner Schwester und Freundinnen von mir passiert.“ Deren Schicksal nahmen die Schüler als Vorbild
und entwickelten daraus ihr Theaterstück. Unterstützt wurden sie von der
Hilfsorganisation Creccom. „Wir wollten diejenigen kritisieren, die ihre
Töchter nicht zur Schule schicken, sondern früh verheiraten“, erzählt Esther.
„Einige Eltern haben uns dazu sogar gratuliert. Sie sagten, wir hätten sie etwas Wichtiges gelehrt.“
Doch nicht immer wirkt solche Aufklärungsarbeit. Einige traditionelle kulturelle Praktiken wie Initiationsriten ermuntern Mädchen und Jungen zum Geschlechtsverkehr. Diese Riten erhöhen das Risiko einer frühen
Schwangerschaft und tragen dazu bei, dass Mädchen die Schule abbrechen.
„Chinamwali“ heißt ein solcher Ritus der Chewa, einer der größten der malawischen Volksgruppen. Diese Zeremonie bereitet Mädchen auf die Ehe
vor. Sie findet statt, sobald die Periode einsetzt, manchmal schon im Alter
von zehn Jahren. Der Ritus kann Sex mit einem älteren Mann beinhalten.
Und Creccom-Direktor Zikani Kaunda weiß von einem Initiationsritus, bei
dem junge Mädchen ab zehn oder elf Jahren sogar mit mehreren Männern
Geschlechtsverkehr haben: „Zum Erwachsen sein gehört nach dem Verständnis dieser Menschen, Sex zu haben.“
Doch schwangere Schülerinnen werden der Schule verwiesen. Früher war
dies das Ende ihrer Schulbildung, inzwischen dürfen die jungen Mütter wieder am Unterricht teilnehmen, sobald sie das Kind ausgetragen haben. Um
das zu unterstützen, gibt es inzwischen in einem Pilotprojekt Ergänzungsunterricht zur Wiedereingliederung.
Zurück in die Schule – Ergänzungsunterricht als neue Chance
Als die heute 14-jährige Alinafe die Schule abbrach, ahnte sie nicht, welche Schicksalsschläge darauf folgen sollten. Statt im Klassenzimmer sitzt
sie am Mittag im engen Hof des Elternhauses vor dem Kochfeuer und rührt
in einem Topf den Maisbrei um. Ihre Kleidung wirkt etwas zu groß geraten, zur hellblauen kurzärmeligen Bluse trägt sie einen dunkelblauen Wickelrock, am Bauch mehrfach umgeschlagen, damit er nicht über die Knö-
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chel reicht. Ihre Mutter Madalitso hängt gerade Wäsche zum Trocknen auf
die Leine, als die Besucherin kommt. Sie geleitet den Gast in das Innere der
weißgetünchten Lehmziegel-Hütte. In dem kleinen Wohnzimmer setzen sie
sich an den Esstisch, der sich neben vier rot gepolsterte Sessel und einen
niedrigen Tisch drängt.
Hilda Khundi, die Leiterin der katholische Mädchengrundschule in Lilongwe, ist gekommen, um mehr über die Gründe zu erfahren, warum Alinafe der Schule fernbleibt, und um sie davon zu überzeugen, wieder in den
Unterricht zu kommen. „Als sie in der vierten Klasse war, hat Alinafe die
Schule abgebrochen und sich eine Arbeit als Haushaltshilfe gesucht“, erzählt
die Mutter. „Meine Tochter wollte etwas Geld für die Familie verdienen.“
Mutter Madalitso selbst verdient als Blumenverkäuferin im Durchschnitt
nur rund 500 Kwacha in der Woche. Damit muss sie ihre fünf Kinder und
sich selbst versorgen. Ihr Mann sei Händler mit einem Stand auf dem Markt.
Doch zum Familieneinkommen steuere er von seinem Geld nichts bei.
Als sie 13 Jahre alt war, sei Alinafe von ihrem Arbeitgeber geschwängert
und dann entlassen worden – das Baby sei gestorben, erzählt Mutter Madalitso. Währenddessen sitzt Alinafe regungslos am Tisch und schweigt. Hilda Khundi sähe das Mädchen gerne wieder in der Schule. Sie berichtet von
dem Pilotprogramm, das Kindern den Wiedereinstieg in die Grundschule
erleichtern soll. Ob Alinafe wieder zur Schule gehen wird, bleibt an diesem
Tag offen. Die Schulleiterin weiß: „Sie muss es vor allem selbst wollen.“
So wie der neunjährige Rashid Chimkwamawa: Der kleingewachsene Junge trägt ein schmutzig-weißes Shirt und knielange rosa Hosen, keine Schuhe. Er sitzt, das Schulbuch aufgeschlagen auf den Knien, in einem Klassenraum auf einer Spanholzplatte auf dem Boden. Über ihm ragt der Lehrer in
einem dunkelgrünen Anzug empor und fragt: „Was heißt Kanu auf Chichewa?“ Rashid betrachtet die Zeichnung in dem Buch, die einen Mann in einem Kanu beim Fischen zeigt. Der Junge muss kaum überlegen. „Bwato!“,
antwortet er. „Richtig“, lobt Lehrer Luke Victor. „Und wie lautet das Chichewa-Wort für Fischer?“ Rashid antwortet: „Msodzi“.
Rashid besucht den Ergänzungsunterricht für Grundschulabbrecher –
Complementary Basic Education – in der Bungwe-Grundschule im Distrikt Lilongwe West, zirka eine halbe Autostunde außerhalb der Hauptstadt.
„Ich mag die Schule sehr, weil ich durch sie lesen kann“, grinst der Neunjährige und zeigt dabei seine fleckig-gelben Zähne. „Ich möchte einmal Polizist werden und dann Kindern helfen, damit sie nicht mehr arbeiten müssen, wenn sie eigentlich zur Schule gehen sollten. Ich will die Kinderarbeit
stoppen.“ Der Junge weiß, wovon er spricht: Obwohl Rashid erst neun Jahre
alt ist, musste er die Schule abbrechen, um mit Gelegenheitsjobs etwas Geld
zu verdienen und zum Familienunterhalt beizutragen. „Früher habe ich Erd-
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Malawi
nüsse gepflückt“, erzählt er – vier Stunden Arbeit am Tag. „Für einen Eimer
Nüsse bekam ich 24 Kwacha, aber ich habe nicht immer einen ganzen Eimer am Tag geschafft, oft weniger.“ Mit den umgerechnet rund 13 Cent, die
er damit verdiente, konnte er dann zum Beispiel Seife kaufen. Jetzt schleppt
er jeden Morgen Ziegelsteine für einen Nachbarn im Dorf, der gerade ein
Haus baut. Die eigentlich dunkle Haut seiner Hände ist staubig-grau, rau
und rissig, die Fingernägel schwarz vor Dreck. Eine Kwacha bekomme er
pro Stück, sagt der Junge, 40 Kwacha schulde ihm der Arbeitgeber noch.
Den Ergänzungsunterricht gibt es seit September 2006, das Pilotprojekt
wird von Deutschland finanziert und von der Gesellschaft für technische
Zusammenarbeit (GTZ) koordiniert: In den Distrikten Lilongwe, Chikwawa
und Ntchisi werden Kinder, die die Schule abbrechen mussten, in insgesamt
15 Lernzentren unterrichtet. In jedem Zentrum arbeiten zwei Lehrer, möglichst ein Mann und eine Frau. Diese 30 Lehrer betreuen zusammengenommen rund 750 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 17 Jahren.
Die Schüler lernen hier Lesen und Schreiben in den Verkehrssprachen
Chichewa und Englisch, Mathematik, aber auch Kreative Künste, Landwirtschafts- und Umweltkunde, Bürgerkunde und Lebenshaltung. Der Unterricht in Hauswirtschaft und Lebenshaltung soll besonders den älteren Schülern helfen, das tägliche Leben besser zu meistern, als ohne Schulbildung.
Denn für sie endet nach drei Jahren Ergänzungsunterricht meist zugleich
auch ihre gesamte akademische Ausbildung. Die jüngeren Schüler hingegen
sollen nach spätestens drei Jahren wieder die Grundschule besuchen. Deshalb wird im Ergänzungsunterricht der gleiche Inhalt vermittelt wie dort,
angepasst an die Bedürfnisse der Schüler und mit Schwerpunkt auf Lesen
und Schreiben in Chichewa.
Für den Lehrer im grünen Anzug, den 25-jährigen Luke Victor, ist es
die erste Stelle als Lehrer. Er selbst hat die Grund- und die weiterführende
Schule besucht, die Secondary School. Danach absolvierte er ein dreiwöchiges Training am Malawi Institute of Education in Zomba. Nach dieser rudimentären Einführung begann er seine Arbeit im Ergänzungsunterricht an
der Bungwe-Grundschule. Dabei arbeitet er mit einer Kollegin zusammen.
Sie werden durch einen Supervisor vom „Adolescent Girls Literacy“-Projekt (Aglit) unterstützt. Diese Nichtregierungsorganisation stellt und betreut
zusammen mit „World Relief“ im Auftrag des Bildungsministeriums in den
Zentren die Lehrkräfte.
Für den Ergänzungsunterricht nutzen Lehrer und Schüler Klassenräume
nach dem Ende des regulären Unterrichtes, wie in der Bungwe-Schule, oder
auch Kirchenräume. Jede Gemeinde wählt aus ihren Reihen ein zehnköpfiges Management-Komitee, je zur Hälfte männlich und weiblich. Es soll die
Lehrer unterstützen. Jeden Tag wachen zwei Mitglieder im Zentrum über
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Malawi
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die Sauberkeit im Klassenraum, die Materialverteilung sowie Anwesenheit
und Pünktlichkeit der Schüler. Wann der Ergänzungsunterricht beginnt, ob
morgens oder nachmittags, legen Schüler und Gemeinde gemeinsam fest.
Die überwiegende Zahl der Zentren ist nachmittags in Betrieb. Das passt für
die meisten Teilnehmer besser mit der Arbeit zusammen, die viele neben der
Schule noch verrichten müssen.
An der Bungwe-Schule soll der Ergänzungsunterricht um zwei Uhr beginnen – nach den regulären Schulstunden. Doch um diese Zeit schlagen erst
drei Schüler die Bücher auf, die Luke Victor ihnen gegeben hat. Nach und
nach kommen vier weitere. Eine halbe Stunde wartet Victor, dann beginnt er
den Unterricht. Der Lehrer schimpft nicht über die Verspätung. Er weiß: Die
Kinder kommen nach Gefühl und Sonnenstand, denn sie haben keine Uhren.
Die Zahl der fehlenden Schüler ist hoch: Eigentlich sollten 48 Kinder kommen. Doch erwarten die beiden Lehrer täglich maximal 15. „Für viele Eltern
und auch Kinder ist es wichtiger, heute Geld zu verdienen“, erklärt Victor.
„Und wenn die Eltern selbst auch nicht zur Schule gegangen sind, können
sie den langfristigen Nutzen der Schulbildung nicht erkennen.“
Wer hungert, lernt nicht gern: Schulspeisungen und -gärten
In Malawi sind viele Familien so arm, dass ihre Kinder morgens ohne
Frühstück in die Schule gehen müssen. Hungrig können sie sich jedoch nicht
gut auf den Unterricht konzentrieren. Deshalb schneiden solche Kinder in
der Schule oft schlechter ab oder beenden sie vorzeitig. Umgekehrt gewinnt
die Schule, wo es Essen gibt, an Attraktivität bei armen Familien und Kindern, die zu Hause nichts bekommen. Besonders drastisch zeigt sich das an
der Bungwe-Grundschule: Obwohl hier zusätzlich zu den regulären Stunden
auch der Ergänzungsunterricht stattfindet, laufen ihr die Schüler weg. Der
Grund sei Hunger, erklärt der Leiter, Dominic Malamba. Die anderen Schulen der Umgebung nehmen am Schulspeisungsprogramm des World Food
Programme (WFP) teil. Bungwe nicht: „Wir erfüllen derzeit nicht die Kriterien für die Teilnahme, wir haben weder einen Wasseranschluss noch ein
Bohrloch und auch keine geeigneten Lagerräume für Nahrungsmittel. Immer mehr Kinder wechseln nun von uns zu anderen Schulen, wo sie etwas
zu essen bekommen.“
Die Schulspeisungen des WFP sind inzwischen Teil eines Ernährungsund Gesundheitsprogramms des Bildungsministeriums geworden: Irgendwann sollen die Kinder in allen Grundschulen Malawis eine Mahlzeit pro
Tag erhalten und gesunde Ernährung kennen lernen. Die Verantwortlichen
im Bildungsministerium und bei den unterstützenden NGOs erarbeiten derzeit Strategien, um die bestehenden Programme zu verbessern und auszudehnen. So wollen sie die Abwesenheitsrate vom Unterricht mindestens
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halbieren, die Schülerzahlen um 10 Prozent steigern und die Zahl unterernährter Kinder reduzieren.
Das Schul-Essen soll auch vielseitiger und gesünder werden: nicht mehr
überwiegend Kohlenhydrate, wie bisher, sondern auch Vitamine, Mineralien, Proteine, Fett und Wasser – nicht mehr nur Porridge oder Maisbrei, sondern zum Beispiel auch Kassawa-Wurzeln, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Reis,
dazu vielleicht Fleisch, Fisch oder Geflügel, Eier und Milch. Auch Gemüse
wie Kohl und Kürbisfleisch, Blattsalat, Tomaten und Obst wie Mango, Guava, Bananen oder Orangen sollen die Schüler erhalten – wo möglich aus lokaler Produktion.
An der Bungwe-Schule hofft Dominic Malamba, dass das World Food
Programme seine Schule wegen ihres besonderen Angebotes des Ergänzungsunterrichtes doch noch in ihr Schulspeisungsprogramm aufnimmt.
Doch solange Bungwe die Kriterien nicht erfüllen kann, stehen die Chancen
schlecht. Vielleicht könnte in dieser schier ausweglosen Lage Pastor Joseph
Chiwawa weiterhelfen. Der ist nicht nur Geistlicher, sondern auch Pionier
für „Permakultur“ in Malawi. Der Acker vor seinem Haus dient Grundschulen mittlerweile als Vorbild für eigene Gärten.
Das Grundstück des Pastors in Mehenzi bei Lilongwe wirkt wie eine grüne Oase inmitten der brachliegenden braunen Felder seiner Nachbarn. Sein
Haus ist von der Zufahrt aus kaum zu sehen inmitten des Dschungels, den
der Geistliche auf seinem kleinen Feld herangezogen hat: Dicht an dicht ragen Obstbäume, palmenähnliche Bananenstauden, Mais- und andere Pflanzen auf, ein Gewirr von Ästen und Blättern. Auf dem Boden zwischen den
Pflanzen verrotten gelblich-braune Blätter und Stiele von Maispflanzen. Ein
schmaler, mit Stroh bedeckter Pfad windet sich durch das Dickicht. Hinter
dem Haus modern in einer Esstisch-großen Umzäunung weitere Pflanzenreste: der Komposthaufen Chiwawas. Das Grundstück durchziehen schmale
Bewässerungsgräben, die das Wasser aus dem zentralen Speicher des Pastors, einem kleinen Tümpel, auf die Felder leiten. Es kommt aus dem nahen
Fluss, den der Geistliche über einen Graben angezapft hat.
Das Erfolgsgeheimnis von Pastor Chiwawa heißt nachhaltige Landwirtschaft – „Permakultur“. Dieser Kunstbegriff setzt sich aus den Wörtern
„permanent“ und „Kultur“ zusammen: Laub bleibt auf der Erde liegen, verrottet und gibt dem Boden so die Nährstoffe zurück, die die lebenden Pflanzen ihm entziehen. Dieser Dünger und regelmäßiges Bewässern ermöglichen bessere Erträge. Doch traditioneller Ackerbau in Malawi sieht anders
aus: Die Landbevölkerung betreibt seit Alters her Brandrodung. Der Bauer
bebaut ein Feld eine Saison lang. Nach dem Wachsen der Pflanzen während
der Regenzeit von November bis März kann er dann einmal ernten. Die Reste der abgeernteten Pflanzen verbrennt er. Die übrige Zeit des Jahres ist das
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Malawi
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Klima trocken, die Felder liegen brach. Nach einer Saison wechselt der Bauer das Feld. Die Erde um ihre Häuser herum fegen die Menschen regelmäßig, anstatt dort Beete anzulegen.
Im Gegensatz zu seinen Nachbarn könne er nicht nur einmal im Jahr ernten, sagt der Pastor, sondern permanent, auch ohne chemischen Kunstdünger. Denn er betreibt keine Monokultur, sondern baut – in einer Art MultiKulti-Landwirtschaft – unterschiedliche Pflanzen nebeneinander an, die sich
im Zusammenleben ergänzen, die er aber nicht zur gleichen Zeit erntet.
Mit dem Wissen, das er sich durch den eigenen Landwirtschaftsbetrieb
angeeignet hat, ist Chiwawa nun als technischer Berater des Bildungsministeriums und der GTZ beim Pilotprojekt zur nachhaltigen Schulernährung tätig. Das Permakultur-Prinzip soll Schulen helfen, in eigenen Gärten
Obst und Gemüse wie zum Beispiel Bananen, Orangen und Mais anzubauen. Einerseits erhalten die Schüler dann ausgewogene und gesunde Mahlzeiten, andererseits befreien sich die Schulen so aus der Abhängigkeit des
Schulspeisungsprogramms. Denn eine Studie von 2003 stellte fest, dass die
Schulspeisungen an 92 Prozent der untersuchten Schulen ohne externe Unterstützung nicht fortbestehen können.
Bisher haben 40 Schulen verteilt auf acht Distrikte dieses eineinhalb Jahre dauernde Permakultur-Pilotprojekt eingeführt. Die insgesamt zehn technischen Berater trainieren ein halbes Jahr lang Projektverantwortliche: Lehrer, Mitglieder der Gemeinden und Mitarbeiter der Schulverwaltung. Diese
sollen als Multiplikatoren ihr Wissen weitergeben an Lehrer, Schüler, Eltern
und Gemeindemitglieder. Die Schüler arbeiten im Garten auch praktisch
mit und erlernen so das neue Permakultur-Prinzip. Und sie wirken daran
mit, die Schulen durch gesundes Essen für mehr Kinder und Eltern attraktiv zu machen.
4. Die Qualität soll endlich besser werden.
Vor einer Herausforderung ganz anderer Art stehen die sechsjährige Maria Yohane und ihr siebenjähriger Mitschüler Innocent Willo im EnglischUnterricht der ersten Klasse an der Mthumba-Schule im Balaka-Distrikt.
Vor der versammelten Klasse stehen sie sich gegenüber. Über hundert Mitschüler sehen sie an. „Good morning, how are you?“, fragt Maria ihr Gegenüber mit leiser schüchterner Stimme. Lehrer Thomas Nine fordert sie
auf, es lauter zu wiederholen. Guten Morgen, wie geht es dir? Innocent antwortet: „Very well, how are you?“ Sehr gut, wie geht es dir? Lehrer Nine
ist zufrieden. Die Kinder tauschen die Rollen und wiederholen das Frageund-Antwort-Spiel. Maria spricht jetzt lauter, sie hat Mut gefasst. Die ganze
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Klasse wiederholt die Übung, immer zu zweit. Die Kinder wenden sich auf
ihren Sitzplätzen ihren Nachbarn zu – ein unglaubliches Stimmengewirr erfüllt den Raum, als über fünfzig Schüler gleichzeitig ihr Gegenüber fragen:
„Good morning, how are you?“
Neu: die Eingewöhnungszeit
Früher war Englisch vom ersten Tag der Schulzeit an die Unterrichtssprache. Die verschiedenen Stämme in Malawi sprechen jedoch unterschiedliche
Sprachen. Deshalb unterrichten die Lehrer nun – außer dem Fach Englisch
selbst – in den ersten beiden Jahren in der malawischen Verkehrssprache
Chichewa, der Sprache des größten Stammes im Land, oder in der einheimischen Sprache, die die Mehrheit in der Gegend der Schule spricht, zum Beispiel Chinyanja, Chiyao oder Chitumbuka. Vorausgesetzt, die Schule verfügt über genügend Lehrer, die diese Sprache beherrschen. Englisch ersetzt
diese malawischen Sprachen dann zwischen der dritten und fünften Klasse
nach und nach als Unterrichtssprache.
Andere zu grüßen, darauf zu antworten oder jemanden um etwas zu bitten, gehört jedoch erst ab dem zweiten Trimester der ersten Klasse zum Englisch-Unterricht. Erst jetzt beginnen die Kinder damit, schreiben, lesen und
rechnen zu lernen. Dagegen stand das erste Trimester ganz im Zeichen der
„Einführung in das Schulleben und Lernen“. Diese Eingewöhnungszeit für
Erstklässler gibt es erst seit Januar 2007 in malawischen Grundschulen. Die
Idee dahinter ist, die Schüler mit dem neuen Lebensabschnitt vertraut zu
machen: Nur wenige malawische Kinder gehen vor der Schulzeit in einen
Kindergarten. Jetzt sind sie zum ersten Mal weg von zu Hause, ohne Eltern,
zusammen mit vielen anderen unbekannten Kindern und sollen den Anweisungen des fremden Lehrers gehorchen. Die Kinder lernen, wo ihr Klassenraum ist und wo auf dem Schulgelände sie sauberes Wasser bekommen. Die
Lehrer vermitteln Regeln zur Körperhygiene und gesunden Ernährung und
dass die Schüler den Klassenraum selbst säubern müssen.
Das Einführungstrimester wurde bei der jüngsten Reform des Lehrplanes
eingeführt, die am 8. Januar 2007 in Kraft trat. Das neue Curriculum, im
Januar 2007 zunächst nur in der ersten Klasse eingeführt, wurde von 2001
bis 2004 entwickelt und löst den Lehrplan von 1991 ab. Die ersten Klassen
lernen außer Chichewa und Englisch auch Rechnen und Mathematik sowie „Expressive Arts“, Kreative Künste, das seit der Lehrplanreform Kunst,
Sport, Musik und Tanz umfasst. Ab dem zweiten Schuljahr kommt „Life
Skills“, Alltagswissen, hinzu, wo die Lehrer Wissen zur gesunden Ernährung, Hygiene, aber auch zu Krankheiten wie Malaria und Aids vermitteln.
Auf dem Stundenplan stehen vom dritten Jahr an auch Sozial- und Umweltkunde sowie schließlich ab dem vierten Jahr Landwirtschaft und Technik.
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Malawi
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Neues Curriculum –
die Lehrer sollen sich endlich mehr am Schüler orientieren
Der 15-jährige Betro Samuel nimmt von Lehrer Gabriel Kudya einen
Fußball entgegen, geht nach vorne zur rechten Seite des Klassenraumes,
hebt den Ball auf Brusthöhe und wirft ihn in die Mitte der Tafel, dorthin, wo der Lehrer mit Kreide einen Zielkreis gezeichnet hat. Der Ball
prallt vom schwarzen Holz ab nach links in den Raum zurück. Betros 63
Mitschüler beobachten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Ratlosigkeit auf ihren Gesichtern – was macht er da, was soll das? Der Lehrer ist
höchst zufrieden: „Gut gemacht. Das gleiche passiert mit dem Licht, wenn
es auf eine Oberfläche auftrifft“, erklärt er den Schülern und fragt: „Wie
nennt man das?“ Eine Schülerin meldet sich: „Reflexion.“ Die Antwort ist
richtig.
Gabriel Kudya unterrichtet „Science“ – Sach- und Naturkunde – in der
siebten Klasse der Mthumba-Grundschule im Balaka-Distrikt. Thema dieser Stunde ist direktes und indirektes Licht. Dabei sind die Arbeitsbedingungen schwierig: Während Lehrer in Deutschland im Naturwissenschaftsunterricht meist vielerlei technische Geräte benutzen können, muss Kudya mit
den einfachsten Hilfsmitteln auskommen, etwa einem Fußball. Außerdem
ist die Mthumba-Schule – wie die meisten Grundschulen im Land – nicht
an die elektrische Stromversorgung angeschlossen. Der Strom und das Geld
fehlen, um Versuche zur Lichtreflexion mit Lampen durchzuführen. Dennoch versteht es ein engagierter, gut ausgebildeter Lehrer wie Kudya, die
Schüler am Unterricht zu beteiligen und zum Mitmachen zu animieren. Und
das, obwohl der neue Lehrplan für seine Klasse 7 noch gar nicht eingeführt
wurde.
Bisher sieht der Unterricht aber noch zu oft anders aus: Frontalunterricht
ist die traditionelle Methode vieler Lehrer, die nur dann auf Schüler eingehen, wenn diese Fragen beantworten. Erziehungswissenschaftler der University of Malawi kamen im Jahr 2000 zu dem Ergebnis, dass vor allem unausgebildete Kräfte sich darauf beschränkten. Meistens stellten diese Lehrer
einfache und anspruchslose Fragen, fast ausschließlich an Jungen, die sie
als sehr intelligent eingestuft hatten. Die Mädchen hingegen würden oft vernachlässigt. „Es scheint“, schreiben die Wissenschaftler, „dass die Lehrer
sich mehr dafür interessierten, den Unterricht fortzusetzen, als sicherzustellen, dass alle Schüler die Inhalte verstehen.“ Die Lehrer gingen den Stoff zudem schnell durch, um ihr Pensum zu schaffen. Deshalb würden sie sich in
der Regel darauf beschränken, die Klasse im Chor antworten zu lassen.
Das Resultat: Bis zu 70 Prozent der malawischen Schüler in Klasse 6
können nicht gut genug lesen und viele Lehrer nicht gut lehren – vor allem
Lehrer, die nach der Abschaffung der Schulgebühren 1994 in einer Notmaß-
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Malawi
nahme eingestellt und kaum ausgebildet wurden. Das sind die Ergebnisse
der Sacmeq-Studie zu den Bedingungen an den Schulen und der Qualität
der Bildung in der sechsten Klasse. Viele Schüler bestehen auch die Abschlussprüfung nicht: 2005 waren es von rund 153.000 nur etwa 67 Prozent.
Im Vergleich mit den anderen Ländern des südlichen Afrika schneiden die
malawischen Schüler zudem am schlechtesten ab. Die Lehrer hingegen erzielten bei den Tests der Studie überdurchschnittlich gute Ergebnisse. Die
Schlussfolgerung von Sacmeq: Das nötige Wissen ist bei den Lehrern vorhanden, es hapert jedoch an ihren Fähigkeiten, den Stoff zu vermitteln.
Dass es auch anders geht, zeigt der Naturkunde-Unterricht von Gabriel
Kudya: Betro Samuel holt einen Winkelmesser aus Plastik aus seiner Tasche
und setzt sich mit zwei Klassenkameraden zusammen. Alle seine Mitschüler finden sich in Gruppen jeweils zu dritt zusammen. Gabriel Kudya verteilt ein DIN-A-4-Blatt an jede Gruppe. Darauf ist ein Gesicht im Profil zu
sehen, das auf eine Linie blickt – eine symbolische Wand. Oberhalb des Gesichtes geht von der Wand ein Pfeil ab, der auf das Auge trifft – ein von der
Wand reflektierter Lichtstrahl, wie der Lehrer erklärt. „Zeichnet jetzt bitte ein, wo die Lichtquelle ist, die diesen Lichtstrahl an die Wand geworfen
hat.“ So wie ein Mitschüler es bereits an der Tafel vorgemacht hat, setzt Betro den Winkelmesser dort an, wo der bereits eingezeichnete Lichtpfeil von
der Wand ausgeht. Er misst den Winkel und zeichnet spiegelbildlich nach
oben eine neue Linie auf das Blatt. Dort zeichnet Betro eine Lampe ein: Einfallwinkel gleich Ausfallwinkel.
Mit der Reform des Curriculums will das Bildungsministerium endlich
die Qualität des Unterrichtes sowie die Lernergebnisse der Schüler verbessern. Ein Ziel der Lehrplan-Reform ist, dass die Schüler nicht mehr Wissen nur passiv konsumieren oder den Unterricht einfach über sich ergehen
lassen, sondern sich daran beteiligen und neue Kenntnisse erarbeiten. Deshalb gehören inzwischen neben dem traditionellen Frage-und-Antwort-Ritus auch solche Experimente oder Rollenspiele, wie Maria Yohane und Innocent Willo in der Englisch-Stunde eines durchgespielt haben, offiziell zum
Unterrichtsrepertoire. Mit Gruppenarbeit, Singen und Spielen, kleinen Theateraufführungen und Brainstorming sollen die Lehrer den Unterricht nun
lockerer und attraktiver gestalten. Und sie sollen den Stoff nicht mehr einfach abarbeiten – ohne Rücksicht darauf, was die Kinder tatsächlich lernen.
„Nicht alle Schüler sind in den gleichen Fächern gut“, sagt Dr. Augustine Kamlongera, Direktor der Planungsabteilung des Bildungsministeriums.
Die Schüler bräuchten deshalb mehr individuelle Förderung. „Kein Kind ist
ein Versager, es gibt keine hoffnungslosen Fälle. Wir dürfen nicht mehr alle
über einen Kamm scheren, sondern müssen die jeweiligen Stärken finden
und fördern und bei den Schwächen helfen“, erklärt der Planungsdirektor.
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Malawi
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Deshalb sollen sich die Lehrer fortan mehr an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder orientieren und ihnen helfen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten selbst zu entwickeln.
Die große Herausforderung sei, diese Umorientierung bei den Lehrern
zu bewirken, glaubt Kamlongera. Das wollen die Verantwortlichen im Bildungsministerium erreichen, indem sie den Lehrplan nach einem Kaskadenmodell umstellen – nicht in allen Jahrgangsstufen zugleich. Umgewöhnung
nach und nach lautet das Motto. Vier Jahre haben sie dafür als Zeitrahmen
angesetzt.
Doch zunächst werden die Lehrer selbst wieder zu Schülern, um das reformierte Curriculum kennen zu lernen: Seit Ende 2006 werden in den über das
Land verteilten Fortbildungszentren (Teacher Development Center, TDC)
die Lehrer in den neuen Lehrplan eingearbeitet. Zwei Wochen dauert ihre
Fortbildung. Bisher litten die TDCs allerdings oft an Kapazitäts- und Materialengpässen. Deshalb sollen sie innerhalb der vier Jahre zu kleinen Forschungs- und Trainingszentren mit ausreichend Materialien entwickelt werden. Doch selbst wenn die notwenigen Ressourcen derzeit nicht vorhanden
sind, es nicht genug Lehrer gibt und die Klassen zu groß sind, selbst dann
halten es die Beamten im Bildungsministerium für besser, mit der Reform
zu beginnen, als weiter am alten Curriculum festzuhalten.
Lehrerausbildung und -verteilung: Es fehlen qualifizierte Pädagogen.
Das neue Curriculum ist nicht die einzige Veränderung: Die 24-jährige
Felina Chikopa und die gleichaltrige Matilda Manda studieren am Lilongwe
Teacher Training College (TTC), einem Ausbildungszentrum für zukünftige Grundschullehrer. Sie fühlen sich noch unsicher bei dem Gedanken, bald
als Lehrerinnen vor einer Klasse zu stehen: „Es sind so viele Fächer, die wir
als Grundschullehrer beherrschen müssen“, sagt Felina. „Aber es gibt an
den Schulen nicht genug Personal, um sich zu spezialisieren, und wir müssen ja vielleicht auch mal einen Kollegen ersetzen, der ausgefallen ist.“ Den
Stoff für zehn Fächer müssen die beiden Nachwuchslehrerinnen nun büffeln. Aber immerhin gehören sie zur mittlerweile zweiten Generation seit
1996, die zuerst die theoretische Ausbildung absolviert und erst anschließend ihre Arbeit in den Schulen beginnt.
Diese Abfolge – theoretische Ausbildung vor praktischer Arbeit – war
nach der Abschaffung der Schulgebühren nicht möglich: Um den akuten
Lehrermangel nach 1994 auszugleichen, schickte die Regierung rund 22.000
unausgebildete Lehrer nach einer zweiwöchigen Einweisung sofort an die
Grundschulen. Zwischen 1997 und 2006 absolvierten zukünftige Lehrer
dann einen berufsbegleitenden Ausbildungsgang, genannt Malawi Integrated In-Service Teacher Education Programme (MIITEP).
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Diverse Studien stellten jedoch gravierende Mängel des MIITEP fest. Die
Auszubildenden würden nicht genug auf die Arbeit in armen Regionen und
an schlecht ausgestatteten Grundschulen vorbereitet. Die Unterstützung durch
Schulleiter und Kollegen sei unzureichend gewesen, weil diesen oft selbst die
entsprechende Kompetenz fehlte. Das galt auch für die von den Primary Education Advisors (PEA, Berater der Schulen) und die von ihnen geleiteten Fortbildungseinrichtungen, die Teacher Development Centers. Um den Schulleitern, erfahrenen Lehrern und PEAs das nötige Wissen zu vermitteln, damit sie
erfolgreich die Auszubildenden betreuen konnten, wurde 1997 ein Schul-Unterstützungsprogramm eingerichtet. Doch es kam zu spät, um die Mentoren
noch vor dem Start des MIITEP-Systems auf ihre Tätigkeit vorzubereiten.
Seit 2006 absolvieren zukünftige Lehrer ihre theoretische Ausbildung zuerst und nehmen dann erst die praktische Arbeit in den Grundschulen auf.
Das berufsbegleitende Trainingssystem MIITEP wurde ersetzt durch ein Jahr
Studium am Teacher Training College gefolgt von einem Jahr Referendariat, bei dem die Referendare in den Schulen stärker betreut werden sollen, als
dies in der Vergangenheit geschehen ist.
Doch ein ganzes Jahr als Referendare in den Grundschulen zu arbeiten, davor scheuen Felina Chikopa und Matilda Manda noch ein wenig zurück. „Wir
hätten gerne zwischendurch längere Phasen wieder am College, wo wir uns
Rat holen können.“ Die Betreuung durch Schulleiter und erfahrene Kollegen sowie am Fortbildungszentrum wird für sie deshalb sehr wichtig. An den
Schulen sollen jeweils sechs Referendare von einem Mentor betreut werden,
der dafür auch zusätzlich bezahlt wird.
Felina Chikopa und Matilda Manda erlernen ihren Beruf in Zeiten großen
Lehrermangels: Sie sind zwei von 3.000 bis 4.000 zukünftigen Lehrern, die
pro Jahr an den fünf staatlichen TTCs ausgebildet werden. Außerdem gibt
es noch drei kleinere private Colleges: zwei christliche und ein islamisches.
Trotzdem hat die Anzahl der Lehrer an den öffentlichen Grundschulen sogar
abgenommen: von rund 43.800 in 2005 auf 41.600 in 2006. Deshalb werden
die Ausbildungskapazitäten zurzeit erweitert. Das staatliche College in der
Hauptstadt Lilongwe zum Beispiel bildet insgesamt 530 Studenten aus und
wird ausgebaut: Zusätzliche Unterkünfte für 180 Studentinnen sind fast fertig. Ein neues staatliches College für jährlich rund 540 Lehramtsstudenten
entsteht in Machinga bei Liwonde.
Doch das reicht noch immer nicht: Jedes Jahr müssten mindestens 6.000
Lehrer ausgebildet werden, um den Bedarf zu decken. Und das Grundschulsystem muss nach Angaben der Weltbank auch einen Lehrerausfall von jährlich rund 6 Prozent bewältigen, zur Hälfte durch Todesfälle, meist als Folge von Aids, und zur anderen Hälfte durch Pensionierungen, Berufswechsel
oder andere Gründe hervorgerufen.
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Die Aussichten eine Stelle zu finden, stehen für Felina Chikopa und Matilda Manda also sehr gut. Zumal die Regierung erreichen will, dass genauso
viele Frauen als Lehrer arbeiten wie Männer. Doch wo sie nach ihrer Ausbildung arbeiten werden, wissen die beiden Studentinnen noch nicht: „Wir
können uns nicht aussuchen, wo wir unterrichten. Aber wir werden definitiv
aufs Land gehen, wo es nicht genügend Lehrer gibt.“
Wenn ein einziger Lehrer versucht, alle 658 Schüler in den Klassen 1 bis
8 an der Chigubudu-Schule im ländlichen Chikwawa-Distrikt zu unterrichten, brauche er dringend Hilfe, fordert die Civil Society Coalition. Beim
Vergleich ganzer Distrikte fällt der Phalombe-Distrikt zu Füßen des Mulanje-Bergmassivs im Südosten mit dem größten Bedarf auf: Hier unterrichtet ein Lehrer im Durchschnitt rund 120 Schüler. In der Stadt Zomba sind
es hingegen nur 40. In den meisten der über 5.000 Grundschulen auf dem
Land unterrichtet ein Lehrer mehr als 60 Schüler pro Klasse. Diese Zahl
soll ab 2012 die Obergrenze sein. Dagegen liegen von den 210 Schulen in
den Städten bereits 82 Prozent unter dieser Marke. Zum Vergleich: In Nordrhein-Westfalen unterrichtet ein Lehrer im Durchschnitt nur 23 Grundschüler pro Klasse.
Um Lehrer aufs Land und in unterentwickelte Gebiete zu locken, schlug
die Weltbank schon 2004 finanzielle Anreize vor: Diesen Lehrern müssten
zum Beispiel Boni geboten werden für die Arbeit an unattraktiven Standorten sowie freie Unterkunft und Fahrtkostenerstattung, um auch mal in die
nächstgelegene Stadt zu kommen. Allerdings sollte ein Lehrer solche Zulagen nur solange erhalten, wie er auch tatsächlich an dem unattraktiveren
Standort arbeitet. Solche Anreize finden Felina Chikopa und Matilda Manda sehr gut: „Sie sollten auch mehr Lehrerhäuser bauen und die Gehälter
anheben.“
Eine Gehaltserhöhung um 20 Prozent für die Staatsbediensteten – und damit auch für die Lehrer – haben die Regierung von Präsident Bingu wa Mutharika und das Parlament mit dem Haushalt 2007/08 verabschiedet. Nach
Angaben der Civil Society Coalition verdienten die Lehrer bisher je nach
Gehaltsstufe zwischen 7.700 und 30.100 Malawi Kwacha – umgerechnet
zwischen 38 und 150 Euro im Monat. Andere Projekte des Grundschulbereichs warten allerdings noch auf das nötige Geld – schon seit langem.
5. Der Kampf gegen Aids – Engagement vor allem an der Basis
Mehr Engagement der Regierung fordert Civil Society Coalition-Koordinator Limbani Nsapato auch im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit Aids. Das hatte ja schon die Regierung Muluzi 2001 geplant. In einem
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Zeitungsartikel schreibt Nsapato, mindestens 1.200 HIV-positiv getestete Lehrer hätten ihre Krankheit gegenüber dem Ministerium offen gelegt.
„Aber diese erhalten nicht die Unterstützung die sie verdienen.“ Die Weltbank geht davon aus, dass jährlich rund 6 Prozent der Lehrer ausfallen, zur
Hälfte durch Todesfälle, meist als Folge von Aids.
HIV-infizierte Lehrer-Kollegen will Virginia Chavula auf keinen Fall aufgeben. Die Leiterin des Lilongwe Teacher Training Colleges tritt vielmehr
für sie ein: „Wir als College und Gemeinde wollen ihnen zeigen, dass wir sie
unterstützen, und sie ermutigen, weiter zu leben“, sagt sie. „Sie mögen zwar
positiv sein, aber sie können helfen, eine Aids-freie Gesellschaft zu schaffen.“ Aus diesem Grund ermutigt sie die Studenten an ihrer Schule, sich auf
den HI-Virus testen zu lassen, zum Beispiel bei der landesweiten jährlichen
Aids-Test- und Beratungswoche. Die Regierung wollte mit dieser Aktion
2007 rund 130.000 Menschen erreichen. Die Studenten des TTC konnten
sich am benachbarten Krankenhaus testen lassen. Neben den Hospitälern
des Landes standen den Menschen auch mobile Test-Stationen in Bussen
zur Verfügung.
Die Leiterin des TTC hofft, dass von den HIV-positiv Getesteten mehr an
die Öffentlichkeit gehen, damit die Stigmatisierung ein Ende hat. Virginia
Chavula wünscht sich außerdem, dass ihre Studenten nach der Ausbildung
an ihren späteren Schulen einen guten Einfluss auf Kollegen und Schüler
haben werden.
Anti-Aids-Clubs in Dörfern und Schulen
Schüler vor Aids warnen will auch die 50-jährige Enetiya Chinyamunyama
aus dem Dorf Kapesi im Gebiet der Traditionellen Autorität Kachere bei
Dedza: Die eigene Lebensgeschichte soll den Kindern und Jugendlichen
als abschreckendes Beispiel dienen. Sie selbst wurde von ihrem 67-jährigen
Ehemann Gunya Mlangeni infiziert. Dabei wusste der bereits, dass er HIVpositiv ist, als sie 2003 heirateten. „Ich war ein Frauenheld“, gibt er unumwunden zu: Es ist seine zweite Ehe, in der ersten ging er fremd und steckte
sich mit dem HI-Virus an, dann infizierte er, ohne es zu ahnen, seine erste
Frau. 2002 ließ sich Gunya Mlangeni testen – trotzdem steckte er danach
auch seine zweite Frau an. Doch die Krankheit hält das Paar noch nicht davon ab, zu arbeiten: Sie bewirtschaften einen kleinen Bauernhof. Auch für
ihre Kinder können sie noch sorgen. Drei ihrer insgesamt acht Kinder besuchen noch die Grundschule: Eine Tochter geht in die achte, ein Sohn in die
vierte und einer in die erste Klasse.
Gemeinsam sind Enetiya Chinyamunyama und Gunya Mlangeni dem Anti-Aids-Club des Dorfes Kapesi beigetreten. Die Mitglieder haben es sich
zur Aufgabe gemacht, die Menschen über die Gefahren von Aids aufzu-
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klären – auch an den Schulen der Umgebung. „Wir wollen in den Schulen
zu den Kindern über die Gefahren von Aids sprechen“, sagt Enetiya Chinyamunyama. Ihr eigenes Schicksal mache den Kindern vielleicht deutlich,
dass Aids eine reale Gefahr ist und wie leicht sie sich anstecken können. Die
Club-Mitglieder wollen den Schülern erklären, wie sie sich schützen können
und welche Gefahr die Krankheit für die Dorfgemeinschaft und ihre Entwicklung darstellt. „Wir haben keine Angst vor dem Tod“, sagen sie, „und
wir haben keine Angst über unsere Krankheit zu sprechen.“ Das ist nicht
selbstverständlich.
Für viele Malawier ist Aids noch immer ein Tabu-Thema, obwohl die National Aids Commission Malawis die landesweite Verbreitung auf insgesamt
rund 14 Prozent der Bevölkerung schätzt. Malaria und Aids haben vielen
Kindern bereits die Eltern geraubt: 2006 gingen rund 46.500 Halbwaisen
zur Grundschule, weitere 16.100 Schüler waren Vollwaisen. Rund 12 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren tragen selbst das
HI-Virus in sich, schätzt Unicef. Nur ein Bruchteil erhält medizinische Hilfe, die ARVs – teure antiretrovirale Medikamente, die helfen, den Gesundheitszustand der Infizierten zu verbessern und ihr Leben zu verlängern. Die
Mehrheit der infizierten Kinder werde schon während der Schwangerschaft
von ihren Müttern angesteckt. Ohne eine aggressive Kampagne gegen diese Mutter-Kind-Ansteckung würden jedes Jahr rund 30.000 infizierte Kinder geboren.
Und so gehören der Anti-Aids-Gruppe im Dorf Kapesi neben den infizierten Erwachsenen auch fünfzehn Kinder an. Sieben von ihnen sind jedoch HIV-negativ, die 17-jährige Takondwa Gewaa ist eine von ihnen. Die
Schülerin der achten Grundschulklasse ist dem Kapesi-Anti-Aids-Club beigetreten, um zu helfen. Sie bezweifelt, dass im Unterricht genug aufgeklärt
wird: „Die Schüler glauben nicht, dass Aids tatsächlich unter uns ist“, sagt
sie. „Sie denken, es wird mich schon nicht treffen, und sind nicht vorsichtig genug.“
Anti-Aids-Clubs wie den im Dorf Kapesi gibt es auch direkt in den Schulen: Sie werden „Edzi Toto“ (Aids nicht für mich) genannt. Ihre Zahl ist laut
Unicef in 2006 auf 4.335 gestiegen. Rund 150.000 Kinder und Jugendliche
würden von diesen Gruppen erreicht, die auch über die Folgen bestimmter
kultureller Praktiken aufklären wollen: Vor allem für Männer sei dabei Sex
wichtig, stellen Unesco und UNAids fest: Denn die Haltung sei weit verbreitet, dass ein Mann ohne Geschlechtsverkehr kein richtiger Mann sei. Neben
den Initiationsriten gebe es auch Todesriten, bei denen die Witwe Sex hat,
als reinigende Zeremonie vor und nach der Bestattung des Ehemannes. Außerdem komme es vor, dass der Witwe aller Besitz abgenommen wird und
sie sich als Prostituierte über Wasser halten muss. Bei der „Witwen-Über-
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Sven Aretz
Malawi
nahme“ nimmt der Bruder des verstorbenen Ehemannes dessen Frau in seine Familie auf. Auch Polygamie ist in einigen Regionen verbreitet. Manche
Gemeinden glauben laut Unesco und UNAids, dass Aids das Ergebnis von
Magie ist und von einem traditionellen Heiler, zum Beispiel mit Kräutern,
kuriert werden kann. Während dieser Behandlung setzt der Patient andere
Menschen weiterhin dem Ansteckungsrisiko aus. All diese Praktiken fördern die Verbreitung von Aids, vor allem, wenn die Menschen sich nicht auf
den HI-Virus testen lassen.
Um ihre Aufklärungsarbeit zu unterstützen, versorgen Unicef, aber auch
regionale NGOs, die Anti-Aids-Gruppen mit Informationsmaterial. Die
Clubs veranstalten Diskussionen, Theater-Aufführungen, Quiz- und Gedichtveranstaltungen zum Thema Aids. Doch obwohl die Aufklärungskampagnen zunehmen und Aids mittlerweile an allen Schulen in den Klassen 1
bis 4 Unterrichtsthema ist, weiß über die Hälfte der Jugendlichen nicht ausreichend über die Krankheit Bescheid. Nur knapp 40 Prozent der Mädchen
und 60 Prozent der Jungen benutzten Kondome. Wie in den anderen Fächern
entscheiden auch hier die Rahmenbedingungen an den Schulen wesentlich
mit über Lernerfolg oder -misserfolg.
6. Infrastruktur: Wer lernt schon gern ohne Bücher in einer Ruine?
Der zwölfjährige Mavudo Andwatch besitzt keinen Regenschirm, seine Klassenkameraden an der Chembera-Grundschule auch nicht. Hätten
sie welche, könnte das dem Bildungsministerium helfen, mehr Schüler mit
den nötigen Schulbüchern auszustatten und so die Lernbedingungen an den
Schulen zu verbessern. Denn: „Viele Kinder halten sich die Bücher in der
Regenzeit als Schirm über den Kopf“, erklärt Jere McPherson von der Hilfsorganisation Canadian International Development Agency (Cida), die seit
den frühen 90er Jahren den größten Teil des Schulbuch-Nachschubs in Malawi finanziert. Und weil es in den Schulen und bei den meisten Kindern zu
Hause keine guten Lagermöglichkeiten gibt, müssen die Bücher etwa alle
drei Jahre ersetzt werden. Dabei haben die meisten Schulen ohnehin nicht
genug Material: Laut Statistik des Bildungsministeriums mussten sich 2006
im Englisch- und Chichewa-Unterricht der ersten und zweiten Klasse zwei
Schüler ein Textbuch teilen. In Klasse 3 kamen in Englisch vier und in Chichewa sechs Schüler auf jedes Buch. Im Fach „Life Skills“ gab es in Klasse
7 sogar nur ein Buch für 112 Schüler.
Wenn Lieferungen dann auch noch stocken, wird Unmut und Protest laut:
Hefte und Textbücher, die die Schulen eigentlich schon Anfang 2007 hätten
benutzen sollen, waren noch im Juni nicht ausgeliefert, sondern stapelten
38
Malawi
Sven Aretz
sich im Lager. Das prangerte die Wochenzeitung Malawi News am 7. Juli
2007 an. Das Bildungsministerium habe versagt. Dr. Augustine Kamlongera, Direktor der Planungsabteilung im Bildungsministerium, gibt in dem
Bericht zu: „Wir hätten das Material bereits im Januar ausgeliefert haben
sollen.“ Es habe in seiner Behörde Ineffizienz in der Beschaffungsabteilung
gegeben, das habe man jedoch geändert, indem einige Beamte ausgetauscht
worden seien. Zudem habe es Kapazitätsengpässe bei einigen Produzenten
gegeben, nachdem sie bereits beauftragt worden waren.
Doch dies ist nicht das erste Mal, dass solche Probleme auftraten: Im
Schuljahr 2004/05 habe die Regierung überhaupt kein neues Lehr- und
Lernmaterial gekauft, kritisiert die Civil Society Coalition, sondern mit dem
Geld Schulden der Versorgungsabteilung des Bildungsministeriums bezahlt.
Die Organisation empfiehlt deswegen, mit regelmäßigen Buchprüfungen sicherzustellen, dass die Abteilung mit dem im Haushalt dafür eingeplanten
Geld auch tatsächlich das benötigte Lehr- und Lernmaterial kauft. Zudem
solle stichprobenartig in Schulen überprüft werde, ob diese das Material
auch erhalten.
2008 sollen tatsächlich alle Schüler die nötigen Bücher bekommen, hoffen die Beamten im Bildungsministerium und die Entwicklungshelfer von
Cida. Damit sei dann eine wichtige Voraussetzung erfüllt, um bessere Lernergebnisse zu erzielen und die Zahl der Sitzenbleiber zu reduzieren. Eine
Voraussetzung, aber nicht alle, denn es fehlen nicht nur Bücher.
Klassenräume ohne Dach und Toiletten ohne Wasser
Im Landwirtschaftsunterricht der Bungwe-Grundschule im Distrikt Lilongwe (ländlich) lösen acht Jungen und Mädchen Übungsaufgaben: „Nenne drei Sorten von Mais“, steht auf der Tafel, und: „Nenne zwei Schädlinge,
die Maispflanzen angreifen.“ Die Antworten schreiben die Schüler in ihre
Hefte – oder auf ein Stück Papier. Doch die Kinder in ihren blauen Schuluniformen arbeiten nicht in einem Klassenzimmer an ihren Aufgaben. Sie hocken vielmehr auf Steinen im Schatten eines Baumes unter freiem Himmel.
Auf dem Schulhof – nur einige Meter entfernt – spielen Kinder, die gerade
keinen Unterricht haben. Jenseits des Schulhofes sitzen in einem Klassenraum sechs Jungen und vier Mädchen auf der Erde – ebenfalls unter blauem Himmel und in der prallen Sonne, denn das Dach fehlt. Der Fußboden
gleicht eher dem Schulhof draußen, bedeckt mit Stroh und Schotter. Die Tafel hängt nicht, sondern lehnt an der Wand. Der Lehrer unterrichtet gerade
Mathematik, seine Hefte unter den Arm geklemmt – ein Pult für ihn fehlt
ebenso, wie die Tische und Stühle für seine Schüler.
Nur zwei Klassenzimmer mit Dach kann Dominic Malamba, Leiter der
Bungwe-Schule, seinen 293 Schülern und sechs Lehrern bieten – ohne Ti-
39
Sven Aretz
Malawi
sche, ohne Stühle. Deshalb unterrichten die Lehrer weiterhin in den beiden
Klassenzimmern, deren Dach eingestürzt ist, und unter den Bäumen. In der
Trockenzeit ist dies kein Problem. Doch in der Regenzeit von November bis
März fallen viele Unterrichtsstunden aus. Es gibt auch keine ausreichende
sanitäre Versorgung. Die Bungwe-Schule hat noch nicht einmal ein Bohrloch für die Frischwasserversorgung.
Diese Schule ist nicht die einzige, die mit unzureichender Infrastruktur
kämpft: Die Klassenräume der Mthumba-Schule im Balaka-Distrikt sind
zum Teil schon über 40 Jahre alt und einige von ihnen baufällig: „Die Schule wurde 1947 von Missionaren gegründet. Einige Gebäude wurden seither
nicht renoviert und neue wurden auch nicht gebaut“, klagt Schulleiter Ernest
Matope. Die Wände waren einmal weiß gestrichen, sehen jetzt jedoch grau
und fleckig aus. Statt durch Glasscheiben fällt nur durch gemauerte Fenstergitter etwas Licht in die Räume. Die Schüler lernen im Halbdunkel. Wie in
den meisten Schulen gibt es kein elektrisches Licht. Nur in einigen wenigen
Klassenzimmern stehen Stühle und Tische, meist sitzen die Schüler auf dem
Fußboden. Auch die Malikha-Grundschule im Lilongwe-Distrikt nutzt ein
Gebäude noch als Klassenraum, bei dem das Dach bereits eingestürzt ist.
Und die Lilongwe-Girls-Primary-School, die katholische Mädchengrundschule in der Hauptstadt, verfügt über nur vier Toiletten für 503 Schülerinnen. Daneben gibt es nur noch eine weitere Toilette für die 27 Lehrer.
Die Zeitung Malawi News mahnte im Juli 2007 an, dass noch immer
Schulen, Straßen und Lehrerunterkünfte gebaut werden müssten, die schon
2006 im Haushalt eingeplant worden waren. In dem Jahr mussten sich im
Durchschnitt 107 Schüler einen Klassenraum teilen. Laut Statistik des malawischen Bildungsministeriums erreichte der Distrikt Lilongwe (ländlich
Ost) mit 140 Schülern pro Klassenraum den Spitzenplatz. Die angestrebte
Obergrenze von rund 55 Schülern pro Klassenraum erreichten dagegen nur
zwei Distrikte: Ntchisi in der Central Region und Likoma im Norden. Im
dünner besiedelten Norden Malawis ist das Raumproblem tendenziell geringer als im dichter besiedelten Süden. Neben Klassenräumen fehlen in den
meisten Schulen aber auch Lehrerzimmer sowie Lagerräume für Lehr- und
Lernmaterialien – und vor allem Unterkünfte.
Lehrer Ronald Malimusi wohnt in einem Lehmziegelhaus mit Wellblechdach, kaum größer als 30 Quadratmeter, am Rande der Nsiyaludzu-Grundschule im Ntcheu-Distrikt. Zwei Zimmer hat sein Heim. Die Toilette ist in
einem aus Lehmziegeln errichteten Häuschen auf dem Hof. In einem Schuppen lagern die Lebensmittel, wie das Maismehl. Malimusis Frau kocht meist
auf dem Hof. Sie wäscht und trocknet dort auch die Wäsche.
Einige Kollegen wohnen gleich nebenan in ähnlichen Häusern. Doch zu
viele Lehrer wohnen nicht in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Im Distrikt Li-
40
Malawi
Sven Aretz
longwe (ländlich West) zum Beispiel lebt weniger als die Hälfte der Lehrer in
einem eigenen Haus: Noch 2005 gab es gerade mal 1.014 Häuser für 2.750
Lehrer. Viele müssen Wege zur Arbeit von bis zu zehn Kilometern Länge zurücklegen. Dies ist zu Fuß ein weiter Weg und in der Regenzeit unzumutbar,
so dass gerade in dieser Zeit von der Schule entfernt wohnende Lehrer nicht
regelmäßig zum Unterricht erscheinen, und Stunden ausfallen.
An der Chembera-Grundschule im Balaka-Distrikt kann der zwölfjährige Mavudo Andwatch bei seiner Lehrerin Rennie Masauli immerhin in einem neuen Gebäude Englisch lernen. Schulleiter Sydney Masauli ist stolz
darauf, denn es ist auf Initiative der Schule und der Gemeinde entstanden:
Das School Management Committee, also das Schulverwaltungskomitee,
trat an das Village Development Committee heran, und die Mitglieder dieses Dorf-Entwicklungsgremiums beantragten dann das nötige Geld bei der
Distrikt-Versammlung. Nach etwa zwei Monaten kamen das O.K. und das
Geld: rund 500.000 Malawi Kwacha. Die Gemeinde hat wesentlich zu dieser Entscheidung beigetragen, indem sie Lehmziegel und Sand zu dem Neubau beisteuerte. Anderthalb Monate betrug die Bauzeit.
Wenn ein Distrikt ein solches Bauvorhaben fördern soll, muss die Gemeinde an dem Projekt mitwirken. Eigentlich kommen die Kinder seit 1994
in den Genuss der Free Primary Education, der freien Grundschulbildung.
Doch indem die Eltern und die Gemeinde Lehmziegel und Sand für den Bau
beitragen, werde das neue Gebäude ihr Eigentum, erklärt ein Entwicklungshelfer, denn sie haben beim Bau mitgewirkt. Sonst würden sie sich nicht dafür verantwortlich fühlen, es in gutem Zustand zu erhalten.
Um die Gemeinden zu ermutigen, selbst aktiv zu werden, drängt die Civil
Society Coalition darauf, dass die Regierung Infrastruktur-Entwicklungsvorhaben stärker finanziert. Denn nicht alle School Management Committees (SMC) sind so aktiv und kompetent, wie das der Chembera-Schule:
Schließlich sind die Mitglieder keine Profis. Vielmehr wählen die Eltern sie
für drei Jahre aus ihren eigenen Reihen.
7. Personalmangel im Ministerium und die Dezentralisierung des
Grundschulbereiches
Es ist eine Wahl mit einem für Malawi ungewöhnlichen Ausgang. Und
Kandidaten melden sich nur zögerlich: Die meisten der über siebzig Väter und Mütter, die auf dem Schulhof der Lilongwe Mädchen-Grundschule unter blauem Himmel auf Plastikstühlen oder dem Boden sitzen, scheinen nicht erpicht zu sein auf einen Job im School Management Committee.
Wenn ein Vorgeschlagener dann endlich „ja“ sagt, jubelt die Menge. Unter
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Sven Aretz
Malawi
einem Baum hat Schulleiterin Hilda Kundhi eine Tafel aufgestellt: Darauf
notiert ein Helfer die Namen der Kandidaten und wartet auf die Abstimmungsergebnisse. Die versammelten Eltern wählen per Handzeichen.
Sie bestimmen das neue Schulverwaltungskomitee (SMC) für die beiden katholischen Grundschulen in Lilongwe. Das SMC ist für die Infrastruktur verantwortlich, also den Zustand der Gebäude und die Beschaffung
von Lehr- und Lernmaterial. Es wird aus Eltern gebildet und arbeitet mit
Vertretern der Gemeinde, des Dorfchefs sowie dem Schulleiter zusammen.
Und noch ein zweites Gremium unterstützt die Schulleitung: In der Parents
Teacher Association (PTA) wachen Eltern und Lehrer gemeinsam über die
Leistungen der Schüler und Lehrer.
Das Ungewöhnliche am Wahlergebnis in Lilongwe: Von den zehn neuen
SMC-Mitgliedern sind sieben Frauen. „Es kommt in Malawi nicht oft vor,
dass mehr Frauen als Männer gewählt werden“, sagt die neue SMC-Vorsitzende, die 35-jährige Agness Mtuwa, „aber es ist gut für unsere Gesellschaft.“ Agness Mtuwa fühlt sich noch etwas unsicher in ihrer neuen Rolle
vor ihren Wählern, doch sie nimmt das Votum an. Sie kennt ihre neue Aufgabe, schließlich ist die Witwe und Mutter dreier Kinder selbst Lehrerin für
Englisch und Chichewa an einer weiterführenden Schule.
Lokale Autonomie und die Sprachlosigkeit in der Schulverwaltung
Die School Management Committees übernehmen eine wichtige Rolle,
seit 1998 das Gesetz zur Dezentralisierung den Schulen mehr Autonomie
gegeben hat. Doch nicht immer sind sie erfolgreich, weiß Sydney Masauli,
der Schulleiter der Chembera-Grundschule: Nur zwei seiner acht Klassen
sind möbliert. „Seit drei Jahren bitten wir um mehr Pulte und Stühle, doch
ohne Erfolg.“ Die SMCs arbeiten auch nicht mit einheitlicher Qualität: „Ihre
Leistung ist von Schule zu Schule verschieden“, sagt Catherine Chirwa von
Unicef Malawi. „Sie hängt von der Ausbildung ab, die die Mitglieder erhalten. Es gibt Komitees, die nie vernünftig auf ihre Aufgaben vorbereitet
wurden.“ Die Mitglieder der SMCs und PTAs sind darauf angewiesen, dass
Nichtregierungsorganisationen, wie zum Beispiel Creccom, sie für ihre Tätigkeit ausbilden. Für solche Trainingsprogramme habe das Bildungsministerium allerdings noch keine übergeordnete Strategie entwickelt, stellt die
Studie des Hamburgischen Welt-WirtschaftsInstitutes (HWWI) zur Grundbildung in Malawi von 2006 fest. Vielmehr arbeiteten die diversen beteiligten NGOs noch immer mit unterschiedlichen Programmen, deren Inhalte
nicht unbedingt übereinstimmen. Einen Überblick darüber habe das Ministerium nicht.
Creccom bildete 2003 auch das SMC und die PTA der Chembera-Grundschule aus. „Aber dieses Training allein war nicht ausreichend“, sagt Schul-
42
Malawi
Sven Aretz
leiter Sydney Masauli. Die Mitglieder müssen auch rechtzeitig über neue
Entwicklungen informiert werden. Doch ausgerechnet beim neuen Lehrplan
sei dies noch nicht geschehen, klagt Masauli. Die Kommunikation zwischen
den Verwaltungsebenen des Bildungssektors funktioniert nicht. Das kritisiert auch die Civil Society Coalition am Beispiel von Grundschülerinnen,
die schwanger werden. Sie müssen die Schule verlassen. Doch inzwischen
dürfen sie nach einem Jahr wieder zurückkommen und ihre Schulzeit fortsetzen. Diese Änderung im Umgang mit den jungen Müttern habe die Regierung jedoch nicht ausreichend schnell gegenüber den Schulleitern publik
gemacht. Die Folge: Etliche betroffene Schülerinnen wurden zunächst nicht
wieder zum Unterricht zugelassen. Die CSCQBE empfiehlt der Regierung,
eine klare Strategie zu entwickeln, um den Schulleitern und Komitee-Mitgliedern sowie ihren übergeordneten Stellen die nötigen Informationen zu
vermitteln. Doch auch auf den nächst höheren Schulverwaltungsebenen und
sogar an der Spitze ist Sand im Getriebe.
Unterbesetzung, mangelnde Kompetenz und hohe Fluktuation an
der Spitze
Das Bildungsministerium selbst wird als zu passiv und ineffizient kritisiert: Laut HWWI-Studie setzt es nicht ausreichend Prioritäten und verfolgt nicht konsequent genug eigene Strategien: Die Autoren zitieren einen
Distrikt Education Manager aus Zomba (ländlich): „Wenn eine Nichtregierungsorganisation kommt und will eine Schule für Hörbehinderte bauen und
bringt dafür das Geld mit, dann lassen wir sie natürlich, auch wenn das gerade nicht unseren Prioritäten entspricht.“
Doch um seine Aufgaben bewältigen zu können, fehlen dem Ministerium rund 40 Prozent des benötigten Personals. Planungsdirektor Dr. Augustine Kamlongera führt diese Unterbesetzung auf einen allgemeinen Einstellungsstopp der Regierung zurück. „Qualifizierte Leute sind zu bekommen“,
ist er sicher. Doch die Erlaubnis, wieder einzustellen, habe das Bildungsministerium erst vor kurzem bekommen. „Das braucht jetzt natürlich Zeit.“
Selbst die oberste Führungsetage des Ministeriums ist nach Ansicht der
Entwicklungshelfer von den Schwierigkeiten betroffen: Der häufige Wechsel des Bildungsministers und seines Staatssekretärs mache die Arbeit für
die Beamten des Ministeriums und für die kooperierenden NGOs schwierig.
Der Minister wurde in den vergangenen fünf Jahren fünf Mal, der Staatssekretär gar neun Mal ausgetauscht. Derzeit ist Präsident Bingu wa Mutharika
zugleich auch Bildungsminister. „Man kann einen Sektor nicht entwickeln,
wenn das Führungspersonal so oft wechselt“, lautet die Kritik. „Dafür braucht
man Stabilität.“ Allerdings erhoffen sich einige externe Experten von internen Reorganisationen Verbesserungen: „Positive Tendenzen sind erkennbar.“
43
Sven Aretz
Malawi
Trotz mangelnder Ressourcen arbeitet das Ministerium an einem neuen
umfassenden Plan für die Entwicklung des Bildungssektors, dem National
Education Sector Plan, der die Projekte und Beiträge aller Beteiligten besser
koordinieren soll. Denn von allen Schwierigkeiten kann das Bildungsministerium vor allem die Finanz- und Haushaltsprobleme nur in Kooperation mit
den internationalen Hilfsorganisation und insbesondere den Geberländern
lösen. Wie soll ein Ministerium auch erfolgreich arbeiten, ohne die volle
Kontrolle über seinen Haushalt zu haben?
Der Bildungsetat – Ministerium soll endlich die volle Kontrolle bekommen
In den vergangenen zwanzig Jahren sei die Finanzierung der Bildung
nicht befriedigend gewesen, kritisiert Civil Society Coalition-Koordinator
Limbani Nsapato. „Die Zuwendungen aus dem Haushalt für die Bildung
sind entweder zurückgegangen oder haben stagniert und entsprachen nicht
den internationalen Anforderungen, wenigstens 6 Prozent des Bruttosozialproduktes und ein Minimum von 26 Prozent des nationalen Haushaltes für
den Bildungssektor zu sichern. Außerdem hängt die Regierung stark von
ausländischer Hilfe ab.“
Die Hilfe aus dem Ausland brachte ein Problem mit sich, das in naher
Zukunft gelöst werden soll: Einen großen Teil ihres Geldes investieren internationale Geber am Haushalt des Bildungsministeriums vorbei direkt in
Entwicklungsprojekte. Diese Summen fließen nicht in die Haushaltsplanungen und -kontrollen ein. Dadurch sind die Beamten des Bildungsministeriums, aber auch die Geber, Hilfsorganisationen und alle Beobachter des
Sektors nur bedingt in der Lage, Aussagen über die Entwicklung des Grundbildungsbudgets zu machen. Die Beamten des Ministeriums verfügen nicht
über alle notwendigen Daten über das vorhandene Geld und die bereits geförderten Projekte und können nur unzureichend planen.
Doch wenn die Regierung und die internationalen Geber die Kapazitäten
des Bildungsbereiches ausbauen und eine umfassende Strategie entwickeln
wollen, müssen sie ihre Zusammenarbeit besser koordinieren. Das forderte
die Weltbank schon 2004, und darüber sind sich mittlerweile auch das Bildungsministerium und alle großen Geber einig. Deshalb wird derzeit ein
Joint Financial Agreement erarbeitet, ein gemeinsames Finanzabkommen:
Das Geld aus Großbritannien, Deutschland, Kanada und den USA soll nicht
mehr direkt in Entwicklungsprojekte investiert werden, sondern in einen gemeinsamen Topf fließen, der unter Kontrolle des Bildungsministeriums stehen wird.
Das Joint Financial Agreement soll Teil des neuen National Education
Sector Plans werden. „Es ist ein ambitioniertes Projekt“, sagt Ramsay Sosola von der US-amerikanischen Entwicklungshilfeorganisation USAID, „aber
44
Malawi
Sven Aretz
es muss verwirklicht werden, denn der bisherige Projekt-Ansatz führt zu
Überlappungen und Intransparenz.“ Durch den sektorweiten Ansatz werde
das Ministerium endlich die Gesamtübersicht bekommen und besser planen
können. „Die Anstrengungen werden koordiniert – verschiedene Aktivitäten, aber gemeinsame Ergebnisse.“ Das ist dringend nötig, damit ärmere Familien entlastet werden können.
Denn die Regierung ist mitverantwortlich dafür, dass ärmere Kinder die
Schule abbrechen und mit einem eigenen Job etwas zum Lebensunterhalt
der Familie beitragen müssen. Schließlich müssen viele Eltern trotz der Abschaffung der Schulgebühren weiterhin für Schulmaterial wie Hefte und
Stifte bezahlen: „Trotz niedriger Einkommen tragen die malawischen Privathaushalte auch weiterhin einen beträchtlichen Teil der laufenden und investiven Kosten der Grundschulbildung“, stellte die Weltbank 2004 fest. 83
Prozent aller Eltern von Grundschülern hätten 2001 für Schulmaterial bezahlt: Textbücher und Uniformen habe die Mehrheit der betroffenen Familien finanziert, immer noch die Hälfte leistete Beiträge zum Schulentwicklungsfonds und damit zur Erhaltung der Schulgebäude. Dabei stellte die
Weltbank fest, dass der Durchschnittsbeitrag einer Familie genauso hoch
war wie die öffentlichen Ausgaben pro Schüler. Außerdem bezahlten die
unteren Einkommensgruppen einen höheren Anteil als die oberen. „Dieses
Ergebnis steht im Widerspruch mit dem Prinzip der Ausgaben zugunsten
der Armen“, kritisiert die Weltbank, denn das solle eigentlich sicherstellen,
„dass der größte Teil der Subventionen den ärmsten Bevölkerungsgruppen
zu Gute kommt.“
8. Die Reform von 1994 – wirtschaftlich falsch aber politisch richtig
Vertauschte Rollen offenbart die Zwischenbilanz über die Entwicklung
des Grundschulbereiches in Malawi auf dem Weg zum Millenium-Entwicklungsziel 2015 „Bildung für alle“: Die Civil Society Coalition, die den politisch Verantwortlichen auf die Finger sieht, gibt die Hoffnung nicht auf, das
Ziel zu erreichen. Die Regierung hingegen gibt sich zur Halbzeit fast schon
geschlagen.
Verstärkte Kooperation zwischen Regierung und Gebern forderte Civil
Society Coalition-Koordinator Limbani Nsapato anlässlich des Nationalen
Tages der Bildung am 19. Juli 2007 in den beiden nationalen Tageszeitungen
The Nation und Daily Times: „Blicken wir in die Zukunft, kann man dem
Aufruf der Regierung nur zustimmen, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten sollten, um den Bildungssektor zu managen und Malawis Chancen zu
verbessern, die ‚Bildung für alle‘-Ziele und Millenium-Entwicklungsziele
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Sven Aretz
Malawi
bis 2015 zu erreichen.“ Als Erfolg wertet Nsapato den verbreiterten Zugang
zu den Grundschulen, außerdem die verstärkten Versuche, die Bildungsqualität zu verbessern und die Bemühungen, den Bereich besser zu verwalten.
Jedoch fordert er auch, dass die Regierung den neuen National Education Sector Plan schnellstens fertig stellen müsse, um den rechtlichen und
politischen Rahmen für alle Beteiligten festzulegen. Sie solle den ernsthaften Willen zeigen, qualitativ hochwertige Bildung bereitzustellen. „Und sie
muss die Führung dabei übernehmen, den Herausforderungen zu begegnen,
die dem Zugang und der Qualität auf allen Ebenen im Weg stehen.“
Wesentlich pessimistischer klingt dagegen die Zwischenbilanz der Regierung: „Malawi wird das Ziel der ‚Bildung für alle‘ bis 2015 nicht erreichen“, lautet ihr Fazit. Es sei zwar möglich, dass bis dahin genauso viele
Mädchen wie Jungen in den Grundschulen unterrichtet werden. Doch selbst
wenn das Ministerium seine internen Probleme in den Griff bekommt, werde die Netto-Anmeldequote dann nicht die angestrebten 100 sondern nur 83
Prozent erreichen. Die Zahl der Schüler, die ihre Schullaufbahn – ohne sitzen zu bleiben – von Klasse 1 bis 5 erfolgreich verfolgen, liege dann nur bei
87 Prozent. Auch die Alphabetisierung unter Jugendlichen erreiche bis 2015
mit 90 Prozent nicht das gesetzte Ziel von 100 Prozent, zumal auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch beseitigt werden müssen. Das
Land werde auch die extreme Armut nicht rechtzeitig überwinden können.
Besser schätzt die Regierung die Erfolgsaussichten im Kampf gegen HIV/
Aids ein.
Gemessen an den Zielen ist die Bilanz enttäuschend, doch einige der internationalen Entwicklungshelfer halten es angesichts der großen Schwierigkeiten im Bildungssektor Malawis nach der Reform von 1994 schon für
einen großen Erfolg, dass der Schulbetrieb überhaupt im gegenwärtigen
Ausmaß läuft. Ein Indiz dafür sind auch die Festlichkeiten zum Nationalen
Tag der Bildung, wie auf dem Sportplatz der Malikha-Grundschule:
Das Bongo-Trio trommelt einen flotten Rhythmus inmitten eines Kreises
tanzender Schüler in blauen Hemden und Kleidern – Staub wirbelt auf unter
ihren im Takt stampfenden Füßen. Die Zuschauer, mehrere hundert Kinder
und Erwachsene, klatschen im Takt mit und jubeln begeistert. Einige Kinder kauen genüsslich das weiche süße Mark des Zuckerrohrs, andere laufen zum Rand des Platzes, wo Straßenhändler ihre Waren feilbieten: neben
Zuckerrohr auch Orangen, Wasser und Kekse. Auf der gegenüber liegenden Seite des Sportplatzes steigt aus der Ruine eines Lehmziegelbaus ohne
Dach Rauch auf. Hier kochen einige Frauen des Dorfes schon seit dem frühen Morgen auf vier Feuerstellen etliche Töpfe Nsima, Fleisch und Gemüse.
Und auf einem großen Transparent in der Mitte des Sportplatzes prangt das
diesjährige Motto des Festtages: „Bildung – eine Verantwortung für alle“.
46
Malawi
Sven Aretz
Schüler, Lehrer und Eltern sind an diesem Tag zusammen gekommen und
viele Mitglieder der Gemeinden, der School Management Committees und
Parents Teacher Associations aller Schulen der Umgebung. Die MalikhaGrundschule hat das Fest ausgerichtet. Einige Ehrengäste sitzen in einer mit
Stroh überdachten Loge und halten abwechselnd mit einem Megaphon Reden. Schüler singen und tanzen, und einige Lehrer führen ein kleines Theaterstück auf. Nichts deutet darauf hin, dass die Menschen resigniert haben.
Wirtschaftlich war die Abschaffung der Schulgebühren vielleicht eine falsche Entscheidung – politisch aber war sie richtig.
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Mathias Bölinger
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in China
vom 19. August bis 1. Oktober 2007
49
China
Mathias Bölinger
Die Baustellen-Guerilla
Wanderarbeiter in Chinas Städten
Von Mathias Bölinger
China, vom 19. August bis 1. Oktober 2007
51
China
Mathias Bölinger
Inhalt
1. Zur Person
54
2. Guerilla-Arbeiter
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3. In China gibt es keinen einzigen anständigen Beamten.
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4. Das Thema ist zu sensibel.
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5. Unsere Lehrer haben alle Abitur.
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6. Wir Chinesen sind doch ein Volk mit Herz!
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7. Das Tor, das aus dem Dorf herausführt
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8. Ich will eine, die mich liebt.
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9. Viel größer und reicher als bei uns
66
10. Die Regeln sind jetzt sehr streng.
68
11. Mehr Verantwortung bei dem was Du sagst!
69
12. Entlasst den korrupten Leiter des Arbeitsbüros!
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13. Der Druck hat nachgelassen.
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14. Es ist schließlich Unrecht!
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15. Hier sind überall Spitzel.
75
16. Geschlagen wirst Du von denen, die Du nicht kennst.
76
53
Mathias Bölinger
China
1. Zur Person
Geboren 1976 und aufgewachsen in Frankfurt am Main, später Zivildienst
in Moskau in einem Heim für behinderte Kinder und bei einer mobilen Altenhilfe. Studierte Sinologie und Slawistik in Wien, Shanghai und Köln und
tingelte als Praktikant durch Korrespondentenbüros und Redaktionen, unter
anderem der Frankfurter Rundschau und der Neuen Zürcher Zeitung und war
Volontär bei der Schweizer Kulturzeitschrift „du“ und bei der Deutschen Welle. Jetzt freier Mitarbeiter bei der Deutschen Welle und Autor für Hörfunk und
Print mit einem Faible für Osteuropa und Asien. Lebt in Köln und Berlin.
2. Guerilla-Arbeiter
„Außerdem gibt es noch die ziemlich zahlreichen vagabundierenden Proletarier, das sind Bauern, die ihr Land verloren haben, sowie Handwerker,
die der Möglichkeit beraubt sind, ihrem Beruf nachzugehen. Ihre Existenz ist
unter allen menschlichen Lebensverhältnissen die unsicherste. Die Behandlung dieser Menschen ist eins der schweren Probleme, vor denen China steht.
Zum mutigsten Kampfe fähig, aber zu Zerstörungsaktionen neigend, können
sie, wenn man sie richtig leitet, zu einer revolutionären Kraft werden.“
Mao Zedong: Über die Klassen der chinesischen Gesellschaft, 1926
Beigao. „Mein letzter Job“, sagt der Kleine Chen zögernd, „wie soll ich
das erklären? Wir haben Bosse gesucht. Bosse, die nicht gezahlt haben.“
Wenn der Kleine Chen spricht, dann muss man genau hinhören. Nicht,
weil er so leise spricht, im Gegenteil. Manchmal hat der Kleine Chen so viel
zu erzählen, dass er selbst kaum hinterherkommt. Schnell und laut sprudeln
die Wörter aus ihm heraus.
„Manche von den Chefs, die wir gesucht haben, waren schon von den
Gerichten zum Zahlen verurteilt worden“, erzählt er. „Die meisten zahlen
dann auch, aber manche hauen ab. Und die haben wir dann gesucht. Da war
zum Beispiel einer, ein Landsmann aus der Provinz Anhui, 60.000 Yuan
hat er den Arbeitern geschuldet“ – 6.000 Euro – „Das Gericht hat ihn zum
Zahlen verurteilt und er ist abgehauen. Wir haben sehr lange nach ihm gesucht, haben alle angerufen, von denen wir wissen, dass sie ihn kennen.
Dann haben wir seine Nummer herausgefunden, aber er hat sich immer
verleugnen lassen. Er hat seinen Fahrer geschickt, um auszurichten, dass
er kein Geld hat. Wann immer wir versucht haben, zu ihm durchzudringen,
sind wir an seine Angestellten oder Bekannten geraten. Wir wussten, dass
er in Peking ist, dass er sich hier eine Wohnung gekauft hat, aber wir konn-
54
China
Mathias Bölinger
ten ihn nicht aufspüren. Er lebt dort unter falschem Namen. Bis heute hat
er nicht gezahlt.“
Eigentlich ist der Kleine Chen gar nicht klein. ‚Kleiner‘ ist eine vertrauensvolle Anrede in China. Und Chen heißt er auch nicht. Die Namen der Arbeiter sind hier alle geändert. Vorsichtshalber.
„Den Job als Detektiv habe ich nicht lange gemacht“, sagt er. „Es hat sich
nicht gelohnt. Wir haben für einen Anteil an der ausstehenden Summe gearbeitet. Wenn wir den Boss nicht erwischt haben, haben wir auch nichts eingenommen. Wir haben zu wenige erwischt. Dazu kam das Risiko, dass sich
hinterher einer an Dir rächt.“ Der Kleine Chen ist jetzt wieder auf Jobsuche.
„Ein Freund will eine Handelsfirma aufziehen“, sagt er. „Vielleicht kann ich
da ja einsteigen, die Baustellen sind so ermüdend.“
Im Zimmer des Kleinen Chen steht ein Bett und ein Schrank. Im Hof
sitzen die Nachbarsfrauen zusammen und ratschen. Die Frau des Kleinen
Chen liegt auf dem Bett. „Wir gehen nur kurz rein“, sagt der Kleine Chen.
„Es geht ihr nicht gut. Sie hat gerade eine Abtreibung hinter sich.“ In China
ist das nichts, wofür man sich verstecken müsste. Die Chens haben schon einen Sohn, er lebt bei den Großeltern auf dem Dorf. Die Strafe für ein zweites Kind hätten sie nicht aufbringen können.
„Bei uns zu Hause gibt es Berge und Wasser“, sagt der Kleine Chen. „Und
Armut.“ Die Provinz Anhui ist ein beliebtes Reiseziel für Naturliebhaber.
Das Huangshan-Massiv ist eine der spektakulärsten Bergketten Chinas, beliebtes Motiv klassischer chinesischer Malerei und Lyrik. Touristen kommen in Scharen, um zwischen krummgewachsenen Bergkiefern herumzuklettern und die zerklüfteten Granitformationen zu bestaunen, die sich in
der Wolkendecke verlieren. Die Jungen aber verlassen Anhui. In den Städten
gibt es Stahl und Zement. Und Arbeit.
Bevor der Kleine Chen endgültig von Zuhause weggegangen ist, haben
sie es mit Krebsen versucht. 17 Jahre ist das her. Die Chens waren Bauern,
doch längst warfen die Felder nicht mehr genug ab. Da beschlossen Vater
und Sohn Flusskrebse zu züchten. Sie hoben Wasserbecken aus, setzten die
Krebse hinein, und warteten, bis sich diese vermehrten. Flusskrebse sind
in China eine Delikatesse. Doch das Geschäft lief nicht. Der Kleine Chen,
siebzehn Jahre alt, packte seine Sachen, um sein Glück in der Stadt zu suchen. Shanghai war seine erste Station, die Industriezonen des Südens folgten und irgendwann Peking. „Was ich gearbeitet habe? Alles.“ Ein halbes
Leben lang.
„Heute morgen“, erzählt der Kleine Chen, „war ich in der Stadt. Es gab
ein bisschen Ärger. Auf einer Baustelle haben sie welche von uns angeheuert, aus Anhui, um Kacheln zu verlegen, und dann haben sie noch eine andere Gruppe Arbeiter dazugeholt. Die kamen aus Sichuan in Westchina. Un-
55
Mathias Bölinger
China
seren Leuten zahlt der Bauherr 17 Yuan pro Quadratmeter. Mit den anderen
hat er 16 vereinbart.“ Das gab natürlich Ärger. Da haben sie ihn angerufen zum Vermitteln. „Ich werde oft angerufen, wenn es irgendwo Probleme
gibt“, sagt er stolz. „Weil ich schon so lange hier bin und viele Leute kenne.“
Wenn der kleine Chen draußen unterwegs ist, bleibt er alle naselang stehen,
um jemandem die Hand zu geben.
Beigao liegt kurz hinter dem letzten Pekinger Autobahnring. Früher war
es ein Bauerndorf. Tag für Tag zogen die Dorfleute auf die Felder, züchteten
Getreide, Gemüse und Vieh, verkauften es in der Stadt. Heute vermieten sie
ihre Häuser an die Arbeiter. Felder gibt es in Beigao nicht mehr viele. Ganz
nah ist die Stadt mit ihren Industriegebieten und Autobahnringen herangekrochen. Ein paar hundert Meter weiter rasen auf der Autobahn die Touristen und Geschäftsleute vom Flughafen in die Stadt. Überall hört man Hämmern und Klopfen und das Röhren von Betonmischern. Wer kann, baut sich
ein größeres Haus. In den größeren Häusern vermieten sie bis zu zwanzig
Zimmer. Das Vermieten ist ein einträgliches Geschäft. Zwischen 150 und
500 Yuan muss man in Beigao für ein Zimmer bezahlen. Das ist viel billiger
als in der Stadt. In den Gassen von Beigao hört man nicht mehr den schwerfälligen Pekinger Zungenschlag sondern den gluckernden Dialekt der Berge
von Anhui. In Beigao kommen fast alle aus Anhui. Man muss zusammenhalten in der Fremde.
‚Guerilla Worker‘ nennt der Politikwissenschaftler Lei Guang von der
San Diego State University die Arbeiter, die aus den armen Provinzen in
die Großstädte kommen. Sie bilden umherstreifende Renovierer-Trupps, die
von einem Wohnkomplex zum nächsten ziehen, schreibt er. Vor den Baustellen in Peking bilden sich manchmal lange Schlangen von Arbeitswilligen.
Die Bahnhofsplätze sind zu Märkten für billige Arbeitskräfte geworden, wo
die Neuankömmlinge warten, bis einer vorbeikommt und sie anheuert. Die
meisten Jobs aber gehen unter der Hand weg: Auf Tipps oder Vermittlung
von Landsleuten. Die Männer aus Anhui arbeiten hauptsächlich auf den
Baustellen. „Wir sind arm und ungebildet“, sagen sie, „da bleibt nicht viel
anderes.“ Die Frauen gelten als warmherzig und zuverlässig. Sie werden
gerne als Haushaltshilfen genommen.
3. In China gibt es keinen einzigen anständigen Beamten.
Peking. Sicheng Fuguo steht mit seinem Auto irgendwo außerhalb der Stadt
auf einem Parkplatz. Kaum sind die Türen zu, fängt er an zu schimpfen. Eine
halbe Stunde redet er sich seinen Ärger von der Seele. Autos sind in China ein
guter Ort zum Reden. Nirgends kann man sicherer sein, dass keiner mithört.
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China
Mathias Bölinger
„Worüber ich mit Dir reden möchte“, beginnt er, „das ist die Korruption“.
Wenige Sätze braucht er, dann hat er sich in Rage geredet. „Es gibt in China
keinen einzigen anständigen Beamten“, ereifert er sich. „Von ganz oben bis
ganz unten. China ist ein verdorbenes Land“, sagt er, „das korrupteste der
Welt. Und schuld ist das Einparteiensystem.“
„Um uns Wanderarbeiter kümmert sich die Regierung kein Stück, und
nicht nur das, die korrupten Beamten nehmen uns auch noch aus“, schimpft
Sicheng Fuguo. Er beschwert sich über die Korruption, ereifert sich über
die Ein-Kind-Politik, die besonders auf dem Land verhasst ist, und über die
Willkür der Polizei. „Wenn Du ein großes, teures Auto fährst, dann lassen
sie Dich in Ruhe. Aber uns halten sie ständig an und verlangen Strafen für
alles Mögliche.“
Unter den Arbeitern in Peking ist Sicheng Fuguo einer, bei dem es nicht
so schlecht gelaufen ist. Nicht, dass er reich geworden wäre, aber er betreibt
immerhin mehrere kleine Läden in den Siedlungen rund um Peking, kann
sich ein Auto leisten. Und doch: Der bescheidene Erfolg hat seine Wut nicht
kleiner werden lassen. Chinas Städte nehmen Bauern als Arbeitskräfte auf,
aber sie lassen sie auch spüren, dass sie nicht dazugehören.
„Manchmal schnappen sie uns einfach und schicken uns zurück“, erzählt
er. „Und zu Hause halten sie uns dann noch so lange auf der Polizei fest, bis
jemand von den Verwandten kommt und ihnen das Zugticket bezahlt.“ Vor
langer Zeit, da hat Sicheng Fuguo einmal versucht, rauszukommen aus China. Als er sechzehn war, wollte er über die Grenze nach Hongkong flüchten.
Er wurde erwischt und zurückgeschickt.
„Wenn Du das alles sendest“, sagt er zum Schluss. „Dann bin ich dran.“
Er soll sich einen falschen Namen aussuchen, schlage ich vor. „Sicheng
Fuwei“, sagt er nach kurzem Überlegen. ‚Fu’ bedeutet ‚reich’ und ‚wei’
‚stark’.
„Nein“, korrigiert er sich. „Fuguo! Ich bin doch Patriot.“ Fuguo heißt‚
reiches Land’.
4. Das Thema ist zu sensibel.
Beigao. In Beigao gibt es Supermärkte, Internetcafes, Billardsalons, Friseure und Restaurants. „Die Pekinger kommen sogar aus der Stadt, um hier
echte Anhui-Küche zu essen“, erzählt der Kleine Chen stolz. Wer gute Kontakte hat in Beigao, vermittelt Arbeit. Ein Schuster und ein Schlüsselmacher
haben ihre Läden eröffnet, und wer ein Auto hat, der bietet am Ortseingang
Fahrdienste für deutlich weniger Geld an als die offiziellen Taxiunternehmen. In einem Fenster im Dorfzentrum steht ein Pappschild, auf das mit
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Mathias Bölinger
China
Filzstift ein rotes Kreuz gemalt ist. Dahinter ist ein kleiner Raum mit einer
Liege und einem kleinen Schreibtisch. Wer krank ist, geht erst einmal hierhin, bevor er sich in eines der teuren städtischen Krankenhäuser wagt. ‚Minjian Yisheng’ – ‚Volksarzt’ nennen die Chinesen Leute, die ohne Zulassung
und für wenig Geld Kranke behandeln. Eine Krankenversicherung hat in
Beigao so gut wie niemand.
„Komm mit“, sagt der Kleine Chen, „ich zeige Dir unsere Schulen.“ Ein
großer Teil der Wanderarbeiter lässt seine Kinder in den Dörfern zurück. Wer
sein Kind aber mitnimmt, steht vor einem Problem: Viele staatliche Schulen nehmen keine Kinder von Zugewanderten auf. Überall in den Pekinger
Außenbezirken sind in den letzten Jahren Schulen für Wanderarbeiterkinder
entstanden, manche illegal, manche haben inzwischen die staatliche Anerkennung bekommen. Frau Xu ist die Leiterin einer solchen Privatschule. Sie
sitzt hinter ihrem Schreibtisch, auf der Brust eine rote Fahne mit Hammer
und Sichel und einmal Mao im Profil.
- Ich möchte meinen Sohn hier anmelden.
- Kein Problem, schick ihn vorbei, das Schuljahr hat ja noch nicht angefangen. Kostet 400 Yuan im Halbjahr. Plus Essensgeld und Bücher. Und
wer ist das?
- Ein Freund, ein Journalist aus Deutschland.
- Und was will er?
- Nichts, er ist nur gerade zu Besuch. Aber vielleicht kann er Sie ja hinterher noch interviewen.
- Sind Sie wirklich wegen ihres Sohnes gekommen?
- Ja, wegen meines Sohnes. Ich will ihn gerne herholen. Aber ich habe
Angst, dass er dann nicht mehr zurück kann, das hier ist ja keine staatliche Schule.
- Wir unterrichten nach den gleichen Lehrplänen wie die staatlichen Schulen.
Sie zieht einen rosa Zettel aus dünnem Papier hervor.
- Hier, das ist die Anerkennung von der Stadt. Ich war bis zu meiner Pensionierung Direktorin einer staatlichen Schule und ich kann Ihnen versichern, dass hier die gleichen Standards gelten.
- Das versprechen Sie mir jetzt, ruft der kleine Chen, aber einer meiner
Freunde hat seinen Sohn in Peking auf eine Privatschule geschickt. Und
als er wieder zurück ins Dorf wollte, da haben sie ihn nicht mehr genommen.
Auch die Direktorin wird jetzt lauter.
- Wenn Sie Ihren Sohn hierher schicken und hinterher jemand an seinem
Zeugnis zweifeln sollte, dann schreibe ich einen Brief, und wenn er ihn
dann immer noch nicht nimmt, dann schreibe ich noch einen Brief. Und
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China
Mathias Bölinger
wenn er ihn dann immer noch nicht nimmt, dann fahre ich höchstpersönlich nach Anhui. Noch nie hat jemand meine Schüler abgelehnt!
Eine halbe Stunde diskutieren der Kleine Chen und die Direktorin miteinander. Immer wieder fuchtelt sie mit ihrem rosa Zettel herum, immer wieder
spricht der kleine Chen von Kindern, die nicht zurück konnten, nachdem sie
einmal auf einer Privatschule waren. „Schicken Sie Ihren Sohn ruhig vorbei“, sagt die Direktorin zum Schluss. „Ich werde es mir überlegen“, sagt
der Kleine Chen.
„Tut mir leid, dass ich kein Interview geben kann“, ruft sie uns hinterher.
„Aber das Thema ist einfach zu sensibel.“
5. Unsere Lehrer haben alle Abitur.
Beidian. Auch Herr Qian ist Direktor einer Wanderarbeiterschule. Er sitzt
im Zimmer der Jins, in einem Nachbarort von Beigao. Die Jins und der Direktor kommen ebenfalls aus Anhui. Im Vorraum ihrer Backsteinhütte hat
die Familie ein großes Becken. Frau Jin verkauft hier Fische, während ihr
Mann Galerien in Pekings neuem Künstlerviertel Dashanzi renoviert. „Wie
viel ich mit meinen Fischen verdiene? Ich weiß es nicht“, sagt Frau Jin. „Ich
weiß nur, dass am Ende nichts übrig bleibt.“
Herr Qian war Dorflehrer in Anhui, als seine Frau nach Peking ging, um
als Haushaltshilfe zu jobben. Und als er mit 50 in Pension gegangen ist, da
ist er ihr gefolgt. „Ich habe mir gedacht, ich kann mir vielleicht noch was
dazu verdienen“, sagt er. 90 Euro verdient er als Direktor im Monat. Werbung für seine Schule zu machen, versucht Herr Qian gar nicht erst. „Wir
unterrichten nach denselben Lehrplänen wie die staatlichen Schulen“, sagt
er. „Aber dort ist es viel besser. In der Privatschule will der Besitzer Geld
verdienen. In den staatlichen Schulen sind nicht mehr als 30 Kinder in einer
Klasse. Bei uns gilt: Je mehr desto besser, 50 Kinder in einer Klasse sind
keine Seltenheit bei uns.“
Oft bleiben die Lehrer nur einige Wochen, bis sie einen besseren Job gefunden haben. „Der Lohn ist sehr niedrig“, sagt Herr Qian, „70 Euro“. Studierte Lehrkräfte sind für einen solchen Lohn nicht zu bekommen. „Bei
uns arbeiten hauptsächlich Frauen, die selbst ein Kind in der Schule haben. Das ist für sie praktisch.“ Dabei bräuchte man gerade in den Wanderarbeiterschulen gut ausgebildete Lehrkräfte. Herr Qian hat beobachtet,
dass die Kinder in seiner neuen Schule viel schlechter lernen, viel unkonzentrierter sind, als auf dem Land. „Manche bleiben nur ein paar Wochen,
dann müssen die Eltern wieder weiterziehen. Wie soll ein Kind da etwas
lernen?“
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China
„Ein paar Jahre noch“, sagt Frau Jin, als der Direktor weg ist, „dann will
ich wieder zurück. Der Junge lernt hier nichts.“ Solange die Schule ihr Geld
bekomme, sei es egal, ob die Kinder regelmäßig zum Unterricht kommen,
ob sie ihre Hausaufgaben machen. „Für uns erwarte ich ja nichts mehr, aber
er soll was lernen, damit er es einmal besser hat“, sagt sie, während der Junge mit seiner Patschehand versucht, dem Ausländer seine viel zu lange Nase
platt zu drücken.
Der Grund, warum Wanderarbeiter ihre Kinder nicht an einer staatlichen
Schule anmelden können, sind vier Schriftzeichen in ihren Dokumenten.
‚Nongye Renkou’ steht da: Agrarbevölkerung. Als 1949 die Volksrepublik
China gegründet wird, leben 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Land.
Industrie gibt es kaum. Nur in den ehemaligen westlichen Kolonien wie
Shanghai und in der Mandschurei, die von den Japanern besetzt war, haben
sich nennenswerte Industriezweige entwickeln können. Mit technischer und
finanzieller Hilfe der Sowjetunion beginnt die junge Volksrepublik, vor allem Schwerindustrie aufzubauen. Der Anteil der Städter an der Bevölkerung
verdoppelt sich innerhalb weniger Jahre. Doch 1958 zerstreiten sich Moskau und Peking. Die sowjetischen Berater verlassen China. Mao besinnt sich
auf die bäuerlichen Wurzeln der chinesischen Kommunisten. Die Entwicklung Chinas soll sich auf die ländlichen Gebiete stützen. Schon zuvor hatte
die Regierung an Maßnahmen zur Eindämmung der Landflucht gearbeitet.
1958 treten die ‚Hukou-Bestimmungen’ in Kraft. Jeder Bürger bekommt einen Stempel in seine Personaldokumente, in dem sein Wohnort eingetragen
ist: Den Hukou. Der Wechsel von einer Stadt in die andere wird sehr schwierig. Fast unmöglich aber wird es, vom Land in die Stadt zu ziehen. Der Hukou teilt die Chinesen in ‚agrarische Bevölkerung‘ und ‚nichtagrarische Bevölkerung‘ ein. Wer einen ‚agrarischen‘ Hukou hat, der hat Anspruch auf
Ackerland, ein ‚nichtagrarischer‘ Hukou bedeutet das Recht auf einen Arbeitsplatz. „Die Arbeitskraft in den Städten und in den Dörfern muss den
Bedürfnissen des sozialistischen Aufbaus angepasst werden“, kommentiert
der Innenminister Luo Ruiqing das Gesetz. „Wir dürfen die ländlichen Arbeitskräfte nicht blind abwandern lassen.“ Wohnungen, Krankenhäuser und
die Schulen in der Stadt sind den Städtern vorbehalten. Auch Lebensmittelmarken werden nur auf einen städtischen Hukou ausgegeben. Agrarier haben kaum eine Chance, in der Stadt zu überleben. Versuchen sie es doch,
werden sie zurückgeschickt. Bis Anfang der achtziger Jahre wechseln gerade einmal 25 Millionen Chinesen offiziell ihren Wohnort.
Erst mit der Reformpolitik Deng Xiaopings wird Bauern unter bestimmten Bedingungen erlaubt, in die Städte zu ziehen. Die Regierung leitet Wirtschaftsreformen ein und verabschiedet die so genannte ‚Küstenstrategie‘.
„Wir werden einigen Regionen erlauben, zuerst reich zu werden. Egalitaris-
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China
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mus funktioniert nicht“, verkündet Deng Xiaoping. Die Großstädte an der
Ostküste sollen zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung werden. Fabriken werden errichtet, komplette Viertel werden abgerissen und neu gebaut, Geschäftsviertel, Forschungszentren, Industriegebiete ausgewiesen.
Jetzt brauchen die Städte Arbeitskräfte. Mehr als zweihundert Millionen
ehemalige Bauern arbeiten heute in den Fabriken, auf den Baustellen, in
Restaurants und den Haushalten der Großstädte. In den Industriezentren
Südchinas machen sie den Großteil der Bevölkerung aus. Vor kurzem hat
das staatliche Statistikbüro mitgeteilt, dass 2007 zum ersten Mal in der Geschichte mehr als die Hälfte der Chinesen in Städten wohnt. Auf dem Papier
aber gehört jeder zweite Stadtbewohner zur Agrarbevölkerung. Arbeitgeber
müssen für ihn in keine Rentenkasse einzahlen und die Städte müssen seine
Kinder nicht in ihren Schulen unterrichten.
Shenzhen. „Meine Miete“, sagt Herr Jiang, „habe ich heute noch nicht
drin. Ein paar Yuan habe ich erst verdient.“ Hinter Herrn Jiang donnert ein
Bus vorbei, vor ihm schlendern die Menschen über das Trottoir. Zwei Hocker, ein Tischchen und ein bisschen Werkzeug stellt er jeden Morgen am
Straßenrand auf und wartet, bis jemand ihm seine kaputten Schuhe zum Reparieren gibt. „Shenzhen ist keine gute Stadt“, klagt er. „Niedrige Löhne,
hohe Preise.“
Vor dreißig Jahren gab es noch keine Stadt Shenzhen. Fischerdörfer
schmiegten sich an die Küste, Wassergräben und Flüsse durchzogen den
Landstrich, der als Bezirk Bao’an in den Landkarten vermerkt war. Ein verschlafenes Grenzland hinter dem der ‚bourgeoise Imperialismus‘ begann.
Eine Hügelkette trennte China von der britischen Kronkolonie Hongkong.
1979 benannte die Provinzregierung von Guangdong den Bezirk Bao’an
in ‚Stadt Shenzhen‘ um. Shenzhen wurde Chinas erste Sonderwirtschaftszone. Hier wurden die Wirtschaftsreformen getestet, bevor sie im ganzen
Land umgesetzt wurden. Der ‚bourgeoise Imperialismus‘ hinter der Hügelkette sorgte für Kapital und innerhalb weniger Jahre stand an der Stelle
des Grenzbezirks Bao’an tatsächlich eine Großstadt. Shenzhen wurde zum
Symbol des Aufbruchs, bis heute gilt die Stadt als die modernste Chinas.
Die neuen Einwohner Shenzhens kamen aus dem ganzen Land.
Der Schuster Jiang ist vor zehn Jahren nach Shenzhen gekommen. Seine
Frau ist mit ihm gekommen, die Tochter und der Sohn sind bei den Großeltern im Dorf geblieben. „Alle zwei Jahre kann ich mir eine Fahrt nach Hause leisten“, erzählt er. „Das Geschäft wird immer schlechter. Früher konnte
ich am Tag zwanzig Yuan verdienen, zwei Euro. Heute ist es weniger.“ Während er am Straßenrand Schuhe flickt, sucht seine Frau die Stadt nach Recyclingmüll ab und bringt ihn zu den staatlichen Sammelstellen. Zehn Fen
bekommt sie für eine Plastikflasche, einen Kunstfasersack oder eine Dose:
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China
Einen Euro-Cent. Was beide zusammen verdienen, kommt kaum an den gesetzlichen Mindestlohn von 70 Euro. Trotzdem knapsen sie immer ein bisschen ab, um es nach Hause zu schicken. „Letztes Jahr waren die Großeltern
mit den Kindern bei uns“, erzählt Herr Jiang. „Die haben ganz schön gestaunt, wie teuer hier alles ist.“
Am wenigsten aber hätten sie sich an das Essen gewöhnen können. Genau wie er, obwohl er doch schon so lange da ist. „Bei uns zu Hause ist das
Essen scharf und würzig“, schwärmt er. „Aber hier in Shenzhen schmeckt
alles nach nichts. Wir kochen zwar nach unseren Rezepten, aber trotzdem
schmeckt es nicht wie daheim. Man kann hier ja nicht mal richtig schön
scharfes Chili-Öl kaufen.“
6. Wir Chinesen sind doch ein Volk mit Herz!
Peking. ‚Mingongwang‘ – ‚Wanderarbeiternetz‘ – steht auf den giftgrünen
T-Shirts der Aktivisten. Auf der Bühne singt ein junger Mann herzzerreißende Schnulzen über das harte Arbeiterleben. „Er ist der Wanderarbeiter-Popstar“, erklärt Zhang Yajun von der Organisation ‚Wanderarbeiternetz‘ Dann
tritt ein 17-jähriges Mädchen auf die Bühne und liest mit zittriger Stimme
eine Rede ab. „Sie hat Leukämie“, sagt Zhang. „Und sie ist sehr talentiert,
hat ein Buch geschrieben über ihr Leid.“ Die Mutter des Mädchens steigt
auf die Bühne und dankt den Aktivisten mit Tränen in den Augen. ‚Wanderarbeiternetz‘ und die Chinesische Gesellschaft zur Armutsbekämpfung
sammeln für einen Gesundheitsfonds für Wanderarbeiter. Die Aktivisten fotografieren sich gegenseitig dabei, wie sie 100-Yuan-Scheine in die durchsichtige Spendenbox werfen. „Wir Chinesen sind ein Volk mit Herz“, verkündet der Vizevorsitzende der Gesellschaft für Armutsbekämpfung auf der
Bühne mit feierlicher Stimme.
„Wir sind alle Bauernkinder, die es auf die Uni geschafft haben. Jetzt wollen wir etwas zurückgeben“, erzählt Zhang Yajun später. Er arbeitet als Dozent an der Uni. Ehrenamtlich betreibt er mit einigen ehemaligen Kommilitonen die Webseite ‚Mingongwang‘ mit Nachrichten für Wanderarbeiter,
einer Jobbörse, Weiterbildungsangeboten, einer Rechtsberatung und Praktikumsvermittlung. „Mingongwang ist ein Projekt, das wir von unserem eigenen Lohn finanzieren“, steht unter der Rubrik ‚Über uns‘.
Auf Zhangs Visitenkarte steht neben ‚Mingongwang‘ allerdings noch
‚Chinesische Gesellschaft für Armutsbekämpfung und Entwicklung‘. Das
ist alles andere als eine privat finanzierte Organisation. Die Gesellschaft zur
Armutsbekämpfung untersteht dem Büro zur Armutsbekämpfung der chinesischen Regierung.
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China
Mathias Bölinger
„Als unsere Seite Anfang 2007 ans Netz ging, war das Medienecho groß“,
berichtet Zhang. „So groß, dass auch die Regierung aufmerksam wurde.
Und da hat uns die Gesellschaft für Armutsbekämpfung eine Zusammenarbeit angeboten.“
Unglücklich ist Zhang Yajun darüber nicht. „Wir sind sehr dankbar für
die Unterstützung“, sagt er. Denn mit der Kooperation ist die Organisation
aus dem rechtlichen Graubereich heraus. Der chinesische Staat sieht unabhängige Vereine nämlich gar nicht gern. Private Initiativen können sich in
China nur als Firma registrieren lassen. Spenden dürfen sie nicht annehmen, und steuerlich sind sie Unternehmen gleich gestellt. Es gibt nur wenige, meist sehr kleine solcher echter Nichtregierungsorganisationen. Die
meisten anderen gemeinnützigen Vereine hängen mit der Regierung zusammen. ‚GONGOs‘ werden sie von Fachleuten genannt: Government Organized Non-Governmental Organizations.
Die Gesellschaft, in die Mingongwang eingegliedert wurde, hat ihr Büro
in einem neuen Geschäftskomplex direkt bei der Baustelle des Olympiastadions. Den Eingang schmückt eine Reihe roter Blumen. Lin Jialai, der Vizevorsitzende, der bei der Sammelaktion die Großherzigkeit des chinesischen
Volks beschworen hat, drückt mir einen Sammelband seiner Aufsätze und
Reden in die Hand. ‚Stimme des Herzens‘ heißt er.
„Die Regierung unternimmt jetzt sehr viel, um das Leben der Arbeiter zu
verbessern“, sagt er. Fragen nach der größer werdenden sozialen Kluft beantwortet er mit der üblichen Erklärung, dass die Reformpolitik ein schwieriger Prozess sei. Er redet von den großen Unterschieden zwischen Küstenprovinzen und Hinterland und beschwört die ‚Harmonische Gesellschaft‘,
die die Parteiführung als Losung ausgegeben hat, um den sozialen Problemen zu begegnen. Fragt man ihn nach dem Hukou-System, dessen Bedeutung von offizieller Seite stets klein geredet wird, wird er ungewöhnlich
deutlich. „Ja“, sagt er, „der Hukou ist einer der Hauptgründe für die schwierige Situation der Wanderarbeiter. Er ist ein Überbleibsel aus der Planwirtschaft und kann auf Dauer nicht bestehen. In der Regierung wird sehr intensiv überlegt, wie das System abgeschafft werden kann.“
7. Das Tor, das aus dem Dorf herausführt
Gerüchte über eine bevorstehende Reform oder gar Abschaffung des Systems tauchen in China immer wieder auf. Bereits in den achtziger Jahren
wurde neben dem Hukou in China der Personalausweis eingeführt, in dem
der Vermerk ‚agrarisch‘ oder ‚nichtagrarisch‘ fehlt. Trotzdem bleibt der Hukou der entscheidende Eintrag in den Personendaten jedes Chinesen, vor-
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China
zuweisen gegenüber jeder Behörde und jeder Personalabteilung. „Auf allen
Gebieten haben wir in China Fortschritte“, erzählt ein Universitätsdozent.
„Nur nicht bei der Reform des Hukou-Systems. Ich selbst hatte bis zum
Ende meines Studiums einen Agrar-Hukou“, sagt er: „Meine Eltern haben
mir von klein auf eingebläut, dass ich auf die Uni muss. Die Universität,
heißt es bei uns, ist das Tor, das aus dem Dorf herausführt.“ Ein Hochschulabschluss oder eine Militärkarriere gehören zu den wenigen Ausnahmefällen, in denen Agrarier ihren Hukou wechseln können. Dass sich das ändern
könnte, glaubt er nicht.
- Warum?
- Die Städte verhindern jede Reform. Nimm Shenzhen. Die Stadt hat 12
Millionen Einwohner, aber nur zwei Millionen Bürger. Das bedeutet,
dass nur ein Sechstel der Bürger Anspruch auf Versorgungsleistungen
hat. Da bleibt sehr viel Geld in der Stadtkasse.
Peking. Li Subin möchte das Hukou-System nicht abschaffen. Nicht unbedingt jedenfalls. Er sitzt im Unterhemd in seiner Wohnung außerhalb Pekings, auf dem Tisch ein Teller mit Weintrauben, die er wie in China üblich
auslutscht, so dass nur die bittere Schale und die Kerne übrig bleiben. „Die
Hukou-Bestimmungen sind sehr klar“, sagt der Anwalt. „Und die Stadtregierung verstößt eindeutig dagegen“. Gemeinsam mit einem anderen Anwalt
hat Li Subin das Amt für öffentliche Ordnung verklagt, die Polizeibehörde der Stadt. Er verlangt, dass sein Hukou von seiner Heimatstadt Luoyang
in der Provinz Henan auf Peking umgeschrieben wird. Also dass ein städtischer Hukou in einen anderen städtischen umgewandelt wird. Auch das ist
nicht selbstverständlich. Alle Anträge wurden bisher abgewiesen. „Wenn wir
durchkommen“, sagt er, „dann werden wir als nächstes versuchen, einen Agrar-Hukou in die Stadt zu verlegen. Man muss Schritt für Schritt vorgehen.“
- Meinen Sie denn, dass Sie den Hukou-Prozess gewinnen können?
- Im Gesetz steht, dass, wer mehr als drei Monate in einer Stadt lebt und
eine feste Anstellung hat, seinen Hukou wechseln kann. Rechtlich ist die
Lage eindeutig, eigentlich kann das Gericht nicht anders entscheiden.
Unsere Gerichte sind zwar nicht unabhängig, aber sie können sich auch
nicht mehr so leicht über die Gesetze hinwegsetzen.
Als Li Subin sein Jurastudium begann, da klang das Wort Gesetz wie ein
großes Versprechen. Es war der Beginn der achtziger Jahre, das Land war
zerrüttet von der Kulturrevolution, als Urteile nicht von Gerichten gesprochen wurden, sondern von fanatischen Rotgardisten, als Prozesse nicht vor
Gericht geführt wurden, sondern in Versammlungssälen oder im Freien.
Nicht die Rechtsprechung war das Ziel dieser Prozesse, sondern die Demütigung der Angeklagten. Und als das Land aus diesem Alptraum erwachte,
da hatte es keine Juristen mehr, keine Richter und keine Anwälte. In ihrer
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China
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Not steckte die Regierung pensionierte Militärs in Roben und ließ sie Urteile sprechen, bis heute ist längst nicht jeder Richter ein Jurist.
Jurastudenten wie Li Subin begeisterten sich Anfang der achtziger Jahre für eine Gesellschaft, in der nicht die Parteikader über Recht und Unrecht entscheiden, sondern das Gesetz. Hartnäckig hält eine ganze Reihe
von Anwälten in China an diesem Versprechen fest, auch in Prozessen gegen
den übermächtigen Staat. Die Behörden allerdings sehen es gar nicht gerne,
wenn sie sich plötzlich vor Gericht verantworten müssen. Li Subin hat das
bereits vor Jahren erfahren. Weil er der Ansicht war, dass die Anwaltskammer seiner Heimatstadt Luoyang willkürliche Gebühren erhebt, verklagte er
sie. Als Antwort entzog sie ihm die Lizenz. Wenn er jetzt vor Gericht auftritt, dann ist er offiziell der Vertreter eines akkreditierten Kollegen. „Das
macht es mir sehr schwer“, klagt er. „Überzeugen Sie mal einen Mandanten
davon, dass Sie keine Lizenz haben, weil sie Ihnen vom Staat illegal entzogen wurde.“
8. Ich will eine, die mich liebt.
Beigao. Drei Metallbetten, drei Spinde und ein großer Standventilator stehen auf dem kahlen Betonboden. Über dem Dach donnern die Autos vorbei.
Die Baracke in der Zhuo Wei und Wu Xisan wohnen, liegt unter einer Autobahnauffahrt. Beide arbeiten für eine Sicherheitsfirma, bewachen für den
Mindestlohn von 700 Yuan - 70 Euro - die Zufahrt von Baustellen. „Kein guter Job, aber wenn Du nicht mehr als die Grundschule gemacht hast, findest
Du nichts anderes“, sagt Wu Xisan. Er kommt aus dem Nordwesten Chinas
und hat nach der sechsten Klasse seinen Eltern auf dem Feld geholfen, bis er
alt genug war, auf Jobsuche zu gehen. Seine ältere Schwester ist schon vor einiger Zeit aufgebrochen, um ihr Glück in den Fabriken Südchinas zu suchen.
In Shenzhen an der Grenze zu Hongkong setzt sie mp3-Player zusammen.
„Ich wollte erst zu ihr“, sagt er. „Aber in den Fabriken nehmen sie lieber junge Frauen. Für Jungen ist es hier besser. Hier gibt es viele Baustellen.“
So ganz füllen die schmalen Schultern des 18jährigen die olivgrüne Uniform noch nicht aus. Er ist erst seit einem halben Jahr in der Stadt. Ein entfernter Verwandter hat ihn an die Pekinger Wachfirma vermittelt, der Manager ist ein Landsmann. „Manchmal ist das Heimweh noch sehr heftig“, sagt
Wu Xisan. „Aber so schlimm wie am Anfang ist es nicht mehr. Man findet
Freunde, dann geht es leichter.“
Sein Bettnachbar Zhuo Wei hat diese Erfahrung schon lange hinter sich.
Seit fünf Jahren ist er quer durch China unterwegs, seit er sechzehn ist. Zuletzt hat er in Shenzhen in einer Fabrik gearbeitet. „Da habe ich fast dop-
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China
pelt so viel verdient“, sagt er. Warum er weggegangen sei? „Es gab eine
Schlägerei, Streit unter den Arbeitern.“ Mehr sagt er nicht. Die Boomregion an der Grenze zu Hongkong sei „tai luan“ - zu chaotisch, erzählt
er. Zu viele Kriminelle, Betrüger und Streit und Schlägereien unter den
Arbeitern.
Zhuo will nicht mehr lange in Peking bleiben. Er will zurück in sein Heimatdorf, um dort den Führerschein zu machen. Die Hälfte seines Lohnes
legt er jeden Monat zur Seite, um sich diesen Traum zu erfüllen. Bis zum
Jahresende hofft er, genug gespart zu haben. „Als Fahrer kann man leichter
Geld verdienen“, ist er überzeugt. Wie viel denn? „Darüber habe ich noch
nicht nachgedacht.“
Auch Wu Xisan überlegt, ob er noch einmal zurückgehen soll, um etwas
zu lernen. Ein Handwerk vielleicht, oder auch Autofahren. Erstmal will er
aber noch eine Weile in Peking bleiben, noch ein bisschen Geld verdienen,
vielleicht einen besseren Job und vor allem: Eine Freundin finden. „Wenn
Du unterwegs bist, kannst Du Dir selber eine suchen“, sagt er. „Zu Hause musst Du eine heiraten, die Dir Deine Eltern ausgesucht haben. Ich will
eine, die mich liebt. Ich bin nur noch ein bisschen schüchtern.“
9. Viel größer und reicher als bei uns
Shanghai. Als es zwischen dem sechzehnjährigen Zhang Weijun und der
zweiundzwanzigjährigen Li Yu zu knistern begann, da musste jeder Funke
etwa 2.000 Kilometer Glasfaserkabel durchqueren. Aufgereiht zwischen zockenden Teenagern saßen beide am jeweiligen Ende vor einem Bildschirm
und starrten zwei große runde Monde mit einem kleinen Strich in der unteren rechten Ecke an. ‚QQ‘ ist Chinas beliebteste Chat-Plattform. 160 Millionen User sind dort registriert, im Schnitt sind 10 Millionen von ihnen online.
„Bei uns Wanderarbeitern ist chatten sehr beliebt“, sagt Zhang. „In der Stadt
kennst Du nicht so viele Leute. Du arbeitest den ganzen Tag und abends hast
Du dann oft niemanden zum Reden. Im Chat findest Du immer jemanden.
Und vor allem musst Du nicht sofort sagen, wer Du bist.“
Nach Shanghai kam Zhang als Zwölfjähriger. Sein Vater war zu Beginn
der neunziger Jahre aus der Nachbarprovinz Jiangsu in die Stadt gekommen,
arbeitete als Müllwagenfahrer und in Fabriken, die Mutter war ihm gefolgt
und hatte in der Nähe einer Fabrik eine Imbissbude eröffnet. „Die Arbeiter
konnten bei uns ihre Essensmarken einlösen“, erzählt sie. Der Laden lief gut
und als Weijun die sechs Jahre Grundschule abgeschlossen hatte, holte sie
ihn nach, damit er im Geschäft helfen konnte, bis er alt genug war, sich eine
Arbeit zu suchen.
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China
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Zhang Weijun und Li Yu wohnen bei Zhangs Eltern. Im Hinterzimmer eines Studios für Fußmassagen betreiben sie einen Mah-Jongg-Salon, seit ihre
Imbissbude abgerissen worden ist. Im Raum stehen zehn Tische mit grünem
Filzbelag, auf denen tagsüber und abends die Mah-Jongg-Steine klappern.
Im Moment allerdings sind keine Kunden da. Über die Essenszeit ziehen sie
sich zurück.
„Die meisten sind Alte aus der Nachbarschaft“, erklärt Frau Zhang. „Beim
Mah-Jongg muss man viel rechnen, das ist gut fürs Gehirn.“ Überall in China sieht man alte Leute sitzen, die die Steine und manchmal auch Geldbeträge über die grünen Filztische schieben. Weil man Mah-Jongg auch um Geld
spielen kann, war das Spiel in China lange illegal. Inzwischen betrachtet die
Regierung Mah-Jongg als ‚gesunde Sportart’, solange man nicht um Geld
spielt und dabei nicht raucht und nicht trinkt.
„Wir verdienen nicht schlecht mit dem Laden“, sagt Frau Zhang. „Wenn
es gut läuft mehr als 3.000 Yuan im Monat.“ Dazu kommt der Lohn ihres
Mannes. Herr Zhang ist gerade von seiner Schicht heimgekommen. Seit
acht Jahren ist er fest angestellt in einer Fabrik, die Fitnessgeräte herstellt.
Doch seine kräftige Statur und das braungebrannte Gesicht unter der grauen Stoppelfrisur lassen immer noch den Bauern erkennen, der jahrelang auf
den Feldern geschuftet hat. „Es gibt welche, die mehr Erfolg haben als wir,
aber wir brauchen uns nicht zu verstecken“, sagt er stolz. „Nur der Sohn
macht mir Sorgen. Es ist heute schwerer als früher.“
In der Kochecke brät die Mutter jetzt grüne Chilischoten an. Ein beißender Geruch breitet sich im Raum aus. Zhang Weijun und ich ziehen uns an
einen der hinteren Tische zurück. Er ist inzwischen zwanzig, jobbt sich seit
vier Jahren durch. „Nur mit einer Grundschulbildung ist es schwer, was zu
finden“, sagt er. „Ich will versuchen, irgendwo in die Lehre zu gehen. Am
Besten als Koch. Ich habe schon oft in der Küche gejobbt. Als Koch kann
man was verdienen.“
Seine Frau Li Yu arbeitet als Verkäuferin in einem kleinen Laden in der
Nachbarschaft. „Für Frauen ist es ein bisschen leichter“, glaubt sie. „Es gibt
an jeder Ecke Geschäfte und Restaurants, und da brauchen sie junge Frauen als Bedienung.“ Als sie Zhang Weijun vor sechs Jahren im Chat kennen
lernte, arbeitete sie in einer Elektronik-Fabrik in der Provinz Guangxi im äußersten Südwesten Chinas. Sie hat nicht lange gezögert, sich in den Zug zu
setzen, um den sechs Jahre jüngeren QQ-Jungen in Shanghai zu besuchen.
„Ein Landsmann hatte mir erzählt, dass Shanghai ein guter Ort ist“, sagt sie.
„Viel größer und reicher als bei uns.“
Die Küstenstrategie, die den Schwerpunkt der Wirtschaftsentwicklung
zunächst auf einige ausgewählte Wirtschaftszonen in Südchina und danach
auf die großen Städte der Ostküste konzentrierte, bleibt bis zur Jahrtausend-
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China
wende das Leitbild der chinesischen Entwicklung. Städte wie Shanghai, die
in der Mao-Zeit bis zu 40 Prozent ihrer Einnahmen an die Zentralregierung
abführen mussten, bekommen die Möglichkeit, ihre eigene Wirtschaftspolitik zu gestalten, in ihre Infrastruktur zu investieren und Anreize für Investoren zu schaffen. Innerhalb weniger Jahre können die Küstenstädte und
ihr Umland jenen atemberaubenden Wandel durchlaufen, bei dessen Erwähnung Wirtschaftsführer in der ganzen Welt glänzende Augen bekommen.
Die Regierung in Peking sonnt sich in den Wirtschaftsdaten. Sie wird dominiert von der so genannten Shanghai-Clique, die in der Stadtverwaltung
von Chinas erfolgreichster Metropole Karriere gemacht hatte. Wachstum
und Stabilität sind Ende der neunziger Jahre die Schlagworte, unter denen
sich wirtschaftliche Liberalisierung und politische Repression vereinen. In
den armen Provinzen des Hinterlands aber entsteht eine fatale Mischung
aus Goldrausch und Korruption. Willkürliche Steuern treiben die Bauern
in die Armut. Nach Gutdünken beschlagnahmen lokale Beamte Ackerland.
Dubiose Geschäftemacher erkaufen sich den Schutz der Lokalregierungen.
In der Provinz Henan stecken illegale Bluthändler innerhalb weniger Jahre rund eine Million Bauern mit dem HI-Virus an, weil sie elementare Hygienebestimmungen nicht beachten. Beim Zentrifugieren von Plasma vermischen sie das Blut verschiedener Spender, bevor sie es ihnen zurück in
die Adern pumpen. Ist unter den Spendern ein Infizierter, dann bekommen
alle einen Anteil von seinem verseuchten Blut zurück. Die Provinzregierung
schaut zu. In den Überflutungsgebieten des Drei-Schluchten-Staudamms
verschwinden Milliardensummen, die als Entschädigung für die umgesiedelten Bauern gedacht waren. War der Weg in die Stadt zu Beginn der Reformen eine neue, viel versprechende Chance für die Bauern, ist es nun für
viele der letzte Ausweg.
10. Die Regeln sind jetzt sehr streng.
Peking. Von der Baustelle dringt ein rhythmisches Klopfen durch die
Blechwände von Zheng Shuliangs Büro. Zheng sitzt hinter einem abgewetzten Schreibtisch, an der Wand hängen Bauarbeiterhelme. „Ihre Fragen beantworte ich gerne“, sagt er. „Aber kein Interview.“ Soll heißen: Das Aufnahmegerät bleibt aus.
„Wir achten sehr genau darauf, alle arbeitsrechtlichen Bestimmungen einzuhalten“, beteuert er und deutet auf einen Stapel Papier. „Das sind die Verträge. Jeder der bei uns arbeitet bekommt einen Vertrag. Außerdem zahlen
wir die vorgeschriebenen Sozialabgaben.“ 155 Yuan im Monat sind das für
Kranken- und Unfallversicherung. „Das tut mittlerweile jede Baufirma in
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China
Mathias Bölinger
Peking“, sagt er mit überzeugter Stimme. „Die Kontrollen sind sehr streng.“
Schwarzarbeit? Nicht in Peking, glaubt Zheng Shuliang.
Zhengs Büro ist in einem Container neben der Baustelleneinfahrt untergebracht. Immer wieder kommen Arbeiter herein, den Helm unter den
Arm geklemmt. Mit manchen spricht er hochchinesisch, mit vielen auch
den Dialekt von Anhui. „Die meisten unserer Arbeiter sind Landsleute“, sagt er. „Wir stellen nur auf Empfehlung ein. Alles andere ist uns zu
riskant.“
Auch Zheng Shuliang kam vor 18 Jahren als Wanderarbeiter aus Anhui
nach Peking. Damals war noch nicht viel zu spüren von dem Boom, der
die Hauptstadt inzwischen erfasst hat. Es war die Zeit unmittelbar nach
dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. In der Regierung
gaben die Konservativen den Ton an, Schüler und Studenten bekamen zusätzliche Ideologiekurse verordnet, die Wirtschaftsreformen wurden eingefroren. Zwar ging das kapitalistische Experiment in Südchina weiter,
doch bis die Umwälzung das ganze Land erfasste, dauerte es noch ein paar
Jahre.
Nur wenige Bauern wagten damals den Weg in die Stadt. Aber wer sich
wie Herr Zheng dazu entschloss, auf den wartete die eine oder andere Chance. Herr Zheng heuerte bei einer großen staatlichen Baufirma an und stieg
schnell vom einfachen Arbeiter zum Vorarbeiter auf. Die Firma schickte ihn
in Fortbildungskurse, schulte ihn in der Buchführung, brachte ihm bei, wie
man Baupläne liest und welche Arbeiter was tun müssen, um sie umzusetzen. „Heute beaufsichtige ich als Manager vier bis fünf Baustellen gleichzeitig“, sagt er stolz. Vor den Olympischen Spielen sind die Auftragsbücher
voll. Peking wird auf Hochglanz gebracht, überall werden neue Gebäude
aus dem Boden gestampft. „Die letzten zwei Jahre sind für uns hervorragend gelaufen“, sagt er. Bis Mai wird das noch so weitergehen. Dann allerdings ist Schluss. Dann, hat die Stadtregierung verfügt, haben alle Arbeiten
fertig zu sein.
Beigao. Das Handy des Kleinen Chen klingelt. Lauter und aufgeregter als
sonst schreit er in sein Telefon. „Wo ist er jetzt? Habt Ihr Geld für den Arzt?
Morgen, ja, morgen komme ich vorbei.“ Dann legt er auf und sagt: „Einen
Freund haben sie zusammengeschlagen.“
11. Mehr Verantwortung bei dem was Du sagst!
Tianjin. Zwei Stunden dauert die Fahrt im Bus von Peking nach Tianjin.
Dann quält sich das Taxi noch eine Stunde durch den Feierabendverkehr.
„Diese Brücke?“ fragt der Fahrer. „Nein, ich glaube noch weiter“, sagt der
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Mathias Bölinger
China
Kleine Chen. „Da vorne“. Dann schreit er wieder in sein Handy. „Ich steige aus und schaue“, ruft er und rennt auf die Fußgängerbrücke. Und schreit
weiter in sein Handy. „Nein, ich kann Euch nicht sehen“, ruft er und steigt
wieder ein. „Von der Technischen Hochschule ist es noch etwa einen Kilometer nach Osten“, sagt er. Wieder drei Brücken. „Stopp“, sagt er. „Ich kann
ihn jetzt sehen.“
„Danke, dass Ihr gekommen seid“, sagt Luo. Die zu große Lederjacke hängt über den schmächtigen Schultern. Schwerfällig bewegt sich der
schmale Körper. „Die Schmerzen“, sagt Luo. „Beim Pinkeln kommt immer
noch Blut.“
Gebratene Hühnerfüße und Krabben, Gemüse und Schweinefleisch stehen auf dem Tisch. „Esst“, sagt Luos alte Mutter. „Ja“, sagt Luo, „esst erstmal. Und dann rufen wir die Polizei.“ Nachbarn kommen herein, reden
aufgeregt durcheinander. „Der Vorarbeiter ist abgehauen“, sagen sie. Luo
streckt sich stöhnend auf dem Bett aus. „Zweimal“, sagt Luo, „war ich bei
der Polizei. Sie haben meine Anzeige nicht aufgenommen.“ „Ruh Dich
noch ein bisschen aus“, sagt seine Frau. „Esst auch von den Krabben“, sagt
seine Mutter.
Auch das Dorf, in dem Luo wohnt, ist ein Arbeiterdorf am Stadtrand, ganz
ähnlich wie Beigao. „Ich bin erst vor kurzem aus Peking hergekommen“,
sagt er. „Hatte gehört, hier gibt es Arbeit.“ Den Job hat ihm ein Landsmann
vermittelt, ein Vorarbeiter auf dem Bau. Ein paar Tage renovieren, verdient
hat er am Ende 385 Yuan. Doch das Geld hat er nie gesehen. Dreimal ist er
zu dem Vorarbeiter, der ihn angestellt hat, und hat seinen Lohn verlangt.
Beim dritten Mal haben sie zugeschlagen. Zu zweit. Luos Rücken ist mit
blauen Flecken und Schürfwunden übersät.
„Hier ist es“, sagt Luo und hämmert gegen die Eisentür. „Mutter, geh
schon nach Hause. Wenn er nicht aufmacht, dann rufen wir die Polizei.“
Die Nachbarn stehen neugierig herum, schnattern miteinander. Jemand ist
zu Hause, aber er macht nicht auf. Luo wählt die 110, den Polizeinotruf.
Langsamen Schrittes und mit schlechtgelaunten Gesichtern kommen zwei
Beamte die dunkle Gasse entlang. „Wer hat die Polizei gerufen?“ fragt einer
der Polizisten. „Ich“, sagt Luo. „Ich wurde geschlagen. Und der, der mich
zusammengeschlagen hat, wohnt hier. Es ist jemand zu Hause, Sie können
ihn gleich verhaften.“
- Wann wurden Sie geschlagen?
- Vor vier Tagen.
- Sie hätten zu uns kommen müssen, um Anzeige zu erstatten. Den Notruf
ruft man nur im Notfall an.
- Ich war bei Euch, sagt Luo. Ihr habt die Anzeige nicht aufgenommen.
- Das kann nicht sein. Wann soll das gewesen sein?
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China
Mathias Bölinger
Der Kleine Chen mischt sich ein. „Ihr kümmert Euch um nichts“, schreit
er die Polizisten an. „Um gar nichts!“ „Mehr Verantwortung bei dem was Du
sagst!“ weist ihn der Polizist zurecht. Dann klopft die Polizei an die Metalltür.
Der Vorarbeiter ist nicht zu Hause. Stattdessen nimmt die Polizei Luo mit
– die Anzeige aufnehmen. Zwei Stunden im neonhellen Warteraum der Polizeistation, dann kann Luo hinaufgehen und seine Anzeige aufgeben. Mit
zwei Formularen kommt er zurück. „Damit kann ich erstmal ins Krankenhaus“, sagt er. „Und wenn sie den Vorarbeiter schnappen, dann bekommt er
die Rechnung.“
- Und wenn nicht?
- Dann ich.
„Der Vorarbeiter ist schon zweimal angezeigt worden“, haben sie ihm gesagt. „Wenn Du ihn siehst, dann ruf uns.“ Luo hat verstanden. Sie selbst
werden keine großen Anstrengungen unternehmen. „Ich werde mich auf die
Lauer legen“, sagt Luo. „Das ist meine einzige Chance.“
2002 steht ein Generationswechsel an der Staats- und Parteispitze an.
Staatschef wird ein Mann namens Hu Jintao, über den nur wenig bekannt ist.
„Who is Hu?“, titeln englischsprachige Zeitungen. Der Neue entstammt
nicht den bis dahin bekannten Pekinger Machtcliquen, sondern hat seinen
Aufstieg in den westlichen Provinzen hingelegt, ebenso wie sein Premierminister Wen Jiabao. Von ihren Vorgängern setzen sich beide mit einem betont
sozialen Programm ab. Nicht mehr leugnen lässt sich inzwischen das Unruhepotential, das durch die soziale Kluft entstanden ist. Auf 87.000 beziffert
das Ministerium für Öffentliche Sicherheit für das Jahr 2005 die Zahl der
‚Zwischenfälle‘, in denen sich soziale Spannungen in spontanen Protestaktionen entluden. Eine harmonische Gesellschaft aufbauen – so heißt jetzt
die Parteilinie. Agrarsteuern werden abgeschafft, die Rechte der Arbeiter
gestärkt. Eine Kranken- und Unfallversicherung muss mittlerweile auch für
Arbeiter mit Agrar-Hukou abgeschlossen werden, andere Sozialleistungen
wie Rentenkasse und Mutterschutz bleiben allerdings ein städtisches Privileg. Das Gesetz begrenzt die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden, limitiert die
Zahl der Überstunden und legt Mindestlöhne fest. Unternehmern, die Arbeiter ohne Vertrag beschäftigen, drohen ab dem 1. Januar 2008 hohe Strafen.
Eines aber ändert sich nicht: Politische Protestbewegungen, Streiks und Gewerkschaften bleiben Tabu. „Wir haben recht gute Arbeitsgesetze in China“,
sagt der Arbeiteraktivist Han Dongfang, der seit 1994 in Hongkong im Exil
lebt. „Aber diese Gesetze werden nicht respektiert. Die Bosse können die
Gesetze ignorieren, weil die Arbeiter zu schwach sind.“ Seine Organisation
‚China Labour Bulletin‘ dokumentiert die Arbeitsbedingungen in chinesischen Unternehmen, sammelt Informationen über Proteste und unterstützt
Arbeiter, die vor Gericht ziehen.
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Mathias Bölinger
China
12. Entlasst den korrupten Leiter des Arbeitsbüros!
Dongguan. „Nie“, sagt Jing Qingbo, „nie hätte ich gedacht, dass es solchen Ärger geben könnte.“ Er sitzt in seinem Büro über einer Autowerkstatt
und schaut immer noch ein bisschen ungläubig, als er von jenem Tag im Juli
erzählt, als er sich morgens hingesetzt hat, einen großen Bogen Papier entrollt hat und mit großen Zeichen drauf zu schreiben begann. „Entlasst den
korrupten Leiter des Arbeitsbüros sofort aus dem Staatsdienst!“ schrieb er
darauf, und unterschrieb mit: „Ein mutiger Antikorruptionskämpfer.“
‚Dazibao‘ nennen die Chinesen solche Plakate – Wandzeitung mit großen Schriftzeichen. Der Antikorruptionskämpfer klemmte sich sein Plakat unter den Arm, stieg die Treppe hinab, marschierte den langen Hausflur entlang und trat aus der kleinen Seitentür neben der Autowerkstatt.
Dann steuerte er direkt auf das Arbeitsbüro der Gemeinde Dalingshan,
Stadt Dongguan, zu, das nur drei Häuser von seinem Büro entfernt liegt,
und suchte ebenjenen Leiter auf, den er auf seinem Plakat korrupt nannte.
Wenn er sich nicht endlich um den Fall von Zhang Zhaoqing kümmere, erklärte er dem Beamten, dann sehe er sich gezwungen, sein Plakat vor dem
Amt zu entrollen.
Zhang Zhaoqing ist so etwas wie ein Mandant Jing Qingbos. Das heißt,
er war es, damals im Juli. Seine Geschichte ist schnell erzählt: Zhang Zhaoqing hatte eine Stelle als Drucker in einer Fabrik für Dekorationsartikel gefunden. 11 Stunden am Tag, sechs bis sieben Tage die Woche. Vereinbarter
Monatslohn: 3.500 Yuan. Das wäre kein schlechter Lohn für einen Arbeiter
in China - wenn er ihn denn tatsächlich bekommen hätte. Doch nach drei
Monaten in der Dekorationsfabrik hatte er von dem Geld immer noch nichts
gesehen, 10.500 Yuan schuldet ihm die Firma – seit zwei Jahren. Dreimal
sprach er im Arbeitsbüro der Stadt vor, der Behörde, die zuständig ist für die
Beschwerden von Arbeitern. Dreimal passierte nichts. Schließlich landete er
in dem kleinen Büro über der Autowerkstatt, in dem Herr Jing hinter seinem
Schreibtisch sitzt, um Leute wie den Drucker Zhang zu empfangen. ‚Qingzheng Rechtsberatung‘ steht auf einem kleinen Schild an der Tür. Herr Jing
vertritt betrogene Arbeiter.
Und so stand Jing Qingbo also an einem Julivormittag mit seinem zusammengerollten Plakat vor dem Büroleiter. Was im Einzelnen passiert ist
an diesem Tag, lässt sich nicht mehr genau sagen. Zwischen dem Leiter des
Arbeitsbüros und Jing Qingbo muss es lautstark hin- und hergegangen sein.
Irgendwann wurde auch das Plakat entrollt. Einer der Streitpunkte ist, ob
Herr Jing es selbst entrollt hat – und seine Anschuldigung damit öffentlich
gemacht hat, oder ob die Beamten es ihm entrissen und selbst reingesehen
haben. Der Büroleiter jedenfalls erkannte darin den Tatbestand der Belei-
72
China
Mathias Bölinger
digung und rief die Polizei. Fünf Tage verbrachte Jing Qingbo in Untersuchungshaft, dann erst ließen sie ihn wieder frei. Herr Jing erstattete noch am
selben Tag Anzeige gegen die Polizei.
Inzwischen haben die Behörden Jing Qingbos Büro zweimal durchsucht.
Das Honorar, das er vom Drucker Zhang erhalten hatte, musste er zurückgeben, nachdem dieser sich öffentlich von Jings Vorgehen distanziert hatte.
Und der Leiter des städtischen Rechtsbüros nahm den Fall zum Anlass, sich
in der Lokalzeitung ausgiebig über die mangelnde Qualität privater Rechtsdienste zu beklagen.
Arbeiter in China haben nicht viele Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen. Streiks sind verboten, unabhängige Gewerkschaften werden rigoros
verfolgt. In den letzten Jahren hat die Regierung zwar eine Reihe von Arbeitsgesetzen verabschiedet, die auch von kritischen Beobachtern als fortschrittlich bewertet werden. Aber eingehalten werden diese Bestimmungen
nur selten. Oft geht es Arbeitern wie dem Drucker Zhang – Arbeitgeber weigern sich einfach, die Löhne auszubezahlen. Tut mir leid, kein Geld, komm
morgen wieder. Die einzige Chance, die die Arbeiter dann haben, sind die
Beschwerdestellen der Regierung und die Gerichte.
13. Der Druck hat nachgelassen.
„In den letzten Jahren hat sich die Einstellung der Gerichte stark verändert“, stellt der Anwalt Zhou Litai fest, der seit zehn Jahren in der Wirtschaftsmetropole Shenzhen Arbeiter vor Gericht vertritt. „Die Richter haben
heute ein viel größeres Bewusstsein für die Probleme der Arbeiter.“ Zhou
ist ein volkstümlicher Mann mit Bürstenhaarschnitt, der gerne traditionelle
chinesische Hemden ohne Kragen trägt. Unter den Arbeitern der Industrieprovinz Guangdong ist er fast schon eine Legende. Den ‚WanderarbeiterAnwalt‘ nennen sie ihn.
Vom Stadtzentrum Shenzhens braucht der Bus zwei Stunden durch staubige Industriegebiete und Wohnviertel, bis er im Vorort Longgang an einem kleinen Platz anhält. Die Kanzlei ist ein Labyrinth aus kargen Räumen,
in denen die Mitarbeiter hinter Schreibtischen aus lackiertem Holz sitzen.
Schüchtern sitzen ihnen die Arbeiter gegenüber und schildern ihre Fälle. Einer von ihnen ist Lu Zhanjie. „Wie ich auf Zhou Litai gekommen bin?“ wiederholt Lu Zhanjie ungläubig meine Frage. „Er ist doch eine Berühmtheit!“
Lu arbeitet für eine italienische Firma als Lastwagenfahrer und möchte die
Überstunden der letzten Jahre bezahlt bekommen. „Wir arbeiten jeden Tag
eine Stunde länger als erlaubt“, sagt er. „Und die Samstage bekommen wir
auch nicht bezahlt.“
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Mathias Bölinger
China
Zhou Litai setzt sich mit einem Teeglas auf ein Sofa in seinem Arbeitszimmer. „Ich muss gleich noch los nach Guangzhou“, sagt er und erzählt in
wenigen Sätzen seine Geschichte: Wie er Anfang der achtziger Jahre selbst
drei Jahre als Arbeiter in Ziegeleien geschuftet hat, begonnen hat, im Selbststudium Jura zu studieren, das Staatsexamen ablegte, seine Firma in der
westchinesischen Metropole Chongqing gründete und schließlich ein Büro
im südchinesischen Industriegürtel. Zhou spezialisierte sich auf Arbeitsrecht und erwarb sich schnell einen Namen. „In den letzten elf Jahren haben wir 7.000 Fälle vor Gericht gebracht“, erzählt er stolz. Wie Li Subin hat
auch er schon zweimal seine Anwaltslizenz verloren. „Inzwischen hat der
Druck etwas nachgelassen“, sagt er. „Das Schwierigste ist für uns nach wie
vor die finanzielle Situation.“ Zeitweise konnte Zhou Litai seine Kanzlei
nur dank ausländischer Spenden retten. „Die Leute, die wir vertreten, haben
kein Geld, um uns zu bezahlen.“
In diese Lücke stoßen Rechtsberater wie Jing Qingbo. Sie haben keine offizielle juristische Ausbildung und bieten Rechtshilfe für deutlich weniger
Geld als Anwälte. ‚Hei Lüshi‘‚ ‚Schwarze Anwälte‘, werden sie genannt und
auch im Chinesischen schwingt da der Beiklang des Halbseidenen mit. Allerdings: Illegal ist das nicht. Das Gesetz billigt jedem Chinesen das Recht
zu, sich vor Gericht von einer Person seiner Wahl vertreten zu lassen. Einzige Bedingung: Der Vertreter darf nicht vorbestraft sein. Der Jurist Tang Jingling aus der Provinzhauptstadt Guangzhou glaubt, dass die Arbeiter bei den
‚schwarzen Anwälten‘ nicht unbedingt schlecht aufgehoben sind. „Sie beschäftigen sich mit einem begrenzten Rechtsgebiet, und da haben sie meist
viel Erfahrung.“
14. Es ist schließlich Unrecht!
Jing Qingbo ist vor zehn Jahren selbst als Wanderarbeiter in die Industrieprovinz Guangdong gekommen. Er landete in Shenzhen, der Vorzeigestadt der chinesischen Modernisierung. Ein paar Jahre schlug er sich als
Arbeiter durch, doch er muss schnell gemerkt haben, dass man in der Stadt
genauso hilflos ist gegenüber Abzockern, Betrügern und korrupten Kadern
wie auf dem Land. Jing Qingbo beschloss, sich mit den Gesetzen zu beschäftigen und begann, Arbeiter vor Behörden und Gerichten zu vertreten.
„Ich habe dort oft Plakate gemalt um Beamte unter Druck zu setzen“, sagt
er und schaut ein wenig gekränkt durch seine metallgefassten Brillengläser. Schließlich war er so erfolgreich, dass man in der Stadtverwaltung auf
ihn aufmerksam wurde. Ein Foto in der Zeitung zeigt ihn, wie er stolz einen Ausweis in die Kamera hält. „Wanderarbeitervertreter darf als Gasthö-
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China
Mathias Bölinger
rer zum städtischen Volkskongress“, titelte das Blatt. Jing Qingbo war der
erste Zugewanderte, der einer Sitzung des Stadtparlaments beiwohnen durfte. Von Artikel und Ausweis hat er Farbkopien machen lassen und in seinem
Büro aufgehängt.
Im Mai 2007 ist Jing Qingbo aus dem relativ liberalen Shenzhen nach
Dongguan gezogen. Auf keinen anderen Ort in China passt die Metapher
von der Werkbank der Welt besser. Dongguan ist das Zentrum der verarbeitenden Industrie in Südchina. Die großen Turnschuhmarken lassen hier
ebenso fertigen wie japanische Elektronikkonzerne. Man sagt, dass die
Hälfte aller Computer weltweit mit Mäusen und Tastaturen aus Dongguan
ausgestattet sind. Wer Wanderarbeiter sucht, der ist hier richtig. Und weil die
Stadtregierung außerdem als besonders konservativ und bürgerfern gilt, sah
Jing Qingbo ein weites Betätigungsfeld. Nun hat er selbst Bekanntschaft gemacht mit der Stadtregierung.
„Zu neunzig Prozent“, glaubt er, werde er den Prozess gewinnen. „Es ist
schließlich Unrecht!“ Ob er denn schon von jemandem gehört habe, der gegen
die Polizei Recht bekommen hat? „Nein“, sagt Herr Jing. „Sie vielleicht?“
15. Hier sind überall Spitzel.
Peking. Wer vor den Gerichten nicht Recht bekommt, der hat in China nur
noch eine Möglichkeit: Er kann nach Peking fahren, eine Petition bei der
Regierung einreichen, und um eine Untersuchung seines Falls bitten. Zehntausende nehmen diese Möglichkeit in Anspruch, viele bleiben über Jahre.
Die meisten mieten sich in der Nähe des Petitionsbüros ein. ‚Petitionsdorf‘
haben die Pekinger die Siedlung getauft, wo sie unterkommen.
Dass man in der Nähe ist, erkennt man an den Obdachlosen. Auf Mauern,
in Grünstreifen und Unterführungen liegen sie. Sie alle haben Aktenmappen
bei sich, haben sie unter ihren Kopf gelegt oder umklammern sie fest mit
den Armen. Die Papiere darin sind das Wertvollste, was sie haben: Kopien
ihrer Eingaben, Dokumente des erlittenen Unrechts. Aus ganz China kommen die Menschen hierher, um sich über erlittenes Unrecht zu beschweren.
Seit einiger Zeit sind die Abrisstrupps unterwegs. Schuttberge türmen sich
neben einstöckigen Ziegelbauten auf. Offizieller Grund: Eine Erweiterung
des Südbahnhofs. Die Pekinger aber glauben, dass die Regierung einfach
nicht mehr will, dass in der Stadt so viele unzufriedene Menschen zusammenkommen.
„Die Petitionssteller sind alle noch hier“, sagt ein alter Mann. „Wo sollen
sie auch hin?“ Zwischen den Trümmern haben sich ein paar Leute provisorische Unterkünfte aus Plastikplanen und Holzstangen zusammengezimmert.
75
Mathias Bölinger
China
Ein Mann mittleren Alters bittet mich in einen kleinen Raum, in dem ein
paar Betten stehen. Er fordert mich auf, mich hinzusetzen und drückt mir einen Zettel in die Hand. „Hier sind überall Spitzel“, flüstert er. „Meinen Bruder haben sie umgebracht. Hier steht alles drin.“
Die meisten Antragssteller bleiben für Jahre in Peking, verbringen Tag für
Tag in der Hoffnung, endlich eine Antwort auf ihre Eingabe zu bekommen.
Ihr Geld haben sie meist nach wenigen Tagen verbraucht, sie leben vom
Müllsammeln und von Gelegenheitsjobs. Für umgerechnet 50 Cent vermieten die Anwohner im Petitionsdorf ein Bett. Der Mann, er soll hier Chao
Yuanming heißen, zieht sein Hemd aus und zeigt mehrere Narben am Oberkörper und an den Armen. „Zweimal haben sie mich verhaftet und geschlagen“, erzählt er, „gleich werden sie wieder kommen. Geh jetzt und ruf mich
später an.“
16. Geschlagen wirst Du von denen, die Du nicht kennst.
Als ich wieder auf der Straße bin, nimmt mich ein anderer zur Seite und
bedeutet mir, ihm in einen Hauseingang zu folgen. Ob ich Journalist sei,
fragt er. Eine Frau kommt dazu und redet energisch auf mich ein. „Was
willst du hier? Was willst Du hier?“, fragt sie immer wieder. Als ich mich
entschließe zu gehen, bedankt sie sich. Auf dem Rückweg erkenne ich den
Grund dafür: Am Eingang sind fünf Polizeiautos aufgefahren. Weitere Streifenwagen kommen mir entgegen. Mein Besuch hat keine zwanzig Minuten
gedauert.
„Abends sind sie noch einmal gekommen und haben alles durchsucht“,
erzählt Chao Yuanming später an einem neutralen Ort. „Sie wollten mich
verhaften, haben versucht, mich festzuhalten. Den Nachbarn haben sie verboten aus den Häusern zu kommen.“ In seiner Tasche hat er eine dicke Akte
mit der Geschichte seines Bruders und eine Plastikplane für die Nacht, denn
zurück zu seiner Unterkunft kann er nicht.
Chaos Bruder hatte in einem Staatsunternehmen gearbeitet, der Manager
veruntreute die Löhne, die Angestellten bekamen über Monate kein Geld.
Als mehrere Eingaben bei der Provinzregierung erfolglos blieben, entschloss
er sich, in Peking eine Petition einzureichen. Mehr als fünf Jahre wartete er
im Petitionsdorf auf eine Antwort – vergebens.
‚Shang Fang‘, das Einreichen von Petitionen, betrachten die Chinesen als
ein Grundrecht. Schon während der Kaiserzeit kamen Bittsteller aus den
Provinzen nach Peking um sich am kaiserlichen Hof über erlittenes Unrecht
zu beschweren. Auch die Volksrepublik räumt ihren Bürgern das Recht ein,
von der Zentralregierung eine Untersuchung zu verlangen, wenn sie sich
76
China
Mathias Bölinger
ungerecht behandelt fühlen. Dazu unterhält der Staat ein eigenes Büro. Wer
hier hinkommt, der hat bereits alle anderen Mittel ausgeschöpft. Die wachsende Korruption in China und der unerschütterliche Glaube, dass es bei der
Zentralregierung gerechter zugehe als in der Provinz, haben den Strom der
Bittsteller anschwellen lassen. Die Zahl der Anträge ist inzwischen so sehr
in die Höhe geschnellt, dass mancher Provinzfürst um seinen Ruf bei der
Zentralregierung fürchten muss. „Besonders wenn in Peking der Volkskongress zusammentritt, stehen vor dem Petitionsbüro Autos aus den Provinzen“, erzählt Chao Yuanming. „Sie fragen Dich, wo Du herkommst, verlangen Deinen Ausweis. Wenn Du aus ihrer Provinz kommst, nehmen sie Dich
mit und bringen Dich nach Hause. Wenn nicht, lassen Sie Dich laufen.“
Chao Yuanmings Bruder erwischten die Abfänger vor zwei Jahren. Sie
zerrten ihn in ein Auto, doch sie fuhren ihn nicht nach Hause sondern in eine
dunkle Ecke und schlugen ihn zusammen. „Wenn sie Dich schlagen, sprechen sie sich untereinander ab“, erklärt Chao. „Kommst Du aus dem Norden,
wirst Du von denen aus dem Süden verprügelt, weil Du die nicht kennst.“
Es müssen Dutzende Schläger gewesen sein, die auf Chaos Yuanmings
Bruder eingeschlagen haben. 25 Minuten malträtierten sie ihn, bis ein Passant die Polizei rief. Für den Bruder war es da schon zu spät. Einige Monate rang er mit dem Tod, Geld für eine Behandlung im Krankenhaus hatte die
Familie nicht mehr. In seiner Tasche trägt Chao Yuanming eine Porträtaufnahme des Leichnams mit sich.
Nach dem Tod seines Bruders blieb Chao allein im Petitionsdorf zurück.
Auf die ursprüngliche Eingabe des Bruders hat er bis heute keine Antwort
erhalten. Auch auf eine Ermittlung zu dessen Tod wartet er noch. „Die Polizei hat mir 3.500 Yuan angeboten, wenn ich auf eine Anzeige verzichte“,
sagt er verbittert. „Als ob 3.500 Yuan das Leben meines Bruders aufwiegen
könnten.“ Viel Aussicht auf Erfolg hat Chao Yuanming nicht. Trotzdem wird
er weiter im Petitionsbüro auf sein Recht pochen. „Die Welt muss von unserem Schicksal erfahren“, sagt er. „Wir dürfen diese korrupten Beamten doch
nicht einfach weitermachen lassen.“
Auch der Abriss des Petitionsdorfs wird Chao und Tausende andere, die
noch immer auf eine Antwort warten nicht davon abhalten, ihre Eingaben
wieder und wieder einzureichen. „Einige von uns sind in die benachbarten
Viertel gezogen“, sagt er, „viele schlafen unter der Brücke. Früher hat man
uns zusammenleben lassen, jetzt treibt man uns auseinander. Es ist schwer
geworden für uns.“ Dann packt er seine Plane ein und verschwindet im Gewühl der Hauptstadt.
77
Esther Broders
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Laos
vom 5. November bis 16. Dezember 2007
79
Laos
Esther Broders
Langsam wachgeküsst:
Das Ende des Dornröschenschlafs in Laos
Von Esther Broders
Laos, vom 5. November bis 16. Dezember 2007
81
Laos
Esther Broders
Inhalt
1. Zur Person
86
2. Sabaidee Vientiane!
86
3. Das Land dazwischen
87
4. Spannende Zeiten – Laos auf dem Weg in die Zukunft
88
5. „Wir liegen voll im Soll.“
89
6. Die Straßen von Vientiane…
91
7. Traumberuf Buchhalter
92
8. Von Holzwürmern und Knallfröschen
93
9. Mulberry Farm
97
10. „Hier gibt es ja nicht viel zu sehen.“
100
11. Existenzgründer dringend gesucht!
101
12. „Ich bin Geschäftsmann und kein Wohltäter.“
102
13. Die Entwicklung der Tourismusbranche
105
14. Beatles, Pizza, Sitcoms
106
15. Die andere Seite
107
16. Die Akha-Experience
108
17. „Im Moment sitzen noch nicht viele im Boot.“ –
Die soziale Schere in Laos
111
18. Tierfutter und Mangos aus dem Grünen Dreieck
114
83
Laos
Esther Broders
19. Ist das hier schon China oder was?
118
20. Der Mekong, die „Mutter aller Flüsse“
119
21. „Wasser ist Macht, und Wasser ist Geld.“
120
22. Jede Menge Notizen
123
23. Schatten der Vergangenheit
126
24. „Diese Aufgabe wird nie ganz erledigt sein.“
127
25. „Weißer Pfosten bedeutet: Sicheres Gelände“
128
26. Wie Santar wieder laufen lernte
131
27. Was bleibt?
134
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Esther Broders
Laos
1. Zur Person
Los ging es 1974 an der Nordseeküste, wo ich es besonders eilig hatte und
als Ferienkind auf die Welt gekommen bin. Ein Nordlicht bin ich aber trotzdem nicht, denn von dort gings direkt weiter in den Westen. Aufgewachsen
bin ich mitten im Ruhrpott in Essen. Nach der Schule hat es mich dann ins
Rheinland verschlagen. In Köln habe ich Anglistik, Germanistik und Geschichte studiert und nebenbei als Reporterin bei Radio Erft gearbeitet. Vier
Jahre habe ich für den Lokalfunk über Michael-Schumacher-Fanclubs in
Kerpen, über Jugend-Initiativen in Brühl oder den größten Tulpenzüchter
von Hürth berichtet. Nebenher habe ich Praktika bei anderen Sendern gemacht. So bin ich irgendwann auch bei der Deutschen Welle gelandet. Und
da bin ich bis heute geblieben – habe ein Volontariat absolviert, ein Jahr
als Jungredakteurin gearbeitet und bin seit mittlerweile fast fünf Jahren als
Freie in der Redaktion Zeitgeschehen / Politik von DW-Radio.
2. Sabaidee Vientiane!
„How are you? Where are you from?“ Ich schaue erstaunt zur Seite um zu
sehen, wer mich da angesprochen hat. Denn eigentlich kenne ich hier ja noch
niemanden. Ich habe erst vor wenigen Sekunden laotischen Boden betreten
– und gehe gerade in der schwülen Nachmittagshitze über das Rollfeld aufs
Flughafengebäude zu. Nach einem zweiten Blick erkenne ich die junge Frau,
die neben mir herläuft, mich freundlich anlächelt und offensichtlich auf eine
Antwort wartet. Sie saß im Flieger von Bangkok nach Vientiane nur zwei
Reihen von mir entfernt. Gemeinsam laufen wir weiter.
Sie heißt Milla, ist Anfang zwanzig und stammt gebürtig aus Vientiane.
Aber jetzt kommt sie als Besucherin.
Seit vier Jahren war Milla nicht mehr in ihrer Heimat, sie lebt in Seattle im
Westen der USA. Dort arbeitet sie in einem Thai-Restaurant: „Ich sehe asiatisch aus, da merkt keiner, dass ich eigentlich Laotin bin“. Sie lacht. Milla
möchte in den USA bleiben, bald wird sie dort ihren amerikanischen Freund
heiraten. Heimweh nach Laos hat sie trotzdem. Ihre Eltern und die drei Geschwister leben hier, und jetzt ist der Vater schwer erkrankt. Deshalb ist Milla nach Hause gekommen. Sie ist aufgeregt und freut sich darauf, ihre Familie wieder zu sehen. Und sie ist gespannt, wie sich Vientiane verändert hat,
seitdem sie zum letzten Mal da war. „Vier Jahre sind eine lange Zeit“, sagt
sie – und fügt hinzu: „Die Uhren drehen sich hier mittlerweile viel schneller als damals. Meine Mutter meinte am Telefon, ich würde die Stadt nicht
wieder erkennen.“
86
Laos
Esther Broders
Dass sich in Laos in den letzten Jahrzehnten tatsächlich einiges verändert
hat, das merkt man gleich bei der offiziellen Einreise: „Herzlich Willkommen in Vientiane“ – so begrüßt mich der Beamte am Immigrations-Schalter
und lächelt dabei freundlich. Das Durchsehen meiner Papiere dauert vielleicht zwei Minuten, das Visum kann man sich im Notfall noch vor Ort ausstellen lassen. Gäste sind hier willkommen, und das lässt man sie auch spüren. Das war nicht immer so. Zeitweise wurden Touristen gar nicht ins Land
hineingelassen, und von dem, was sich unter der seit Mitte der 70er Jahre regierenden kommunistischen Führung abspielte, sollte die internationale Öffentlichkeit so wenig wie möglich mitbekommen. Jahrelang versteckte sich
Laos hinter dem so genannten Bambusvorhang. Erst seit Mitte der 80er Jahre zeichnet sich ein langsamer Wandel ab. Stück für Stück fing die ParteiFührung an, das Land zu öffnen und zu reformieren. Dieser Prozess dauert
bis heute an.
3. Das Land dazwischen
Laos gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern einer insgesamt
boomenden Region. Es ist außerdem das einzige Binnenland Südostasiens
– ein deutlicher Wettbewerbsnachteil gegenüber der starken Konkurrenz.
Und Laos ist dazu ein vergleichsweise kleiner Staat, umgeben von größeren
und wirtschaftlich viel bedeutenderen Nachbarn, allen voran China, Thailand und Vietnam. „Pufferstaat“, „vergessenes Land“ oder „das Land dazwischen“ – so wird Laos deshalb oft bezeichnet. Insgesamt leben knapp
sechs Millionen Menschen aus offiziell fast 50 verschiedenen Ethnien in
Laos. Und das auf einer Fläche, die ungefähr der der alten Bundesländer in
Deutschland entspricht. Laos ist damit eines der am dünnsten besiedelten
Länder des bevölkerungsreichsten Kontinents. Mehr als drei Viertel aller
Laoten leben auf dem Land. Größere Städte gibt es wenige. Die Hauptstadt
Vientiane ist mit 600.000 Einwohnern inklusive der Außenbezirke die größte – und doch nicht zu vergleichen mit anderen Hauptstädten der Region.
Vientiane war auch der Ausgangspunkt meiner Reise. Von dort aus bin
ich für ein Wochenende ins 150 Kilometer entfernte Vang Vieng gereist und
habe mich dann schrittweise weiter nach Norden hochgearbeitet: zuerst mit
dem Flugzeug nach Xieng Khouang und dann in drei Tagesetappen per Bus
weiter nach Luang Prabang, Oudomxay und schließlich Luang Namtha an
der chinesischen Grenze. Die meisten Wege im Land werden per Bus zurückgelegt, zwischen den Provinzen gibt es tägliche und sehr preisgünstige
Verbindungen. Wenn man allerdings nicht das Glück hat, in einem so genannten VIP-Bus zu sitzen – dort gibt es Klimaanlage und keine Zwischen-
87
Esther Broders
Laos
stops – sondern in einem lokalen Bus, dann muss man in Kauf nehmen, dass
man wie in einer Sardinenbüchse eingequetscht sitzt. Denn hier wird kein
Zentimeter Platz verschenkt – selbst im Mittelgang werden Plastikstühle
aufgestellt, der Boden ist mit Reis-Säcken bedeckt, und auch Geflügel darf
mitreisen. Seit der zweiten Busfahrt war ich immer bestens mit Tabletten gegen Übelkeit ausgerüstet. Und die habe ich auch gebraucht, denn mehr als
die Hälfte des Landes ist gebirgig, und auf sehr unterschiedlich guten Straßen geht es stundenlang in Serpentinen über die Berge.
Zu den Bussen gibt es kaum Alternativen, denn sämtliche Flugverbindungen laufen über die Hauptstadt. Man kann entweder mit „Lao Airlines“
VON Vientiane aus fliegen – oder von einer der größeren Städte NACH Vientiane. Querverbindungen gibt es nicht. Also habe ich hunderte von Kilometern im Bus zurückgelegt – meistens entlang der Nationalstraße 13, die
das Land von Norden nach Süden durchzieht und so etwas wie die wirtschaftliche Lebensader ist.
4. Spannende Zeiten – Laos auf dem Weg in die Zukunft
Seit der Mitte der 80er Jahre hat Laos einen weiten Weg hinter sich, den
Weg zurück in die Internationale Gemeinschaft. 1975, zwei Jahre nach dem
Ende des Vietnam-Krieges, war die Kommunistische Revolutionäre Volkspartei (LRVP) an die Macht gekommen und hatte das Land konsequent nach
außen abgeschottet. Zehn Jahre später stand Laos in einer Sackgasse. Die
Folgen des Krieges, Abwanderung von Fachkräften ins Ausland, Misswirtschaft und ein Embargo des Westens – das alles war zuviel. Die Regierung
sah sich gezwungen zu handeln: 1986 beschloss die LRVP die Wirtschaftsreform NEM (New Economic Mechanism) und damit den Sprung von der
Plan- zur Marktwirtschaft. Es war der Anfang einer bedächtigen Wende.
Fünf Jahre später – fast zeitgleich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks –
wurden in Laos auch erste politische Reformen in Angriff genommen: seit
1991 gibt es eine neue Verfassung – die erste seit der kommunistischen
Machtübernahme. Die Öffnung ist seit dieser Zeit immer weiter vorangeschritten. Und was lange undenkbar war, wurde plötzlich wieder möglich:
Ab 1989 durften und SOLLTEN wieder Touristen ins Land kommen. Gleichzeitig wurden große Anstrengungen unternommen, um Laos als Investitionsstandort für ausländische Unternehmen zu etablieren.
Beispielhaft für das Ende der Isolation ist auch der Beitritt des Landes
zur südostasiatischen Staatengemeinschaft ASEAN im Jahr 1997. Auch aus
der Binnenlage – früher oft als Handicap angesehen – will man mittlerweile eine Trumpfkarte machen: Denn inmitten einer der größten wirtschaft-
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Laos
Esther Broders
lichen Wachstumsregionen der Welt möchte Laos sich als Transitland profilieren, als regionale Drehscheibe zwischen Thailand und Vietnam sowie
Thailand und China. Neben der Nationalstraße 13 soll es künftig auch noch
eine Ost-West-Verbindung geben, um Waren zwischen Thailand und Vietnam zu transportieren.
Wirtschaftlich geht es seit Beginn des Wandels bergauf. Das Wirtschaftswachstum ist seit zehn Jahren konstant und das durchschnittliche Jahreseinkommen hatte 2005 mit 491 US-Dollar einen Rekordstand erreicht (neuere
Zahlen gibt es bislang noch nicht).
An den Machtverhältnissen in Laos hat sich allerdings bis heute nichts
verändert. Noch immer hat die LRVP das alleinige Sagen – und versucht
gewissermaßen einen Spagat. Einerseits öffnet sie das Land immer weiter,
andererseits hält sie aber nach wie vor am Kommunismus fest. Seit 2006
sind aber einige neue Köpfe im Führungszirkel vertreten, allen voran Präsident Choummaly Sayasone und Premierminister Bouasone Bouphavanh.
Ihre Namen stehen für einen Generationswechsel – und damit sind auch
Hoffnungen verbunden. So hört man bei Gesprächen mit Mitarbeitern ausländischer Hilfsorganisationen immer wieder heraus, dass der „neue“ Regierungschef – auch wenn er es teilweise schwer habe, sich gegen die alteingesessene Riege durchzusetzen – klar für einen Modernisierungskurs
eintrete und dass auch der Umgang mit den internationalen NGOs seit seinem Amtsantritt offener geworden sei.
5. „Wir liegen voll im Soll.“
So titelt die Vientiane Times, die einzige englischsprachige Tageszeitung
des Landes – wie alle anderen Medien steht sie nach wie vor unter staatlicher Kontrolle – in ihrer Ausgabe vom 9. November 2007. Die Feststellung
stammt aus dem Mund von Premierminister Bouasone Bouphavanh. Am
Tag davor hatte die laotische Regierung 200 Diplomaten und Mitarbeiter
von NGOs zum Round Table geladen. Hauptgesprächsthema: die Fortschritte des Landes. Und da sei man auf einem guten Weg und liege voll in der
Zeit, so der Premierminister. Die Regierung habe bereits die 11 wichtigsten
Programme ihres laufenden sozioökonomischen Fünfjahresplan finanziert.
Eine positive Zwischenbilanz – die signalisieren soll, dass man auf einem
guten Weg ist. Dieser Weg ist allerdings noch lang.
Denn noch steht Laos auf der UN-Liste der am wenigsten entwickelten
Länder ziemlich weit oben. Aber die laotische Regierung hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Sie setzt alles daran, bis 2015 die Milleniumsentwicklungsziele zu erreichen, und bis zum Jahr 2020 soll Laos aus dem
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Laos
Kreis der „least developed countries“ verschwunden sein. Armutsbekämpfung steht deshalb an oberster Stelle in der nationalen Entwicklungs-Strategie, die in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird. Im Moment – seit
2006 und noch bis 2010 – läuft der 6. sozioökonomische Fünfjahresplan.
Darin verankert ist die offizielle Armutsbekämpfungsstrategie des Landes.
Sie sieht – einfach ausgedrückt – eine Verbesserung des Lebensstandards
und weiteres Wachstum vor. Wachstum, von dem die Bevölkerung direkt
profitieren soll, vor allem durch Investitionen ins Bildungs- und Gesundheitswesen oder in die Infrastruktur. Die laotische Wirtschaft soll weiter
gestärkt und international wettbewerbsfähiger werden. Man setzt vermehrt
auf Geschäfte mit dem Ausland. Außerdem soll das öffentliche Verwaltungssystem im Land reformiert und dadurch transparenter werden. Und
nicht zuletzt steht eine gute Regierungsführung auf der politischen Agenda.
Durch all diese Maßnahmen will Laos mittelfristig den Status der Unterentwicklung hinter sich lassen.
„Die laotische Regierung hat in den letzten Jahren schon gewaltige Anstrengungen unternommen, um das Land und seine Bevölkerung nach vorn
zu bringen“ sagt Sonam Yangchen Rana. Sie ist die oberste Repräsentantin
der UNO in Laos und gleichzeitig Leiterin des Entwicklungs-Programms
der Vereinten Nationen (UNDP) in Vientiane. Und dabei könne die Führung durchaus Erfolge vorweisen: „In den größeren Städten hat sich der Lebensstandard schon merklich verbessert, die Menschen dort profitieren vom
Wirtschaftswachstum, sie haben Jobs und verdienen Geld. Aber die Kluft
zwischen Stadt und Land ist teilweise sehr groß. Jetzt geht es darum, eine
Balance herzustellen, damit auch die Bevölkerung in den ländlichen Regionen ihren Teil vom Fortschritt abbekommt.“
Die Aufgaben, die in den kommenden Jahren anstehen, sind groß. Aber
Laos habe eine Menge Potential, erklärt Sonam Yangchen Rana. Das Land
habe realistische Chancen, sein erklärtes Ziel zu erreichen und die Liste der
am wenigsten entwickelten Länder bis zum Jahr 2020 hinter sich zu lassen.
Allerdings nur, wenn es die größten Baustellen konsequent angehe: „Ein
riesiges Problem ist der Mangel an gut ausgebildetem Personal. Das ist momentan einfach nicht vorhanden. Es wird aber schon jetzt in sämtlichen Bereichen dringend gebraucht. Und in Zukunft wird dieses Problem noch größer werden, wenn sich nicht schnell etwas ändert. Die Wirtschaft an sich
ist relativ stabil, besonders der Bergbau und der Wasserkraftsektor entwickeln sich viel versprechend. Die natürlichen Ressourcen des Landes sind
ein wichtiges Kapital.“
Das hat natürlich auch die laotische Regierung erkannt. Denn in diesem
Punkt ist Laos im wahrsten Sinne des Wortes reich: Der Waldbestand ist
(noch) riesig, und die Wasservorräte durch den Mekong und mehrere sei-
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Laos
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ner Nebenflüsse schier unerschöpflich. Nur ein Bruchteil des Wasser-Potentials wird momentan genutzt – aber für die Zukunft ruhen viele Hoffnungen auf den Rohstoffen des Landes und vor allem auf dem Ausbau der
Wasserkraft. Sie soll eine der Schlüsselrollen bei Entwicklung und Armutsbekämpfung spielen.
6. Die Straßen von Vientiane…
… sind eigentlich immer gerammelt voll. Wobei geschätzt mindestens
die Hälfte des Verkehrsaufkommens entweder aus Tuk-Tuks oder Mopeds
besteht. Die kleinen Zweiräder sind überall, meist tauchen sie gleich rudelweise auf. Ein deutscher Verkehrspolizist würde sich die Haare raufen,
wenn er die Moped-Formationen durch die laotische Hauptstadt brausen sehen würde: sechs oder sieben Fahrzeuge nebeneinander und mehr oder weniger auf einer Spur sind keine Seltenheit, Helme werden getragen – oder
auch nicht: Seit Anfang 2007 gilt eine Helmpflicht, aber längst nicht jeder
hält sich daran. Dafür werden aber so viele Passagiere wie möglich aufs
Gefährt gepackt. Oft sind ganze Familien auf einem einzigen Moped unterwegs, wobei Säuglinge und Kleinkinder ganz vorne sitzen, beziehungsweise mehr oder weniger über dem Lenker hängen. Absoluter Rekord: fünf
Fahrer auf einer Maschine!
Die Hauptstraßen in Vientiane sind in sehr gutem Zustand. Kein Wunder, wie ich schnell herausfinde: Sie sind brandneu, erst vor wenigen Monaten fertig gestellt worden. Überhaupt fällt auf, dass in Vientiane viel gebaut
wird. „Road Construction“ ist ein häufiges Verkehrsschild. Und auch sonst
tut sich etwas: Wenn man durch die Stadt geht, sieht man ständig Menschen,
die in irgendeiner Weise mit Verschönerungsarbeiten beschäftigt sind: Sie
streichen, pinseln Bordsteinmarkierungen, legen Beete an oder fegen einfach den Staub weg. Vientiane putzt sich heraus, wo es nur kann. Und dafür
gibt es auch einen konkreten Grund, denn Ende November 2007 ist die Stadt
Gastgeber beim 23. Minister-Treffen der Organisation frankophoner Staaten. Dazu kommen rund 3.000 Delegierte aus aller Welt. Nach Angaben der
Vientiane Times ist es die bislang größte internationale Veranstaltung auf
laotischem Boden. Klar, dass Vientiane sich bei diesem Anlass von der besten Seite zeigen will.
Als Fußgänger eine Straße in Vientiane zu überqueren kann sich – je nach
Tageszeit – recht abenteuerlich gestalten, auch wenn selbst die breitesten
Straßen nicht mehr als vier Spuren haben. Wer nicht die kleinste Lücke im
Verkehr ausnutzt, der steht sich die Beine in den Bauch. Genau wie an den
wenigen Fußgängerampeln. Wie die Straßen sind auch sie zum Großteil
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Laos
neu und werden von den Laoten geflissentlich ignoriert – vorher ging es
ja auch ohne. Dazu kommt: Sie werden nur alle paar Minuten mal grün –
selbst wenn die Autos öfter Rot haben. Anfangs bin ich brav stehen geblieben, bis die Ampel umsprang. Bis irgendwann ein junger Laote offenbar
Mitleid mit mir hatte. Er kurbelte das Fenster seines Pickup-Trucks herunter und rief mir zu: „Hey Miss, you can go! It is a stupid system, so usually
everybody just ignores it.” Das stimmt allerdings. Trotzdem stand ich auch
am nächsten Tag wieder geduldig an der Ampel. Erst als einer der Verkehrspolizisten – die ca. alle 200 Meter in Holzhäuschen an den größeren Straßen
stationiert sind – mich anwies, doch bitte endlich die Straßenseite zu wechseln und die rote Ampel zu ignorieren, sah ich ein, dass das tatsächlich das
Klügste war. Und damit hatte sich der große Kreis der Rotsünder um eine
Person erweitert.
Man steht in Vientiane auch ohne Ampeln recht viel. Denn es vergeht
kaum ein Tag, an dem man als Ausländer nicht auf der Straße angesprochen
wird. Einfach so, aus Interesse. Die Laoten schauen neugierig, grüßen dann
höflich und fragen, wie es geht. Und so kann es passieren, dass man sich
plötzlich mitten in einer Unterhaltung befindet – mit Händen und Füßen,
denn viele Laoten fangen gerade erst an, Englisch zu sprechen. Wie gesagt,
es ist eigentlich immer was los auf den Straßen von Vientiane.
7. Traumberuf Buchhalter
Egal mit wem man über die laotische Entwicklung spricht, ein Thema
taucht im Verlauf des Gespräches mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf: der Mangel an gut ausgebildetem Personal. Dabei muss es gerade diese Fachkräfte geben, die den angestrebten wirtschaftlichen Aufschwung mittragen und vorantreiben können.
Wo liegen die Gründe für diese aktuelle Misere im Berufsbildungssystem? Wie sieht der Ist-Zustand an laotischen Berufsschulen aus? Und wie
hat sich die Situation in den letzten Jahren verändert? Das sind die zentralen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen. Doch konkrete
Antworten in Form von ausgewerteten Daten und Statistiken gab es lange nicht. Erst seit kurzer Zeit liegt erstmals eine derartige Erhebung vor –
im Oktober 2007 wurde der Textentwurf fertig gestellt. Erarbeitet wurde
das Ganze von VEDC, dem „Vocational Education Development Center“.
Dabei handelt es sich um eine Untersuchung der 18 öffentlichen Berufsschulen in Laos. Ab sofort soll es jedes Jahr eine solche Studie geben. Allerdings beinhaltet der Entwurf der ersten Studie nur die zusammengetragenen Daten, erklärt Stefanie Krapp vom Deutschen Entwicklungsdienst
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Laos
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DED, eine der Autorinnen. Sie enthält weder eine Analyse noch Empfehlungen für die Zukunft.
Die Ergebnisse setzen sich zusammen aus Fragebögen und persönlichen
Interviews, die vor Ort an den betreffenden Schulen geführt wurden: Wie
hat sich die Zahl der Berufsschüler entwickelt, wie viele Absolventen gibt
es? Welche Berufszweige und Programme werden angeboten? Welche sind
besonders gefragt? Wie sind die Lehr- und Lernbedingungen vor Ort? Wie
steht es um die Qualifikation der Lehrer? Und wie sehen die Lehrpläne aus?
Das sind nur einige der Fragen, um die es ging.
Dabei kam beispielsweise heraus, dass fast jede Berufsschule eine Ausbildung im Bereich Bauwesen anbietet – obwohl das Fach auf der Liste der
beliebtesten Ausbildungsgänge nur auf Platz 10 rangiert. Absoluter Spitzenreiter in der Beliebtheitsskala ist die Ausbildung im Bereich Buchhaltung,
gefolgt von Elektrotechnik und Hotelgewerbe.
Die Untersuchung kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Lehrkräfte sowohl im praktischen als auch im theoretischen Teil gut
ausgebildet und motiviert ist. Lehrbücher gibt es dagegen nicht genug – für
sämtliche Fächer fehlt aus Geldgründen das passende Unterrichtsmaterial.
Überhaupt ist die finanzielle Situation der Schulen ein Problem. Und auch
bei der räumlichen Situation gibt es Verbesserungsbedarf: so verfügen viele Schulen bei weitem nicht über eine ausreichende Menge an Klassen- und
Werkräumen für die in vielen Fällen ansteigende Schülerzahl.
8. Von Holzwürmern und Knallfröschen
Wir fahren auf einer Lehmstraße auf eine Gruppe von Gebäuden zu:
Mehrere braune Holzhäuser mit Blechdächern stehen neben- und hintereinander, dutzende Mopeds parken davor in einem Unterstand. Auf einem der
Häuser weht die laotische Flagge.
„Früher war das Gelände einmal ein Camp. Hier haben chinesische
Straßenarbeiter gewohnt“, erklärt Jörg Giese. „Und jetzt nutzen wir es als
Berufsschule.“ Jörg Giese ist DED-Berater an der IVET-Schule in Phonsavanh in der Provinz Xieng Khouang. IVET steht für „Integrated Vocational Education Training“ und ist ein deutsches Gemeinschaftsprojekt –
beteiligt sind die Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, die Gesellschaft
für technische Zusammenarbeit GTZ und eben der DED. Partner auf laotischer Seite ist das Bildungsministerium. Das Ganze ist Teil des so genannten deutsch-laotischen HRDME-Programms – des Human Resource
Development for Market Economy, das KfW, GTZ und DED zusammen
betreiben. Dieses Berufsbildungsprogramm ist neben der Entwicklung im
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Esther Broders
Laos
ländlichen Raum der zweite Schwerpunkt der deutschen EntwicklungsOrganisationen.
Insgesamt gibt es in Laos neun IVET-Schulen. Das Besondere an ihnen
ist, das dort speziell für den Bedarf in der jeweiligen Provinz ausgebildet
werden soll. So soll zum einen die lokale Wirtschaft gestärkt und zum anderen sichergestellt werden, dass die Azubis später auch eine Arbeitsstelle
finden. Den IVET-Schulen liegt das Prinzip zugrunde, dass praktisch alle
Bevölkerungsschichten die Möglichkeit bekommen sollen, eine Ausbildung
zu absolvieren – unabhängig davon, ob sie ein laotisches Abitur haben oder
nicht. Die Berufsschule in Phonsavanh gehört auch zu denjenigen Schulen,
die für die Studie befragt wurden.
„Unsere Schule gibt es seit November 2004“, sagt Schuldirektor Thongphet Inthaxay, „im Moment haben wir 178 Schüler und 25 Lehrer. Bei uns
werden die klassischen Ausbildungsberufe angeboten: Landwirtschaft und
Viehzucht, Bauwesen, Tischlerei, Hauswirtschaft mit Schwerpunkt Kochen
und Schneiderei.“
Aber dabei soll es nicht bleiben. Denn es gibt große Pläne: Bald werden
die alten Gebäude auf dem Gelände durch eine neue Schule ersetzt – finanziert von der laotischen Regierung und der KfW. Gesamtkosten: 1.640.000
US-Dollar. „Dann wollen wir Kapazitäten für 500 bis 550 Schüler haben
und mit Auto- und Elektromechanik zwei neue Ausbildungsberufe anbieten“ erzählt Thongphet Inthaxay stolz. „Und die neuen Gebäude werden aus
Zement gebaut und nicht aus Holz. Dann kann es nicht mehr in die Klassenräume rein regnen.“
Außerdem werden in der neuen Schule mehr Klassenzimmer zur Verfügung stehen. Und das ist auch nötig, sagt Jörg Giese. Denn das Ergebnis
der Berufsschul-Studie deckt sich mit den Verhältnissen in Phonsavanh. „Im
Moment müssen wir uns behelfen und die Schüler aufsplitten. Eine Gruppe bekommt morgens theoretischen Unterricht, die andere arbeitet praktisch. Und nachmittags wird gewechselt. Wir haben so wenig Platz, dass wir
momentan auch die Schulbibliothek, die Kantine und die Schulküche als
Klassenzimmer nutzen.“
Unterrichtet werden die Schüler nicht nur in ihrem jeweiligen Ausbildungsfach: auf ihrem Stundenplan stehen auch Allgemein-Fächer wie Laotisch, Englisch, Politik oder Chemie.
In der Regel dauert die Ausbildung drei Jahre, sie kann aber auch auf zwei
Jahre verkürzt werden. Zurzeit haben die meisten Azubis der IVET-Schule
in Phonsavanh elf Jahre Schule hinter sich, haben damit das laotische Abitur. Jörg Giese möchte in Zukunft gern auch Jugendliche mit nur acht Jahren
Schulerfahrung aufnehmen. Er befürchtet, dass die Abiturienten später nicht
in ihrem Lehrberuf bleiben, sondern lieber noch ein Studium draufsetzen.
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Laos
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An den öffentlichen Berufsschulen in Laos gibt es ein Quotensystem:
Schüler, die ein besonders gutes Abitur gemacht haben, bekommen freien
Zugang. Die anderen müssen Schulgebühren zahlen, pro Monat sind es in
Phonsavanh gut zwei Dollar. Wenn die Azubis in den Schlafräumen auf dem
Schulgelände wohnen, kommt noch ein Dollar hinzu.
Jörg Giese führt mich auf dem Gelände herum. Zuerst geht es zu einer
Gruppe Jungs: „Das hier ist unsere Bauabteilung. Die Schüler, die hier zugange sind, sind im ersten Lehrjahr und lernen gerade, wie man eine Mauer
zieht. Und weil das normalerweise Geld kostet und wir davon nicht so viel
zur Verfügung haben, nehmen wir dazu keinen Zement, sondern wir nehmen
normalen Lehm als Bindemittel zwischen den Steinen.“
Weiter geht es zur Hauswirtschaftsklasse – hier sitzen 16 Schülerinnen
im ersten Lehrjahr. Sie alle werden später auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen haben, erklärt Jörg Giese. Hauswirtschaft ist hier ein Beruf mit Zukunft.
Denn die Provinz Xieng Khouang verfügt mit der Ebene der Tonkrüge über
ein beliebtes Reiseziel für Touristen (wobei der Name etwas irreführend ist,
denn niemand weiß, aus welchem Material die mehreren tausend Gefäße,
die an verschiedenen Stellen auf dem Hochplateau in Xieng Khouang liegen, tatsächlich bestehen. Auch wie die teilweise zwei Meter großen Behältnisse dorthin gekommen sind, wer sie gefertigt hat und welchen Zweck sie
erfüllen sollten, ist unklar. Verschiedenen Theorien zufolge könnte es sich
um große Reis-Behälter handeln oder um Begräbnisstätten.) Wie dem auch
sei – die Tonkrüge locken Jahr für Jahr neue Besucher an. Und die brauchen
wiederum Hotels und Restaurants.
Die Tür zur Schneiderei schleift beim Öffnen laut über den Boden, und
das Surren der Nähmaschinen verstummt – alle Schülerinnen schauen zum
Eingang. „Sabaidee“ schallt es uns entgegen, „Guten Tag“ auf Laotisch.
Jörg Giese spricht die Sprache fließend und erklärt, wer ich bin. Die Mädchen die hier sitzen sind im dritten Lehrjahr und damit praktisch auf dem
Sprung ins Berufsleben. Sie werden später unter anderem die Möglichkeit
haben, in der laotischen Textilindustrie zu arbeiten. Das allerdings würde
bedeuten, dass sie in eine größere Stadt gingen, vermutlich nach Vientiane.
Und das ist eigentlich nicht das Ziel, erklärt Jörg Giese: „In der Hauptstadt
gibt es genug ausgebildetes Personal. Wir würden es lieber sehen, wenn unsere Azubis in Xieng Khouang bleiben und hier in einer Schneiderei anfangen oder sich selbständig machen würden. Dadurch würden sie auch die lokale Wirtschaft stärken.“
Eigentlich ist die Schneider-Ausbildung eine klassische Frauendomäne.
Aber im vergangenen Sommer, als die ersten Absolventen nach dreijähriger Ausbildung die Schule verließen, war auch ein junger Mann dabei. Auf
ihn ist Jörg Giese besonders stolz: „Er stammt vom Volk der Hmong und
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ist körperlich behindert, er hatte Polio. Trotzdem hat er die Lehre hier gemeistert, und jetzt habe ich gesehen, dass er hier auf dem Markt in Phonsavanh als Schneider arbeitet. Das ist ein schöner Erfolg für uns.“ Als wir
die Klasse verlassen, sage ich laut Khobchai – Danke. Und sämtliche Schüler fangen an zu lachen. An meiner laotischen Aussprache muss ich wohl
noch üben…
Schon von weitem hört man die Kreissäge – wir nähern uns den TischlerAzubis. Oder, wie Jörg Giese sie liebevoll nennt, den „Holzwürmern“. Im
Moment arbeitet die Klasse im Freien, es gibt aber auch eine Werkstatt. Das
praktische Training, das die Schüler hier bekommen, ist ein gutes Startkapital für die Zukunft. „Im letzten Jahr haben einige unserer Schüler im dritten
Lehrjahr ein Praktikum bei einer Firma gemacht – und die Hälfte von ihnen
ist dort heute angestellt“, erzählt Jörg Giese.
Als wir uns umdrehen und wieder auf die Holzgebäude zugehen, ruft Jörg
Giese plötzlich: „Vorsicht! Du trittst gerade auf unsere Frösche.“ Zu meiner
Erleichterung stelle ich fest, dass ich nicht auf einem Teppich tot getrampelter Frösche stehe. Nein, die Frösche befinden sich unter der Erde. Aber vielleicht habe ich sie gestört. „An dieser Stelle hält unsere Froschzucht im Boden ihren Winterschlaf. Im März, wenn es langsam warm wird, kommen die
Tiere wieder raus. Dann müssen sie erstmal wieder aufgepäppelt werden.
Und im April ist Paarungszeit, dann werden wir mit unserer Froschzucht
weitermachen. Wir haben eine große Froschzucht – die erste in der Provinz
Xieng Khouang.“
Die Frösche kann die Schule dann verkaufen, genau wie andere landwirtschaftliche oder von den Azubis gefertigte Produkte. Ein willkommenes Zubrot, denn das Budget ist knapp. Es wird von der laotischen Regierung festgelegt und beträgt pro Jahr rund 6.000 US-Dollar. Dazu kommen
die Schulgebühren. Allein 20 Prozent des Budgets gehen für Energiekosten drauf, man kann sich also ausrechnen, wie viel tatsächlich übrig bleibt.
Die Lehrer werden allerdings nicht aus diesem Topf bezahlt, sie beziehen
ihr Monatsgehalt von durchschnittlich 40 Dollar vom lokalen Provinz-Bildungsministerium. 40 Dollar? Ich schaue skeptisch. Aber Jörg Giese erklärt
mir, dass das der normale Satz in Laos ist: „Alle Lehrer hier haben noch einen Zweitjob, um über die Runden zu kommen.“
Auf Berufsschulen wie der IVET-Schule in Phonsavanh ruhen viele Hoffnungen für die Zukunft. Die laotische Regierung habe begriffen, wie wichtig eine professionelle Berufsausbildung sei, sagt Jörg Giese. Genauso wichtig sei es aber auch, gezielt auszubilden. Noch gebe es eine Vorschrift, nach
der die Regierung bestimmen darf, welche Berufe angeboten werden. „Wir
müssen sie überzeugen, dass wir je nach Provinz unterschiedliche Lehrgänge anbieten müssen, denn die Nachfrage unterscheidet sich. Was die Lehr-
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pläne angeht, ist die Regierung sehr kooperativ. Sie lässt uns freie Hand und
vertraut darauf, dass wir die Leute gut ausbilden.“
Die Berufsschulen sollen Laos die Facharbeiter bringen, die das Land so
dringend braucht. „Es existieren sogar schon Pläne, dass Laos Gastarbeiter
produzieren soll für Thailand, Singapur und Malaysia, aber das ist natürlich
in weiter Ferne. Erstmal müssen wir unseren eigenen Markt mit Fachkräften
decken, die richtig drei Jahre geschult werden. Und allein das ist eine langfristige Aufgabe.“
9. Mulberry Farm
Genau gegenüber von meinem Hotel in Vientiane gab es einen Laden namens „Mulberries“. Es ist ein Laden, den Laoten selten betreten, denn die
Preise sind eindeutig für Touristen gemacht. Bei „Mulberries“ gibt es edelste laotische Seidenprodukte: Schals, Tücher, Kissen oder Accessoires. Die
Stoffe sind so fein, dass sie einem regelrecht durch die Finger gleiten. Die
Boutique wirbt damit, dass sie nur in Laos und von Laoten gefertigte Qualitäts-Produkte vertreibt.
Als ich auf dem Weg zur Berufsschule in Phonsavanh bin, sehe ich am Straßenrand plötzlich dasselbe Schild. Nur mit leicht verändertem Text. „Mulberry Farm“ steht drauf, und ein Pfeil deutet einen kleinen Hügel hinauf. Jörg
Giese erklärt mir, dass sämtliche Stücke, die in den zwei Mulberries-Filialen
in Vientiane und in Luang Prabang ausliegen, hier gefertigt wurden.
Am Tag darauf treffe ich Sarah Laack. Sie ist US-Amerikanerin, lebt aber
schon seit mehreren Jahren in Laos, spricht laotisch – und arbeitet für eine
amerikanische Hilfsorganisation bei „Mulberries“. Sarah ist für die Kommunikation und auch für Besucher-Führungen zuständig. Während wir vor
dem Bürogebäude ganz oben auf dem Hügel stehen, von wo aus man einen
guten Ausblick auf das Gelände hat, erzählt Sarah die Geschichte des Unternehmens und seiner Gründerin Kommaly Chanthavong. Sie stammt aus
Houa Phanh, der nördlichen Nachbarprovinz von Xieng Khouang. Während
des Vietnam-Krieges wurde ihr Dorf bei amerikanischen Angriffen komplett zerstört. Kommaly hatte riesige Angst und lief davon. Allein und zu
Fuß machte sich die damals Zwölfjährige auf den Weg nach Vientiane zu ihrer Tante. Drei Monate wanderte sie durchs Land, bis sie schließlich ankam.
Die nächsten Jahre verbrachte sie bei der Tante und musste mit ansehen,
wie immer mehr Flüchtlinge in der Stadt eintrafen, um vor den Bomben der
Amerikaner Schutz zu suchen. Darunter waren auch viele Frauen aus den
nördlichen Provinzen. Ein paar Jahre nach dem Ende des Krieges beschloss
Kommaly Chanthavong Anfang der 80er, gerade diesen Frauen in den stark
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Esther Broders
Laos
bomben- und minenverseuchten Provinzen in ihrer Heimat-Provinz dabei
zu helfen, eine neue Existenz aufzubauen. Im Auftrag der kommunistischen
Führung baute sie eine Baumwoll-Kooperative auf. Und hatte damit im Laufe der nächsten Jahre großen Erfolg. Ihre Shirts und Pullover wurden nach
Polen und in die damalige Sowjetunion exportiert. Die laotische Regierung
war davon so angetan, dass sie Kommaly nach Xieng Khouang einlud, um
auch dort nach Geschäfts-Möglichkeiten zu suchen. Da die Seidenspinnerei in der Provinz bereits eine lange Tradition hatte und sowohl Klima als
auch Landschaft dafür beste Voraussetzungen boten, entschied sie sich für
die Seidenproduktion. Im Jahr 1995 wurde die „Mulberry Farm“ dann offiziell eröffnet.
Wir gehen über den knirschenden Kiesweg auf ein großes Feld zu. Hier
wachsen Maulbeerbäume – die Namensgeber der Farm und die Nahrung der
„Hauptakteure“ hier. Denn die Blätter der Maulbeerbäume sind die Lieblingsspeise der Seidenspinnerraupen. Auf dem Farmgelände gibt es 14 Hektar Anbaufläche für Maulbeerbäume. Aber das ist noch längst nicht alles,
erklärt Sarah Laack: „Hier haben wir nur ungefähr 50 Mitarbeiter“, erzählt
Sarah, „es sind Leute aus Phonsavanh und Umgebung, die abends wieder
zu ihren Familien gehen. Aber daneben arbeiten wir mit über 500 Familien
aus fünf Provinzen zusammen. Das sind insgesamt rund zweitausend Personen. Diese Familien spezialisieren sich in ihren jeweiligen Dörfern auf die
Seidenproduktion und beliefern uns hier dann mit Rohseide. Die beteiligten
Familien bekommen von der „Mulberry Farm“ zinslose Kredite, um in ihren Dörfern spezielle Häuser für die Aufzucht der Raupen bauen zu können.
Das Geld zahlen sie dann in Rohseide zurück. Oft teilen sich auch mehrere
Familien eins dieser Häuser.“
Auf diese Weise will das Unternehmen den Landwirten nicht zuletzt auch
eine Alternative zu dem in Laos mittlerweile verbotenen Opiumanbau und
zur weit verbreiteten – aber nicht nachhaltigen – Praxis des Brandrodungsfeldbaus bieten. Und ein Einkommen. „Mulberries“ ist auch immer auf der
Suche nach neuen Partner-Familien – die Firma arbeitet mit der laotischen
Frauen-Union zusammen, und die vermittelt Interessenten. Bei „Mulberries“ wird außerdem großer Wert darauf gelegt, dass bis auf wenige Mitarbeiter in der Zentrale der gesamte Personalstamm aus Laoten besteht: „Nur
Dinge wie beispielsweise der Internet-Auftritt oder die KommunikationsAufgaben werden von Ausländern betreut, Aufgaben also, für die englisch
notwendig ist. Die ganze Expertise bei der Herstellung liegt in den Händen der laotischen Mitarbeiter. Wir schicken sie beispielsweise zur Weiterbildung an Seiden-Institute nach Thailand. Und auch hier bilden wir aus.
Mehrmals pro Jahr kommen zwanzig bis dreißig neue Interessenten zu uns
und bekommen einen einwöchigen Grundkurs. Viele kommen auch mehr-
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mals zu unseren Seminaren – und sind irgendwann echte Experten auf ihrem Gebiet. Und ihr Wissen geben sie dann auch in ihren Dörfern weiter.“
Die Ausbildung des laotischen Personals sei enorm wichtig für die spätere
Qualität der Produkte, meint Sarah. Viele Familien hätten zwar Grundkenntnisse der Seiden-Herstellung, aber das allein reicht noch nicht, um Ware von
internationalem Standard herzustellen. „Ein gutes Beispiel sind die Maulbeerbäume. Die große Mehrheit der Laoten ist zwar in der Landwirtschaft
tätig, aber viele wissen zum Beispiel nicht, wie man sich richtig um Bäume
kümmert. Wenn man einem Laoten erzählt, dass man einen Maulbeerbaum
mehrmals pro Jahr beschneiden muss, damit er besser wächst, dann hält er
einen erstmal für verrückt. Solche Dinge bringen wir den Menschen bei, außerdem zeigen wir ihnen, wie sie den Boden richtig präparieren – alles mit
Kompost und ohne künstliche Düngemittel.“
Seidenraupen bekomme ich auf der „Mulberry Farm“ leider nicht zu sehen. Wenige Tage vorher hat die jüngste Generation ihren Kokon gesponnen und dem Unternehmen neues Seidengarn beschert. Es werden drei verschiedene Raupenarten eingesetzt. Die produktivste und teuerste ist ein
japanisch-chinesischer Hybrid-Wurm, dessen Seidenkokon es auf sage und
schreibe eintausend Meter Faden bringt.
Sarah zeigt mir, wie das rohe Garn aussieht, bevor es weiter behandelt
wird: es ist gelb – mal leuchtend, mal blasser - und ziemlich spröde. Ein
bisschen fühlt es sich an wie eine Pferdemähne. Die Fäden werden mit maschineller Hilfe dann immer dünner, bis sie schließlich zart genug sind, um
verwebt zu werden. Vorher aber werden sie noch eingefärbt.
Wir gehen weiter auf das nächste Gebäude zu. Unter dem Vordach stinkt
es bestialisch: Hier werden die Farben zubereitet. Der große Bottich vor uns
ist gefüllt mit einer tiefblauen Flüssigkeit. „Das ist für Indigo-Farbtöne.“ erklärt Sarah. Alle Farben bei „Mulberries“ werden natürlich hergestellt, zum
Beispiel aus Beeren, Erde oder Baumrinde. „Damit lassen sich sämtliche
Farbtöne abmischen. Komm, ich zeige es Dir“, sagt Sarah und führt mich
in die Weberei. Ein Dutzend Frauen sitzt an den Webstühlen und arbeitet so
schnell, dass man mit den Augen kaum hinterher kommt. Teilweise fertigen
sie über einen Meter Stoff pro Tag an, das hängt davon ab, wie kompliziert
und bunt das Muster ist, das sie einweben.
Den Abschluss der Tour bildet – natürlich – ein Besuch in der „Mulberries“Boutique. Nachdem ich meine Weihnachtseinkäufe erledigt habe, frage ich
Sarah, wie schwierig es ist, mit den vergleichsweise teuren Produkten auf
einem Markt zu bestehen, der von chinesischer Billigware geradezu überschwemmt wird. „Ach, das ist für uns eigentlich kein so großes Problem“,
sagt sie, „wir produzieren ja in erster Linie für Touristen und daneben exportieren wir auch ins Ausland. Unsere Zielgruppe ist eine andere als die, die
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Ramsch zu Schleuderpreisen kauft. Die Seidenproduktion hat in Laos eine
lange Tradition – und sie ist mit der in China nicht zu vergleichen. Die Laoten sind zu Recht stolz darauf, dass sie hochwertige Produkte herstellen.
Und diese Qualität hat eben auch ihren Preis.“
Ich verabschiede mich, werfe noch einen letzten Blick auf die Maulbeerbaum-Felder und verlasse die „Mulberry Farm“ – mit einer Tüte in der
Hand.
10. „Hier gibt es ja nicht viel zu sehen.“
Auf der Hauptstraße der Kleinstadt Phonsavanh liegt das Bistro „Craters“.
Ein passender Name in der Provinz Xieng Khouang, die während des Vietnam-Krieges besonders stark unter amerikanischen Bombenangriffen zu leiden hatte. Der Eingang wird von zwei Bombenhülsen markiert. Das „Craters“ gehört Noy, einer hübschen jungen Laotin vietnamesischer Herkunft
– die fließend englisch spricht. Sie ist in Vientiane aufgewachsen und hat
dort „Business Administration“ studiert. An einem verschlafenen Sonntag,
an dem in Phonsavanh die Bürgersteige hochgeklappt sind, sitze ich mittags
gemütlich im „Craters“ und esse ein Sandwich. Auf der Speisekarte hier stehen vor allem westliche Gerichte, denn der Laden ist beliebt bei Touristen.
Noy setzt sich zu mir an den Tisch und fängt an zu erzählen. Seit über einem Jahr führt sie ihr Bistro – und pendelt ständig zwischen Phonsavanh
und Vientiane hin und her. In der Hauptstadt lebt ihr Mann. Und Noy hat
ebenfalls noch eine Arbeit in Vientiane. Sie hat große Pläne, will ein Restaurant und ein Export-Unternehmen aufbauen und ist schwer beschäftigt. Das
„Craters“ will sie wieder verkaufen und ganz weg ziehen. „In Phonsavanh
ist nicht viel los, hier bleiben die Touristen vielleicht einen oder zwei Tage,
sie schauen sich die Ebene der Tonkrüge an und sind wieder weg.“ Wobei
sich die Stadt spürbar verändert, sagt Noy: „Man sieht immer mehr große
Autos, Geländewagen auf den Straßen. Man merkt, dass viele Leute heute
mehr Geld haben als früher.“ In der Tat würde man die meisten Autos, die
man hier sieht, eher auf einem amerikanischen Highway vermuten als in der
laotischen Provinz.
Aber einige Gäste schrecken genau diese Veränderungen auch ab, erzählt
Noy. „Ein älteres Ehepaar hat mir mal erzählt, dass es jedes Jahr für zwei
Wochen Urlaub in Phonsavanh macht, um die Ruhe hier zu genießen. Aber
jetzt ist es ihnen zu hektisch und zu touristisch geworden und sie kommen
nicht mehr.“
Noy wirkt nachdenklich. „Die Menschen, die nach Laos reisen, wollen
vor allem Natur erleben – und das für billiges Geld. Wir haben hier keinen
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Laos
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Strand wie in Vietnam oder Thailand, wir haben kein Bangkok und wir haben auch kein Angkor Wat. Vergleichbare Touristenattraktionen, die massenweise Gäste anlocken, gibt es in Laos einfach nicht. Doch dieses zeitlose Postkarten-Idyll, das einige Touristen, mit denen ich gesprochen habe,
offenbar erwarten und sich wünschen, das gibt es so auch nicht mehr. Denn
Laos ist ja dabei, sich zu entwickeln, und das merkt man eben.“
Als ich gehe, fragt mich Noy, wie ich zum Hotel komme. Und als sie erfährt, dass ich zu Fuß unterwegs bin, bietet sie mir sofort ihr Motorrad an.
So funktioniert laotische Gastfreundschaft.
11. Existenzgründer dringend gesucht!
Unternehmergeist – wie im Fall von Noy – ist etwas, das vielen Laoten
zurzeit noch völlig fremd ist. Das ist schon jetzt ein großes Problem. Ist es
doch keine gute Voraussetzung für die ehrgeizigen Ziele des Landes: Die laotische Wirtschaft soll wachsen, soll international den Anschluss finden, es
sollen neue Arbeitsplätze entstehen und die Laoten sollen am Ende des Monats mehr in der Tasche haben als bisher. Deshalb sind findige Köpfe mit
Geschäftsideen und dem Mut, diese Ideen auch in die Tat umzusetzen, sehr
gefragt. Leider sind sie im Moment noch Mangelware.
Eine tragende Säule der laotischen Wirtschaft soll der Klein- und Mittelstand werden. Noch befindet dieser Sektor sich gewissermaßen in den
Kinderschuhen. Aber daran soll sich etwas ändern, denn im Klein- und
Mittelstand schlummert eine Menge Potential. Deshalb hat die Regierung
SMEPDO gegründet – die „Small and Medium Enterprises Promotion and
Development Office“, die an das laotische Industrieministerium angegliedert ist. „Wir sind noch ziemlich am Anfang“, sagt Somdy Inmyxai, der Leiter von SMEPDO. „Offiziell gibt es uns seit 2005, wirklich mit unserer Arbeit beginnen konnten wir dann Anfang 2006.“
Im Moment gebe es vor allem viel zu lernen. Und da könne man sich bei
anderen eine Menge abschauen, meint Somdy Inmyxai. Um sich ein Bild
davon zu machen, wie die Menschen in wirtschaftlich boomenden Ländern
für eine Unternehmensgründung fit gemacht werden und wie der bürokratische Weg in die Selbständigkeit dort aussieht, reisen die SMEPDO-Mitarbeiter beispielsweise ins Nachbarland Thailand, nach Japan oder Süd-Korea.
Die Eindrücke, die sie im Ausland gewinnen, bringen sie dann zurück in die
Heimat – und versuchen, sie auch in Laos anzuwenden.
Besonders wichtig sei es, das bürokratische Prozedere bei einer Firmengründung zu vereinfachen und zu verkürzen, meint Samdy: „Die Regierung
hat deshalb mit unserer Unterstützung ein neues Firmen-Gesetz beschlos-
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Esther Broders
Laos
sen. Früher war es relativ kompliziert, ein Unternehmen zu gründen – viel
Papierkram. Jetzt muss man nur noch ein einziges Formular ausfüllen. Was
diese Maßnahme bringt, wird die Zeit zeigen.“ Wie viele kleine- und mittelständische Betriebe es in Laos genau gibt, ist nicht bekannt. Noch habe man
keine detaillierten Statistiken, erklärt Samdy Inmyxai. Groben Schätzungen
zufolge liegt die Zahl zwischen 130.000 und 140.000. „Das ist auf jeden Fall
ausbaufähig, und das Geschäftsklima in Laos ist auch gut, die Wirtschaft
wächst konstant. Das Problem ist, dass wir die Bevölkerung zu mehr Unternehmergeist ermutigen müssen.“
Und da setzt SMEPDO beim Nachwuchs an. Gemeinsam mit der deutschen
GTZ ist eine Initiative in Berufsschulen geplant. Dort sollen die Grundlagen
für unternehmerisches Handeln als eigenes Unterrichtsfach angeboten und
die Schüler überhaupt erstmal auf ihre Möglichkeiten hingewiesen werden.
„Für viele stellt die Selbständigkeit im Moment gar keine Option dar, sie
wird überhaupt nicht als Chance wahrgenommen. Wir möchten vermitteln,
dass im Prinzip jeder selbst die Wahl hat, ob er lieber als Angestellter arbeitet
oder selbst eine Existenz gründet“, sagt GTZ-Mitarbeiter Michael Schultze.
Das übergeordnete Ziel ist es, Laos zu einem festen Bestandteil des südostasiatischen Wirtschaftsraums zu machen und besonders den Handel mit
den Nachbarländern zu intensivieren. Noch fehlt es an allen Ecken und Enden an geeignetem Personal. Trotzdem ist SMEPDO-Chef Somdy Inmyxai
optimistisch, dass sich schon in relativ kurzer Zeit Fortschritte feststellen
lassen. Man habe eine nationale Klein- und Mittelstands-Strategie für den
Zeitraum bis 2010 ausgearbeitet, erklärt er. Und wenn sämtliche der über
100 geplanten Projekte und Maßnahmen realisiert werden könnten, dann
wäre die Situation in drei Jahren schon eine deutlich andere als heute.
12. „Ich bin Geschäftsmann und kein Wohltäter.“
„T’Shop Lai Gallery“ steht auf dem Schild des Ladens – und darunter
„Lao handicrafts“. Der Laden liegt in einer Nebenstraße im Stadtzentrum
von Vientiane. In den Regalen stehen Puderdosen, Brettspiele, Kerzenständer, Skulpturen, Schmuck oder Teller. Auch Möbel gibt es hier zu kaufen –
das Angebot im „T’Shop Lai Gallery“ ist groß.
Drinnen ist es trotz der großen Fenster ein bisschen schummrig. Das liegt
daran, dass fast alles aus dunklem Holz gemacht ist. Genauer gesagt: aus recyceltem Holz. Das ist wichtig, denn es ist die Grund-Verkaufsidee von Michel Saada. Michel stammt ursprünglich aus Frankreich, lebt aber schon seit
über 15 Jahren hier. Er kam zu einem Zeitpunkt, als Ausländer in Laos noch
eine Seltenheit waren. „Das Leben hier war damals sehr ruhig und beschau-
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Laos
Esther Broders
lich, keine Hektik auf den Straßen, kein Stress. Überhaupt nicht zu vergleichen mit den heutigen Zuständen. Ich habe mich sofort in die Stadt verliebt
und bin geblieben.“
Kurz darauf hatte Michel die Idee, ein Geschäft zu eröffnen, dass es so in
Vientiane sonst nicht gab und bis heute nicht gibt. Nach und nach setzte er
diese Idee in die Tat um. Der Clou: Alles, was es in seinem Laden zu kaufen
gibt, besteht aus wiederverwertetem Material, vor allem aus Holz, daneben
auch aus Bambus, Kokosnussschalen oder aus dem Fleisch der Kokosnuss.
Ich frage ihn, ob er die recycelten Rohstoffe aus Umweltgründen verwendet.
Michel lacht: „Nein, das hatte zuerst rein wirtschaftliche Gründe. Ich hatte nicht so viel Geld, und so war es billiger. Damals war Umweltschutz hier
auch noch gar kein Thema, das kam erst in den letzten Jahren vermehrt auf.
Aber es ist ein guter Nebeneffekt.“
Das Material muss nicht nur wiederverwertet sein, es MUSS außerdem
auch aus Laos stammen – nichts darf importiert sein, beispielsweise vom
großen Nachbarn China. Darauf legt Michel großen Wert. „Dies ist ein laotisches Geschäft, und davon sollen auch Laoten profitieren.“
Die größte Besonderheit des Unternehmens liegt aber in der Belegschaft.
Insgesamt gibt es 35 Angestellte, die in einer Werkstatt wenige Kilometer
vom Laden entfernt produzieren, was später hier und in zwei anderen Geschäften in Vientiane und Luang Prabang verkauft wird. Ungefähr die Hälfte des Personals ist geistig oder körperlich behindert. Bis heute sind Behinderungen ein Tabuthema in der laotischen Gesellschaft, erzählt Michel:
„Wenn laotische Eltern ein behindertes Kind bekommen, dann gilt das als
großes Unglück, für das man sich schämen muss. Anders als beispielsweise
in Europa gibt es hier niemanden, der sich um Behinderte kümmert, es gibt
keine Behindertenwerkstätten oder ähnliches, und viele vegetieren einfach
ihr Leben lang vor sich hin.“
Chancen auf einen Ausbildungsplatz oder einen Job sind normalerweise praktisch nicht vorhanden. Diesen Menschen die Möglichkeit zu geben,
eine Ausbildung zu absolvieren und finanziell unabhängig zu sein war Michel ein Anliegen – auch wenn seine Kapazitäten natürlich begrenzt sind.
Das Anfangsgehalt seiner Angestellten liegt bei umgerechnet 45 US-Dollar,
die Bezahlung ist überdurchschnittlich. Trotzdem sagt Michel: „Ich bin Geschäftsmann und kein Wohltäter. Ich möchte mit meinem Laden Geld verdienen. Reich werde ich damit zwar nicht, aber es rechnet sich. Unsere Produkte sind etwas teurer als anderswo, aber da die Kunden wissen, wie und
von wem die Waren produziert werden, akzeptieren sie das und sind bereit,
auch ein paar Dollar mehr auszugeben.“
Sechs Monate dauert die Grundausbildung in Michels Werkstatt. Danach
werden die Azubis in den normalen Betrieb übernommen. „So was wie: Du
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Laos
kannst zwei Jahre bleiben und dann musst du dir etwas Neues suchen gibt
es bei uns nicht“, erklärt Michel. „Ich trage eine Menge Verantwortung für
diese Menschen, unter Umständen ein Leben lang.“
Michel parkt seinen Wagen am Straßenrand vor einem unscheinbaren Tor.
Ein staubiger Pfad führt zwischen ein paar Bäumen entlang. „Da sind wir,
hier ist meine Werkstatt“ sagt Michel und grinst – wahrscheinlich über mein
verdutztes Gesicht. Denn zu sehen ist erstmal nichts, was auch nur im Entferntesten an eine Werkstatt erinnern würde. Wir gehen durch das Tor und
den Pfad entlang. Nach ein paar Kurven, von der Straße aus nicht zu erkennen, tauchen zwei Häuser auf. Das eine ist noch ein Rohbau. Michel will anbauen. Aus dem anderen Gebäude, das nach vorne komplett offen ist, hört
man schon von weitem laute Geräusche. Sie stammen von Schleifrädern.
Und davon gibt es eine ganze Reihe.
An einem großen Tisch sitzt eine Gruppe Frauen. Sie produzieren Seife
aus Kokosfleisch. An einem anderen Tisch hocken Jugendliche und arbeiten
an Kerzenhaltern. Drei von ihnen sitzen im Rollstuhl. In der Mitte der Halle
steht Sokchai. Er ist 30 Jahre alt und Mitarbeiter der ersten Stunde. „Mein
bester Mann“ sagt Michel, und Sokchai strahlt über das ganze Gesicht. „Eigentlich wollte ich ja Elektriker werden“, gibt er zu, „aber mittlerweile kann
ich mir gar keinen anderen Job mehr vorstellen. Ich liebe es einfach, mit
Holz zu arbeiten, es ist kreativ und wird nie langweilig.“ Sokchai hat als
Auszubildender angefangen, heute bildet er selbst aus.
Sourna sitzt am Schleifrad. Konzentriert hält er ein vielleicht zwei Zentimeter großes Stück Holz an die rotierende Scheibe, erst die eine Seite, dann
die andere. Dann probiert er aus, ob es auf das Cremedöschen mit dem Mosaikmuster passt, das vor ihm steht. Er muss an einer Ecke nachschleifen,
dann sitzt alles und er kann das Teil ankleben. Sourna ist sehr geschickt mit
seinen Händen – seine Füße dagegen kann er kaum bewegen. Beide Beine
sind verwachsen, die Knochen verbogen. Er hat einen Rollstuhl, für kürzere
Wege benutzt er Krücken. Seit einem Jahr arbeitet er in der Werkstatt, und
in dieser kurzen Zeit ist er schon zum Lehrer befördert worden. „Sourna hat
eine sehr schnelle Auffassungsgabe und ist intelligent“, sagt Michel, „mit
den Händen kann er genauso schnell arbeiten wie andere auch. Und trotzdem wollte ihn auf dem normalen Arbeitsmarkt niemand haben.“
Als wir uns verabschieden und die Werkstatt verlassen, ruft Michel Sokchai zu, dass er wahrscheinlich in drei Tagen wiederkommt. Er schaut durchschnittlich zweimal pro Woche vorbei, um Hallo zu sagen und Sokchai Geld
für die nächsten Materialeinkäufe zu geben. Die Arbeit in der Werkstatt erledigen die Mitarbeiter komplett eigenverantwortlich. „Da mische ich mich
nicht ein, da störe ich nur“ meint Michel, lacht und winkt seinen laotischen
Handwerkern noch einmal zu.
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Laos
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13. Die Entwicklung der Tourismusbranche
Im Jahr 2006 kamen insgesamt 1.215.106 ausländische Touristen nach
Laos, blieben im Durchschnitt für sieben Tage und brachten dem Land über
173 Millionen US-Dollar ein. Ein Rekord-Ergebnis. Zum Vergleich: zehn
Jahre vorher – 1996 – lag die Zahl der Besucher bei 403.000.
Innerhalb weniger Jahre hat sich die Tourismusbranche zu einer der Top3-Wirtschaftszweige entwickelt, berichtet Phengchanh Phengmuang von
der Nationalen Tourismusbehörde. Seit Anfang der 90er Jahre sind die Zahlen fast immer kontinuierlich gestiegen. „Für 2010 haben wir uns das Ziel
gesetzt, zwei Millionen Touristen nach Laos zu locken“, sagt Phengchanh
Phengmuang. Erhoffte Einnahmen: 290 Millionen Dollar.
Zwei Büros weiter sitzt seit wenigen Monaten Kirsten Focken. Die Deutsche kam als „integrierte Fachkraft“ der CIM nach Laos und arbeitet jetzt in
der Marketing-Abteilung des Tourismusbüros: „Meine Aufgabe ist es, Laos
international bekannter zu machen“. Das Merkmal, mit dem sich Laos am
besten vermarkten lässt, ist die Natur. „Im Vergleich zur Einwohnerzahl hat
Laos viel mehr Natur zu bieten als sämtliche Nachbarländer, außerdem ist
es hier ruhiger und weniger erschlossen, und gerade das macht für viele den
Reiz aus“, berichtet Kirsten Focken. „Dazu kommt, dass die Menschen hier
den Ruf haben, sehr freundlich zu sein. Laos gilt als relaxter als die umliegenden Länder, und die Kriminalitätsrate ist deutlich niedriger.“
Natürlich freuen Kirsten Focken die guten Zahlen – aber Wachstumsraten
von 20 Prozent – was in Südostasien in den letzten Jahren durchaus vorgekommen ist, hält sie in Laos nicht für realistisch. Ihr geht es vielmehr um
eine kontrollierte Entwicklung gemeinsam mit den Laoten und möglichst
ohne weitere Schäden für die Natur. Die leidet ohnehin in Laos – wobei daran nicht nur der Tourismus schuld ist: „Die massenhafte Abholzung der
Wälder ist ein großes Problem für unsere Branche. Besonders, weil wir ja
explizit mit der Natur werben. Aber wenn man beispielsweise im Norden
durch die Provinz Luang Namtha fährt, sieht man fast nur noch kahle Hänge, dort sind mittlerweile große Teile des Waldes gerodet. Das TourismusMinisterium versucht zwar auf politischer Ebene den Trend zu stoppen, aber
es gibt auch andere Kräfte in der Regierung, die nicht so sehr den Wirtschaftsfaktor Tourismus im Blick haben als vielmehr das gute Geschäft mit
dem Holz und das schnelle Geld, das damit zu verdienen ist.“
Das touristische Potential des Landes sei noch nicht ausgeschöpft, außerdem seien die Besucher noch nicht in sämtlichen Provinzen zu finden, sondern bislang lediglich in ein paar „Ballungszentren“ wie Vientiane oder in
der alten Königsstadt Luang Prabang. Ein absoluter Kernpunkt ist für Kirsten Focken die richtige Werbung – und die richtige Zielgruppe: „Es geht vor
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Laos
allem um die Frage, welche Touristen man anziehen will. Die Antwort ist
natürlich: die, die auch Geld mitbringen und es auch für Tourismusprojekte ausgeben, von denen die lokale Bevölkerung profitiert. Solche Touristen
braucht das Land viel mehr als die Backpacker mit kleinem Budget, die sich
für einen Dollar pro Nacht in einem Guesthouse einquartieren. Fahren Sie
mal nach Vang Vieng, dann wissen Sie, was ich meine.“
14. Beatles, Pizza, Sitcoms
Ich beherzige ihren Rat und fahre mit dem Bus die gut drei Stunden
nach Vang Vieng. Früher einmal muss Vang Vieng ein idyllischer Ort gewesen sein, malerisch an einem kleinen gewundenen Fluss gelegen, an dessen
Ufer bizarre Felsformationen aus dem Wald aufragen. Die Natur ist wunderschön – Vang Vieng selbst ist es nicht. Rund 12.000 Einwohner hat der
Ort an der Nationalstraße 13 zwischen Vientiane und Luang Prabang. Doch
die Zahl trügt, denn in der Hoch-Urlaubssaison sind es viel mehr. Einige
Dutzend Hotels, Guest Houses und Bungalows gibt es hier. Die billigsten
Unterkünfte bekommt man schon ab einem oder zwei Dollar. Das zieht
Rucksack-Touristen aus Europa, Australien und den USA an. Sie gehen in
den Bergen Klettern und machen Mountainbike- oder Kajaktouren. Dementsprechend reiht sich auf der Hauptstraße ein Anbieter an den nächsten.
Es ist laut in Vang Vieng. Aus sämtlichen Geschäften dröhnt Pop-Musik,
Robbie Williams, Shakira oder auch mal die Beatles. Und abends verwandelt sich Vang Vieng in eine einzige Partymeile. Für laotische Verhältnisse
hat der Ort mit seinen überall leuchtenden Neon-Schildern und den blinkenden Lichterketten fast schon Las-Vegas-Flair. Essen kann man hier wie
in Europa oder den USA: es gibt Pizza, Burger und Pommes. Und noch etwas gibt es, das sich großer Beliebtheit erfreut: Sobald es dunkel wird, versammelt sich die jugendliche Fangemeinde auf den Sitz-Matten in den wie
an einer Perlenkette aufgereihten Straßenrestaurants und schaut fasziniert
auf die Mattscheibe. Auf mehreren Fernsehern nebeneinander flimmert
„Friends“, eine amerikanische Sitcom – selbstverständlich auf Englisch.
Und außerdem in sämtlichen Restaurants. Warum es gerade diese Serie
sein muss, habe ich nicht begriffen – aber ein Zufall war es nicht. Gleich
zwei Leute hatten mir vor meinem Ausflug nach Vang Vieng schon davon
erzählt. Denn das Schauspiel wiederholt sich wohl jeden Abend. Mehrere
Folgen laufen nacheinander, genug Zeit also, um sich nebenher gemütlich
zu betrinken.
Vang Vieng hat mit dem, was ich sonst von Laos gesehen habe, nicht
viel gemeinsam. Glücklicherweise, würde ich sagen. Noch stellt der Ort
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eine Ausnahme dar, doch wenn man sich die Anzahl ähnlicher Backpacker-Hochburgen im benachbarten Thailand ansieht, dann kann man erahnen, wohin die Reise auch in Laos gehen könnte.
15. Die andere Seite
Eine ganz andere Ausnahme ist die rund 50.000 Einwohner zählende
Stadt Luang Prabang. Hier wird gewissermaßen das Kontrastprogramm zu
Vang Vieng geboten. Die frühere Königsstadt und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz gilt als DAS Aushängeschild des Landes – und als größter
Touristenmagnet. Besonders, seit Luang Prabang im Jahr 1995 in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen wurde: als eine der in ihrer
Ursprünglichkeit am besten erhaltenen Städte Asiens. Der Stadtkern liegt
auf einer Halbinsel, malerisch eingerahmt vom Mekong und seinem Nebenfluss Nam Khan. In der Stadt reihen sich auf kleinem Raum – alles in
fußläufiger Entfernung – jahrhundertealte Pagoden und gut erhaltene Tempelanlagen aneinander. So geballt, dass es fast unwirklich scheint. An praktisch jeder Ecke gibt es Zeugnisse der Vergangenheit zu sehen und zu besichtigen. Nicht nur buddhistische, sondern auch Spuren aus der Zeit, als
Laos französische Kolonie war. Die Architektur der Häuser oder der Restaurants auf der belebten Hauptstraße geben Luang Prabang einen Hauch von
südeuropäischem Flair. Es ist außerdem die sauberste Stadt, die ich in Laos
gesehen habe. Anders als in Vientiane oder Phonsavanh sieht man hier nur
selten Müll an den Straßenrändern liegen.
Die Entwicklung der Tourismusbranche hat ganz offensichtlich Geld nach
Luang Prabang gespült: Es gibt eine Reihe Luxus-Hotels, edel ausgestattete
Massage-Salons und überall Boutiquen mit feinen Stoffen, Holzschnitzereien oder Silberschmuck. Die Stadt ist bekannt für ihre hochwertigen handwerklichen Produkte „Made in Lao“. Und all das kostet natürlich. Luang
Prabang ist vergleichsweise teuer. Hier muss man deutlich tiefer in die Tasche greifen als beispielsweise in Vang Vieng.
Trotzdem zieht Luang Prabang auch Scharen von jungen Leuten an. Denn
das Angebot an Outdoor-Aktivitäten ist groß: Auch hier kann man Klettern,
Kajak fahren, Höhlen besichtigen oder auf Elefanten reiten.
Ähnlich wie Vang Vieng nimmt Luang Prabang meiner Meinung nach
aber auch eine absolute Sonderstellung ein. Obwohl die Stadt zu den Touristenmagneten des Landes zählt, habe ich nirgendwo sonst eine ähnlich magische Atmosphäre erlebt. Sowohl die Einheimischen als auch die ausländischen Besucher scheinen von der Stimmung Luang Prabangs verzaubert.
Und so passt auch die Beschreibung, die verschiedene Reiseveranstalter
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Esther Broders
Laos
benutzen: In ihren Werbebroschüren nennen sie Luang Prabang einfach nur
das „Juwel vom Mekong“.
16. Die Akha-Experience
Der Wasserfall donnert den Felsen hinab und gluckert dann als kleiner
erfrischender Bach an der Lichtung vorbei. Als meine beiden Tourguides
Ketkeo, Sorjae und ich dort nach mehrstündigem Marsch durch den Wald
ankommen, ist der „Mittagstisch“ am Fuß des Wasserfalls schon festlich gedeckt: ein großes Stück Baumrinde – auf ein paar Stöcken angebracht; als
Tischdecke dienen Bananenblätter. Darauf in ausgehöhlten Bambus-Stangen das Essen: Klebreis, verschiedene Gemüsesorten und Eier. Alles nach
Tradition der Akha zubereitet. Dass das Essen dort mitten im Dschungel auf
uns wartet, ist natürlich kein Zufall. Eine ältere Frau und ein Junge haben es
für uns aus ihrem Dorf gebracht. Es ist Bestandteil der „Akha-Experience“.
Die „Akha-Experience“ ist ein Community-Tourism-Projekt in Muang
Sing in der bergigen nord-laotischen Provinz Luang Namtha. In Luang
Namtha wird die ethnische Vielfalt des Landes besonders deutlich. Insgesamt leben – so schreibt die Vientiane Times im November 2007 nach den
jüngsten Regierungsangaben – Menschen aus 49 verschiedenen Ethnien in
Laos. Je nach Qualifizierung variiert diese Zahl allerdings deutlich: manchen Quellen zufolge sind es sogar 68. Luang Namtha ist die „Heimat“ von
mehreren Dutzend Ethnien, darunter auch die der Akha. Insgesamt gibt es
in Laos gut 65.000 Akha, das sind 1,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im
31.000 Einwohner zählenden Distrikt Muang Sing sind allerdings 65 Prozent der Bevölkerung Akha (Quelle: Tribal Museum Muang Sing) – dort
stellen sie also die Mehrheit. Die Akha sind ein Bergvolk, das ursprünglich
aus dem tibetanischen Hochland stammt und nach China, Myanmar, Thailand und Laos abgewandert ist.
Man trifft sie in der Stadt Muang Sing selbst, viele leben aber auch weit
abgeschieden und in einfachsten Verhältnissen in den Bergen, betreiben
Subsistenz-Landwirtschaft und bleiben weitgehend unter sich. Sie gehören zu denjenigen, die von Wandel und Fortschritt praktisch ausgeschlossen sind. In Laos zählen sie zu den Ärmsten. Ihnen die Möglichkeit zu geben, Geld zu verdienen und trotz schwieriger Umstände von der sich rasant
entwickelnden Tourismus-Branche zu profitieren – ohne dabei die eigene
Kultur und Tradition über Bord zu werfen – das ist das Ziel der „AkhaExperience“. Dabei handelt es sich um ein von der GTZ entwickeltes und
gemeinsam mit der laotischen Regierung und einem Tourismus-Anbieter
durchgeführtes Public-Private-Partnership-Unterfangen. Die „Akha-Expe-
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Laos
Esther Broders
rience“ richtet sich nicht an Billigtouristen, sondern ist für ein gut zahlendes
Publikum konzipiert.
Luang Namtha liegt im Gebiet des früher berüchtigten Goldenen Dreiecks
und war vor allem für Drogenanbau und -handel bekannt. Heute versucht
die Provinz, sich einen Namen als Ökotourismus-Standort aufzubauen.
Mehrere Anbieter werben mit Trekking-Touren in die umliegenden Berge.
Die „Akha-Experience“ setzt neben der grandiosen Natur aber auch noch
einen kulturellen Schwerpunkt. So lernt man auf der ein- oder dreitägigen
Tour die Lebensweise der Akha hautnah kennen: man besucht ihre Dörfer,
isst und trinkt mit ihnen, schaut sich an, wie ihr Alltag aussieht und übernachtet schließlich in einem Guesthouse – einem Holzhaus auf Stelzen am
Rand des Dorfes - dass speziell für diesen Zweck errichtet wurde.
Weil ich an diesem Tag die einzige Kundin bin, kann ich nur die Tagestour buchen. Morgens treffe ich mich mit meinen Guides Ketkeo und Sorjae. Sorjae ist Akha. Er wird für Ketkeo ins Laotische übersetzen (der mir
dann wiederum auf Englisch erklärt, worum es geht), denn die Akha sprechen eine eigene Sprache. Ihre Geschichte wird seit Jahrhunderten von Geschichtenerzählern in Versform von einer Generation an die nächste weitergegeben. Insgesamt über 10.000 Zeilen umfasst diese Akha-Historie in
Reimen bis heute.
Auf und ab geht es durch den Wald. Unterwegs erzählt Sorjae von der Geschichte seines Dorfes. Seine Vorfahren gehören zu den Akha, die aus Thailand nach Laos einwanderten. Früher lebten sie weiter oben in den Bergen,
noch isolierter von der Außenwelt – und total verarmt. Später zogen sie näher ans Tal heran, um zumindest einen gewissen Anschluss an den Ort und
die Möglichkeit zu haben, auf dem Markt ihre Produkte zu verkaufen. Trotzdem reichte es meistens nur gerade so zum Überleben. „Durch die AkhaExperience hat sich das Leben in meinem Dorf ziemlich verändert“, sagt
Sorjae, „Früher sind niemals Touristen zu uns gekommen. Sie hätten auch
gar nicht gewusst, wie sie uns finden sollen. Und jetzt kommen Gäste und
bringen Geld ins Dorf.“ Ein Teil des Preises, den die Kunden zahlen, fließt
direkt in die Dorfkasse. Und der Lebensstandard hat sich seitdem merklich
verbessert, meint Sorjae.
Aber auch auf andere Weise könnten die Akha von den Touristen profitieren. „Unsere Tourguides lernen mittlerweile englisch, das wäre noch vor ein
paar Jahren unvorstellbar gewesen. Vor sieben Jahren gab es an der Schule
von Muang Sing noch keinen einzigen Englisch-Lehrer.“ Sorjae gehört zu
den wenigen, die in Muang Sing zur Schule gegangen sind. Viele Akha besuchen nur die im Dorf liegende Grundschule.
Auf einem Bergkamm bleiben wir stehen: „Von hier aus kannst du in
drei Länder schauen, rechts liegt China, in der Mitte Myanmar und links
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Laos
ist Thailand“ erklärt Ketkeo. Und dann geht es abwärts ins Tal und zum
Wasserfall.
Gemeinsam mit der älteren Frau und dem Jungen marschieren wir nach
dem Essen weiter in Richtung Dorf. Der Lehm-Pfad führt steil bergauf und
hat tiefe Furchen. Obwohl sie nur Flip-Flops trägt und ich feste Wanderschuhe, habe ich Mühe, mit dem Tempo der Frau mitzuhalten. Scheinbar mühelos
„fliegt“ sie den Berg herauf, während ich ganz schön ins Schwitzen komme.
Dann sehe ich das Dorf Ban Lao Khao: eine Ansammlung von schlichten Holzhäusern, die bei den Akha traditionell auf Pfählen gebaut sind. Ungefähr 270 Menschen wohnen hier. Die Dächer sind aus Stroh. Eine Treppe
führt auf eine Art Veranda – und von dort geht es in den einzigen Raum. Wir
sind kaum im Dorf angekommen, da werden wir schon von Sorjaes Nachbarn eingeladen. Sofort zeigt er mir das Haus. Drinnen ist es schummrig, die
eine Seite des Raums ist mit mehreren Matten belegt, darauf liegen Decken.
Hier schläft die ganze Familie. Die andere Seite wird von einer Feuerstelle
dominiert – es wird im Haus gekocht. Weil es keinerlei Abzugsmöglichkeiten gibt, riecht es drinnen sehr stark nach Rauch und Ruß. Ich bin froh, als
ich wieder draußen bin und frische Luft atme.
Wir setzen uns auf kleinen Schemeln auf die Veranda. Der Hausbesitzer holt eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit. Und Schnapsgläser.
Mir schwant Übles. Bisher hatte ich noch keinen „Lao Lao“ probiert – aber
schon viele Geschichten über den selbstgebrannten Schnaps gehört. Da es in
Laos aber als sehr unhöflich gilt, eine Einladung zum „Lao Lao“ abzulehnen
– einzige akzeptable Gründe sind Medikamenten-Einnahme oder Schwangerschaft – lasse ich mir ein Glas einschenken. Vorsichtig probiere ich den
Inhalt. Und habe sofort das Gefühl, als könnte ich Feuer spucken. Die anderen amüsieren sich derweil köstlich über mein verzerrtes Gesicht und verkünden fröhlich, dass der „Lao Lao“ an die 80 Prozent Alkohol enthält. Bei
der nächsten Runde darf ich glücklicherweise aussetzen.
Eine Frau mit traditioneller Akha-Kleidung kommt auf uns zu. Die AkhaFrauen tragen farbenfrohe, mit aufwendigen Stickereien verzierte Kleider,
bunte Leggings an den Unterschenkeln und Kopfschmuck. Im Alltag fällt die
Kleidung meist etwas einfacher aus, aber die Gäste sollen einen Eindruck davon bekommen, wie die Akha sich bis heute zu sämtlichen festlichen Anlässen kleiden. Die Frau spinnt Garn aus Baumwolle. In der einen Hand hält sie
ein wattebauschgroßes Stück Baumwolle und zwirbelt blitzschnell einen Faden, der sich auf einer Spule aufwickelt. Es sieht spielerisch leicht aus, denke
ich. Sie lässt es mich probieren und lacht herzlich, als schon nach wenigen
Sekunden der Faden reißt.
Neben uns steht ein Wasserbüffel, und um uns herum laufen Schweine,
Hühner und Hunde frei herum. Die Tiere gehören hier zum Alltag und zum
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Laos
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Leben dazu. Als wir weitergehen, kommen wir an die Wasserstelle des Dorfes. Hier wird Kleidung gereinigt, geduscht oder Wasser fürs Haus geholt.
Stolz erklärt Sorjae, dass es mittlerweile sogar eine echte Pumpe gibt. Mehrere Frauen stehen im Sarong in dem eingezäunten Bade-Areal und waschen
sich, ein paar Kinder plantschen zu ihren Füßen. Einige Männer sitzen etwas entfernt auf dem Boden und unterhalten sich. „Tja, so sieht das Leben in
meinem Dorf aus“, sagt Sorjae. Als wir das Dorf verlassen, gehen wir unter
einem gezimmerten Holztor hindurch – ein typisches Merkmal der AkhaDörfer, erklärt Sorjae. Es ist ein „Spirit Gate“, das das Dorf vor allen bösen
Geistern beschützen soll.
17. „Im Moment sitzen noch nicht viele im Boot.“ –
Die soziale Schere in Laos
Die große Mehrheit der Laoten – mehr als 80 Prozent – lebt auf dem Land
und von der Landwirtschaft. Die Mehrheit von ihnen produziert allerdings
nur für den eigenen Bedarf und nicht für den Verkauf oder Export: rund 60
Prozent betreiben diese so genannte Subsistenz-Wirtschaft. Damit erklärt
sich auch, warum nur knapp die Hälfte des Bruttosozialprodukts von der
Landwirtschaft erbracht wird. Eine der ganz großen Herausforderungen in
der näheren Zukunft ist es, die Landwirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen, eine höhere Produktivität zu erzielen und so die Kluft zwischen Stadtund Landbevölkerung zu verkleinern. Im Moment ist sie groß.
Die GTZ betreibt unter Mithilfe des DED im bergigen Norden des Landes
ein Projekt, das sich mit genau dieser Problematik befasst. RDMA heißt es
– „Rural Development in Mountaineous Areas“. Das Projekt erstreckt sich
über drei Provinzen: Sayabouri, Bokeo und Luang Namtha. Ulrich Sabel-Koschella ist Landeskoordinator der GTZ in Laos und Programmleiter der RDMA-Projekte. „Was wir hier machen, ist ein integriertes ländliches Entwicklungsprogramm“, erklärt er, „das bedeutet, dass wir sehr viele verschiedene
Dinge parallel angehen und uns nicht nur auf einen Sektor konzentrieren.
Grundsätzlich arbeiten wir in drei Bereichen, zum einen sind das Wirtschaftsentwicklung und Management natürlicher Ressourcen und daneben
die soziale Entwicklung und die Institutionenförderung. Denn das, was man
bei uns an Institutionen kennt, ist in den ländlichen Räumen hier entweder
überhaupt nicht existent oder nur sehr schwach entwickelt.“
In den drei Provinzen arbeitet die GTZ jeweils mit einem Teamleiter und
mehreren laotischen Kollegen zusammen. Aber das allein reicht nicht, erklärt Uli Sabel-Koschella. Denn die Region sei ein regelrechter ethnischer
„Flickenteppich“ – hier leben Menschen aus rund 30 Ethnien. Und diese
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Laos
ethnische Vielfalt erschwert die Arbeit der Entwicklungshelfer immens:
„Man muss nicht nur verschieden auf diese Ethnien zugehen, sondern auch
verschiedene Sprachen beherrschen, und die sprechen zum Teil auch unsere
laotischen Mitarbeiter nicht, das heißt, sie müssen Übersetzer haben, oder
wir müssen zusätzliche Leute anstellen. Deshalb haben wir eine relativ große Anzahl von „community development advisern“ dabei, die aus der Region rekrutiert werden und sowohl Lao als auch die betreffenden anderen
Sprachen sprechen.“ Und was noch dazu kommt: Längst nicht alle dieser
Sprachen sind verschriftlicht, viele werden nur gesprochen.
In der Provinz Luang Namtha gibt es über 100 Projektdörfer in den zwei
Distrikten Muang Sing und Nalae. Teilweise liegen diese Dörfer fernab
der nächsten Straße und sind auch nicht über den Fluss direkt zu erreichen. Um dort hinzugelangen, ist ein gewaltiger logistischer Aufwand nötig, erzählt Ulrich Sabel-Koschella. Er hat es ausprobiert: „Zuerst fliegt
man von Vientiane nach Oudomxay, dann fährt man mit dem Wagen bis
zur Distrikt-Hauptstadt Nalae. Man übernachtet dort und bespricht sich
mit den Distrikt-Verwaltungsbehörden. Danach geht es per Boot weiter.
Auf das Boot werden auch ein Geländemotorrad und ausreichend Benzin
geladen. Man fährt den Fluss hinunter bis man an eine Stelle kommt, von
der aus man dann mit dem Motorrad in die Berge zu den Dörfern hoch
kann. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man auch mit dem Motorrad nicht mehr weiterkommt, wo es außer Fußpfaden überhaupt keine
Wege mehr gibt. Tja, und da lässt man das Motorrad zurück und geht zu
Fuß weiter – zwei, drei Tagesmärsche. Später geht es auf demselben Weg
wieder zurück.“ Die Geschichte macht deutlich, wie schwierig die Voraussetzungen zur Hilfe hier sind. Die Menschen in den betroffenen Dörfern
sind von der Welt weitgehend abgeschnitten, sie verfügen kaum über Bildung und haben auch kaum Möglichkeiten, Geld mit landwirtschaftlichen
Produkten zu verdienen, weil der Weg bis zum nächsten größeren Ort einfach zu weit ist.
Früher wurde in diesen Bergdörfern vor allem Mohn als Cash Crop angebaut und Opium produziert. Das habe ganz einfache Gründe, sagt Ulrich
Sabel-Koschella. Denn mit Opium habe sich zum Einen gutes Geld verdienen lassen und zum Anderen sei es perfekt geeignet für die Lebenssituation
in den Bergen – weil die gesamte Ernte eines Bauern nur ein ungefähr faustgroßes Bällchen ist, dass man leicht auch über weite Wege zum nächsten
Abnehmer transportieren kann.
Auch heute noch wird in Laos Opium angebaut – in Muang Sing wurde mir beispielsweise jeden Tag etwas auf der Straße angeboten. Aber die
Zeiten haben sich trotzdem deutlich geändert. „Opium-Anbau ist in Laos
in den letzten Jahren sehr stark und auch mit sehr rigiden Methoden ein-
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Laos
Esther Broders
geschränkt worden. Und die Regierung hat das Land mittlerweile weitgehend für opiumfrei erklärt. Die Menschen, die früher mit dem Opiumanbau Geld verdient haben, müssen jetzt etwas anderes machen.“ Doch
dafür einen Ersatz zu finden, sei eins zu eins gar nicht möglich, weil es
nichts gäbe, bei dem der Transport so unkompliziert sei wie beim Opium –
und die Produktivität dadurch vergleichsweise hoch. Alternative Einkommensmöglichkeiten zu finden, um das wirtschaftliche Auskommen der
betroffenen Menschen trotz der schwierigen Infrastruktur zu sichern, ist
Teil der Arbeit beim RDMA-Programm von GTZ und DED. Dabei geht
es zuerst einmal um grundsätzliche Fragen wie: Welche Produkte sind gefragt? Wofür gibt es einen Absatzmarkt? Und welche Nachfrage können
die Bergdorf-Bewohner realistischerweise befriedigen? Vieles ist derzeit
aufgrund der mangelnden Infrastruktur schlicht nicht möglich, sagt Ulrich Sabel-Koschella. Auch die Regierung hat das erkannt – und praktiziert einen eigenen Lösungsansatz: „Es gibt hier eine massive Umsiedlungspolitik. Die kleinen verstreuten Dörfer werden praktisch komplett
verlegt – in die Nähe einer Straße oder eines Flusses. Das macht natürlich
auch erstmal Sinn, allerdings geschieht es teilweise mit Druck von oben.
Da ist dann das Militär freundlicherweise beim Umzug behilflich.“ Umgesetzt wird die Umsiedlungspolitik in den Distrikten, sie sind für die Organisation verantwortlich. Dadurch unterscheiden sich die Vorgehensweisen bei der Umsiedlung – abhängig vom Personal – teilweise sehr stark
voneinander.
Ulrich Sabel-Koschellas Büro ist in Vientiane, weit entfernt von Distrikten wie Nalae und Muang Sing. Es liegt gewissermaßen in einer anderen, einer viel schnelleren Welt. Sabel-Koschella beobachtet seit über drei Jahren,
wie schnell sich Vientiane entwickelt und verändert. Und er weiß gleichzeitig, wie lange Veränderungen auf dem Land dauern können: „Der Fortschritt
passiert in den Städten, auf dem Land merkt man davon nichts. Alles, womit man irgendwie Geschäfte machen kann, wird natürlich erstmal in den
Städten gehandelt – entlang der großen Straßen. Und dann gibt es auch noch
zusätzliche Mechanismen, die zur Kluft beitragen. Die Wertschöpfung passiert nicht nur im städtischen Raum, aber ein Großteil des erwirtschafteten
Geldes landet dort. Bestes Beispiel: Die größten Einnahmen des Staatshaushaltes stammen derzeit aus der Wasserkraft und aus dem Bergbau. Die Wasserkraft wird im ländlichen Raum erzeugt – der Strom kommt aus Staudämmen, die irgendwo im Land sind und nicht in der Hauptstadt – und auch die
Minerale für Kupfer oder Gold werden irgendwo in den Bergen geschürft.
Dort wird das Geld hergeholt, aber es bleibt halt nicht da, sondern fließt sozusagen über den zentralen Staatskanal in die Städte. Man muss das Geld
irgendwie wieder zurückleiten.“
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Esther Broders
Laos
18. Tierfutter und Mangos aus dem Grünen Dreieck
„I would like a mango juice“ – gerade bin ich nach achtstündiger Reise in
Muang Sing angekommen, der Hauptstadt des Sing-Distrikts in der Provinz
Luang Namtha, wenige Kilometer südlich der chinesischen Grenze. Ich sitze in einem der Restaurants auf der einzigen geteerten Straße und denke mir,
dass ein frischer Mango-Saft jetzt genau das Richtige wäre (in Phonsavanh
hatte ich immer fantastische Mango-Shakes). Der Besitzer – ein alter Mann,
der eigentlich immer lächelt – zuckt bedauernd die Schultern und erklärt
mir: „Don’t have. Wrong time of year.“ Natürlich weiß ich es zu diesem
Zeitpunkt noch nicht, aber Mangosaft wird bei meinem Besuch in Muang
Sing später noch eine Rolle spielen.
Muang Sing ist einer der beiden Projekt-Distrikte des RDMA-Programms
der GTZ, das unter Mitarbeit des DED durchgeführt wird. Gut 50 so genannte „Target Villages“ gibt es hier, dazu kommen fast 60 weitere im südlich gelegenen Distrikt Nalae. Ich bin nach Muang Sing gekommen, um mir
anzuschauen, wie und unter welchen Umständen die Mitarbeiter der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hier arbeiten. „Eigentlich hätten wir
Dich gern auf einen Field Trip nach Nalae mitgenommen“ sagt GTZ-Mitarbeiterin Elizabeth Vochten mir im Vorfeld, „aber dafür hättest Du einfach
mehr Zeit gebraucht.“ Stattdessen empfiehlt Teamleiter Dr. Peter Reckhaus
einen Besuch in näher gelegenen und einfacher zu erreichenden Dörfern in
Muang Sing – mit Gregor Schwarzer vom DED, der im Rahmen des RDMA-Programms für den Bereich SME, also „Small and Medium Enterprises“ zuständig ist: „Wobei „small“ eigentlich schon eine Übertreibung ist.
Mikro wäre wohl der bessere Ausdruck. Denn für mich ist schon jeder, der
sein Schwein zum Verkauf auf den Markt treibt, ein Unternehmer.“
Gregor Schwarzers Aufgabe ist es, Wertschöpfungsketten für die Bevölkerung in seinen Projekt-Dörfern zu entwickeln. Das heißt, er sucht nach
lokalen Produkten, für die es – trotz teilweise schwieriger Zugangsbedingungen – einen Markt gibt. Eine ganz zentrale Rolle soll dabei die dörfliche Viehhaltung spielen. Im Moment läuft sie noch völlig unkontrolliert ab.
„Uns geht es darum, Tieraufzucht und -haltung insgesamt so zu verbessern,
dass sich die Einkommen aus der Tierproduktion nahezu verdoppeln. Im
Moment dauert es beispielsweise bis zu 18 Monate, um ein Schwein groß
zu ziehen. Und viele Tiere erreichen dieses Alter gar nicht erst, zwischen 60
und 70 Prozent der Hühner und Schweine sterben vorher. Sie sind meistens
total verwurmt und anfällig für Krankheiten.“ Dieses Problem aber ließe
sich relativ einfach beheben, durch Wurmpillen und Impfungen – dadurch
könnte die Tiersterblichkeit von gut 60 auf unter 30 Prozent pro Jahr gemindert werden, erklärt Schwarzer. Die Schwierigkeit liegt darin, die Dörf-
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Laos
Esther Broders
ler davon zu überzeugen, solche Maßnahmen durchführen zu lassen. „Sie
kennen das einfach nicht und sind Neuem gegenüber oft skeptisch.“ Bei
seinem Vorhaben, die Bevölkerung in den Bergdörfern von dieser „neuen“
Methode zu überzeugen, setzt der 53-jährige auf einheimische Mithilfe. In
jedem Dorf gibt es eine Art einfachen „Tierarzt“. Und dieser ausgebildete
Tierpfleger soll praktisch mit gutem Beispiel vorangehen, er soll seine eigenen Tiere impfen und behandeln. Wenn dann andere Tiere erkranken und
seine nicht, werden die anderen Dorfbewohner nachziehen, hofft Gregor.
Die Impfungen sind aber nur das eine. Daneben geht es auch ums Futter.
Das soll verbessert werden, um die Aufzucht- und Mast-Zeit auf höchstens
ein Jahr zu verkürzen. Deshalb hat Gregor Schwarzer vor, eine kommerzielle Tierfutter-Produktion aufzubauen. Als Standort für die Futter-Herstellung
hat er das Akha-Dorf Meuto Kao ausgewählt. Das Dorf liegt eigentlich nur
50 Kilometer Luftlinie von Muang Sing entfernt. Aber weil die Straße dorthin noch nicht fertig ist, ist der Weg zurzeit noch eine wahre Odyssee: zwei
Tagesreisen braucht man, um Material nach Meuto Kao zu transportieren,
per Boot über den Mekong und dann per Einachs-Traktor über halsbrecherische Bergpfade.
Gregor erklärt, was er genau vorhat: „Wir werden den Bauern aus der
Umgebung einen Teil ihrer Ernte abkaufen, vornehmlich Mais, Maniok, Sesam und Reiskleie und nach Meuto Kao liefern lassen, das verschafft ihnen
ein Einkommen. Den Dörflern dort bringen wir bei, wie man protein- und
energiereiches Hühner- und Schweinefutter herstellt, welche Zutaten in welcher Menge rein müssen und so weiter. Ein wichtiger Bestandteil dabei sind
Sesamkörner, die sind sehr fett- und proteinhaltig. Wir werden eine Presse
nach Meuto Kao bringen, und dann können dort die Körner ausgegepresst
werden.“ Im Moment gibt es nur importiertes Futter auf Provinzmärkten zu
kaufen – vor allem aus China, aber auch aus Thailand. Das Futter aus Meuto
Kao könne aber viel billiger produziert und verkauft werden, erklärt Gregor
Schwarzer: „Für importiertes Futter zahlt man pro Kilo 7.500 Kip, unseres
dagegen wird nur ungefähr 4.000 Kip kosten. Und wir möchten es einmal
in der ganzen Provinz Luang Namtha auf den Markt bringen. So bleibt alles
Geld – von der Produktion bis zum Absatz – in unserem Distrikt, und durch
den Verkauf von Futter und Tieren fließen zusätzliche Geldmittel aus der
Provinz ein.“ Dabei wird nichts verschwendet. So sollen gleich zwei Fliegen
mit einer Klappe geschlagen werden. Denn der Sesam erweist sich als dankbares Korn: „Beim Pressen entsteht zum Einen der proteinhaltige Sesamkuchen, der ins Tierfutter wandert. Daneben erhält man aber auch Sesam-Öl.
Und das wollen wir auf den Markt bringen. Es ist qualitativ hochwertig, da
kalt von Hand gepresst, und momentan gibt es in Laos keinen einzigen Hersteller von Sesam-Öl. Es wird ausschliesslich importiert, z.B. aus Thailand
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Esther Broders
Laos
und Korea, und da unser Produkt wesentlich preisgünstiger ist, gibt es dafür auch einen Markt. Die Test-Verkäufe zeigen das deutlich. Wir haben ein
paar Flaschen in Geschäften in Vientiane in den Handel gebracht, und die
Leute haben sie uns praktisch aus der Hand gerissen.“
Noch steht das Tierfutter-Projekt relativ am Anfang, aber Gregor Schwarzer plant, die Produktion innerhalb der nächsten Monate ins Rollen zu bringen. Und wenn sich alles eingespielt hat, wird das Tierfutter-Unternehmen
in laotische Hände übergeben – sprich an einen örtlichen Interessenten verkauft – der es dann selbstständig weiterführen soll. Angepeilter Termin dafür ist Ende 2008. Und wenn alles nach Plan verläuft, sollen dort bereits im
ersten Jahr 15 Tonnen Futter produziert werden – wobei die Kapazität bis zu
100 Tonnen zulässt und daher sukzessive gesteigert werden soll.
Einen Namen für sein „Baby“ hat Gregor Schwarzer auch schon: „Green
Triangle Products“ soll auf den Futtersäcken stehen, eine Anspielung auf
das Goldene Dreieck und vor allem darauf, dass die Region jetzt für etwas
anderes als die Drogengeschäfte steht.
Die meisten Dörfer in Muang Sing haben früher ganz auf den Opiumanbau gesetzt. Alternative Einkommensmöglichkeiten seit dem Anbau-Verbot
durch die laotische Regierung waren bisher Mangelware. Auch Lorsee und
Peeyer gehörten einmal zu den klassischen Opium-Dörfern. Jetzt sollen sie
statt auf Mohn auf Mangos setzen.
Im Geländewagen sind wir unterwegs nach Lorsee, einem Akha-Dorf mit
410 Einwohnern ungefähr zehn Kilometer von Muang Sing entfernt. Schon
kurz nach dem Ortsausgang geht es von der geteerten Straße ab – auf einer Furche durch wilde Felder. Die Fenster müssen geschlossen bleiben,
denn der Weg ist so eng, dass ständig Zweige über Scheiben und Türen peitschen. Außerdem gibt es etliche Schlaglöcher. In der Regenzeit ist der Weg
praktisch nicht befahrbar, und auch sonst benutzen die Mitarbeiter eigentlich Motorräder. Aber dieses Mal sind wir einfach zu viele: neben dem Fahrer und Gregor Schwarzer ist außerdem noch Jörg Hager dabei – ein neuer
DED-Mann auf Einarbeitungsreise – sowie zwei Beamte der Distrikt-Behörde für Industrie und Handel. Und ich.
Gregor erzählt, was es mit den Mangos auf sich hat. Vor fünf Jahren wurden im Rahmen des RDMA-Programms in einigen Projekt-Dörfern MangoBäume gepflanzt, und mittlerweile tragen sie Früchte. Da hiesige Mangos
aber alle im Juni oder Juli reif sind und praktisch gleichzeitig geerntet werden müssen, gibt es in diesen Monaten auf dem Markt von Muang Sing ein
Überangebot. Dementsprechend sind die Preise im Keller. Das Problem ist
auch, dass die Früchte schnell faulen und damit wertlos werden. Auf der Suche nach Konservierungs- und Absatzmöglichkeiten – und damit einem Einkommen für die Baum-Besitzer – kam Gregor Schwarzer die Idee, Mango-
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Laos
Esther Broders
Saft herzustellen. „Hier kommen die Touristen ins Spiel. In den Restaurants
sind die frischen Fruchtsäfte und -shakes sehr beliebt. Mangos gibt es aber
immer nur in der Saison. Und wenn wir einen leckeren und mehrere Monate
haltbaren Saft herstellen, können wir ihn fast das ganze Jahr über anbieten.“
Leider kann der Saft nicht in den Dörfern selbst produziert werden, weil
dort einfach die Voraussetzungen nicht gegeben sind – nicht zuletzt auch
in punkto Hygiene. Aber Gregor Schwarzer hat vorgesorgt: Er hat eine Familie in Muang Sing gefunden, die bereits aus Sojabohnen Gewürzsoße für
die Suppenküchen herstellt und die Saft-Produktion gern zusätzlich übernehmen würde. Er zeigt uns ein Sample: eine durchsichtige Glasflasche mit
Green-Triangle-Label. Auf der Hinterseite steht außerdem, dass die Früchte aus einem Akha-Dorf stammen. Auch um mögliche Abnehmer hat Gregor Schwarzer sich schon bemüht. Er hat in Muang Sing mit Restaurantbesitzern gesprochen und sie auf den Mango-Saft aufmerksam gemacht. Bis
jetzt, so sagt er, war das Interesse allgemein groß. Und nun geht es darum,
die eigentlichen Mango-Lieferanten ins Boot zu holen. Insgesamt acht Dörfer sollen an dem Projekt beteiligt sein.
In Lorsee werden wir schon erwartet und direkt zu einer alten Frau geführt. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie vor fünf Jahren Mango-Bäumchen gepflanzt. Seit einem Jahr ist sie Witwe. Wir haben Glück: Das Gespräch mit der Frau gestaltet sich vergleichsweise einfach, denn sie spricht
neben der Akha-Sprache auch laotisch. Gregor fragt, wie viele Bäume sie
besitzt. „So ungefähr 35“ sagt sie und zeigt auf ihre „Plantage“. Die Bäume
sind in keinem besonders guten Zustand, sie sind nicht gepflegt, stehen wild
durcheinander und der Boden ist mit Unkraut übersäht. Die Ernte sei in diesem Jahr nicht gut gewesen, sagt die alte Frau. Sie habe Probleme mit Insekten. Genauer kann sie es aber nicht beschreiben. Auf die Frage, welchen
Preis sie sich für ein Kilo Mangos vorstellen könnte, schaut sie Gregor verständnislos an. Sie weiß nicht, was ein Kilogramm ist, rechnet immer nur in
Stückzahlen. „Das ist eines der ersten Dinge, die wir den Menschen beibringen. Sie müssen lernen, mit einer Waage und mit Maßeinheiten umzugehen.
Das ist in diesem Kontext wichtiger als Lesen und Schreiben“ sagt Gregor.
Er erklärt der Frau, dass er einen Abnehmer hat, der gerne im kommenden
Sommer ihre gesamte Ernte aufkaufen möchte, um aus den Mangos Saft
und daneben auch Kompott und Marmelade herzustellen. Dann zeigt er ihr
die Samples. Staunend hält sie die Flasche in den Händen, dreht sie herum.
Ich habe den Eindruck, dass sie in diesem Moment gar nicht richtig versteht,
worum es geht. Es ist einfach zuviel auf einmal. Aber natürlich sagt sie zu,
als Gregor Schwarzer fragt, ob sie Interesse an diesem Geschäft hätte. Sie
lächelt – und offenbart dabei einen fast völlig zahnlosen Mund. Wir verabschieden uns, wobei Gregor den beiden Distrikt-Beamten nahelegt, Folge-
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Laos
Besuche im Dorf zu organisieren, um die alte Frau detaillierter zu informieren und ihr mehr über die richtige Pflege der Mango-Bäume beizubringen.
Peeyer ist ein bisschen größer als Lorsee. 500 Menschen leben hier. Insgesamt scheint das Akha-Dorf auf den ersten Blick etwas weniger arm zu sein.
Außerdem verläuft hier eine richtige Lehmstraße, so dass der Zugang zum
Dorf weitaus einfacher ist. Auch in Peeyer haben wir es mit einer – vielleicht
40jährigen – Witwe zu tun. Auch sie hat gut 30 Mango-Bäume. Beim Anblick der Pflanzen wird sofort klar, dass sie keine Ahnung vom richtigen Anbau hat. Die Bäume stehen so dicht nebeneinander, dass die Blätter sich berühren. Es ist ein so dichtes Geflecht, dass unterhalb der Kronen kaum Licht
einfallen kann. Gregor Schwarzer ist nicht verwundert, als die Frau erzählt,
dass sie nur wenige und sehr kleine Früchte ernten konnte. „Da werden wir
wohl nicht umhin kommen, Bäume zu fällen, sonst wird das hier nichts. Und
das muss man den Menschen auch genau erklären, weil es ihnen natürlich
nicht einleuchtet, warum weniger Bäume mehr Früchte tragen sollen.“ Auch
die Frau in Peeyer sagt begeistert zu, als Gregor Schwarzer sie fragt, ob sie
an dem Projekt teilnehmen möchte. Der Besuch war ein Erfolg.
Auf dem Rückweg überlegt Schwarzer, wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Mit den Distrikt-Behörden spricht er darüber, ob man den
Dorfbewohnern einen Geld-Vorschuss zahlen könnte, um ihnen zu zeigen,
wie ernst es mit diesem Geschäft ist. Und durch Verbindlichkeit hofft er
auch den Ehrgeiz in Sachen Baumpflege anzustacheln.
Sechs weitere Dörfer stehen noch auf der Liste. Und danach heißt es Warten auf die nächste Ernte. Im Sommer 2008 werden die nächsten Mangos
reif sein. Dann soll die Produktion anlaufen. Und in der nächsten Hauptreisezeit im Winter 2008/2009 sollen die Touristen in Muang Sing und vielleicht sogar in der Provinz-Hauptstadt Luang Namtha täglich frischen Mango-Saft auf der Getränkekarte finden.
19. Ist das hier schon China oder was?
Je weiter man auf der Nationalstraße 13 nach Norden fährt, desto offensichtlicher wird der Einfluss, den der übermächtige Nachbar China in Laos
hat. Spätestens ab der Provinz Oudomxay ist es nicht mehr zu übersehen: in
der gleichnamigen Provinzhauptstadt sind viele der Hotels mit chinesischen
Namen und Schriftzeichen versehen, und der tägliche Markt scheint fest
in chinesischer Hand zu sein. Wenn man hier durch die Gänge geht, reihen
sich „Marken“-Klamotten und Accessoires aneinander: Schuhe von Puma,
Adidas oder Nike, Sonnenbrillen von Gaultier, Armani und Prada oder auch
Elektrogeräte. Alle Made in China und zu Dumpingpreisen.
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Laos
Esther Broders
Noch weiter nördlich in der Nachbarprovinz Luang Namtha sind die Straßenverhältnisse hervorragend (das fällt nach mehreren Bus-Etappen bei teilweise deutlich schlechteren Bedingungen sofort auf) – die Straße unterscheidet sich kaum von einer deutschen Bundesstraße. Kein Holpern, keine
Schlaglöcher, alles eben und in bestem Zustand. Auf die Frage, wer diesen
Straßenabschnitt gebaut hat, bekomme ich eine prompte Antwort. Die Chinesen. Natürlich nicht ganz uneigennützig, grenzt Luang Namtha doch an
die Volksrepublik. So rollen chinesische Waren über die chinesische Straße,
um in Laos an den Mann gebracht zu werden. Umgekehrt werden laotische
Produkte nach China exportiert – im Moment ist vor allem das chinesische
Interesse an Kautschuk riesig, und so sieht man entlang der Strecke immer
wieder Gummibaumplantagen.
Oft ist es so, dass laotische Rohstoffe ins Nachbarland ausgeführt und
dort verarbeitet werden, bevor sie dann als fertige Produkte doch wieder
in Laos landen. Nur ein Beispiel dafür ist das Tierfutter, von dem Gregor
Schwarzer mir in Muang Sing erzählte. Im Prinzip kaufen die Bauern ihre
eigene Ernte als Re-Import teuer wieder auf, nur weil es in ihrer Region in
Laos bisher keine verarbeitenden Betriebe gibt.
Überhaupt kann man in Muang Sing nicht übersehen, dass es nicht weit ist
nach China. Elf Kilometer von der Stadt entfernt liegt ein Grenzübergang,
den nur Laoten und Chinesen überqueren dürfen. Auf der anderen Seite liegt
die chinesische Provinz Yunnan. Ständig sieht man in Muang Sing Autos mit
chinesischem Kennzeichen, denn Tagelöhner gibt es reichlich. Zurzeit wird
in der Stadt außerdem an mehreren Gästehäusern gebaut – und selbst wenn
die Beschilderungen nicht mit chinesischen Schriftzeichen versehen wären,
die Frage, WER hinter den Bauarbeiten steckt, erübrigt sich…
20. Der Mekong, die „Mutter aller Flüsse“
Neben aller offensichtlichen Armut ist Laos doch reich – an Wasservorräten. Der Mekong und seine Nebenflüsse sind gewissermaßen die Lebensader des Landes. Über insgesamt 1.865 Kilometer Länge schlängelt
sich der Mekong durch das Land. Gelblich-braun fließt der Strom träge
an Vientiane vorbei. Auf der anderen Seite, vielleicht sechshundert Meter entfernt, liegt Thailand. Und mitten an der Ufer-Promenade – mit direktem Blick aufs Wasser – befindet sich das Sekretariat der Mekong-River-Commission (MRC). Die Kommission ist ein gemeinsames Gremium
von vier der sieben Mekong-Anrainerstaaten mit Hauptsitz in Vientiane.
Neben Laos gehören außerdem Thailand, Vietnam und Kambodscha zur
MRC – wobei Laos mit 35% den größten Anteil der Gesamt-Wassermen-
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Esther Broders
Laos
ge beisteuert. 1995 einigten die vier Länder sich darauf, das ökonomische
Potenzial des Flusses gemeinsam zu nutzen und seine Ressourcen in gegenseitiger Absprache zu managen. So soll eine gerechte und schonende
Nutzung des Flusssystems sichergestellt werden, von der sowohl die Bevölkerung als auch die Natur profitieren können. Jedes Mitgliedsland verfügt zudem über ein eigenes, nationales Komitee, das für die Umsetzung
der gemeinsam gefällten Entscheidungen im jeweiligen Land zuständig
ist. Im Jahr 2002 schlossen sich China und Myanmar der MRC als Dialogpartner an.
Das Hauptanliegen der Kommission ist der nachhaltige Umgang mit dem
Mekong, wobei das Themenfeld weit ist. Es reicht von Landwirtschaft und
Bewässerung über Schifffahrt, Energiepotential und Hochwasserschutz bis
hin zu Fischerei, Umweltschutz und Tourismus.
„Die Menschen in Laos leben mit dem Mekong und von ihm“, sagt Virginia Addison, Pressesprecherin der Mekong-River-Commission. „Für
viele ist der Fluss Lebensgrundlage. Zum einen bietet er ihnen natürlich
Nahrung – der Großteil der Bevölkerung im Mekong-Delta arbeitet in der
Landwirtschaft, die meisten betreiben Subsistenzwirtschaft. Und praktisch jeder fischt. Daneben wird der Mekong als Transportweg genutzt,
und sein Wasser landet natürlich auch in den Haushalten. Wenn Qualität
und Quantität nicht sichergestellt sind, sind die Menschen dort die ersten
Leidtragenden.“
Das Potenzial des Mekong ist riesig, erklärt Virginia Addison. So steigt
der Pegel des Flusses jedes Jahr zur Regenzeit um mehrere Meter an. Wenn
der Mekong sich schließlich ins Südchinesische Meer ergießt, dann führt er
die schier unvorstellbare Menge von rund 470 Milliarden Kubikliter Wasser mit sich.
21. „Wasser ist Macht, und Wasser ist Geld.“
Im Wasser liegt Zukunft – die riesigen Vorräte könnten eine Menge Geld
ins Land fließen lassen. Und weite Teile des gewaltigen Potentials liegen
zurzeit noch brach. Die laotische Regierung sieht darin eine Chance und
setzt für die Zukunft große Hoffnungen auf die Wasserkraft. Einerseits
wächst im eigenen Land der Hunger nach Energie - bis 2010 sollen 70
Prozent aller Haushalte über Strom verfügen. Vor allem aber soll Laos in
großem Stil Energie exportieren und – das ist der eigene Anspruch – gewissermaßen zu einer „Batterie Asiens“ werden. Denn der Strom, der hier
produziert werden kann, übersteigt den laotischen Bedarf um ein Vielfaches, und die wirtschaftlich boomenden Nachbarn sind dankbare Abneh-
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Laos
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mer. Seit dem Jahr 2000 hat Laos jedes Jahr Strom im Wert von rund 100
Millionen US-Dollar an Thailand verkauft.
Im Land wird praktisch ein Staudamm nach dem anderen gebaut.
Besonders bekannt ist das Mega-Projekt Nam Theun 2, ein 1,2-MilliardenDollar-Projekt, das unter anderem von der Weltbank finanziert wird und bis
2010 fertig sein soll. Während hier und an anderen Dämmen noch gebaut
wird, sind die nächsten schon in Planung. Insgesamt hat Laos schon jetzt
über 40 Staudamm-Projekte, darunter sechs Großprojekte. Und dabei werden im Moment nur zwei Prozent des Wasser-Potentials genutzt. Bis 2020
sind weitere 30 Wasserkraftwerke geplant. Finanziert werden sie zu 70 Prozent durch Auslandsdarlehen, der Rest stammt von Privatinvestoren – die
natürlich ebenfalls aus dem Ausland stammen.
„Wasser bedeutet Geld und Macht. Warum sollte man nicht versuchen,
damit etwas zu verdienen?“ fragt Cornelis van Tuyll. Er arbeitet für die
GTZ als Projekt-Koordinator bei der Mekong-River-Commission. „Grundsätzlich ist das erstmal in Ordnung und eine gängige Praxis. Das machen
andere Länder auch so.“ Er habe im Prinzip auch nichts gegen Wasserkraftwerke – solange der Bau ökologisch und sozial verträglich ablaufe.
„Sozial verträglich bedeutet, dass Menschen, die in einem betroffenen Gebiet
wohnen, nicht zwangsweise umsiedeln müssen, weil andere nun mal da einen Staudamm bauen wollen. Und wenn sie freiwillig umsiedeln, dann muss
gewährleistet sein, dass sich dadurch ihre Lebensqualität verbessert oder zumindest gleich bleibt und nicht schlechter wird. Und wichtig ist auch, dass
Minderheiten genauso behandelt werden wie Nicht-Minderheiten.“ Ökologisch sind solche Staudamm-Projekte für Cornelis van Tuyll nur dann vertretbar, wenn die Natur dadurch nicht in ihrem Gleichgewicht gestört wird.
In der Vergangenheit haben Kritiker der Staudamm-Politik genau das aber
immer wieder bemängelt.
Momentan zeichnet sich ein neuer Höhepunkt der Staudamm-Planungen
ab, der Cornelis van Tuyll Anlass zur Sorge gibt. So seien sechs größere
Staudamm-Projekte angedacht, die nicht in einem Nebenfluss des Mekong,
sondern im Hauptstrom selbst liegen sollen: „Zum Beispiel gibt es Pläne, an
den Mekong-Fällen an der Grenze zu Kambodscha im Süden des Landes einen Teil des Wassers abzusperren. Diese Wasserfälle sind unglaublich wichtig als Lebensraum für Fische – zwei Prozent der weltweiten Wild-FischProduktion kommt aus dem Mekong. Und die lokale Bevölkerung könnte
ohne den Fischfang gar nicht überleben. Aber das ist noch längst nicht alles.
Im Mekong-Becken leben heute schon 60 Millionen Menschen, bis 2020
werden es 100 Millionen sein. Und von den Produkten aus der Mekong-Region profitieren 300 Millionen Leute. Wenn man hier in die Natur eingreift
und das Gleichgewicht verändert, wird das immense Folgen haben.“
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Laos
GTZ-Mitarbeiter Cornelis van Tuyll bringt es auf zwei einfache Formeln:
Wenn Wasserkraft, dann in den Nebenflüssen des Mekong. Und lieber ein
paar kleinere Staudämme als einen Megastaudamm.
Er selbst hat allerdings keinen Einfluss auf die Staudamm-Politik des
Landes, auch wenn seine Arbeit durch die Entstehung von Staudämmen sehr
wohl beeinflusst wird. Schon seit mehreren Jahren betreibt die GTZ Gemeinschafts-Projekte zusammen mit der Mekong-River-Commission. Die
Projekte drehen sich immer um Ressourcen-Management. Im Moment ist
van Tuyll für die Koordination des dritten gemeinsamen Projekts zuständig.
Dabei geht es um „Watershed-Management“ – oder auf deutsch: Fluss-Einzugsgebiets-Bewirtschaftung. Cornelis van Tuyll lacht über den umständlichen deutschen Begriff. „Wobei das auch irgendwie passend ist“, meint der
Niederländer. „Denn es ist schwierig, eine eindeutige Antwort auf die Frage
zu bekommen, was Watershed-Management eigentlich ist. In den vier Mitgliedsländern der MRC bekommt man darauf vier verschiedene Antworten
– je nach Interessenlage. Wir haben es dann so definiert: Alles, was im Hinterland des Flusses und im Gewässer selbst passiert und einen Einfluss auf
das Wasser hat, muss koordiniert werden. Und das nennt man dann Watershed-Management.“ Das letztendliche Ziel sei ein gesundes Mekongbecken
mit ausreichendem Wasser in guter Qualität für sämtliche Anrainer. „Das
bedeutet: Die Bewohner am Oberlauf des Mekong müssen sich so verhalten,
dass auch die am Unterlauf noch genug Wasser abbekommen. Und das ist
teilweise schwierig zu vermitteln – schon auf Distrikt-Ebene und erst recht,
wenn gleich vier Länder beteiligt sind, die alle in erster Linie ihre eigenen
Interessen vertreten.“
Den Menschen in Laos, Thailand, Kambodscha und Vietnam klar zu machen, dass sie – auch wenn sie in verschiedenen Ländern leben – alle gemeinsam für den Fluss die Verantwortung tragen und niemand sein eigenes Süppchen kochen kann, ohne dabei auch anderen zu schaden, ist eine
Mammut-Aufgabe. „Wasser kennt keine Staats- oder Provinzgrenzen“, erklärt Cornelis van Tuyll „für die Menschen ist es einfach da, wo sie wohnen.
Dass es von irgendwo her kommt und irgendwohin fließt, darüber denken
sie oft gar nicht nach. Wir wollen erreichen, dass hier ein Umdenken stattfindet, ein gemeinsames Nachdenken über das Wassersystem.“
Im Fall Laos kam in punkto Wasser noch etwas anderes erschwerend hinzu. Denn die Zuständigkeiten waren kompliziert: Bisher sei die Wasserfrage von verschiedenen Ministerien bearbeitet worden, berichtet Cornelis van
Tuyll. So sei zum Beispiel das Thema Bewässerung im Landwirtschaftsministerium angesiedelt gewesen, Wasserkraft im Energieministerium, und
Wasserdaten und Meteorologie wieder woanders: „Es war einfach unglaublich kompliziert. Jetzt soll alles, was mit dem Thema Wasser zu tun hat, von
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Laos
Esther Broders
einer Stelle aus koordiniert werden. Es soll ein neues Ministerium geschaffen werden, die „Water Ressources and Environment Management Administration“. Dabei wird die laotische Regierung von der MRC und auch von
GTZ-Mitarbeiter Cornelis van Tuyll beraten. Es sei gut und sinnvoll, alle
Wasser-Angelegenheiten in eine Hand zu geben, meint er. Ein grundlegendes Problem ließe sich dadurch aber nicht lösen: Die Decke an qualifizierten Fachkräften sei unglaublich dünn und teilweise gar nicht vorhanden. „Es
gibt viel zu wenige Leute hier, die das Rüstzeug und das Know-how haben,
um mit einem derart komplexen Thema umzugehen. Es wird Jahrzehnte
dauern, bis Laos diesen Rückstand aufgeholt hat. Das ist eine GenerationenAufgabe.“ Genau wie die Schulung und Sensibilisierung der Bevölkerung
in punkto Watershed-Management. Zumindest das Fundament dafür soll
durch das derzeitige Pilot-Projekt von GTZ und MRC gelegt werden.
22. Jede Menge Notizen
Der Startschuss für dieses erste große Watershed-Management-Projekt in
Laos fiel im Jahr 2004. Insgesamt ist das Projekt auf zehn Jahre angelegt
und in drei Phasen unterteilt: von der Vorbereitung bis zur praktischen Umsetzung. Im Moment läuft noch die zweite Phase, in der gesetzliche Richtlinien festgelegt werden. Ab Ende 2008 soll dann in den Projekt-Gebieten der
vier MRC-Länder – parallel finden auch in Thailand, Kambodscha und Vietnam Pilot-Projekte statt – tatsächlich Watershed-Management umgesetzt
werden.
Das laotische Projekt-Gebiet „Nam Ton Watershed“ liegt ungefähr 70
Kilometer westlich von Vientiane und ist ca. 800 Quadratkilometer groß.
Insgesamt 31 Dörfer gehören dazu, verteilt über zwei Distrikte in zwei verschiedenen Provinzen. „Der untere Teil des Einzugsgebiets liegt im Distrikt Sangthong, der gehört zur Provinz Vientiane-Stadt. Und der obere Teil
liegt in der Provinz Vientiane im Distrikt Hinheub“, erklärt Simonetta Siligato, DED-Beraterin bei dem MRC/GTZ-Pilotprojekt. Und diese Tatsache ist von Bedeutung, denn sie veranschaulicht ein zentrales Problem:
„Watershed-Management ist eigentlich ein ständiger Diskussionsprozess
aller Menschen oder Parteien, die in einem Flusseinzugsgebiet leben. Sie
alle sollen regelmäßig miteinander sprechen und ihre Aktivitäten so abstimmen, dass sie zur nachhaltigen Nutzung und Erhaltung der natürlichen
Ressourcen in ihrem Lebensraum beitragen. Das ist der Optimalfall. Es ist
aber in der Realität schon schwierig, verschiedene Distrikte innerhalb einer
Provinz dazu zu bringen, miteinander Informationen auszutauschen. Noch
weitaus schwieriger ist es dementsprechend, wenn gleich zwei Provinzen
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Esther Broders
Laos
beteiligt sind.“ Genau darin liegt für Simonetta Siligato eine zentrale Herausforderung des Projekts.
Wir sitzen zu sechst im Auto. Neben dem Fahrer hocken – etwas gequetscht
– Simonetta und ich. Hinten sitzen Simonettas Kollege Phoukhong Phongsa
sowie Mr. Khampanh, der Leiter der Planungs- und Investment-Abteilung
des Distrikts Sangthong und Mr. Khammoune, der stellvertretende Leiter
des Distrikt-Kabinetts. Wir sind unterwegs: nicht im Projekt-Gebiet, sondern mehrere hundert Kilometer vom Nam Ton Watershed entfernt in der
Provinz Xieng Khouang. Hierhin hat Simonetta Siligato ihre kleine Delegation für einen zweitägigen Studien-Ausflug gebracht. In Xieng Khouang
entspringt der Nam-Ngum-Fluss, der Namensgeber von einem der ersten
Staudamm-Projekte in Laos überhaupt: Der Nam-Ngum-Staudamm und der
dazugehörige See entstanden Anfang der 70er Jahre. Und auch wenn dort
kein klassisches Watershed-Management betrieben wird und die Vegetation
große Unterschiede zu der im Nam Ton Watershed aufweist, gibt es doch
einiges, was man sich abgucken kann, erklärt Simonetta Siligato: „Durch
den Stausee hat sich das ganze Gebiet mitsamt seinen natürlichen Ressourcen verändert. Und so wurde es einfach notwendig, dass die Menschen neue
Anbau- und Viehzuchtmethoden entwickelt haben, um sich auf die Veränderungen einzustellen. Ihr Wissen geben sie dann untereinander weiter, tauschen Erfahrungen aus, sprechen sich ab, lernen voneinander und planen
schließlich gemeinsam für die Zukunft. “
Wie sich das in der Praxis eingespielt hat und wie es funktioniert, davon
sollen sich Mr. Khampanh und Mr. Khammoune in Xieng Khouang selbst
ein Bild machen. Denn auch in ihrem Projekt-Gebiet stehen für die Menschen Veränderungen an. „Bisher ist Brandrodung dort weit verbreitet. Diese Form der Landwirtschaft ist aber nicht mehr nachhaltig, weil die Bevölkerungsdichte einfach zu groß geworden ist und die Flächen nicht lange
genug brach liegen, als dass wieder fruchtbarer Boden entstehen könnte.
Das heißt, es wird zu oft etwas angebaut und der Boden laugt sich aus. In der
Folge werden die Erträge geringer und die Natur über Gebühr beansprucht.
Das heißt, die Leute müssen ihre Agrar- und Forstwirtschaft umstellen, um
ihren Lebensunterhalt sichern zu können.“ Die Wasserqualität an sich sei
noch relativ gut, sagt Simonetta. Und daran werde sich in den nächsten fünf
oder zehn Jahren hoffentlich auch nichts ändern. „Aber trotzdem ist es für
die Zukunft wichtig, dass die Jugend sich mit dem Thema auseinandersetzt.
Hier geht es ja um langfristige Perspektiven.“
Wir fahren zum örtlichen Nam-Ngum-Projekt-Büro in Phonsavanh, wo
wir von Koordinator Mr. Somboun empfangen werden. Von ihm erfahren
wir, dass – wie übrigens in ganz Laos – jeder Distrikt in der Provinz Xieng
Khouang in verschiedene so genannte „Village-Cluster“ unterteilt ist. Meh-
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Laos
Esther Broders
rere Dörfer bilden ein Cluster. Die Cluster wiederum verfügen jeweils über
ein Informationszentrum für die lokale Bevölkerung. Dort gibt es zum
Beispiel Tipps in punkto alternative Anbau- und Viehzuchtpraktiken. Mr.
Khampanh und Mr. Khammoune machen sich eifrig Notizen: Denn auch im
„Nam Ton Watershed“ soll es einmal eine solche Anlaufstelle geben. Doch
die steht noch ganz am Anfang, und etwas Vergleichbares gab es dort bislang nicht. Die Beiden betreten also Neuland.
Dann geht es – dieses Mal mit zwei Autos – weiter. Mr. Somboun will uns
eins der Informationszentren zeigen. Unterwegs halten wir plötzlich mitten auf einer Lehmstraße an. Ich frage mich warum, denn außer einer typischen Reisfeld-Terrasse ist nichts zu sehen. Simonetta erklärt mir, dass
hier das Quellgebiet des Nam Ngum liegt. Ich kann keinen Fluss entdecken.
Erst beim genauen Hinsehen erblickt man ein schmales Rinnsal zwischen
zwei Feldern. Das ist alles. Schwer vorstellbar, dass hier der mächtige Nam
Ngum entspringt.
Schließlich sind wir am Informationszentrum angekommen. Stolz zeigt
man uns Schweine- und Rinderzucht, Vorratsraum und Büro. „Zu uns kann
jeder Dorfbewohner kommen, um sich zu informieren und Tipps abzuholen.
Wir sind jeden Tag rund um die Uhr hier“, erzählt einer der Angestellten.
Außerdem wird genau Buch geführt über das „Village-Cluster“, seine Bewohner und auch den Viehbestand. Gespannt hören Mr. Khampanh und Mr.
Khammoune zu. Ich verstehe zwar nicht, was sie die Belegschaft genau fragen, aber dass sie großes Interesse an dem haben, was sie hier erfahren, das
kann ich auch ohne Laotisch-Kenntnisse erkennen.
Auch ein französisches Hilfsprojekt schauen wir uns an. Dabei geht es
speziell um den Anbau von Feldfrüchten. Immer, wenn wir stehen bleiben,
kniet sich Mr. Khammoune hin, zückt den Kugelschreiber und benutzt den
Oberschenkel als Unterlage für seinen Schreibblock. Als der Rundgang über
die Felder vorbei ist, frage ich ihn, was er aus seinen Erfahrungen in Xieng
Khouang mit nach Hause nimmt. „Ich denke, wir können uns hier einiges
abgucken“, sagt Mr. Khammoune, „die Grundidee ist sehr gut. Es geht um
die nachhaltige Bewirtschaftung und Nutzung des Landes – und das funktioniert in Xieng Khouang schon nach einem System. Bei uns ist das weitgehend noch nicht so, aber ich hoffe, dass uns diese Studien-Reise dabei hilft,
dass wir eines Tages genauso weit kommen. Jetzt ist es vor allem wichtig,
den Menschen in unseren Dörfern von dem, was wir hier gelernt haben zu
berichten, damit sie denselben Wissensstand haben und wir alle gemeinsam
an unserem Ziel arbeiten können.“ Mr. Khampanh sieht es genauso: „Ich
halte besonders die Hilfestellung, die die Informationszentren den Landwirten hier bieten, für wichtig. So etwas würde ich bei uns auch gern einrichten.
Jetzt müssen wir uns genau informieren, wie man so ein Zentrum aufbaut.“
125
Esther Broders
Laos
Als die Sonne langsam hinter den Hügeln von Xieng Khouang verschwindet, sind wir auf dem Rückweg zum Hotel. Simonetta Siligato ist zufrieden
mit dem Tag. Es lief so, wie sie es sich erhofft hatte: „Die zwei waren total
bei der Sache, man konnte richtig sehen, wie sie das neue Wissen aufsaugen.
Ich denke, dass sie zu Hause ganz viel zu erzählen haben. Nach ihrer Rückkehr müssen sie außerdem einen Bericht über die Fahrt verfassen, der dann
auf der wöchentlichen Behörden-Sitzung besprochen wird. Im Optimalfall
diskutieren sie darüber, welche Maßnahmen aus Xieng Khouang man auch
auf Nam Ton übertragen kann. Und ich hoffe darauf, dass dann Anfragen an
uns gerichtet werden – wie zum Beispiel: Wir würden gern ein Training in
die und die Richtung machen. Ist es möglich, dass wir das bei uns machen?
Das würde ich mir wünschen.“
23. Schatten der Vergangenheit
Laos hat den Blick in Richtung Zukunft gerichtet – aber welche Vergangenheit das Land hinter sich hat, das ist nach wie vor deutlich sichtbar. Das
dunkelste Kapitel in der jüngeren laotischen Geschichte liegt nur ein paar
Jahrzehnte zurück: der Vietnam-Krieg. Auch 35 Jahre nach dem Ende dieses Krieges leidet Laos noch immer an den Folgen.
Laos war damals offiziell neutral. Getroffen wurde es aber trotzdem
– in einem geheimen Krieg, von dem die Welt nichts wissen sollte. So
warfen die USA zwischen 1964 und 1973 über einem Land, mit dem sie
eigentlich gar keinen Krieg führten, mehr als zwei Millionen Tonnen
Bomben ab, um verbündeten vietnamesischen Vietcong-Kämpfern, die
von Laos aus über den Ho-Chi-Minh-Pfad unterstützt wurden, Rückzugsund Versorgungswege abzuschneiden. Zum Vergleich: Das sind mehr, als
während des Zweiten Weltkriegs auf Deutschland und Japan zusammen
fielen. Gemessen an der Bevölkerungsdichte – damals gab es rund drei
Millionen Einwohner – ist Laos damit das am meisten bombardierte Land
der Welt.
Und diese Bomben fordern noch immer neue Opfer: Ein Drittel von ihnen
ist nach offiziellen Schätzungen damals nicht explodiert. Laos ist seit dieser Zeit mit Blindgängern übersäht, 15 der 18 Provinzen werden als schwer
verseucht eingestuft. Für den landwirtschaftlich geprägten Staat stellt diese
„unexploded ordnance“ – kurz UXO – ein großes Problem dar. Regelmäßig
stoßen Menschen bei der Feldarbeit auf Minen und Streubomben, die so genannten „Bombies“, werden verletzt oder getötet. Und so wird die Liste der
Opfer auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende des Vietnam-Krieges
noch immer länger.
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Laos
Esther Broders
24. „Diese Aufgabe wird nie ganz erledigt sein.“
Die Zeugnisse aus der Zeit des Vietnam-Krieges sind ein fester Teil der
jüngeren laotischen Geschichte. Und sie werden auch ein Bestandteil der
Zukunft sein. Denn einen Zeitpunkt, an dem sämtliche Blindgänger entschärft und vernichtet sind, wird es nicht geben. „Ein völlig UXO-freies
Laos ist eine Utopie. Was wir versuchen, ist, das Land „impact-free“ zu bekommen“, sagt Joanne Durham „und selbst das wird noch mindestens 10
Jahre dauern, wahrscheinlich länger.“ Joanne Durham ist die Leiterin von
MAG-Lao. MAG steht für „Mines Advisory Group“. Seit 1994 ist die international operierende NGO in Laos vertreten. Sie startete damals das erste
humanitäre „UXO-Clearance-Projekt“ des Landes. Nur wenig später nahm
auch UXO Lao – die offizielle Clearance-Organisation der Regierung – ihre
Arbeit auf.
MAG arbeitet in enger Absprache mit der laotischen Regierung. Im Jahr
2000 hatte die NGO sogar sämtliche Projekte an UXO Lao übertragen, erst
seit 2004 betreibt MAG wieder sechs eigene Projekte. 2006 haben die Mitarbeiter über 600.000 Quadratmeter Land von Blindgängern befreit und insgesamt fast 18.000 gefährliche Objekte entfernt und zerstört.
Die Zentrale von MAG liegt in Vientiane, die eigentlichen Einsatzgebiete
nicht. MAG ist in zwei der am schlimmsten verseuchten Provinzen aktiv: in
der zentral-laotischen Provinz Xieng Khouang und in der zu Süd-Laos zählenden Provinz Khammouane. In beiden Provinzen laufen derzeit jeweils
drei Programme. Insgesamt hat die Organisation im Land knapp 250 festangestellte Mitarbeiter (davon neun Ausländer), dazu kommen 400 lokale
Kräfte, die die Teams vor Ort unterstützen. Besonders fördern möchte MAG
laotische Frauen, bis zum Jahr 2009 sollen 35 Prozent der Belegschaft weiblich sein. Es fehlt nicht mehr viel, um dieses Ziel zu erreichen: schon jetzt
liegt die Marke bei 33 Prozent. „In vielen Regionen haben Frauen nur wenige Möglichkeiten, durch einen festen Arbeitsplatz zum Familien-Einkommen beizutragen. Bei uns übernehmen sie verantwortungsvolle Aufgaben
– und das stärkt auch ihre Rolle in der Gesellschaft und besonders in ihrem
direkten Lebensumfeld. Wir hoffen, dass wir damit auch andere Arbeitgeber
ermutigen, mehr Frauen einzustellen“, sagt Joanne Durham. Eins der fünf
technischen „Clearance-Teams“ ist ein reines Frauenteam.
Durchschnittlich haben die Teams jeweils drei Wochen Zeit, um ein Dorf
oder Gelände mit ihrem technischen Gerät nach UXO zu durchkämmen. Dann
werden sie an den nächsten Einsatzort geschickt. Vor Ort besteht ihre Aufgabe aber nicht nur darin, die Bomben und Minen zu finden, sondern auch, die
Bevölkerung aufzuklären, berichtet Joanne Durham. Wobei diese Aufklärung
vornehmlich für die jüngere Generation gedacht ist: „Menschen, die seit Jahr-
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Esther Broders
Laos
zehnten mit der Gefahr leben müssen, wissen Bescheid über UXO und haben ihre eigenen Strategien entwickelt, um die Risiken im Alltag so gering
wie möglich zu halten. Wichtig ist es, bei Kindern das Bewusstsein für UXO
zu schärfen. Sie haben den Krieg nicht selbst erlebt und sind deshalb nicht so
sensibilisiert wie ältere Menschen. Deshalb bitten uns auch immer wieder Eltern, die Kinder über die Risiken zu informieren.“ Das passiert beispielsweise
durch Plakate: kreisförmig sind die verschiedenen Geschosse, die im Boden
lauern können, auf großen Papptafeln abgebildet. In der Mitte prangt ein Totenkopf. So sollen Kinder lernen, gefährliche Objekte – beim Spielen im Wald
oder auf dem Feld – direkt am Aussehen zu erkennen. Außerdem gehen MAGMitarbeiter regelmäßig in Schulen, um dort Aufklärungsarbeit zu leisten.
Trotzdem passieren weiterhin Unfälle, doch das liegt nicht an der Unwissenheit der Menschen, sondern vielmehr an ihrer Lebenssituation: „Sie
MÜSSEN ihre Felder bestellen, um zu überleben“, sagt Joanne Durham.
„sie haben gar keine andere Wahl. Und daneben sammeln viele Menschen
Altmetall, um es später verkaufen zu können. Dabei finden sie neben ungefährlichem Kriegsschrott auch immer wieder UXO. Aber sie brauchen diese
Einnahmequelle – und deshalb sammeln sie, auch wenn sie wissen, dass es
gefährlich ist.“
Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Armut und UXO, sagt Joanne: „Die Mehrheit der Menschen in den besonders verseuchten Provinzen
ist arm, und sie ist auch deswegen arm, WEIL in ihrer Umgebung so viele
Blindgänger vergraben liegen. Die meisten leben von der Landwirtschaft,
aber sie können beispielsweise ihre Reisfelder und ihre Gemüsegärten kaum
nutzen oder neue Anbauflächen erschließen, sie können nicht in den Wald
gehen um zu jagen – immer aus Angst, auf UXO zu stoßen. Auch die Transportwege sind kontaminiert, sprich: Die Bauern haben so gut wie keinen
Marktzugang und können ihre Produkte nicht verkaufen.“
Die Dörfer so zu reinigen, dass der Boden für die Bevölkerung nicht zur
Todesfalle wird, das ist das Ziel von MAG. Und damit trage die Organisation auch einen Teil zur Armutsbekämpfungs-Strategie der Regierung und
zum Erreichen der Millenniums-Ziele bei. Allerdings sei es insgesamt eine
Sisyphos-Aufgabe mit offenem Zeitrahmen.
Genaue Angaben, wie viel UXO noch im Land verteilt ist, gibt es nicht.
1996 schätzten die UN die Menge noch immer auf rund 500.000 Tonnen.
25. „Weißer Pfosten bedeutet: Sicheres Gelände“
Die Ebene der Tonkrüge ist ein großes Kapital der Provinz Xieng Khouang. Täglich rollen Busse mit Touristen heran, die die geheimnisvollen Ge-
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Laos
Esther Broders
fäße sehen möchten. Drei Fundstellen sind für Besucher geöffnet. Die größte liegt ungefähr sieben Kilometer außerhalb von Phonsavanh – und am
Eingang prangt ein großes Schild mit Totenkopf-Symbol. Darunter die Information, dass dieses Gelände von MAG UXO-gereinigt und sicher ist.
Das Gleiche gilt auch für die Stätten Zwei und Drei.
Tonkrüge gibt es noch weit mehr, sie wurden an insgesamt über 50 verschiedenen Stellen gefunden, aber für Touristen stehen sie im Moment
noch nicht auf dem Programm. Denn der Boden, auf dem weitere Krüge
gefunden wurden, ist noch UXO-verseucht. New Zealand Aid fördert deshalb seit 2004 gemeinsam mit der UNESCO und der laotischen Regierung
ein MAG-Programm in Xieng Khouang, um auch neue „Plain of Jars Sites“ für zahlendes Publikum zugänglich zu machen und außerdem das Gebiet für die Bevölkerung zu säubern. Ich habe allerdings schon jetzt das
Glück, die Tonkrüge sehen und vor allem ein MAG-Team bei der Arbeit
beobachten zu können.
In einem weißen Geländewagen geht es hinauf in die sanft ansteigenden
Berge um Phonsavanh. Zuerst auf asphaltierter Straße. Dann kommen Ley
– mein Übersetzer – und ich an einen Schlagbaum und müssen zweitausend
Kip (ca. 15 Cent) bezahlen. Dafür dürfen wir die weiterführende Schotterstraße passieren. Vielleicht zwanzig Minuten geht es auf der kurvenreichen Straße an ein paar Dörfern vorbei, dann biegen wir auf einer Anhöhe
ab. Schon von weitem leuchtet uns das Totenkopf-Symbol mit dem MAGSchriftzug entgegen. Dieses Mal mit der Aufschrift: „This area is currently
being cleared of unexploded ordnance“.
Das Dorf besteht aus ein paar Holzhäusern. Auf einer Wiese dazwischen
parken mehrere Geländewagen, und zwei Männer sitzen in blaumann-artigen Anzügen auf Plastikstühlen unter einen Sonnenschirm – das ist die
örtliche MAG-Einsatzzentrale. Die beiden haben auf uns gewartet. „Sabaidee“, schallt es mir entgegen. „Ich bin Bouaphet, und ich leite das Clearance-Team.“ Insgesamt besteht das Team aus 14 Leuten: neben dem Teamleiter und seinem Stellvertreter gibt es außerdem zwei Ärzte, zwei Fahrer und
acht ausgebildete UXO-Techniker. Vor dem eigentlichen Clearance-Einsatz
kommt ein Vorausteam vorbei – das Community-Liaison-Team – um das
Gelände zu untersuchen und schon möglichst viele Informationen zusammen zu stellen.
Und dann gibt es noch die lokalen Mitarbeiter: Denn unterstützt wird die
MAG-Truppe zusätzlich von 15 Dorfbewohnern, den so genannten „Villager Assistance Clearers“. „Das machen wir bei jedem Einsatz so“, erklärt
Bouaphet, „und wir versuchen, vor allem die Ärmsten ins Team zu holen
und ihnen so zumindest für ein paar Wochen Arbeit zu geben.“ Die Dorfbewohner haben die Aufgabe, Bäume zu fällen oder von Ästen zu befreien,
129
Esther Broders
Laos
damit die MAG-Techniker bei ihrer Arbeit mit den Metall-Detektoren freies Gelände vorfinden. Vor ihrem Einsatz werden sie einen Tag lang geschult
und über die Gefahren aufgeklärt. Dabei lernen sie natürlich auch, woran
man UXO erkennt. Für ihre Unterstützung erhalten sie 30.000 Kip pro Tag,
das sind ungefähr 3 US-Dollar.
Das Projekt an der neuen Plain-of-Jars-Fundstelle läuft erst seit knapp
einer Woche. Noch fast bis Mitte Dezember 2007 wird der Einsatz dauern. Solange wohnen die MAG-Mitarbeiter in angemieteten Häusern im
Dorf. „In jedem Dorf, in dem wir eingesetzt werden, reinigen wir rund
zwanzigtausend Quadratmeter Bodenfläche. Und dieses Land können die
Bewohner dann bewirtschaften – ohne dabei Angst haben zu müssen.
So tragen wir auch dazu bei, dass sie mehr ernten können und sich ihr Lebensstandard verbessert“, sagt Bouaphet. Und in diesem konkreten Fall soll
später auch Geld durch Touristen eingenommen werden, die die „neuen“
Tonkrüge besichtigen.
Von meinem Sitzplatz aus kann ich das Team auf einem Hügel auf der anderen Seite der Schotterstraße beobachten. Aber noch gehen wir nicht hinauf,
denn zuerst steht noch mein Sicherheits-Briefing an. Bouaphet erklärt mir,
dass ich immer auf den markierten Wegen bleiben muss, denn die sind bereits
auf Blindgänger untersucht. Das sieht man daran, dass an beiden Seiten des
Pfades dünne weiße Pfähle im Boden stecken. Die Pfähle spielen eine wichtige Rolle: Insgesamt gibt es acht verschieden lange und in verschiedenen
Farben bemalte – und jeder Pfahl hat eine bestimmte Bedeutung. Bei langen
roten beispielsweise ist Vorsicht geboten, sie bedeuten, dass hier UXO gefunden und noch nicht entfernt wurde. Vier dieser roten Pfähle werden dann um
die betreffende Stelle in den Boden gerammt. Trifft man auf einen gelb-roten
Pfahl, dann ist das „Fundstück“ bereits entschärft. Neben den großen gibt es
auch kleine Markierungen. Damit wird zum Beispiel das Gelände in kleine
Quadrate unterteilt, die dann systematisch abgesucht werden.
Die Arbeit läuft nach dem Vier-Augen-Prinzip, alles wird zur Sicherheit
gegengeprüft. Wenn ein UXO-Techniker mit seinem Quadrat fertig ist, ruft
er seinen Teamleader, der das Gelände noch einmal mit dem Detektor kontrolliert. Schlägt das Gerät aus, muss die gesamte Fläche neu abgesucht
werden. Der Teamleiter oder sein Stellvertreter müssen auch sofort verständigt werden, wenn etwas Verdächtiges gefunden wird. Zur Kommunikation
gibt es Walkie-Talkies. „Für alle Fälle haben wir auch zwei Ärzte und einen
Krankenwagen gleich hier vor Ort, und das nächste kleinere Krankenhaus
ist acht Kilometer entfernt, so dass wir kleinere Verletzungen gleich hier behandeln können. Bei schlimmeren Verletzungen müsste man 25 Kilometer
nach Phonsavanh fahren“, sagt Bouaphet. Und fügt hinzu: „Bisher haben
wir das aber nicht gebraucht, denn es gab keine Unfälle.“
130
Laos
Esther Broders
Auf die Frage, ob er bei der Arbeit manchmal auch Angst habe, lacht Bouaphet nur. „Nein“, sagt er, „ich sehe es mehr als verantwortungsvolle Herausforderung. Außerdem sind unsere Teams gut geschult und arbeiten sehr
vorsichtig.“ Zu dieser Vorsicht gehört auch, dass sämtliches Gerät jeden
Morgen vor Arbeitsbeginn genau kontrolliert wird. Es gibt ein Testfeld, in
dem Metall-Stücke vergraben liegen. Hier MÜSSEN die Detektoren Alarm
schlagen. Ein UXO-Techniker demonstriert das Prozedere. Langsam geht er
mit dem Gerät das Gelände entlang, wobei er das Gestänge vielleicht zehn
oder fünfzehn Zentimeter über dem Boden hält. Mehrfach ertönt ein FiepTon, jedes Mal, wenn die Sensoren Metall im Boden wahrnehmen. So soll es
sein. Oben auf dem Hügel arbeiten die MAG-Mitarbeiter immer in ZweierTeams. Einer führt den Metall-Detektor, der andere trägt eine Schaufel, mit
der er Erde wegschaben oder kleine Löcher graben kann.
Wir gehen langsam zwischen den Bäumen entlang – wobei ich immer darauf achte, möglichst in die Fußstapfen von Bouaphet zu treten. Die Gruppe
der Dorfbewohner kommt an uns vorbei. Sie verbringen ihre Mittagspause
zu Hause, erklärt der Teamleader. Ich schaue nach rechts, wo zwei Tonkrüge
zu sehen sind. Und als ich wieder nach vorn schaue, sehe ich vier rote Pfosten direkt neben einem Baum. Hier wurde UXO gefunden. In einem kleinen Loch im Boden liegen mehrere Munitionsköpfe aus dem Vietnamkrieg.
Würde man nicht genau hinsehen, könnte man sie auch für Holz halten oder
einfach nicht bemerken, denn die Farbe ist fast identisch mit dem Waldboden. Auch wenn es „nur“ vier kleine Teile Munition sind – es ist etwas anderes, sie tatsächlich zu sehen. Und festzustellen, wie leicht man sie auch
übersehen könnte, wenn man nicht ständig auf der Hut ist. Der Anblick führt
einem die Gefahren, mit denen die Menschen in weiten Teilen von Laos seit
mehr als 30 Jahren leben müssen, plastisch vor Augen. Gleichzeitig erinnert
er daran, dass noch immer mehrere hunderttausend Tonnen UXO in und auf
dem Boden lauern. Auch künftige Generationen werden noch lange unter
dem Erbe des längst vergangenen Krieges zu leiden haben.
26. Wie Santar wieder laufen lernte
Das kleine Mädchen sitzt auf dem Schoß seiner Mutter. Es ist vielleicht
drei Jahre alt. Schüchtern dreht es den Kopf weg, als es uns kommen sieht.
Da, wo eigentlich das linke Bein des Mädchens sein sollte, ist nur noch ein
Stumpf. Das Kind ist beim Spielen auf eins der so genannten Bombies gestoßen, das ihm den Unterschenkel und Teile des Oberschenkels weggerissen hat. Draußen im Vorhof ist eine Gruppe von Erwachsenen. Zwei Männer gehen zwischen barrenartigen Stangen entlang. Vorsichtig setzen sie
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Esther Broders
Laos
einen Fuß vor den anderen – sie lernen langsam wieder laufen. Mit ihren
neuen Prothesen.
Ich bin im Rehabilitationszentrum von COPE, einer Organisation, die sich
um Amputations-Opfer kümmert. Fast die Hälfte der Patienten wurde durch
UXO zu Krüppeln. In Laos dauerte es lange, bis es für sie eine Anlaufstelle
gab. Die Menschen schnitzten sich selbst Prothesen aus Holz oder benutzten Plastik-Cola-Flaschen für ihren Stumpf, sie lebten mit Wundschmerzen
und Entzündungen und waren stark eingeschränkt. 1997 schließlich wurde
COPE (Cooperative Orthotic and Prostetic Enterprise) vom laotischen Gesundheitsministerium sowie mehreren internationalen Organisationen gegründet. Bis heute ist die Organisation im ganzen Land der einzige Hersteller von Prothesen.
Jo Pereira ist Projekt-Koordinatorin bei COPE. Die Britin kam vor zweieinhalb Jahren als Urlauberin nach Laos – und blieb: „Das Land und die
Menschen hier haben mich einfach so tief berührt und ergriffen, dass ich
mich sofort beworben habe, als ich von dem Job hörte.“ Insgesamt hat
COPE 130 Mitarbeiter, nicht nur in der Zentrale in Vientiane, sondern auch
in vier anderen Städten über das Land verteilt. Die Klinik und das Rehabilitationszentrum liegen am Rand des Stadtkerns. Im Hauptgebäude befinden
sich die Behandlungszimmer sowie die Werkstätten. Einer der Räume ist
von Gipsspuren übersäht: Hier werden die genauen Abdrücke für die späteren Prothesen ausgegossen. Daneben ist ein Maschinenraum, in dem der
Kunststoff geformt wird. Und wieder eine Tür weiter sitzt ein Angestellter
und arbeitet am Feinschliff einer fast fertigen Beinprothese. Im Moment leitet eine britische Expertin die komplexe Anfertigung. Unterstützt wird sie
dabei von 14 laotischen Mitarbeitern, die vorher in Kambodscha geschult
wurden, erklärt Jo Pereira. „Unser Ziel ist es, das die einheimischen Kräfte nicht nur bei der Produktion, sondern auch im therapeutischen Bereich
selbstständig arbeiten und so irgendwann die Verantwortung für die Klinik
übernehmen können.“
Die Anlage bietet Platz für 50 stationäre Patienten, dazu kommen ambulante Fälle aus der Umgebung. Neben UXO-Opfern werden auch Menschen, die beispielsweise ein Bein bei einem Autounfall oder durch Krankheiten verloren haben, aufgenommen. Insgesamt hat COPE im Jahr 2006
um die 3.500 Patienten behandelt. Einige bleiben nur ein paar Tage oder
Wochen, andere bis zu einem halben Jahr. Die Produktionskosten sind verglichen mit anderen Ländern sehr gering: so rechnet man für eine Beinprothese mit ungefähr 50 US-Dollar.
Um ihre Arbeit auch über die fünf COPE-Standorte hinaus im Land bekannt zu machen, fahren die Mitarbeiter gezielt in die Provinzen. Dort müssen sie oft Überzeugungsarbeit leisten, um Betroffene dazu zu bringen, sich
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Laos
Esther Broders
helfen zu lassen. Denn das Vertrauen in das laotische Gesundheitswesen ist
bei vielen mehr als erschüttert – sie fühlen sich seit Jahrzehnten mit ihren
Handicaps von der Regierung im Stich gelassen. Nach offiziellen Angaben
leben in Laos 45.000 Menschen mit körperlichen Behinderungen. Aber Jo
Pereira hält diese Schätzung für „extrem konservativ“.
Ein großes Problem der Organisation ist die Finanzierung. Die Regierung
zahlt zwar den Strom und das Gehalt der Angestellten, der „Rest“ aber –
Reisen, Krankentransporte, Prothesen, Medikamente, Behandlung und Unterkunft der Patienten – setzt sich aus Spendengeldern aus aller Welt zusammen.
„Unsere Hoffnungen ruhen mehr und mehr auf Touristen“ meint Jo Pereira. Sie sollen in Zukunft konkret auf das Zentrum aufmerksam gemacht
werden. Aus diesem Grund wird zurzeit an einem neuen Besucherzentrum
gebaut. Dort sollen die Gäste mit Hilfe einer Foto- und Prothesen-Ausstellung, einer Film-Dokumentation und Informations-Material auf die Situation der Bomben- und Minenopfer aufmerksam gemacht werden. „Ein großes
Problem ist, dass viele Leute gar nicht wissen, wie sehr Laos vom VietnamKrieg tatsächlich betroffen war und ist“ sagt Jo Pereira. „Und das wollen wir
ändern.“
In ihren zweieinhalb Jahren bei COPE hat Jo Pereira viele PatientenSchicksale erlebt. „Jeder hat seine eigene Geschichte“ erzählt sie „aber manche bleiben besonders lange im Gedächtnis haften.“ Am meisten berührt hat
sie der Fall des kleinen Santar aus Muang Sing – der Junge gehört zu den
Nicht-UXO-Patienten. Anfang 2005 hatte der Sechsjährige einen Unfall: Er
war mit seinem Vater zu Fuß unterwegs. Der Vater überquerte eine Straße
und forderte Santar auf, ihm zu folgen. Weil er aber taub war, hörte er nicht,
dass sich ein LKW näherte. Santar folgte der Anordnung seines Vaters und
wurde überfahren. Er verlor eines seiner Beine komplett, das andere erlitt
eine Fehlstellung und heilte nicht ab. Der Junge war praktisch bewegungsunfähig. Durch Zufall erfuhr Jo Pereira von Santar, als sie im Januar 2007
in der Nähe seines Dorfes einen anderen Patienten besuchte. Sie begab sich
auf die Suche nach Santars Elternhaus.
Jo Pereira zeigt mir ein Foto. „So haben wir ihn vorgefunden.“ Santar sitzt
mit ausdruckslosem Gesicht auf einem Holz-Hocker. So wie jeden Tag. Der
Junge hatte das Zimmer seit zwei Jahren nicht mehr verlassen.
Jo Pereira überzeugte die Familie, Santar zu COPE nach Vientiane zu
bringen. Und dort blühte er regelrecht auf. Das eine Bein wurde durch eine
Operation und mit Hilfe einer Schiene gerichtet, für das andere bekam Santar eine Prothese. „Ich habe noch nie eine derartige Kämpfer-Natur erlebt“,
erinnert sich Jo Pereira. „Er hat pausenlos trainiert, um endlich wieder laufen zu können. Denn sein großer Traum war es, wieder zur Schule gehen zu
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Esther Broders
Laos
können.“ Und den hat er sich durch seinen eisernen Willen auch erfüllt: Vier
Monate später verließ er die Klinik – ohne Krücken. Heute geht Santar neben der Schule in seiner Freizeit gern schwimmen. Jo zeigt mir noch mehr
Fotos: Santar mit Schwimmreifen und blauer Taucherbrille, Santar stolz vor
der Tafel in seinem Klassenzimmer. Eins ist auf beiden Bildern gleich: Er
strahlt über das ganze Gesicht.
„Als Santar aus Vientiane nach Hause kam, konnte seine Mutter die Veränderung ihres Kindes kaum glauben“, erzählt Jo Pereira. „Sie sagte nur immer wieder: Seit zwei Jahren habe ich Santar nicht mehr lachen gesehen.
Endlich habe ich meinen Sohn zurück.“
27. Was bleibt?
„Es tut sich schon was im Land, die Fahrtrichtung stimmt. Jetzt geht es vor
allem darum, möglichst viele Menschen mit ins Boot zu holen. Und im Moment ist das Boot noch nicht einmal halb voll.“ Diesen Satz habe ich während meiner sechs Wochen in Laos mehrfach gehört, so oder in leicht abgewandelter Form. Und er deckt sich mit dem, was ich selbst in Zentral- und
Nord-Laos beobachtet habe. Dass sich das Land entwickelt, ist unübersehbar, die Unterschiede allerdings sind groß.
Vientiane oder Luang Prabang habe ich als aufstrebende und moderne
Städte erlebt – mit einer Mittelschicht, die von der Öffnung des Landes und
den damit verbundenen Veränderungen profitiert. Einen großen Anteil an
dem mehr oder weniger bescheidenen Wohlstand der Bevölkerung haben
hier die Touristen, die jedes Jahr zahlreicher nach Laos kommen. So entstehen immer mehr Hotels, Restaurants oder Geschäfte aller Art, um der
wachsenden Nachfrage gerecht zu werden. Die touristisch attraktiven Ziele
gehören klar zu den Gewinnern des Wandels. Die bisherigen Verlierer sind
ebenso klar die ländlichen Regionen – also weite Teile des Landes. Dort hat
man teilweise den Eindruck, in einer ganz anderen Welt zu sein. Bestes Beispiel dafür waren für mich die Akha-Dörfer in Muang Sing im Norden des
Landes.
Ob es innerhalb der nächsten zehn oder fünfzehn Jahre gelingen kann,
diese Kluft zu schließen – zwischen sich schnell verändernden Städten
und Dörfern, in denen die Zeit praktisch stehen geblieben zu sein scheint
– das wage ich persönlich nach dieser Reise zu bezweifeln. Wobei man
in sechs Wochen natürlich nur einen Bruchteil des Landes kennen lernen
kann, und die Zeit bei weitem nicht ausreicht, um zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Und ich lasse mich in diesem Punkt gern eines
Besseren belehren.
134
Laos
Esther Broders
Ich habe Laos als extrem gastfreundliches Land mit sehr sympathischen
und hilfsbereiten Menschen erlebt, und die Reise im Rahmen des HeinzKühn-Stipendiums hat Lust auf mehr gemacht. Ich werde sicher wieder
nach Laos reisen, und ich hoffe, dass ich dann auch sagen kann: „Meine
Güte, ich erkenne das Land kaum wieder“ – ähnlich enthusiastisch wie Milla, die junge Frau, die auf dem Hinflug von Bangkok nach Vientiane zwei
Reihen hinter mir saß.
135
Stefanie Duckstein
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Liberia
vom 7. Februar bis 20. März 2008
137
Liberia
Stefanie Duckstein
„Die Menschen hier sind wie das Meer, still wie eine
Pfütze, und plötzlich schlagen sie hohe Wellen.“
Über die Vergangenheit in die Zukunft – Liberia
und die Wahrheits- und Versöhnungskommission
Von Stefanie Duckstein
Liberia, vom 7. Februar bis 20. März 2008
139
Liberia
Stefanie Duckstein
Inhalt
1. Zur Person
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2. Danksagung
142
3. Liberia aus dem Lot
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4. Und gleichmütig schlägt das Meer an den Rand Monrovias.
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5. Lachen Lachen Lachen Immer Immer Immer
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6. „Die Freiheitsliebe führte uns hier her.“
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7. No Fish, no town but Fishtown
148
8. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
149
9. Whouw, Samuel K. Doe
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10. Eine Wunde ist eine Wunde ist eine Wunde.
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11. „Ich bin genau da, wo ich sein sollte.“
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12. Eine Brücke, gebrochen
159
13. Blumen im Haar
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Stefanie Duckstein
Liberia
1. Zur Person
Stefanie Duckstein, geboren im Spätsommer 1973, im Jahr der X. Weltfestspiele in Berlin/Ost, die man gern auch Woodstock des Ostens nannte,
studierte Afrikawissenschaften und Publizistik. Sie lebt in Köln, arbeitet für
die Deutsche Welle und manchmal auch für andere. In Afrika war sie schon
oft, in dessen Westen dagegen noch nie. Auf der Suche nach Wahrheit und
Versöhnung lernte sie von den Liberianern überdies eine für den Alltag recht
nützliche Geste: In Zeiten größter Hitze und hoher Luftfeuchte streiche man
mit dem Knöchel des Zeigefingers flink über die eigene Stirn, so dass ein
kleiner Rinnsal in den Staub tropfe.
2. Danksagung
Mein allerherzlichster Dank gilt Quashi, dem Unermüdlichen; Meneke,
die nahezu alles möglich machte; Esther mit ihrer erschütternden Offenheit;
Mister Cooper für seine unglaubliche Gelassenheit; Steven für Detailanalysen
vom Spielfeldrand; Tina und Christine für ihren hohen Unterhaltungswert.
Zudem hätte sich ohne die logistische Unterstützung der Deutschen Welthungerhilfe – im Wortsinn – rein gar nichts bewegt. Ein großes Dankeschön daher
an Bernd Schwenk. Ute Maria Kilian sei vor allem gedankt für ihre Zuversicht, die mitunter aufkommende Zweifel sofort ausräumte. Dank auch an die
Heinz-Kühn-Stiftung, für den Luxus einer sechswöchigen Recherche.
3. Liberia aus dem Lot
Massa Washington treten kleine Schweißperlen auf die Stirn. Ein feuchter Film legt sich auf die Schläfen. Sie rollt mit den Augen. Bald ist nur
noch das Weiß ihrer Augäpfel zu sehen. Sie gleitet vom Stuhl, ganz langsam, die anderen bemerken es kaum. Plötzlich eilt man ihr bestürzt zur
Hilfe. Die Szenerie wird hektisch. Ein Psychologe wird gerufen. Massa
Washington bebt, Tränen rollen ihre schmalen Wangen hinab. Man führt
sie aus der Stadthalle, dem Centennial Pavillon, in einen kleinen, kahlen
Raum. Ihr wird ein Glas Wasser gereicht. Man sieht Massa Washington
noch den Kopf schütteln. Dann schließt sich hinter ihr eine graue Tür. Die
Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission werden für eine
Stunde unterbrochen.
„Ich musste einfach weinen. Mir liefen die Tränen, ohne dass ich’s hätte verhindern können“ sagt Massa Washington und schüttelt noch immer
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den Kopf, als könne sie es nicht fassen. Nicht das, was in ihrem Land geschehen ist, sondern dass es sie noch jedes Mal so angeht. Wie Regen fallen
ihre schmalen geflochtenen Zöpfe auf ihre Schultern und wippen bei jedem
„nein“. Massa Washington schlägt mit der Handfläche auf den Holztisch.
„Ich schäme mich gar nicht, das zuzugeben. Ich bin ja schließlich auch nur
ein Mensch. Mitanzusehen, wie Menschen so sehr leiden, mitanzusehen,
was sie alles durchgemacht haben. Manchmal verstehe ich’s einfach nicht.
Ich kann dann einfach nicht glauben, wie das alles geschehen konnte. Ich
meine, ich weiß ja, dass es passiert ist. Wir alle haben das überlebt, wir stehen hier und können davon erzählen. Wir sind die glücklichen Überlebenden. Lebendig, nicht mal vergewaltigt. Aber wir sahen, wie Mädchen vergewaltigt wurden, wie Menschen umgebracht wurden. Eigentlich ist es wie in
einem Horrorfilm, der irgendwie nicht aufhören will.“
Massa Washington ist vielleicht Anfang 40, Journalistin, Menschenrechtlerin, Frauenrechtlerin. Und sie ist Kommissionsmitglied der neunköpfigen
Wahrheits- und Versöhnungskommission für Liberia. Wahrscheinlich, so
vermutet sie, ist sie das erste Mitglied einer Wahrheitskommission, das je
weinte während einer öffentlichen Anhörung. Was hinter den Kulissen passiere, sei ein anderes Kapitel, so Washington. „Da ist aber auch gar nichts,
was Dich vorbereitet. Jede Geschichte erschüttert einen aufs Neue. Da spielt
es gar keine Rolle, dass wir alle eine psychologische Beratung bekommen
haben, verschiedene Workshops und Trainings besucht haben. Wir waren sogar in Südafrika um uns für all das hier vorzubereiten.
Es ist spät geworden an diesem Abend. Nach den zwölf öffentlichen Zeugenaussagen gab es noch vier weitere In-Camera-Hearings, unter Ausschluss
der Öffentlichkeit. Massa Washington sinkt erschöpft in die Polster einer
überdimensionalen Ledercouch. Ihre gelben Gummischuhe und der gelb karierte Zweiteiler reißen ein sonniges Loch in den dunklen Abendhimmel. „Da
ist nichts, das Dich vorbereitet auf den Tag der Gegenüberstellung. Trotz all
der Vorbereitung, in den wirklichen Moment geht man immer wieder neu.
Und Du sitzt da, jeden Tag, hörst eine Geschichte nach der anderen, eine
schlimmer als die andere. Und Du denkst, wann hört das endlich auf. Immer
wieder kann ich’s nicht fassen. Aber all das ist wirklich passiert. Manchmal
vergisst man das. Du willst nur noch raus aus der Situation, die Zeugin umarmen und sagen ‚Alles ist o.k.‘. Und es war einer dieser Momente, wo ich nur
noch weinen konnte. Da war dieses junge 24-jährige Mädchen. Sie war gerade mal sechs, da haben die Rebellen ihre Mutter getötet, in ihrer Gegenwart,
an einem Kontrollposten. Sie haben die Mutter geköpft.“
In diesem Moment hält Massa Washington kurz inne, schaut mir mit einer gewissen Angriffslust herausfordernd in die Augen. Sie lässt den Blick
nicht los, der sagen will, „Können Sie sich das vorstellen? Können Sie sich
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vorstellen, wie jemand Ihre Mutter vor Ihren Augen tötet? Hören Sie mir
zu? Schauen Sie mich an! Stellen Sie sich das vor!“ Wir schauen, keine will
nachgeben. Ich biete an, wir könnten etwas trinken. Sie lächelt bitter und
bestellt zwei Cola.
„Das einzige, woran sich das Mädchen noch erinnert, sind die roten TShirts der Rebellen, ihre blauen Jeans und an die roten Tücher, die sie um
ihre Köpfe trugen. Daran erkannte man die Soldaten von Charles Taylor.
Nachdem ihre Mutter getötet wurde, irrte dieses sechsjährige Mädchen also
umher, vollkommen allein gelassen, und irgendein Fremder nahm sie mit zu
sich nach Hause. Dieses bedauernswerte Geschöpf ist nie zur Schule gegangen. Irgendwann fand sie einen Freund, der ihr zwei Kinder bescherte und
sie dann verließ. Heute ist sie 24 und kann nicht mal ihren Namen schreiben. Und mit dieser ganzen Last ihres Lebens kam sie zur TRC und rief uns
entgegen ‚Schauen Sie mich doch an! Was ist aus mir geworden? Ich kann
weder lesen noch schreiben, habe zwei Kinder, die ich nicht versorgen kann.
Was soll ich tun?‘ Wie kann man da nicht weinen? Welches Recht hat jemand, ihr das Leben so zu verpfuschen? Wie kann jemand einem anderen
Menschen so etwas antun?“
Fragen wie diese kreisen auch durch die Köpfe von Mary, Victoria und
Hellen. Sie sorgen für den Glanz des Centennial Pavillon. Jeden Tag putzen
sie dessen stumpfen Marmor blank, polieren die Holzgeländer für den verschwitzten Griff der Besucher, rücken die rot-weiß-blauen Wimpel zurecht.
Die Stadthalle blitzt in den Farben der liberianischen Flagge. Viele liberianische Präsidenten sah der Centennial schon kommen und gehen. Auch die
jetzige Frau im Staate, Ellen Johnson-Sirleaf, verrichtete hier ihr Tagwerk
bevor sie vor einigen Monaten in das weit stattlichere Domizil am Ufer des
Atlantiks zog.
Die ersten zwei Anhörungen hätte sie noch verfolgt, meint Mary, doch
dann sei ihr die ganze Sache zu bunt geworden. Der Krieg sei jetzt fünf Jahre her, warum also alles noch mal aufrollen? Und überhaupt, dass die Täter
von damals hier hinein spazieren, in ihren schicken Anzügen, mit Sonnenbrillen im Gesicht, ihre Aussage machen und dann wieder verschwinden,
einfach so, ohne ein Gerichtsverfahren, das versteht Mary nicht. „Stell Dir
vor, Du hättest einen Korb voller Tomaten, darunter einige faule, würdest
Du sie drin lassen? Die müssen raus!“
4. Und gleichmütig schlägt das Meer an den Rand Monrovias.
Monrovia. Mit ganz viel Vorstellungskraft könnte man meinen, man befände sich in San Francisco. Das Meer schlägt gleichmütig an den Rand
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der Hauptstadt. Das Meer ist nahe, egal wo man sich befindet. Auch Strand
gibt es, weißen, geschmeidigen Sand, ab und an mit bunten Sonnenschirmen bestückt, unter denen versprengte Gäste ein kühles Monrovia Club
Bier trinken.
Zwei Wasserarme drängen sich in das Innere der Stadt und vermitteln den
Eindruck einer Lagune. Fächerpalmen säumen die Straßen, die in einem
lustigen Auf und Ab die Stadt in Quadrate teilen. Man könnte Zikaden und
Meeresrauschen hören, wäre da nicht der permanente Lärm der Generatoren. Die Generatoren liefern den Sound zur Stadt, denn sie sind es, die mit
lauten Dieselmotoren das bisschen Strom erzeugen, Kühlschränke am Laufen halten, Klimaanlagen antreiben oder bei Einbruch der Nacht versprengte
Lichtinseln ins Dunkel tupfen.
Es dauert keinen Tag, und man sieht, die Stadt ist geschunden. Während
des Krieges wurde nahezu die gesamte Infrastruktur zerstört. Noch immer
gibt es keine zentrale Strom- oder Wasserversorgung. Der Asphalt reicht nur
mehr für eine zentrale Flucht durch die Innenstadt, den Tubman Boulevard.
Und selbst hier sind die Schlaglöcher so groß, dass Bäume in sie gesteckt
werden, weil sonst Autos von ihnen verschluckt würden. So ragen blattlose
Baumstümpfe mitten aus der Fahrbahn. Aber die Chinesen sind da. Gestern
sah ich chinesische Instrukteure, die atemlose liberianische Straßenarbeiter dazu anhielten, den Asphalt auch richtig zu walzen. Haushohe Traktoren bereiten den Grund für einen ordentlichen Highway für eine vibrierende
Hauptstadt. Die Liberianer lieben die Chinesen, sagt Winston, der Taxifahrer, weil sie Straßen, Gebäude und überhaupt so einiges auf die Beine stellen im Land. Bald könne er seine Kundschaft auf geschmeidigen Straßen in
hohem Tempo durch die Stadt kutschieren, meint Winston, das sei gut fürs
Geschäft und kurbele am Ende auch die Wirtschaft Liberias an. Das sei gut
für alle, für ihn, für sein Land und auch für die Chinesen. Wir reihen uns ein
in eine lange Schlange von wartenden Taxis an der Tankstelle. Der Benzinpreis sei so hoch wie schon lang nicht mehr, mosert Winston. Aber vielleicht
könnten die Chinesen ja auch daran irgendetwas ändern.
Wie Skelette ragen zerbombte Hausruinen in den heißen Himmel. Das
Hotel Ducor Interkontinental, einstmals das feinste Haus in ganz Westafrika, mit weitem Blick über ganz Monrovia inklusive Meer, ist heute eine
10-stöckige Wunde in der Stadt. Durch die glaslosen Fenster fegt der Wind,
in den Zimmern schießt der Farn, die Decke hängt tief in den Raum. Nach
dem Krieg bewohnten kurzfristig Flüchtlinge aus allen Ecken Liberias das,
was von den 130 pastellfarbenen Zimmern noch übrig war. Doch auch sie
sind verschwunden. Heute bewacht ein kleines Kommando von Soldaten
der Vereinten Nationen aus Nigeria und Bangladesh mit Maschinengewehren den zerzausten Ort. Immerhin stehe auf dem Dach eine Mobilfunkan-
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tenne vom lokalen Mobilfunkanbieter LoneStar, meint Tijani und schiebt
sein UN-blaues Basecap aus der Stirn. Auf seiner Tarnuniform prangt ein
Aufnäher NIGERIA ARMY. Über der Schulter das Maschinengewehr, an
der Hüfte einen Stock, der ihm wie ein Säbel am Gürtel schaukelt. Wann
er das letzte Mal eine seiner Waffen einsetzen musste? „Oh, das ist schon
lange her“, grinst Tijani und schnalzt mit der Zunge. „Aber es ist gut, sie
dabei zu haben.“ Der liberianischen Polizei habe man ja alle Waffen abgenommen. Die müssten sich im Ernstfall mit Pfefferspray und Schlagstöcken
verteidigen. „Was ist denn der Ernstfall?“ „Nun ja, in den Strassen rottet
sich schnell ein Mob zusammen, die schreien sich dann an und werden auch
schon mal handgreiflich. Da genügt ein Funke und das Feuer springt über.
Bei der kleinsten Auseinandersetzung gehen die gleich an die Decke.“ Die
Situation sei eben noch ganz schön angespannt, meint Tijani. „Ist ja auch
verständlich, bei all dem, was die hier durchgemacht haben.“
5. Lachen Lachen Lachen Immer Immer Immer
Esther heißt nicht Esther. Sie bittet mich, ihren Namen zu ändern, möchte sich einen aussuchen, überlegt kurz und entscheidet sich für Esther. „Esther“ sei nah an Ellen, und Ellen hieße die Präsidentin, und die Präsidentin schätzt Esther sehr. Esther zieht an ihrem Strohhalm, kleine Schlucke
von Limonade schießen in ihren Mund. Wir sitzen im Golden Beach, einer
Strandbar mit bunten Sonnenschirmen. Ein Sicherheitsbeamter in blauer
Uniform und mit Schlagstock umkreist ab und an die Tische. Aus der Ferne fliegen Fetzen des Sommersongs herüber: „Your Love is wicked“. Esther ist 21 und wippt leicht mit dem Fuß im Takt, ihre Flip Flops machen
ein flappendes Geräusch. „We have no love in this country. We have no
love“, meint Esther. Das ist erstaunlich aus ihrem Munde zu vernehmen,
denn: Esther ist Love. Ihr Gesicht ähnelt einem im Wind schwankenden
Kornfeld, ihr Lachen klingt wie ein Wasserfall. Esthers Tante sagt, sie solle lachen lachen lachen immer immer immer. Denn: sie habe keine Wahl.
Schlimmer als das, was sie bereits erlebt habe, könne es nicht kommen. Esther war 8, das ist jetzt 13 Jahre her, lebte in Vojnjama, weit im Norden Liberias, da hörten sie und ihre Geschwister die Schüsse der Rebellen. Oder
waren es die Soldaten Charles Taylors? Sie weiß es nicht genau. Die nächsten Dinge wird Esther ganz schnell erzählen, ohne Pause, ohne Blick. Ihre
Zehen graben sich in den warmen Sand, sie schaut aufs Meer. Sie wollten
fliehen, Esther, ihre Mutter, ihre jüngere Schwester und der kleine Bruder.
Der Vater versteckte sich im Wald. Die Männer waren Ware in dem Krieg,
Material, Kriegsmaterial. Sie fliehen also aus Vojnjama, werden keine 10
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Minuten außerhalb der Stadt von Wachposten abgefangen. Die Männer vergehen sich an der Mutter. Andere Soldaten kommen hinzu, spaßen, was mit
den Frauen zu tun sei, provozieren sich gegenseitig, eine Machete wird geschwungen, die Mutter verliert den Kopf. Esther verliert das Bewusstsein.
Als sie aufwacht, findet sie sich in den Armen ihrer Geschwister im Wald.
Sie trinken Wasser aus brackigen Quellen, essen Wurzeln, manchmal fängt
der Bruder ein kleines Tier, sie ducken sich unter Laub oder Brücken. Das
geht so über Wochen. Esther will sich nicht genau erinnern. Nach unzähligen Tagesmärschen gelangen sie zum Dorf der Tante. Esther spricht nicht
mehr. Für Monate.
Heute studiert Esther an der Universität von Monrovia. Sie bekommt ein
kleines Stipendium, am Nachmittag arbeitet sie bei einer NGO. Von dem
Lohn bezahlt sie die Schulgebühren für den Bruder und die Schwester. Esther zaubert das Lächeln auf ihr Gesicht und sagt: Nein, auf keinen Fall,
zur Wahrheitskommission gehe sie nicht. Was solle das denn bringen? Keiner solle ihre Geschichte erfahren, nicht ihre Arbeitskollegen und schon gar
nicht die Öffentlichkeit. Sie sehe schon diese mitleidigen Mienen oder gar
die Verachtung. Nein. Esther streckt die Arme von sich, spreizt ihre Finger
mit lackierten Nägeln, die kleinen Strasssteine in den Halbmonden funkeln
in der Abendsonne. Esther will tanzen. Wir bezahlen und gehen.
6. „Die Freiheitsliebe führte uns hier her.“
Auf dem Staatswappen Liberias segelt ein Dreimaster mit schlohweißen,
gehissten Segeln dem Ufer entgegen. Eine strahlende Sonne erhebt sich aus
dem Meer. Eine weiße Taube überbringt die Botschaft des Friedens. Unter
dem Schatten einer Palme warten Schaufel und Pflug. Über Palme, Segelschiff und Taube prangt er, der Wahlspruch aller Liberianer: „The love of liberty brought us here“ – Die Freiheitsliebe also. Daniel Teah tippt mit dem
Finger auf das Wappen an seinem Oberarm, dort wo die dunkelblaue Uniform am meisten spannt, über seinem Bizeps. „Damit wir nie vergessen, wo
wir herkommen“, sagt Daniel beschwörend. „Das Wappen erinnert uns an
die Entstehungsgeschichte Liberias. Wir haben ja eine enge Beziehung zu
den Vereinigten Staaten von Amerika.“ Und Daniel schaut in die Ferne, hinweg über die staubige Straße, über das Tal, weit in die Vergangenheit.
Im Jahr 1816 entschied sich auf der anderen Seite des Ozeans der USKongress zur Rückführung befreiter Sklaven nach Afrika. Keine fünf Jahre später kaufte die American Colonisation Society ein Stück Land an der
westafrikanischen Küste. Sie gründeten die Stadt Monrovia, benannt nach
James Monroe, dem damaligen Präsidenten der USA. Dieses Stück Land
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wurde zuvor bewohnt von den Mandingo, den Gio, Mano und Krahn und
1841 von der US-Regierung mit einer Verfassung nach US-amerikanischem
Vorbild beschenkt, ohne dass die Mandingo, die Gio, Mano und Krahn je
danach gefragt hätten. 1847 erklärte der erste liberianische Kongress seine
Unabhängigkeit – mit dem Segen der US-Regierung. Die politische Macht
teilten sich die aus den USA eingewanderten befreiten Sklaven, etwa fünfzigtausend „Amerikoliberianer“, die das Land die nächsten hundertdreißig
Jahre lang beherrschen sollten.
Daniel Teah kennt die Geschichte gut. Er ist Polizist. Die Polizeischule
hat er vor acht Wochen abgeschlossen. Nun steht er, die Arme hinter dem
Rücken verschränkt, am Eingang der Stadthalle von Fishtown, River Gee
County, am südöstlichsten Zipfel Liberias. Er sorge für Recht und Ordnung,
sagt Daniel, das sei bitter nötig, setzt er nach, nach so vielen Jahren Unrecht und Unordnung. Es ist der erste Tag der öffentlichen Anhörungen der
Wahrheits- und Versöhnungskommission in Fishtown. Die Stadthalle, ein
noch leerer Raum, kahl gar, mit Bänken aus sprödem Holz, der Wind fegt
durch die Fenster ohne Scheiben. Die Truth and Reconciliation Commission
(TRC) und das Lokale Radio haben eingeladen mit den Worten: „Liberians,
come and tell your story. Confront our difficult past for a better future.“ Und
die Liberianer kommen. Aus ganz River Gee werden sie anreisen, auf Mopeds, auf Fahrrädern, zu Fuß.
7. No Fish, no town but Fishtown
„In Fishtown werden Sie nichts finden. Nicht einmal Fisch“ pflegen die
Liberianer zu sagen, selbst die aus Fishtown. Das stimmt nicht ganz. Es gibt
Trockenfisch, in kleinen Pyramiden gestapelt auf provisorischen Marktständen. Den Fisch tragen die Frauen die gut 80 Kilometer von der Küste bis
hier her. Darüber hinaus hat die Provinzhauptstadt im äußersten Winkel des
Dschungels eine Hauptstraße aus Schotter, eine bestuhlte Stadthalle, vielleicht zehn kleine Shops, in denen man Club-Bier, Coca Cola, Reis und
selbst Alleskleber findet. Fishtown hat auch einen alles überragenden Mobilfunkturm der staatlichen Telefongesellschaft LoneStar. Leider hat Fishtown keinen Strom, kein fließend Wasser und keine Arbeit. Etwa 5.000
Menschen leben hier. Unter ihnen 60 äthiopische UN-Soldaten, die Blauhelme geputzt, die Maschinengewehre geschultert. Die Männer in Fishtown
leben vom Jagen und überleben mit Palmwein, die Frauen versuchen der
Wildnis ein wenig fruchtbares Land abzutrotzen und bauen Tomaten oder
Auberginen an. Die Deutsche Welthungerhilfe versucht den Einwohnern
das verschütt gegangene Wissen über den Reisanbau zu vermitteln. Reis –
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das Leib- und Magengericht der Liberianer. Auch baut die Welthungerhilfe
Schulen und Brunnen und Straßen. Mit Macheten schlagen barfüßige Frauen und Männer Schneisen in den dichten Urwald, um Fishtown mit dem Rest
des Landes zu verbinden. Chinesische Bauarbeiter steuern haushohe Walzen
über die freigelegten Wege, in der Hoffnung, dass diese auch die Regenzeit
überdauern.
8. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
Es ist 9 Uhr morgens in Fishtown, und Martha J. Watkins kocht Reis und
Bohnen. Martha kocht gern, seit gut zwei Jahren auch für die Mitarbeiter
einer lokalen Entwicklungsorganisation. Manchmal Maniok, oft Süßkartoffeln, aber immer Reis. Sie ist ein wenig fahrig an diesem Morgen, doch nicht
bemerkenswert anders als sonst. Sie verschüttet versehentlich etwas Wasser
auf dem Boden, wischt es auf, verschüttet wieder Wasser, wischt es auf. Sie
schüttelt mit dem Kopf.
Ein blau gepunktetes Tuch hat sie sich kunstvoll um den Kopf geschlungen,
„so wie unsere Präsidentin Ma Ellen“, sagt Martha und lächelt. Ihr Kleid hat
übergroße Puffärmel, die ihr wie Flügelchen aus den Schultern wachsen. Eigentlich sei sie Schneiderin, meint Martha. Doch nun, da die Hilfsprogramme für kriegstraumatisierte Frauen in Liberia vor allem Schneiderinnen ausbilden, gebe es zu viele Kleider auf dem Markt, und kaum jemanden, der sie
sich leisten könne. So näht Martha vor allem für sich selbst. Martha ist 46.
Sie trägt ihr Handy an einer dünnen Kordel um den Hals. Es klingelt oft an
diesem Morgen. Plötzlich legt sie die Schürze ab, klemmt ihre kleine braune zerschlissene Handtasche unter den Arm und verabschiedet sich mit den
Worten, das Essen für den Tag sei zubereitet. Wir nicken uns lächelnd zu.
Keine Stunde später in der Stadthalle von Fishtown, River Gee County,
Liberia. Schnell füllt sich der Raum. Ganz vorn nehmen die Dorfältesten
platz, dahinter links die Frauen, rechts die Männer, Mütter mit schlafenden Kindern auf dem Rücken, Männer in zerschlissenen Anzügen, Männer
in neuen Anzügen mit Sonnenbrille auf der Stirn. Die Bestuhlung scheint
nicht zu reichen, so rückt man etwas dichter zusammen. Eine gespannte
Aufregung erfüllt den Saal. Geduldig folgen die Kommissionsmitglieder
dem Geschehen. Die Stimme des Protokollanten hallt blechern durch die
Lautsprecher und ruft den nächsten Zeugen in den Zeugenstand: Witness
Martha J. Watkins. Martha, die Handtasche unter der Achsel, das Handy
um den Hals, wird an einen kleinen Tisch am rechten Flügel geführt. Sie
reckt den rechten Arm in die Höhe, die linke Hand liegt auf der Bibel. „Ich,
Martha J. Watkins, schwöre die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit und nichts
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als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.“ „Wie geht es Ihnen?“ fragt der
Kommissionspräsident. Martha zögert ein wenig. „Mir geht es gut.“ Man
bietet ihr an, sich zu setzen, nein, Martha möchte stehen, mit dem Mikrofon in der Hand.
„Ich möchte Ihnen danken, Martha, dass Sie den Mut gefunden haben,
hier vor uns zu sprechen. Wieviele Kinder haben Sie, Martha?“
„Ich habe neun Kinder.“
Martha bedankt sich hastig, hier und heute, der Kommission und allen
Einwohnern von Fishtown und Umgebung ihre Geschichte erzählen zu dürfen. Ihr Blick sucht halt. An irgendetwas bleibt er hängen. Vielleicht an einem Plastikstuhl mit der Prägung „God bless you“. Das scheint ihr zu genügen. Sie spricht gegen einen Gegenstand. Sie spricht nicht ins Publikum.
Nicht zu den Kommissionsmitgliedern. Sie spricht gegen sich selbst. Martha setzt an und wird die nächsten 56 Minuten nicht mehr aufhören zu sprechen. Martha erzählt vom Krieg, von ihrem Krieg in Fishtown.
Im April des Jahres 2003, der Krieg war in seinem 14. Jahr und eigentlich
fast vorüber, da zwangen sie Marthas Ehemann aus dem Haus. Er solle eine
Armee aufbauen zur Unterstützung der Soldaten des Präsidenten Charles
Taylor. Richard Watkins weigerte sich. So war die Sache klar für Taylors Anhänger: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Sie verschleppten Richard Watkins, erst ins städtische Gefängnis, dann in den Busch. Martha ist zu dem
Zeitpunkt im neunten Monat schwanger. Sie fleht um die Freilassung ihres
Mannes, erst auf Knien, dann mit Geld. Ohne Erfolg.
Martha Watkins Ehemann starb an einem Nachmittag im April 2003. Man
tötete ihn gemeinsam mit 368 anderen. Einigen wurden vorher Nägel durch
Beine und Handflächen getrieben. Als sie davon spricht, überschlägt sich
Marthas Stimme. Sie ringt nach Worten, ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen – und findet doch keine. Die Kommission zwingt sie nicht. Die Kommission sucht zu trösten.
Kommissionsmitglied John H.T. Stewart: „Frau Watkins, es tut uns sehr
leid, was Sie durchgemacht haben. Sie sind eine sehr mutige Frau. Jede einzelne Geschichte trägt bei zu dem Puzzle aus Schmerz und Leid, gibt uns
ein weiteres kleines Puzzleteil zu einem großen Ganzen. Nie wieder dürfen
wir zu den Waffen greifen, um unsere Probleme zu lösen. Denn Waffen lösen keine Probleme, sie hinterlassen nur noch mehr Unheil.“
Martha kennt einen der Täter. Sie wohnen nicht weit voneinander entfernt.
Manchmal begegnen sie sich auf der Straße. Sie grüßen sich.
Kommissionsmitglied John H.T. Stewart: „Was ist mit diesem Zico, wohnt
er noch in der Gegend hier?“
Zeugin Martha Watkins: „Ja, er lebt hier in Fishtown.“
Stewart: „Sehen Sie ihn ab und an?“
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Watkins: „Ja.“
Stewart: „Sprechen Sie miteinander?“
Watkins: „Wenn wir uns begegnen sage ich nur kurz Hallo und manchmal erwidert er auch ein Hallo. Ich kann antworten wenn er mich anspricht.
In dieser Welt können wir vergeben, aber vergessen können wir nicht. Auch
ich habe ihm in meinem Herzen vergeben, aber vergessen werde ich ihm
das nie.“
Weitere Namen fallen in der Erzählung Marthas. Dan Morrias, General
Sumo, Washington Moore. Ein Raunen geht durch den Zuschauerraum. Washington Moore? Bis eben saß er noch hier, irgendwo in den letzten Reihen, ein vierunddreißigjähriger schlanker Mann, in weiten Jeans und PuffDaddy-T-Shirt, die Sonnebrille tief im Gesicht. Der Vorsitzende der TRC,
Jerome Verdier, fährt mit sonorer Stimme in das Gemurmel und bittet um
Ruhe. Er ruft mit eindringlichen Worten allen Anwesenden den Auftrag der
TRC ins Gedächtnis. Die Wahrheitskommission setze nicht nur auf Wahrheit, sondern vor allem auf Versöhnung zwischen Tätern und Opfern. Verdier ruft in die Weite des Raumes, Washington Moore möge kommen, sich
über das Sprechen zu befreien von der Last, die auf seinen Schultern ruhe,
Moore solle sich versöhnen mit Martha. Verdier erhebt sich und richtet sich
an Martha: „Dieser ganze Prozess ist für Menschen, die gelitten haben. Und
Sie, Martha, sind Teil davon. Es ist unsere Pflicht, den Frieden zurück in
dieses Land zu holen und auch ihn zu halten. Was Sie uns erzählt haben,
Martha, ist sehr wichtig. Damit wir erkennen, wie schlecht die Menschen in
unserem Land gehandelt haben. Ich kann im Namen der Kommission sprechen, wenn ich sage, es tut uns leid, was Ihnen geschehen ist. Wir möchten
Sie ermutigen, weiterhin so stark zu sein, wie Sie es gewesen sind. Sie haben
heute Geschichte geschrieben.“
Am nächsten Morgen erscheint Washington Moore vor der Wahrheitsund Versöhnungskommission, gleich als erster Zeuge. Viele der Vorwürfe
streitet er ab. Ein kleines Rädchen sei er gewesen, im großen Getriebe. Martha sitzt im Publikum, folgt stoisch seinem Vortrag und schweigt.
Später am Abend, Martha steht in der Küche und drapiert den Reis auf
bunte Plastikteller und sagt: „Nein, grundsätzlich hat sich in meinem Leben nichts geändert. Doch nun, da ich öffentlich und vor aller Augen meine Aussage gemacht habe, da fühle ich mich befreit, auf irgendeine Art
erleichtert.“
Von draußen dringen Jubel und Applaus in die kleine Küche. Jungs in
blauen und weißen Trikots rennen über Staub. In der Dämmerung gewinnt
gerade die örtliche Fußball-Schülermannschaft gegen das Nachbardorf.
Neben den Anhörungen die zweite Attraktion in dieser Woche. Die Männer am Spielfeldrand prosten sich zu mit Royal Club Bier. Die Frauen auch.
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Man streicht Kindern über den Kopf, gratuliert den erschöpften Spielern,
man lacht.
9. Whouw, Samuel K. Doe
Von Fishtown bis nach Zwedru, der nächsten Provinzhauptstadt, in der
die Wahrheits- und Versöhnungskommission halt macht, sind es gut 100 km
Luftlinie Richtung Nord-Westen. In der vergangenen Nacht hat es geregnet, eine Fahrt mit dem Auto über schlammige Schotterpisten scheint nunmehr schier unmöglich. Wir nehmen den Hubschrauber der Vereinten Nationen. Während sich der Helikopter in die Höhe schraubt, ducken sich die
zurückgelassenen Blauhelme ins kniehohe Gras. Die Rotorblätter schneiden
in die Stille, in die Hitze. Staub wirbelt auf, Kinder rennen, lachen, winken.
Ein Ritual in Fishtown zwei Mal in der Woche. Die UN wechseln ihr Personal, transportieren Trinkwasser und Proviant. Der Helikopter braucht für die
Strecke nach Zwedru eine knappe halbe Stunde. Wir lassen Fishtown hinter uns und fliegen hinweg über dichten Urwald gen Norden nach Zwedru,
Grand Gedeh, Liberia.
Zwedru ist die Heimatstadt von Samuel K. Doe, einem der unzähligen Präsidenten und Kriegsherren Liberias. Das Militär putschte ihn, den
Hauptfeldwebel, 1980 an die Macht. Zehn Jahre später wird Samuel K. Doe
sowohl die Macht verlieren, als auch seine zwei Ohren und sein Leben als
Resultat eines Verhörs, bei dem er bis zum Tode gefoltert wurde. In den
Jahren seiner Militärherrschaft fand Samuel K. Doe Zeit für diverse Massaker an der Zivilbevölkerung, den Bau einer vierspurigen, laternenbeleuchteten Straße durch Zwedru City und den Bau eines beachtlichen Eigenheims,
dem Samuel-K.-Doe-Palace. Der Palast des ehemaligen Präsidenten war
eine von italienischen Architekten entworfene dreistöckige Tropfsteinhöhle.
Zimmerspringbrunnen, pastellfarben geflieste Badezimmer, Wendeltreppen
mit handgeschmiedeten Geländern – Doe hatte Sinn und Kapital für das Außergewöhnliche. Durch die sandsteinfarbene Ruine fegen heute der Wind,
die Schwalben, Tipothey und seine Bande. Tipothey ist 15. Er hüpft über
die stumpfen Kacheln des wasserleeren Swimmingpools. Vom roten auf
die weißen Streifen, bis hin zum Stern, den Pool ziert die Flagge Liberias.
„K. Doe” meint Tipothey “Whouw, er war der Präsident von Liberia. Er
war gar nicht so schlecht. Whouw.“ Tipothey rappt beim sprechen mit der
rechten Hand. Jeden Tag käme er mit seinen Freunden hier her. Sie toben im von Unkraut überwucherten Swimmingpool, streichen durch die
labyrinthischen Gänge, Kammern, ehemaligen Badezimmer. Die tropfsteinhöhlenartige Eingangshalle mit Springbrunnen sei von den Italie-
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nern eigens für ihn entworfen worden, sagen die Leute, der massive Tresen aus Teakholz käme aus dem Kongo. An den Wänden Kritzeleien
finsterer Männergesichter; Graffitis: GOD BLESS LIBERIA, THE WAR
MAKE DOE DO BAD, MORRIS WAS HERE, PEACE IS POWER.
Man sagt, ein unterirdischer Fluchtweg würde bis in den entlegenen Busch
führen. Einmal, so Tipothey, hätten sie sich in den Keller getraut, allein mit
dem flackernden Licht von Streichhölzern. Einen Schädel hätten sie gefunden. Da seien sie ganz schnell wieder zurück gerannt und seitdem nie wieder
hinunter in den Keller gegangen.
Samuel K. Doe hat noch viele Anhänger in Liberia. Insgeheim verehren
sie ihn als denjenigen, der die Vormachtstellung der Eingewanderten, den
Amerikoliberianern, brach und das Land den Einheimischen, den „echten
Liberianern“ zurück gab. Das sagt man nicht offen, nur hinter vorgehaltener
Hand, denn mit Doe brach auch das Zeitalter einer brutalen Militärdiktatur
an. Politische Gegner wurden umgebracht, verschleppt oder ins Gefängnis
geworfen. Zehn Jahre nach seiner Machtergreifung, im Jahr 1989, begann
eine Rebellenbewegung unter Führung von Charles Taylor einen Guerillakrieg gegen Doe. 14 Jahre lang herrschte Bürgerkrieg, bis 2003 ein Waffenstillstand ausgehandelt wurde und Präsident Charles Taylor ins nigerianische Exil floh.
Heute, im Jahr 2008, versucht nun die Wahrheits- und Versöhnungskommission Liberias den Verbrechen der Jahre 1979 bis 2003 zu begegnen;
zu dokumentieren, was geschehen ist, Opfer zu benennen – und schließlich vielleicht auch Täter. 24 Jahre Massaker, Massenhinrichtungen, sexueller Missbrauch, Wirtschaftsverbrechen. Die Bilanz in Zahlen: geschätzte
250.000 Tote, 1 Million Binnenflüchtlinge, über 1 Million Liberianer verließen das Land nach Guinea, in die Elfenbeinküste oder gar bis nach Ghana,
manche schafften es bis in die Vereinigten Staaten von Amerika. Jede dritte
Frau sei während des Krieges vergewaltigt worden. Über 200.000 Kämpfer
seien unter 18 Jahre gewesen.
Mit den Worten: „Erzähl Deine Geschichte und erleichtere Dein Herz!
Hilf, das Land wieder zusammenzufügen!“ wirbt die Kommission für ihr
Anliegen. Die neun Kommissionsmitglieder ziehen in einem Kleinbus von
County zu County, von Provinz zu Provinz, einmal quer durchs ganze Land,
von Nord nach Süd, von Ost nach West. Freiwillige haben im Jahr zuvor bis
zu 20.000 Zeugenaussagen eingeholt. 16.000 Formblätter mit Fragen und
Antworten zum Krieg in Liberia, die nunmehr in kniehohen Stapeln auf
den Schreibtischen des Büros der Kommission in Monrovia in Datenbanken
eingepflegt werden um sie auswertbar, will heißen vergleichbar mit anderen Kriegen zu machen. Der Vorsitzende Jerome Verdier, Massa Washington
und die anderen Kommissionsmitglieder haben in nächtelangen Diskussio-
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nen 5.000 „repräsentative“ Fälle ausgewählt, die nun ganz Liberia anhören
kann – und soll.
10. Eine Wunde ist eine Wunde ist eine Wunde.
Jerome Verdier sitzt im Halbdunkel eines kargen Hotelzimmers am Rand
Zwedrus. Muna’s Palace, Zimmer Nummer Eins, draußen schlägt der Regen
an die Fensterscheibe. Verdier, 40 Jahre alt, in Jeans und schwarz-grau geringeltem T-Shirt jongliert mit zwei Telefonen. Ununterbrochen gilt es Dinge zu organisieren, Fragen zu stellen, Fragen zu beantworten. Er entschuldigt sich für die Unterbrechung.
Verdier presst Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenflügel und versucht sich zu sammeln. Es war ein langer Tag, 8 Stunden öffentliche Anhörungen, im Anschluss in-camera-hearings, dann ein Interview mit dem örtlichen Radio. „Ich bin beeindruckt davon, dass die Liberianer den ganzen
TRC-Prozess verstanden haben und ihn auch unterstützen. Sie kommen in
die Öffentlichkeit und teilen ihre schrecklichen Erlebnisse.“
Eine Schachtel Cornflakes XXL, ein Kofferradio, verstreute Zettel mit Notizen, Jerome Verdier, der Vorsitzende der Wahrheits- und Versöhnungskommission von Liberia lebt wie die anderen Kommissionsmitglieder die letzten
und die nächsten Monate eher bescheiden. Die nervliche Belastung ist ihnen
anzusehen. Auf ihnen ruhen die Augen der Weltöffentlichkeit in diesen Tagen. Vor allem von Seiten der Liberianer schlägt ihnen immer wieder Kritik
entgegen. Fünf Jahre nach Beendigung des Krieges erholt sich das Land nur
schwer von den Altlasten der vergangenen Jahrzehnte. Die meisten würden
am liebsten alles hinter sich lassen und von vorn beginnen, nach vorn schauen, ihre Kinder zur Schule schicken, einer festen Arbeit nachgehen – leben
eben. Ihr Vorwurf an die Kommission: sie würde alte Wunden wieder aufreißen. Verdier nickt wissend, schaut ins Leere und lässt sich Zeit für die
Antwort. „Eine alte Wunde ist noch immer eine Wunde und Quelle größerer
Qualen in der Zukunft. Wenn wir uns jetzt der Sache annehmen, ist es zwar
schmerzhaft zu Beginn, aber schließlich, davon bin ich überzeugt, werden wir
die Wunden heilen. Wir werden Empfehlungen aussprechen für Strafverfolgung, für Amnestierung und Entschädigung.“ Verdier scheint zufrieden mit
seiner Antwort und wird energischer. „Die Vereinten Nationen schätzen die
Zahl der Straftäter auf 100.000. Also wann beginnen wir damit, die Verbrechen zu benennen? Oder sollen wir einfach behaupten, es wäre nie geschehen
und weitermachen wie bisher, so dass die Straflosigkeit weiter andauert? Wir
können aber auch eine Methode finden, die langsam in das Bewusstsein der
Liberianer dringt. Was wir jetzt tun, wird sich in der Zukunft lohnen.“
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Liberia
Stefanie Duckstein
Jerome Verdiers Familie floh gleich zu Beginn des Krieges, er selbst blieb
all die Jahre über im Land, in seiner Heimat, wie er sagt. „Ich wollte einfach
sehen, was hier passiert.“ Und obwohl er sah, was alles geschah, ist er heute
noch immer überrascht. „Bei jeder Nachfrage stellen sich die schlimmsten
Dinge heraus. Haben sie Frauen vergewaltigt? Ja, viele. Haben sie Männer
umgebracht? Ja, viele von ihnen. Haben sie Kinder getötet? Ja, sehr viele.
Und Menschen in unserem Land haben Dinge getan, die wir uns nie hätten
vorstellen können.“
Verdier studierte an der Universität von Liberia Recht und Wirtschaft, engagierte sich in den vergangenen Jahren in verschiedenen Menschenrechtsgruppen, ist heute Anwalt. Unter den Kommissionsmitgliedern ist Verdier
der Seelsorger, der Tröster. Seine Worte sind Balsam für die Psyche der Zeugen. Seine Stimme taucht auch die schlimmsten Fragen in einen sonoren
Mantel aus Bass. Für jeden findet er Worte der Linderung, der Anerkennung. „Es war nicht Ihr Fehler. Sie sind kein schlechter Mensch. Die anderen haben schlechtes getan.“ Und die Täter? Wie begegnet er den Tätern?
Warum überhaupt sollten sie sich dem aussetzen?
„Es ist in der Tat eine ganz persönliche Entscheidung. Es hat zu tun mit den
eigenen Überzeugungen, mit dem Maß an Selbstbewusstsein und Verantwortungsgefühl. Es geht um nicht weniger als die Erneuerung unseres Landes.“
Verdier streicht sich mit der flachen Hand über den geschorenen Schädel, setzt an, etwas zu sagen und hält inne. Er hadert. „Wirklich, eine Menge an Dingen hätten in diesem Land nie passieren dürfen.“ Nicht immer
sei es für ihn leicht, die Fassung zu wahren. Da gab es zum Beispiel diesen
Moment gleich zu Beginn der ersten Anhörungen in Monrovia. Der Saal
war brechend voll, sie mussten Stühle aus dem Nachbarcafe in die Stadthalle bringen, damit alle Platz fanden. Die Kommission bat in den Zeugenstand Milton Blahyi, ehemaliger Rebellen-General, auch genannt „General Butt Naked“, da er meist nackt in die Schlacht zog. Blahyi gab zu, seine
Truppen hätten insgesamt etwa 20.000 Menschen getötet. Sie kämpften gegen die Milizen von Ex-Diktator Charles Taylor, opferten Kinder vor jeder
Schlacht und aßen deren Herzen, um sich die Gunst der Götter für den Sieg
zu sichern. Auf die Frage, wie er hätte so etwas tun können, gab Blahyi zu
Protokoll, er sei von einem Dämon besessen gewesen. Heute ist der 37-Jährige zum christlichen Priester konvertiert. Er habe lange nach einer Möglichkeit gesucht, seine Geschichte zu erzählen, jetzt fühle er sich erleichtert,
sagte Blahyi. An der Stelle habe Verdier, Präsident der Kommission, kurz
geschluckt. „Es ist wirklich schwer zu verstehen, warum wir so lange gekämpft und all das zugelassen haben. Viele bedauern, was sie getan haben.
Sie brauchen eine Möglichkeit, das auszusprechen, sich wenigstens ein wenig zu befreien. Auch um wieder von anderen akzeptiert zu werden. Denn
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Stefanie Duckstein
Liberia
wir sind eine Gesellschaft, die auf Konsens und Versöhnung aus ist. Sobald
Menschen in die Öffentlichkeit treten und sagen; ‚Entschuldigung, es tut
mir leid‘, dann bedeutet das schon sehr viel.“
Die Mitglieder der Kommission haben keine richterlichen Vollmachten.
Sie können niemanden verurteilen. Doch darum geht es ihnen auch nicht,
meint Verdier. Es geht ihnen nicht um Schuldzuweisungen. Im Anschluss an
die Anhörungen wird die Kommission einen Bericht veröffentlichen. Verdier spricht von einem historischen Dokument, das der Regierung von Liberia vorgelegt wird. Das Dokument enthält Empfehlungen für Strafverfolgung von Tätern, die sich massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig
gemacht haben, Empfehlungen für Amnestierung von Tätern und Entschädigung von Opfern. „Inwiefern das umgesetzt wird, liegt dann im Ermessen
der Regierung.“
Verdier sieht die Zeugen kommen und gehen. Einen nach dem anderen,
Stunde um Stunde, 10 Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Im Publikum
harren Dorfälteste aus, sitzen einfach nur da, als ginge das Leben erst morgen
weiter. Das geht so über Tage, über Wochen, Monate. Liberia spricht. Opfer
und Täter, manche von ihnen sind beides zugleich. Es ist ein Schauspiel in
unzähligen Akten. Männer in zerschlissenen übergroßen Anzügen, Männer
im weißen Hemd. Frauen mit faltigen Händen und altersgrauem Haar. Oder
Frauen, blutjung mit Kleinkindern auf dem Schoß, deren Väter sie nicht kennen, erzählen von Massenvergewaltigungen, von Flucht, vom Überleben im
Busch. Oder: „Ich bin Evelyn, ich bin 28 Jahre alt“ „mein Name ist Joyce, ich
wurde in Kanweaken geboren, ich erinnere mich nicht, wann ich geboren bin“
„Mein Name ist Linda, ich bin in Bacula geboren aber wir mussten fliehen,
als die Soldaten kamen.“ Sie geben ein so zerbrechliches Bild. Es ist einem
unangenehm, ihnen bei so viel Intimitäten ins Gesicht zu schauen. Evelyn
sprach wie paralysiert stur an den Kommissionsmitgliedern vorbei. Redete,
redete, redete, nannte Namen, Orte, Zeiten, Tote, Vermisste, deren Leichen
man nie fand. Evelyn ignorierte jede Nachfrage nach ihrem Befinden. Saß
steif und aufrecht in bunten Stoffen. Das Kopftuch fest ums Haar gezurrt.
Das Publikum sah ein strenges Profil mit markanter Nase, hoher Stirn. Die
Augen glasig. Aber ich kann mich auch irren. Viele Frauen sprechen Grebo.
Sie werden ins Englische übersetzt, in eine Sprache, die ihnen fremd ist. Hinter den Zeugen, an einem kleinen Tisch, sitzen die Protokollanten, fünf an der
Zahl, die unentwegt auf den Tasten ihrer Laptops klappern. Manchmal das
einzige Geräusch im Saal. Sie notieren jedes Wort, jede Korrektur, notieren
Namen von Vermissten, von Opfern, von Tätern, notieren Orte und Zeiten.
Ein Dokument, das schon heute über 400 Seiten stark ist. „Damit die Welt erfährt, was in unserem Land geschehen ist“, sagt Jerome Verdier. „Damit das
niemand, aber auch wirklich niemand mehr anzweifeln kann.“
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Liberia
Stefanie Duckstein
11. „Ich bin genau da, wo ich sein sollte.“
Massa Washington steht im geblümten Morgenrock am Küchentisch des
Down-Town-Hotels und rührt in ihrem Kaffee. Der dritte Tag der Anhörungen in Zwedru bricht an. In den vergangenen Tagen fand die Kommission kein großes Publikum. Man traf sich auf dem höchsten Punkt Zwedrus,
einem kleinen staubigen Hügel, umsäumt von Maniokfeldern. Der Veranstaltungsort – ein zerschossener Saal, früher vielleicht ein Kino, mit
Wänden aus Waschbeton, durch die Decke fällt stahlblau der Himmel, die
Stuhlreihen, früher vielleicht aus rotem Velours, heute springen die Federn
aus den Sitzen. Palmwedel und Bananenblätter an den Wänden vertuschen
rührend den blätternden Putz. Eine schaukelnde Lichterkette aus nackten Glühbirnen spendete in den Abendstunden ein wenig Licht. Die Kommission und die Zeugen sprachen zu diesem Zeitpunkt schon eher zu sich
selbst. Massa Washington wirkt entmutigt. Der Frage, ob sie manchmal an
dem ganzen Prozess zweifle, begegnet sie mit einem wissenden Lächeln.
„Ich will diese Frage ganz offen beantworten. Manchmal frage ich
mich, wenn ich nun kein Mitglied der Wahrheitskommission wäre, würde ich zur TRC kommen? Wofür würde ich plädieren, für die TRC oder
einen Strafgerichtshof? Und ehrlich gesagt, habe ich mich dabei ertappt,
wie ich genau zwischen beiden Argumenten stehe. Ich als Person, nicht
als Kommissionsmitglied, wanke zwischen beiden Optionen hin und her.
Doch dann schau ich genauer hin und realisiere, ich bin genau da, wo ich
sein sollte: Mitglied in der Wahrheits- und Versöhnungskommission von
Liberia.“
Eine Wanduhr tickt im Takt ihrer Worte. Massa Washington geht nunmehr
auf und ab, durchmisst die kleine Küche von links nach rechts. „Die TRC
hat so viele Vorzüge, besonders in so einer Transitionsphase, gerade in einem Land wie unserem, das gerade einen verheerenden Krieg hinter sich
hat. Die gesamte Infrastruktur wurde zerstört. Die Strafjustiz ist praktisch
nicht vorhanden, die Gerichte sind in katastrophalem Zustand. Wir haben
keine Richter, wir haben keine Anwälte, wir haben ja nicht mal Rathäuser.
Nehmen wir einmal an, die Täter würden verurteilt – wo sind die Strukturen,
die den Prozess begleiten? Wo ist das Vertrauen in diese Strukturen? Schauen Sie sich doch die Vielzahl mutmaßlicher Täter an. Es ist, verzeihen Sie,
aber das verdammte ganze Land. Wollen Sie das ganze Land vor Gericht
stellen? Wie lange soll es dauern, bis nur einer der Fälle abgeschlossen ist?
Und zu welchem Preis für ein Land mit so einem fragilen Frieden, wie wir
ihn jetzt haben? Vergessen Sie nicht, die UN ist hier. Wenn die erst weg sind,
sind wir bereit und stark genug für den Frieden?“
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Stefanie Duckstein
Liberia
Die Journalistin Massa Washington ist das einzige Kommissionsmitglied,
das aus dem Exil zur Wahrheits- und Versöhnungskommission berufen wurde. Alle anderen haben die Kriegsjahre im Land verbracht. Einen Querschnitt der liberianischen Bevölkerung sollte die Kommission darstellen,
darauf hat man bei der Konstituierung geachtet. Mindestens 4 Frauen sollten unter ihnen sein. Eine Krankenschwester, zwei Universitätsabsolventinnen, ein Sheikh, ein Bischof, eine Anwältin, ein Elektroingenieur und noch
ein Journalist – auch unter ihnen gibt es Verwerfungen, Unstimmigkeiten
und wiederum Versöhnung, meint Washington. Eine innere und äußere Zerreißprobe seien diese Monate für sie.
„Wir sitzen da von morgens bis abends, hören all die Geschichten und es
wird von uns erwartet, dass wir cool und emotionslos und all das sind. Dann
schaust du dir diese Menschen genau an und denkst bei dir: ‚Oh mein Gott,
ich bin gerade noch so mit dem Leben davon gekommen. Wer bin ich, dass
man mich verschont hat?‘ Wir alle sehen jetzt schon älter aus, als wir eigentlich sind.“
Doch das mache ihr nichts aus, meint Washington etwas kokett, und streicht
sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Geschichte zeichne sich eben nicht
nur ins Land, sondern auch in die Gesichter seiner Bewohner. Doch sie wolle jetzt nicht pathetisch klingen, dafür sei ihr die Sache zu ernst. Massa Washington, geübt im Umgang mit den Medien, weiß Akzente zu setzen, weiß
an welchen Stellen Pausen besonders wirken. Sie ist diejenige, die zu RadioTalkshows eingeladen wird. Jeden Freitag gibt’s auf dem landesweit ausstrahlenden UN-Radio-Kanal „News from the TRC“. Sie ist diejenige, die
Vorträge vor Schulklassen hält. Massa Washington überzeugt.
„Ja, ich denke, trotz unserer eigenen Schicksalsschläge und dem ganzen
Ballast, den wir mit uns herumtragen, ist das ganze eine gute Idee. Die Menschen müssen über diese Dinge reden, sie müssen geheilt werden und in die
Zukunft blicken. Und wir alle wissen, den Dialog beginnen, ist ein Weg der
Heilung. Die Menschen müssen reden. Das ist alles noch in ihnen. Das müssen sie raus lassen. Erst dann können wir allmählich das Ganze gehen lassen
und das Leben neu beginnen.“
Das wohl größte Vermächtnis der TRC sei die Wertschätzung der Opfer,
meint Washington. Vor allem die Wertschätzung der im Land Gebliebenen.
Viele Hilfsprogramme haben in den vergangenen drei Friedensjahren jeder
erdenklichen Opfergruppe Aufmerksamkeit zukommen lassen. Flüchtlinge, Binnenflüchtlinge, Frauen, ehemalige Kindersoldaten, alle kamen sie in
den Genuss von Hilfs- und Förderprogrammen, raunen einige. Doch was ist
mit denen, die ausharrten während des gesamten Krieges? Die eine Rebellengruppe nach der anderen und später die Soldaten brandschatzen sahen?
Menschen, die einfach nur da waren. Die werden in der ganzen Diskussion,
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Liberia
Stefanie Duckstein
die gern klare Opfer- und Tätergruppen kennt, vergessen. So gibt’s nunmehr
eine kleine Wende in der Debatte, und man spricht vornehmlich von „war
effected people“, kriegsbetroffenen Menschen.
„Was die TRC uneingeschränkt tut, sie wertschätzt die Opfer“, meint Massa
Washington. „Das erste Mal haben sie eine Stimme. Sie schweigen nicht länger. Wo auch immer ihre Peiniger sein mögen. Das ist das schöne daran: den
Opfern eine Stimme geben. Und das ist der Beginn des Heilungsprozesses.“
Heilen. Was Heilen eigentlich für einen Staat bedeuten könne, da kommen die einen ins Stocken, die anderen ins Schwärmen. Große Worte wie
Versöhnung, Vergebung oder Wahrheit liegen auf den leichten Lippen der
Tageszeitungen, hallen aus den Radiokanälen, führen die Diplomaten auf
Staatsbesuchen im Munde. Große Worte, doch was sie konkret für die Sehnsucht nach Alltag und Vergessen bedeuten? Was sie für Martha, die Köchin
aus Fishtown bedeuten, wenn sie in der glühenden Nachmittagshitze Washington Moore, einem ihrer Peiniger, begegnet? Martha sagt: „Es ist gut,
dass er weiß, dass ich weiß und das nunmehr alle im Land wissen, was er
getan hat.“
12. Eine Brücke, gebrochen
Alle nennen sie nur Broken Bridge. Hier an den nördlichen Ausläufern
Monrovias, hier wo der Atlantische Ozean in einem kräftigen Arm in die
Stadt drängt, hier wo sich die Halbinsel genau um so viele Zentimeter in
den Atlantik frisst, wie die Leute Kunststoffmüll, Kloake und Abfälle vor
ihre Türen aus Wellblech schütten – hier auf dieser Brücke standen sich in
den letzten Kriegstagen Charles Taylors Soldaten und Rebellen gegenüber.
Ein magischer Ort, meint Winston, der Taxifahrer, so viel wie hier passiert
sei. Ich solle mich beeilen, um noch vor Sonnenuntergang wieder zurück zu
sein, der finsteren Gestalten wegen, sagt Winston beschwörend. Die Gegend
sei eben nichts für Leute, die da nichts zu suchen hätten. Aber ich suche
doch, sage ich zu Winston, der nur den Kopf schüttelt. Hier an diesem Ort,
wo der Krieg in einem letzten Aufflammen noch mal grob wurde, wo selbst
schmale Laternenpfähle von Gewehrsalven wie Siebe durchlöchert wurden,
hier erzählt man sich, dass die Frauen den Krieg beendet hätten, weil sie
den kämpfenden Männern auf der Brücke die Nahrung verweigerten. Und
plötzlich, als die Kriegsherren unter dem Druck der Vereinten Nationen,
der Afrikanischen Union und anderen Vermittlern im Juni 2003 einen Waffenstillstand schlossen, da schüttelten sich auch die Brücken-Kämpfer verhalten die Hände. Hier auf dieser Brücke. Drei Jahre nach den Ereignissen,
irgendwann in den frühen Morgenstunden muss es gewesen sein, da sack-
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Stefanie Duckstein
Liberia
te die Brücke einfach in sich zusammen. Zerbrach in zwei Teile, ohne Ankündigung und fast lautlos. Heute liegt sie wie ein schlafendes Tier mit dem
Bauch im Atlantik. An ihren Enden ausgebrannte Autowracks, in ihrer Mitte ausgebrannte Kids, die offensichtlich viel zu schnell erwachsen wurden.
Balanciert man die steile Betonrampe hinab, bis an den tiefsten Punkt, wo
die beiden Brückenenden in einem spitzen Winkel aufeinander treffen, dann
verschwinden alle Geräusche der Stadt, der Abendverkehr, der Muezzin.
Es bleibt nur ein leises, gurgelndes Geräusch vom Atlantik, der sich durch
den schmalen Spalt der Ruine schiebt. Man hockt in einem kleinen, stillen
Winkel, spart die Stadt aus, hockt in einem Winkel der Geschichte. Joshua
schaut ein wenig glasig und fragt, was ich hier suche. Ich sage, so jemanden
wie ihn. Joshua lacht und nickt und schnippt die Zigarettenkippe weit von
sich. Sein kleiner Bruder kniet in öl-verschmiertem Shirt am Brückenrand
und klaubt mit Angelsehne und rostigem Haken fingerdünne Fischlein aus
dem brackigen Brückenwasser. Joshua sagt, er sei 28. Er trägt weiße Leinenhosen, dazu Slipper mit winzigen rosafarbenen Totenköpfen. Habe ihm seine Schwester gerade aus Togo mitgebracht. Seine Schwester ist im Handel
tätig, da springe auch immer mal was für ihn bei raus. Joshua möchte lieber
über die Liebe reden als über Wahrheit und Versöhnung. Irgendwann wird
er eine Portugiesin heiraten, ist Joshua überzeugt. Warum denn eine Portugiesin? „Nur so eben.“ Die Portugiesen seien die besten Fußballspieler und
die Frauen die schönsten der Welt. Genauer könne er das nicht beschreiben.
Wir schauen eine Weile aufs Meer. „Jetzt, da sich Liberia langsam wieder
aufrappelt von der Vergangenheit, da wird doch wieder alles möglich, nicht
wahr?“ fragt Joshua. Also vielleicht sogar, dass er reise, bis nach Europa,
bis nach Portugal. „Könnte doch sein!“ setzt Joshua nach. Auf die Frage,
was er sich noch wünsche für die Zukunft, macht Joshua eine ausholende
Handbewegung. Gern würde er in das Geschäft seiner Schwester einsteigen.
„Import-Export eben.“ Bisher fehle ihm dafür noch das Startkapital, aber er
arbeite daran. Ab und an helfe er in der Autowerkstatt seines Onkels aus und
manchmal bekommt er nach mehrstündigem Warten von der Stadt einen Tagesjob. Dann entlädt er Frachtcontainer am Hafen oder kehrt in der Mittagshitze Monrovias Staubstraßen. Liberia hat eine Arbeitslosenquote von etwa
85%. Zwei Drittel von ihnen sind Jugendliche. Der Krieg löschte eine ganze
Eltern-Generation und deren Wissen aus. Ob landwirtschaftliche Anbaumethoden, Fischerei, Bergbau oder traditionelles Wissen – der Krieg ließ keine
Zeit und keinen Raum dafür. Er hinterließ eine ganze Generation an traumatisierten, nicht ausgebildeten Jugendlichen. Beobachter meinen, es würde Liberia noch mal 50 Jahre kosten, um da anzuknüpfen, wo das Land vor
dem Krieg war. Joshua schlägt sich auf die Oberschenkel und sagt, so viel
Zeit habe er nicht. Überhaupt müsse er jetzt los – „Geschäfte“ eben.
160
Liberia
Stefanie Duckstein
13. Blumen im Haar
Zorzor, Voinjama, Kolahun – mit 30 km pro Stunde kämpft sich der Landrover durch den Regenwald gen Norden. Von Monrovia bis hier her in den
äußersten Norden Liberias dauert die Fahrt, ist der Jeep gut in Schuss, knappe 9 Stunden. Wenn, wie in diesem Jahr, der Klimawandel die Regenzeit zu
einem unberechenbaren Unterfangen macht, und plötzlich hereinbrechende
Regenfälle die Landstraßen in reißende Ströme verwandeln, kann die Fahrt
einige Tage kosten. Doch Foya wartet. Foya, ein Dorf mit vielleicht 300 Seelen, kauert im Dreiländereck Liberia, Guinea und Sierra Leone. Keine 10
Minuten, und man ist drüben, meint Steven und sticht mit dem Finger irgendwo in dichtes Grün. Die Grenze verläuft durch den Busch. Foya hat
Strom aus versprengten Generatoren, keine Tageszeitung, einen zerstörten
Radiosender, einen rumpeligen Fußballplatz und ein Entertainment Center.
Das Unterhaltungszentrum besteht aus fünf aneinandergelehnten Wellblechen inklusive Satellitenschüssel für den sauberen TV-Empfang. Auch gibt
es in Foya Reis, viel Reis. Steven isst Reis am liebsten drei Mal täglich. Er
kratzt mit der Gabel die letzten Körner auf seinem Teller zusammen und
setzt nach, wenn er‘s sich denn leisten könnte. Steven ist gerade 30 geworden, trägt nagelneue Turnschuhe und zieht ein Bein nach. Ich hab ihn nicht
gefragt, warum.
Foya hat schon viel gesehen, Kriegsverbrechen aller Art, Flüchtlinge aus
dem Süden Liberias, Flüchtlinge aus dem Nachbarland Sierra Leone, Rückkehrer aus Guinea und wieder Flüchtlinge aus dem Süden Liberias. Soldaten, Rebellen, Flüchtlinge – alle zogen sie über Foya hinweg, über Foya,
Lofa County, im Norden Liberias. In Nebensätzen erfährt man von vermissten Brüdern, verschleppten Vätern, bis heute nicht aufgetauchten Verwandten. Es gibt nicht vieles, dass Steven die Sprache verschlägt. Eigentlich spricht Steven ununterbrochen. Mit einem lustigen Knarzen bellt seine
Stimme die Worte in die Welt. Steven lacht fast immer. Jetzt nicht.
„Ich habe mein Land verlassen im Juli 1993. Ich erinnere mich noch genau an diesen Juli. Es war der Monat, in dem mein Vater starb. In dem Moment, als wir Guinea erreichten, brach er zusammen und starb. Es regnete
die ganze Zeit.“ Er steht kurz auf, sucht den Lautstärkenregler am Kassettenrekorder, dreht die Musik leiser. „Wir haben uns versteckt, nicht weit von
hier am Ufer des Flusses. Drei Tage kauerten wir da im Busch, während sie
in Foya gekämpft haben. Wir hörten die Gewehrsalven. Die Leute aus Guinea vom anderen Flussufer hatten zwar eine Fähre, aber nicht genug Platz
für uns alle. Wir waren gefangen zwischen Leben und Tod. Am anderen
Flussufer warst du sicher, hier auf der liberianischen Seite so gut wie tot.
Wir organisierten ein Kanu, und in dem Moment, als das Kanu ablegte ka-
161
Stefanie Duckstein
Liberia
men die Rebellen. Ich sorgte dafür, dass meine Familie einstieg und konnte
selbst gerade noch so hineinspringen. Einige Leute hinter uns wurden gefangen genommen und zurück nach Foya gebracht. Ich war der letzte, der es
ins Kanu schaffte.“
Als Steven Foya verließ, war er 15. Die nächsten 13 Jahre sollte er in Guinea verbringen. Und plötzlich habe er sich entschlossen, zurück zu kommen. Es sei kein besonderer Tag gewesen, meint Steven, keine besondere
Meldung in den Nachrichten. Es war früh am Morgen, der Himmel hing tief,
er holte Holz, wie immer. Da wusste er es plötzlich, sagt Steven, „ich habe
es in einem fremden Land geschafft, dann schaffe ich es auch in meinem
eigenen, in Liberia“. Als er dann das erste Mal in Foya einfuhr, im November 2006, mit zwei karierten Plastiktaschen im Kofferraum eines alten Peugeot, da hatte er seine Heimatstadt einfach nicht erkannt. „Wir sind in Foya
Steven, checkst Du’s nicht?, fragten meine Freunde. Ich sagte ‚Oh, das soll
Foya sein?‘ Ich lief eine Weile umher und begann Leute wieder zu erkennen.
‚Das ist Foya Steven, herzlich willkommen zu Hause‘ begrüßten sie mich.
Ich fühlte mich total verloren.“
Er ging langsam auf das Haus seiner Eltern zu. Nicht viel mehr als ein
paar Lehmziegel, überwuchert von Lianen, trotzten dem Busch. Früher, da
hatten sie eine stattliche Hütte, gleich dahinter ein Feld mit Bananen, zehn
Pflanzen vielleicht, gleich hinter dem Bananenfeld begann der Regenwald,
unendlich. Bis heute, so Steven, hatte er noch nicht die Kraft, das alles wieder aufzubauen. „Zu schwach. Und zu beschäftigt.“
Steven trainiert die Junior-Fußballmannschaft von Foya. Fahrig geht er
auf und ab am Spielfeldrand, ruft irgendwas von „mehr Raum im Mittelfeld“
und rauft sich die Haare. Seine Jungs von der Tambataylor Public School gegen die der Central High. „Kein wichtiges Spiel, aber trotzdem!“
Er nennt sie seine Jungs und Mädchen in rot-gelb. Der Trikots wegen.
Steven erklärt ihnen, wie man Fußball spielt. Vor allem, wie man fair Fußball spielt. Er bildet sie zu Schiedsrichtern aus, zeigt ihnen, was richtig und
falsch ist – auf dem Spielfeld und im Leben. Ohne die Jugend gehe hier
gar nichts, meint Steven. „Eine hochexplosive Gemengelage. Die Menschen
hier sind wie das Meer, still wie eine Pfütze, und plötzlich schlagen sie hohe
Wellen.“
Vor dem Krieg sind es die Ältesten gewesen, welche alle Entscheidungen für die Gemeinschaft getroffen haben. Dann kam der Krieg, gab elf-,
zwölf-, dreizehnjährigen Kindern Waffen in die Hand, und plötzlich waren
sie es, die das Sagen hatten, Entscheidungen fällten, im Zweifelsfalle über
Leben und Tod. „Dieses Misstrauen zwischen den Jungen und den Alten ist
immer noch da“ sagt Steven, während seine Jungs in der rotblonden Abendsonne gegen ihre Niederlage anrennen. „Und diese Wahrheitskommission,
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Liberia
Stefanie Duckstein
na ja, die Wunden wird die nicht heilen können. Vielleicht reißen sie sie gar
wieder auf, und der ganze Konflikt beginnt von neuem.“ Vor einigen Monaten, da seien ein paar Leute aus der Hauptstadt nach Foya gekommen. „Die
haben Zettel verteilt, auf denen stand ‚Ehre Deine Angehörigen. Komm
zur Wahrheitskommission. Erzähle Deine Geschichte und erleichtere Dein
Herz’. Stumm haben die Leute von Foya die Zettel durch ihre Finger gleiten
lassen und gezischelt, ‚wie soll das gehen, meinen Nachbarn beschuldigen,
der vielleicht noch mein Verwandter ist?!“
Steven ist unsicher. „Es ist schon mal viel wert, dass sie Charles Taylor
vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Rechenschaft ziehen. Ja.“ Es entsteht eine lange Pause. „Aber auch da geht es ja nur um die
Verbrechen, die er in Sierra Leone zu verantworten hat. Und einen zweiten
Prozess, allein für Liberia, wird es nicht geben. So ist die Wahrheits- und
Versöhnungskommission das Maximale, was wir an Aufarbeitung kriegen
können.“ Steven wiegt den Kopf hin und her und entscheidet sich schließlich, „na gut, ich würde meine Freunde dazu ermutigen, zur TRC zu gehen.
Ich würde ihnen sagen, selbst wenn Ihr Angst habt, geht hin und erzählt!“
Und er selbst? Steven lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der
Brust. „Ich war ja nicht hier, was kann ich schon erzählen?“
Am nächsten Morgen feiert Foya den Frieden mit seinem ersten Peace
Carnival. Mit Musikern, eigens angereist aus der Hauptstadt Monrovia, mit
einem Marsch von etwa 200 Dorfbewohnern durch Foya City. Sie singen,
tragen Blumen im Haar und rufen laut in Megafone „Peace is sweet. Peace
is here. Welcome back to Liberia.“
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Katrin Gänsler
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Nigeria
vom 1. Januar bis 27. März 2008
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Nigeria
Katrin Gänsler
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit:
Der christlich-muslimische Dialog in Nigeria
Von Katrin Gänsler
Nigeria, vom 1. Januar bis 27. März 2008
167
Nigeria
Katrin Gänsler
Inhalt
1. Zur Person
170
2. Ausgerechnet Nigeria
170
3. Im Supermarkt der Religionen – Erste Eindrücke
171
4. Das heikle Spiel mit den Zahlen
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5. Persönliche Ansichten I: Naomi Garba: Religion ist in mir
176
6. Wenn Muslime das Blut Christi trinken
178
7. Persönliche Ansichten II: Umma:
Meine Religion ist Frieden und Liebe
181
8. Kaduna – Eine Stadt zwischen Krieg und Frieden
183
9. Der Versuch des Dialogs
188
10. Persönliche Ansichten III: Hajiya:
Ich habe niemals an meiner Religion gezweifelt
193
11. Und wenn es wieder brodelt
195
12. Persönliche Ansichten IV: Yusuf: Beten für das Leben danach
198
13. Dem Sultan zu Füßen
200
14. Was bleibt
207
15. Danksagung
207
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Katrin Gänsler
Nigeria
1. Zur Person
Katrin Gänsler (Jahrgang 1978) wuchs in einem kleinen Dorf im Münsterland auf. Sie studierte von 1999 bis 2006 in Leipzig, Helsinki und Kopenhagen Journalistik und Afrikanistik. Praktika, Hospitanzen und freie Mitarbeit unter anderem bei der Münsterschen Zeitung, Radio RST in Rheine, der
Leipziger Volkszeitung, dem Flensburger Tageblatt, dpa-Büros in Leipzig
und Kopenhagen und dem ZDF-Studio in Kiel. Sie volontiere von 2003 bis
2004 bei der Neuen Westfälischen in Bielefeld. Auslandsaufenthalte führten
sie abwechselnd nach Nordeuropa und Afrika. Unter anderem machte sie
ein Praktikum im Pressebüro von Jukola-Viesti, dem größten CrosscountryLauf in Finnland, begleitete drei Monate lang die Arbeit in einer HIV-Beratungsstelle im tansanischen Mwanza am Victoriasee und schrieb ihre Diplomarbeit über die Berichterstattung über den 11. September 2001 in der
englischen und der Swahili-Presse Tansanias. Seit August 2006 ist sie Redakteurin bei der Dithmarscher Landeszeitung in Heide/Holstein.
2. Ausgerechnet Nigeria
Nigeria hat mich während meines Afrikanistik-Studiums immer wieder
begleitet – meist im negativen Sinne. Es war Beispiel für ein Land, das durch
die Öl-Vorkommen wohlhabend sein müsste. Doch gerade diese Bodenschätze führen schon seit Jahrzehnten im Niger-Delta zu blutigen Auseinandersetzungen, Schießereien mit Toten sowie Entführungen von Europäern
und Amerikanern, die in regelmäßigen Abständen auch Einzug in deutsche
Medien halten. Darüber hinaus fiel der Name Nigeria immer dann, wenn es
um durch und durch korrupte Staaten und Militärdiktaturen ging. Nicht zu
vergessen ist der Biafrakrieg von 1967 bis 1970, einer der wenigen Segregationskriege auf dem Kontinent nach Ende der Kolonialherrschaft.
Nigeria zeigt außerdem mit mehr als 250 Gruppen eine ethnische Zersplitterung wie kein anderes Land, was regelmäßig zu Konflikten führt. Außerdem finden sich unzählige Sprachen, darunter das so schwer zu erlernende Haussa. (Dass Haussa im Vergleich zu Yoruba und Ibo, den beiden
anderen großen Verkehrssprachen die mit Abstand einfachste ist, sollte ich
erst in Nigeria erfahren.) Nicht zu vergessen sind Glaube und Religion: Nigeria gilt weiterhin als Pulverfass, das ständig explodieren kann. Denn in
welchem anderen Staat in Afrika ist es alleine in den vergangenen zehn Jahren so häufig zu tödlichen Konflikten zwischen Christen und Muslimen gekommen? Und auch die Einführung der islamischen Gesetzgebung in den
zwölf Staaten des Nordens ist einzigartig. Kurzum: Nigeria gilt als ein Land,
170
Nigeria
Katrin Gänsler
das gerade für Weiße ein gefährliches Pflaster ist, zu gefährlich, um dorthin
zu reisen. Im Mai 2005 wachte ich eines Morgens in Dar es Salaam/Tansania auf und wusste: Ich muss unbedingt mal nach Nigeria.
3. Im Supermarkt der Religionen – Erste Eindrücke
Schon bevor ich einen Fuß auf nigerianischen Boden gesetzt habe, fällt
mir eins auf: Am Rande des Rollfeldes des Murtala Mohammed Airports im
Norden von Lagos ist eine Kirche zu sehen und – nur ein paar hundert Meter
entfernt – eine kleine Moschee. Dieses Bild wird mich durch die nächsten
drei Monate begleiten: Willkommen in Nigeria.
Lagos ist überwältigend: Es ist eine riesige, vollgestopfte Stadt, deren
Ausmaße kaum zu überblicken sind. Unzählige Menschen sind unterwegs,
zu Fuß, auf den Okadas, den Moped-Taxen, in vollgestopften, schreiendgelben Minibussen sowie in Autos, von denen viele einst in Deutschland
zugelassen waren. Denn anders als in vielen anderen ehemaligen britischen
Kolonien herrscht Rechtsverkehr. Fast erschlagen werde ich allerdings nicht
von dem lärmenden, schnellen, rücksichtslosen Verkehr, sondern von den
übergroßen Bannern am Straßenrand, die allesamt Werbung für die unterschiedlichsten Kirchen machen.
Ein Schild ist größer als das andere. Einige sind aggressiv, kündigen neue
Kreuzzüge an, auf anderen stehen gemäßigtere Parolen. Gemeinsam haben
sie das Versprechen, den Weg zu Gott zu finden. Die Kirchen geben sich zuversichtlich, dass Jesus Christus bald zurückkehren wird, machen Hoffnung
auf Heil und Erlösung. Neben markigen Worten sind Prediger und Priester
abgebildet. Jeder ist eingeladen zu kommen, die Kirche zu erleben, Mitglied zu werden – und, doch das steht selbstverständlich nicht dort – Geld
zu lassen. Nicht zu vergessen ist der Hinweis, wo und wann die Gottesdienste stattfinden und wie lange sie dauern. Das Minimum ist zwei Stunden.
Manchmal sind es ganze Vormittage, manchmal ganze Sonntage. Doch bei
einem Gottesdienst in der Woche bleibt es nicht. Viele Kirchen bieten jeden
Abend eine Bibelstunde, Meditation oder einen speziellen Gebetskreis an.
Nicht fehlen darf auch der Midweek-Service – ein Gottesdienst am Dienstag
oder Mittwoch –, der für viele Christen ebenfalls Pflichtprogramm ist.
Bei einem ersten Spaziergang durch meine Nachbarschaft fällt mir ein
Banner auf. In grellen Farben wird dort verkündet, dass „Gott meine Freude ist“. Dahinter steht, so die eigenen Worte, eine charismatische Bewegung, „die sich die von Gott Auserwählten“ nennt. Beim Fotografieren ruft
ein Mann: „Das ist meine Kirche.“ Ich drehe mich zu ihm um, wir kommen
ins Gespräch. Seit knapp fünf Jahren besucht er die Kirche mittlerweile, hat
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Nigeria
vorher viele andere ausprobiert. Okuchuko Anthony Nosrim, so heißt er, hat
sich verloren und alleingelassen gefühlt. Dann stieß er zufällig auf die von
Gott Auserwählten und schloss sich ihnen an. Die Bibel, die Heilige Schrift,
steht im Mittelpunkt. „Das Wort Gottes wird gepredigt. Dort passieren Dinge von Gott, vom Himmel. Ich habe es ausprobiert und getestet“, sagt der
hagere Mann. Er geht ins Haus, drückt mir eine kleine Zeitung in die Hand.
In großen, roten Buchstaben steht dort. „Genug ist genug. Satan, pack’ Deine Sachen und geh.“ Auch von den Wundern, die die von Gott Auserwählten erleben durften, berichtet das Blatt, das den Titel „Die Nachrichten der
Auserwählten“ trägt. Etwa das Wunder, das John Ideaji widerfahren ist. Drei
Monate lang war er nach einem Schlaganfall gelähmt. Doch durch seinen
Glauben wurde er geheilt, heißt es in dem kleinen Text. Auf dem Bild dazu
reißt er die rechte Hand siegessicher in die Luft.
Anthony erzählt, dass er jeden Sonntag zum Gottesdienst geht, dafür extra
durch halb Lagos fährt, was in der zweitgrößten Stadt des Kontinents Stunden dauern kann. Der Gottesdienst beginnt um 7 Uhr morgens und ist gegen
12 Uhr zu Ende. Dass längst nicht jeder pünktlich ist, macht nichts. Anthony
lädt mich ein, an einem der kommenden Sonntage mitzukommen. „Wir sind
die von Gott Auserwählten“, sagt er und winkt zum Abschied.
Nicht nur auf der Straße sind Kirchen allgegenwärtig. Im Fernsehen haben viele Prediger – meist jene von Pfingstkirchen – eigene Programme, um
Werbung für sich zu machen. Auch im Radio laufen die unterschiedlichsten
Sendungen rund um Religionen. Es wird diskutiert, gepredigt, geschimpft
und selbstverständlich gesungen, für viele Kirchen eine gute Chance, neue
Mitglieder zu werben.
Doch in Lagos ist auch der Straßenverkehr religiös, nicht etwa der Fahrstil und die Beschimpfungen der Fahrer untereinander, sondern die fast liebevoll mit religiösen Bildern und Sprüchen verzierten Autos, gelben Minibusse und Okadas, die sich Tag für Tag durch den dichten, chaotischen
Stadtverkehr kämpfen. Am Rückspiegel hängen Wimpel, am Heck kleben
Aufkleber, werden Psalme geschrieben und wird zur Gottesfurcht ermahnt.
Meist wird Jesus gepriesen, doch ab und zu machen auch Aufkleber deutlich, dass Allah der einzig wahre Gott sei. Mein Supermarkt um die Ecke
hat neben Brot, Toilettenpapier und Wasser ausreichend Literatur. Titel wie
„Wie ich Satan besiegte“ oder „Vertraue auf Gott“ stehen im leicht verstaubten Bücherregal bei der Kasse. Wie häufig die Titel verkauft werden, kann
mir die Tochter der Ladeninhaberin allerdings nicht sagen.
Aber nicht nur dort gibt es Medien, die sich mit Religion befassen: An
vielen Straßenecken werden am frühen Vormittag kleine Holzstände aufgebaut und mit CDs, DVDs und fast altmodisch wirkenden Kassetten befüllt. Selbstverständlich finden sich Musik und Filmraubkopien aus Europa
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Nigeria
Katrin Gänsler
und den Vereinigten Staaten. Aber auch Gospelklänge und Mitschnitte von
Predigten fehlen nicht im erstaunlich großen Angebot. Auch die boomende
nigerianische Filmindustrie, die nach Anlehnung an Hollywood und Bollywood den wohlklingenden Namen Nollywood trägt, hat die Religion für sich
entdeckt. Es gibt kaum einen Spielfilm, eine Serie oder Comedy, in der Jesus Christus und der Satan fehlen. Ein gutes Ende – die Bekehrung des verlorenen Sohnes – ist das Happy Ending auf nigerianisch.
Wie selbstverständlich Religion zum Alltag gehört, wird mir während
meines ersten Bummels über den größten westafrikanischen Markt auf Lagos Island, einer der beiden vorgelagerten Inseln, deutlich. Mitten im hektischen Treiben ist vor rund 20 Jahren die größte Moschee des Landes, die
Lagos Central Mosque, errichtet worden. Um die Moschee herum haben unzählige Markthändler ihre kleinen Stände aufgebaut, verkaufen Gebetsperlen und Mützen, bieten unterschiedliche Koranausgaben an, haben dünne
Hefte aus Saudi-Arabien im Sortiment, in denen Jugendliche beschreiben,
wie der Islam ihr Herz berührt hat. Mit etwas Glück finde ich verschiedene
Publikationen aus Nigeria, darunter eine schlecht gedruckte Broschüre mit
dem Titel „Islam in Gefangenschaft“. Erst viele Wochen später werde ich
mich wieder daran erinnern und spüren, dass der Titel vielen Muslimen aus
der Seele spricht.
Die Stände rund um die Moschee passen perfekt in das Marktgewimmel.
Überall drängeln und quetschen sich Menschen durch die engen Straßen,
bieten junge Bauchhändler Kaugummis, Plätzchen oder Tee an. Ohne die
Begleitung von Einheimischen ist ein Zurechtfinden so gut wie unmöglich.
In ganzen Straßenzügen verkaufen Frauen ausschließlich bunt bedruckte
Stoffe. In anderen ist auf den kleinen Holztischen noch warmes Fleisch ausgebreitet, das von Fliegen umsurrt wird. Am nächsten Stand baumeln Kuhschwänze von den Tischen herunter, und Kuhfüße warten nur darauf, den
Besitzer zu wechseln und zu Suppe verarbeitet zu werden. Auf der Suche
nach kleinen Holz- und Glasperlen gelange ich in eine Markthalle. Während
des zähen Handelns um den besten Preis kniet plötzlich nur wenige Meter
von mir entfernt eine Frau nieder und fängt lautstark an zu beten. Auf Yoruba verkündet sie, dass der Erlöser bald auf die Erde zurückkehren wird. Sie
verzerrt das Gesicht, wippt mit ihrem Oberkörper immer wieder hin und her
und schreit plötzlich laut und gellend Amen. Ich erschrecke, doch außer mir
nimmt offensichtlich niemand Notiz von ihr.
Ein paar Straßen weiter, im Nordosten der Insel, liegt etwas versteckt
der Jankara Market. Fasziniert, überwältigt und angewidert zugleich starre
ich auf die Auslagen. Zum Sortiment gehören Kräuter, zusammengemischte Getränke, die in alten Plastikflaschen abgefüllt werden, fantasievoll geschnitzte Stöcke und getrocknete Insekten. Der Jankara Market ist die gut
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Katrin Gänsler
Nigeria
ausgestattete Juju-Abteilung und bietet alles an, was mit Magie, Fetischen
und Götterglauben zu tun hat.
Religion ist in Nigeria etwas Lautes, Offensichtliches, Direktes und Plakatives. Sie ist allgegenwärtig, bestimmt den Alltag und das Leben der Nigerianer. Und scheinbar kommt niemand an ihr vorbei.
4. Das heikle Spiel mit den Zahlen
Vor vier Jahren hat die BBC eine Studie veröffentlicht und in zehn Ländern untersucht, wie religiös die Bewohner seien. Unter dem Titel „What
the World thinks of God“ sind insgesamt 10.068 Menschen befragt worden
– darunter 1.000 aus Nigeria –, welche Rolle Gott und Religion in ihrem
Leben spielen. Wenn es einen Sieger geben würde, wäre es das westafrikanische Land, in dem 98 Prozent betont haben, dass sie immer an einen Gott
glaubten. Auch der verschwindend geringe Rest von zwei Prozent ist gläubig, hat dies allerdings nicht immer getan. In Südkorea beantwortete dagegen nur knapp jeder Dritte die Frage mit einem Ja, während es in Großbritannien fast jeder Zweite war.
Diese Zahl ist vermutlich die einzige mehr oder weniger eindeutige, die
es im Hinblick auf Religionen in Nigeria gibt. Schon bei der nächsten Frage, wie sich denn die einzelnen Religionsgruppen zahlenmäßig zusammensetzen, ist der erste Streit vorprogrammiert. Denn wirkliche Belege, ob es
denn nun mehr Christen oder Muslime in dem bevölkerungsstärksten afrikanischen Land gibt, fehlen. Die Datensätze, die dennoch vorhanden sind,
werden gerne zu eigenen Gunsten interpretiert und umgedeutet. Schließlich
geht es nicht um nackte Ziffern, sondern um politische Macht und den Zugang zu Ressourcen.
Noch vor der Unabhängigkeit im Jahr 1953 bekannte sich jeder fünfte
Nigerianer zum Christentum, wohingegen sich etwa 43 Prozent als Muslime bezeichneten und der Rest von weit über 30 Prozent Anhänger von Natur- oder traditionellen Religionen war. Das änderte sich schon 1963 – drei
Jahre nach der Unabhängigkeit – rapide und zugunsten des Christentums.
Im Rahmen einer Volkszählung kamen die Statistiker bereits auf 35 Prozent
Christen und 47 Prozent Muslime. Je nach Autor verändern sich die Daten
jedoch um ein paar Prozentpunkte in die eine oder andere Richtung.
Heute sind es trotz großer crusades während der vergangenen 20 Jahre –
Massenveranstaltungen vieler Kirchen, um möglichst viele neue Mitglieder
zu gewinnen –schätzungsweise rund 40 bis 45 Prozent Christen, wohingegen sich vielleicht ein paar Prozent mehr dem Islam zugehörig fühlen. Die
Zahl derer, die sich zu traditionellen Religionen bekennen, liegt mittlerweile
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Nigeria
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bei unter 10 Prozent. Noch kleiner ist die jüdische Gemeinschaft, die nach
Schätzungen etwa 40.000 Anhänger hat, die vorwiegend im Süden Nigerias
leben. Und auch rund 25.000 Hindus sollen im Land sein.
Dass es keine konkreteren Daten gibt, ist jedoch keine Ausnahme in Afrika: In Tansania beispielsweise wurde nur ein einziges Mal Mitte der 1960er
Jahre nach der Religion gefragt. Zahlen- und Machtspiele sollten an der ostafrikanischen Küste ebenfalls vermieden werden, denn das Land setzt sich
ganz ähnlich wie Nigeria etwa zur Hälfte aus Christen und zur Hälfte aus
Muslimen zusammen.
Auch ohne zuverlässige Daten spielen die Nigerianer jedoch genau mit diesen. Jan H. Boer beispielsweise, ein Evangelist, der seit mehr als 40 Jahren regelmäßig nach Nigeria reist und zahlreiche Bücher verfasst hat, ist sicher, dass
es mittlerweile mindestens gleich viele, wenn nicht sogar mehr Christen gibt.
Das betont auch Samuel Salifu, Generalsekretär der Christian Association of
Nigeria (CAN). „Die Muslime tun immer so, als ob sie zahlenmäßig überlegen seien. Doch das stimmt nicht. Die Bevölkerung ist 50:50“, sagt der Generalsekretär des bedeutendsten Zusammenschlusses der christlichen Kirchen
im Land, und ein paar Sätze später fügt er sogar hinzu: „Sie wissen und ich
weiß es, dass es mehr Christen gibt, wenn man absolute Zahlen vergleicht.“
Viele Muslime würden zwar argumentieren, so Salifu weiter, dass sie immer
Anhänger für sich verbuchen, weil sie vier Frauen heiraten können. „Aber wir
haben viele Konvertiten. Und die haben Muslime nicht.“ Eine Basis, das Land
zu islamisieren, würde es daher nicht geben, findet Salifu.
Geografisch betrachtet, so erklärt er weiter, sei der ganze Süden christlich
geprägt. 80 Prozent der Bevölkerung im Südosten, wo die Ibos die dominierende Ethnie sind, und im Südwesten, dem Yoruba-Land, sei christlich. Im
Middle Belt seien es immerhin noch 60 Prozent. „Daher bleiben nur noch
wenige Staaten übrig, in denen sie kontrollieren“, sagt Salifu. Die „wenigen“ Staaten sind immerhin zwölf, die seit dem Jahr 2000 unter großem
Protest die Scharia, die islamische Gesetzgebung wieder eingeführt haben.
Wie viele unterschiedliche Gruppierungen es alleine im Christentum gibt,
ist für den Generalsekretär von CAN schwer zu sagen. Mehr als 200, lautet
seine Schätzung. CAN teilt sie in die fünf Gruppen. Dazu gehören die Katholiken, das Christian Council of Nigeria, in dem die Anglikaner, Baptisten
und Methodisten vertreten sind, die verschiedenen Pfingstkirchen (Christian Pentecostal Fellowship), die Evangelical Church of West Africa (ECWA),
die ihren Ursprung im Sudan haben sowie die Organisation of African Instituted Churches. Anders als die übrigen Kirchen sind sie keine eingeführten, sondern haben ihre Wurzeln in Afrika. Einen besonders starken Zulauf
hat die Redeemed Church of Nigeria, eine Pfingstkirche mit Gemeinden auf
der ganzen Welt.
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Nigeria
Schier unmöglich ist die Schätzung, wie viele religiöse Gebäude im Laufe
der vergangenen Jahre und Jahrzehnte gebaut worden sind. Vor mehr als 20
Jahren – 1987 – zählte Salifu alleine in der Millionen-Stadt Kaduna 243 Moscheen sowie 777 Kirchen, obwohl die Stadt damals noch als vorherrschend
islamisch galt. Heute seien es um die 5.000, darunter prächtige Kathedralen,
unfertige Rohbauten, weil den Gemeinschaften plötzlich das Geld ausging,
sowie kleine Wohnzimmer, in denen junge Kirchen zusammenkommen, die
ganz frisch entstanden sind. Für Salifu ist es ein Zeichen, dass das Christentum auf dem Vormarsch ist. Und auch er spielt mit den Zahlen.
5. Persönliche Ansichten I: Naomi Garba: Religion ist in mir.
„Religion ist alles. Du musst sie hier in Afrika haben, ganz egal, ob Du es
magst oder nicht.“ Die 27-jährige Naomi Garba sitzt auf ihrem Sofa in der
kleinen Wohnung im Süden Kadunas, in der sie gemeinsam mit ihrem Mann
lebt. Sie hat Yams zubereitet. Doch bevor sie isst, spricht sie ganz selbstverständlich ihr Gebet, dankt Gott und fühlt, wie wichtig ihr ihre Religion –
das Christentum – ist. Nach dem Essen legt sie ein Video ein, das an diesem
Abend nicht durch den ständigen Stromausfall unterbrochen wird. Das Video zeigt ihren Pastor, den Gründer der Winners Chapel, Living Faith Church, die in der Millionenstadt des Nordens zu den größten Kirchen zählt. „Er
ist gut“, sagt die junge Frau über ihren Pastor, „er ist ein Mann Gottes.“ Seine riesige, neu gebaute Kirche, vor der sich während der Gottesdienste immer wieder lange Staus bilden, weil sie einen so großen Zulauf hat, ist nicht
die erste, die Naomi besucht hat. „Sie ist wundervoll“, schwärmt sie in Gedanken versunken und verfolgt eine der Predigten ihres Pastors. „Ich war in
vielen Kirchen. Nicht, dass die anderen nicht gut sind“, sagt sie, führt den
Satz nicht zu Ende, schaut vielmehr für ein paar Sekunden gebannt auf das
Bild und hört den Worten zu. Einen Augenblick später erzählt sie dann, dass
sie erst in dieser Kirche die Erfüllung gefunden hat. Näher kann sie es nicht
beschreiben. Aber vielleicht ist es eine Intensität, das Ende einer langen Suche, weshalb die Winners Chapel ihre Kirche wurde.
Wie intensiv dieses Gefühl und die Zuneigung für ihre Kirche sind, wird
nicht deutlich, wenn sie vor dem Fernseher in der guten Stube sitzt. Es lässt
sich nur erahnen, was sie so eng an die Kirche bindet. Viel besser ist es nachfühlbar während der Mittwochsmesse, die für Naomi zum selbstverständlichen Wochenprogramm gehört, wie für andere der Besuch in einem Sportverein oder womöglich ein festes Treffen mit Freunden. Naomi sitzt in der
Holzbank, presst ihre Augen fest zusammen und betet halblaut. Später steht
sie auf, spricht dem jungen Pastor David nach, der heute die Messe hält,
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Nigeria
Katrin Gänsler
reißt die Hände in die Luft und ruft immer wieder: „Wir beten in Jesus’ Namen.“ Manchmal nimmt sie ihre Bibel, die ein treuer Begleiter ist, krallt ihre
Hände in das Buch Gottes, reißt sie in die Höhe, als ob sie ihren Gebeten einen speziellen Nachdruck verleihen möchte. Naomi wirkt hochkonzentriert
und angespannt. Doch zum Schluss des 90-minütigen Gottesdienstes strahlt
sie: „Jedes Mal fühle ich mich gut, erleichtert. Oder lass’ mich doch lieber
das Wort perfekt nutzen. Ja, ich fühle mich perfekt.“
Entdeckt hat die junge Frau die Winners Chapel, deren Mitglieder gerne
betonen, dass sie Winner – Sieger – sind, durch zwei ihrer Schwestern. Die
Kirche ließ sie nicht mehr los. Der charismatische Pastor, die vielen Angebote, die Naomi nutzt, haben ihr zugesagt. „Normalerweise gehe ich in den
Sonntagsgottesdienst und zur Mittwochsmesse“, erzählt sie auf ihrem Sofa.
Wenn es sich einrichten lässt, dann besucht sie auch die Gruppe „MondayPrayer-Force“, deren Name sich kaum ins Deutsche übersetzen lässt. Etwa
als Gebetsstreitkräfte, deren Fürbitten eine ganz besondere Macht und Intensität versprechen? Einen festen Platz hat Naomi allerdings in der Donnerstagsgruppe, die für die Welt, die Nation, aber auch für Familien betet.
In Gottes Hände will die 27-Jährige, die in einem Büro einer lokalen Verwaltung arbeitet, allerdings nicht nur den Zustand von Krieg und Frieden auf
dem Globus legen. Vielmehr betet Naomi um Kinder. „Ich liebe Kinder“, erzählt sie. Ganz besonders zeigt sie es, wenn ihre Nachbarskinder Alfred, Keren und Elijah zu ihr kommen, sich aufs Sofa setzen und Naomi mit den drei
Geschwistern wie selbstverständlich ihren Yams teilt. Sie hätte gerne selbst
Kinder. Nicht nur einmal haben ihr Mann und sie sich untersuchen lassen.
Das Paar will wissen, weshalb es seit der Hochzeit vor knapp sieben Jahren
kinderlos ist. An Gott zweifelt sie indes nicht, ihren Glauben hat sie nicht
verloren, obwohl die Ehe nicht mit Kindern gesegnet ist. Noch nicht, denn
Naomi betet weiter um Nachwuchs, für sich, in den Familiengebeten in der
Donnerstagsgruppe. „Es wird eine Zeit kommen, wenn mein Pastor mich
auserwählen wird. Daher muss ich mich darauf konzentrieren“, sagt Naomi
und streicht eins der Kissen auf dem Sofa glatt.
Doch wenn die Zeit gekommen ist, dann weiß sie nicht, ob sie ihren Kindern ihre Kirche zeigen kann. Denn ihr Mann Ibrahim Garba ist Moslem,
und nach islamischem Recht müssen es seine Kinder ebenfalls werden.
„Viele Menschen haben mich gefragt, ob ich nun eine Muslima werde“,
erinnert sich Naomi an die Zeit, in der sich das Paar kennen lernte und beschloss, zu heiraten. Doch sie winkt ab. „Ich habe nicht sie geheiratet“, sagt
sie und meint die Muslime, „ich habe ihn geheiratet.“ Für die Familie ihres Mannes war die Entscheidung in Ordnung. Schließlich würde es ebenfalls einige Christen geben, darunter ihre Schwiegermutter. Den Gedanken,
selbst Muslima zu werden, hatte Naomi nie. „Ich hatte keine Wahl. Ich bin
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Nigeria
Christin und im Christentum groß geworden. Ich kann das nicht, und das
habe ich ihm gesagt.“ Einen Spitznamen aus dem Islam hat Ibrahim seiner
schlanken Frau dennoch gegeben. Er nennt sie Ummah, erzählt mir Naomi,
weil ihm der Name so gut gefallen würde.
Religion sei für das Paar immer wieder ein wichtiges Gesprächsthema, bei
dem sie gegenseitig über ihren Glauben sprechen und versuchen zu erklären
und zu verstehen. Respekt und Toleranz seien wichtig, sowie die Fähigkeit,
gemeinsam zu feiern. „Zu Weihnachten gibt er mir Geld. Und am Sallah-Fest
nehme ich auch teil“, erzählt Naomi und blickt auf den Abspann des Videos.
In Naomis Kirche ist Ibrahim allerdings nie mitgekommen. „Aber manchmal
beten wir zusammen. Ich glaube, dass wir demselben Gott dienen.“
6. Wenn Muslime das Blut Christi trinken
Ein friedliches Miteinander soll es auch in dem verstaubten Zirkuszelt
geben. Es fällt schon von weitem auf, wenn man ins Zentrum von Lagos
fährt. Dass die Unterkunft keine Dauerlösung sein soll, macht Dr. Samsindeen Saka gleich klar. Doch derzeit ist es die einzige Kirche oder auch Moschee, die Christen und Muslime zusammen beten lässt. Die Bewegung, die
vor mehreren Jahrzehnten unter dem Namen Chrislam begann, ist nicht nur
in Nigeria einzigartig und wird skeptisch begutachtet.
Es ist Sonntagmorgen, kurz nach acht Uhr. Die ersten Reihen des Kirchenzeltes sind gefühlt. Meist sind es Frauen, die dort sitzen und die unermüdlich ihre Gebete wiederholen. Sie richten sich an Allah. Die Gläubigen
wiegen sich leicht hin und her, Gebetsperlen klappern. Niemand kniet jedoch nieder, niemand richtet sich gen Mekka. Auch eine strenge Trennung
von Männern und Frauen, wie sie in Moscheen auf der ganzen Welt eine
Selbstverständlichkeit ist, gibt es nicht. Nach gut einer Stunde erklingen
Trommeln, die Betenden stehen auf und blicken zum Vorplatz. Dort parkt
Dr. Samsindeen Saka seinen großen, schwarzen Geländewagen. Ein Lied
für ihn erklingt, doch er verschwindet hinter dem Zelt, um sich für seinen
Teil des Gottesdienstes vorzubereiten.
Saka ist der charismatische Führer der Kirche, die heute in Nigeria besser
unter dem Namen Oke-Tude oder Mountain of Loosing Bondage bekannt
ist. Gründer der Kirchen war vor mehreren Jahrzehnten der Nigerianer Tela
Tella, der so zwei Weltreligionen miteinander verbinden wollte. Neben einer
Verständigung über die Religionen hinweg wollte Chrislam-Gründer Tella
auch traditionelle Medizin und Praktiken mit in seine Bewegung einfließen
lassen. Auch Saka war, bevor er Führer der Kirche wurde, als Heiler bekannt, wie auch sein Vater.
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Nigeria
Katrin Gänsler
Doch traditionelle Medizin spielt während des Gottesdienstes weniger
eine Rolle. „Wir sind hier, um Gott zu ehren und den Gottesdienst für ihn zu
feiern“, macht der schwergewichtige Mann im schwarzen Anzug deutlich.
Roseline Oboale hat von Anfang an am sonntäglichen Gottesdienst teilgenommen. Die 28-Jährige kommt seit drei Jahren zu Oke-Tude. „Hier gibt es
keine Anfeindungen, weder zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, noch zwischen Religionen“, nennt sie, die selbst Yoruba ist und somit
zu einer der drei großen Ethnien in Nigeria gehört, die Gründe für den Besuch. Doch die eigentliche Ursache ist viel persönlicher. „Fünf Jahre lang
wurde ich nicht schwanger. Als ich hierher kam, klappte es nach einem
Jahr“, sagt sie und erzählt stolz, dass sie mittlerweile zwei Kinder, Tochter
und Sohn, hat. „So viele Wunder passieren hier. Das Leben hat sich für mich
verändert. Ich habe ein Auto, ein Haus, das Geschäft läuft.“ Und Freunde
habe sie auch gefunden.
Einer von ihnen ist Akeem Arogundade. Der 41-Jährige arbeitet in einem Büro in Lagos und besucht als Moslem jeden Sonntag Oke-Tude. Seine Mutter habe ihn vor mehr als acht Jahren hergebracht, damals, als es ihm
schlecht ging und er sich nicht mehr um Frau und Kinder kümmern konnte.
Als er anfing, hier zu beten, habe er die Veränderungen gespürt. „Ich wurde
plötzlich im Büro wahrgenommen, konnte sogar Wünsche äußern.“ Er habe
gelernt, sich total zu unterwerfen, an Gott zu glauben, ihm die Führung im
Leben zu überlassen. Eine Moschee hat Akeem Arogundade seitdem nicht
mehr von innen gesehen. „Wenn Du zur Kirche gehst, siehst Du, dass es Hexerei ist. Geh’ in eine Moschee, und es ist Hexerei. Aber dieser Mann hier,
der entwickelt Dich von innen, der entwickelt Deinen Geist“, sagt er mit lauter Stimme und macht sich auf den Weg ins Kirchenzelt.
Nachdem der kleine, aber stimmgewaltige Chor fertig gesungen hat, hat
Dr. Saka seinen großen Auftritt. Er spricht auf Englisch, seine Worte werden
sofort in Yoruba übersetzt, damit sie jeder der Gläubigen verstehen kann.
Saka nimmt das Mikrofon aus der Halterung, verlässt das Rednerpult und
geht auf seine Anhänger zu, die mittlerweile nicht einmal mehr alle ins Zelt
passen. Er zitiert aus der Bibel, fragt, wie es mit ihrem Leben vor Gott bestellt ist und lädt gleich zu besonderen Veranstaltungen ein. Eine richtet sich
an alle Frauen, die schwanger werden wollen, eine andere an all jene Mütter, die wollen, dass ihre Kinder einmal Erfolg im Leben haben. „Möchtest
Du, dass Dein Sohn einmal ein Rechtsanwalt wird“, fragt Saka eine Frau,
die in der ersten Reihe sitzt. Sie nickt schüchtern. „Dann komm’ und bete“,
fordert er sie auf.
Aspekte aus dem Islam sind während des Gottesdienstes, der sich über
fünf Stunden zieht, nicht zu erkennen. Doch anschließend betont Saka, dass
es die Lieder sind, die den Koran zum Inhalt haben und an Mohammad er-
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Nigeria
innern. Doch das Predigen sollte mehr aus christlicher Sicht erfolgen. Das
gilt dann auch für den Höhepunkt an diesem Sonntagmorgen. Eifrige Helfer
verteilen an alle kleine Tiegel aus Plastik, in denen feines Salz ist. Anschließend verkaufen Frauen, unter ihnen auch Roseline Oboale, in kleinen Plastiktüten und Flaschen dickflüssigen, roten Hibiskussaft, den Saka „das Blut
Christi“ nennt und den alle Anhänger gleichzeitig trinken. Danach reißt die
Anhängerschaft, die zum überwiegenden Teil weiblich ist, die Arme in die
Luft, fängt an, halblaut zu beten, scheint sich geradezu in einen Trance-artigen Zustand zu versetzen. Die Musik fängt wieder an zu spielen, die Menge
tanzt leicht vor sich hin.
Im vorderen Teil haben Helfer mittlerweile Papierkörbe für Spenden aufgestellt. Saka heizt sie an. Denn mit dem Geld soll eine TV-Werbung für die
Kirche finanziert werden. „Jeder, der glaubt, spendet 1.000 Naira“, ruft er.
1.000 Naira, das sind umgerechnet knapp sechs Euro. Eine hohe Summe,
denn viele Nigerianer verdienen gerade einmal zwischen 10.000 und 20.000
Naira im Monat – auch jene, die einen Hochschulabschluss vorweisen können. Saka geht mit dem Preis für den Glauben nach unten. „Jeder, der glaubt,
spendet 500 Naira“, ruft er. Dann sind es 200, dann 100, bis er schließlich
bei 20 Naira ankommt. Die Massen strömen nach vorne, werfen zerknitterte
Scheine in die Papierkörbe. Das Spektakel wiederholt sich mehrmals.
Wie viel Geld während des Vormittages zusammen gekommen ist, will
der charismatische Kirchenführer nicht konkret beantworten. „Ich schätze
zwischen 60.000 bis 75.000 Naira“, sagt er. Dies sei der einzige Weg, die
Kirche zu finanzieren. Davon würden beispielsweise Arbeiter bezahlt, aber
auch der Neubau auf dem Gelände, auf dem jetzt das ausgediente Zelt steht.
Denn der ursprüngliche Veranstaltungsort rund zwei Kilometer weiter im
Norden sei zu klein geworden. Dort sind tatsächlich in einem Gebäude Kirche und Moschee untergebracht, verbunden mit einem Gang.
Auf die Frage, ob die Spenden auch Sakas nagelneuen Geländewagen mit
dem Nummernschild „Oke-Tude“ finanzieren, will er ebenfalls nicht antworten. Der nigerianische Wissenschaftler Musa A.B. Gaiya von der Universität in Jos hat bereits vor ein paar Jahren betont, dass die Gründung von
Kirchen zu einem der lukrativsten Geschäfte im ganzen Land geworden ist.
Es soll, so erzählen viele, an dritter Stelle stehen, gleich nach dem Öl und
dem Einstieg in die Politik.
„Wir sind fast fertig, noch eine Stunde“, sagt Akeem Arogundade, der immer wieder begeistert zu Saka schaut und betont: „Dieser Mann schafft es,
dass wir gute Gläubige werden.“ Kurz vor Ende kommen einige Mitglieder
nach vorne und erzählen von den persönlichen Wundern, die sie erlebt haben. Sie treten ans Mikrophon, rufen: „Verehre Gott.“ Danach erzählt eine
von ihnen, dass sie hierher kam und viel gebetet hat. Und sie sei belohnt
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worden. Fünf ihrer Töchter und Schwiegertöchter wurden schwanger, drei
hätten bereits entbunden. Die Gläubigen klatschen in die Hände.
Es ist warm geworden unter dem Zirkuszelt. Saka hat sich das Jackett ausgezogen, wischt sich die Stirn mit einem weißen Tuch ab, das er schließlich
in die Menge wirft. Die jubelt, und einige Frauen reißen sich darum, es aufzufangen. Ob es sie wohl an das biblische Schweißtuch erinnert? Der Gottesdienst endet plötzlich und ohne Segensworte. Saka geht, führt draußen
noch ein kurzes Gespräch und steigt dann schnell in das schwarze Auto. Fotografieren lassen will er sich darin nicht.
Außerhalb seiner Anhängerschaft steht er stark in der Kritik – vor allem
aus theologischer Sicht. Pastor James Wuye, der Mitbegründer des Interfaith
Mediation Centre in Kaduna, beschreibt ihn als verwirrt. Pastor James, der
gemeinsam mit Imam Muhammad Nurayn Ashafa, im Norden des Landes
den Dialog zwischen den Religionen versucht, betont, dass es in der Bibel
und im Koran viele Stellen gibt, die belegen, dass es zwei ganz unterschiedliche Religionen sind, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Am
deutlichsten würde das bei Christus selbst, den die Muslime zwar als einen
Propheten, nicht aber als Sohn Gottes betrachten. „Für uns ist er mehr als
ein Prophet, er ist Gottes Sohn. Wenn ich diesen Weg verlasse, habe ich meinen Glauben verloren“, findet Pastor James.
So Bayoblo beeindruckt die theologische Diskussion indes nicht. Vor
dem Zirkuszelt wartet sie an einem kleinen Büchertisch weiter auf Kundschaft. Alle drehen sich um Dr. Saka und dessen Kirche. So Bayoblo zeigt
verschiedene Hefte, die tägliche Gebete und Anweisungen für ein religiöses und erfülltes Leben zum Inhalt haben. Eins davon trägt den Namen
„Kuss der Freude“. Genau das habe sie hier erfahren, erzählt sie. „Hier sind
die Menschen so verschieden, haben so viele Unterschiede.“ Und trotzdem
würden sie gemeinsam beten – ihr Grund, um jede Woche in das alte Zirkuszelt zu kommen.
7. Persönliche Ansichten II:
Umma: Meine Religion ist Frieden und Liebe.
„Wenn ich an Religion denke, dann denke ich an den Islam. Das ist meine Religion. Und die bedeutet Frieden und Liebe.“ Umma Kaltume Baba ist
jung, modern und erfolgreich. Die 31-Jährige hat in Kano studiert, lebt in
Kaduna und arbeitet heute in der Central Bank of Nigeria, der Staatsbank.
Dabei wollte sie zuerst überhaupt nicht ins Bankwesen einsteigen. Doch
durch den Youth Service, ein Pflichtjahr, das alle Hochschulabsolventen in
staatlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen absolvieren müssen,
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entdeckte sie ihr Interesse. Ein Leben ohne Religion kann sich Umma nicht
vorstellen, schon gar nicht ohne ihre Religion, den Islam: „Islam bedeutet
Frieden und Liebe.“
Die junge Frau, die zu Hause ihr Haar höchstens mit einem ganz dünnen
Schleier bedeckt, ist mit ihrer Religion groß geworden. Daher sei es selbstverständlich, sie auszuüben. „Es ist etwas, das von Kindheit an gewachsen
und so verbunden mit meiner Kultur ist. Es ist ein Fluss“, erzählt sie, als
sie auf der Matratze im Mädchen-Schlafzimmer sitzt. Der Raum ist vollgestellt, weil das Haus umgebaut wird. Im Moment ist das große, einladende
Esszimmer an der Reihe. Gerüste stehen an den Wänden, und gemeinsame
Mahlzeiten mit der ganzen Familie und spontanen Gästen sind undenkbar.
Umma, ihre drei Geschwister und die Eltern weichen auf andere Räume aus,
die ebenfalls nach und nach eine schön verzierte Stuckdecke und neue Fußböden erhalten sollen.
Auch der Koranunterricht, den sie und ihre Mutter Hajiya jeden Abend
außer donnerstags und freitags ab 19.30 Uhr erhalten, muss im Moment
in andere Zimmer verlegt werden, immer dorthin, wo ein bisschen Platz
und Ruhe ist. „Als wir jünger waren, sind wir nachmittags gegen 16 Uhr
zur Koranschule gefahren. Doch als wir größer wurden, wurde es schwieriger.“ Schließlich seien sie und ihre Geschwister zu unterschiedlichen Zeiten aus der Schule gekommen. Der Wechsel an die Universität tat ein Übriges. Wenn ihr Koranlehrer heute kommt, dann sei es eine Wiederholung von
dem, was sie einst gelernt hat, eine Erinnerung. Doch es geht nicht nur darum, den Koran zu lesen. Ihr persönlicher Koranlehrer lehrt auch die Hadith,
die Überlieferungen oder – so bezeichnet es Malise Ruthven beispielsweise
in ihrem Buch „Islam – Eine kurze Einführung“ – die Anekdoten über die
Taten und Aussprüche des Propheten, die zuerst nur mündlich überliefert
wurden. „Es ist gut. Man lebt das tägliche Leben und wird doch immer wieder daran erinnert, die Religion auszuüben. Es ist ein Geschenk.“
Der Grund, dass sie mit 31 Jahren noch im Haus ihrer Eltern lebt, liegt für
Umma allerdings nicht nur in der Religion. „Es ist auch Kultur. Und ehrlich,
ich kann mir nichts Besseres vorstellen“, sagt sie und lacht, weil sie diese
Frage wohl erwartet hat. Und dann lacht sie noch einmal und richtet sich
auf der Matratze auf: „Es würde schön sein, einfach so zu gehen. Aber diese Möglichkeit besteht nicht.“ Sorgen macht sie sich nicht darüber, sondern
akzeptiert es, meistens jedenfalls.
Umma lacht wieder, als ich sie nach ihrem Freund frage. „Ja, ich habe einen“, sagt sie und strahlt. Sie haben sich vor anderthalb Jahren in der Bank
kennen gelernt, er ist Moslem. Leichter würde das die Beziehung nicht machen. „Es gibt keine Beziehung, die leicht ist“, sagt die 31-Jährige bestimmt.
Aber immerhin, sie hätten ein gemeinsames Fundament. Ihr Freund ist nicht
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der erste. Auch mit einem Christen war sie zusammen und gibt zu, dass eine
Heirat nicht möglich gewesen wäre, da es einer Muslima verboten ist, einen
Christen zu heiraten. Damals, als ihre Beziehung begann, sei diese heikle
Frage jedoch kein Thema gewesen, keine Selbstzensur, keine innere Schere
im Kopf. „Daran denkst Du nicht, wenn Du jung bist.“
In ihrem Freundeskreis macht Umma keinen Unterschied: „Sie sind keine
Freunde, die Christen sind. Sie sind Freunde.“ Trotz dieser Selbstverständlichkeit vermeidet sie es, über Religion zu diskutieren, zu sensibel, findet
sie. Außerdem möchte sie niemanden zwingen, nicht gezwungen werden.
„Jeder hat seinen Standpunkt und das Recht, an das zu glauben, an das er
will.“
8. Kaduna – Eine Stadt zwischen Krieg und Frieden
Diese grelle Sonne in Kaduna, dieser Sand, der an die Wüste erinnert, diese Ruhe und Entspanntheit, kein Vergleich zu dem immer hektischen Lagos.
Diese Eindrücke begleiten mich während der ersten Tage. Während der Kolonialzeit war die Stadt unter britischer Herrschaft für 63 Jahre – von 1903
bis 1966 – das politische Zentrum Nordnigerias. Daran hat sich bis heute
wenig geändert. Dazu hat Kaduna den Ruf einer gewissen Liberalität, die
Scharia wird nicht so eng ausgelegt wie beispielsweise in Kano. Diskussionen, ob islamische Frauen wohl mit fremden Männern auf einem Okada
fahren dürfen, wären hier kaum denkbar. Es gibt Clubs und Kneipen. Kaduna ist nicht schön, keine malerische Stadt mit geschichtsträchtigen Altstadtmauern und einem märchenhaften Sultanspalast, keine besonderen Ausflugsziele oder Plätze. Kaduna ist praktisch, rational und selbstverständlich.
Und es ist die Stadt, die vor allem im Jahr 2000 die wohl schlimmsten religiösen Ausschreitungen im Land erlebt hat.
Das Wort riots hat sich tief in das Gedächtnis der Einwohner eingebrannt,
etwa so wie 9/11 in Europa und den Vereinigten Staaten. Wer riots hört,
weiß, was er an diesen Tagen im Jahr 2000 getan, gesehen und erlebt hat. Es
war der 21. Februar, ein Montagmorgen, als CAN eine friedliche Demonstration gegen die Einführung der Scharia organisierte, sagen die Christen.
Für Rev. Father Peter Tanko, ein katholischer Priester, der seit sechs Jahren
an der Ahmadu Bello University in Zaira, rund 60 Kilometer nördlich von
Kaduna, unterrichtet, war genau diese Gesetzesänderung der Auslöser für
die Krise. „Die Scharia hat es zwar immer gegeben. Aber diese Ausweitung
war es und die fehlenden Informationen darüber.“ Es sei ein Schritt zur Islamisierung des Landes gewesen, obwohl immer wieder betont wurde, dass
Christen von all dem nicht betroffen sind. Doch für Tanko sind sie es, wenn
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Katrin Gänsler
Nigeria
es beispielsweise um den Verkauf von Bier und Schnaps geht. Durch Verbote sollten Existenzen zerstört werden.
Der Katholik war damals Direktor des Catholic Ressource Centre, zu dem
die Demonstration führte. „Ich habe ihnen gesagt, dass es eine friedliche
Demonstration ist, dass sie keine Straße blockieren und keine Autos zerstören sollen.“ Die Demonstranten marschierten zum Haus des Gouverneurs,
um ihre Meinung deutlich zu machen. Von dort aus sollte sich die Versammlung auflösen. Doch dann seien einige wiedergekommen, verletzt und blutend. Sie hätten gerufen, dass Muslime sie angegriffen hätten. „Wir haben
nicht angefangen. Wir haben nur eine friedliche Demonstration gestartet
und gerufen: ba sharia – keine Scharia“, sagt Tanko.
Dass die Einführung der Scharia zum Konflikt beigetragen hat, davon
geht auch Muhammad Sanusi Khalil aus. Er gehört der muslimischen Gemeinschaft an und ist Imam an der Jumma Mosque. Doch die Umsetzung als
solche sei nicht das Problem gewesen, sondern Unwissenheit und Ignoranz.
„Die Scharia betrifft nur Muslime. Sie ist für uns gemacht. Wann immer jemand sagt, er sei Moslem, dann gehört die Scharia zu ihm und ist Teil von
ihm.“ Die Kritik der Islamisierung kennt er nur zu gut. „Doch bevor wir es
erklären konnten, eskalierte die Situation.“
Die plötzliche Explosion an jenem Montag im Februar sorgte für blutige Straßenschlachten mit Toten und Verwundeten. In der Stadt brach Chaos
aus. Bis heute sind vielen Einwohnern die unglaubliche Willkür und Brutalität in Erinnerung geblieben. Sie haben keine Erklärung, weshalb aus
einstmals friedlichen Nachbarn tödliche Feinde wurden, denn häufig waren es keine Fremden, die sich gegenseitig umbrachten. Doch vielleicht
lässt sich das Unbegreifliche nicht verstehen, sondern kann höchstens hingenommen werden.
Hannatu Msehlia, eine 38-jährige Bankkauffrau, hat bis heute nicht vergessen, wie die Mutter einer Freundin ums Leben kam. Die Muslima war
mit ihren Enkelkindern – die älteren waren in der Schule – allein zu Hause,
als Christen ihr Haus stürmten. Es waren Nachbarn, die viele Jahre lang Tür
an Tür gewohnt hatten. „Die Großmutter versteckte ihre Enkelkinder unter ihrem Bett“, erzählt Hannatu. Die Frau überlebte nicht, und die Kinder
mussten mit ansehen, wie sie umgebracht wurde. Danach steckten die Nachbarn das Haus an. Die Kinder konnten nach draußen flüchten und erzählen,
wer hinter der Ermordung steckte. Hannatus Freundin ist anschließend in einen anderen Stadtteil gezogen. Einmal sind die beiden Frauen dort gemeinsam zum Markt gegangen. „Als meine Freundin gegrüßt wurde und sie nicht
antwortete, habe ich sie nach den Gründen gefragt“, erzählt Hannatu. Ihre
Freundin berichtete ihr, dass es sich um die Mörder ihrer Mutter handelt, mit
denen sie nie wieder etwas zu tun haben möchte.
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Nigeria
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Auch Samson Auta, der sich seit einigen Jahren im Interfaith Mediation
Centre für einen Dialog zwischen Christen und Muslimen einsetzt, und seine Schwester Naomi Garba können die Tage nicht vergessen. Die Geschwister suchten Zuflucht auf dem Gelände einer Kirche. Zwei Wochen mussten
sie dort gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern ausharren. Sie lebten
in der Kirche, im Haus des Pastors, schliefen auf dünnen Matten und kochten zusammen. Naomi wird diese Gerüche nicht vergessen können, die sich
nach und nach ausbreiteten. „Manchmal haben wir gekocht, aber ich konnte
nicht essen. Nachts konnte ich vor lauter Angst nicht schlafen“, erinnert sich
die schlanke Frau. Dann erlebte sie mit als Soldaten kamen. Sie sollten für
Ordnung sorgen, doch ihre Anwesenheit versetzte die Flüchtlinge in Angst
und Schrecken. „Sie zielten auf Samson und wollten ihn töten“, sagt Naomi
noch acht Jahre später mit schriller Stimme. Doch dann erschossen sie einen
anderen jungen Mann, nicht ihren Bruder.
In dieser Zeit waren viele Kirchen und Moscheen von Flüchtlingen besetzt. So suchten auch in der Sultan Bello Mosque, der größten in Kaduna,
unzählige Menschen Zuflucht und Schutz. Im Laufe der Tage wurden auch
die Lebensmittel knapp. „Wir haben eine kleine Dose mit Milch geteilt“,
erinnert sich die 31-jährige Umma Kaltume Baba und auch daran, dass im
Haus ihrer Eltern Mehl war. Es gab frisches Brot für die eigene Familie. Ihre
Mutter versuchte, auch andere Verwandte und Freunde damit zu versorgen.
Bei jenen, die in der Nähe wohnten, klappte es. Doch das Risiko, durch die
ganze Stadt zu fahren, war zu groß. So verbrachten sie die Tage in der Sorge, ob wohl geliebte Menschen noch am Leben waren.
Die Schätzungen, wie viele Menschen in jenen Tagen gestorben sind, sind
unterschiedlich. Viele sprechen von 300 bis 400 Menschen. Shehu Sani zitiert in seinem gerade erst erschienenen Buch „The Killing Fields – Religious Violence in Northern Nigeria“ einen Polizeireport, der von 700 Toten
ausgeht. Mehrere hundert Menschen wurden zudem verletzt. Gezählt haben
die Beamten auch 55 Moscheen sowie 123 Kirchen, die die Randalier dem
Erdboden gleichgemacht haben.
Doch die Narben, die die riots hinterlassen haben, sitzen noch viel tiefer.
Denn die Ausschreitungen haben Kaduna geteilt. Der Fluss, der den gleichen Namen trägt, ist zur natürlichen Grenze geworden. Der Süden ist heute
fast ausschließlich christlich, im Norden leben vorwiegend Muslime. Nach
dem Konflikt haben viele ihre Häuser verlassen, um sich auf „ihrer“ Seite
etwas Neues aufzubauen. Die Angst, dass er sich wiederholt, war für viele
zu groß. Das eine oder andere verlassene und zerfallene Gebäude erinnert
heute noch daran, wenn man aufmerksam durch die Stadt geht.
Die Ausschreitungen parallel zur Einführung der Scharia waren längst
nicht die ersten in Nordnigeria. Schon Ende des Jahres 1978 gab es bei-
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Katrin Gänsler
Nigeria
spielsweise an der Ahmadu Bello University in Zaira eine Kontroverse unter
christlichen und muslimischen Studenten. Mitglieder der Muslim Students
Society (MSS) fühlten sich provoziert, weil Christen in ihrer Anwesenheit
Palmwein – ein in weiten Teilen Nigerias verbreitetes, traditionelles Getränk – tranken. Beide Seiten organisierten Demonstrationen, nutzten Slogans wie „I found it (Jesus Salvation)“ oder „Islam only“ und zerstörten
mehrere Universitätsgebäude.
Diese Spannung setzte sich im nächsten Jahrzehnt fort. Noch waren es
keine Ausschreitungen, die im Ausland wahrgenommen wurden. Doch in
Kaduna State wuchs das Misstrauen. Besonders angeheizt wurde sie durch
Prediger. Darunter war Rev. Bello Abubakar Bako, der vom Islam zum
Christentum konvertiert war und im März 1987 das College of Education in
Kafanchan, einer rund 300 Kilometer von Kaduna entfernten Stadt, besuchte. Eingeladen hatte die Studentengruppe Fellowship of Christian Students
(FCS), die ihn mit dem Banner „Jesus Campus“ begrüßten. Die muslimischen
Studenten rissen es hinunter, bezichtigten Bako der Gotteslästerung und der
bewusst falschen Interpretation des Korans. Innerhalb weniger Stunden eskalierte die Situation und breitete sich auf die ganze Stadt aus. Drei Moscheen und zwischen 40 und 47 Kirchen wurden in der vorwiegend christlichen
Stadt zerstört. Dazu kamen 19 Fahrzeuge und 30 Hotels. Insgesamt starben 25 Menschen, weitere 61 wurden verletzt. Auch in den Folgejahren brachen immer wieder Auseinandersetzungen aus, die oft auf einzelne Orte beschränkt blieben. Für Rev. Matthew Hassan Kukah, ein Geistlicher und hoch
angesehener Analyst und Autor, bedeutet die Kafanchan-Krise eine Zäsur.
Sie habe eine neue Dimension von physischer Gewalt dargestellt.
„Dieser crusade war der Auslöser. Dabei ist die muslimische Gemeinschaft in Nigeria eine friedliche“, sagt etwa Alhaji Muhammad Ali, der Mitglied eben dieser Gemeinschaft ist und für sie die Entwicklungen im Februar 2000 aufgezeichnet hat, über die Auseinandersetzung. Später nahm
die Polizei die Untersuchungen auf, verhaftete laut Muhammad vorwiegend
Muslime und verurteilte sie. „Sie haben den Konflikt nicht verursacht“, kritisiert er die Vorgehensweise. Ein Jahr später wurden die Inhaftierten allerdings begnadigt. Für das National Islamic Council, so Muhammad, sei das
eine politische Entscheidung gewesen, eine Bestrafung der Muslime.
Damit spricht Muhammad die vielen Erklärungsversuche der tatsächlichen Ursachen an. Längst ist klar, dass die Religion selbst immer häufiger
in den Hintergrund tritt und sie stattdessen bestenfalls als Deckmantel genutzt wird. Alhaji Abu Salihu von der größten Moschee Kadunas, der Sultan
Bello Mosque, gibt ethnische Gründe an, die für das Misstrauen, aber auch
die blutigen Konflikte verantwortlich waren. „Das ist nicht Religion“, sagt
er. Diese These teilen heute viele und nutzen den Begriff „ethno-religious
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Nigeria
Katrin Gänsler
conflicts“ – ethnisch-religiöse Konflikte. Denn zumindest in einigen Teilen
des Landes sind bestimmte Ethnien entweder mit dem Islam oder mit dem
Christentum verbunden. Auch die wirtschaftliche Situation vieler, vor allem
junger Menschen wird zumindest teilweise als Ursache gesehen. Sie haben
keine Arbeit, kein Geld, lassen sich leicht anstacheln, aufwiegeln und kaufen. Gleiches gelte, so hat es Alhaji Muhammad Sa’ad Abubakar III., der
Sultan von Sokoto, betont, für die Frage nach der Bildung. Er nennt mangelndes Wissen als Grund für die Ausschreitungen, denn beide Religionen
würden den Frieden, nicht aber Gewalt predigen.
Noch stärker sei aber die Verbindung von Religion und Politik. „Wir haben so viele Politiker beobachtet, die ihre Wahlen verloren haben. Sie wollen weder Frieden noch Stabilität dort sehen, wo ihre Gegner an der Macht
sind. Stattdessen nutzen sie die Religion, um politische Konflikte auflodern
zu lassen.“
„Religion remains the most sensitive security issue in Nigeria today“,
schreibt auch Shehu Sani. Er zitiert Dr. Bala Mohammed vom Department
of Mass Communication an der University of Lagos. “Religion became an
instrument for political campaigns.” Die Beispiele seien vielfältig, so würde bei Wahlen sehr darauf geachtet werden, welcher Glaubensrichtung der
Spitzenkandidat anhängt. Wie eng die Zusammenhänge sind, hat auch Kukah in seinem 1993 erschienenen Buch „Religion, Politics and Power in
Northern Nigeria“ beschrieben. „Religion“, so schreibt Kukah, „war und ist
die stärkste Waffe.“
Doch wie wichtig ist die Ursachenforschung, wenn es um persönliche
Schicksale geht? Sakaria Palm sitzt in den Räumen des Interfaith Mediation
Centre. Ihm fehlt eine Hand, eine große Narbe zieht sich über seinen Hinterkopf. Eigentlich kommt er aus Plateau State, lebt aber seit vielen Jahren in
Kaduna. Sakaria hat Wirtschaftswissenschaften studiert und absolvierte seinen Youth Service. Danach fand er eine Arbeit, genau für drei Monate, bis
in Nigeria die neue Miss World gekürt werden sollte. Die Wahl zur schönsten Frau der Welt stürzte den Norden abermals in eine tiefe Krise, als zornige Muslime aufs Schärfste gegen den Wettbewerb protestierten und darin
eine unvorstellbare Beleidigung des Propheten sahen. „Es war am 21. November 2002“, erinnert sich Sakaria. Damals wurden drei seiner Brüder und
ein Freund ermordet. Es war eine gespenstische Stille, als er abends nach
der Arbeit nach Hause kam, keine Kinder aus der Nachbarschaft, die ihn
begrüßten. Er traf eine Frau, die ihm sagte, das Land sei in großer Gefahr.
Er wollte umdrehen, sich verstecken, als er eine Gruppe von 100 Menschen
sah. Sie skandierten „Allahu Akbar“, hatten die Gegend, in der auch das Police College liegt, längst abgeriegelt. „Ich habe sie angefleht, mich laufen zu
lassen, hatte 22.000 Naira bei mir, wollte ihnen das Geld geben“, erinnert
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Katrin Gänsler
Nigeria
sich Sakaria. Doch sie banden ein Seil um seinen Hals, brachten ihn auf einen kleinen Hof, wo er sich zu anderen gefangenen Christen auf den Boden
legen musste. „Ich sprach mein letztes Gebet, das war es.“ Seine Peiniger
riefen: „Bringt sie um.“ Die Männer hatten Macheten und wollten zuhauen.
Doch Sakaria versuchte, seinen Kopf zu schützen, indem er mit seinen Händen den Hinterkopf umschlang. Dabei verlor er seine Finger. Er überlebte,
weil Soldaten kamen und seine Peiniger flüchteten.
Heute ist Sakaria arbeitslos, hat kaum das Geld, um seine Medikamente
zu bezahlen. Auch für den Bus nach Zaria, wo er im Universitätskrankenhaus behandelt wird, reicht es nicht aus, er muss trampen. Betrogen und im
Stich gelassen fühlt sich Sakaria vom Staat. „Die Regierung kümmert sich
kein Stück. Die Rechnung für das Krankenhaus musste ich selbst bezahlen.
Es interessiert sie nicht.“ In Nichtregierungsorganisationen (NRO/NGO)
hat er ebenfalls keine Hoffnung mehr. Auch sie würden ihn nicht finanziell
unterstützen können.
Sakaria spricht wenig über seine Gefühle gegenüber Muslimen. „Natürlich treffe ich sie, habe Kontakte. Ich danke ganz einfach Gott, dass er mein
Leben gerettet hat.“ Manchmal seien ihm Muslime sogar lieber. Sie würden nicht tratschen wie viele Christen, die er kennt. Auf der Straße begegnet der Mann noch immer jenen Männern, die seine Brüder ermordet haben.
„Doch was soll ich machen? Gott wird über sie richten“, lautet seine leise
Hoffnung.
9. Der Versuch des Dialogs
Es gibt wohl keinen besseren Ort als Kaduna für den Versuch eines Dialogs zwischen Christen und Muslimen. Er entstand nicht erst nach den tödlichen Ausschreitungen in den Jahren 2000 und 2002, sondern bereits 1995
auf kleiner Ebene und ohne eine besondere Aufmerksamkeit. Damals lernten sich während einer Konferenz für Nichtregierungsorganisationen Pastor
James Wuye und Imam Ashafa kennen. Ein schwieriges Umfeld für Pastor
James, schließlich fand das Treffen in einem Regierungsgebäude statt. „Dort
konnte ich nicht kämpfen“, beschreibt er seine Gefühle, denn der Mann, der
heute auf Dialog zwischen beiden Religionsgruppen setzt, hasste Muslime,
bekämpfte sie und verlor dabei seinen rechten Arm. „Mein Hass kannte keine Grenzen. Bei der kleinsten Provokation haben Muslime uns angegriffen.“ Gerne hätte er den Imam an einer anderen Stelle getroffen, ohne Sicherheitskräfte, an einem Ort, an dem er ihn hätte angreifen können. Doch
dann kam die denkwürdige Teepause, in der Idris Musa, ein gemeinsamer
Bekannter und Mitorganisator, beide an die Hände nahm. „Für mich war es
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Nigeria
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so, als ob ich mit dem Teufel Händchen halten musste“, erinnert sich Pastor
James. Dennoch redeten sie miteinander. Dabei war der Pastor skeptisch,
hatte das Gefühl, dass Muslime sich nicht an Abmachungen halten. „Doch
Imam Ashafa kam immer wieder zu mir.“ Das erste Eis war gebrochen, danach begannen sie, gemeinsam an Seminaren zur Konfliktbewältigung teilzunehmen, zuerst in Kaduna, dann in Lagos und den Vereinigten Staaten.
Alleine waren sie während der Anfangsphase nicht, vielmehr war es ein Gemeinschaftsprojekt. So unterstützten auf muslimischer Seite Abdullahi Mohammed Sufi und auf christlicher Seite Joshua Kurmi Pyeng den Versuch
des Dialogs. Beide gehören nach wie vor zu den Aktivisten. Aus diesen Anfängen entstand das Interfaith Mediation Centre, das mittlerweile internationale Beachtung findet.
Doch danach sieht es auf den ersten Blick gar nicht aus. Die Sonne brennt,
und ich stehe vor dem NNIL-Hochhaus am Ahmadu Bello Way. „Wir müssen in den vierten Stock“, sagt mir Samson Auta, einer der Mitarbeiter, der
mich schon am Abend zuvor vom Flughafen abgeholt hat. Der Pförtner
grüßt, schaut etwas verwundert. Samson zeigt mir, wie ich den Fahrstuhl benutzen muss. Denn die Knöpfe funktionieren schon lange nicht mehr, weshalb er an die Tür klopft. Nach langer Zeit öffnet sich diese. Der Fahrstuhl
ist nicht etwa leer, stattdessen sitzt dort ein Mann auf einem kleinen Hocker,
über ihm ein Ventilator. Er grüßt auf Haussa, hält in der rechten Hand eine
zerfledderte Ausgabe des Korans und bedient mit der linken Hand die Knöpfe. Samson muss nicht sagen, wohin wir wollen. Schließlich kann er die Gesichter, die Tag für Tag ein und aus gehen, zuordnen. Als wir oben ankommen, frage ich, weshalb jemand den Fahrstuhl bedienen muss. Für Samson
liegt die Antwort auf der Hand: „Wir haben so häufig Stromausfall.“ Die Erklärung leuchtet mir im Verlauf der Wochen immer mehr ein.
Das Büro besteht aus einem kleinen Versammlungsraum, in dem sich weiße Plastikstühle stapeln, wie es sie an jeder Straßenecke und in jeder Kneipe des Landes gibt. In zwei weiteren Räumen stehen zusammengewürfelt
ein paar Schreibtische, Stühle, zwei Sofas und drei Sessel. Nur Pastor James
und Imam Ashafa haben eigene Zimmer. Doch mittlerweile sind sie meist
unterwegs, jetzt steht eine Reise nach Kanada und in die Vereinigten Staaten
auf ihrem Programm. Danach geht es nach Südafrika, nach Deutschland und
wieder nach Kanada. Der steigende Bekanntheitsgrad in der ganzen westlichen Welt verschafft der NRO nicht nur Ansehen und Auszeichnungen, sondern auch Spenden. Daher ist sie gerade dabei, ein eigenes Haus zu bauen,
um dort Treffen und Seminare organisieren zu können. Doch das Büro am
Ahmadu Bello Way ist zum Zentrum für Debatten und Diskussionen geworden. Vermutlich kommen fast alle, die in Kaduna hinter dem Dialog stehen,
immer wieder hierher.
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Nigeria
Auch Joseph Akimyala verwickelt mich am ersten Tag in ein Gespräch, in
ein ungewöhnliches, denn er begrüßt mich auf Deutsch: „Wie geht es Dir?
Geht es Dir gut?“, fragt er. Joseph reist regelmäßig nach Deutschland und
hat in Berlin seine eigene Kirche gegründet. Alles sei Zufall gewesen. Er
war in Kaduna Pastor, suchte etwas Neues, zuerst in den Vereinigten Staaten und danach in Berlin, wo er den Kirchentag besuchte. Es sei Gottes Wille gewesen, erzählt er mir, als wir ins Englische gewechselt haben. Er hatte
kein Geld, um ins Ausland zu gehen, bis ihm jemand die finanzielle Unterstützung zusicherte, ein Wink des Allmächtigen. Heute hat er sich zum Ziel
gesetzt, Deutschland und vor allem jungen Menschen dort den Glauben wieder nahe zu bringen. Sein wichtigstes Mittel ist die Musik. „Ich habe auch
Lieder geschrieben“, erzählt er und gibt mir eine seiner CDs. Es sind Gospels, darunter sogar ein deutscher Liedtext, den er mit einiger Unterstützung
selbst verfasst hat.
Dabei will ein Erlebnis nicht aus seinem Kopf. Er war in Berlin, traf dort
nach einem Gottesdienst eine Gruppe Jugendlicher. Die Verständigung war
nicht einfach, da viele der Teilnehmer nur wenig Englisch sprachen. Doch
dann sang er für sie. „Es war plötzlich ganz still in dem Raum“, erinnert er
sich. Seine Zuhörer seien ergriffen gewesen, einige hätten still vor sich hingeweint. Und Joseph wusste, dass es seine Mission ist, den Glauben zurück
nach Europa zu bringen.
Eins wundert ihn allerdings: die große Skepsis, wenn nicht sogar Abneigung
gegenüber Pfingstkirchen und Evangelisten wie Reinhard Bonnke. Bonnke,
der in Deutschland wenig bekannt ist, genießt in vielen afrikanischen Ländern, darunter auch Nigeria, hohes Ansehen. Der charismatische Deutsche
kommt gleich mehrmals im Jahr nach Nigeria und predigt vor Zehntausenden. Seine crusades blieben nie ohne Schwierigkeiten, etwa als er im Oktober 1991 in Kano predigten wollte. Die muslimische Gemeinschaft wertete das als große Beleidigung, vor allem, weil kurz zuvor dem muslimischen
Prediger Dr. Ahmed Deedat aus Südafrika der Besuch in Nigeria verweigert
worden war. Demonstrationen auf beiden Seiten waren die Folge, bis muslimische Demonstranten zum Palast des Emirs zogen und von ihm ein PredigtVerbot für Bonnke verlangten. Doch der Emir lehnte dies ab, woraufhin viele
wütend durch die Straßen marschierten und die Situation eskalierte.
Joseph versteht nicht, weshalb Bonnke so unbekannt und ungeliebt in seiner eigenen Heimat ist, wenn er doch im Ausland gefeiert wird. Die Frage
macht mich nachdenklich. Ich versuche es mit der Erklärung, dass Religion
und Glaube in Deutschland eine Privatangelegenheit sind und allerhöchstens
bei Taufen oder Hochzeiten zum Thema werden und nach der Frage „standesamtlich oder auch kirchlich?“ enden. Vielleicht ist es die Angst, dass ein
Prediger zu mächtig und zu charismatisch ist, eine Angst, die aus der deut-
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Nigeria
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schen Geschichte heraus entstanden ist. „Und was ist mit dem Papst?“, fragt
Joseph und lässt mich nachdenklich im Büro zurück.
Einer der wenigen festangestellten Mitarbeiter ist Samson. Er kannte
Pastor James, und so entstand die Mitarbeit. Samson macht Termine, plant
Workshops, pflegt den Kontakt zu den Mitarbeitern und organisiert die Reisen für Pastor James und Imam Ashafa. Wenn Samson über seine Arbeit
und die Aufgaben der Einrichtung spricht, dann fallen gar nicht an erster
Stelle die Wörter Religion und Dialog. Vielmehr geht es um friedensschaffende Maßnahmen, die ganz praktisch umgesetzt werden, etwa ein Ausbildungsprogramm für Jugendliche. Sie sollen einen Beruf erlernen, um später
eigenes Geld zu verdienen. Immer häufiger gehen die Mitarbeiter auch in
Schulklassen, sprechen mit jungen Menschen über die riots und den Faktor
Religion. Doch es soll spielerisch und nicht mit dem erhobenen Zeigefinger passieren. So gehören Fußballspiele mit zum Programm und ganz ungezwungene Gespräche. Derzeit gründet sich auch eine Frauengruppe, deren
Mitglieder sich vor allem wirtschaftlich unterstützen wollen.
Samson arbeitet außerdem mit Rhoda H. Gaiya zusammen, die ebenfalls
eine NRO leitet und Frauen vermittelt, wie man effektiver Obst und Gemüse anbaut. Sie sollen ihre eigenen Ressourcen nutzen, um unabhängiger vom
Geld zu werden. Samson hofft, dass durch die Arbeit Religion irgendwann in
Vergessenheit gerät. Es ist ein Markt-Konzept. „Du gehst auf den Markt und
denkst nicht darüber nach, ob Du jetzt bei einem Christen oder einem Moslem einkaufst. Oder Du gehst in ein Restaurant, weil Du hungrig bist. Und es
ist völlig egal, welche Religion der Betreiber hat. Es geht nur darum, satt zu
werden.“ Samson wird von seinen Kollegen, aber auch von den Besuchern
im Zentrum geschätzt und geachtet. Er ist ruhig und besonnen, diskutiert,
vertritt seine Meinung, ohne sie einem anderen aufzuzwingen. Er hat keine
dogmatischen Ansichten und geht stattdessen Probleme pragmatisch an.
Er organisiert auch den dreitägigen Workshop kurz vor Ostern, der den
Titel “Senior Stakeholder Capacity Building Workshop on Promoting Peace
and Acceptance” trägt. Jeder, der sich in Kaduna mit dem Thema Religion auseinandersetzt, ist zum Veranstaltungsort, dem Women Multi Purpose Building, das nur fünf Minuten vom Büro entfernt liegt, gekommen. Die
Stimmung in dem kleinen Konferenzraum ist hektisch und aufgeregt. Ziel
sei es, sagt Samson mir, dass die Teilnehmer Vertrauen zueinander aufbauen
und ohne Vorurteile miteinander arbeiten. Obwohl Kaduna acht Jahre nach
dem schlimmsten Konflikt einen friedlichen Eindruck macht, sind das Misstrauen und mitunter sogar der innere Hass weiterhin in der Welt.
Hass ist es zwar nicht, über den die Teilnehmer am ersten Tag sprechen.
Aber Misstrauen, Unverständnis und wenig Akzeptanz beherrschen trotz
des Bemühens um ein friedliches Miteinander nach wie vor die Stimmung.
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Ich habe mich am ersten Tag verspätet. Überrascht bin ich, als ich die
Sitzordnung sehe. Auf der rechten Seite sitzen die Moslems, auf der linken
die Christen, obwohl sich viele Teilnehmer schon lange kennen und miteinander arbeiten. Die Vorträge laufen, und alle Referenten – egal ob Christen
oder Muslime – betonen, wie wichtig das Schaffen von Frieden zwischen
den Religionen ist. „Sie sollen verstehen lernen, wie sie eine Kultur des
Friedens schaffen können“, erklärt mir Abdullahi Mohammed Sufi, der im
Interfaith Mediation Centre Programmleiter auf der islamischen Seite ist.
Doch bei theoretischen Ausführungen bleibt es nicht. Ebenso wichtig ist
die Arbeit mit den heiligen Büchern, dem Koran und der Bibel. Während in
Europa Bibeln häufig allenfalls im Bücherregal verstauben oder lediglich
zum Kommunion- oder Konfirmandenunterricht genutzt werden, haben sie
in Nigeria einen festen Platz im Alltag. Wenn Familien beten, wird aus der
Bibel gelesen. Alte, zerfledderte Exemplare werden zu jedem Gottesdienst
mitgenommen, damit nicht nur der Pastor vorliest, sondern jeder für sich
die Stellen mitverfolgen kann. Auch während des Workshops darf sie nicht
fehlen, was analog für den Koran gilt. „Wir lesen in der Bibel, was dort zur
Kultur des Friedens steht“, sagt Sufi. So finden sich die Teilnehmer immer
wieder in kleinen Gruppen zusammen, arbeiten mit ihren Büchern und suchen Stellen heraus, die von einem friedlichen Miteinander handeln. Anschließend schreiben sie Psalme und Verse auf große Blätter, um darüber zu
diskutieren.
Dass es mit der Kultur des Friedens auch weltweit nicht gut bestellt ist,
betont am Ende des Seminars Imam Ashafa in seinem 30-minütigen Vortrag. Der Imam, der einst ein muslimischer Aktivist war, bis er 1992 bei
Ausschreitungen seine Brüder und seinen Lehrer verlor, spricht über einen
Prediger in Uganda, der im Namen Gottes Kreuzzüge organisiert, um Menschen zu missionieren. „Er verwandelt Kinder in Soldaten. Doch welcher
christliche Gott soll das sein, der das zulässt?“, lautet seine rhetorische Frage. Kritik gibt es auch für die Vereinigten Staaten, Großbritannien, China
und Korea. „Sie machen aus Menschen Roboter. Sie werden in Flugzeuge gesetzt und müssen kämpfen, und die Kultur der Gewalt wird gestärkt.“
Große Bedenken hat er auch bei der Erziehung von Kindern. Früher hätten
diese draußen gespielt, etwa mit Tieren. Heute würden sie mit Waffen spielen. „Die Kultur der Gewalt und des Krieges siegt schnell über jene des Friedens“, mahnt Ashafa.
Auf die Frage, wie er die Zukunft sieht, antwortet der Imam, dass sich
die Menschen wieder auf wenige, wichtige Werte zurückbesinnen müssen.
„Menschen sind keine isolierten Inseln, wir leben alle miteinander.“ Trotz
des Miteinanders betont der Gründer des Interfaith Mediation Centre die
Verschiedenartigkeit. „Wir sind kein Schmelztiegel. Wir sind vielmehr eine
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Nigeria
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Salatschüssel. Wir sind alle verschieden, wir sind alle einzigartig, aber zusammen geben wir eine gute Mahlzeit ab.“
10. Persönliche Ansichten III:
Hajiya: Ich habe niemals an meiner Religion gezweifelt.
Die fünf Gebete sind für Hajiya Hafsat Mohammed Baba selbstverständlich. Im großen, gästefreundlichen Haus kann es noch so voll sein. Wenn es
Zeit für das Abendgebet ist, zieht die Mutter von fünf Kindern ihren Hijab
über, verdeckt ihr Haar ganz und gar, stellt den Fernseher leise und wird eins
mit sich und ihrem Glauben. „Ich habe niemals an meiner Religion gezweifelt“, sagt die Frau, die die Nichtregierungsorganisation „Global Initiative
for Women and Children“ ins Leben gerufen hat und mit der sie vor allem
die Situation muslimischer Frauen verbessern möchte. Erst vor ein paar Monaten hat sie zudem eine Männerdomäne entdeckt: die Politik. Auf die Frage, welcher Partei sie angehört, sagt Hajiya wie aus der Pistole geschossen:
„Der Opposition.“ Sie hat sich hochgekämpft und ist heute Vorsitzende der
All Nigeria People’s’ Party (ANPP) in Kaduna State. So etwas hat es noch
nicht gegeben. Es ist eine Revolution, besonders für eine muslimische Frau,
deren Mann immer wieder angerufen und gefragt wurde, weshalb er ihr das
politische Engagement nicht verbiete.
„Natürlich kannst Du nicht immer glücklich sein, aber gleichzeitig auch
nicht immer traurig. Es gibt Höhen und Tiefen. Aber es hilft mir jedes Mal,
wenn ich meine Gebete sprechen kann“, sagt Hajiya und gießt heißes Wasser aus der großen Thermoskanne ein. Dann drückt sie den Teebeutel aus
und löffelt Zucker in die weiße Tasse. Glück und Unglück sind für die energische Frau ausgerechnet mit ihrem Glauben verbunden. Damals, als ihr
Mann und sie das Gröbste geschafft hatten. Das Haus war gebaut und eingerichtet, beide hatten gute Stellen, und Hajiya war zum fünften Mal schwanger. Damals hätten Freunde und Familie ihren Mann gedrängt, eine zweite
Frau zu nehmen, wohl um seinen Wohlstand zu zeigen. „Zuerst hat er es abgestritten“, erinnert sie sich. Doch dann gab er zu, zum zweiten Mal geheiratet zu haben. „Es war für mich so, als ob ich mein Kind verloren hätte.“ Obwohl es in Nordnigeria so selbstverständlich ist, obwohl ihre beste Freundin
die zweite Frau ist, ihr Bruder zweimal geheiratet hat. Die Wunden und die
Verletzung sitzen tief, auch noch nach 17 Jahren.
Die Ehe hielt nicht lange, wurde bald wieder geschieden. Doch es war nicht
der einzige Versuch der Polygamie. Heute ist ihr Mann außerdem mit einer
Juristin verheiratet, die in Abuja, der neuen, künstlichen Hauptstadt, lebt. Sie
haben ein gemeinsames Kind. „Hier hätte ich sie nicht sehen wollen“, sagt
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Hajiya. Denn das Haus und den Wohlstand habe sie gemeinsam mit ihrem
Mann aufgebaut. Das hätte sie nie mit einer anderen Frau teilen wollen.
Dass die Heirat von bis zu vier Frauen nach islamischem Recht legal ist,
kritisiert Hajiya nicht, auch wenn es ihr weh tut. „Doch welche Frau möchte
schon gerne teilen?“, fragt sie und spricht damit etwas aus, das wohl viele,
wenn nicht gar fast alle Frauen sofort unterschreiben würden – ganz gleich,
welchem Glauben sie angehören. Hajiya kritisiert stattdessen, dass die Männer den entscheidenden Zusatz vergessen, wenn es um Polygamie geht. Ein
Mann kann vier Frauen heiraten, wenn er sie gleich behandelt. „Aber wer
kann schon vier Menschen gleich behandeln? Niemand kann das“, beantwortet Hajiya ihre rhetorische Frage selbst.
Trotzdem hält sie am Islam fest, zu dessen Praktizierung etwa das Geben von Almosen und die Hajj, die Pilgerfahrt nach Mekka, gehört, die jeder Erwachsene zumindest einmal im Leben auf sich nehmen sollte – wenn
er über ausreichend Geld verfügt. In Nigeria scheint es heute immer mehr
Muslime zu geben, die sich diese Fahrt leisten können. So berichtete die in
Lagos erscheinende Tageszeitung This Day Ende Januar, dass sich das westafrikanische Land mittlerweile auf Platz drei der Mekka-Reisenden hochgearbeitet hat und nur noch hinter Malaysia und Saudi-Arabien liegt. Mekka
als Reiseziel haben auch die Fluggesellschaften entdeckt, denn gleich fünf
bieten Direktflüge an. Hajiya selbst war zweimal dort. „Es war sehr beeindruckend, Muslime aus der ganzen Welt zu sehen. Alle sind sie gekommen,
um für die gleiche Sache zu beten. Es war kein Unterschied, ob sie arm oder
reich sind.“
Während einer Pilgerfahrt haben ihre Kinder Umma und Ahmed sie begleitet. „Gleich von Anfang an sollten Kinder mit der Religion vertraut werden, wenn sie zwei oder zweieinhalb Jahre alt sind“, findet Hajiya. Doch die
alleinige Weitergabe des Glaubens ist nicht alles. „Für mich ist eine Ausbildung das wichtigste, das man einem Kind mit auf den Weg geben kann.“ Für
Hajiya, die den Teebeutel noch einmal für die zweite Tasse Tee nutzt, war es
selbstverständlich, auch ihren drei Töchtern ein Studium zu ermöglichen.
Doch nicht nur das: Umma, die älteste, könnte promovieren. „Ich möchte
sie dazu ermutigen“, erklärt Hajiya.
Sie selbst hatte nicht die Möglichkeit, eine Universität zu besuchen, und
das, obwohl die bekannte Ahmado Bello University in Zaria nur 60 Kilometer von Kaduna entfernt liegt. „Stattdessen habe ich die polytechnische
Schule in Kaduna besucht. Und meine Mutter wusste, dass ich jeden Abend
nach Hause komme.“
Doch die Zeiten hätten sich geändert. „Meine Kinder gehen aus, besuchen
Freunde. Und ihre Freunde kommen zu uns. Wir haben ein offenes Haus“,
sagt sie und wirkt ein wenig stolz. Aber darin ist keine Überheblichkeit, kei-
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ne Arroganz, sondern vielmehr die Freude darüber, dass sie eine liberale,
muslimische Familie sind. Es ist ein Spagat zwischen Tradition und Moderne, zwischen Religion und der manchmal so gottlos wirkenden westlichen
Welt, den sie mit ihrer Familie geschafft hat.
11. Und wenn es wieder brodelt
In Kaduna herrscht Optimismus. Niemand meiner Gesprächspartner
kann sich vorstellen, dass es je wieder zu so schrecklichen Ausschreitungen
kommt, wie es sie im Februar 2000 und im November 2002 gegeben hat.
Kaduna State hat seine Lektion gelernt. „Der Frieden ist wieder da in Kaduna State“, sagt Imam Muhammad Sani Isah, der als Koordinator im Interfaith Mediation Centre mitarbeitet.
Dennoch ist es ein fragiler Friede, der durch kleine und auf den ersten
Blick unscheinbare Ereignisse ganz schnell ins Wanken gebracht werden
kann. Und manchmal kippt er um. „Es gibt einen latenten Konflikt zwischen
muslimischen und christlichen Gelehrten“, erzählt der Imam weiter. Der
Auslöser für den jüngsten Vorfall sei ein Interview am letzten Februartag
gewesen. Darin hätte in Kaduna ein Geistlicher der Christian Association of
Nigeria die Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen kritisiert. Sie
würde scheinheilig sein, denn in Kano hätten Muslime eine Kirche niedergerissen, was zum Protest von jungen Christen führte. Nach diesem Vorfall,
der erst wenige Tage zurückliegt, könnte es kein Vertrauen mehr geben.
„Einige muslimische Gelehrte haben es mit Schmerzen gehört. Es war
eine Beleidigung“, findet Imam Sani, als wir im Büro in Kaduna sitzen und
über die momentane Situation zwischen den Religionen sprechen. Der Imam
kritisiert vor allem die fehlende Differenzierung. Man hätte betonen müssen, dass es sich um Kano handelt, nicht aber um Kaduna oder gar um ganz
Nigeria. Und selbst dann sei es eine Verdrehung der Tatsachen gewesen. „Es
ist etwas zwischen der Regierung in Kano und den Katholiken vor Ort. Eine
ihrer Kirchen ist niedergerissen worden.“ Was die Christen außerdem verschwiegen hätten, sei die Tatsache gewesen, dass auch eine Moschee, die in
der Nachbarschaft stand, abgerissen wurde, denn auf dem menschenleeren
Gelände soll ein Krankenhaus entstehen.
Der Imam hat mich neugierig gemacht. Ich will nach Kano reisen, um mir
zumindest den Platz mit der zerstörten Kirche anzusehen. Drei Tage lang
kämpfe ich gegen die häufig geäußerte Meinung an, dass die Reise zu gefährlich sei. Ich würde in ein Wespennest stechen. Doch Imam Sani hat Verständnis und telefoniert mit Muhammad Mustapha Yahaya, der in Kano der
Leiter der Democratic Action Group ist, die viel mit dem Interfaith Mediati-
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Katrin Gänsler
Nigeria
on Centre zusammenarbeitet. Ich habe genau 48 Stunden, um mir selbst ein
Bild von Kano zu machen.
Kano fühlt sich ganz anders als das so vertraut gewordene Kaduna an.
Als ich aus dem Sammeltaxi steige, umhüllt mich eine trockene Hitze, die
an die Wüste erinnert. Die Stadt selbst hat Tradition und gilt als älteste in
ganz Westafrika. Erstmals schriftlich erwähnt wurde sie im Jahre 999, doch
vermutlich war sie damals bereits einige hundert Jahre alt. Später wurde sie
wichtiger Handelsstützpunkt. Die alten Mauern mit den 15 Eingangstoren
verleihen Kano einen ganz eigenen Charme. Unterstützt wird dieser von der
Central Mosque, zu der freitags bis zu 50.000 Gläubige kommen. Sie liegt
gleich neben dem riesigen Palast des Emirs, wo einmal im Jahr Durbar gefeiert wird. Mit dem großen Festival werden das Ende des Fastenmonats Ramadan, das Eid-el-Kabir, sowie das muslimische Opferfest Eid-el-Fidir gemeinsam zelebriert. Das Datum schwankt von Jahr zu Jahr, da es sich nach
dem muslimischen Kalender richtet. Doch an diesem Samstagmittag erinnert weniges an die farbenfrohe Veranstaltung mit Spielleuten, gutem Essen
und Pferderennen. Stattdessen ist eine gewisse Trägheit spürbar, eine Ruhe
und ein Stillstand.
Dieser Stillstand ist, so fühlt es sich für mich an, auch mit der fortschreitenden Islamisierung verbunden. Denn anders als in Kaduna setzt die Regierung das islamische Recht konsequent um. Das zeigen die vielen Moscheen,
die vielen Frauen im Hijab und jene kleinen grünen Schilder, die an jeder
Straßenecke stehen und Aufschriften wie „Allah ist der Größte“ und „Ehre
sei Allah“ tragen. Aufgestellt werden sie von der Hisbah, einer Art Polizei,
die dafür verantwortlich ist, dass die islamischen Gesetze umgesetzt und
eingehalten werden. Ein Schwerpunkt ist der Kampf gegen den Alkoholkonsum auf offener Straße und gegen die Prostitution.
Doch dabei bleibt es nicht: Vor ein paar Jahren geriet die Stadt in die
Schlagzeilen, als sie Frauen das Fahren auf Okadas verbieten wollte. Eine
richtige Maßnahme, wie Halima Shitu, die bei der Hisbah angestellt ist, findet. „Es ist nicht gut. Eine Frau, die auf einem Motorroller hinter einem
fremden Mann sitzt, der nicht ihr Ehemann oder ihr Bruder ist, jemand, den
sie nicht kennt. In unserer Religion, dem Islam, ist das etwas Verbotenes“,
verteidigt sie den Vorschlag, der sich allerdings bis heute nicht ganz hat umsetzen lassen. Darüber hinaus würde es genügend andere Verkehrsmittel für
Frauen geben. Schließlich hat die Diskussion dazu geführt, dass vor allem
aus Indien dreirädrige Motorrikschas eingeführt wurden – für Umwelt-Aktivisten eine Katastrophe.
Inmitten des alten, muslimischen Kano wäre eine Kirche undenkbar. Daher müssen wir ein Stück in einen der Außenbezirke fahren, um jenen Platz
zu besuchen, der der Auslöser für meinen Besuch war. Meine Begleiter war-
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Nigeria
Katrin Gänsler
nen mich, schließlich sei nichts mehr zu sehen. Außerhalb des wuseligen
Zentrums wird es ruhiger. Die Straßen sind längst nicht so vollgestopft, die
Häuser sind neuer und ordentlicher, und die Gegend wirkt friedlich. Irgendwann halten wir vor einer Wellblechwand, in der sich unser alter Peugeot
spiegelt. Die Wand verdeckt jenes Fleckchen Land, auf dem das Gotteshaus
noch bis vor ein paar Wochen stand. Ich habe Glück und finde eine kleine
Lücke, die mir die Sicht auf den Platz der Auseinandersetzung freigibt. In
der Mitte der freien Fläche gibt es einen Sandhaufen, auf dem ein paar Steine liegen. Davor suchen drei Ziegen nach Essbarem. Und die Baufahrzeuge
im Hintergrund lassen den Platz wie eine ganz normale Baustelle aussehen.
An die Kirche indes erinnert nichts mehr.
Das zerstörte Gotteshaus ist der Grund, weshalb Rev. Murtala Mati Dangora, der Generalsekretär von CAN in Kano, ein Interview zunächst ablehnt.
CAN habe Sorge, dass es hoch kocht, dass zu viel Wirbel gemacht wird.
Nach einigen Anrufen können wir doch ins Ecwa Guest House fahren, wo
Rev. Dangora ist. Er hat das Wochenende über an einem Treffen mit Geistlichen teilgenommen, das gerade zu Ende gegangen ist. Ich soll vorsichtig
sein, keine konkreten Fragen stellen, weisen mich die Mitarbeiter der Democratic Action Group ein, es sei so „sensibel“. Doch Rev. Dangora streift den
Konflikt von sich aus. „Es gibt immer wieder kleine Krisen“, sagt er. Viele
würden mit dem Titel Religion versehen, obwohl es politische seien, wozu
seiner Meinung nach auch die der jüngsten Tage gehöre. „Aber wir betrachten sie nicht als große Probleme. Sie sind es nicht im Vergleich zu dem, was
vorher geschah, als viele Menschen umgebracht wurden.“
Eine Verbesserung sieht auch Pastor Stephen Olusina, den wir anschließend besuchen. Dafür müssen wir in den Stadtteil Sabon Gari fahren. Ein
Sabon Gari, was wörtlich übersetzt so viel wie neue Stadt heißt, gibt es in
jeder Stadt im Norden Nigerias. Früher zogen vor allem Fremde in die Gegend, häufig Christen. Sabon Gari in Kano ist eine kleine Stadt für sich. Hier
gibt es eine Kneipenmeile, an den Straßen stehen Billardtische, überall wird
Werbung für Star und Gulder, die beiden bekanntesten Biersorten im Land,
gemacht. Und die weißen Plastikstühle vor den vielen kleinen Kneipen warten auf Gäste. Sabon Gari ist das, was in Hamburg wohl die Reeperbahn mit
all ihren Angeboten, Verlockungen und Möglichkeiten ist.
Die Bible Foundation Gospel Church liegt jedoch nicht mitten in der Kneipenmeile, sondern in einer ruhigeren Seitenstraße, an der gleich drei weitere
Kirchen eine Heimat gefunden haben. Das Gebäude ist von außen unscheinbar, da es etwas abseits der Straße liegt. In dem Gebäude wartet Pastor Stephen auf uns. Als wir in seinem Büro sitzen, schickt er einen jungen Mann,
um Wasser zu holen. Der Pastor ist Yoruba, hat seine Heimat im Südwesten
des Landes aber 1991 verlassen. „Gott schickte mich dorthin, wo niemand
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Katrin Gänsler
Nigeria
meine Sprache spricht.“ Obwohl er heute die Situation als ruhig bezeichnet,
erinnert er sich an die Jahre davor, etwa an die Auseinandersetzungen im
Jahr 2004, als es während einer Demonstration gegen das Massaker in Jos
in Plateau State zu tödlichen Kämpfen kam. Auch die Angst, als die islamische Gesetzgebung eingeführt wurde, ist noch da. Denn damals wusste die
christliche Gemeinschaft nicht, was auf sie zukommt. Dennoch möchte Pastor Stephen in der Diaspora bleiben: „Ich liebe es hier zu arbeiten.“ Die einzige Einschränkung sei, dass sie keine Kirchen im alten Zentrum der Stadt
errichten dürfen. Doch damit habe er sich abgefunden.
Seine Kirche hat zwischen 450 und 500 Mitglieder. Großartige Zuwächse
sind nicht zu erwarten, da Muslime nur ganz selten zum Christentum übertreten würden. Eine Ausnahme macht Pastor Ibrahim, der mit mir am Sonntagmorgen den ersten Gottesdienst besucht. Er war ein Moslem, lernte Arabisch und besuchte die Koranschule, bevor er den Ruf von Christus hörte.
Er wollte Gott besser dienen, war besorgt, machte sich auf die Suche nach
der Wahrheit. Dann las er über das Leben von Jesus Christus. Pastor Ibrahim
war begeistert, schließlich brachte Christus niemanden um, sondern predigte den Frieden. Parallel dazu las er den Koran und die Lebensgeschichte des
Propheten Mohammed. „Gott hat mein Herz gesehen.“ Als Missionare in
seinen Heimatort kamen, besuchte er ihren crusade. Nachts wachte er auf
und wusste, dass er seine Religion gefunden hat.
Pastor Ibrahim versucht, gelassen zu wirken, als wir im kleinen Kirchenbüro sitzen. Wie viele andere Christen in der Stadt auch lobt er die gute und
friedliche Zusammenarbeit, die seit 2004 besser wird – auch wenn niedergerissene Kirchen oder unbedachte Aussprüche die Situation schnell wieder
eskalieren lassen. Ob sie dieses Gefühl auch im Alltag haben, wollen sie mir
allerdings nicht verraten.
12. Persönliche Ansichten IV: Yusuf: Beten für das Leben danach
Wer kein Auto hat und Yusuf Usman in Mando besuchen möchte, muss oft
umsteigen, denn Mando liegt weit im Norden Kadunas. Es geht vorbei am
zentralen Busbahnhof, von dem aus Busse alle Regionen Nigerias anfahren,
und vorbei an der Nigerian Air Base, bei der Yusuf bis zum Jahr 2000 gearbeitet hat. Dann irgendwann muss man links von der Hauptstraße abbiegen,
durch kleinere Straßen fahren, die in der Dämmerung zum Leben erwachen.
Dann öffnen sich Türen zu kleinen Supermärkten, zu Geschäften, in deren
Regalen Nollywood boomt, und draußen werden kleine, runde Grills aufgebaut, auf denen Verkäufer Suya – kleine Fleischstücke auf Holzspießen –
braten. Anschließend werden sie mit Pfeffer gewürzt und in Zeitungspapier
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Nigeria
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gewickelt. Abends ist auch die Zeit, in der Jugendliche durch die Straßen
ziehen und Frauen sich treffen, um miteinander zu plaudern. Doch tagsüber
wirkt Mando leise und verschlafen.
Yusuf lebt gerne mit seiner Familie hier. Sogar die Straße ist nach ihm benannt und heißt Yusuf Usman Road. Er war der erste, der sein Haus hier baute. Danach kaufte er ein paar hundert Meter weiter ein zweites Grundstück,
auf dem heute seine Plantage steht. Er züchtet Fische und baut Mangobäume
an. Auf diese kleine, grüne Lunge ist er stolz, pflegt und genießt sie.
Yusuf ist Moslem, hat zwei Frauen, neun Kinder und viele Enkelkinder.
Für sie ist das Haus des Mannes, der Kanuri ist, Treffpunkt und Mittelpunkt.
Dann sitzen im Wohnzimmer alle zusammen, trinken Wasser, erzählen, diskutieren und sehen Fernsehen, wenn es denn Strom gibt. Der fällt alle drei
Tage aus, ist Yusufs Erfahrung. Vom Wohnzimmer aus gehen drei Räume ab,
einer führt in sein Zimmer, rechts und links von ihm leben seine Frauen in
ihren Räumen. Es sind Rückzugsmöglichkeiten für die Frauen, von denen
die ältere 40 Jahre und die jüngere 20 Jahre mit Yusuf verheiratet ist.
Auf dem kleinen Hof, auf dem es noch andere Wohnungen gibt, die Yusuf
vermietet, befindet sich eine kleine Moschee, in die sich die Männer aus
der Familie und der Nachbarschaft fünfmal täglich zum Beten zurückziehen können. Das gemeinsame Gebet hält er für wichtig, es stärkt ihn. „Ich
stamme aus einer muslimischen Familie, ich bin zur Koranschule gegangen“, erzählt er. Yusuf will nach dem Koran leben, schließlich sei das irdische Leben nur temporär. „Danach werden wir alle anderswo sein, wo wir
erschaffen wurden. Mir sagt der Koran, dass ich mich für das Leben danach
an bestimmte Dinge halten muss.“
Als weitere Pflicht hat er es angesehen, seine Kinder nach seinem Glauben zu erziehen, sie ebenfalls zur Koranschule zu schicken. Und wenn eine
seiner Töchter lieber einen Christen geheiratet hätte? Von dieser Idee ist
Yusuf alles andere als begeistert. „Es ist viel leichter für einen Mann, seine
Frau von seiner Religion zu überzeugen als umgekehrt. Aber wenn sie es unbedingt gewollt hätte, dann wäre es ihre Entscheidung gewesen“, sagt er mit
einer gewissen Gelassenheit.
Die hat er auch, wenn er über die blutigen Ausschreitungen vor ein paar
Jahren in Kaduna spricht. „Wir danken Gott, weil sie niemals Mando erreicht haben. Hier versuchen wir, friedlich zusammen zu leben.“ Das probiert er auch auf seinem Hof, wo seine Mieter verschiedenen ethnischen
Gruppen angehören. „Es ist traurig, wenn ich das sage, aber unsere Machthaber haben die Religion genutzt, um die Nation zu spalten.“ Yusuf geht davon aus, dass die Regierung zumindest zu 80 Prozent daran Schuld hat. Allerdings sei es nicht ausschließlich der Hunger nach Macht, sondern schlicht
eine große Hoffnungslosigkeit der Jugendlichen, geschlossene Textilfabri-
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ken, keine wirtschaftlichen Perspektiven in Kaduna. Die politische Elite hätte das ausgenutzt. Denn gerade junge Menschen waren es, die aktiv an den
Straßenschlachten in den Jahren 2000 und 2002 beteiligt waren.
Yusuf arbeitet ehrenamtlich im Interfaith Mediation Centre, nimmt an
den Treffen der Organisation teil, besucht Workshops und hilft bei Programmen. Dazu gehört der Besuch in Schulklassen und Treffen mit Jugendlichen.
Wenn er heute mit jungen Menschen über religiöse Ausschreiten spricht,
zeichnet er ihnen ein Bild der blutigen Straßenschlachten, will sie dazu bringen, darüber nachzudenken, ein Gespür zu bekommen, was die riots wirklich bedeutet haben. „Vielleicht musst Du einmal einen christlichen Freund
um einen Arbeitsplatz bitten, das sage ich jungen Muslimen. Es geht nicht
um die Religion und den Glauben. Es geht um Dich und mich.“
13. Dem Sultan zu Füßen
„Du musst ihn einfach kennen lernen“, sagt mir Imam Sani Isah, als sich
meine Zeit in Nigeria dem Ende zuneigt. Farouk Umar Mohammed, der
neben Samson einer der wenigen hauptamtlichen Mitarbeiter im Interfaith
Mediation Centre ist, sieht es nicht anders. „Ich würde Dir wirklich empfehlen, ihn zu interviewen“, rät er mir, während wir planen, wen ich in den
verbleibenden zwei Wochen noch alles treffen werde. Beide sprechen von
Alhaji Muhammad Sa’ad Abubakar III., dem Sultan von Sokoto, höchster
Führer der Muslime in Nigeria. Sultan und Sokoto, das klingt nach Märchen
aus Tausend und einer Nacht, nach Traditionen, Geschichte und selbstverständlich nach dem Sokoto-Jihad im Jahr 1804, der ein bedeutender Schritt
zur Islamisierung der Haussa-Königreiche war.
Auch auf christlicher Seite wird der Sultan in höchsten Tönen gelobt.
„Wenn es Gott gibt und er präsent ist, kann er seinen eigenen Krieg kämpfen. Nicht ich muss für ihn kämpfen. Und das ist die Sprache des Sultans.
Wir müssen nicht für Gott töten. Er weiß ganz genau, wie es ist zu töten,
wenn er töten will“, hat mir schon Wochen zuvor Samuel Salifu bei unserem Gespräch in Abuja gesagt und dann ergänzt: „Wir haben jetzt zwei
Menschen, die denken und sich die wirklichen Gründe ansehen. Es ist besser für beide, für Christen und Muslime.“ An Samuel Salifu denke ich auch,
als meine Pläne langsam Gestalt annehmen und ich trotz einiger Warnungen
beschließe, am Palmsonntag nach Sokoto zu reisen. Doch einen direkten
Kontakt in den Sultanspalast kann er mir nicht herstellen. „Wenn Du in der
nächsten Woche nach Abuja kommst, dann kann ich Dich mit einem Mitarbeiter bekannt machen, der jemanden kennt“, sagt er mir am Handy. So lange will und kann ich nicht warten. Wenn es gar nicht anders geht, dann fah-
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re ich alleine und warte so lange, bis ich den Sultan, der erst seit November
2006 im Amt ist und vorher eine Karriere beim Militär und im diplomatischen Dienst gemacht hat, sehe.
Doch dann unterstützt mich Imam Sani. „Baturiya. Du willst also tatsächlich nach Sokoto“, begrüßt er mich. Auch für ihn ist es nicht möglich, mich
direkt mit dem Palast zu verbinden. Aber er kennt jemanden, etwas Unbezahlbares in ganz Afrika. „Sie heißt Safiya und leitet eine NGO. Ihr seid
Euch sehr ähnlich und werdet Euch gut verstehen“, ist er sicher. Eine halbe Stunde später telefonieren Safiya Tahir Abullahi und ich. Wie selbstverständlich erklärt sie sich bereit, mir ein Hotelzimmer zu buchen und mich
am Busbahnhof mitten in der Stadt abzuholen.
Meine Reise beginnt morgens um 8 Uhr im Norden Kadunas. Ich komme als dritter Fahrgast zu dem großen, blauen Peugeot, auf dem ein kleines
Holzschild steht und anzeigt, dass das alte Fahrzeug in das nord-westlichste
Bundesland an der Grenze zu Niger und Burkina Faso fährt. Immerhin, ich
kann mir meinen Sitzplatz noch aussuchen und muss nicht auf die unbequeme zweite Rückbank, die eigentlich Kofferraum ist. Wir warten lange, bis
sich das Auto endlich füllt. Anders als in der Woche ist es ruhig, fast leise. Nur ab und zu kommt ein Händler vorbei, bietet Trinkwasser in kleinen
Flaschen, Kaugummis, die an Europa erinnern, oder Sonntagszeitungen an.
Doch ich winke ab und gebe auch nicht nach, als mir goldfarbene Uhren und
Parfüms vor die Nase gehalten werden.
Laut wird es, als sich eine Gruppe von Jungen um das Auto schart. Ihre
Kleidung ist zerrissen und schmutzig. Einer von ihnen läuft barfuss, während die anderen schlecht geflickte Badelatschen tragen. In der einen Hand
halten sie verdreckte Plastikschüsseln in Blau, Grün und Rot, schwingen
sie achtlos immer wieder hin und her. Dazu erklingt ein monotones Singen.
„Sie zitieren den Koran“, sagt einer meiner Mitfahrer, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat und sich zu mir umdreht. Die Klänge auf Arabisch werden immer intensiver, energischer, aufdringlicher. Ob die kleinen,
bettelnden Sänger wohl wissen, was sie singen? Mittlerweile wackeln sie
fordernd mit ihren verdreckten Schüsseln und strecken sie uns entgegen. Irgendwann holt mein Mitfahrer einen Zweihundert-Naira-Schein aus seiner
Hemdtasche – ob aus Überzeugung oder damit sie endlich gehen, weiß ich
nicht – und gibt ihn einem der Jungs. Dieser nimmt ihn vorsichtig entgegen,
hält ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, setzt einen prüfenden Blick auf
und reicht ihn schließlich an den größten der sechs weiter. Sie sagen nichts,
nur ihr Gesang wird leiser und sie machen sich davon.
Nach gut einer Stunde ist das Auto endlich voll. Zwei Frauen, die sich ebenfalls auf die sechs- bis siebenstündige Reise machen wollen, versuchen noch,
den Fahrpreis von 2.800 Naira nach unten zu drücken, doch ohne Erfolg. Et-
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Nigeria
was widerwillig reichen sie einem der umherstehenden Männer schließlich
zwei gut verschnürte Kartons und einen kleinen Plastikkoffer und klettern
auf die Rückbank. Das Auto ist voll, der Kofferraum quillt über und lässt sich
nicht mehr schließen. Unser Fahrer kramt einen Strick unter dem Beifahrersitz hervor und schnürt die Klappe fest. Die Fahrt kann beginnen.
Sie führt vorbei an Zaira, einer bedeutenden Universitätsstadt und Gusau, der Hauptstadt des Bundesstaats Zamfara. Der politisch, gesellschaftlich und religiös eher unscheinbare Bundesstaat, der erst 1996 aus dem alten Sokoto entstand, war der erste, der die Scharia im Januar 2000 einführte.
Kurz zuvor – am 8. Oktober 1999 – hatte der Gouverneur Alhaji Ahmed
Sani Yarima den Vertrag unterschrieben. Anders als in anderen Staaten sorgte dieser Schritt kaum für Proteste, und schon gar nicht provozierte er blutige Auseinandersetzungen.
Irgendwo an der Grenze zwischen Zamfara und Sokoto hält unser Fahrer
plötzlich an. Auf der Straßenseite gegenüber stehen drei graue Esel. Unter einem Baum sitzen Männer und blicken neugierig hinüber. Unser Fahrer öffnet
die Motorhaube, kramt nach Werkzeug, schraubt, startet das Auto, schraubt
wieder. Einer der Männer, die gerade noch gelassen unter dem Baum gesessen haben, steht langsam auf, kommt hinüber, fängt eine Diskussion auf
Haussa an und wirft nach einigen gewaltigen Gesten einen fachmännischen
Blick auf den Motor. Gemeinsam suchen sie in ihren wehenden Kaftans nach
dem Problem, während meine Mitfahrer und ich uns mit kühlerem Wasser
und getrockneten Datteln eindecken. Irgendwann winkt der Fahrer, nickt uns
zu und wir quetschen uns artig ins Auto. „Der Anlasser“, sagt mein Mitreisender knapp, als ich scheinbar fragend in die Runde blicke.
Zwei Stunden später erreichen wir endlich unser Ziel. Nach und nach steigen die Fahrgäste an der Hauptstraße aus. Von der großen Geschichte und
den märchenhaften Palästen ist nichts zu spüren. Wir fahren auf einer wenig
befahrenen, zweispurigen Straße zum Busbahnhof. Als ich meine Sachen
ausgeladen habe und noch überlege, wo ich Safiya am besten treffen kann,
taucht sie plötzlich in ihrem Auto neben mir auf. „Du musst müde sein“, begrüßt sie mich, und wir machen uns auf den Weg in das Hotel. Ein Zimmer
zu bekommen, sagt sie, sei gar nicht einfach gewesen. Schließlich hätte ganz
Sokoto noch bis gestern Abend das Argungu Fishing Festival gefeiert. Bei
dem Fest, das Besucher aus dem ganzen Norden des Landes anzieht, kämpfen in 45 Minuten vor allem junge Männer im Argungu-Fluß um die größten und schwersten Fische. Ich bedauere, dass ich nicht schon zeitiger in die
Sultansstadt gereist bin. Doch Safiya lächelt nur: „Beim nächsten Besuch
wirst Du es sehen.“
Etwas später im Hotelzimmer lächelt die Mutter von drei Töchtern wieder, als ich ihr erzähle, dass ich morgen einfach zum Palast spazieren und
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den Sultan dann schon sehen werde. Sie lächelt – wohl wegen meiner unglaublichen Naivität oder meiner Respektlosigkeit – und schüttelt leicht den
Kopf. „So einfach geht das nicht. Du brauchst einen Termin“, erklärt sie,
kramt eins ihrer zwei Handys aus der großen Handtasche, wählt und erklärt
auf Haussa mein Anliegen. Nachdem die schlechte Telefonverbindung das
Gespräch plötzlich beendet hat, erfahre ich, dass Safiya mit einem der Brüder des Sultans gesprochen hat. Innerlich strahle ich über Imam Sani, der
wohl genau wusste, was für eine gute Kontaktperson sie ist. Sie erklärt mir,
dass ich ein schriftliches Bittgesuch einreichen muss. Am nächsten Morgen
will sie mich mit dem Schreiben zum Palast bringen.
Wir schaffen es gerade. Um kurz vor 9 Uhr hält Safiya vor der Palastwache. Wir übergeben ihm mein Schreiben, Safiya wünscht mir einen erfolgreichen Tag und fährt zur Arbeit. Die Palastwache bringt mich in ein Büro,
das links neben dem Hauptgebäude liegt. Auch der Palast selbst ist schlicht,
nicht aufdringlich und erinnert mehr an ein praktisches Verwaltungsgebäude als an einen repräsentativen Prunkbau. Im Büro erhält mein Bittgesuch
einen Eingangsstempel und wird in eine Mappe gelegt, in der wohl noch andere Schreiben liegen. Ansonsten tut sich nichts. Die drei Mitarbeiter, die an
schlichten Holztischen sitzen und Papiere begutachten, beachten mich nicht.
Ich warte. Auf Haussa gibt es ein Sprichwort: „Hak’uri maganin duniya“,
auf Deutsch: „Geduld ist die beste Medizin“. Es wird mich die nächsten beiden Tage begleiten.
Nach scheinbar endlos langer Zeit kommt Ahmed Abdulkadir. Er sieht
skeptisch aus, wundert sich, was ich hier mache. Trotzdem bittet er mich in
sein Büro, einen kleinen, kahlen Raum auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite. „Ich verstehe Euch Europäer nicht. Ihr mögt keine Kinder“, sagt
der siebenfache Vater, der gerade seine zweite Frau geheiratet hat. In Europa würden die Menschen zu wenige Kinder bekommen, nur zwei oder
drei. Viel zu wenig für einen Mann, der seinen eigenen Vater übertrumpfen
möchte. „Mein Vater hatte 40 Kinder. Das schaffe ich“, ist der Traditionalist
überzeugt. Nach unserem Hin und Her über kinderreiche Familien, Ausbildung sowie Finanzierung derselben, steht er plötzlich auf und sagt, dass es
nun an der Zeit sei, in den Palast zu gehen.
Er bringt mich in einen Warteraum, der mit Fotografien und Gemälden
des Sultans ausstaffiert ist. Der Sultan in den Vereinigten Staaten, der Sultan
mit den Emiren, der Sultan während einer Konferenz, der Sultan auf Reisen,
der strenge Sultan, der lächelnde Sultan.
Das Ziel, den obersten Führer der nigerianischen Muslime zu treffen,
scheint greifbar nahe zu sein. Noch ein bisschen greifbarer macht es sein älterer Bruder, der sich zu mir setzt und sich mein Anliegen anhört. „Ich will
sehen, was ich tun kann“, sagt er mir und fragt, woher ich komme. Als er
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„nördlich von Hamburg“ hört, fängt er an zu erzählen. Jetzt würde er häufiger nach London reisen. Aber in Hamburg, dort sei er früher oft gewesen.
„Ich hatte eine Freundin, die aus Hamburg kam“, erzählt er in halblautem
Ton, „doch sie wollte mich nicht heiraten. Sie sagte, sie will keinen Moslem
heiraten. Sie nahm meinen Freund.“ Er lässt mir Kekse und Kaffee bringen,
geht wieder, kommt zurück mit einer zweibändigen Ausgabe über den Sokoto-Jihad. Die Tür geht immer wieder auf, andere Wartende kommen hinein, setzen sich, werden geholt, gehen wieder. Die Klimaanlage surrt, es gibt
wieder heißes Wasser für einen neuen Kaffee für mich und der Bruder des
Sultans freut sich, dass es bei mir Kekse gibt. „Die mag ich besonders gerne“, sagt er und deutet auf die gelbe Packung. Wir naschen gemeinsam, bis
er sich wieder auf den Weg macht – jedoch ohne eine verbindliche Zusage,
ob ich den Sultan heute noch treffen kann.
Am späten Nachmittag – die anderen Wartenden sind gegangen – erklärt
er mir schließlich, dass sein Bruder längst nach Hause gefahren ist. Und
er sagt, mein Brief hätte ihn nicht erreicht, verschollen im Palast. Morgen,
morgen könnte es gehen, vertröstet er mich und verspricht, am späteren
Abend noch einmal anzurufen.
Safiya ist unbeeindruckt, als sie mich abholt und zu sich mit nach Hause
nimmt. Für sie war vermutlich klar, dass ich nicht einfach so in den Palast
gehen und den Sultan interviewen kann, als sei er irgendein Mensch. Beim
Abendessen – ich bin mittlerweile aus meinem Hotel in ihr Haus auf dem
Campusgelände umgezogen, nachdem ich Safiya mit Nachdruck versichert
habe, ich schlafe überall – frage ich sie, weshalb es im November 2002 zu
den besonders blutigen Ausschreitungen in ganz Nordnigeria kam. Damals
hatte zum ersten Mal der Miss-World-Contest in Nigeria stattgefunden, und
eine junge Journalistin aus Lagos versuchte, die muslimische Welt entweder
zu provozieren oder aufs Korn zu nehmen, indem sie schrieb, der Prophet
selbst hätte sich vielleicht eine der Teilnehmerinnen zur Frau genommen.
Dass es eine Beleidigung ist, haben schon vorher viele Gesprächspartner
immer wieder deutlich gemacht. Aber ihr Ausmaß und die Schwere konnte
ich nicht nachvollziehen.
Safiya und ich sitzen in den breiten Sesseln in ihrem Wohnzimmer. Der
Ventilator summt, immerhin gibt es heute Abend Strom. Meine Gastgeberin
schaut mich lange und eindringlich an, sagt nichts, sondern isst langsam ihren Reis, der in einer scharfen, dunklen Okra-Soße schwimmt. „Weißt Du.
Erst einmal fand die Wahl während des Ramadans statt. Zu fasten bedeutet
für uns auch, auf Sex zu verzichten. Und dann findet diese Veranstaltung
statt mit all den jungen, hübschen Frauen.“ Doch diese mangelnde Rücksichtnahme war es nicht alleine, die viele Muslime im Land so unsagbar wütend machte. Es war diese große, unglaubliche Beleidigung, die vor allem
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junge Muslime so kopflos machte. „Wer so etwas sagt, stellt sich über den
Propheten. Sie hat geschrieben, dass der Prophet fehlbar ist. Und das ist er
nicht.“ Safiya redet leise und ernst. An diesem Abend wird mir zum ersten
Mal wirklich bewusst, wie allgegenwärtig der Islam ist und dass Religion
wenig Diskussion und keinen Widerspruch duldet.
Der Bruder des Sultans hat trotz seines Versprechens nicht angerufen. Daher bringt mich Safiya, die die halbe Nacht versucht hat, mir ihre Religion,
vor allem aber die Stellung der Frauen im Islam näher zu bringen, am nächsten Morgen wieder in den Palast. Ich treffe Ahmed vor dem Eingang. Er
fühlt sich mittlerweile für mich verantwortlich und nimmt mich mit zum
Sekretär des Sultans. Ich setze mich auf einen der Stühle in dem gut klimatisieren, dunklen Raum, halte mein Schreiben in der Hand und überreiche es ihm. „Du musst ihn treffen. Das wissen wir, und wir versuchen
es“, verspricht mir der Sekretär, nachdem ich noch einmal bekräftigt habe,
wie wichtig mir dieses Interview ist. Doch an diesem Vormittag habe er ein
Treffen mit den Emiren aus der Umgebung, sagt der Sekretär. Aber danach
könnte es möglich sein.
Ich warte zwischen den unzähligen Sultan-Bildern, die mich anlächeln
und fühle mich fast wie zu Hause in meinem Wartezimmer. Es gibt Kaffee
und Plätzchen, diesmal eine runde Sorte in einer kleinen, roten Packung.
Außerdem bringt mir ein Palast-Mitarbeiter kaltes Wasser. Wie präsent der
Sultan ist, sehe ich auf der 750-Milliliter-Plastikflasche. Auch von der blickt
mich Alhaji Muhammad Sa’ad Abubakar III. an, nicht lächelnd, sondern
ernst in seiner traditionellen Kleidung. Verbunden ist das kleine Gefäß,
das ich sonst achtlos in den Müll geworfen hätte, mit Glückwünschen zur
Amtseinführung.
Sein Bruder kommt zu mir in den sechseckigen Warteraum. „Ich hatte ein
Treffen“, entschuldigt er den fehlenden Anruf, ohne weiter darauf einzugehen. Jetzt habe der Sultan noch eine Konferenz, aber danach soll es ganz
bestimmt klappen, verspricht mir der Halbbruder. Ich nicke und trinke den
hingestellten Kaffee – Tee wird mir schon gar nicht mehr angeboten. Immer
wieder öffnet sich die Tür, immer wieder kommen Besucher, die sich auf
die weißen Plastikstühle setzen, ein Schreiben in der Hand haben und den
Mitarbeitern halblaut ihr Anliegen vortragen. Es entwickelt sich eine ZweiKlassen-Gesellschaft im sechseckigen Warteraum. Auf der einen Seite sitze
ich im bequemen Sofa und erhalte Speisen und Getränke. Auf der anderen
hocken die Mitwartenden, allerdings ohne irgendwie versorgt zu werden.
Um elf Uhr geht schließlich die Tür auf, und der Bruder des Sultans
kommt zu mir. „Du kannst ihn jetzt sehen“, sagt er mir. Ich grinse und fühle mich erleichtert, bis er einschränkt: „Aber Du kannst kein Interview mit
ihm machen, nur begrüßen. Er ist noch in einem Treffen.“ Ich sehe ihn ent-
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Nigeria
setzt an, schließlich ist genau das Interview der Grund für meine Reise gewesen. Er scheint zu überlegen und rät mir dann: „Sag’ ihm das. Sag’ ihm,
dass Du wartest, dass Du bis zum Ende des Treffens wartest. Sag’ ihm, dass
Du nur seinetwegen die lange Reise von Deutschland nach Nigeria gemacht
hast. Das ist Deine letzte Chance. Morgen werden wir nach England reisen
und dort zehn Tage lang bleiben.“ Ich atme tief durch und werde in den großen Raum geführt, in dem der Sultan mit sechs Emiren sitzt. Der 20. Sultan
von Sokoto thront in der Mitte auf seinem goldglänzenden Stuhl. In einem
Halbkreis sitzen um ihn herum die Emire auf Sitzkissen. Ich wünsche allen
Anwesenden Frieden, verbeuge mich leicht und darf mich neben den heute
52-Jährigen setzen. Er kennt meinen Wunsch und schüttelt den Kopf. „Du
siehst, ich habe keine Zeit“, sagt er mir. „Ich warte“, versichere ich ihm und
betone, dass ich den ganzen Weg aus Deutschland nur seinetwegen gemacht
habe, dass ich mich intensiv mit Christentum und Islam im Land auseinander gesetzt habe, in Familien lebe und mir alle – ganz gleich ob Christen
oder Muslime – gesagt haben, dass ich dieses Interview mit ihm unbedingt
führen muss. Der oberste Führer der Muslime sieht streng aus und gütig zugleich. Er hat ein freundliches und entspanntes Gesicht. Er ist ruhig, in sich
gekehrt und sagt mir schließlich, dass ich warten soll, bis diese Versammlung zu Ende ist. Dann könnten wir eventuell, wenn denn noch Zeit da ist,
ein kurzes Interview führen.
Sein Bruder bringt mich zurück in den Warteraum. Ich strahle innerlich
und strecke zumindest eine Hand jubelnd in die Höhe, heimlich und für
mich. In den kommenden drei Stunden werde ich einmal mehr kräftig mit
Kaffee versorgt. Außerdem gibt es einen großen Teller mit Pilau. Das Reisgericht, das in weiten Teilen Afrikas verbreitet ist, schmeckt nach Koriander
und Kardamom, Gewürze, die mich einmal mehr an Orient und Exotik, aber
zum ersten Mal auch an eine gemütliche Weihnachtszeit daheim in Europa
erinnern. Wieder kommen und gehen andere Wartende, die mich vorsichtig
mustern und kurz ansehen. Ich genieße weiterhin eine Vorzugsbehandlung.
Irgendwann öffnet Ahmed die Tür, um nach mir zu sehen. Er freut sich über
meinen Erfolg, dass zumindest die Chance besteht, mein Ziel heute noch zu
verwirklichen. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, blicke ab und zu auf
mein Mobiltelefon und sehe, dass Safiya versucht hat, mich zu erreichen.
Sie wird sich mit mir freuen, heute Abend.
Dann ist es plötzlich soweit. Ich werde in den Empfangsraum gebeten.
Der Sultan ist alleine, und ich habe 15 Minuten. Ich setze mich neben ihn,
und wir fangen an zu plaudern. Es ist mehr ein lockeres Gespräch als ein
Interview. So wirkt Alhaji Muhammad Sa’ad Abubakar III. auch entspannt
und gar nicht mehr so unnahbar wie es noch vor zwei Stunden der Fall war.
Er bewertet die Beziehung zwischen Christen und Muslimen als überaus
206
Nigeria
Katrin Gänsler
friedlich. Denn heute würden religiöse Führer sich treffen, Brücken bauen
und gemeinsame Institutionen schaffen. „Die Zukunft ist brillant“, ist er sicher. Mit diesem Satz in den Ohren verlasse ich den Sultanspalast und nur
sechs Tage später auch Nigeria.
14. Was bleibt
Das Motto der Heinz-Kühn-Stiftung „Junge Journalisten sehen eine andere Welt“ trifft für meine Reise im doppelten Sinne zu. Nigeria ist selbstredend eine andere Welt. Aber Nigeria ist auch anders als das Bild, das wir
gemeinhin von diesem Land haben. Es ist ein aufregendes und spannendes
Land, ein Land, in dem unendlich viel passiert, das schrecklich lebendig ist,
ein Land, das Möglichkeiten hat und in dem Menschen sehr hilfsbereit und
gastfreundlich sind – wohlwissend um den Ruf als korrupter und gefährlicher Staat. Es ist ein verrücktes Land, mein „crazy country“, in dem sich
vermutlich all jene Probleme und Potentiale widerspiegeln, die der gesamte
Kontinent hat. Genau diese Eindrücke werden mich begleiten, wenn ich an
Nigeria denke. Gleichzeitig wecken sie den Wunsch, möglichst schnell wieder dorthin zurück zu reisen und mehr von diesem Flecken Erde zu sehen.
15. Danksagung
Viele Menschen haben zum Gelingen meines Aufenthalts in Nigeria beigetragen. Am liebsten würde ich sie alle auf den kommenden zwei Seiten
aufzählen, nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus großer Dankbarkeit. Da dieses Vorhaben schwierig werden sollte, bedanke ich mich stellvertretend für
alle anderen bei folgenden Personen:
Mike Omoighe und seiner Frau Titi, die mir mit ihren drei Töchtern Freunde und Familie waren und mir das spannende Lagos gezeigt haben,
Stefan Cramer von der Heinrich-Böll-Stiftung in Lagos für die vielen
Kontakte im ganzen Land,
den Mitarbeitern von The News/P.M. News für ihre Unterstützung – auch
innerhalb der Arbeitszeit,
Yahaya Ahmed und seiner Frau Habiba für die spannende und lehrreiche
Reise in den Norden und die Freundschaft,
Tonie Okpe für diese entspannten Abende und Diskussionen im Staff Club
der Ahmado Bello University in Zaria,
meinen Gastgebern Naomi Garba, Yusuf Usman, Elizabeth und James
Wuye für die Selbstverständlichkeit, Teil ihrer Familie zu werden.
207
Katrin Gänsler
Nigeria
Darüber hinaus gilt ein ganz herzlicher Dank dem Interfaith Mediation
Centre, ohne das mein ganzes Projekt nicht möglich gewesen wäre. An dieser Stelle sei Samson Auta erwähnt, der so selbstverständlich so viel für
mich organisiert und getan hat. Auch alle anderen habe ich nicht vergessen und denke gerne an die spannenden Gespräche mit Abdullahi Mohammed Sufi, Imam Sani Isah, Joshua Kurmi Pyeng, Pastor James Wuye und
Imam Muhammed Nureyn Ashafa zurück, habe Farouk Umar Mohammed
und Hannah J. Abe als sympathische Kollegen schätzen gelernt und auch mit
allen anderen die gemeinsame Zeit genossen. Es war klasse.
Vergessen möchte ich auch nicht meine Gastmutter Hajiya Hafsat Mohammed Baba, in deren Haus ich mich wie ein sechstes Kind gefühlt habe.
Ihr seid fantastisch.
Ein letztes Dankeschön geht an die Heinz-Kühn-Stiftung, die mir diesen
spannenden Aufenthalt überhaupt erst ermöglicht hat. Ich habe die drei Monate stets als großes Geschenk betrachtet. Daran möchte ich meinen ganz
herzlichen Dank an Ute Maria Kilian anschließen, die letztendlich mehr
Vertrauen als Bedenken in mein Projekt Nigeria hatte. Danke!
208
Alexander Göbel
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Sierra Leone
vom 6. Januar bis 16. Februar 2008
209
Sierra Leone
Alexander Göbel
Sierra Leone –
Zwischen Bürgerkriegstrauma und Neubeginn
Von Alexander Göbel
Sierra Leone, vom 6. Januar bis 16. Februar 2008
211
Sierra Leone
Alexander Göbel
Inhalt
1.
Zur Person
214
2.
Prolog – „Seven Minutes in Hell“
214
3.
Lumley Beach – Kicken mit Krücken
215
4.
Die langen Schatten der Vergangenheit
218
4.1 Afrikas Milosevic – Der Prozess gegen Charles Taylor
218
4.2 War Beyond Reason – Der Krieg als Schwarzes Loch
223
4.3 Iron Gate – Reise zum Mittelpunkt des Krieges
228
4.4 Diamonds Are Forever – Vom Fluch der teuren Steine
235
5.
242
Balancieren am Abgrund, oder: Sisyphus macht Staat
5.1. “Election Biznes Na Ol Man Biznes“
242
5.2. 2 Fut Arata – Musik als Opposition
246
5.3 Klin Salone – Die Stadt, der Müll und der Tod
249
5.4. Aschobi – Swank Couture für ein neues Land
253
5.5 Kampf um Anerkennung – Sichtbares und unsichtbares Leid
254
5.6 Fambul Tok und Fourah Bay – Versöhnung in Sweet Salone
256
6.
Epilog
259
7.
Dank
260
213
Alexander Göbel
Sierra Leone
1. Zur Person
Alexander Göbel, geboren 1974, aufgewachsen in Bad Kreuznach, studierte in Bonn, Köln und in den USA Regionalwissenschaften Nordamerika, Politik und Geschichte; Volontariat bei der Deutschen Welle 2002-2004. Hat aus
dem Kongo über die ersten freien Wahlen seit über 40 Jahren berichtet, Reportagen aus Süd-, Ost- und Westafrika mitgebracht. Schätzt Orwell für sein
Zitat: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht darauf, den
Menschen das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Bedauert, dass die Welt
nicht hören wollte, was sich in Sierra Leone abgespielt hat. Fühlt sich herausgefordert von der Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung und
deren verzerrter Wahrnehmung in der Afrika-Berichterstattung. Wollte auch
deshalb nach Sierra Leone, weil sich an kaum einem anderen Land in Westafrika so gut zeigen lässt, wie wichtig die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft
sind. Außerdem nimmt er die Warnung von Schriftsteller Pedro Rosa Mendes
ernst – Sierra Leone ist überall: „Failed States. Die ‚fehlgeschlagenen Staaten‘ sind der ungeschliffene, trüb gewordene Spiegel von Veränderungen, die
ihrer Natur und Logik nach genauso in der übrigen Welt geschehen können.“
Der Krieg ist vorbei, aber etwas Neues ist noch nicht definiert. Sierra Leone
ist gezwungen, sich neu zu (er)finden. Vorbilder gibt es nicht.
2. Prolog – „Seven Minutes in Hell“
Ein Vierteljahrhundert soll er alt sein, der ausgemusterte südafrikanische
Hubschrauber, in dessen Bauch ich sitze. Rechts, links und mir gegenüber
zwölf weitere Passagiere, in der Mitte des Fluggeräts unser Gepäck unter einem schwarzen Netz. Ich klammere mich an Laptop und Rucksack – Sicherheitsgurte gibt es nicht, die fußballgroßen runden Öffnungen in der Wand
hatten einmal Fenster. Wir alle haben für dieses Vergnügen stolze 70 USDollar gezahlt, um zu später Stunde noch nach Freetown zu kommen. UTAir,
eine ukrainische Firma, hat das Monopol auf den Heli-Shuttleservice zwischen dem Flughafen in Lungi und Freetown. Man kann die dazwischen liegende Bucht und den Meeresarm des Atlantiks natürlich auch mit einer Fähre
überqueren, doch die geht erst morgen wieder, und das Lungi-Hotel ist teuer.
Oder man nimmt ein Taxi und fährt um die Bucht und die Halbinsel herum –
das dauert bei wenig Verkehr die ganze Nacht. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als tief in die Tasche zu greifen und mich dem ohrenbetäubenden
Lärm des Helikopters auszusetzen. Die Tür zum Cockpit ist offen, ich erkenne die Umrisse eines weißen Mittfünfzigers mit Dreitagebart, T-Shirt, Shorts
und Flip-Flops. Ein sierra-leonischer „Flugbegleiter“ – immerhin in einer
214
Sierra Leone
Alexander Göbel
Art Uniform – schreit gegen den Lärm an und informiert uns, der Flug dauere genau sieben Minuten, und der Pilot wisse, was er tue. „Seven minutes in
hell“, murmelt ein britischer Geschäftsmann neben mir – ich bin ihm dankbar für den trockenen Humor, aber das Grinsen fällt mir schwer. Dann erzählt
er, dass die Vorgängerfirma Paramount seit gut einem Jahr nicht mehr fliegen dürfe: „Grounded.“ Mir wird flau. Beim Absturz eines der beiden Paramount-Helikopter seien 21 Anhänger der togoischen Fußball-Nationalmannschaft umgekommen, die ihr Team zu einem Länderspiel gegen Sierra Leone
begleitet hätten. Unter den Opfern sei auch der Sportminister von Togo gewesen. „And do you know what their ads say? Your security is not important to
us. It’s Paramount.“ Der Brite klopft sich auf die Schenkel. Manchmal ist der
Unterschied zwischen einem Punkt und einem Bindestrich eben riesengroß.
Gleich sind wir da – nur sieht man nichts. Kein Hinweis darauf, dass wir
in wenigen Minuten in einer Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern
landen. Da unten ist es absolut dunkel – bis auf ein paar Häuser und Straßenzüge, die ganz offensichtlich mit dem Strom von dieselbetriebenen Generatoren beleuchtet werden. NPA, der Strom der Nationalen Elektrizitätsbehörde, ist zumindest zum Jahresbeginn noch Glücksache. Sierra Leone liegt
im Dunkeln – im Dunkel der Nacht, aber auch im Schatten der Weltöffentlichkeit, immer noch. Eigentlich lächerlich, denke ich, als wir am Helipad
in Aberdeen aufsetzen. „Seven minutes in hell.“ Von wegen. Die rund fünf
Millionen Menschen in diesem Land haben schließlich mehr als zehn lange
Jahre in der Hölle verbracht. Salone, a de cam.1
„Ousssmaaaane!“ Im Haus nebenan schreit Mama Kargbo mal wieder
nach ihrem Kleinsten. „Lord have Mercy with us Africans“ dröhnt es in voller Lautstärke aus dem batteriebetriebenen Radio. Der Balkon hängt voller
Wäsche. Mama Kargbo bügelt mit einem Kohle-Bügeleisen. Mehr als zehn
Minuten werden auf Radio Democracy 98,1 FM Todesanzeigen verlesen.
„Meeercyieee Shiiiip!“ Ein kleines Mädchen geht über die staubige Straße
vor meinem Haus. Auf dem Kopf trägt sie eine Plastikschüssel mit Fisch.
Der Erlös geht an Mercy Ship, die Klinik für Frauen, die gleich hier um
die Ecke liegt. Es ist das einzige Krankenhaus weit und breit, das sich um
die Folgen von Vergewaltigung und Beschneidung kümmert. „Ousssmaaaane!“ Wir sind in Freetown, Aberdeen. Meine Nachbarn, mein Zuhause. Eine
leichte Brise weht durch die Kokospalmen.
1
Auf Krio: „Sierra Leone, ich komme.“
215
Alexander Göbel
Sierra Leone
3. Lumley Beach – Kicken mit Krücken
Jede seiner Bewegungen muss unendlich viel Kraft kosten, und doch ist
sein Gesicht ein einziges Lächeln. Joseph ist nicht zu übersehen, nicht nur
wegen seiner langen Dreadlocks, dem bunten APC-Shirt2 und den unglaublich starken Armen. Aber die braucht er auch, denn auf ihnen lastet der gesamte Körper. Gestützt auf viel zu große Holzkrücken zieht er die Beine nach
und kämpft gegen den Sand von Lumley Beach. Sein Unterkörper wurde vor
zwölf Jahren bei einem Autounfall zertrümmert – mit seiner Mutter war er
damals unterwegs zum Markt von Koidu, als sie in einen Hinterhalt der Rebellen gerieten. Seine Mutter hat den Sturz des Lkw in die Böschung nicht
überlebt. Nach drei Jahren Krankenhaus kam Joseph mit seinem kleinen Bruder nach Freetown. Heute betreiben sie hier in Aberdeen einen Mini-Kiosk,
der läuft mehr schlecht als recht. Nebenbei stellt Joseph Ketten, Armbänder
und kleine Schnitzereien her – deshalb ist er immer am Strand unterwegs, auf
der Suche nach neuen Kunden. „Mister Alex, frag’ einfach nach dem Culcha
Man!“ Und dann strahlt er wieder über das ganze Gesicht.
Joseph gehört zu den sichtbarsten Opfern des brutalen Bürgerkriegs, der
zwischen 1991 und 2002 in Sierra Leone gewütet hat – zu den Amputierten
und Kriegsversehrten. Sie haben noch heute keine starke Lobby, der blanke
Staat zahlt ihnen keine Entschädigung. Mit dem seelischen Trauma und ihrem
Alltag als Behinderte müssen sie selbst fertig werden. Im ärmsten Land der
Welt sind sie auf sich gestellt und wissen: Nur gemeinsam sind sie stark. Aber
wer sagt eigentlich, dass man zwei Beine braucht, um gut Fußball zu spielen?
Eigentlich ist es wie immer am Lumley Beach, dem langen Stadtstrand
von Freetown. Überall rollt der Ball. Im Sand werden notdürftig Linien eingezeichnet, die Tore sind selbstgebaut. „Komm, ich zeig’ Dir was“, sagt Joseph. Am Samstagmorgen gehört der Strandabschnitt neben Harry’s Bar den
so genannten Amputees. Genauer gesagt der Nationalmannschaft der Amputees. Joseph verkauft den Spielern „exklusiv“ Wasser zum Spezialpreis, er ist
zu ihrem Maskottchen geworden. Insgeheim kommt er hierher, um sehnsüchtig die anderen spielen zu sehen, weil sein eigener geschundener Körper das
nicht zulässt. Aber er ist wenigstens dabei. Ins Wellenrauschen mischt sich
das Klappern der Krücken. Spieler brüllen sich an oder feiern ein Tor. Übersteiger und Dribblings sieht man hier nicht, dafür aber akrobatische Körperbeherrschung. Schneller kann man auch auf zwei Beinen nicht laufen.
„Wir sind stark, wir können alles erreichen. Wenn wir Fußball spielen, sind
wir glücklich. Dann vergessen wir ganz einfach, dass unsere Beine fehlen“,
2
All People`s Congress, die Partei des neuen Präsidenten Ernest Bai Koroma
216
Sierra Leone
Alexander Göbel
sagt Team-Kapitän Maxwell Fornah. Eigentlich sagt er: „Then we forget that
we are not complete.” Vollständigere Fußballer, also Ballkünstler mit mehr
Leidenschaft und Biss, kann ich mir allerdings kaum vorstellen. Die Rebellen haben Maxwell erwischt, es war 1992, im Osten des Landes, beim ersten Angriff auf Kailahun. Der Stumpf seines linken Beins ruht auf dem Krückengriff. Der Schweiß rinnt ihm über das Gesicht. „Sie haben nur auf mich
geschossen, weil ich meine Schuluniform trug. Ohne die Rettung durch das
Rote Kreuz hätte ich nicht überlebt. Das werde ich denen nie vergessen. Gott
schütze sie.“ Teamkollege Bayoh Evans war Soldat in der sierra-leonischen
Armee und musste 1991 den Angriff der Rebellen miterleben. Noch heute
ist er Verteidiger, allerdings nicht mehr mit der Waffe in der Hand, sondern
auf dem rechten Flügel. „Eine Granate ist direkt vor mir explodiert“, erzählt
Bayoh. Sein rechtes Bein wurde zerfetzt. Er wurde aus der Armee entlassen, irgendwann stieß er zu dieser Gruppe. „Ich war am Boden zerstört. Aber
meine Jungs hier haben das gleiche Schicksal, und mit ihnen zusammen zu
sein, das macht mir Mut, weiterzuleben.“ Natürlich – Fußball kann man nicht
essen. „Der Fußball bringt uns kein Geld, aber er bringt uns zusammen, er
schenkt uns Freude. Irgendwie ist das sogar mehr wert als Geld!“
Die Spieler sind zum Idealismus verdammt. Es gibt für sie keine Jobs in der
Stadt – und erst recht keine Sponsoren. Sie haben nur die Sportkleidung, die
sie am Leib tragen, ihre Krücken sind denkbar ungeeignet für den harten Einsatz im Zweikampf auf dem Sandplatz. Trainieren können sie nur einmal pro
Woche – das liegt auch daran, dass sie schlecht essen und sowieso nicht wissen, wie sie aus allen Ecken der Stadt zum Training kommen sollen, sagt Nationaltrainer Moses Mambou, der einzige Nichtbehinderte. Er engagiert sich,
weil sein Bruder im Krieg das rechte Bein verlor und heute der Torwart des
Teams ist. „Es ist ein Geschenk Gottes, dass die Jungs jeden Samstag hierher
kommen“, sagt Moses. „Sie sind die ganze Woche auf der Straße und betteln,
damit sie sich das Poda Poda3 leisten können.“ Nirgendwo sonst als am Lumley Beach habe ich je besser verstanden, was Fußball-Leidenschaft bedeutet.
Die Amputees fühlen sich hier endlich wieder als Menschen, als Teil der Gesellschaft. Moses nimmt meinen Arm. „Als sie ihre Gliedmaßen verloren haben, dachten die meisten, ihr Leben sei zu Ende. Aber das Fußballspielen mit
ihren Leidensgenossen – das hat für sie alles verändert.“ Gerade fällt das 2:1
für die Erste Mannschaft gegen die Ersatzspieler – der Jubel ist groß.
Sierra Leone ist natürlich nicht das einzige Land, in dem körperlich Behinderte Fußball spielen. „Aber in Sierra Leone ist das schon etwas Besonderes“, erklärt Teamsprecher Albert Manley. „In keinem anderen Land, au-
3
Poda Poda – „Minibus“ auf Krio
217
Alexander Göbel
Sierra Leone
ßer vielleicht in Angola, haben die meisten Spieler ihre Beine durch den
Krieg verloren. Oder kennst Du ein anderes Land, in dem Menschen anderen Menschen mit Macheten die Gliedmaßen abhacken? Heute wollen diese
Spieler zeigen, dass der Fußball sie zu Friedensbotschaftern gemacht hat.“
Mit Argusaugen beobachtet Albert Manley das Training. Er bedauert es
sehr, dass Fußball-Superstar und UNICEF-Botschafter David Beckham es
offenbar nicht für nötig gehalten hat, bei seiner Stippvisite im ärmsten Land
der Welt auch die Amputees zu besuchen. Mit einem Learjet wurde Beckham nach Kenema eingeflogen, für das UN-Kinderhilfswerk klapperte er
ein paar Termine ab. Davon erfuhren die Amputees natürlich viel zu spät,
klagt Albert. „Nichts ist passiert. Man hat ihn sozusagen in geheimer Mission durch die Stadt gekarrt, dann ein paar Fotos gemacht, das war’s. Die
Spieler hätten ihn gerne empfangen um ihm zu zeigen, was sie draufhaben. Und er hätte die Pflicht gehabt, diese Kriegsopfer kennen zu lernen.“
Ob Beckham weiß, wie verrückt die Sierra Leoner nach der britischen Premier League sind? Hier auf dem Platz hätte er einige Doppelgänger sehen
können. Und dann hätten Bayoh und die anderen ihm gesagt, dass sie ihre
mühsam zusammengesparten chinesischen Fake-Trikots von Chelsea, Manchester United oder Liverpool wie einen Augapfel hüten. Aber was soll’s.
Stürmer Moussa Mansaray, mit 17 der jüngste Spieler im Team, hat sowieso
andere Vorbilder. „Ballack mag ich sehr gerne, Oliver Kahn, Lehmann, Klose. Das sind sehr gute Spieler. Zur Hölle mit Beckham.”
Die Mannschaft, die sich aus den besten behinderten Spielern des Landes
zusammensetzt, hat gerade erst das Finale im Africa Cup of Nations gegen
den Nachbarn Liberia verloren, mit 0:1. Trotzdem: „We are the best team in
Africa“, glaubt Torjäger Mohammed Lapeah. Sein rechtes Bein musste nach
einem Rebellenangriff unterhalb des Knies abgenommen werden. Gerade
hat er seinen Schulabschluss nachgeholt. Er hofft, dass er bald aufs College
gehen kann – er will Strafrecht studieren und die Kriegsverbrechen in seinem Land aufklären. Aber Fußball spielt er natürlich weiter. Sein rechtes
Bein will er nicht zurück. „Das würde nichts an meiner Lage ändern. Ob wir
behindert sind oder nicht – alle Menschen in Sierra Leone sind auf die eine
oder andere Weise krank.“
4. Die langen Schatten der Vergangenheit
4.1 Afrikas Milosevic – Der Prozess gegen Charles Taylor
Man kann es Schicksal nennen oder gutes Timing – ausgerechnet am Tag
meiner Ankunft, am 6. Januar, wird der Prozess gegen Liberias Ex-Präsident
218
Sierra Leone
Alexander Göbel
Charles Taylor wieder aufgenommen. Ich selbst werde Zeuge. Ich beobachte zwei Monate lang, wie die Vergangenheit sich in die Gegenwart und wohl
auch in die Zukunft Sierra Leones hineinfrisst. Charles Taylor, der Mann,
der vielen schon als „Afrikas Milosevic“ gilt, muss sich als erster afrikanischer Staatschef vor dem UN-Sondertribunal für Sierra Leone verantworten. Immerhin ein Umstand, der den Richter und US-Strafrechtler David
Crane ins Schwärmen geraten lässt: „Die Herrschaft des Rechts wird sich
als stärker erweisen als die Herrschaft der Gewehre“, zitiert ihn der „Spiegel“ wohlwollend. 30.000 Seiten umfasst die Anklageschrift. Mord, Rekrutierung von Kindersoldaten, Verstümmelung von Zivilisten, Zwangsarbeit,
Vergewaltigung, kurz: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Lord of War.
Taylor spielt eine besondere Rolle in Sierra Leones elfjährigem Bürgerkrieg.
Der Sondergerichtshof gab die Anklage gegen ihn im Juni 2003 bekannt.
Taylor flüchtete jedoch ins Exil nach Nigeria. Drei Jahre später, am 29.
März 2006, wird Taylor für den Prozess ausgeliefert. Nachdem der Sondergerichtshof aus Sicherheitsgründen um die Verlegung des Prozesses gebeten
hatte, haben die Niederlande zugestimmt, den Prozess in Den Haag abzuhalten. Jedoch wurde die Bedingung gestellt, dass Taylor nach dem Urteilsspruch das Land verlassen müsse. Im Juni 2006 hat Großbritannien angeboten, Gefängnisräume für Taylor zur Verfügung zu stellen, falls er verurteilt
wird. Unmittelbar nach Beginn, im Sommer 2007, wurde der Prozess auch
schon wieder unterbrochen, und alle Welt befürchtete ein ähnliches Spiel
der Taktik und der Verzögerungen (und damit eine Verhöhnung der Opfer)
wie im Fall des serbischen Kriegsverbrechers Slobodan Milosevic.
Seit Januar 2008 also werden die Verhandlungen fortgeführt. In Sierra Leones Hauptstadt Freetown verfolgen die Menschen den Prozess aufmerksam
– live aus Den Haag, übertragen im Großen Saal des mit Mauern, Stacheldraht und finster dreinblickenden chinesischen Blauhelmsoldaten gesicherten Sondergerichts in Freetown. Es sieht aus wie ein unbekanntes Flugobjekt,
und in seiner modernen Architektur aus Stahl, Holz und Glas will es so gar
nicht in die heruntergekommene Umgebung passen. Ob das wohl auch im
übertragenen Sinne gilt, geht mir durch den Kopf, als ich nach gefühlten drei
Stunden Sicherheitscheck endlich meine Akkreditierung bekomme.
Schon am frühen Morgen sitzen hunderte Besucher dicht gedrängt auf
den harten, braun lackierten Zuschauerbänken. Sie starren auf die vier großen Bildschirme und trauen ihren Augen und Ohren nicht, als Wamunya
Sherif, einer von Charles Taylors engsten Vertrauten, seinen früheren Chef
schwer belastet. „You mentioned several rice bags in which they were hiding arms… what kind of arms?“, fragt die Richterin. Antwort: „AK 47.”
Es geht um Lieferungen von Waffen und Munition aus Liberia an die RUF,
die Rebellen der „Revolutionary United Front“, um Edelsteine und um die
219
Alexander Göbel
Sierra Leone
„Odessa-Connection“. Taylor hat die RUF finanziert und mit Waffen aus
alten Ostblock-Beständen ausgerüstet, um eine ihm nicht genehme Regierung in Freetown loszuwerden – vor allem deswegen, um sich den Zugang
zu Diamanten und anderen wertvollen Rohstoffen seines Nachbarlandes zu
sichern. „Sierra Leone, too, will taste the bitterness of war“, hatte Taylor
1990 gedroht. Da war er noch nicht Präsident, sondern Rebellenführer, und
er schwor Rache dafür, dass Sierra Leones damalige Regierung die westafrikanische Eingreiftruppe ECOMOG in ihrem Bemühen unterstützte, den
bereits tobenden Bürgerkrieg in Liberia zu beenden. Ein Jahr später wurde
Taylors Drohung wahr.
Wamunya Sherif gilt als einer der Hauptzeugen der Anklage. Schwer bewacht von zwei Sicherheitsbeamten sieht man Taylor in Den Haag in der
zweiten Reihe des Saales sitzen, er trägt einen eleganten blauen Anzug mit
gelber Krawatte, dazu eine getönte Brille mit Goldrand. Bei der Aussage
seines früheren Ziehsohnes verzieht er keine Miene. Neben mir sitzt der
82-jährige Bob Johnson – er lässt sich keinen Prozesstag entgehen. „Taylor hat uns hier in Sierra Leone aufs Schlimmste leiden lassen. Ich will
mir das alles ganz genau anschauen, was da in Den Haag vor sich geht.
Ich habe meinen Bruder verloren, in der Provinz, die Rebellen haben ihn
erschossen, einfach so, weil er sie nicht unterstützen wollte.“ Geschichten wie diese hört man oft in Sierra Leone. Und noch ganz andere. Geschichten unvorstellbarer Grausamkeiten, denen im Bürgerkrieg zwischen
1991 und 2002 insgesamt bis zu 120.000 Menschen zum Opfer fielen. Jeder kennt einen Ermordeten und im Zweifelsfall auch einen Mörder. John
Abu-Kpawoh hat die Welle der Gewalt damals als Teenager überlebt. Heute ist er 26, studiert Umwelttechnik und gehört zur Elite seines Landes.
Vergessen – das kann er nicht. Bis auf seine Eltern wurde die ganze Familie getötet. „Du kannst die Spuren des Krieges noch heute sehen, er ist ja
erst seit sechs Jahren vorbei. Die sichtbarsten Opfer humpeln hier in Freetown und überall im Land herum, es sind die Menschen, denen die Rebellen Hände oder Füße abgehackt haben“, sagt John. Er fängt an zu zittern.
„Oder die Frauen, die vergewaltigt oder zum Geschlechtsverkehr mit ihren
Söhnen gezwungen wurden; oder die Kindersoldaten, die Jungs und Mädchen, die heute nicht mehr wissen, was sie damals im Drogenrausch alles
getan haben. Das alles sind Dinge, die uns bekannt sind seit der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Und es ist nur folgerichtig, dass jetzt
auch Mister Taylor für diese Verbrechen verantwortlich gemacht wird.“
Dass das Sondergericht laut Mandat nur die „Personen mit der größten
Verantwortung“ anklagen kann, war anfangs schwer zu vermitteln. Aber
inzwischen hat sich herumgesprochen, dass hier ein Gericht – wenn auch
ein finanziell schlecht ausgestattetes – der Straflosigkeit den Kampf ange-
220
Sierra Leone
Alexander Göbel
sagt hat. Es gibt in Sierra Leone kaum ein Dorf, das noch nicht von Vertretern des Sondergerichts über seinen Sinn und Zweck aufgeklärt worden
ist. Auch ein Verdienst von Peter Andersen, dem Pressechef des Sondergerichts. „Die Verbrechen, die hier begangen wurden, beurteilen manche
schließlich als die schlimmsten auf der ganzen Welt seit einem halben
Jahrhundert“, erzählt Peter. Sein Büro liegt in einem der vielen weißen
Container im Hochsicherheitstrakt. Kaum einer kennt das Land so gut wie
er. Vor zwanzig Jahren kam der zurückhaltende US-Amerikaner aus Minnesota als Peace Corps Volunteer hierher. Heute ist er Ende Vierzig und
mit einer Sierra-Leonerin verheiratet. Mit ihr hat er zwei Kinder, spricht
als einer der ganz wenigen Weißen fließend Krio und lebt seit langem in
Freetown. Er zeigt mir seine brillanten Fotos und seine Homepage Sierra
Leone Web – die vielleicht beste Seite über Politik, Kultur und Geschichte dieses Landes. Sogar Original-Dokumente aus Bürgerkriegszeiten, Radioprotokolle, Kochrezepte und Redensarten auf Krio sind dort zu finden.
Über einen kleinen Bildschirm verfolgen wir die Verhandlungen in Den
Haag weiter. „Mit dem Tribunal wollen wir die Straflosigkeit in diesem
Land bekämpfen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Mit
guter Regierungsführung kann man Sierra Leone vielleicht ein paar Jahre
stabilisieren, aber das allein reicht nicht. Wenn die Politik nicht mit Recht
und Gesetz unterfüttert wird, dann bedeutet das sogar noch mehr Probleme
für die Zukunft“, warnt Peter. Immerhin: Das Sondergericht für Sierra Leone ist ein so genanntes ad-hoc-Tribunal und kümmert sich prinzipiell um
alle Fälle nach 1996 – also um eine ziemlich lange Zeitspanne seit Ausbruch des Krieges. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag dagegen darf nur Verbrechen verfolgen, die nach seiner Einsetzung geschehen
sind, also nach 2002.
Natürlich ist Taylor nicht allein für den Krieg in Sierra Leone verantwortlich, das weiß jeder in Freetown. Aber Foday Sankoh, Rebellenführer der
RUF, starb Ende Juli 2003 im Gefängnis und entging seinem Urteil, andere
mutmaßliche Schlächter wie RUF-General Sam Bockarie („General Mosquito“) oder Johnny Paul Koroma von den Rebellen der AFRC (der Boss des
Armed Forces Revolutionary Council, den alle nur „Angel“ nannten) wurden notgedrungen für tot erklärt oder sind untergetaucht. So wird der Prozess gegen Liberias Ex-Präsident Taylor zum Symbol – und zur Messlatte
für Gerechtigkeit.
Nur kann ein Gericht allein natürlich nicht die Gräueltaten und Traumata von elf Jahren aufarbeiten. „Der Idealfall – “, sagt Peter Andersen, „das
wäre eine Kombination aus internationalem Tribunal zur Strafverfolgung
der Hauptverantwortlichen, einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, sowie einer nationalen Strafjustiz, die gegen die vermeintlich kleinen
221
Alexander Göbel
Sierra Leone
Fische vorgeht.“ Aber das Sondergericht ist finanziell zu schwach ausgestattet, und von einer nationalen Justiz kann derzeit keine Rede sein,
auch knapp sechs Jahre nach Kriegsende nicht. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat zwar einen viel beachteten Bericht herausgegeben, aber wichtige Teile sind bis heute nicht umgesetzt. Und außerdem:
Hand aufs Herz – in einem Land, in dem rund 70 Prozent der Bevölkerung
weder lesen noch schreiben können, hat ein mehrere tausend Seiten starker
Text keine Durchschlagskraft.
Dennoch: Charles Taylor steht vor Gericht – auch wenn der Konflikt in
Sierra Leone mit all seinen Grausamkeiten nicht ausschließlich ein „TaylorKrieg“ war, sondern ein brutaler Wirtschaftskrieg, den man viel weiter fassen muss – und an dem noch ganz andere mitverdient haben. In Sierra Leone
gibt es nicht nur Diamanten, sondern auch Gold, Bauxit und andere Edelmetalle. Der Profit daraus ist niemals der ansässigen Bevölkerung zugute gekommen, sondern wurde von der politischen Elite in Freetown geraubt. Nun
gibt die internationale Gemeinschaft sehr viel Geld aus, um Charles Taylor
quasi symbolisch zu verurteilen. Bis spätestens Ende 2009 soll das Urteil
feststehen. Ob lebenslänglich oder nicht – das ist den Prozessbeobachtern in
Freetown nicht so wichtig. Student John Abu-Kpawoh würde selbst gerne in
Den Haag gegen Taylor aussagen – und dem Mann in die Augen sehen, der
ganz Westafrika destabilisiert hat: „Was ich ihm sagen würde?“ John ballt
die Faust, sein Gesicht verfinstert sich. „Ich würde ihm gerne sagen: Sie haben die Jugend von Sierra Leone zerstört. Aber nicht nur das! Mister Taylor,
Sie waren der größte Financier dieses Krieges. Sie sind auch daran schuld,
dass wir den letzten Platz auf dem Human Development Index belegen. Die
Infrastruktur ist einfach total zerstört durch den Krieg! Viele Menschen hatten nie Gelegenheit, zur Schule zu gehen. Dazu kommen die Vertriebenen
und die Flüchtlinge usw. – die Liste ist lang. Und deswegen bin ich froh,
dass Sie vor Gericht stehen.“
Reicht das, um die Toten zu sühnen und den Überlebenden in Sierra Leone genüge zu tun? Wer zahlt Entschädigung an die Verstümmelten, die
Vergewaltigten, die Kriegswitwen? Der Staat ist pleite, der Haushalt am
Boden, Paragraphen kann man nicht essen. Und einem eingesperrten Taylor geht es allemal besser als einem freien Bauern im Hinterland von Bo,
Kenema oder Kailahun. Ich spüre, dass Gerechtigkeit und Versöhnung von
diesem Gericht nur in „technokratischer“ Hinsicht zu erwarten sind – für
etwas anderes ist es nicht geschaffen. Ich lasse mich an diesem Tag noch
beeindrucken vom souveränen Eindruck der UN – hier, hinter Mauern und
Stacheldraht. Doch die Justiz ist keineswegs so klinisch, so antiseptisch,
wie ich es hier vermute. Noch habe ich nicht die geringste Ahnung, was bei
meiner Reise in die Provinz auf mich wartet – und das ist zu diesem Zeit-
222
Sierra Leone
Alexander Göbel
punkt auch gut so. Vielleicht ahnt auch Peter Andersen, dass ich nach ein
paar Wochen anders über „Gerechtigkeit“ denken würde – und lädt mich
am Abend zu sich und seiner Familie nach Hause ein. Seine Frau sei berühmt für ihre Cassava Leaves.
4.2 War Beyond Reason – Der Krieg als Schwarzes Loch
Kriegs-Erklärung. Die Ereignisse zu ordnen und zu verstehen, ist eine
beklemmende Zeitreise. Aber ich muss es versuchen. Andererseits sind TShirts mit dem Aufdruck „Don’t Mention the War“ gerade sehr in Mode,
und sie geben die schnoddrige Antwort auf die dringendste – und auch
die naivste – aller Fragen der Neuankömmlinge: Warum? Und Fragen stelle
ich viele, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Doch TaylorProzess hin oder her: „It’s a pity. Time to move on“, winken die Männer in
den Kneipen vor dem Fisch-Hafen in Goderich ab, und auch die Frauen in
den Nähstuben entlang der Kissy Road. It’s a pity? Offenbar will in Sierra
Leone niemand mehr wirklich über den Krieg reden – präsent ist er sowieso, überall. Auch mitten in Freetown. Viele Gebäude in der Innenstadt weisen riesige Einschusslöcher auf, die riesige ehemalige Stadtverwaltung steht
seit dem Rebellenangriff vom 6. Januar 1999 leer – ein grauer, zerschossener, stiller Zeuge der Gewalt. Eingekapselte Vergangenheit, drum herum
geschäftiges, chaotisches Treiben. Straßenlärm, Abgase, der Geruch von
Fisch, bunte Stoffe, Obst, Schuhe, petty trading – eigentlich wie in jeder afrikanischen Stadt. UNAMSIL, mit rund 15.000 Mann damals größte Blauhelmtruppe der Welt, wurde inzwischen abgezogen, aber die Vereinten Nationen bauen mit der wesentlich kleineren Mission UNIOSIL weiter an den
friedlichen Strukturen des Landes. Nach wie vor ist das Mamy Yoko Hotel
in Aberdeen das Zentrum der internationalen Friedenstruppe. Die unzähligen Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen dominieren das Stadtbild, die
neue US-Botschaft ist auf dem Leicester Peak hoch über der Stadt ebenso
wenig zu übersehen wie IMATT mit seinen Fahrzeugen und einem beeindruckenden Kasernenkomplex. Das „International Military Assistance and
Training Team“ ist nicht mit den UN-Blauhelmen zu verwechseln und steht
unter britischer Führung. Gegründet wurde IMATT nach dem Kampf der
„Special Air Forces“ gegen die letzten Reste der Rebellen in Freetown. Die
Militärberater bauen die sierra-leonische Armee auf – bei mir bleibt aber
nicht zuletzt wegen des berüchtigt ruppigen Auftretens von IMATT-Vertretern immer ein fader Beigeschmack des (Post-)Kolonialismus.
Ich beobachte ihn lange vom Balkon eines Cafés in der Charlotte Street,
Ecke Lightfoot Boston, bevor ich beschließe, ihn zu treffen: „Ach, das ist
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Alexander Göbel
Sierra Leone
der ‚Cowboy‘, jeder kennt ihn“, erfahre ich vom Nachbartisch. Er ist ein
wandelndes Mahnmal. Jeden Tag wandert er durch die Innenstadt von Freetown. Perfektes Cowboy-Outfit. Dunkelgrüne Hose, schwarze Stiefel, dunkle Lederweste mit Fransen, schwarzer Stetson. Nur ein Lasso schwinge er
nicht mehr, sagt der hochgewachsene 47-Jährige, der eigentlich Franklin
heißt, aus Kenema stammt und nach reichlich Palmwein riecht. Seine unfassbar sarkastische Art, damit fertig zu werden, dass er keine Hände mehr
hat. Übrig sind nur zwei Stümpfe, deren frische, strahlend weiße Verbände
sich vom Rest der dunklen Erscheinung abheben – ein eigentlich unmöglicher Anblick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt und in den
Augen schmerzt wie Magnesiumfeuer. Der „Cowboy“ war einmal Regierungsbeamter, und er soll der Allererste gewesen sein, an dem der AFRC
damals am 6. Januar 1999 beim Marsch auf die Stadt ein Exempel statuiert
hat. Überprüfbar ist das nicht – aber Zehntausende sollten seinem Schicksal
folgen. Heute ist „Cowboy“ zum Betteln gezwungen, wie auch viele andere
Amputees in Downtown. „How de day, bro?“ „Wie geht’s Dir heute?“ „Oh,
Sah, small small.“
Was die eher zufällige Begegnung mit Franklin bedeutet, wird mir erst
am Abend klar. Er ist einer von vielen. Aber sein Leben markiert die Zeitläufte, denn „Cowboy“ ist ziemlich genau so alt wie sein Land frei ist. Am
27. April 1961 erlangt Sierra Leone nach 153 Jahren kolonialer Herrschaft
die offizielle Unabhängigkeit. Die kommenden 30 Jahre bis zum Ausbruch
des Bürgerkriegs sind vor allem von Militärumstürzen, Korruption und
Wahlbetrug gekennzeichnet. Ethnisches Bewusstsein wird politisiert: Appelle an die ethnische Zugehörigkeit erweisen sich als der einfachste Weg,
um Wählerstimmen zu gewinnen. Plötzlich ist es wichtig, ob man zu den
Mende gehört (vertreten vor allem im Süden und Osten, außer im Distrikt
Kono), den Temne (vor allem aus der Nordprovinz), den Limba, den Krio
oder anderen.
Der gebürtige Limba Siaka Stevens nutzt diese neue Form der Spaltung
aus. Er gründet die Einheitspartei All People’s Congress (APC) und regiert
das Land als erster Präsident von 1968 bis 1985. Während seiner Amtszeit
dienen die Ressourcen des Landes vor allem dem privaten Vorteil einer herrschenden Minderheit.
Die Folge: Die Gesellschaft bricht auseinander. Korruption, hohe Arbeitslosigkeit, die dramatische Zunahme von Drogenabhängigkeit, Analphabetismus und die zunehmende Militarisierung schaffen ein gesellschaftliches
Klima, das den Ausbruch des Krieges im Jahr 1991 begünstigt. Die Menschen haben bald nichts mehr zu verlieren. Präsident Stevens kommentiert
den Zustand des Landes lapidar mit den Worten: „Bildung ist kein Recht,
sondern ein Privileg.“ Kaum jemand hat über diese Zeit besser und sensibler
224
Sierra Leone
Alexander Göbel
geschrieben als Aminatta Forna in ihren bedrückenden Kindheitserinnerungen „The Devil that Danced on the Water“. Aminattas Vater, der Arzt Mohamed Forna, wird in dieser Zeit Finanzminister und tritt bald darauf wieder
zurück. In einem öffentlichen Brief, der in Sierra Leone kontrovers diskutiert wird, prangert er die unvorstellbare Korruption innerhalb der Regierung
an. Ermordet wird er im Juli 1975. „Wer weiß, wo Sierra Leone heute wäre,
hätte dieser Mann überlebt“, höre ich immer wieder, wenn ich das Gespräch
auf Mohamed Forna lenke.
„Stattdessen steuert das Land in den Siebziger Jahren aufs Chaos zu“, erzählt Lamin, der vom Taxifahrer und Krio-Übersetzer längst zum Freund
geworden ist. Es ist eine Geschichte, die zumindest in ökonomischer Hinsicht an den Niedergang Simbabwes erinnert. Stevens‘ Nachfolger ist auch
ein Militär: Joseph Momoh, ebenfalls von der Mende-orientierten APC, erklärt bald den wirtschaftlichen Notstand – nur, um sich selbst und seinen
korrupten Beratern einen besonderen Zugang zu Sierra Leones Ressourcen
zu sichern. „Die Leute haben schnell erkannt, dass Momoh zu schwach ist,
um das politisch auseinanderdriftende Land zusammen zu halten“, sagt Lamin. Wir stehen mit seinem rostigen alten Toyota Corolla im Stau auf der
Kissy Road und haben viel Zeit. „Die Währung verliert drastisch an Wert,
Sierra Leone kann Ende der Achtziger Jahre kein Benzin mehr importieren, es kommt zu ersten langen Stromausfällen - Wasserkraft, wie sie heute im Süden von Freetown genutzt wird, war damals noch ein Fremdwort.“
Im September 1991 erklärt sich Momoh bereit zu einer neuen Verfassung,
die die Einparteienherrschaft des All People’s Congress beenden soll. Aber
es ist zu spät – der Bürgerkrieg hat schon begonnen. Im März 1991 greifen Verbündete von Charles Taylor unter Führung des in Libyen militärisch
ausgebildeten Armee-Hauptmanns Foday Sankoh zwei Dörfer im Grenzgebiet zwischen Liberia und Sierra Leone an. Es ist die Geburt der Revolutionary United Front (RUF). Sie terrorisiert die Bevölkerung und demoralisiert die schlecht ausgerüstete und unmotivierte Armee. Die RUF hat im
Verlauf des Krieges mindestens 20.000 Rebellen unter ihrem Kommando,
wenn nicht mehr. Auch wenn sie noch zu Beginn des Krieges verkündet,
sie wolle die herrschende Elite zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums zwingen, wird doch bald klar, dass mit dem Krieg lediglich eine neue
Runde im Kampf um die natürlichen Ressourcen des Landes begonnen hat.
Um jeglichen Widerstand zu brechen, geht die RUF äußerst brutal vor. Ihre
Handschrift ist die Verstümmelung der Zivilbevölkerung mit Macheten und
Äxten. Bald kontrolliert die RUF die Diamantenminen im Kono-Distrikt,
rückt immer weiter nach Westen vor und drängt die sierra-leonische Armee
zurück nach Freetown. Die Geschichte dieser Zeit erzählt der bewegende
Hollywood-Film „Blood Diamond“ mit Leonardo Di Caprio. Lamin hat den
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Alexander Göbel
Sierra Leone
Film noch nicht gesehen – er würde ihn zu sehr an einen seiner Brüder erinnern, der damals im Busch von den Rebellen erschossen wurde.
Parallel zum Kriegsbeginn geht der Kampf um die Macht in Freetown
weiter. 1992 putschen junge Armeesoldaten und bringen Captain Valentine
Strasser an die Macht. Beim Kampf gegen die RUF erweist sich Strassers
Nationaler Übergangsrat (NPRC) als ebenso schwach wie die Regierung
Momoh. Daher heuert NPRC private Söldner der schon in Angola sehr erfolgreichen südafrikanischen Firma Executive Outcomes an – mit Erfolg.
Die RUF wird zunächst an die Landesgrenzen zurückgedrängt. Dafür macht
sich Executive Outcomes in der Diamantenregion breit.
1996 finden Wahlen statt, die der Zivilpolitiker Ahmed Tejan Kabbah von
der Sierra Leone People’s Party (SLLP) gewinnt. Er handelt mit der RUF
das Friedensabkommen von Abidjan aus, doch die RUF will sich nicht entwaffnen lassen und wartet mit dem Bruch des Waffenstillstands nicht einmal, bis die Tinte auf dem Vertrag trocken ist. Deshalb nennt Peter Andersen
vom Special Court das Abkommen von Abidjan auch den „ill-fated peace
accord“. Nun beginnt die dunkelste Phase des Krieges – die Zeit der Militärjunta. Der „Armed Forces Revolutionary Council“ (AFRC) von Major Johnny Paul „Angel“ Koroma verbündet sich mit Foday Sankohs RUF und jagt
Präsident Kabbah 1997 aus dem Amt. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) schickt ihre ECOMOG-Truppen unter nigerianischer Führung. Ein Jahr später wird Koroma von ECOMOG gestürzt, Kabbah wird wieder als Präsident eingesetzt. Trotzdem – oder gerade deshalb
– überziehen die Rebellen der RUF und des AFRC das Land mit einer Terrorwelle, unter der vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hat.
Die RUF kontrolliert 1999 bereits den Norden und den Südosten Sierra Leones. Die auf 17.000 Mann verstärkte ECOMOG und die mit ihr
verbündeten Kamajor-Stammesmilizen, die „Civil Defense Force“ unter
der Führung von Samuel Hinga Norman, können nicht verhindern, dass
die AFRC und RUF am 6. Januar große Teile Freetowns erobern und ein
blutiges Massaker anrichten. Der Überfall auf die Hauptstadt ist als „January Six Invasion“ in die Geschichte Sierra Leones eingegangen. Dabei kommen mehr als 4.000 Menschen ums Leben, Tausende werden verstümmelt, 200.000 Menschen müssen fliehen. „Wir wussten nicht, was
passiert“, sagt Lamin, „wir waren in der Wohnung, draußen wurde den
ganzen Tag und die ganze Nacht geschossen. Nach ein paar Tagen hatten
wir nichts mehr zu essen. Aber wenn Du auf der Straße erwischt wurdest,
warst Du tot. Hier ist übrigens das Pademba Road Prison, aus dem sie damals Johnny Paul Koroma befreit haben.“ Wenige Wochen nach January
Six wird die Hauptstadt von ECOMOG zurückerobert. Die nigerianisch
geführte Truppe bereichert sich an der sierra-leonischen Kriegswirtschaft
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Sierra Leone
Alexander Göbel
und bringt auch einige Diamantenfelder unter ihre Kontrolle. „ECOMOG
– Every Car or Moveable Object Gone“, sagt Lamin hinter vorgehaltener
Hand. Ein zynisches Akronym der Armee, die eigentlich doch den Sierra
Leonern helfen sollte.
„Das musst Du Dir ansehen!“ An einem der improvisierten music stores
in der Innenstadt besorgt Lamin für mich die unter dem Ladentisch gehandelten Videos von erschreckend brutalen Originalaufnahmen des January
Six, und natürlich auch „Cry Freetown“ – Sorious Samuras viel beachtete
Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen, die nicht nur die Rebellen, sondern auch ECOMOG im Namen der Freiheit begangen haben. „Cry
Freetown“ habe ich inzwischen gesehen, aber die anderen DVDs mit dem
Rohmaterial des Kriegs stehen bis heute wie eingesperrte, böse Geister im
Regal – und dort werden sie wohl auch bleiben.
Unter internationalem Druck unterzeichnen Kabbah und RUF-Führer
Sankoh im Juli 1999 den Friedensvertrag von Lomé. Friedenstruppen der
ECOMOG und der UN kommen ins Land, UNAMSIL, die Friedensmission der Blauhelme für Sierra Leone, wird gegründet. Leider ist sie zu diesem Zeitpunkt nur 6.000 Mann stark, denn als ECOMOG im April 2000
abzieht, bricht die RUF erneut den Waffenstillstand. Bei dem Versuch,
zur Befriedung des Landes die ersten Kontingente von UN-Truppen in
die Diamantengebiete zu entsenden, werden im Mai 2000 mehr als 500
Blauhelme von der RUF gefangen genommen. Der UN-Sicherheitsrat erhöht die Truppen auf über 13.000. England schickt Elitetruppen, um die
Europäer zu evakuieren und einen erneuten Vormarsch der RUF-Rebellen
auf Freetown zu verhindern, Foday Sankoh wird verhaftet und stirbt später
im Gefängnis.
Nach massivem Druck der UN willigen die Kriegsparteien 2001 in Friedensverhandlungen ein, und mit dem Vertrag von Lomé sind die Kämpfe zu Ende. Am 18. Januar 2002 wird der Krieg offiziell für beendet erklärt. Im Mai 2002 finden freie Wahlen statt und Präsident Kabbah von der
SLPP wird mit 70 % der Stimmen wiedergewählt, die Partei der ehemaligen
Rebellen RUFP (Revolutionary United Front Party) gewinnt keinen einzigen Sitz. Im Juli 2002 nimmt die Wahrheits- und Versöhnungskommission
(TRC) ihre Arbeit auf. Nach südafrikanischem Vorbild und auf Drängen der
UN eingesetzt, soll sie die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges dokumentieren und damit zur Versöhnung beitragen. In einem
ersten Schritt hat die Kommission mehr als 8.000 Aussagen gesammelt. Der
Friedensvertrag von Lomé gewährt den Tätern eine Generalamnestie, von
der nur die Haupttäter ausgenommen sind. Im gleichen Jahr autorisiert UNGeneralsekretär Kofi Annan auf Antrag der Regierung von Sierra Leone die
Einrichtung des Sondergerichtes für Sierra Leone.
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Sierra Leone
„Nightmare, huh?“, fragt Lamin und schüttelt den Kopf. Es klingt alles wie ein unfassbar böses Märchen, das wahr geworden ist. Die Fakten muss man sich mühsam zusammenklauben, aber sie sind wenig greifbar. Sie rinnen einem gewissermaßen durch die Finger, weil der Verstand
sich weigert, die Wahrheit anzunehmen. Und weil er ahnt, was sich hinter
der Nüchternheit verbirgt. Der Krieg als Schwarzes Loch – elf Jahre lang
haben Gewalt und die Gier nach Macht und Ressourcen alle Energie eingesaugt, die Gesellschaft ist geistig und moralisch völlig aus den Fugen
geraten. Nun ist der Krieg vorbei, aber der Kampf um Macht und Diamanten geht weiter, und die Menschen kämpfen weiter. Ums Überleben, um
ihre Würde.
Gedankenverloren höre ich, wie Lamin das Gespräch auf die perspektivlose Jugend des Landes lenkt. Er selbst würde gerne studieren oder eine
Ausbildung machen, am liebsten irgendwas mit Computern. Aber das Geld
fehlt, und Jobs gibt es auch nicht. Außerdem hat er Verantwortung für seinen
Bruder. Seine Mutter ist nach wie vor in der Provinz, seit dem Krieg hat er
sie nicht mehr gesehen. Und sie weiß nicht, dass er noch lebt.
4.3 Iron Gate – Reise zum Mittelpunkt des Krieges
Den ganzen Tag haben sie schon auf mich gewartet – in der feuchten Hitze, bei gut und gerne 30 Grad im Schatten. Ich bin untröstlich, aber meine
Entschuldigung kann ich schon nicht mehr vorbringen, denn sie singen für
mich. „Peace, Love and Harmony!“. Ich bin in der Nähe von Kenema, eine
beschwerliche Tagesfahrt östlich von Freetown – die Straßen verdienen diesen Namen nicht, aber immerhin ist gerade keine Regenzeit. Auf einem Feld
in Hanga Town werden Süßkartoffeln geerntet, und schon das ist ein kleines
Wunder. Denn hier arbeiten keine gewöhnlichen Bauern, sondern Opfer des
Bürgerkriegs – rund 80 kriegsversehrte Männer und Frauen, denen Arme,
Hände, Beine, Ohren oder Lippen fehlen. Verwundet von den Kugeln oder
den Macheten der Rebellen.
„These are your brothers and sisters in Africa!“, ruft der Dirigent des
wuchtigen Chors. Die Gruppe schmettert „Peace, Love and Harmony” – einen so bewegenden Willkommensgruß habe ich noch nie erlebt. Krücken
klacken, ich blicke in inbrünstig singende Gesichter von Männern, Frauen,
Jungen und Alten. Ich verdrücke Tränen.
Der Dirigent heißt Solomon Cooper, er ist der Vorsitzende der Gruppe.
Ein Multitalent: Er kennt sich nicht nur bestens mit Landwirtschaft aus, sondern zeichnet, malt und singt mit seinem wunderschönen Bass, wann immer
er Zeit hat. Die rechte Gesichtshälfte ist verbrannt, ihm fehlen der rechte
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Sierra Leone
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Arm und das rechte Ohr. Reden möchte er darüber nicht. Denn vor allem ist
Solomon stolz auf seine Leute – und das Wort „Opfer“ gehört nicht zu seinem Wortschatz. „Wir fühlen uns hier wieder wie ganz normale Menschen“,
erklärt er, „wir waren Farmer, bevor das alles passiert ist, und wir sind es
heute wieder. Das gibt uns Kraft, und das ist das Wichtigste. Wenn Du mich
hier siehst, wie ich mit der Schaufel und der Machete den Boden bearbeite,
dann ist das ein Zeichen, dass es aufwärts geht mit uns. Auch wenn es anstrengend ist. Aber wir fühlen uns sehr gut dabei.“
Einen Hektar haben die Frauen und Männer bereits mühsam von Gestrüpp
befreit und Beete angelegt. Hacken, Schaufeln, Saatgut und Know-how hat
die GTZ gestiftet, die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Das Ackerland hat die Gemeinde zur Verfügung gestellt. Und wie in
Freetown spielen die Amputees Fußball – sie waren sogar schon bei einem
von der GTZ organisierten Turnier dabei.
Ein junger Mann mit rotem T-Shirt und verdreckter Jeans schubst mich an
und deutet mit dem Daumen auf sich. „I’m a power forward“ – „Stürmer“,
ganz recht. Ich muss ihn ziemlich ungläubig angeschaut haben, denn er lächelt mich an und nickt eifrig. Sein Name ist Tommy Idrissa, er ist Mitte 20.
Wie die anderen Männer auf dem Acker versinkt er mit seinen Krücken im
sandigen Boden, aber das stört ihn nicht. Viel schwerer fällt es ihm, über
damals zu reden – als er sechzehn war, und als der Krieg in sein Dorf kam.
Aber wann kommt schon mal ein „Stranger“, der ihnen zuhören will? „Die
Rebellen haben mich erwischt“ sagt er. „Wir rannten um unser Leben, ein
paar meiner Freunde wurden erschossen. Mich haben sie gefangen genommen. Ich wollte nicht als Soldat für sie kämpfen, ich wollte zur Schule gehen. Da haben sie mir mein rechtes Bein abgeschnitten.“
Long Sleeve or Short Sleeve – Langer Ärmel oder Kurzer Ärmel? Das war
die gängige und doch unfassbare Frage vieler Täter an ihre Opfer, wenn es
um das Abschneiden der Hände oder der Arme ging. Andere Rebellengruppen hatten sich auf den raffle draw spezialisiert: Das Opfer musste ein Los
ziehen. Auch bei Tommy war das so. „Ich hatte die Wahl. Erblinden – dann
bekam man flüssiges Plastik ins Auge. Oder sie würden mir das rechte Bein
oder den linken Arm abschneiden, oder, wenn man die Vier zog, wurde man
direkt erschossen. Darauf hatte ich damals gehofft, ehrlich. Aber ich habe
die Zwei gezogen.“ Ich lege mein Mikrofon zur Seite und atme tief durch.
Tommy klopft mir auf die Schulter und fragt, ob ich okay bin. Ich – okay?
Die Soldaten hackten Tommys Bein mit einer stumpfen Axt ab – „so wurde
der Schmerz noch größer. Sie mussten ganz schön oft zuschlagen, so leicht
habe ich es ihnen nicht gemacht.“ Er hatte unvorstellbares Glück, dass ihn
bald die Kamajors fanden und ins völlig überfüllte Choitram’s Krankenhaus
nach Freetown brachten – sonst wäre er an Ort und Stelle verblutet.
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Alexander Göbel
Sierra Leone
Fatima, eine der wenigen Frauen in der Runde, hört aufmerksam zu – sie
kommt aus Tommys Nachbardorf. „Als der Krieg 1991 begann, wurde mein
Dorf als eines der ersten angegriffen“, berichtet sie. „Die Rebellen haben
mich erwischt, und ich wurde von einer Kugel getroffen. Ich bin froh, dass
ich nicht verblutet bin, aber dafür musste man mir mein Bein abnehmen. Ich
war 15 damals, und es war schlimm für mich.“ Sie vertraue auf Gott, sagt sie,
ihre Familie gebe ihr Kraft und Selbstvertrauen – auch wenn sie wohl nie das
Geld für eine Prothese haben werde. „Weißt Du, mein Leben ist sehr viel besser, seit ich hier auf der Farm bin.“ Solomon nickt und mischt sich ein. „Du
wirst niemals einen von uns sehen, der bettelt. Hörst Du, niemals! Das wären
dann jedenfalls Leute, die nicht zu uns gehören, wir tun so etwas nicht.“
Viele Schlächter von damals sind bekannt, und sie leben heute sogar in
der Nachbarschaft. Schwer zu ertragen für die meisten, aber eine bittere
Realität, mit der die Menschen überall in Sierra Leone klarkommen müssen. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat viel wichtige Arbeit geleistet und Täter und Opfer miteinander ins Gespräch gebracht. Die
Wahrheit liegt auf dem Tisch. Doch zur Versöhnung ist es noch ein sehr
weiter Weg. „Wir trösten uns gegenseitig“, sagt Solomon. „Wenn wir hier
arbeiten, dann denken wir nicht über unsere Behinderungen nach oder über
Entschädigung. Wir reden uns auch nicht ein, dass wir Amputees sind oder
Kriegsversehrte. Das sind wir nur in den Augen der vermeintlich Gesunden.“ Und dann hakt er mich unter und zeigt mir stolz die Baustelle – ja,
es wird gebaut auf dem Gelände. Bald werde es auf dem „Amputee Peace
Drive“ mehr als 20 ordentlich gemauerte Steinhäuser aus Beton geben,
eine echte Gemeinde werde hier entstehen. Und dann schiebt er nach: „You
know, I’ll be a landlord soon!”. Er lächelt. „Das bedeutet, sie können mich
hier nie mehr rausschmeißen.“
Als Gast in Hanga erfahre ich eine besondere Ehre – ich bekomme einen
sierra-leonischen Krio-Namen. „Ab heute bist Du Ngor Joe“, sagt Solomon,
„Bruder Joe, der älteste Sohn der Familie.“ Die Gruppe freut sich mit mir,
um dann noch einmal ein Lied zu schmettern. „Es ist ein consolation song“,
übersetzt Solomon feierlich. „Lasst uns einander vergeben. Ich meine – die
Rebellen, das sind doch unsere Brüder. Und die Civil Defense Force, die
Kamajors, das sind genauso Kämpfer für unsere Sache gewesen wie die Soldaten der Regierung. Wir haben miteinander und gegeneinander gekämpft,
aber wir gehören doch zusammen. Lasst uns zu Gott beten, damit wir endlich Frieden haben und einander vergeben können.“
Solomon unterschlägt – wissentlich oder nicht – die Tatsache, dass viele
Kamajors durchaus auf beiden Seiten der Front agiert haben – als „Sobels“:
Tagsüber waren sie Soldaten, nachts Rebellen. Gegen Kabbah, für die sierraleonische Armee, gegen die RUF. Und mit der Charta der Menschenrechte
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Sierra Leone
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unter dem Arm liefen auch sie nicht herum. Aber darauf kommt es Solomon
auch nicht mehr an, es geht ihm um Versöhnung. Der Abschied fällt schwer.
Unzählige Krücken wirbeln durch die Luft. Arme ohne Hände winken, als
ich in den Jeep einsteige. Ngor Joe schweigt. Er wird wiederkommen.
Weiter geht es auf Schlammpisten durch den dichten Urwald. Wir wollen noch bis nach Koindu, ins Grenzgebiet zu Guinea und Liberia. Auf dem
Weg zwingt uns ein geplatzter Bremsschlauch am rechten Vorderrad zum
Halt im kleinen Örtchen Talia – ein Straßendorf wie unzählige andere. Eine
Schule, ein Sportplatz, ärmliche Behausungen. Die Bevölkerung lebt, wie
fast im ganzen Land, von der Landwirtschaft. Auch hier Obst- und Gemüsestände mit Mangos, Orangen, Ananas, Zwiebeln, Gurken, Süßkartoffeln, Kochbananen. Ein paar Meter weiter werden Kakaobohnen zum Trocknen ausgebreitet. Wir müssen warten, bis aus Kenema ein Ersatzteil für den
Landcruiser kommt, und das kann dauern. Zusammen mit Philip, einem
meiner Begleiter, mache ich einen Rundgang durchs Dorf. Überall Kinder
mit laufenden Nasen, löchrige und verdreckte Kleidung. Apathische Männer hocken im Schneidersitz am Feuer und trinken Tee. Sie nicken wortlos.
„You can see they are not well“, flüstert mir Philip ins Ohr. Das ganze Dorf
ist mangelernährt. Der Rauch beißt in den Augen – viele Frauen kochen das
Mittagessen am offenen Feuer, meist erkennt man in den Töpfen den nur
bedingt nahrhaften Klassiker: Maniokblätter und Reisbrei. Farmer Steven
Goba kommt gerade aus dem Sumpf, den er und seine Nachbarn seit Monaten mühsam von Gestrüpp befreien. Hier soll eines Tages wieder Reis angebaut werden.
„Alles zugewuchert. Als die Rebellen kamen, sind wir alle aus den Feldern in den Busch geflohen, wir haben alles liegenlassen, und so sehen die
Felder dann auch aus, wenn sie ein Jahrzehnt brachliegen!“ Mit der ganzen
Familie ist er damals weggerannt, mit Vater, Mutter, seiner Frau und den drei
Kindern. 1992 muss es gewesen sein. „We went to the bush“, sagt Steven.
Kaum vorstellbare zwei Jahre war der Urwald das Zuhause der Gobas – das
Dorf war von den Rebellen belagert, eine Rückkehr zur falschen Zeit wäre
lebensgefährlich gewesen. „Als der Krieg endlich vorbei war und wir zurück
konnten, war der ganze Ort so gut wie zerstört.“ Wenn man sich umschaut,
erkennt man, dass die meisten Häuser eigentlich relativ neue Lehmhütten
sind – eckige Konstruktionen von rund vier mal vier Metern, zusammengehalten von Holzgerüsten, Palm- und Strohdächern. Die alte Art des Häuserbaus – eine Notlösung. Vor dem Krieg standen hier richtige Häuser aus
Ziegelsteinen. „Die hatten wir hier selbst hergestellt“, erzählt Steven Goba
nicht ohne Stolz, „aus Lehm, Sand und Kuhdung. Ein paar von uns haben
davon sogar leben können. Aber dann kamen die Rebellen.“ Ob ich den Ausdruck „to raise the house“ schon einmal gehört habe, will er wissen. Als ich
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Alexander Göbel
Sierra Leone
verneine, zieht er mich zu einer nackten Bodenplatte aus Stein. „Hier stand
früher unser Haus. Sechs Monate habe ich daran gebaut. In einer Nacht war
alles zerstört. They did raise the house.“ Die Ziegel sind zwar stabil, aber sie
werden nach alter Tradition nur getrocknet, nicht gebrannt. Bei einem Feuer
zerbröseln sie wie altes Weißbrot. Schätzungsweise 800 Häuser wurden in
wenigen Tagen in Talia vernichtet.
„Niemand hier hat verstanden, worum es ging. Die Rebellen haben uns
gesagt, dass sie uns aus der Sklaverei befreien wollten. Aber das Gegenteil
war der Fall – sie haben uns getötet, amputiert, unser Leben zerstört“, erzählt der Farmer verbittert. „Jedes Mal, wenn ich etwas über den Krieg höre,
werde ich wütend, denn das erinnert mich an damals. Vergessen ist sehr
schwer, aber wir arbeiten hart, damit uns das eines Tages gelingt.“ Natürlich
lebe er Tür an Tür mit den ex-combattants, den Rebellen von damals. „Auch
in meiner Familie gab es Männer, die für die RUF kämpfen mussten – mein
Schwager und zwei meiner Cousins.“ Vielleicht, sagt Steven, seien sogar die
Leute darunter, die sein Haus angezündet haben. Dagegen könne er nichts
tun. Viele seien schließlich als Kinder zum Dienst an der Waffe gezwungen
worden. „Und außerdem brauchen wir hier jede Arbeitskraft, die wir kriegen
können, damit wir nicht verhungern.“ Sollte die Not nach dem Krieg etwa
als „Versöhnungsbeschleuniger“ funktionieren? Mir schwirrt der Kopf.
„Uns bleibt ja nichts anderes übrig.“ Steven zuckt mit den Achseln. „Natürlich ärgert es mich, dass die Ex-Rebellen für ihre Entwaffnung und Demobilisierung Geld bekommen haben. Aber wir haben doch weiß Gott genug
gekämpft in diesem Land. Heute bin ich sehr glücklich, denn ich habe Palmen angepflanzt, um Palmöl herzustellen. Ich kann meine Familie einigermaßen ernähren, und nur das zählt.“ Wir verabschieden uns von Steven. „Ich
habe hier noch nie Politiker aus Freetown gesehen, sag’ denen das, wenn Du
sie triffst!“, gibt der Farmer mir mit auf den Weg. Endlich kommt ein Mechaniker mit dem Bremsschlauch, und es geht weiter Richtung Osten.
Wir fahren durch Segbwema, eine der größeren Siedlungen im KailahunDistrikt, der östlichsten Region des Landes. Philip erzählt mir von den Massengräbern, die in dieser Gegend verstreut sind. Wir sind auf dem Weg ins
Zentrum der RUF, in ihr ehemaliges Rückzugsgebiet. Hier hat der Krieg begonnen, und hier ging er auch zu Ende. Kailahun war 2002 der letzte Distrikt, der nach der Entwaffnung für „sicher“ erklärt wurde. Plötzlich macht
die Hauptstraße eine scharfe Linkskurve. Vor uns steht mitten auf der Fahrbahn ein alter, verrosteter und ausgeweideter Panzer vom Typ T 35. Seine Bedrohlichkeit hat sich zu einer postmodernen Kriegs-Ikone verwandelt.
Die Fahrketten sind abmontiert, wie alle anderen beweglichen Teile. Auf
dem Kanonenrohr hängt eine alte Unterhose. Der Panzer erscheint mir wie
eine absurde Ortsmarke, ein stummer Zeuge des Horrors. Irgendein Witz-
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Sierra Leone
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bold hat ein Schild an die Außenwand des zerschossenen Führerstands geklebt: Tank for sale.
Früher war der in den Dreißiger Jahren gegründete International Market
der Mano River Union im Dreiländereck von Koindu der wichtigste Umschlagplatz für Waren aus ganz Westafrika. Ein Ort der Begegnung, der auch
einen kulturellen Austausch zwischen Sierra Leone, Liberia, Guinea, und
sogar der Elfenbeinküste und dem Senegal ermöglichte. Nach Kriegsausbruch gingen nur noch Waffen aus Liberia über die Grenze. Heute ist das
verwüstete Gebiet wie ausgestorben – von Mörsergranaten zerstörte Häuserreihen und die Ruinen der alten Markthallen erinnern an bessere Zeiten. Die Europäische Union und andere Geber versuchen derzeit, den Markt
wiederzubeleben. Doch außer Obst und Cassava haben die Bauern heutzutage nicht viel zu verkaufen. Noch nicht. Dabei wächst Maniok überall und
gehört zu den Grundnahrungsmitteln. Wenn Erntezeit ist, so wie im Moment, haben die Bauern ein Problem: Wohin damit? In der Erde lassen kann
man die dicken, rübenähnlichen Wurzeln am Ende der Reife nicht – sie werden hart und schimmeln. Verkaufen lassen sie sich auch nicht gut, denn sie
sind geerntet nicht lange haltbar. Was in Sierra Leone fehlt – eigentlich gilt
das für alle möglichen landwirtschaftlichen Produkte – ist das Know-how
zur Verarbeitung. Im Buschdorf Tomandu, unmittelbar an der Grenze zu Liberia, ist die GTZ zu Hilfe gekommen: Die kleine Gemeinde am Ende der
Welt kann seit kurzer Zeit ihre Maniok-Ernte zu Garri verarbeiten – einer
Art Trockenpulver aus der Maniokwurzel, das mit Wasser oder Milch angerührt wird. Sogar Fufu lässt sich damit zubereiten. Der Vorteil: Garri ist lange haltbar, und er lässt sich, in kleine Beutel abgepackt, bestens verkaufen
– je nach Saison und Nachfrage zu einem höheren oder niedrigeren Preis. In
Tomandu ist das erstaunlicher- und erfreulicherweise Frauensache. Schnell
erfahre ich, warum: Sie sind in der Überzahl – von 280 Einwohnern im Dorf
sind 170 Frauen. Viele Männer sind im Krieg umgekommen.
Mit einer kleinen Maschine, die aussieht wie eine große Käsereibe, zerkleinern die Frauen die Wurzeln, anschließend werden die Pellets in einem
mehrstufigen Verfahren am offenen Feuer getrocknet. Natürlich wollen mir
die Männer des Dorfes das alles erklären – was den Frauen gar nicht gefällt.
„Das ist unser Projekt!“, schimpft Amifa Tomah und zeigt auf die anderen
zehn Frauen, die mich mit großen Augen umringen. Wir haben Mühe, die
Gruppe zu beruhigen. „It’s a very chauvinistic society around here“, flüstert Mabinty, die Projekt-Mitarbeiterin. Immerhin: Die Frauen von Tomandu
schaffen Arbeitsplätze und sorgen in ihrem Dorf für Einkommen. Binnen eines Jahres haben sie mit ihrem „Exportprodukt“ Garri mehrere hunderttausend Leones erwirtschaftet, da kommen schnell mehr als tausend US-Dollar
zusammen. Der Erfolg macht Amifa und die anderen Frauen so selbstbe-
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Sierra Leone
wusst, dass sie getrost einen Mann zum Vorsitzenden des Projekts wählen
konnten – den Dorflehrer Tama Ketoh. Er darf die Buchhaltung kontrollieren, denn er ist der Einzige in Tomandu, der lesen und schreiben kann.
Spät am Abend kommen wir nach Kailahun, in die Distrikt-„Hauptstadt“.
Strom gibt es natürlich nicht, höchstens aus dem Generator. Bis auf wenige Straßenecken und Häuser ist es so dunkel, dass man kaum die Hand vor
Augen sieht. Aus dem Tiefschwarz tauchen Feldarbeiter auf, die nach einem
langen Tag nach Hause kommen. Wir essen Reis, Rindfleisch und ErdnussSuppe im „Peace Garden Restaurant“. Aus den Lautsprechern an der Bar
dröhnt ohrenbetäubender Hip Hop. Als einziger Weißer sorge ich für Aufsehen – der Friedensgarten ist bis heute der wichtigste Treffpunkt der ehemaligen Kämpfer der RUF, aber auch der Kamajors. Das Licht ist spärlich, ich
erkenne nur dunkle Schatten auf weißen Plastikstühlen. Viel zu reden gibt es
nicht. Ich übernachte im Gästehaus des UN-Flüchtlingshilfswerks.
Als Abubakarr mich am frühen Morgen abholt, bin ich nervös. Es regnet. Der GTZ-Mitarbeiter nimmt mich später mit zurück nach Kenema, aber
er will mir vor der Abreise aus Kailahun noch etwas zeigen: das „House of
Blood“. Ein unscheinbares, verlassenes Haus, mitten im Ort. Der Garten
rundherum ist verwildert, ein paar Papaya-Bäume tragen schwere Früchte.
Nachbarn starren mich an, als ich mich in Richtung Eingang bewege. Abubakarr warnt mich ein letztes Mal. „Hast Du gefrühstückt?“
Vier leere Räume hat das Haus im Erdgeschoss, zwei davon ohne Fenster. Es riecht süßlich nach Tod. Eingetrocknetes Blut klebt fingerdick an
den nackten Wänden, in allen Räumen bis unter die sicher vier Meter hohe
Decke. Noch nie war Stille so laut. Es übersteigt meine Vorstellungskraft,
was sich hier abgespielt haben muss. Die Fensterbank ganz hinten im letzten Raum ist ungewöhnlich niedrig und besonders blutverschmiert. Dieses
Haus diente als Schlachthof, erklärt Abubakarr, es war eine Folterzentrale
der RUF. Mann nennt es Iron Gate. Wer hier hineinging, kam nicht mehr
heraus. „A de go was yu“ – das bedeutet auf Krio: Wir waschen Dich“, sagt
Abubakarr. „Was sie damit aber meinten, war etwas anderes: Wir werden
Dich vernichten.“ Hunderte Menschen gingen durch dieses Eiserne Tor und
wurden bei lebendigem Leibe seziert und zerstückelt. Abubakarr berichtet,
dass Kannibalismus vor allem unter den RUF-Rebellen aus dem Grenzgebiet zu Liberia üblich gewesen sein soll. Viele Anwohner bestätigen das,
konkrete Belege dafür habe ich jedoch nicht gefunden. Allerdings gibt es
schriftliche Zeugenaussagen darüber, dass RUF-Rekruten zu kannibalistischen Mutproben gezwungen wurden, um ihre Loyalität gegenüber dem
Commander zu beweisen. Bis heute machen die Menschen in Kailahun einen großen Bogen um dieses Haus. Sie glauben, dass hier ein böser Geist
wohnt. Deswegen wird das Haus auch nicht abgerissen, es finden sich kei-
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Sierra Leone
Alexander Göbel
ne Arbeiter für diesen Job. Auf der anderen Seite hat die Provinzverwaltung
kein Geld, um daraus ein Mahnmal zu machen. Der Hausbesitzer ist schon
vor langer Zeit geflohen. Er fürchtet, dass die Bevölkerung ihn der Zusammenarbeit mit der RUF verdächtigt. „Warum ist diese Fensterbank so niedrig?“, fragt Abubakarr. „Warum sieht sie aus wie eine Schlachtbank? Hat
der Eigentümer sie vielleicht absichtlich in dieser Form anlegen lassen?
War das Schlachten hier schon von langer Hand geplant?“ Insgesamt soll
es in dieser Gegend vier solcher Häuser geben, eines davon in Pendembu.
Wir fahren weiter.
Ich trinke unentwegt Wasser, um den Geschmack von Tod von meinem
Gaumen zu spülen. Es gelingt nicht. „Die Politiker der Länder, die in den
Krieg ziehen wollen, sollten zuerst nach Sierra Leone kommen. Hierher,
zum House of Blood. Der Krieg ist keine Lösung für irgendetwas. Er bringt
nur Zerstörung.“ Dann schweigen wir.
4.4 Diamonds Are Forever – Vom Fluch der teuren Steine
Rast im Dorf Masingbi, auf der Nordroute zwischen Makeni und Koidu.
Ich traue meinen Augen nicht. Drei Jeeps mit der Aufschrift „Tropical Hardwoods“ parken auf der anderen Straßenseite. Europäisch aussehende Männer mit kurzen Hosen und Gummistiefeln steigen aus. Die klassische Tarnung illegaler Diamantenhändler. Denn Tropenholz gibt es in dieser Gegend
gar nicht, und außerdem kann man auf der Ladefläche der Landcruiser Wasserpumpen erkennen – die werden gebraucht, um die Schürfprozedur in den
offenen Minen zu beschleunigen. Wen sie wohl wieder bestochen haben, um
hier nach den Edelsteinen zu suchen, denke ich mir. Die Männer sind unterwegs nach Koidu, so wie ich. Nur in anderer Mission.
Man muss es bis Sonnenuntergang schaffen – danach versinkt der Ort in
der Dunkelheit. Überall Wasserlöcher, aufgerissener Lehmboden, braunes,
brackiges Wasser – unter Umweltaspekten eine Katastrophe. Das ist Koidu,
die Hauptstadt des Distrikts Kono. Vor mehr als 70 Jahren wurde hier der
erste Diamant gefunden. Aber Koidu ist auch die Heimat von Sam Bockarie,
einem der höchsten Generäle der RUF. Jener „General Mosquito“ wurde inzwischen für tot erklärt, doch es heißt, sein Geist spuke hier noch herum.
Ein passendes Zuhause für einen Geist. Koidu ist keine Stadt. Es ist eine
einzige Kriegsruine. Ein Ort als Beweis dafür, dass es damals um nichts anderes als Ressourcen ging. Überall Einschusslöcher; kein einziges Haus, das
noch intakt ist. Einst lebten hier die Libanesen der zweiten und dritten Generation – sie haben vor dem Krieg den Diamantenhandel kontrolliert, bis
die Ratio des Krieges sich gegen sie wandte. Heute hausen hier afrikanische
235
Alexander Göbel
Sierra Leone
Familien. „Pakistan, chop chop!“, rufen mir die Kinderhorden hinterher. Sie
haben Hunger und deuten auf die leeren Münder. Von der Kriegszeit bis zu
ihrem Abzug vor zwei Jahren haben die Blauhelme aus Pakistan Koidu verwaltet und offenbar Spuren hinterlassen. Ich erkläre den Kleinen, dass ich
nicht aus Pakistan komme, sondern aus Deutschland. Die Kleinen sind flexibel. „Germany, chop chop!“
Hier wird nicht investiert, nur ausgebeutet. Zu kaufen gibt es nichts außer
Spaten, Hacken, Schippen, Eimern und Sieben – alles, was man als Diamanten-Lohnsklave braucht. Auf dem Markt für Zubehör werde ich als „Stranger“ nicht gerne gesehen, mein Aufnahmegerät muss ich wegpacken. Das
„Kono Hotel“ am Ortsausgang ist da schon gastfreundlicher – natürlich wird
es von Libanesen geführt. Es ist eines der wenigen Gebäude mit Generator
und zugegeben guten Fleischspießen und kaltem Bier. Am Nachbartisch erkenne ich die Männer von „Tropical Hardwoods“. Es sind Kanadier. Das
Hotel ist Treffpunkt der Diamantenhändler und Glücksritter, und als wäre
das Glücksspiel in den Minen nicht genug, gibt es hier sogar ein Casino, in
dem nicht nur Jetons, sondern auch viel zu junge Prostituierte warten.
Ich habe wertvolle Telefonnummern für den Kono District eingepackt:
Elijah Kamanda, Melvin Ngieka, Philipp Namoh, Samuel Foyoh. Alle sind
Paramount Chiefs – die Lokalbosse aus den „ruling houses“ der Region4,
und alle haben in ihren Chiefdoms Diamantenvorkommen, die sie kontrollieren – und für die sie ordentlich kassieren. Gern würde ich mit diesen Lokalfürsten ins Gespräch kommen – aber einer nach dem anderen winkt ab,
obwohl ich aus Freetown von einem Freund beim Sondergerichtshof beste
Referenzen habe. Die Herren freuen sich angeblich über meinen Besuch im
Distrikt Kono, aber ich solle mich hier nicht allzu lange aufhalten. Im Klartext: Ich soll ihre lukrativen Geschäfte mit den Libanesen, Liberianern, Guineern, US-Amerikanern, Briten oder sonst wem nicht stören. Aber es geht
auch ohne die Unterstützung der Chiefs. Ich treffe Sozialarbeiter Titus Brima. Er kennt das Schicksal der Minenarbeiter genau – und das Wichtigste:
Er wird von den frustrierten Arbeitern akzeptiert.
Hier im braunen Schlamm liegt er also versteckt: der teure Rohstoff, der
die Reichen und Schönen auf der Welt so magisch anzieht. Erst hier lerne
ich, woher die weltweit verbreitete Mär rührt, nur ein Brilliantring sei ein or-
4
In Sierra Leone gibt es 149 so genannte Chiefdoms. Unter britischer Kolonialherrschaft wurde diese Form des dezentralisierten Despotismus als so genannte „indirect rule“ eingeführt – auch, um kolonieweite Aufstände zu vermeiden. Der Status der Chiefs wurde meist vererbt. Als Mittelsmänner zwischen der Bevölkerung und der Kolonialverwaltung verloren sie zunehmend ihre Rechenschaftspflicht – und auch ihre Legitimität. Trotz verbreiteter Anfälligkeit für
Korruption tragen diese Strukturen bis heute zu einer gewissen Stabilität bei, vor allem in den besonders schwach entwickelten Regionen auf dem Land.
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Sierra Leone
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dentlicher Verlobungsring – Schuld sind die massiven Werbekampagnen, die
der südafrikanische Diamantenkonzern De Beers seit Jahrzehnten bezahlt.
Die Sonne brennt vom Himmel. Mit gekrümmtem Rücken stehen zehn
Männer in einem der unzähligen Wasserlöcher der Kensay-Mine. Diamanten werden hier mit Schaufel, Eimer und Sieb an die Erdoberfläche befördert – eine Knochenarbeit, klagt der 30-jährige Mohammed. Seit fünf Jahren schon macht er diese Arbeit, jeden Tag. Seit drei Monaten hat er keinen
Diamanten mehr gefunden. Es sind die immer gleichen Bewegungen, den
ganzen Tag. Mohammed wäscht das Sieb aus. Sein Kollege mit dem schönen Namen Freeman prüft, ob sich unter den kleinen Steinchen ein Diamant
verbirgt. Das Wasser, in dem die Männer stehen, ist völlig verseucht. Giftige Lösungsmittel, Bilharziose, Flussblindheit. „Was sollen wir denn machen?“, fragt Freeman. „Wegen des Kriegs konnte ich nicht in die Schule gehen, und es gibt hier auch nichts anderes zu tun, womit ich Geld verdienen
könnte. Klar, es ist ein Glücksspiel. Aber ich muss meine Familie ernähren,
also stehe ich hier im Wasser.“ Damals, in den 90er Jahren, mussten junge
Männer wie Mohammed oder Freeman die Diamantenfelder für die Rebellen der RUF, der Revolutionary United Front verteidigen – als Kindersoldaten und Zwangsarbeiter. Blood Diamond mit Leonardo Di Caprio und Djimon Honsou hat die teuflische Beziehung zwischen Rohstoffen, Geld und
Gewalt eindrucksvoll erzählt. Aber noch heute ist die Arbeit nichts anderes
als Sklaverei. Es hat sich nichts geändert, meint Leroy. Er schuftet schon seit
fast zwanzig Jahren hier. Fünf Kinder und keine andere Wahl.
Die Männer bekommen eine Schale Reis pro Tag. Aber in Kono, wo es
noch heute aussieht, als sei der Bürgerkrieg noch im Gange, ist das allemal
besser als nichts. Wenn die Arbeiter einen Edelstein finden, müssen sie ihn
an den „Master“ abgeben. Der Besitzer des Minengebiets verkauft dann den
Stein weiter an einen der vielen libanesischen Händler, und je nach Karatgewicht erhalten die Diamantenschürfer vielleicht sogar einen lächerlichen
Anteil von ein paar Leones – je nach Karatgewicht. „Es gibt hier keine andere Arbeit“, sagt Leroy.
Nein, in Koidu gibt es gar nichts. Lamin Tambassi, 21 Jahre alt, hat nie etwas anderes gesehen – er arbeitet hier seit drei Jahren. Damals wäre er gern
weiter zur Schule gegangen. Doch als sein Vater in den letzten Kriegsjahren
umkam, musste er für die Familie sorgen. Seine Träume hat er an den Nagel
gehängt. Er hat noch nie einen Diamanten gefunden. „Man arbeitet in den
großen Minen wie dem Youth Plot vielleicht mit 200 Leuten in einem Wasserloch, und zwei oder drei finden dann was. Aber die behalten den Fund
natürlich für sich, um ihn dann zu verkaufen oder abzugeben – jeder ist auf
sich gestellt. Keiner vertraut dem anderen.“
237
Alexander Göbel
Sierra Leone
Und dann findet Freeman tatsächlich einen Diamanten. Er ist orangefarben, glitzert im Licht und ist so winzig, dass er unter den Fingernagel passt
– vielleicht zwei Karat. Aber eigentlich weiß hier keiner der Männer, was
ein Diamant wirklich wert ist. Ständig werden sie über den Tisch gezogen.
Deswegen ist Tom Yomah so wütend: Er hat genug davon, für einen Hungerlohn im giftigen Wasser zu stehen. Seinem neuen Präsidenten Ernest Bai
Koroma würde er das gerne ins Gesicht sagen. Vor einem Jahr hat er für ihn
gestimmt, damit sich die Lage in Kono endlich verbessert. Geschehen ist
nichts. „Der Präsident ist so etwas wie mein Vater!“ Tom ist außer sich. „Ernest Bai Koroma, bitte hilf uns! Wir brauchen hier Landwirtschaft! Vergiss
die Diamanten! Wenn ich Saatgut bekomme, eine Hacke und ein bisschen
Land, dann pflanze ich hier morgen Reis, direkt auf der Diamantenmine.
Nur mit Landwirtschaft kommen wir hier weiter!“
Die ausweglose Situation der Minen-Arbeiter in Kono gilt Experten als
echte Zeitbombe. „Wir müssen dieses Geschäft mit den Diamanten beenden, damit wir wirklichen Frieden bekommen“, fordert Titus Brima. „Ansonsten wird Afrika versinken.“ Die Hoffnung auf bessere Zeiten stirbt zuletzt im Diamantenland.
Abendunterhaltung in Koidu? Aber ja! Das Viertelfinale „Ghana-Nigeria“
im Africa Cup of Nations schaue ich am Abend mit Titus, ein paar anderen
guten Freunden und reichlich Star Beer in einem Bretterverschlag namens
„Mama’s Enterprises“ an. Wir sind die „Ehrengäste“, die obligatorischen
Plastikstühle sind extra für uns abgewischt. 2:1 für Ghana! Beim Torjubel
wird es mir bewusst: Ich bin hier, und ich möchte gerade nirgendwo sonst
sein auf der Welt. Ich berühre den Boden, er trägt mich seltsamerweise ganz
so wie zu Hause. Ich bin angekommen. Ich bin ein kleiner Teil von Sweet
Salone. Ich beginne langsam zu verstehen. Für neunzig Minuten akzeptiere
ich die schreiende Absurdität um mich herum. Eine Sekunde weiß ich nicht,
ob ich mich dafür schämen soll – aber ich bin glücklich. Titus sieht mich an,
lächelt und nickt.
Der nächste Tag. Die Geschichte der Blutdiamanten ist nicht vorbei – im
Gegenteil. Sie bekommt sogar ein neues Kapitel. Offenbar sind weniger
die kleinen Händler als die großen Konzerne verantwortlich dafür, dass die
tragische Geschichte der „Konfliktdiamanten“ in Sierra Leone weitergeht.
Im Jahr 2008 wird besonders deutlich, dass Gewinnmaximierung keineswegs mit Verantwortung für die regionale Entwicklung einhergeht. Schlimmer noch: Bei der Diamantenförderung im großen Stil werden nachhaltige
Schäden für die Bevölkerung und die Umwelt billigend in Kauf genommen. Beispiel: Koidu Holdings Ltd., die größte private Diamantenfirma in
Sierra Leone – die einzige, die „kimberlite mining“ betreibt, also die Förderung unterirdischer Diamanten durch Sprengungen. „Mitten im Konzes-
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Sierra Leone
Alexander Göbel
sionsgebiet leben Menschen, seit mehr als 60 Jahren“, erklärt mir Patrick
Tongu, District Manager des Network Movement for Justice and Development (NMJD) in Kono. „Wegen der fast täglich stattfindenden Sprengungen müssten eigentlich fast 390 Haushalte umgesiedelt werden. Doch seit
fünf Jahren hat Koidu Holdings nur 70 Häuser gebaut, die meisten davon
sind nicht fertig, und es gibt dort auch bis heute keinen funktionierenden
Trinkwasserbrunnen.“ Außerdem würden durch die mehrmals wöchentlich
stattfindenden Sprengungen immer wieder Häuser und Kleingärten zerstört, so Patrick Tongu. Riesige umherfliegende Gesteinsbrocken gefährdeten die Lebensgrundlage der Farmer. Außerdem würden die Anwohner zu
spät oder gar nicht über bevorstehende Sprengungen informiert. Dass die
Spannungen um den privatisierten teuren Rohstoff eine neue, blutige Dimension bekommen haben, zeigen die Ereignisse des 13. Dezember 2007:
Als eine Gruppe von Anwohnern der Mine am Haupttor von Koidu Holdings friedlich gegen die Sprengungen und deren Folgen protestierte, ging
die Polizei mit Tränengas gegen die Demonstranten vor und schoss nach
Zeugenaussagen kurz darauf ohne Vorwarnung scharf – nach offiziellen
Angaben wurden zwei Anwohner getötet. Ein kanadischer AP-Journalist,
den ich in Koidu treffe, spricht von „mindestens drei“ Toten. Die genaue
Zahl der Verletzten ist unbekannt, wird aber auf 100 geschätzt. Was war geschehen? Mitglieder der „Affected Property Owners Association” im Tankoro Chiefdom hatten sich den Umsiedlungsplänen von Koidu Holdings
verweigert und dem Konzern eine Frist von 21 Tagen gesetzt, um eine bessere Lösung für die betroffenen Menschen zu finden. Nachdem auch am
20. Tag (dem 13. Dezember) keine Reaktion von Koidu Holdings kam, sondern nur eine erneute Sprengung gemeldet wurde, begann ein friedlicher
Sitzstreik – mit verheerenden Folgen.
Besonders bedenklich findet Patrick Tongu vom NMJD die Tatsache, dass
bei der Schießerei Polizisten der staatlichen Polizei im Dienst von Koidu
Holdings standen und auch vom Konzern bezahlt wurden (mit 400.000 Leones pro Person, das entspricht etwa dem Vier- bis Fünffachen des Lohnes eines durchschnittlichen Polizeibeamten). „Die vornehmste Aufgabe der Polizei sollte es doch sein, das Leben der Bevölkerung zu schützen“, so Patrick
Tongu. „Außerdem haben wir herausgefunden, dass auf diesem Wege Waffen
in die Hände der privaten Sicherheitsdienste gelangen. Der Staat rüstet also
die Sicherheitskräfte von Koidu Holdings aus, gegen die Bevölkerung!“
Der ganze Vorgang hat nach Ansicht des Network Movement for Justice and Development Konsequenzen für die Definition vom Konfliktdiamanten in Sierra Leone. „Das hier ist ein sehr schwer wiegender Konflikt“,
findet Patrick Tongu, „er betrifft mehr als 5.000 Menschen direkt, und er
unterscheidet sich vom Streit um andere Konzessionen dadurch, dass der
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Alexander Göbel
Sierra Leone
Lebensraum der Menschen zerstört wird, dass die Umwelt nachhaltig zerstört wird, dass Menschen dabei getötet werden, und dass der Profit im
wahrsten Sinne über Leichen geht. Ich würde die hier geförderten Diamanten daher nicht so harmlos als Konfliktdiamanten bezeichnen. Wir müssen
hier ganz klar von Blutdiamanten sprechen.“ Hier schließt sich der Kreis
der Geschichte. Schließlich ist Koidu Holdings eine altbekannte Firma mit
Wurzeln im sierra-leonischen Bürgerkrieg von 1991 bis 2002. Denn die riesige Konzession von Koidu Holdings zwischen der Provinzhauptstadt Koidu und den Tongo Fields ist im Grunde die, die der Geschäftsmann Tony
Buckingham und seine Firma Branch Energy 1996 erhielten, nachdem die
südafrikanischen Söldner, die „Militärberater“ von Executive Outcomes,
die RUF-Rebellen aus den Diamantenfeldern vertrieben hatten. „Im Grunde ist jeder von Koidu Holdings geförderte Diamant noch immer ein Blutdiamant“, sagt Patrick.
Da hilft es auch nichts, wenn Koidu Holdings sich den Anstrich einer sozial engagierten Firma gibt. Dort, am Haupttor der zentralen Mine, wo es
noch im Dezember Tote und Verletzte gegeben hatte, steht heute ein großes Firmenschild mit dem Slogan: „Investment, Development and Growth
in Sierra Leone’s Mineral Resources for a Better Future”. „Das ist mehr
als irreführend“, kritisiert Patrick, „das ist zynisch. Was soll das? Koidu
Holdings bringt weder Entwicklung, noch Wachstum, sondern nur Zerstörung.“ Auf seiner Website behauptet der Konzern, er beschäftige 500 Mitarbeiter und sei überdies der größte Steuerzahler in Sierra Leone. Auch
hier kann Patrick nur mit den Achseln zucken: „Wir sehen nicht, wie sich
dieses Engagement in irgendeiner Weise positiv in den betroffenen Gemeinden auswirkt. Selbst wenn diese Firma den Staat mit Steuergeldern
füttert: Das Geld kommt doch nicht hier bei den Leuten an! Wo sind denn
die Schulen, die Straßen, die Brunnen? Der Betrieb von Koidu Holdings
ist einfach nicht gut, ich finde ihn sogar gefährlich.“ Ich frage ihn nach
Geschäftsberichten von Koidu Holdings und anderen, nur scheinbar staatlichen Minenbetreibern wie Sierra Leone Diamond Company (SLDC).
„Machst Du Witze? Die schweigen sich aus. Versuch’ mal, im Ministerium was herauszufinden oder im Internet. Nirgendwo ist etwas über die
Umsätze oder die Konzessionsverträge zu erfahren – das gilt auch für Sierra Rutile.“
Wir fahren über Tongo Fields zurück nach Kenema: Hier hat Koidu Holdings auf einer Strecke von wenigen Kilometern ein paar Ladungen Schotter
abkippen lassen – um die Erträge abzutransportieren. Von Straßenbau kann
keine Rede sein. Nicht auszudenken, wie schnell wir hier in der Regenzeit
stecken bleiben würden. Auch die Regierungspolitik ist daran nicht ganz unschuldig. Schon die SLPP-Regierung unter Präsident Kabbah hat gewisser-
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Sierra Leone
Alexander Göbel
maßen die „Seele“ der Diamantenregion an die private Holding verkauft –
und dabei kräftig mitverdient.
Auch der neuen APC-Regierung ist das Geschäft mit den kostbaren Steinen nicht fremd – auch wenn offiziell nur drei Prozent der Diamantenerträge ins Land fließen. Heute ist der Diamantensektor voll privatisiert – weder
der Staat, noch die Menschen in Sierra Leone profitieren davon, außer eben
ein paar Beamten, die im Ministerium die Hand aufhalten. Sierra Leone opfert seine Arbeitskräfte auf dem Schmiergeld-Altar. Die Förderlizenzen sind
zu Dumpingpreisen zu haben, und mit der Diamantensteuer von drei Prozent (das entspricht Einnahmen von etwa 150 Millionen Euro pro Jahr) lässt
sich der Wiederaufbau des Landes nicht finanzieren. Zum Vergleich: In Botswana beträgt die Steuer zehn Prozent! Vizepräsident Sam-Sumana soll seit
Bürgerkriegszeiten selbst in den Diamantenschmuggel verwickelt sein, und
Präsident Ernest Bai Koroma tat es gerade Liberias Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf nach: Nach seinem Antrittsbesuch bei der britischen Queen (was
ihm seine Kritiker schon als Kotau vor der früheren Kolonialmacht ausgelegt haben) reiste er sofort nach Tel Aviv – als Gastredner bei der Israeli Diamond Institute Conference on Rough Diamonds. „Da sieht man, wohin die
Reise geht“, murmelt Patrick Tongu.
Natürlich gibt es den so genannten Kimberley-Prozess – ein Abkommen,
dem mittlerweile 48 Staaten angehören und das den Handel mit Konfliktdiamanten einzudämmen versucht. Neben den Diamanten exportierenden
Ländern arbeiten die Diamantenindustrie (vor allem De Beers in Südafrika)
und viele Nichtregierungsorganisationen daran mit. Eigentlich ein wichtiger
Schritt hin zur lückenlosen Zertifizierung. Leider werden aber die Produktionsbedingungen im Kimberley-Prozess gar nicht thematisiert. „Kimberley
hin oder her – niemand weiß genau, wo die Diamanten herkommen“, stimmt
Patrick zu. „Jedes Mal, wenn ein Diamant dieses kleine Land hier verlässt,
müssen sich die Käufer darüber klar sein, dass sie einen Blutdiamanten neuen Typs in Händen halten.“ Natürlich könne man auch aus den Diamanten ein
fair-trade-Produkt machen. „Es ist eine Frage des politischen Willens. Aber
wenn Du mich fragst – ich würde mir wünschen, dass in Kono alle Diamanten einfach verschwinden.“ Es sei doch erstaunlich, wie viele Diamanten nach
wie vor aus Sierra Leones Nachbarländern nach Antwerpen exportiert werden
– aus Ländern, die (abgesehen von Liberia) gar keine eigenen Diamantenvorkommen haben! Was sagt uns das? Der Schmuggel geht im großen Stil weiter.“ Schon allein deswegen würde Patricks Kollegin Suna Bondu vom Netzwerk für Gerechtigkeit und Entwicklung nie einen Brillantring tragen. „Ich
mache mir nichts daraus. Wenn man weiß, wie nach diesen Steine gegraben
wird und was das für die Menschen bedeutet, dann muss man einfach die Finger von Diamantenschmuck lassen. Nein, Diamanten sind nichts für mich.“
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Alexander Göbel
Sierra Leone
Seit Anfang Februar 2008 ruht die Förderung von Diamanten bei Koidu
Holdings, sowohl im Hauptwerk Koidu, als auch in „Site Two“, in den von
Lassa Fieber verseuchten Tongo Fields. Die mehr als 500 Mitarbeiter wurden kurzfristig entlassen, Entschädigungszahlungen haben sie nie erhalten.
Damit sorge Koidu Holdings allein durch sein Geschäftsgebaren für weitere
Spannungen, findet Patrick Tongu – bis zur nächsten Sprengung. „Diamanten sind ein Fluch für Sierra Leone – ein Segen sind sie jedenfalls nicht.“
Verwirrt reise ich weiter. Es ist noch ein langer Weg zurück nach Kenema,
fast sechs Stunden schaukelnde Geländefahrt auf der Hinterachse des Jeeps.
Und im Lassa-Gebiet rund um Tongo Fields sollten wir am besten gar nicht
anhalten, das haben sie uns in Koidu eingebläut. Aber gegen den platten
rechten Hinterreifen können wir schließlich nichts machen. Und außerdem
will ich unbedingt auch hier probieren, mit Koidu Holdings ins Gespräch zu
kommen. Doch auch hier hindert mich die extrem misstrauische G4S Security daran. Auch hier heißt es am Werkstor: „No picture, no entrance, Sah.
You are not allowed“.
Später lese ich im „New Citizen“, wie sich Koidu Holdings feiern lässt.
5.000 US-Dollar über einen Zeitraum von acht Monaten an die Bambara Chiefdom, zum „Wiederaufbau des Krankenhauses von Tongo Fields“.
Welch eine zynische Summe! Aber durch den ausgehandelten Deal mit Koidu Holdings (oder sollte man das schon „Stillhalteabkommen“ nennen?)
können sich dann auch die Town Chiefs und die Section Chiefs sicher sein,
dass sie demnächst bei den Lokalwahlen ihrer Gemeinden gute Chancen haben. Am Abend erfahre ich, dass der „New Citizen“ dem Informationsminister gehört. Als mich ein gewisser Dennis Jones vom „New Citizen“ anruft
und mich unbedingt treffen will, wundere ich mich nicht einmal mehr, woher er meine Handynummer hat. Ich besuche ihn am nächsten Tag und ärgere mich bald über die verschwendete Zeit in der Redaktion in der Kellington
Street – nur Regierungs-Propaganda, einseitige Kritik an der alten SLPPRegierung, kein kritisches Wort zur APC, zur Weltbank, „keine Ahnung“
von Tony Buckingham, Diamond Works oder Sandline, kein Kommentar zu
den nach wie vor blühenden Diamantengeschäften im Osten, an denen die
Bevölkerung nichts mitverdient.
5. Balancieren am Abgrund, oder: Sisyphus macht Staat
5.1. “Election Biznes Na Ol Man Biznes“
„Honour and shame from no condition arise: Act well your part for there the
honour lies.“
Alexander Pope
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Sierra Leone
Alexander Göbel
Ein heißer Nachmittag in Funkia, an der Goderich Wharf im Süden von
Freetown. Nebenan legen die bunt bemalten Fischerboote an, der Fang des
Tages wird verkauft. Kambu Dhona schaut schon gar nicht mehr hin. „Ich
suche ja Arbeit, aber ich habe es fast aufgegeben. Biznes not too fine, Sah.“
Er ist Mitte Dreißig und gehört zu den Drop-Outs, zur arbeitslosen und verzweifelten Jugend des Landes, die hier auf den Felsen der Bucht ihr Elend
vergessen will – mit reichlich Palmwein und Marihuana.
Dabei ist Kambu gelernter Zimmermann. Vor zehn Jahren hatte er sich
eine kleine Werkstatt eingerichtet, doch da war es schon zu spät. Die Rebellen brachten Krieg und Zerstörung nach Freetown. Von den Erlebnissen der
„January Six Invasion“ 1999 hat Kambu sich nie erholt. „Ich schäme mich
vor meiner Frau und meinen zwei Kindern“, sagt er. Sein Freund Joseph
Squire nimmt ihm die Flasche weg. Er hat einen High-School-Abschluss,
doch seinen Traum vom Informatik-Studium musste er begraben. „Ich weiß
nicht, wie ich das Geld dafür zusammenkriegen soll – keine Chance. Deswegen hänge ich hier herum, so wie die anderen.“ Eh mina wahna go skul!5 An
den Felsen von Funkia, in der Innenstadt, auf dem Land: Überall sieht man
die Kinder der lost generation, die zwar zum großen Teil mit AK47 umgehen,
aber weder lesen noch schreiben können. Doch ohne Schulen und gute Lehrer geht es nicht. Nach Schätzungen der Lehrergewerkschaft wäre ein Gehalt
von 1,2 Millionen Leones das Minimum, stattdessen sind 200.000 Leones
übrig, das sind etwa 60 Euro pro Monat. Und so sind die Städte und besonders die Hauptstadt Freetown voll von frustrierten jungen Männern, die nie
etwas anderes gelernt haben als Waffen zu benutzen. In der Zeitschrift Atlantic Monthly hat Robert Kaplan Sierra Leones Jugend einmal treffend als
„lose Moleküle in einer sehr instabilen sozialen Flüssigkeit“ bezeichnet.
Depression und Selbsthass sind groß in Sierra Leone – die Zahl der Gewalttaten steigt wieder. Und das in einem Land, das einen langen, beschwerlichen Weg von der Unabhängigkeit bis zum Krieg hinter sich hat und in
dem fast drei Viertel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind – die meisten
von ihnen arbeitslos. „Wir haben für eine neue Regierung gebetet“, erzählt
Joseph. „Die haben wir jetzt, aber nichts hat sich geändert. Wir haben noch
immer keine Jobs. Wie sollen wir denn überleben?“
Ende August 2007 wählte Sierra Leone neue Volksvertreter und mit Ernest Bai Koroma vom All People’s Congress (APC) einen neuen Präsidenten. Es waren die ersten Wahlen seit dem Abzug von UNIOSIL, der bis dahin stärksten UN-Friedenstruppe der Welt. Immerhin – ganz anders als in
Kenia oder Simbabwe verlief der Machtwechsel friedlich. Es gibt eine de-
5
Krio: „Ich will aber doch an die Schule/studieren!“
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Alexander Göbel
Sierra Leone
mokratisch gewählte Regierung, ein Parlament, eine Verfassung. „Aber
nach den Wahlen geht es ja erst richtig los“, meint Christiana Thorpe, die
kleine, zierliche Vorsitzende der Nationalen Wahlkommission NEC. „Die
Minister, das Parlament, die Bürger – alle müssen mitmachen und ihr Versprechen halten.“
Koroma trat jedenfalls mit großen Versprechen an: Arbeit und Fortschritt,
Null-Toleranz gegenüber der Korruption. Der APC ist den Sierra Leonern
bestens bekannt. Es ist die Partei der Oligarchen Siaka Stevens und Joseph
Momoh, die von 1968 bis zum Militärputsch von 1992 regierte – und die
Partei, die lange für den Ausbruch des Bürgerkriegs mitverantwortlich gemacht wurde. Die SLPP, die Sierra Leone People’s Party des früheren Präsidenten Ahmed Tejan Kabbah, galt lange als Friedensgarant, verspielte den
Kredit jedoch nach Kriegsende schnell. Kabbah, der auch bei den internationalen Gebern beliebte frühere UN-Bürokrat konnte Misswirtschaft, Korruption und Straflosigkeit nicht eindämmen.
Vor allem die Kriegsopfer hatten auf den neuen Staatschef gesetzt, die ehemaligen Kindersoldaten, die vergewaltigten Frauen, die Amputees, die von
den Rebellen grausam verstümmelt worden waren. Jetzt laufe Koromas Regierung Gefahr, ihre treuesten Anhänger zu enttäuschen, warnt Christiana
Thorpe. „Wer nichts zu tun hat, kommt schnell auf dumme Gedanken. An idle
mind is the Devil’s workshop. Man kann es sich nicht leisten, die Menschen
außen vor zu lassen, die in ihren besten Jahren sind. Sie brauchen dringend
Arbeitsplätze. Und wir brauchen sie für den Wiederaufbau des Landes.“
Präsident Koroma weiß, dass sechs Millionen Menschen Wunder von ihm
erwarten. Eine Friedensdividende, fast sieben Jahre nach Kriegsende. Er hat
die Herausforderung angenommen, will mit dem Volk einen „Gesellschaftsvertrag“ abschließen. Seine Regierung hat gelernt, dass es nicht ausreicht,
nur das Geld und die Projekte der Geberländer zu verwalten und jeden Tag
von guter Regierungsführung zu reden. Vielmehr versteht er sich als „Geschäftsführer“ des Landes – ganz so wie in seinem früheren Job bei einer renommierten Versicherung. „We’re running government like a business concern“, erklärt er immer wieder.
Doch Sierra Leone steht beim Human Development Index der Vereinten Nationen weiter an letzter Stelle – auf Platz 177. Bildung, Gesundheit, Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: Überall schneidet das Land schlecht
ab. Auch wenn die Wirtschaft derzeit um rund sieben Prozent wächst, ist
das Niveau sehr niedrig. Noch immer leben zwei Drittel der Bevölkerung
von weniger als einem Dollar am Tag. Die Kindersterblichkeit ist eine der
höchsten in Afrika.
„Wissen Sie, Sisyphus war ein glücklicher Mensch – auch wenn sein riesiger Stein immer wieder den Berg hinabrollte: Er gab nicht auf.“ Genauso
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Sierra Leone
Alexander Göbel
fühlt sich David Carew, ehemaliger Berater der KPMG, heute frischgebackener Minister für Finanzen und Entwicklung. „Wir sind das Schlusslicht
der Welt. Das ist doch eine fantastische Position für uns, denn tiefer geht es
nicht! Alles, was wir tun, wird dem Fortschritt dienen. Und natürlich sagt
diese Platzierung alles über die Herausforderungen, vor denen wir stehen.“
Carew weiß nicht, was er zuerst nennen soll: Den katastrophalen Gesundheitssektor, das völlig unterfinanzierte Bildungswesen, den stockenden
Straßenbau, die schwache Stromversorgung, den Rohstoffsektor, die ineffiziente Landwirtschaft, die fehlenden Auslandsinvestitionen, die schlecht
ausgerüstete Polizei, die schleppende Dezentralisierung, die grassierende
Korruption. Einen Sinneswandel (“attitudinal change“) hatte Koroma sich
und seinem Volk verschrieben – ein Begriff, der mit Inhalt gefüllt werden
muss. Bis heute hat er entgegen allen Ankündigungen seine Einkünfte noch
nicht offen gelegt – auch wenn er es von allen Regierungsmitgliedern und
Beamten fordert. Zwar gibt es eine neue Antikorruptionsbehörde (ACC), die
vom tapferen Menschenrechtsanwalt Abdul Tejan-Cole geleitet wird. Aber
er muss ständig um die Finanzierung seiner Behörde bangen – er und seine
Kollegen können nur so gut sein, wie man sie lässt. „Ich weiß, momentan
hält man uns den Spiegel vor“, sagt Tejan-Cole. ’Corruption never don na
Salone’, sagen die Leute. Vielleicht ist das wirklich so. Vielleicht wird die
Korruption nie aufhören. Die Köpfe der Ministerien und Ämter sind vielleicht ausgetauscht, aber Korruption verhält sich bekanntlich wie eine Hydra.“ Aber Geld regiert die gesamte Gesellschaft, nicht nur die politische
Klasse. Unmittelbar nach dem Interview mit Tejan-Cole werde ich im Taxi
von der Polizei herausgewunken – angeblich hat Lamin, mein Fahrer, keinen Feuerlöscher im Auto. Er schwitzt und muss mit aufs Revier, ich bleibe
sitzen und ärgere mich. Natürlich wurden wir nur angehalten, weil Lamin
einen weißen Fahrgast hatte. Ich sitze fest. Nach fast einer Stunde kommt er
zurück und berichtet, dass er zahlen musste – wie viel, das will er nicht sagen. „Wit man give you boku moni?“, habe der Polizist ihn gefragt.6
Vize-Präsident Sam-Sumana mag Recht haben, wenn er sagt, die KoromaRegierung habe eine „cash-strapped economy“ geerbt. Doch daran hat sich
bis heute kaum etwas geändert: Nach wie vor gehen Dollarmillionen in kriminellen Kanälen verloren. Viele Mitarbeiter im aufgeblähten, ineffizienten
Apparat des Öffentlichen Dienstes bereichern sich nach wie vor – und das
bei einem Staatshaushalt, der zur Hälfte geberfinanziert ist. Das Gesamtbudget der Regierung beträgt 2008 läppische 350 Millionen US-Dollar.
6
Krio: „Der Weiße da bezahlt Dich doch bestimmt gut?“
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Alexander Göbel
Sierra Leone
Die Abhängigkeit von Gebern steht einer echten Transformation der Nachkriegsgesellschaft im Wege. Aber anders geht es nicht. Besonders wichtige
Partner – für Budget- und Projekthilfe – sind das britische Entwicklungsministerium DFID, die Europäische Union, die Weltbank und die Afrikanische
Entwicklungsbank. Dazu kommen noch Mittel aus Sierra Leones bilateralen
Beziehungen, die Projekte der Internationalen NGOs. „Dieses Land hat so
viel Potential“, sagt Christiana Thorpe von der Wahlkommission. „Wir haben Arbeitskräfte, wir haben Wasser, fruchtbares Land, das Titan-Material
Rutil, Gold, Eisenerz, und Diamanten natürlich!“ Natürlich – Sierra Leone
könnte reich sein, wäre es nicht über Jahrzehnte heruntergewirtschaftet und
dann in den Bürgerkrieg gezogen worden. Und die Diamanten haben dem
Land wahrlich kein Glück gebracht.
Doch längst haben die Sierra Leoner erkannt, dass ihre Zukunft in der
Landwirtschaft liegt – zum einen wegen der Ernährungssicherung in Zeiten
explodierender Preise, zum anderen, weil sie auf diese Weise Arbeitsplätze schaffen und lokale Märkte stärken können. Doch tausende Hektar Land
müssen nach der langen Kriegszeit erst wieder nutzbar gemacht werden –
auch hier ist dringender Investitionsbedarf, denn „Hunger und Perspektivlosigkeit treiben die jungen Menschen in die Städte“, sagt Entwicklungsminister David Carew.
Neben den wirtschaftlichen Zeitbomben gilt es gleichzeitig auch die sozialen zu entschärfen. Hannah Foullah, Chefredakteurin beim unabhängigen Sender Radio Democracy, erwartet von der Regierung ein klares
Konzept der Versöhnungspolitik nach elf Jahren Krieg – auch das gehöre
zum Bau einer neuen Nation: „Nicht nur unsere Wirtschaft muss wachsen.
Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen. Die vergewaltigten Frauen,
die Amputees – sie warten seit Jahren auf Entschädigung.“ Trotz scheinbar unüberwindbarer Hindernisse glaubt Hannah Foullah an die Zukunft
ihres Landes. „Wir müssen diesen Minderwertigkeitskomplex loswerden.
Wir müssen uns Sierra Leone als ein Paradies vorstellen – auch wenn wir
es in unserer Lebenszeit nicht erreichen. Aber wir müssen endlich damit
loslegen!“
Mit solch blumigen Visionen können die frustrierten jungen Männer auf
den Felsen von Goderich wenig anfangen. Aber sie haben die neue Regierung mitgewählt und wollen sie nicht aus der Verantwortung entlassen.
„Wenn der Präsident nicht hält, was er versprochen hat, werden wir demonstrieren“, warnt Joseph Squire. „In vier Jahren gibt es die nächsten Wahlen.
Wenn Koroma nichts für uns tut, wird er abgewählt, so einfach ist das! Election Biznes Na Ol Man Biznes haben sie uns damals gesagt – Wahlen gehen
uns alle an. Und was ist jetzt damit?“ Auf dem Nachhauseweg wird mir klar,
2012 könnte das eigentliche Jahr der Wahrheit für Sierra Leone werden.
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Sierra Leone
5.2.
Alexander Göbel
2 Fut Arata – Musik als Opposition
Alfred Mansaray nennt sich lieber Funky Fred. Er ist 28 und Leadsänger
der Jungle Leaders. Sie sind die wahren Verbündeten der frustrierten Jugend.
Die Mitglieder der Band haben sich während des Krieges in einem Flüchtlingslager in Guineas Hauptstadt Conakry kennengelernt, das war 1998, kurz
vor dem schweren Angriff der Rebellen auf Freetown. „Wir mussten damals
im Camp klarkommen, und irgendwie leben wir hier in Sierra Leone immer
noch im Camp – es ist ein Übergangszustand, eine Art seelischer Dschungel“, sagt Fred. „Mit unserer Musik trösten wir alle, die sich genauso fühlen, wir sagen ihnen hey, bald seid ihr zu Hause, bald wird alles besser. Wir
führen gewissermaßen die Leute aus ihrem inneren Dschungel, daher der
Name.“ Musikalisch fühlen sich die Jungle Leaders dem Dunduleku Style
verpflichtet, einer sehr vielseitigen afrikanischen Mischung aus Hip Hop,
Reggae und Rumba. In diesen Sound verpacken sie ihre politischen Texte –
sie gelten als revolutionäre Band. „Es geht bei uns immer irgendwie um Politik. Wir sind aus dem Flüchtlingslager gekommen, aus dem Dschungel, vor
unseren Augen sind Menschen gestorben. Glaub’ mir, Mann. Wir haben keine Angst mehr vor der Wahrheit. Und gleichzeitig gehören wir zu keiner politischen Partei. Wir sprechen ganz einfach für die Menschen da draußen.“
Pak en Go – Pack’ Deine Sachen und geh: Das ist der Titelsong des neuen
Albums – er untermauert den politischen Machtwechsel in Sierra Leone von
2007. „Oh, Pak en go hat für heiße Debatten gesorgt. Dem alten Präsidenten
Tejan Kabbah haben wir sagen wollen – Danke, dass Du da warst, und jetzt
verpiss Dich, gib dem Aufschwung in diesem Land eine Chance. Du hast
Deine Zeit gehabt und auch etwas geleistet, und jetzt nimm Deine Geldkoffer mit und zisch ab. – Gut, dass Kabbah seinen Stuhl geräumt hat, jetzt liegt
endlich Frieden in der Luft, Jah bless!“
Die Jungle Leaders nehmen kein Blatt vor den Mund, sie sprechen über
Korruption, Gewalt, heuchlerische Eliten und Globalisierung – im Namen
ihres Publikums. „Die Jugendlichen sind sehr sehr wachsam. Wer nicht hält,
was er verspricht, bekommt es mit ihnen zu tun, glaub mir, Mann.“ Und
dann erzählt mir Fred von seiner Vision eines neuen Sierra Leone. „Sweet
Salone, das ist unsere Heimat. Und ich hoffe, dass Sierra Leone sozusagen
immer süßer wird, dass unser Traum von einer gerechten Gesellschaft sich
irgendwann einmal erfüllt. Wir brauchen nur die richtige Führung für dieses
Land. Dann wird es unser Paradies sein, denn dieses Land und seine Menschen sind wunderschön! Salone, na wi ol yu.“7
7
Krio: Sierra Leone gehört uns allen.
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Alexander Göbel
Sierra Leone
Der Superstar der Musikszene in Sierra Leone heißt Emmerson – eigentlich Emmerson Ahmed Bockarie. Er ist ein gefragter Mann und immer unterwegs. Wenn irgendwo seine Musik läuft, lassen die Leute alles stehen
und liegen und fangen an zu tanzen. Er hört es nicht gerne, aber sie vergleichen ihn mit Bob Marley und sogar mit Nelson Mandela. Seine Musik ist
eine Befreiung, sie nimmt ihnen wenigstens für ein paar Minuten ihre seelische Last. „Ja, wir haben viel mitgemacht in diesem Land“, sagt er, als ich
nach vielen Anläufen endlich ein Interview bekomme. „Tausende, Millionen Menschen leiden Hunger und kämpfen sich durch jeden einzelnen Tag.
Kinder können nicht in die Schule, es gibt kein fließendes Wasser, keinen
Strom. Wir müssen darüber sprechen, wir müssen denen da oben sagen, dass
wir das genau beobachten. Der wütende Mann auf der Straße hört unsere
Songs und spürt: Das ist genau das, was ich sagen will!“
Das wichtigste Thema – Korruption. Mit „Borbor Bele“ hat Emmerson
einen echten politischen Hit gelandet. „Auf Krio bedeutet Borbor Bele soviel wie ‚korrupter Politiker‘ oder ‚korrupter Beamter‘. Das sind Leute, die
Staatsgelder abzweigen und in die eigene Tasche wirtschaften. Und ich zeige mit dem Finger auf diese Leute, die sich auf Kosten der Armen einen
fetten Bauch anfressen.“ „Borbor Bele“ rief auch den Informationsminister
auf den Plan – er versuchte, Emmersons Anti-Korruptions-Song im Radio
zu verbieten. Doch Emmerson legte sogar nach. Mit seinem Album „2 Fut
Arata“ („Ratten auf zwei Beinen“), das pünktlich zur Präsidentschaftswahl
in allen Plattenläden bereitlag, kritisiert er die raffgierige und unmoralische
Klasse der Politiker noch viel schärfer.
Sierra Leones Superstars heißen Pupa Baja, K-Man, Emmerson, Jungle
Leaders, Dry Eye Crew, und ausnahmslos alle äußern sich jeden Tag über
die Politik ihres Landes. Sind die Musiker hier die Fackelträger einer außerparlamentarischen Opposition, der sierra-leonischen APO? „Auf jeden
Fall“, sagt Emmerson, „wir zählen uns zu den Anführern dieser Opposition. Vor vier, fünf Wochen hat Präsident Koroma unsere Single gehört, und
er sagte in einem Radio-Interview der BBC, Emmerson sei vielleicht der
beste politische Berater, den wir haben. 2 Fut Arata sagt ja, dass korrupte
Politiker keine Menschen sind, sondern gefräßige Tiere. Der Präsident findet diese Kritik gut. Und ich habe ihm gesagt – ok, wenn Sie mich widerlegen und mir beweisen, dass Sie es besser machen, dann widme ich Ihnen
meinen nächsten Track und spreche nur gut von Ihnen. Aber wenn nicht,
dann wird es Ihnen irgendwann ähnlich ergehen wie Ex-Präsident Tejan
Kabbah.“ Also – er klingt schon sehr nach einem Politiker. Aber Emmerson will auf keinen Fall die Seite wechseln. Außerdem können 80 Prozent
der Bevölkerung nicht lesen, daher setzt Emmerson auf Musik. „Ich kann
den Inhalt einer ganzen Bibel weitergeben, aber nur mit meiner Musik. Ich
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bin kein guter Redner, ich könnte nie Vorträge halten oder Reden schreiben.
Aber wenn Instrumente im Spiel sind, dann geht es los. Ich fühle die Töne
und dann sage ich automatisch, was ich denke. Es kommt aus meinem tiefsten Innern. Das ist für mich die politische Funktion von Musik – sie bringt
mich zum Sprechen.“
5.3 Klin Salone – Die Stadt, der Müll und der Tod
Ich denke nach über David Carews Lieblingszahl. Einhundertsiebenundsiebzig – letzter Platz von 177 erfassten Ländern – sogar das Sahelland Niger ist gerade am westafrikanischen Nachbarn vorbeigezogen. Doch dahinter stehen handfeste Gründe – die Korruption auf allen Ebenen, die massive
Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch des Staatswesens, die hohe Zahl der
Menschen, die weder lesen noch schreiben können, und vieles andere. Kurz:
177 ist auch eine Chiffre für mehr als ein Jahrzehnt Bürgerkrieg in Sierra
Leone. Aber für mich als Reporter macht sich die Zahl momentan ganz konkret an etwas anderem fest – am Müll. Denn durch den muss ich hier jeden
Tag durch. Auch wenn sich die Zustände in den letzten drei Jahren extrem
verbessert haben – Freetown erstickt noch immer täglich an seinen Abfällen
und Fäkalien, und das macht die Menschen krank. Nirgendwo in Westafrika soll es so viele Ratten geben – und die übertragen hier bekanntlich alles,
woran täglich gestorben wird, von der Cholera bis zum Lassa-Fieber. Jeden
Tag sterben im Schnitt allein zehn Menschen an den Folgen der schlechten
hygienischen Verhältnisse.
Immerhin hat Sierra Leones Hauptstadt zwei große Müllhalden – eine davon ist die King Tom Dumpsite, und die liegt mitten in der Stadt. Wegen der
großen Masse von Abfällen aller Art und der kaum erträglichen Hitze gibt
es immer wieder kleine Brände – die giftigen Rauchschwaden sind weithin
sichtbar und rauben einem den Atem. Hier türmt sich alles, was der Mensch
nicht mehr braucht – und was doch für manche noch irgendwie zu gebrauchen ist. Vom Müll der einen leben die anderen – und die kommen oft aus
dem Slum von Kroo Bay, direkt neben der Müllhalde gelegen. Aber auch in
Kroo Bay und anderswo kommt der Reporter zu Fuß an manchen Stellen gar
nicht mehr durch, weil Berge von Abfall den Durchgang versperren – oder
zu einer echten Mutprobe werden lassen. Dass die Menschen hier damit und
teilweise davon leben müssen, macht mich immer wieder wütend, ganz einfach deswegen, weil diese Situation zum Himmel stinkt.
Die Bucht um das benachbarte Viertel von King Jimmy, wo die Fischerboote anlegen und die Marktfrauen direkt am Wasser Maniokblätter und
Erdnüsse verkaufen, ist nicht mehr und nicht weniger als Freetowns Kloake.
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Alles, aber auch alles wird hier direkt ins Meer geleitet. Ein Ring von braunem Wasser schnürt diesem Stadtteil die Luft ab, die Küste selbst ist zu einer
Dumpsite geworden. Während ich mich noch frage, warum die Stadtverwaltung einfach nichts dagegen tut und wohin eigentlich die ganzen WeltbankGelder für Abwasserprojekte verschwunden sind, rolle ich plötzlich mit dem
Auto direkt durch eine geplatzte Toilettenleitung – bei 30 Grad Celsius und
gefühlten 150 Prozent Luftfeuchtigkeit ist das nicht wirklich angenehm. Am
Vortag hatte es heftig geregnet – typisch für diese Jahreszeit zum Ende des
Hammatan. Der Müll wurde aus den Kanälen in die Straßen gespült, Seen
von Exkrementen haben sich gebildet, weil die alten und ohnehin porösen
Rohre dem Druck nicht mehr standhalten. Ich habe nun eine leise Vorahnung davon, was hier in der Regenzeit passieren wird, wenn tage- und wochenlang kräftige Niederschläge auf die Stadt niedergehen werden. Ganz zu
schweigen von den ohnehin schlechten Straßen, die sich in Schlammpisten
verwandeln. Gegen die Massen von Abfällen kämpfen derzeit vor allem die
tapferen Müllmänner der Organisation „Klin Salone“, was auf Krio soviel
heißt wie „Sauberes Sierra Leone“.
Samstagmorgen, sieben Uhr, in Freetowns Stadtteil King Tom. Mit dunkelblauem Arbeitsanzug und Schutzhelm steht Lamin auf der Ladefläche
eines Handkarrens – er schafft Platz für noch mehr Müll. „Ich mag diesen
Job“, sagt er, „zum ersten Mal im Leben habe ich eine richtige Arbeit. Seit
einem halben Jahr bin ich bei Klin Salone – und ich bin stolz darauf.“ Lamin ist einer von Hunderten junger Menschen, für die der Müll sozusagen
zur Rettung geworden ist – in einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung keine Arbeit haben. Insgesamt gibt es über vierzig Müllsammelgruppen in der Stadt, Lamin gehört zur King Tom-Gruppe, die ihren Stadtteil
nach Kräften sauber hält. Immer am Samstag macht das fünfköpfige Team
die Runde in der Nachbarschaft und sammelt den Müll der Abonnenten ein
– der Preis dafür richtet sich nach der Müllmenge. Kaykay Maya und seine
neunköpfige Familie sind Kunden der ersten Stunde. Pro Woche produzieren sie zwei große Säcke Abfall, und für den Abholservice zahlen sie umgerechnet vier Euro pro Woche – nicht billig für Sierra Leonische Verhältnisse. Aber Kaykay ist vom Service überzeugt. „Eigentlich kann man diese
Dienstleistung nicht mit Geld aufwiegen. Mir gefällt das Mission Statement
von Klin Salone. Wel Bodi na Gentri – Gesundheit ist unser Kapital.“
Bis heute hat Sierra Leone keine staatlich organisierte, geschweige denn
landesweite Müllabfuhr, und noch immer gleicht die Hauptstadt Freetown
an vielen Stellen einer Kloake – kaum vorstellbar, wie es noch vor zwei Jahren ausgesehen haben muss. Der halbherzig eingesetzte Sammeldienst der
Stadtverwaltung von Freetown war zusammengebrochen. Die Menschen befürchteten, im Unrat zu ersticken. „Das war schon ein Riesenproblem. Wir
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haben zwar den Müll für uns gesammelt, aber wir wussten nicht mehr, wohin damit, dann flog alles hier herum“, erzählt Mayattu Keita aus der Nachbarschaft. „Die Moskitos wurden zur Plage, und die brachten die Malaria
mit – es war furchtbar.“
Die Malaria ist geblieben, aber die Dinge haben sich trotzdem dramatisch verändert. Der unhaltbare Zustand rief damals eine Gruppe engagierter Jugendlicher auf den Plan – und mit Hilfe der GTZ, der Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit, wurde „Klin Salone“ geboren. Mohammed
Sankoh hat die Gruppe mitbegründet, heute organisiert er Nachtschichten für die Straßenkehrtruppen. „Freetown war eine sehr, sehr schmutzige
Stadt, und wir als junge Bürger fühlten uns einfach verantwortlich – weißt
Du, Sauberkeit hat fast etwas Göttliches.“ Neun Tage lang wurden damals
über 12.000 Tonnen Müll aus den Straßen entsorgt und auf die beiden großen Müllhalden der Stadt transportiert. Heute, knapp zwei Jahre später, ist
aus der improvisierten Müllabfuhr ein kleines, selbstbewusstes Unternehmen geworden. Ein nachhaltiges Projekt, das aus dem Stand fast achthundert Arbeitsplätze für junge Menschen geschaffen hat. „Manchmal werden
wir verspottet, weil wir mit Müll arbeiten“, erzählt Mohammed. „Die Leute
denken, wir wären nichts wert oder wären ungebildet oder so etwas. Aber
das stimmt überhaupt nicht! Die Müllentsorgung ist ein wichtiger Sektor
der öffentlichen Dienstleistungen geworden, man kann Waste Management
sogar studieren. Für uns ist es ein guter, ein sehr wichtiger Job. Und was
uns betrifft: Wir sind bereit, noch weiter in diese Richtung zu gehen!“ Mohammed ist stolz darauf, dass die Jugendlichen vom Sammeldienst mittlerweile ihre Kosten allein über die Zahl der Abonnenten tragen können. Das
ist harte Arbeit. Jeden Tag gehen sie von Tür zu Tür und akquirieren neue
Kunden. Den Müll laden sie entweder direkt auf den großen Müllkippen
der Stadt ab, oder auf verschiedenen so genannten Transit-Points – kleinen
Müllhalden an strategischen Punkten der Stadt, die ebenfalls von Klin Salone verwaltet werden. Hier übernehmen dann die Kollegen, die von der
Stadtverwaltung als ordentliche Dienstleister anerkannt und auch als solche bezahlt werden – ein klassisches Public-Private-Partnership: Nachts fegen sie die Straßen, tagsüber beladen sie die von Libyen gestifteten Müllautos. „Also, das sind keine Subventionen, das ist keine Charity, oder eine
milde Gabe oder so etwas – nein. Das ist eine ökonomische Aktion!“, sagt
Salua Nour, die Direktorin der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Sierra Leone. Sie setzt auf die Entwicklung der Privatwirtschaft, die
der lange Bürgerkrieg fast völlig ruiniert hat. Sie weiß, dass genau hier, im
so genannten informellen Sektor, die Arbeitsplätze liegen, die das Land so
dringend braucht. Bei der Weltbank und der Stadtverwaltung musste die
GTZ-Chefin dicke Bretter bohren, aber es hat sich gelohnt. „Und das Sys-
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tem funktioniert“, sagt Salua Nour. „Also wir sind noch weit davon entfernt, den gesamten Säuberungsbedarf decken zu können. Aber die Stadt
ist wesentlich sauberer als früher.“ Zustimmung kommt von allen Seiten –
auch von Kunde Mohamed Pateba. Er jedenfalls mag gar nicht daran denken, wie Freetown aussähe, würde Klin Salone auch nur einen Tag die Arbeit einstellen. „Jeden Tag kommen sie hier vorbei und säubern die Straße,
das ist klasse. Früher war das mit dem Müll eine Katastrophe, aber Klin
Salone ist ein echter Ausweg aus unserem Müllproblem. Dieses System
hilft uns, unseren Müll besser zu kontrollieren – damit er nicht die Straßen
verstopft. Das ist ein großer Schritt nach vorne.“ Natürlich wird der Müll
nicht weniger, nur weil er nicht mehr in den Straßen herumliegt. Die riesige
Mülldeponie von King Tom liegt mitten im Viertel und ist mit ihren giftigen Dämpfen, dem verseuchten Grundwasser und den spontanen Bränden
eine große Gefahr für die Anwohner. Aber Klin Salone leiste wichtige Pionierarbeit, findet Kay Kay Maya, und wird philosophisch. „Klin Salone –
das ist doch mehr als nur eine Bezeichnung für die Müllabfuhr. Klin Salone
sollte auch ein Symbol sein für das Großreinemachen in den Köpfen und
Herzen der Menschen nach all den Kriegsjahren, damit die Sierra Leoner
wieder an ihr Land glauben. Das heißt auch: Wenn der Verstand sauber ist,
dann ist auch der ganze Körper, der ganze Mensch gesund. Wir alle sollten
Teil von Klin Salone sein.“
Die Regierung hat mit der Weltbank einen Vertrag über 2,5 Millionen
Dollar für den Müllsektor von Sierra Leone ausgehandelt. Als Gegenleistung wird das Freetown Waste Management System in ein privatwirtschaftliches Unternehmen mit dem Namen Freetown Waste Management Company umgewandelt. Dessen Partner bleibt der Dachverband Klin Salone mit
seinen jugendlichen Müllmännern und -frauen. Mohamed Sankoh hofft,
dass seine Beschäftigung als Mitglied der Jugendgruppe gesichert ist. Und
natürlich nicht nur das. Er wünscht sich, dass die Regierung und die Weltbank am Beispiel Klin Salone endlich begreifen, wie man schnell Arbeitsplätze schafft. „Denn das Land braucht sofort achthunderttausend Jobs,
damit es spürbar aufwärts geht!“ Und damit folgt er dem Mantra von GTZChefin Nour.
Allein kann Klin Salone den Müll nicht bewältigen. Die neue Regierung
unter Präsident Koroma hat den so genannten Cleaning Day wieder eingeführt. Am letzten Samstag im Monat müssen die Sierra Leoner auf Anordnung der Behörden bis Mittag zu Hause bleiben, um sich um ihren Müll zu
kümmern. Das heißt: Raus damit auf die Straße, man kreiert seine eigene
kleine Müllhalde und hofft, dass sie später abgeholt wird. Doch hier müsste
jeder Tag im Jahr ein Cleaning Day sein. Und außerdem sollte man ihn auch
auf die wunderschönen Strände ausweiten: Lumley Beach ist zwar berühmt
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für seine Beach Bars und Sonnenuntergänge, aber auch berüchtigt für allerlei Klinikabfälle, die immer wieder an Land geschwemmt werden.
Nein, Schlusslicht der Welt zu sein, das sei nicht gerade ermutigend für
die neue Regierung. Aber auch Finanzminister Carew und selbst Präsident
Koroma müssen sich schließlich jeden Tag durch den Müll zur Arbeit fahren lassen. Und dann werden ihnen beim Blick durch die getönten Scheiben
ganz bestimmt die tapferen Müllmänner von Klin Salone auffallen.
5.4. Aschobi – Swank Couture für ein neues Land
Nicht, dass es in Sierra Leone keine Models gibt. Aber ich frage mich die
ganze Zeit, ob diese wunderschöne langbeinige Frau sich verlaufen hat. Sie
scheint zu tanzen, und der glänzende Stoff ihres goldenen Abendkleids ist
schon ein aberwitziger Kontrast zu der heruntergekommenen Umgebung.
Wir sind schließlich mitten in Freetown, direkt neben dem Slum von Kroo
Bay, und hier sind solche Anblicke eher selten. Kleine Kinder jubeln und
staunen. Ich auch. Und dann fällt mir auf, dass ich gerade tatsächlich Zeuge
eines ganz besonderen Fotoshootings werde. Es sind Aufnahmen für die erste Fashion-Kollektion von Modedesignerin Adama Kai.
Adama Kai heißt eigentlich Adama Kargbo. Sie ist erst 25, und sie versucht, Haute Couture in ihre vom Bürgerkrieg gebeutelte Heimat zu bringen. Die Laufstege in Paris und New York kennt sie gut – denn ihr Handwerk
hat sie an der gleichen Modeschule wie Marc Jacobs und Donna Karan gelernt. Nach einigen Jahren in den USA ist Adama nach Sierra Leone zurückgekehrt, so wie schätzungsweise 50.000 andere Sierra Leoner aus der kaufkräftigen Diaspora. Die Heimkehrer sind Adamas beste Kunden – gerade
erst hat sie in Freetown auf der Pademba Road eine kleine Boutique eröffnet
– Aschobi Designs steht auf dem Holz-Schild über der Tür. Aschobi, das bedeutet auf Krio soviel wie „besonderes Kleid für besondere Anlässe“.
Adama kennt die mit brutaler Coolness codierte Verzweiflung der Jungs
von Blackstreet und Funkia. In ihren Augen drückt sich diese Verzweiflung
nicht nur dadurch aus, dass die jungen Männer ihren Frust in Palmwein und
Marihuana ertränken, oder dass die Mädchen anschaffen gehen, um ihre
Kinder zu ernähren. „Nein“, sagt Adama, „die Menschen verleugnen sogar
ihre afrikanische Identität, die offenbar jeden Wert verloren hat: Sie sind
schon stolz, wenn sie falsche Versace-Klamotten aus China tragen.“
Natürlich kann sich bislang noch kaum jemand Adamas Kleider leisten
– sie kosten umgerechnet zwischen 20 und 70 Euro. Aber die Designerin
versteht ihre Mode nicht nur als Produkt, sondern auch als Symbol – als
optimistisches Ausrufezeichen des neuen Sierra Leone: afrikanische Krea-
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tivität und Schönheit gegen Chaos, Selbsthass und massive Minderwertigkeitskomplexe. „So wie Chanel für Frankreich steht, Ralph Lauren für Amerika und Versace für Italien, so soll Aschobi für Sierra Leone stehen“, meint
Adama. Ein ehrgeiziger Plan. Ein kühner, ein mutiger Anachronismus, den
sie hier versucht. Sie ist zurückgekehrt. Nach Hause – in ein Land, das mehr
als zehn Jahre blutigen Bürgerkrieg hinter sich hat. Aber sie wagt auch einen
Schritt in die Zukunft, einen Schritt in Richtung Normalität. „Ich vermisse
New York und Paris, natürlich. Aber hier kann ich mehr erreichen.“ Insgeheim wünsche ich ihr, dass sie Recht behält.
Kleider, Röcke, Blusen, Hosen, Bikinis, Handtaschen; traditionelle afrikanische Muster, kombiniert mit Knallfarben und den modernen Schnitten
des Westens: Aschobi ist ein höchst origineller Afro-Retro-Chic mit Anleihen in den eleganten Fünfziger und Sechziger Jahren. Damals waren Bamako und Dakar Afrikas Modezentren, Léopold Senghors Négritude wurde in
den intellektuellen Zirkeln aufgesogen, der Kontinent war noch stolz und
frei – und die meisten Kolonialisten endlich weg. Genau dieses Lebensgefühl will Adamas Mode ganz Westafrika zurückgeben: Den Glauben an eine
ur-afrikanische Tradition der ständigen Erneuerung, die Kraft spendet für
einen Neuanfang. Auch in Sierra Leone. „Kleider machen Leute“, heißt es
– hier in Freetown bekommt dieser Satz eine neue Dimension. „Das hier ist
Swank Couture“, sagt Adama stolz und lächelt. Auch „Swank“ ist Krio und
heißt „Gut aussehen“.
5.5 Kampf um Anerkennung – Sichtbares und unsichtbares Leid
Als der Krieg zu Ende war, begann Jussu Jarka zu kämpfen. Er ist ein stolzer
Mann. Der frühere Bankangestellte will sich nicht helfen lassen, als er den Kugelschreiber aus der linken Hemdtasche holt, um mir ein paar Telefonnummern
seiner Freunde aufzuschreiben, die ich unbedingt noch treffen soll. Beschämt
beobachte ich ihn. Dort, wo andere Menschen Hände haben, hat Jussu Jarka
zwei stählerne Greifhaken, die über Drahtzugseile wie Zangen funktionieren.
„Die Dinger verdanke ich den Fotos und Presseberichten, die nach dem Krieg in
den USA erschienen sind. Ich kann alles mit den Prothesen machen, ich kriege
damit sogar den Reißverschluss meiner Hose zu.“
Es geschah 1999, während der January Six Invasion, und Jussu Jarka erzählt so nüchtern und ohne Bitterkeit, als sei der Horror der Vergangenheit
bloße Fiktion. Er hatte sich geweigert, bei den Rebellen des AFRC mitzukämpfen und war fortgerannt. Das war sein Todesurteil. Seine älteste Tochter
konnte er noch warnen, aber er selbst wurde von zehn Männern geschnappt.
„Ich hatte noch Glück“, sagt Jussu, „vor mir waren noch zwei andere dran.
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Die wurden an Ort und Stelle erschossen. Ich lag am Boden und hörte einen Kommandeur sagen, ‚Lasst uns an dem da nicht unsere Munition verschwenden.‘ Und dann haben sie mir beide Hände abgeschlagen, damit ich
meinen ‚Fehler‘ nie vergesse. Aber ich lebe, ich bin achtundvierzig. Und ich
bin heute Vater von sechs Kindern.“ Und Jussu Jarka ist heute auch Präsident der Amputees and War Wounded Association, die für mehr als 20.000
Überlebende in mühsamer Arbeit versucht, eine Lobby für die Schwächsten der Schwachen aufzubauen – für die Kriegsversehrten und Amputierten. „Natürlich frage ich mich – warum ich? Aber ich teile mein Schicksal
mit so vielen anderen Brüdern und Schwestern, dass es erträglicher wird.
Aber ich weiß auch, dass nicht jeder so offensiv mit seinem Leiden umgehen kann wie ich. Wer hat denn schon das Glück, dass ihm jemand solche
Greifzangen spendet?“ Jussu Jarka lebt heute in Grafton, eine halbe Stunde
außerhalb von Freetown, in einem der so genannten Amputee Camps. Die
Regierung hat ihnen Land zugewiesen, finanziert wurde der Bau der Einfamilienhäuser vom Norwegian Refugee Council. Natürlich fühlen sie sich
ausgegrenzt und abgeschoben, stigmatisiert und alleingelassen mit ihrem
Trauma. Andererseits sind sie unter sich, niemand zeigt hier mit dem Finger
auf sie. Jussu Jarka und seine Organisation wollen offen über die Verbrechen
von damals sprechen, und sie kämpfen für Entschädigung. „Reparationen
sind ein Zeichen der Entschuldigung seitens der Täter“, sagt er, „sie wirken
wie Medizin, sie helfen uns, die Schmerzen ein wenig zu lindern.“ Jarka fordert die Einrichtung eines Kriegsopferfonds, aus dem die Amputierten und
andere Opfergruppen Entschädigungen bekommen sollen. Ein Prozentsatz
der Einkünfte aus dem Diamantenhandel soll das finanzieren. „Mein größter Wunsch wäre es, dass meine Leidensgenossen im ganzen Land die Finanzhilfen für ihre Häuser bekommen.“ Unermüdlich streitet Jussu Jarka
für seine Forderungen – und stößt nicht immer auf offene Ohren. Der Staat
ist klamm, und für die Unterstützung der Kriegsopfer sind kaum Strukturen
geschaffen worden. So ist er ständig unterwegs, immer das Handy am Ohr,
immer auf der Suche nach Anerkennung der Menschen, für die er kämpft.
Mühsam muss er zu hohen Kosten im Mietwagen im ganzen Land seine
Mitgliedsverbände besuchen, viele Kilometer zurücklegen, um mit Ministern und Nichtregierungsorganisationen zu sprechen – um am Ende doch
nicht zu wissen, ob die Gespräche diesmal etwas gebracht haben. Aber aufgeben, das kommt für ihn nicht in Frage. Als ich Grafton verlasse, winkt Jussu mir lange nach. Seine metallenen Greifhaken wirbeln durch die Luft.
Sierra Leones Gesellschaft ist nicht nur von sichtbarem Leid gezeichnet,
sondern auch von einem unfassbar stummen, unsichtbaren Trauma. Mindestens fünfzigtausend Frauen und Mädchen wurden im Krieg vergewaltigt
und zum Teil als Bush Wives entführt, als Sklavinnen für sexuelle Dienste.
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Kaum vorstellbar, dass es kaum Einrichtungen gibt, die sich um die überlebenden Opfer dieser Torturen kümmern. Graceland wurde von der Sozialtherapeutin Bondu Manyeh gegründet, einer warmherzigen kräftigen Dame
Mitte Fünfzig, die mich sofort ins Herz schließt. Ihre Herzlichkeit nimmt
mir die Angst, mich als weißer, männlicher Eindringling in einer völlig verkehrten Umgebung zu bewegen. Als ich Graceland zum ersten Mal besuche,
bemerke ich sofort die ungewöhnliche Stille. Nur die Nähmaschinen rattern. Dreißig leere Augenpaare blicken mich an. Einige Mädchen versuchen
es mit einem Lächeln. Dieses Haus ist ihr Kokon, der Schutzraum für kleine gepeinigte Körper und tief zerritzte Seelen, und mit jedem Blick, jedem
Schritt spüre ich die Zerbrechlichkeit dieser Menschen.
Gerade hat Bondu mit den Mädchen die neuen Räume der kleinen Organisation in Goderich bezogen. Stolz zeigt sie mir ein frisch gestrichenes Klassenzimmer, in dem drei Gruppen gleichzeitig unterrichtet werden – Grundlagen im Rechnen, Schreiben und Lesen, etwas Gesellschaftskunde. „Sie
haben ja nie etwas lernen können. Diese Mädchen haben alle mehrere Vergewaltigungen hinter sich, gerade in den letzten Kriegsjahren war es besonders schlimm. Ein paar von ihnen sind schwanger geworden.“ Ich frage, wie alt die Mädchen heute sind, im Jahr 2008. „Suna ist die älteste, sie
ist 18.“ „Aber der Krieg ist doch schon seit sechs Jahren vorbei….?“, frage
ich. Bondu nickt und schaut mich schweigend an. Mir stockt der Atem. Alle
müssen sie damals Kinder gewesen sein.
Graceland setzt neben dem Unterricht auf praktische Ausbildung und hat
sogar einen jungen Schneider eingestellt. Bei ihm lernen sie, wie sie Kleider,
Taschen und Hemden nähen und batiken. Die Ergebnisse können sich wirklich sehen lassen. „Uns fehlt das Geld an allen Ecken und Enden“, klagt Bondu. Wie lange sie noch die beiden Mitarbeiter für die Buchhaltung bezahlen
kann, weiß sie nicht. Sie muss Klinken putzen – bei UNICEF, beim Ministerium, bei nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen. „Es
sind nicht viele, die hierher kommen, um mit eigenen Augen zu sehen, was
hier vor sich geht und wie wir kämpfen.“ Aber darüber redet sie nicht mit den
Mädchen. Für ihre Schützlinge hofft sie aber, dass sie auf dem Kirchenbasar
nächsten Sonntag ganz viele selbst genähte Kleider verkaufen.
Suna und ihre Freundin Asafa lächeln verstohlen, als ich sie bei der Arbeit beobachte und sich unsere Blicke kreuzen. Parallel zu dieser Beschäftigungstherapie bietet Bondu psychosoziale Betreuung an, viele Mädchen
muss sie individuell betreuen, vor allem weil viele von ihnen in Beziehungen leben, in denen sie wieder missbraucht und vergewaltigt werden – auch
nach dem Krieg. „Diese Gesellschaft ist krank“, sagt Bondu, „der Krieg
hat uns verändert. Sierra Leone war immer ein armes, aber auch immer ein
friedliches Land. Was ist nur aus uns geworden?“ Die Mädchen von Grace-
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land sind auf der Suche nach dem richtigen Leben im falschen. Aber sie haben nur dieses eine.
5.6 Fambul Tok und Fourah Bay – Versöhnung in Sweet Salone
Mama Salone suffered
And had nothing to offer
Ten Years of war left us shattered
With no hope to offer
Openly we cried but no one came to our slump
The war has ended
Many have repented
Though others seem complacent
Those that have died are truly gone
The structures that were burnt
Have been beautifully rebuilt
Would our arms and limbs grow again
Will those that have been made disabled
Be able to toil again?
Haa, the silent cry
Silently we have cried
Is there any hope for us?
The rebels were paid for their jobs
Victims snubbed in their misfortune
There is a silent pain a silent cry
In the soul of those living with war
The silent cry continues ringing
With hardly anyone listening
Have government heard about it
Are there International Committees? Or
Human Rights Activists? To notice that
Silently, we are crying.
- Zainab Kamara, “The Silent Cry” (Fourah Bay College, 2008)
Zainab Kamara wäre froh, wenn sie wüsste, dass ihr Gedicht veröffentlicht wird. Sie hätte es nie zu hoffen gewagt, dass ihre Stimme gehört wird.
Sie ist 25 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Ihre Beine hat sie im Krieg verloren. Mit zerbrechlicher Stimme liest sie im Schatten des Pavillons mitten
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im Freedom Park dem gebannten Publikum vor. Darunter sind Schulkinder, die den Krieg nicht mehr erlebt haben, und Studenten, die als künftige Elite des Landes versuchen, die Vergangenheit zu verstehen und ihre
Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen. Dazu gehört nach Ansicht des
Studentenführers Reuben Lewis, immer wieder den Finger in die Wunde
zu legen. Fourah Bay College, die Universität hoch über der Stadt, galt
einmal als das Athen Westafrikas. Doch auch von dort ging der Tod aus,
denn noch im Studentenalter erarbeiteten hier einige spätere Rebellenführer ihre Mordpläne. „Wir wollen ein Zeichen setzen, Fourah Bay will Ideen liefern, die dem ganzen Land dienen – ganz so wie früher“, erklärt Reuben. Dafür hätten er und seine Kommilitonen keinen besseren Ort wählen
können als den Freiheitspark in der Stadt, in unmittelbarer Nähe zum Präsidentenbüro und den Ministerien. Aufbruchstimmung ist zu spüren, eine
kollektive Suche nach Identität, nach Symbolen. So wollen die Fourah Bay
Studenten gemeinsam mit dem Westafrikanischen Friedensnetzwerk erreichen, dass der 18. Januar zum Freedom Day erklärt wird. An diesem Tag
wurde 2002 in Lomé das Ende des Bürgerkrieges besiegelt. „De war don
don na Salone“, schreit Reuben mir ins Mikrofon. Der Krieg ist endgültig vorbei.
Reuben Lewis sieht die Initiative der Studenten als Ergänzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC), die nach südafrikanischem Vorbild zwischen 2002 und 2005 die Menschenrechtsverletzungen in Sierra
Leone dokumentierte. Und auch John Caulker, ehemaliger Mitarbeiter der
TRC-Working-Group, betrachtet den mehr als 2.000 Seiten starken Kommissions-Bericht bis heute als eines der wichtigsten Vermächtnisse der Versöhnungsarbeit. Aber er warnt davor, hier stehen zu bleiben. „Das war alles
schön und gut, aber diese Art von Versöhnung ist nicht unser Weg“, mahnt
er, und mit seiner Kritik steht er in Sierra Leone nicht allein. Caulker kritisiert, dass etwa die TRC und die Einsetzung des Sondergerichts für Sierra Leone zeitlich getrennt wurden. „Viele Täter kamen nicht zur TRC, weil
sie befürchteten, später beim Sondergericht abgeliefert zu werden.“ Außerdem beklagt Caulker die mangelnde finanzielle Ausstattung der TRC. „Wir
konnten keine ausreichende Informationskampagne führen, dazu kommt,
dass ein Großteil der Bevölkerung nicht lesen oder schreiben kann, und dass
die Menschen da draußen nichts von der rechtlichen Stellung der TRC wissen.“ Daher setzt Caulker jetzt auf einen anderen, einen wie er sagt „afrikanischen“ Ansatz, den Fambul Tok – das Palaver in der Familie. „Du kommst
aus Europa, für Dich mag das weltfremd klingen. Aber wir haben es immer
so gemacht, und wir hätten es auch nach dem Krieg so machen sollen, statt
uns von den Vereinten Nationen diese Kommission aufzwingen zu lassen:
Wir müssen uns auf unsere Tradition zurückbesinnen – wir müssen wieder
258
Sierra Leone
Alexander Göbel
zusammen unter dem Baum sitzen und die Kolanuss teilen, so wie früher, als
wir auf diese Art alle, aber auch wirklich alle Konflikte beilegen konnten.“
Nachdenklich fahre ich zurück nach Aberdeen. Ob Sondergericht, TRC, traditionelle Ansätze oder die studentische Symbolpolitik: Im riesigen Mosaik
der sierra-leonischen Versöhnung mit sich selbst sind das alles sehr kleine
Steine. Doch die Menschen sind dazu verdammt, an die Selbstheilungskräfte dieser geschundenen Gesellschaft zu glauben, es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Nur wenn die Versöhnung gelingt, kann das Land wirklich den
Neubeginn wagen.
„Die letzten 10, 15 Jahre lagen wir am Boden“, sagt Christiana Thorpe,
die Leiterin der Wahlkommission. „Ich denke, das ist der Moment für Sierra
Leone, endlich nach oben zu klettern, es ist eine goldene Gelegenheit, und
wir sollten sie nicht verpassen. Wissen Sie, wenn man oben ist, hat man immer Angst, herunterzufallen. Aber wenn man unten ist – dann kann es nur
aufwärts gehen!“ Sierra Leone steht an der Kreuzung zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Niemand weiß genau, wohin die Reise geht. „Hauptsache, sie geht weiter!“, findet Christiana
Thorpe. Kaum ein Spruch fasst den Zustand des Landes besser zusammen,
als der Aufkleber auf dem Poda Poda direkt vor mir: No condition is permanent. Für die einen spricht daraus tiefe Zuversicht, für die anderen mag dieser Satz eine Warnung sein.
6. Epilog
Die Sonne geht unter hinter Harry’s Bar am Lumley Beach. Das letzte,
eisgekühlte Star Beer. Der letzte Tag in Salone – morgen geht es mit der
Fähre über die Bucht zum Flughafen – die Helikopter sind einfach zu gefährlich, außerdem sehe ich ein paar Tische weiter die ukrainischen Piloten
sitzen, die wirklich keinen frischen Eindruck mehr machen.
Überall diese scharfen Zischlaute – so macht jeder auf sich aufmerksam,
der etwas verkaufen will. Vor dem Bambus-Zaun der Strandbar bieten kleine
Mädchen Erdnüsse an. Eines davon humpelt – ihm fehlt das rechte Bein, und
natürlich hat es nicht das Geld für eine Prothese. Ein paar Meter weiter stehen die Fischer in einer langen Reihe hintereinander, es sieht aus wie Tauziehen. So holen sie schrittweise ihr Netz ein. Die Frauen warten schon ungeduldig, sie sind dafür verantwortlich, den Fang herauszuholen, nach Größe und
Art zu sortieren, an Ort und Stelle auszunehmen, zu entschuppen, und dann
direkt an der Beach Road vor dem UN-Gebäude, dem Mamy Yoko Hotel, zu
verkaufen – wenn es sein muss, auch nach Einbruch der Dunkelheit. Auch
wenn es dann hier unten am Strand sehr gefährlich werden kann.
259
Alexander Göbel
Sierra Leone
Ich spüre plötzlich einen Zwang, mein Bier schnell auszutrinken, denn
aus den Boxen dröhnt ausgerechnet Michael Jacksons Heal the World. Hilflose Versuche, die lächerliche Absurdität dieses Moments abzuschütteln wie
eine lästige Fliege. Make it a better place/ for you and for me and the entire
human race. Ich muss gehen. There are people dying/if you care enough for
the Living/make a better place for you and for me… In der Ferne winkt mir
Joseph zu, das Maskottchen der amputierten Fußballer, der Culcha Man. Er
hat mich entdeckt, strahlt über das ganze Gesicht und humpelt auf seinen
Holzkrücken immer schneller in meine Richtung – er weiß, dass ich morgen
abreise. Ich warte auf ihn, aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihm gleich
in die Augen sehen soll. Ich bin Ngor Joe. Bruder Joe, der Sohn der Familie. Salone, a de go.
7. Dank
Es ist schwer, am Ende eines solchen Projektes einzelne Menschen herauszuheben. Nur ein kleiner Bruchteil ist erzählt, man wird niemandem gerecht. Dennoch: Ich möchte zuallererst meinen sierra-leonischen Freunden
danken. Lamin, Abubakarr, Idriss, Edward, Rex, Titus, Michael, Mabinty,
Philip, Bondu, Hannah, Freddie, Peter, Joseph, Solomon, Alusine und allen
anderen: Ihr habt mir die Augen geöffnet. Meine Mitbewohner in Freetown
waren treue Begleiter, hatten immer ein offenes Ohr für mich und haben mir
geholfen, meine Erlebnisse zu verarbeiten. Besonderer Dank gilt auch Salua
Nour, Karlheinz und Joan, den Teams der GTZ in Freetown, Kenema, Koidu
und Kailahun, sowie Hildegard Scheu und Anne Jung von medico international. Danken möchte ich ganz besonders der Heinz-Kühn-Stiftung, ihrem
Kuratorium und vor allem Ute Maria Kilian. Für ihre große Afrika-Begeisterung, ihre ansteckende Neugier, die stete Ermutigung und die große Geduld. Und dafür, dass sie an mich und an dieses Projekt geglaubt hat.
260
Andreas Große Halbuer
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Indien
vom 22. Oktober bis 30. November 2007
261
Indien
Andreas Große Halbuer
Mega-Städte vor dem Kollaps
Urbanisierung und Globalisierung am Beispiel von
Bangalore und Bombay
Von Andreas Große Halbuer
Indien, vom 22. Oktober bis 30. November 2007
263
Indien
Andreas Große Halbuer
Inhalt
1. Biographisches
266
2. Die urbane Wende und das Leben im Nicht-Seriellen
266
3. Bangalore
271
3.1 Erste Begegnung mit einem Monster
271
3.2 To be bangalored
273
3.3 Im urban jungle
275
3.4 Ottos Garage
277
3.5 Jenseits des Drecks
278
3.6 Stadt der gekochten Bohnen
279
3.7 Bangalorian Frust
281
3.8 Die Callboys der Globalisierung
282
4. Bombay
286
4.1 Der Preis der Ballung
287
4.2 Die Rooftop Romeos von Dadar
288
4.3 Das Collier der Königin und zweieinhalb Millionen Kilo Scheiße
292
4.4 Slum zu verkaufen
294
4.5 Bombay von oben
301
5. Liste der Waren und Dienstleistungen, die ich dankend abgelehnt habe 302
6. Danksagung
302
265
Andreas Große Halbuer
Indien
1. Biographisches
Andreas Große Halbuer, Jahrgang 1972, studierte Politikwissenschaft,
Wirtschaftspolitik und Angewandte Kulturwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Während der Schul- und Studienzeit arbeitete er bei den Westfälischen Nachrichten, berichtete über mindestens 3.000 Taubenzüchter-Generalversammlungen und 4.000 Schützenfeste.
Als Sportfotograf tingelte er durch die Fußball-Arenen des Ruhrgebiets.
Nach dem Studium absolvierte er die Düsseldorfer Georg-von-HoltzbrinckSchule für Wirtschaftsjournalisten und arbeitet seit fünf Jahren als Redakteur der WirtschaftsWoche in Düsseldorf, zunächst im Karriere-Ressort, seit
2007 im Politik-Ressort.
2. Die urbane Wende und das Leben im Nicht-Seriellen
„Und Du fährst da freiwillig hin?“, fragten mich Freunde, als ich ihnen
von meinen Plänen erzählte, in Bangalore und Bombay zu recherchieren.
Die Frage ist beileibe nicht so ignorant, wie sie vielleicht zunächst klingt.
Warum in Städte reisen, in denen sich rechnerisch 1.000 Menschen eine
Toilette teilen, in denen es am Tag viel zu heiß und zu feucht ist und nachts
die Hunde kommen? Warum dorthin fahren, wo die Luft so schlecht ist, dass
das Atmen schwer fällt, wo Krankheiten sich rasend schnell verbreiten, wo
für die letzte Bruchbude New Yorker Hotelpreise verlangt werden, und wo
die Chancen wirklich nicht schlecht stehen, im mörderischen Verkehr erst
über den Haufen gefahren und dann einfach liegen gelassen zu werden?
Die Antwort ist simpel und kommt nicht ohne eine Prise Pathos aus: Ich
wollte Augenzeuge einer epochalen Wende auf diesem Planeten werden, die
sehr unspektakulär irgendwann im vergangenen Jahr mit der Geburt irgendeines Kindes in irgendeiner Stadt ihren statistischen Anfang nahm. Seit der
Geburtsstunde dieses unbekannten Kindes leben nun erstmals in der Geschichte der Menschheit mehr Bewohner in Städten als auf dem Land. Feierlicher ausgedrückt: Das Zeitalter der Städte ist angebrochen, die Zukunft,
davon muss man ausgehen, ist urban.
Siedlungen nie gekannter Dimension sind in den vergangenen Jahren entstanden. Im Hier und Jetzt gibt es weltweit über 400 Millionenstädte, mehr
als doppelt so viele wie noch vor 30 Jahren und in sieben Jahren werden es
550 sein. Diese Verdichtung der Menschheit ist beispiellos, und sie vollzieht
sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Vereinten Nationen (UN)
rechnen im Jahr 2030 mit einer Stadtbevölkerung von fünf Milliarden Menschen. Das bedeutet, dass die Stadtpopulation bis zu diesem Zeitpunkt alle
266
Indien
Andreas Große Halbuer
zehn Tage um 1,6 Millionen Menschen wächst. Und schon jetzt zählen die
UN in 20 Ballungszentren mehr als zehn Millionen Menschen – diese Städte
gelten damit gemeinhin als Megacities.
Besonders in Asien wachsen diese Metropolen ungebremst. Und besonders im ländlich sozialisierten Indien führt das zu einschneidenden Veränderungen. Mit der Verstädterung der Erde konzentriert sich das gesellschaftliche, ökonomische und religiöse Leben mehr als je zuvor auf den urbanen
Raum. Mohandas K. Gandhis Ideal vom ländlichen Leben hat an Gewicht
verloren, auch wenn indische Intellektuelle immer noch die Sanftmut und
die Ehrlichkeit der Landbevölkerung hervorheben, die rural society als erstrebenswerte Gesellschaftsform anpreisen.
Doch spätestens seit der Öffnung der Märkte vor 16 Jahren ist der Zug in
Richtung Stadt nicht mehr zu stoppen. Indiens Wirtschaft wächst jährlich
um acht Prozent – und zwar in den Städten, nicht auf dem Land. 60 Prozent
des indischen Nettoinlandsprodukts erwirtschaften Städter, allein Bombay
steuert 38 Prozent des gesamten indischen Steueraufkommens bei.
Zugleich verschlechtern sich auf dem Land die Verdienstmöglichkeiten zusehends. Zu Tausenden suchen verarmte Bauern den Freitod, weil sie weder
Saatgut noch Kredite für selbiges bezahlen können. Zwischen 1991 und 2001
traten rund 70 Millionen Dörfler den Weg in die Stadt an. Neuere Zahlen gibt
es nicht, und auch wenn der Zuzug allmählich abschwächt, ist die Land-StadtWanderungswelle im Vergleich zu anderen Ländern immer noch gewaltig.
Wirtschaftsmagazine verklären gern den Aufstieg des Urbanen, indem sie
eilfertig die Tellerwäscherromantik, die Hoffnung des armen Dörflers auf
ökonomischen Vorteil in der großen Stadt als Migrationsmotiv heranziehen.
„Bullshit“, sagen viele in Bombay. Nicht die Hoffnung auf das Mehr treibt,
sondern die Angst vor dem Weniger vertreibt. Das Bevölkerungswachstum
der Städte ist nichts anderes als eine große Landflucht.
Das ist dramatisch, denn das Schlimmste kommt erst noch. Auch wenn
die indischen Megastädte einen anderen Eindruck vermitteln: Der Urbanisierungsgrad in Indien liegt bei gerade mal 30 Prozent, das internationale
Mittel beträgt 50 Prozent. Indien ist also im internationalen Vergleich unterurbanisiert. Und die Modernisierung und Mechanisierung der indischen
Landwirtschaft hat gerade erst begonnen, noch viel mehr Jobs werden wegfallen. Gerade für untere Kasten ist das Dorf „eine Falle, eine Art Gefängnis“, zitiert der Autor Edward Luce in seinem Buch „In Spite of the Gods“
den indischen Infosys-Chef Nandan Nilekani, der das größte IT-Unternehmen des Subkontinents leitet. Daraus folgt die Unausweichlichkeit der fortschreitenden indischen Urbanisierung. Es werden mehr, vor allem arme
Menschen kommen, die Städte werden wachsen. Indien hat keine Wahl, es
muss mit diesem Problem fertig werden. Irgendwie.
267
Andreas Große Halbuer
Indien
Und es ist ein Problem gewaltigen Ausmaßes. Als Folge dieser Entwicklung haben Megastädte wie Bombay bald mehr Einwohner als Australien, kaum noch zu kontrollierende städtische Steppen entstehen, die Folgen der Urbanisierung vermag niemand auch nur annähernd abzusehen.
Die Verstädterung bündelt alte und schafft neue Probleme. „ Die Strategieund Innovationsfähigkeit von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft“ –
so befürchten die UN-Forscher - „wird auf eine harte Probe gestellt.“
Was mit diesen wohlfeilen Worten gemeint ist, spürt jeder Besucher
Bombays spätestens im Taxi vom Flughafen auf dem Weg in die Stadt.
Die Urbanisierung hat die Kluft zwischen Arm und Reich vielleicht größer
gemacht, ganz sicher jedoch visibler, erfahrbarer, direkter. Die so typische
und unmittelbare Co-Existenz von Glanz und Elend indischer Metropolen ist Emblem einer ausgewachsenen gesellschaftlichen Schizophrenie.
Die neuen Städter, die ohne Gepäck in die Bahnhöfe gespült werden, leben unter größtenteils menschenunwürdigen Zuständen in direkter Nachbarschaft zu für sie unbegreiflichem Reichtum.
Ein Kaufmann aus Gujarat bezahlt für eine Übernachtung im Bombayer Taj Mahal Palace-Hotel, der vielleicht stolzesten Herberge Indiens, je
nach Zimmerkategorie bis zu 165.000 Rupien, etwa 2.600 Euro. Einige
Suiten sind sogar weitaus teurer. Mit diesem Geld kann eine vielköpfige
Familie im Slum ein paar Meter weiter in der Cuff Parade locker ein paar
Jahre über die Runden kommen. Und die Familie im Slum kann froh sein,
dass sie überhaupt eine Hütte und damit ein Dach über dem Kopf hat, denn
das ist längst nicht jedem vergönnt: Zigtausende legen sich nachts mangels
Schlafstätte einfach auf den warmen Asphalt. Wer abends auf der berühmten
Ver Nariman Road im Stadtteil Churchgate flaniert, muss aufpassen, nicht
versehentlich über Schlafende zu stolpern.
Die obszöne Ungleichheit erträgt die indische Gesellschaft bislang mit erstaunlicher Gelassenheit, vermutlich auch oder gerade deshalb, weil sie einerseits religiöse Tranquilizer einwirft, andererseits religiöse Konflikte ausficht,
anstatt entlang der Arm-Reich-Grenze die Schwerter zu schwingen.
Doch der soziale Druck steigt Tag für Tag. Ein weit gereister Brahmane aus Bombay, Venkatesh Rao, mit dem ich in Bangalore häufig unterwegs war, ist wie viele andere auch besorgt um die Zukunft seiner Heimat.
Er sagt: „I think, we’re sitting on a fuckin’ timebomb“.
Und selbst wenn der soziale Frieden in Städten wie Bangalore oder Bombay gewahrt werden kann, selbst wenn dieses von Korruption durchlöcherte, als Demokratie getarnte politische System den ultimativen Stresstest
besteht, stellt sich ganz praktisch die Frage, ob die gigantischen urbanen
Armutskonzentrationen überhaupt biologisch und ökologisch überlebensfähig sind.
268
Indien
Andreas Große Halbuer
Bisher jedenfalls ist das nicht zu erkennen, bisher kollabieren die Megacities täglich aufs Neue, bisher brüten die Stadtplaner an großen Entwürfen,
von denen dann nichts als ein hilfloses muddling through bleibt. Und das
dreisterweise von Stadtpolitikern wie jüngst während einer großen Bombayer Urban-Age-Konferenz, organisiert von der London School of Economics,
noch als großer Erfolg gefeiert wird.
Das ist grotesk, denn jeder weiß, dass Städte wie Bombay infrastrukturell heillos überfordert sind. Flüsse verwandeln sich in Kloaken, unkontrolliert breiten sich Slums aus, die Luft ist durch den Straßenverkehr verpestet.
Die bleihaltige Luft wiederum vergiftet die Lebensmittel, der Dreck dringt in
jede Pore. Häufig sind Abwasserkanäle – sofern überhaupt vorhanden – undicht. Das Abwasser vermischt sich mit Trinkwasser, die Menschen erkranken
an der Amöbenruhr, die durch Exkremente übertragen wird. 40 Prozent der
Haushalte in Bombay haben keine funktionierende Trinkwasserversorgung.
Bangalore und Bombay sind aus stadtsoziologischer Sicht sicherlich die
aufregendsten indischen Städte. Bangalore, das Silicon Valley des Ostens
ist Indiens IT-Hub, ein sich multiplizierendes Live-Museum der Globalisierung. Die Forscher nennen Städte wie Bangalore mit weniger als zehn
Millionen Einwohnern Megacities of tomorrow. Kennzeichnend für diese
Städte ist die Dynamik des Bevölkerungswachstums mit Raten von teilweise über zehn Prozent pro Jahr.
Das sehr erwachsene Bombay ist Ausdruck indischen Stolzes und Elends
zugleich. Wirtschaftliches Kraftzentrum, größte Stadt Indiens, in jeder
Hinsicht multipel, polyzentrisch, eine tief gespaltene Persönlichkeit mit
vielen Beinamen: Bollywood, Boombay, Slumbay. In dieser wilden Stadt
an der Arabischen See verdichten sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des ganzen Subkontinents, Hoffnungen treffen auf Ängste, Chancen
auf Niederlagen.
Die auf sumpfigem Gebiet errichtete Finanzkapitale ist Indiens aufregendster Ort, mit Sicherheit einer der schizophrensten Flecken auf dem
ganzen Planeten. Nirgendwo in Indien sind die Häuserpreise höher, nirgendwo kostet eine Wohnung mehr, nirgendwo quetschen sich so viele
Menschen auf so engem Raum, für jede Putzkammer ohne Fenster findet
sich ein Mieter, nirgendwo ist Platz und damit Privatsphäre so sehr Luxus
wie in Bombay. Und nirgendwo ist mehr menschliche Arbeitskraft versammelt, nirgendwo sind deshalb die Löhne für einfache Jobs geringer.
Mitgebracht habe ich sehr subjektive, fragmentarische und notizenhafte
Eindrücke und kleine Stadtgeschichten. In Bangalore traf ich unter anderem einen 20-jährigen Moslem, er arbeitet in einem Callcenter und will
möglichst bald wieder zurück zur Uni. Die Arbeit im Callcenter macht
ihn zum Besserverdiener und Angehörigen der Generation I-pod, zum
269
Andreas Große Halbuer
Indien
Protagonisten des Aufstiegs der Mittelklasse. Glücklich ist er aber deshalb nicht.
In Bombay recherchierte ich vor allem in Dharavi, einer Millionenstadt
in der Megalopolis Bombay. Dharavi, größter Slum Asiens, ist ein faszinierender Mikro-Kosmos mit erstaunlich weit entwickelter Ökonomie. Seine Bewohner fürchten um ihre Zukunft, sie haben Angst, zu Statisten im
wohl größten Stadtentwicklungsprojekt der Menschheitsgeschichte marginalisiert zu werden: Dharavi, von seiner Einwohnerzahl etwa so groß wie
Köln, soll entslumt und zu einem modernen Mittelklasse-Quartier extrapoliert werden. Wie immer in Bombay geht es bei solchen Projekten um viel
Geld, um Macht, wie immer gibt es wenige Gewinner und viele Verlierer.
Dieser tagebuchartige Bericht über meinen kurzen Aufenthalt in Bangalore und Bombay (ich werde hier stets wie fast jeder vor Ort die alten Namen
benutzen und nicht, wie es politisch korrekt heißen müsste, Bengaluru und
Mumbai) dokumentiert nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was in diesen Städten Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute passiert. Er
wird der Heterogenität nicht gerecht, kommt natürlich über das Stadium der
Annäherung nicht hinaus.
Und ja, es war mitunter mühselig, in diesen Steppen der Heterogenität an
das Ziel zu gelangen, überhaupt erst einmal ein Ziel zu definieren. Vieles
hat nicht geklappt. Ständig musste ich meine Pläne umwerfen, improvisieren, neu justieren. In diesem endlosen Gewühl existiert auf den ersten Blick
nur das Chaos. Sich darin zu bewegen, kostet viel Kraft.
Tröstlich war nur, dass es auch den Indern so geht, die vom Land in
die Städte strömen. Das Simultan-Diverse, wie Stadtsoziologen sagen, die
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, macht auch ihnen zu schaffen. Denn
das Leben in diesen Städten läuft nicht seriell, die Dinge folgen keiner zeitlichen Logik oder einer inhaltlichen Kohärenz. Jedes Ding, um Karl Marx
zu bemühen, scheint mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. „Wir sind
in der Epoche der Juxtaposition, des Nebeneinander, des Auseinander“ beschreibt der französische Philosoph Michel Foucault den urbanen Raum
der Moderne.
Dessen Kennzeichen in Indien ist die permanente Paradoxie. Das Land,
das Satelliten ins All schickt, schafft es nicht, seinen Bürgern genügend öffentliche Toiletten bereit zu stellen, mit der Folge, dass Millionen Menschen
auf die Straßen scheißen. Und in Bangalore gibt es an jeder Ecke Cappuccino, aber nicht genügend Wasser für alle. Die indischen Megastädte beenden
das Zeitalter des linearen Fortschritts. Oder, wie der Historiker Gyan Prakash argumentiert, die Stadt verhalte sich „ahistorisch“. Sie sei kein Stadium im Übergang von Tradition zu Moderne, sie bringe keine Erlösung oder
Verbesserung für alle, sie ist „modern und vormodern zugleich“.
270
Indien
Andreas Große Halbuer
Tatsächlich, bei meinen Wanderungen durch den Slum Dharavi fühlte ich
mich wie in einen Roman von Charles Dickens versetzt. Und nur zehn Kilometer entfernt, beim abendlichen Bier, etwa in der Rooftop-Bar des Hotel
Intercontinental am Marine Drive, war die Geschichte mit einem Mal um
200 Jahre vorangeschritten. Bombay ist eine stadtgewordene Zeitmaschine.
Die vielleicht größte Anstrengung an Orten wie diesen ist, diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu verstehen und mit ihr umzugehen.
3. Bangalore
3.1 Erste Begegnung mit einem Monster
Seit nun 30 Minuten kreist unser Airbus auf die Landung lauernd über
Bangalore. Wolken jagen am Flugzeugfenster vorbei, gelegentlich geben sie
den Blick frei auf die explodierte Stadt. Bis zur Horizontlinie nichts als
braun-graue Betonklumpen, unterbrochen von wenigen grünen Flecken. Vor
15 Jahren lebten hier gerade mal 500.000 Menschen, heute sind es offiziell
sechs Millionen, inoffiziell etwa noch mal vier Millionen mehr. Jeden Tag
strömen neue Menschen hinzu, meist ungebildete Leute aus den ärmeren
Staaten des Nordens wie Bihar oder Uttar Pradesh.
Es ist still im Flugzeug, draußen zerrt der Wind an der Maschine. Mein
Sitznachbar, ein Inder um die dreißig Jahre alt, zieht die Nase hoch und
schluckt den Schleim herunter. Er ist sportlich elegant gekleidet, nestelt an
seinem Telefon herum, nickt mir freundlich zu. Wir beginnen – lächerlich
spät nach Stunden gemeinsam verbrachter Flugzeit – einen umständlichen
Smalltalk. Ich erzähle von meinen Plänen, in Bangalore zu Urbanisierung
zu recherchieren. Er zeigt mir stolz die von oben gut zu erkennenden Golfplätze Bangalores. „Du wirst Bangalore mögen”, verspricht er mir, „it’s the
place to be, India’s most international city”. Und zieht wie zur Bekräftigung
seinen Rotz besonders laut hoch.
Nach quälenden 45 Minuten Kreisfliegerei hellt sich der Horizont endlich
auf, der Regen über Bangalore lässt nach, der Pilot bringt die Maschine so
sanft herunter, als wolle er sich entschuldigen für das Geholper in der Luft.
Ich betrete zum ersten Mal in meinem Leben indischen Boden. Dieser für
mich dann doch einigermaßen feierliche Augenblick steht in absurdem Kontrast zu der schäbigen Umgebung. Neonröhren tauchen die Halle in kaltes
Licht, in den Ecken steht Gerümpel rum, auf dem Boden hat jemand einen
Farbeimer ausgekippt und sich nicht die Mühe gemacht oder die Zeit gehabt, die Spuren des Malheurs zu beseitigen. Der gemessen am Verkehrsaufkommen lächerlich kleine Flughafen, eine ehemalige Militärstation, wird
271
Andreas Große Halbuer
Indien
bald erlöst von seiner Überlast. Ein neuer Airport ist schon im Bau. Ein Jahr
muss er noch durchhalten, noch einmal knapp 25 Prozent mehr Passagiere
als im Vorjahr abfertigen.
Ich bin gut vorbereitet, damit mein Start in Bangalore passabel gelingt.
Doch schon zehn Minuten nach der Landung erteilt mir die Stadt eine Lektion. Sie lautet: Vergiss alles, was du gelesen hast. Live und in Farbe sind
die Dinge ganz anders. Tatsächlich übertrifft das Chaos da draußen meine
Befürchtungen: Vor der Ankunftshalle in einem schlammigen Rondell hat
sich ein unentwirrbares Knäuel aus Menschen, Taxis, Koffern und Motorrädern gebildet. Jeder sucht nach einer Lücke, um seinen Weg fortzusetzen.
Der Regen in der einsetzenden Abenddämmerung tränkt die Szenerie in eine
seltsame Entrücktheit.
Das also ist Indiens „Boomtown“, „Silicon Valley of Asia“ und „place to
be“? Die hektisch hupenden Fahrer, ihre stinkenden Autos, die bettelnden
Kinder, die schreienden Ordner, der prasselnde Regen zeichnen ein anderes, ein grelles und verdammt unmodernes Bild. „Sir, Sir, Sir!“ von allen
Seiten. Jeder möchte sich um mein Gepäck kümmern, ich muss regelrecht
darum kämpfen, meinen Koffer in der Hand zu behalten. Ein pelziger Geschmack der von Autoabgasen getränkten Luft kriecht in meinen Mund, ein
Geschmack, der mich in den nächsten sechs Wochen ebenso begleiten wird
wie dieser undefinierbare Geruch, eine Mischung aus Mensch und Maschine, irgendwie süßlich, auf alle Fälle sehr fremd.
Ich entdecke im Gewühl meinen Fahrer. Er winkt mir zu, deutet auf eine
Art Bürgersteig neben einer großen Pfütze etwa 20 Meter weiter und schreit
herüber, dass er nur schnell den Wagen holen müsse. Ich gehe zum vereinbarten Treffpunkt, versuche, die Menschentraube um mich herum abzuschütteln. Erst jetzt bemerke ich, dass ich permanent angestarrt werde. Kinder stehen vor mir, und starren mich an. Erwachsene stehen vor mir, und
starren mich an. Okay, ich bin jetzt der Exot, ich bin mit knapp zwei Metern
viel zu groß und viel zu weiß für Indien, das sehe ich ein. Aber müsst ihr
mich deshalb so distanzlos anstarren?
Ich warte. 10, 15, 20 Minuten. Es regnet, die tropische Nacht fällt binnen
weniger Minuten. Ich stehe im Wortsinn wie bestellt und nicht abgeholt, von
Kindern begafft, als wäre ich Darsteller in einer Freakshow. Dann richten
die Kinder ihre Aufmerksamkeit auf einen Engländer, offenbar auch ein Indien-Neuling. Er scheint die Eindrücke nicht verarbeiten zu können und regt
sich fürchterlich über das Verkehrschaos auf. Eben hätte ein Wagen beinahe ein paar Kinder erwischt, nur durch einen beherzten Sprung konnten sie
sich in Sicherheit bringen. Der Engländer brüllt jeden Fahrer an, wird immer
aggressiver. Die Inder lachen über den verrückten Kerl, doch das macht ihn
nur immer wütender, er stellt sich jetzt vor die Autos, haut mit den Fäusten
272
Indien
Andreas Große Halbuer
auf die Motorhauben, schreit sich in Rage. Immer mehr Menschen kommen
herbei, sie grinsen fröhlich vor sich hin. Ein seltsames Land.
„Sir! Siiiiiiir!!!“ – ich habe gar nicht bemerkt, dass mein Fahrer samt Auto
aufgetaucht ist. Schnell rein in den Wagen und nun, im naiven Glauben, bald
Unterkunft, Dusche und Bett zu erreichen, starte ich in meinen ersten indischen Stau. Ein Stau, der anderthalb Stunden später und lächerliche zehn
Kilometer weiter im Stadtteil Koramangala nahe des Flughafens sein erlösendes Ende findet. Ich muss auf einem anderen Planeten gelandet sein.
Am Wegesrand stehen brüchige Häuser und Hütten, abgemagerte Kühe grasen in Müllhaufen, Hunde streifen umher, fast einen halben Meter steht das
Wasser in den Schlaglöchern der buckeligen Pisten. Und überall Menschen,
unfassbar viele Menschen.
In diesen ersten zwei Stunden Bangalore wird sofort klar: Diese Stadt
will mich nicht. Sie will überhaupt niemanden mehr. Sie hat genug Menschen, sie leidet unermesslich unter ihrem Erfolg. Mit jedem Neuankömmling heult dieser felsige Flecken mitten in Indiens südlicher Spitze auf wie
ein angeschossener Tiger im Dschungel, mit jedem zusätzlichen Menschen
wird es noch ein Stück enger, wird noch mehr Wasser und Strom verbraucht,
kommt Bangalore dem Kollaps näher.
3.2 To be bangalored
Bangalore war einst ein ruhiges Städtchen mit dem hübschen Beinamen
Garden City, berühmt bei wohlhabenden Pensionären, die in dem angenehm
kühlen und grünen Ort mit vielen Parks und unzähligen Seen ihren Lebensabend verbrachten. Das Baden-Baden von Indien, wenn man so will. Bangalore liegt knapp 1.000 Meter über dem Meeresspiegel, das Wetter ist sehr
angenehm. Im Sommer steigt das Thermometer selten über 33 Grad, kein
Vergleich zu der brutalen Wüstenhitze Neu-Delhis oder der extremen Luftfeuchtigkeit Bombays, in der Ledergürtel während der Regenzeit nach einem
Tag Schimmel ansetzen. Die bangalorischen Winter sind mild. Das Wetter
ist der entscheidende Vorteil der Hauptstadt des südindischen Bundesstaates
Karnataka, nüchtern betrachtet ist das Klima der Hauptgrund für den fulminanten, weltweit einzigartigen wirtschaftlichen Aufstieg dieser Stadt.
Denn die Briten errichteten dort im 19. Jahrhundert ihr Militär-Hauptquartier, vermutlich auch deshalb, weil es ihnen im Rest des Landes viel zu
heiß war. Noch heute erinnern die Straßennamen wie „Brigade Road“ an
diese Zeit. Die Kolonialherren sind längst verschwunden, das Militär und
die vielen Ingenieure sind geblieben. Der Militärstandort Bangalore profitierte von den Verlagerungen der indischen Rüstungsindustrie, die ihre
273
Andreas Große Halbuer
Indien
Produktionsstätten während der indisch-pakistanischen Kriege bevorzugt
in den sicheren Süden, also nach Bangalore, verlegten.
Auch seinen Hochschulen verdankt Bangalore die Metamorphose vom
beschaulichen Rentnerparadies zum High-Tech-Standort. Das renommierte
Institute of Science, 1909 gegründet vom indischen Unternehmer J.N. Tata,
zählt heute 2.000 aktive Forscher und genießt weltweiten Ruf. 1973 kam das
inzwischen ebenfalls sehr anerkannte Institute of Management Bangalore
hinzu. Etliche andere Institute und Hochschulen haben sich angeschlossen.
Der Aufstieg Bangalores zur globalen Technopolis erklärt sich aus vier
Gründen: Aus der Präsenz der vielen Ingenieure mit vergleichsweise niedrigen Löhnen, aus der Liberalisierung der indischen Märkte ab dem Jahr 1991
(noch 1990 lag der Spitzensteuersatz für Unternehmen bei 97 Prozent), aus
der Revolution der Informationstechnologie und schließlich aus der Tatsache, dass viele gebildete Bangalorians Englisch sprechen.
Nirgendwo sonst, nicht mal im amerikanischen Silicon Valley, haben die
IT-Unternehmen so viele Forschungslabors eröffnet wie in Bangalore. Die
Dichte an Computertechnik-Ingenieuren ist bis heute weltweit einzigartig.
Hinzu kommen das gewaltige Dienstleistungs- und Outsourcing-Geschäft.
Via Satellit oder Übersee-Kabel lösen indische Callcenter-Agenten Computerprobleme, kümmern sich um die Buchhaltung oder analysieren Röntgenaufnahmen. Günstige indische Programmierer erledigen Auftragsarbeiten
für westliche Unternehmen. 33 Prozent aller indischen IT-Exporte, Dienstleistungen im Wert von 32 Millionen US-Dollar, haben bangalorische Unternehmen erbracht.
Indiens Cybercity wird längst nicht überall bejubelt. Hunderttausende
Jobs gingen von Hochlohn-Ländern wie USA nach Indien und vor allem
nach Bangalore. Dieser Tatsache verdankt das Offshoring in den Vereinigten
Staaten einen besonderen Spitznamen: to be bangalored.
In der Dekade von 1990 bis 2000 ist die Stadt um 37 Prozent gewachsen.
Jetzt leben offiziell knapp sieben Millionen Menschen in der drittgrößten
Stadt des Landes, inoffiziell dürften es zehn Millionen sein. Zum Vergleich:
1961 waren es noch rund eine Million.
Das enorme Wachstum und hausgemachte Steuerungsfehler haben Bangalore zu einer dysfunktionalen Stadt werden lassen. Die Polis erstickt an ihrem Verkehr, ersäuft im eigenen Abwasser, leidet unter mangelndem Strom
und Wasser. Entlastung bringende Bauprojekte werden handwerklich so miserabel gefertigt, dass ihre Wirkung schnell verpufft. Straßen halten nur ein
Jahr, die Stadt ist auf Müll gebaut (einige neue Stadtteile waren vorher Müllkippen) und auch in den Straßen liegt der Müll, der zum Teil nicht abtransportiert, sondern einfach angezündet wird und die ohnehin verpestete Luft
weiter verschlechtert.
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Indien
Andreas Große Halbuer
Die Reichen befreien sich mit Geld von den Exkrementen des Aufstiegs.
Sie leben in gated communities wie „Palm Meadows“, einem Refugium für
Expats und vermögende Inder. In Bangalore heißt die Siedlung nur „Little America“, weil die Häuser und Straßenzüge dem Klischee der amerikanischen Heile-Welt-Bürgerlichkeit mit Basketballkorb, Van und Veranda
entsprechen. Während die Männer arbeiten, treffen sich die Frauen mittags
am großen Pool, für jede erdenkliche Dienstleistung ist gesorgt. Sogar ein
Snake-Catcher steht bereit, um versprengte Kobras einzusammeln.
3.3 Im urban jungle
Während der Rush hour ist Bangalore ein einziger Stau. Und Rush hour
ist eigentlich den ganzen Tag über. Verkehrsregeln werden sehr flexibel ausgelegt: Die Rikscha-Fahrer, die mit ihren Zweitakt-Motoren die Luft verpesten, fahren tapfer in eine Kreuzung hinein und reagieren dann auf das, was
passiert. Da das alle so machen, kommt der Verkehr an den Kreuzungen regelmäßig zum Erliegen. Jeder hupt, flucht, kämpft um kostbare Zentimeter.
Wie durch ein Wunder löst sich das Ganze dann irgendwann auf, und es geht
weiter bis zum nächsten Knotenpunkt.
Die Bangalorians sind beinahe stolz darauf, dass ihre Stadt den wohl
brutalsten Verkehr auf diesem Planeten hat. Bangkok, berüchtigt für seine
Staus, sei dagegen „Kindergarden“, schreit mir mein Rikscha-Fahrer über
die Schulter herüber, als wir gerade mal wieder nicht weiterkommen. Ich
glaube ihm das nur zu gern. Eben hätte uns beinahe ein Bus erwischt. Bangalore ist ein riesengroßes Autoscooter. Nur gefährlicher. In anderen Entwicklungsländern laufen Touristen Gefahr, überfallen zu werden. Im insgesamt sehr friedlichen Indien und besonders in Bangalore wird man einfach
über den Haufen gefahren. Jeden Tag gibt es schwere Unfälle, häufig mit
Todesfolge. „Nachts ist es besonders schlimm“, sagt der Fahrer in wildem
Englisch. „Wegen der Kühe, you understand? Die liegen gern auf der Straße,
man sieht so schlecht im Dunkeln.“
Die Stadt setzt den Verkehrsmassen große Überführungen, die Flyovers,
entgegen. Doch der Verkehr wächst schneller als die Infrastruktur. Das große Problem ist: Es gibt kein vernünftiges Nahverkehrssystem, aber täglich
Millionen Menschen, die von A nach B wollen. Sie müssen auf Busse ausweichen, doch die sind eher Teil des Problems, weil auch sie im Stau stecken
und Platz beanspruchen. Wer es sich leisten kann, kauft einen Scooter, ein
Motorrad oder kleines Auto – was die Straßen noch voller macht.
Immerhin: Soeben haben an der MG Road, Bangalores wichtigster Straße
im Zentrum, die Arbeiten für eine 32 Kilometer lange Metro-Trasse mit 31
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Andreas Große Halbuer
Indien
Stationen begonnen. Sie soll 2011 fertig sein. Selbst wenn sich das Wachstum weiter verlangsamt, wird Bangalore wohl bis dahin wieder um mindestens die Größe Düsseldorfs gewachsen sein.
Die Luftqualität in Bangalore ist wegen der Autoabgase unterirdisch
schlecht. Am Boden ist die Schadstoff-Konzentration besonders hoch, was
gerade Kindern zu schaffen macht. Die Asthma-Erkrankungen steigen Jahr
für Jahr an. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass die Luft der ehemaligen
Garden City so aggressiv ist. Während der knapp drei Wochen Bangalore
war ich permanent erkältet, nach zehn Minuten in der Rikscha tränen verweichlichten Europäern die Augen, sofort schwellen die Nasenschleimhäute
an. Auf dem internationalen Air Quality Index, mit dem die Luftverschmutzung in Städten gemessen wird, erreicht Bangalore an vielen Messpunkten
regelmäßig die dunkelbraune, also die schlechteste von sechs möglichen
Stufen, genannt „Hazardous“. Nur zum Vergleich: Die zwei nächst besseren Stufen heißen „Very unhealthy“ und „Unhealthy“.
Damit steht auch fest, wer den mit Abstand miesesten Job der ganzen
Stadt hat: Die Verkehrspolizisten, die – manchmal nur mit einer billigen
Atemmaske oder einem Schal vor dem Mund – das Chaos bändigen wollen.
Häufig atmen sie zusätzlich zu den vielen Abgasen auch noch verseuchte
Staubpartikel ein.
Mitleid hat trotzdem niemand mit diesen armen Toren. Im Gegenteil, sie
werden verspottet. „Stuped men“, sagt mein Fahrer, grinst und spuckt roten
Schleim auf die Straße. Die Fahrer kauen auf Betelblättern, die beruhigend
wirken, aber auch den Speichelfluss anregen. Überall sieht man die roten
Flächen. Auch in Gebäuden. Als ich einen meiner vielen vergeblichen Versuche unternahm, mit einem Behördenmenschen über die Luftverschmutzung zu reden, war die Stadtverwaltung voller roter Rotze. Es sah aus, als
hätte jemand in die Ecken gekotzt. Erstaunlich aber ist, wie schnell man sich
daran gewöhnt. Schon nach zwei Tagen habe ich die Rotzerei nicht mehr
wahrgenommen.
An die schlechte Luft kann man sich allerdings nicht gewöhnen. Die
vielen Zweitakt-Motoren sind die Hauptverpester. Jede Rikscha, jedes
Moped läuft noch mit Benzin-Öl-Gemisch. Da die Zahl der zugelassenen
Scooter und Motorräder ständig steigt, verschlechtert sich auch die Luft.
Im Zentrum von Bombay sind Rikschas verboten, die Taxis fahren mit Gas.
Der Unterschied ist phänomenal, allerdings nur für den, der aus der
Asthma-Hölle Bangalore nach Bombay kommt. Wer von Europa aus zum
ersten Mal in Bombay absteigt, wird sich vermutlich so entsetzt über
Bombay äußern wie ich jetzt über Bangalore. Denn laut WHO ist die Luft
in Bombay so dreckig, als würde man täglich zwei Schachteln Zigaretten
rauchen.
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Indien
Andreas Große Halbuer
Die vielen Autos und Motorräder sind das eine, die schlechten Straßen
das andere: Häufig müssen die Bangalorians mit buckeligen unbeleuchteten Sandpisten Vorlieb nehmen. Die wichtigen Straßen im Zentrum sind
asphaltiert, aber der Belag hält nur einen Monsun, das Straßennetz ist ein
einziges Provisorium, ständige Flickschusterei. Wer sich jetzt darüber aufregt, sollte bei aller berechtigter Kritik an der Stadtentwicklungspolitik nur
eines nicht vergessen: Der Wirtschaftsboom mit seinem Ausfluss an Verkehr hat die Stadt überrollt. Andere vergleichbar große Städte wie London
oder Paris hatten Jahrhunderte Zeit zu wachsen. Bangalore blieb nicht einmal eine Dekade.
3.4 Ottos Garage
Mein Vermieter ist ein Software-Unternehmer und promovierter Volkswirt. Er wohnt in Koramangala, einer guten Gegend am südöstlichen Stadtrand. Auch hier ist das Reich-Arm-Thema allgegenwärtig. Der Weg zu Otto
führt an einem Minislum vorbei. Das informal housing hat viele Gesichter,
nicht immer sind es klassische Slums, nicht immer schmiegt sich Hütte an
Hütte. Manchmal ist am Wegesrand nur eine blaue Plastikplane gespannt
und darunter hockt eine ganze Familie.
Um zu Otto zu gelangen, muss man eine Brücke überqueren, die über einen Fluss führt. Ein ehemaliger Fluss, sollte man besser sagen. Im Stadtplan
findet sich ein treffenderes Wort: Drain. Die entsetzlich stinkende Brühe in
diesem Abwasserkanal ist tief schwarz, ölige Schlieren schwimmen obenauf. Der Drain transportiert die Abwässer aus dem Viertel ab, die versickern
im Nirgendwo von Karnataka vor den Toren der Stadt.
Im günstigen Fall, sollte man hinzufügen. In den Monsunmonaten stehen
die Abwässer in den Straßen, weil die kleineren Kanäle längs der Straßen
überflutet werden. Der Regen hebt die unbefestigten Platten an, mit denen
die Seitenkanäle abgedeckt sind. Oder Müll verstopft die Kanäle. Im Dunkeln muss man sehr vorsichtig sein, auch in der Trockenzeit können die Abdeck-Platten fehlen oder löchrig sein.
Neben Ottos Garage (das Haus heißt so, weil auf dem Grundstück angeblich mal eine Autowerkstatt war) wird ein neues Mehrfamilienhaus gebaut. Die Arbeiter wohnen in dem Rohbau, sie schlafen quasi direkt neben
der Zementmaschine. Ich kann sie von meinem Zimmerfenster aus sehen:
Sie haben ihre Familien dabei, morgens stehen alle auf dem nackten Beton und waschen sich, und zwar, indem sie sich Wasser aus Eimern über
den Kopf schütten. Otto sagt, sie verdienen etwa 100 Rupien am Tag, umgerechnet zwei Euro. Seltsam. Ich schreibe diese Zeilen auf einem Lap-
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Andreas Große Halbuer
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top, dessen Gegenwert knapp doppelt so hoch ist wie der Jahreslohn eines
Bauarbeiters.
Pünktlich um Mitternacht kommt der Wachmann auf seinem Kontrollgang
an meinem Fenster vorbei. Er schlägt bei jedem zweiten Schritt mit einem
Stock auf den Boden. Wegen der Schlangen. Kobras tauchen schon mal häufiger bei Otto auf, sie sind quasi auf der Durchreise, denn hinter dem Haus
beginnt eine größere Grünanlage. Das Stockschlagen vertreibt die Kobras,
macht jedoch auch die Hunde nervös, sie bellen und jaulen, die Nachbarshunde stimmen ein. Jede Nacht um zwölf ertönt also ein Geheul in meinem
Viertel, das – nebenbei bemerkt – so viele Einwohner wie Bochum hat.
3.5 Jenseits des Drecks
Ein typischer Morgen in Bangalore. Stromausfall (also im Dunkeln kalt
duschen), dann ab in den Stau. Ich bin um 8 Uhr mit Clas Neumann, dem
Chef von SAP Bangalore verabredet. Den etwa 12 Kilometer entfernten
SAP-Campus im Stadtteil Whitefield erreichen wir in knapp einer Stunde. Im schicken Bürodress strömen die IT-Ingenieure und Manager auf das
parkähnliche SAP-Areal. Der Rasen ist sattgrün, die Vögel zwitschern, die
Freiluft-Kantine fügt sich elegant wie ein westliches Straßencafé in das Gelände, die Gebäude sind moderne Kathedralen aus Stahl und Glas. Nichts
deutet darauf hin, dass die Anzugmenschen, die hier geschäftig umher laufen, vor Minuten noch auf den Bus wartend an einer lehmigen Straße gestanden haben, neben sich zum Himmel stinkende Müllberge, in denen Kühe
nach Fressbarem suchen.
Auch der Chef sieht aus wie aus dem Ei gepellt. Clas Neumann trägt heute
ein blütenweißes Hemd mit lachsfarbener Krawatte und einen dunklen Anzug. Der hoch gewachsene Boss von SAP India Labs tauscht morgens als
erstes seine dreckigen Straßenschuhe gegen ein bürokompatibles Paar. Dann
stöpselt er sein Laptop in eine deutsche Steckdose, die er sich extra hat in die
Wand bauen lassen, rührt etwas Zucker in seinen Cappuccino und arbeitet
sich durch seine 300 Mails.
Viele dieser Mails haben mit Personalfragen zu tun. Die Unternehmen
in Bangalore sind Taubenschläge, es gibt ein ständiges Kommen und Gehen. „Die Leute“, sagt Neumann, „entscheiden mit den Füßen.“ Wer am
besten zahlt, gewinnt. Die jährlichen Lohnsteigerungsraten der SoftwareUnternehmen werden in der Zeitung veröffentlicht. SAP zahlt pro Jahr einen Aufschlag von 12 bis 16 Prozent. Trotz des permanenten Wachstums
macht das Unternehmen ein hervorragendes Geschäft. Ein Software-Ingenieur mit zwei Jahren Berufserfahrung erhält etwa 8.000 Euro brutto.
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In Deutschland müsste SAP für einen vergleichbar Qualifizierten mindestens 40.00 Euro hinlegen.
Neumann ist stolz auf seine Fluktuationsquote von zehn Prozent. Das sei
in einem überhitzten Markt, in dem Headhunter blind sämtliche Durchwahlen durchprobieren und mit Jobofferten nur so um sich werfen, ein respektabler Wert. Jeden Tag aufs Neue müsse SAP um seine Leute kämpfen – mit
sehr ordentlichen Salären, einem modernen Campus, klaren Karrierenperspektiven und Sozialleistungen.
Um die Eltern der Angestellten kümmert sich die SAP besonders. Sie bekommen eine Krankenversicherung und bauen über die so genannten Family Days eine Beziehung zu SAP auf. Das Unternehmen lädt an diesen Tagen
die Eltern und Geschwister auf den Campus und karrt dann gern zwecks
elterlicher Bespaßung ein paar Bollywood-Stars an. Das macht Eindruck.
Ebenso wie die Entschuldigungsbriefe, die SAP an die Eltern verschickt,
wenn der Sprössling wieder eine Wochenendschicht einlegen musste. Da
Sohn oder Tochter berufliche Entscheidungen mit den Eltern absprechen,
können sie davon ausgehen, dass die Schmeicheleien Wirkung zeigen und
die Eltern ihren Kindern zum Bleiben raten.
Die ganz große Party, der mad rush mit jährlichen Wachstumsraten von
50 Prozent und mehr, ist ohnehin vorbei. Bangalore könnte eines Tages am
eigenen Leibe spüren, was es bedeutet, „to be bangalored“ zu sein. Es gibt
jedenfalls eine Reihe Unternehmer, die allmählich auf andere, besser funktionierende Städte wie Ahmedabad und vor allem auf Hyderabad, (auch Cyberabad genannt), ausweichen. Die Unternehmer akzeptieren nicht länger,
dass ihre Mitarbeiter vier Stunden pro Tag im Stau stehen, dass sie ihnen
vergleichsweise hohe Löhne zahlen müssen, dass sie sich bei jeder Kleinigkeit mit der Stadtverwaltung Bangalores herumärgern müssen. Auch die
auswärtigen Geschäftsleute fluchen. Die Hotelpreise sind lächerlich hoch,
300 Dollar für ein gutes Zimmer sind keine Seltenheit. Und trotzdem sind
die Hotels häufig ausgebucht.
3.6 Stadt der gekochten Bohnen
Öffentlich sagt das keiner, aber viele Unternehmer und Bürger der Stadt
sind tief enttäuscht von den so unfähigen wie korrupten Politikern, die mit
dafür verantwortlich sind, dass sich diese Stadt mit ihren weit über sechs
Millionen Einwohnern täglich an sich selbst verschluckt, dass sie eigentlich
längst zusammengebrochen ist unter der Last ihres Erfolgs.
Der Kernvorwurf lautet: Karnatakas führende Politiker vertreten in erster
Linie Klientelpolitik zum Wohl der Landbevölkerung, sprich eine Politik ge-
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Indien
gen Bangalore. Noch wohnt die Mehrzahl der Wähler auf dem Land. Viele
dringend benötigte Infrastruktur-Verbesserungen schiebt das mächtige Landesparlament von Karnataka deshalb auf die lange Bank.
Gerade auf dem Land wird der Aufstieg der Stadt skeptisch gesehen,
werden die globalisierenden Effekte als Bedrohung empfunden; das Auswärtige verdrängt das Heimische, das Englische die lokale Sprache Kannada. Es setzt eine Flucht in einen konservativen Traditionalismus ein. Bangalore heißt jetzt offiziell Bengaluru in der Landessprache Kannada, genau
wie Madras in Chennai, Calcutta in Kolkata und Bombay in Mumbai umbenannt worden sind. Bengaluru heißt wörtlich übersetzt „Stadt der gekochten Bohnen“.
Für Auswärtige mag das befremdend klingen, tatsächlich aber könnte die
Umbenennung befriedende Wirkung auf die Kannada-sprechende Mehrheit
in Karnataka und auch in Bangalore haben. Der Name erinnert an einen
Prinzen, der müde und hungrig während der Jagd auf eine alte Frau trifft,
die ihm eine Mahlzeit aus Bohnen kocht. Der Sage nach war der Prinz so
beeindruckt von der Hilfsbereitschaft, dass er den Ort fortan Bendakaalooru
nennt. Die Kolonialherren im 19. Jahrhundert brachen sich daran ihre Zungen. Sie machen daraus Bangalore.
Bangalore galt als die internationalste und liberalste der indischen Städte.
Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. An den englischen Grundschulen wird nun auf Kannada unterrichtet, Englisch als Unterrichtssprache
ist verboten und soll erst an den weiterführenden Schulen gelehrt werden.
Auch bei den Erwachsenen greift die Landesregierung durch: Als die
Nachtclub-Szene aus Bombay vertrieben wurde, hatte die Regierung die
Sorge, die Clubs könnten von Bombay nach Bangalore übersiedeln. Prophylaktisch verabschiedete sie ein Gesetz, das nun jedem Lokal vorschreibt, um
23.30 Uhr zu schließen. Die Wirte müssen mit empfindlichen Strafen rechnen, sie setzen alles daran, die Sperrstunde einzuhalten.
Im Frühjahr 2006 bekam Bangalore einen Vorgeschmack auf das, was geschehen kann, wenn die breite Masse keine Lust mehr auf Globalisierung
hat: Der Filmstar Rajkumar, einer der Wortführer der Kannada-Bewahrer,
starb. Und obwohl er schwerkrank war und sein Tod niemanden überraschen
konnte, bildete sich ein Mob, der brandschatzend durch Bangalore zog. Geschäfte gingen in Flammen auf, ein Labor von Microsoft wurde ebenfalls
ausgeräuchert, Steine flogen.
Seitdem haben immer mal wieder protestierende Gruppen große internationale Computer-Unternehmen angegriffen, sie werfen mit Steinen auf
die Glasfassaden. „The have-nots blame the IT-industry”, erklärt mir der
Bankanalyst Goutam Das während eines Abendessens im Koshys, einer Bar
nahe der MG-Road, Ecke St. Marks Road im Zentrum. Sie sehen eine große
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Indien
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Gruppe Mittelklasse-Inder an sich vorbeiziehen und wissen sehr wohl, dass
der Aufstieg Indiens ohne sie abläuft, dass sie mangels Bildung keine Chance haben. „Also“, sagt Goutam Das, „machen sie die Erfolgreichen für ihren
Misserfolg verantwortlich.“
Im Koschys wird ständig über solche Themen diskutiert. Journalisten,
Manager, Intellektuelle, Schauspieler – und eine Reihe seltsamer Vögel sitzen hier jeden Abend beisammen. Einmal traf ich im Koshys einen HobbyAmeisenforscher, der ein Buch über die von ihm entdeckte Bangalorian Ant
geschrieben hat. Stundenlang kann er von dieser Ameise erzählen. Eigentlich wollte ich mit ihm und einem spleenigen Ornithologen, der die urbane Vogelwelt Bangalores kartographisiert, über Bangalores Umweltprobleme reden. Heraus kam ein erstaunlich flaches Gespräch über, man ahnt es,
Vögel, Ameisen und – Adolf Hitler. Die beiden wollten wissen, wieso wir
Deutschen so ein Riesenproblem mit Hitler haben. Der sei doch längst tot.
3.7 Bangalorian Frust
Gebell reißt mich aus dem Schlaf. Die Hunde des Nachbarn haben ein
Rudel Affen entdeckt, das sie nun durch den Garten hetzen. Ich fühle mich
schlapp, bin vergrippt. Die Moskitos haben mir in den vergangenen Tagen
trotz größter Vorsicht übel zugesetzt. Als echter Hypochonder bin ich hundertprozentig davon überzeugt, mir Malaria eingefangen zu haben. Das ist
natürlich Unsinn, wie sich schnell herausstellt, das Fieber steigt nicht über
38,5 Grad.
Trotzdem ist meine Laune auf dem Nullpunkt. Die Stadt nervt, Indien
nervt, ich bin von mir selbst genervt. Bibbernd sitze ich auf meiner Matratze. Nebenan höre ich meine Zimmernachbarin, eine Österreicherin, leise wimmern, sie hat vorgestern gegen die Salatregel verstoßen und sieht so
hundeelend aus, dass ich fortan noch penibler darauf achte, nicht mit Wasser
oder gewaschenem Gemüse in Kontakt zu kommen. Das Leitungswasser ist
voller Keime, Düngerrückstände und Pestizide. Ein Schluck reicht aus, um
drei Tage im Bett zu liegen.
Plötzlich macht es „Klick“ – und der Strom ist weg. Mal wieder. Ich bin
jetzt sechs Tage hier und habe in dieser Zeit zehn Powercuts erlebt, einer davon dauerte den ganzen Tag. Jemand hat mir erzählt, dass sich die Leute früher einen Spaß daraus gemacht haben, von einer Bar namens „11th Floor“
hoch über der Stadt zuzugucken, wie einzelnen Stadtvierteln der Strom abgeklemmt wird. Damals waren die Stromausfälle angekündigt, die Bangalorians konnten sich also darauf einstellen, heute kommen die Powercuts so
unverhofft wie ein Tropenschauer.
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Vermutlich gibt es nichts Trostloseres, als fiebrig unter einem Moskitonetz zu liegen in dieser kranken Stadt, draußen lärmt der Monsun, der
sich allmählich auch mal verziehen könnte, er hüllt den Tag in schummrigherbstliches Licht, es will einfach nicht hell werden heute, die Hunde bellen
weiter die Affen an. Ich beschließe, dass dies ein perfekter Zeitpunkt ist, um
mir selber Leid zu tun, und lege mich wieder schlafen.
Zwei Stunden später. Der Strom ist immer noch weg. In der Sonntagsausgabe der Times of India springt mir im Kerzenschein eine Meldung ins
Auge: „Road rage in city: man beaten to death. Vijay Kumar (35) was killed
and his relative Kannan (30) injured after a mob assaulted them following
an accident. Vijay Kumar hit a parked car at Kasturinagar Junction, near the
KR Puram flyover, on Friday night. The car owner and his friends picked up
a quarrel und assaulted Vijay. He died heavily injured in hospital.”
Ich habe in Büchern davon gelesen, dass die Inder bei Verkehrsunfällen
ausflippen und den Verursacher durch die Stadt hetzen und sogar umbringen. Ich hielt das bisher für übertriebene Panikmache, aber diese Episode
im trockenen Achtzeiler, zeigt das Gegenteil. Wie groß wäre wohl die Aufregung, wenn in Deutschland jemand ein parkendes Auto rammen und dafür vom Besitzer und seinen Freunden zu Tode geprügelt würde? Incredible India – je länger ich hier bin, desto mehr erkenne ich, wie treffend dieser
Werbeslogan ist.
3.8 Die Callboys der Globalisierung
Bangalores junge Heroen zelebrieren ihre frisch erworbene Modernität
gern in den schicken Bars und westlichen Cafés entlang der MG Road im
Zentrum der Stadt. Meist sind es Call-Center-Agenten, die sehr plötzlich
sehr viel Geld verdienen. Ihre lässige Art, sich zu bewegen, ihre westliche
Kleidung, die teuren Handys und Designerbrillen, ihr selbstsicheres Lachen
und Auftreten, all das soll zeigen: „Seht her, wir haben es geschafft!“
Wie fragil die Pfeiler dieses Erfolgs sind, wie leicht die Dinge zerbröseln
können, wie groß die kulturelle Verwirrung dieser jungen Aufsteiger sein
muss, zeigt mein Besuch in der Tannery Road. Hier ist der Callcenter-Agent
Ranjan aufgewachsen, in einer kleinen Seitenstraße lebt er zusammen mit
seinen Eltern und seiner Schwester in einer 30-Quadratmeter-Wohung ohne
fließendes Wasser.
Seine Heimat ist das exakte Gegenteil der Glitzerwelt rund um die MG
Road, gewissermaßen ein kultureller Umkehrschub. Eselskarren, Pferdegespanne, abenteuerlich bepackte Pritschenwagen und Rikschas dominieren
das Straßenbild. Es ist eng, staubig, laut und wuselig. An den Ufern des
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Verkehrsstroms bearbeitet ein Schmied das Eisen über offenem Feuer, ein
Metzger zerlegt ein Lamm, das Blut des toten Tieres versickert im Staub der
Straße. Ziegen mit absurd langen Ohrlappen, scheinbar ohne Besitzer, laufen ziellos umher. Aus verdreckten Straßenküchen wabern fremde Gerüche,
eine Kulisse wie gemacht für einen James-Bond-Film.
Ranjan klopft an die Scheibe meines Wagens, endlich haben wir zueinander gefunden in diesem Gewühl. Er sieht älter aus als 20, das nachdenkliche Gesicht ist groß und rund, der Körper ist massig und untrainiert, die
Schultern hängen schlaff herab. Ranjan trägt, wie jeder hier, Jeans und
T-Shirt, dazu Schlappen. Nur die elegante randlose Brille verrät, dass er
ganz gut verdienen muss. Ranjan arbeitet für eine große Bank, seinen richtigen Namen darf ich nicht veröffentlichen, das ist die Bedingung für das
Gespräch.
Ranjan lotst den Fahrer zu seinem Elternhaus, die Mutter hat Chai Masala aufgegossen, Tee mit Gewürzen und Milch, dazu gibt es Gebäck aus dem
Supermarkt. Die Wohnstube ist spärlich möbliert, sehr ordentlich. Wir sitzen in einem länglichen Raum, von dem nach hinten hin das Bad mit klassisch-indischer Toilette (Loch im Boden, kein fließendes Wasser) abgeht.
Rechts zwei Zimmer, vermutlich die Schlafräume der Familie.
Das Gespräch verläuft zäh. Ranjan ist müde. Ranjan ist eigentlich immer müde. Wegen der ständigen Nachtschichten. Doch jetzt ist es besonders
schlimm. Ein Pflaster auf der Stirn bedeckt die Platzwunde, sie musste mit
fünf Stichen genäht werden. Ein Arbeitsunfall. Der Fahrer seiner Firma war
am Steuer eingeschlafen und raste in den Gegenverkehr. „Sie zwingen die
Fahrer, 24 Stunden am Stück zu arbeiten“, sagt Ranjan, „beinahe jede Woche kracht es“. Ein Wunder, dass da nicht mehr passiere.
Die Fahrer im Callcenter-Geschäft sind ein großes Sicherheitsproblem. In
Bangalore oder Bombay fährt nachts kein Bus oder Zug. Den Unternehmen
bleibt nichts anderes übrig, als kleine Busse einzusetzen, die nachts die Callcenter-Agenten einsammeln.
Die indische Callcenter-Industrie arbeitet größtenteils nachts, um für die
Kunden am anderen Ende der Welt, vorwiegend in den Vereinigten Staaten,
da zu sein. Mit freundlich trainierter Telefonstimme lösen sie Computerprobleme, nehmen Überweisungen und Produktbeschwerden entgegen, erledigen die Buchhaltung oder schwatzen ihren oft Tausende Kilometer entfernten Gesprächspartnern Versicherungsverträge auf.
Um die Fahrer dieser Busse kümmern sie sich kaum, sie werden lausig
bezahlt. Bhupen Patel, ein Reporter des Mumbai Mirror, schlich sich mit einem gefälschten Führerschein bei einer Callcenter-Firma ein. Er hatte noch
nie in seinem Leben ein Auto gefahren, bekam aber sofort den Job und damit eine Bombenstory, die im ganzen Land für Aufregung sorgte.
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Immer wieder kommt es vor, dass Callcenter-Agentinnen von ihren Fahrern unterwegs vergewaltigt werden. Als vor drei Jahren in Bangalore eine
junge Frau aus der Callcenter-Szene zunächst vom Fahrer und seinem Komplizen sexuell missbraucht, dann stranguliert wurde, waren die Bangalorians der Illusion einer brav vor sich hin boomenden Cybercity beraubt. Die
Stadt galt bis dato als absolut friedlich, gerade das Callcenter-Milieu als
vorbildlich.
Die Nachtschichten sind das Problem. Sie bringen nicht nur junge Frauen
während einsamer Nachtfahrten durch die städtische Steppe in Bedrängnis,
sie stressen jeden. „Der Job“, sagt Ranjan, „macht Dich fertig, er saugt Dich
aus“. Wissenschaftliche Studien belegen, dass ein im Widerstreit mit der biologischen Uhr lebender Mensch anfälliger für Krankheiten ist. Am meisten
leidet Ranjan jedoch unter mangelnden Sozialkontakten. Es bleibt nicht mal
genügend Zeit, mit Vater oder Mutter zu sprechen, Freunde von früher trifft
er nur noch selten. Die Kollegen aus der Schicht sind jetzt seine einzigen Bezugspersonen. „Man wird einsam“, sagt Ranjan und guckt auf den Boden.
Um ein Uhr nachts kommt der Fahrer in die Tannery Road. Eine halbe
Stunde später startet die Schicht, Ranjan betreut die ganze Nacht hindurch
Kunden aus Amerika. Meist geht es dabei um Details zu Kreditkartenverträgen. Alle zweieinhalb Stunden darf sich Ranjan aus dem System ausloggen für eine kurze Pause. Was immer er im eingeloggten Zustand sagt oder
macht, wird genau protokolliert.
Als Ranjan anfing, gab es von der Firma zwei Wochen Produkttraining
und drei Wochen Nachhilfe in Sachen amerikanischer Kultur, Sprache und
regionaler Besonderheiten. Obwohl 90 Prozent der Kunden wissen, dass sie
in einem Callcenter außerhalb der Staaten anrufen, müssen Ranjan und seine
Kollegen ihre indische Identität verbergen. Zwar ahmen sie nicht den amerikanischen Akzent nach, aber sie sind doch angehalten, den indischen möglichst zurückzudrängen. Wichtig ist, dass sie keine indisch-englischen Worte
benutzen. Die amerikanische „gas station“ nennen die Inder beispielsweise
„petrol pump“.
Ranjan erzählt mit monotoner, leiser Stimme. Sein Englisch ist perfekt,
er antwortet geduldig und abgeklärt auf meine Fragen, es kommt mir fast
so vor, als habe sein Alter Ego Richard das Gespräch übernommen. In Kundengesprächen muss sich Ranjan mit diesem Namen vorstellen, das macht
es für die Amerikaner leichter.
Draußen ruft der Muezzin, die Dämmerung bricht herein, die Mutter gießt
Tee nach. Was passiert, wenn ein Kollege nicht genügend Anrufe schafft?
„He feels the heat“, sagt Ranjan bedeutungsschwanger, was so viel heißen
soll wie: die Schwachen werden von den Schichtleitern zur Rede gestellt
und unter Druck gesetzt. Oft werden die Leistungen von Teams verglichen,
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fällt einer im Team zurück, sind alle anderen sauer, jeder möchte den anderen überflügeln. „It’s a cut-throat competition“, sagt Ranjan, ein brutaler
Verdrängungswettbewerb.
Junge College-Absolventen wie Ranjan akzeptieren diese Probleme, sie
wollen Geld machen. 15.000 Rupien im Monat, etwa 270 Euro, sind schnell
verdient. Das ist selbst im teuren Bangalore enorm viel Geld für einen jungen indischen Mann. Ranjan verdient doppelt so viel wie Vater und Mutter
zusammen die für eine NGO arbeiten.
Doch der soziale Preis ist hoch. Der plötzliche Reichtum verändert die
jungen Inder. Ranjan berichtet von vielen Kollegen, die sich mit Dauerpartys, Drogen und Anti-Depressiva über Wasser halten. „Fast jeder in der
Branche hat psychische Probleme“, sagt er. Beziehungen und Ehen gehen in
die Brüche, im prüden Indien wird nachts in den Callcentern gevögelt, was
das Zeug hält. Sie genießen eine Freizügigkeit, die im Widerspruch zu tradierten Verhaltensmustern steht. Und die auch nicht geduldet wird. Die Unternehmen haben bereits in jeder Besenkammer Kameras installiert, um die
Pärchen überführen und hinauswerfen zu können.
Wie nach jeder durchzechten Nacht folgt auch auf die Anfangseuphorie
der jungen Callcenter-Mitarbeiter ein übler Kater. Nach spätestens ein paar
Monaten taucht die Sinnfrage auf, auf die viele keine Antwort wissen. Ranjan hat sich bereits entschieden. Noch ein Jahr will er den Job machen, dann
zurück an die Uni, weiterstudieren. Und dann? „Eine Stelle in der Verwaltung, das wäre schön, ja.“
Während Ranjan schon sehnsüchtig an das Ende seiner Callcenter-Zeit
denkt, versuchen viele seiner Altersgenossen, einen Fuß in die Tür zu dieser Branche zu bekommen. In Koramangala statte ich einer Klasse der English Centre-Faculty an der 80-Feet-Road einen Besuch ab. Die Sprachschule gehört zu der Satelliten-Industrie, die sich rund um die Callcenter herum
gebildet hat. Zwanzig junge Männer und Frauen sitzen beengt in einem stickigen Raum, sie kommen aus ganz Indien, um ihr Glück in Bangalore zu
versuchen, viele würden gern in einem Callcenter arbeiten. Da gibt es nur
ein Problem: Ihr Englisch ist lausig, vor allem ihre Aussprache. Ein Beispiel: Der Buchstabe t wird überbetont. Zum englischen butter sagen Inder
batta, statt baddör. Und mit batta, das weiß hier jeder, hat man keine Chance
auf einen begehrten Call-Center-Job.
Meine Anwesenheit in der Sprachschule ist offenbar eine kleine Sensation, die Lehrerin, die sich mir mit R. Nalini vorstellt, baut mich geschickt in
den Unterricht ein. Die Schüler stellen unbeholfene Fragen, ich gebe unbeholfene Antworten. Dann fällt der Strom aus, was zu meiner Überraschung
niemanden überrascht, wir reden einfach im Dunkeln weiter, als wäre nichts
gewesen, es wird gewitzelt und gescherzt und viel gelacht.
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Als die Lampen nach fünf Minuten wie von Zauberhand wieder leuchten,
blicke ich in zwanzig Gesichter, die mich so offen und ehrlich anlächeln,
dass mir heute noch warm ums Herz wird. Vielleicht sind es diese winzigen
Momente, die Indien so zauberhaft machen. Auf der Rückfahrt in der Rikscha im Stau muss ich wieder an den Slogan Incredible India denken.
4. Bombay
Bombay, diese unglaubliche Stadt am Meer, ist ständig in Bewegung, ein
wimmelndes urbanes Gebilde, angetrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Bombay ist ein Paradoxon: Unaufhaltsam prescht es voran
und steht sich doch jeden Tag aufs Neue im Weg. Und schließlich: Bombay
ist die Stadt der Extreme. An keinem anderen Ort der Welt prallt obszöner
Reichtum einer verschwindend geringen Minderheit so umweglos auf erschreckende Armut einer großen Mehrheit. Die Spanne zwischen Arm und
Reich, zwischen Pracht und Elend, zwischen Sieg und Niederlage ist derart
gewaltig, dass man sich verwundert die Augen reibt und rätselt: Warum ist
diese Stadt nicht längst an sich selbst zerschellt? Warum ist sie trotz allem
so überraschend friedlich?
Bombay wächst und wächst. Die Probleme werden größer. Jeden Tag
kommen neue Familien hinzu. Die meisten sind Wirtschaftsflüchtlinge. Sie
sehen auf dem Land keine Perspektive und versuchen ihr Glück in der Stadt.
Wenn sie Glück haben, finden sie eine Bleibe in einem Slum. Fast zwei Drittel der Bombayites leben in provisorischen Hütten. Ihnen verdankt die Stadt
den Beinamen Slumbay. Das urbane Prekariat flutet die Straßen, es überschwemmt die Stadt mit billiger Arbeitskraft, mit Krankheit, Not, Elend,
infrastruktureller Überforderung. Die Ausgebeuteten und Entrechteten werden von der Oberschicht als obsolet empfunden, doch diese denken gar nicht
daran, „sich aus der Geschichte zu verabschieden“, wie der Soziologe Ashis
Nandy schreibt.
Im Gegenteil, sie lassen jeden Tag ein gehöriges Stück unbeabsichtigtes Bombay entstehen, indem sie jeden Quadratzentimeter des öffentlichen
Raums okkupieren und sich einen Dreck um die Marginalisierungsversuche der Reichen scheren. Nur wenige Stunden nachdem ein Bulldozer einen
Slum geräumt hat, sind die Hütten schon wieder aufgebaut.
Trotz der Segregation – auf schicksalhafte Art und Weise sind Unter-, Mittel- und Oberschicht in Bombay miteinander verwoben. Die Unterschicht
braucht die Jobs und kleinen Dienstleistungen, um Geld zu verdienen und
zu überleben. Die anderen Schichten fragen diese Dienstleistungen nach,
um mit der Dysfunktionalität Bombays fertig zu werden, also die Mühen des
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Indien
Andreas Große Halbuer
Alltags zu delegieren. Jeder Reiche und auch viele Angehörige der Mittelschicht beschäftigen Personal. Nicht selten arbeiten in einem Haushalt mindestens drei Personen: Eine Köchin, eine Putzfrau und ein Fahrer.
Nur zwei Beispiele: Am Dhobi Ghat, der größten Open-Air-Wäscherei der
Welt, arbeiten 10.000 Inder von morgens drei Uhr bis abends um zehn Uhr.
Während dieser Zeit waschen sie an die 200.000 Kleidungsstücke, vorwiegend aus den Hotels, in denen die Reichen absteigen. Und die so genannten
Dabbawallah liefern täglich 200.000 Mittagessen an ihre Kunden aus. Obwohl die Dabbawallah Analphabeten sind, gelingt es ihnen dank eines ausgeklügelten Adressier-Systems aus Farben und Symbolen mit einer Fehlerquote von weniger als ein Prozent die Essensportionen rechtzeitig durch das
chaotische Bombay an ihr Ziel zu bugsieren. Damit betreiben die Dabbawallah das wohl spannendste Supply-Chain-Management der Welt und vermarkten sich inzwischen geschickt als Touristenattraktion. Sogar in wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher haben es die Dabbawallah geschafft.
4.1 Der Preis der Ballung
Bombay ist geographisch betrachtet eine Insel. Wie eine Klaue ragt die Stadt
an der indischen Westküste in das Arabische Meer hinein und erstreckt sich
Manhattan-artig auf einer schmalen Landzunge von Süd nach Nord, wo die
Stadt breiter und breiter wird und schließlich als städtisches Delta versickert.
Schon jetzt leben in Bombay mehr Menschen als in Griechenland. Und
bald werden dort mehr Menschen wohnen als auf dem australischen Kontinent. Die Bevölkerungszahlen sind Schätzwerte, die Stadtverwaltung geht
von 14 Millionen Einwohnern im Stadtzentrum aus, im Großraum Bombay
leben angeblich 20 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge werden es
im Jahr 2031 etwa 34 Millionen Menschen sein, innerhalb eines Vierteljahrhunderts kommen 14 Millionen Menschen dazu.
Wenn dieser Stadt eines fehlt, dann ist es Platz, Raum, ein Gefühl von
Weite. Dieser Mangel führt dazu, dass eine Wohnung in der Innenstadt von
Bombay selbst für einen Angehörigen der Mittelklasse nicht zu bezahlen
ist. Eine 100-Quadratmeter-Wohnung im Stadtteil Churchgate kann monatlich locker 5.500 Euro kosten. Die Mietpreise sind im vergangenen Jahr um
45 Prozent gestiegen und haben längst das Niveau New Yorks oder Tokios
überschritten.
Die Mondpreise, die häufig für Apartments in häufig liederlichem Zustand gezahlt werden, sind nichts anderes als die Kosten der Ballung. Anders
als in London, Paris oder New York läuft die Vermittlung von Wohnungen
unglaublich unprofessionell und immer zu Lasten des Mieters oder Käufers.
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Andreas Große Halbuer
Indien
Karim, ein junger Kerl, der neben seinem Wirtschaftsstudium Wohnungen
makelt, erklärt mir, dass bis zu sechs Makler zwischen Mieter und Vermieter
hängen und natürlich alle sechs fette Provision kassieren.
Das Ganze ist so simpel wie ineffizient: Ein Interessent meldet sich auf
eine Annonce bei einem Makler und meldet seine Wunschwohnung an. Der
sagt, dass er natürlich eine passende Wohnung habe (was nicht stimmt) und
ruft bei einem befreundeten Makler an, um nach einer adäquaten Wohnung
zu fragen. Der verhält sich genauso, bis am Ende ein Apartment gefunden ist
und die Kette rückwärts läuft. Da gute Wohnungen äußerst rar sind, und die
Kunden, häufig Expats, zahlungskräftige Unternehmen im Rücken haben,
sind die Courtagen extrem hoch. Üblich ist auch, dass eine Jahresmiete als
Kaution im Voraus bezahlt wird.
Und die Preise steigen und steigen. Am Nariman Point mitten im Zentrum
ging im Dezember ein spektakulärer Immobiliendeal über die Bühne. Zum
Verkauf stand eine Vierzimmer-Wohnung mit Blick auf die Arabische See,
für die eine Immobiliengesellschaft sage und schreibe 340 Millionen Rupien (5,4 Millionen Euro) auf den Tisch legte. Auch die Büromieten klettern
unaufhörlich, allein im vergangenen Jahr um 55 Prozent. Damit wird Bombay nach London zum teuersten Pflaster der Welt, und rangiert noch weit vor
Shanghai oder Moskau.
4.2 Die Rooftop Romeos von Dadar
Vielleicht ist der Bahnhof Churchgate im gleichnamigen Stadtteil ein geeigneter Ort, um ein Gefühl für die Maximum City, für die Dichte und den
Überfluss an Menschen zu bekommen. Vielleicht muss man es einfach gesehen, gehört, gerochen und am eigenen Leib gespürt haben, dieses Spektakel im Fünf-Minuten-Takt, wenn die legendären braun-roten Vorortzüge
aus den dreißiger Jahren quietschend in den Kopfbahnhof einrollen und ihre
menschliche Fracht den Bahnhof flutet wie ein Tsunami die Küste.
Die S-Bahnen von Bombay dürften alles übertreffen, was dieser Planet an
chaotischer öffentlicher Infrastruktur zu bieten hat. Wenn der Zug im Kopfbahnhof Churchgate ganz im Süden der Stadt einrumpelt, verwandeln sich
die bis dahin friedlich an den Gleisen wartenden Büro-Pendler in eine Horde Durchgeknallter, die nur ein Ziel verfolgt: Möglichst schnell rein in den
Zug. Noch während dieser rollt, hüpfen sie auf die Trittbretter, andere springen wie Fußballer beim Torjubel von hinten auf sie herauf, alles quetscht
und drängelt sich in die Abteile, um nur ja einen Sitzplatz zu bekommen.
Warum das so wichtig ist, wird binnen Sekunden klar. Immer mehr Menschen drängen in die Waggons, es ist eng, warm, zum Bersten voll. Zur
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Indien
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Hauptverkehrszeit quetschen sich 5.000 Menschen in einen Zug mit neun
Wagen. Die Fahrt bis in den Norden der Stadt kann zwei Stunden dauern, ein
Sitzplatz, vielleicht sogar einer am Fenster, ist ein Luxus, in dessen Genuss
überhaupt nur Fahrgäste in den Kopfbahnhöfen gelangen können, weil dort
die Linien beginnen. Alle anderen müssen stehen, mit jeder Station wird
der Zug voller und voller. Wie Bienentrauben hängen die Menschen aus
den Waggons, die keine Türen haben und zu beiden Seiten offen sind. Drinnen wird es immer enger, schweißnasse Leiber drücken sich aneinander, es
stinkt nach Mensch.
Krishna, ein 28-jähriger Bombay-Guide, führt mich heute durch die Stadt.
Er kennt sich bestens aus, fährt jeden Tag mit den Zügen von Nord nach Süd.
Krishna erklärt mir, dass sich die Pendler in Gruppen organisieren, damit sie
rechtzeitig aussteigen können, wenn ihr Ziel erreicht ist. Man steigt, oder
besser gesagt, man klettert zu und ruft beispielsweise „Dadar“ (eine große
Station, an der sich zwei Linien berühren), und die Masse schiebt einen in
den Pulk der anderen Dadar-Reisenden. Kurz vor der Station muss man sich
bereithalten und beim Einlaufen des Zuges abspringen, sonst schieben die
Zusteigenden die Pendler wieder zurück ins Abteil.
Suketu Metha, der Autor des Bestsellers „Bombay, Lost and Found“, zitiert eine Statistik, nach der die „Frachtdichte“ der Züge in Stoßzeiten unvorstellbarer zwölf Menschen pro Quadratmeter betrage. Krishna erklärt
mir, dass es manchmal so voll ist, dass man nur mit einem Bein und nur auf
Zehenspitzen den Boden berühren kann. Auch in der ersten Klasse sei es
nicht besser.
In den weniger überfüllten Frauenabteilen, berichtet Krishna, floriere der
Handel mit Kleidung und Lebensmitteln. Die berufstätigen Frauen haben
ein hartes Schicksal. Nach ihrem Arbeitstag müssen sie Stunden mit dem
Zug in den Norden fahren und dann die Abendmahlzeit zubereiten. Schon
während der Fahrt fangen sie an, Gemüse klein zuschneiden und treffen
sonstige Vorbereitungen. So gehen die Dinge zuhause schneller voran.
In den Männerabteilen ist das Hanging nach den Sitzplätzen die zweitbeste Art, mit der Enge fertig zu werden. Die Stangen im Inneren dienen als
Halt, die Körper hängen aus den offenen Abteilen, japsen nach Luft, versuchen der Hitze der Masse, der Luft ohne Sauerstoff, dem Gestank der Abteile zu entkommen. Das Hanging ist lebensgefährlich. Häufig knallen die
Menschen gegen die Strommasten an den Gleisen. Krishna war mehrfach
Zeuge solcher Unfälle. An einen erinnert er sich besonders gut, weil der
Körper des Opfers in zwei Teile gerissen wurde. Der eine Teil blieb im Zug,
der andere zerschellte am Mast. Auch Krishna wäre beim Hanging beinahe ums Leben gekommen. Er hatte kurz nach hinten statt in Fahrtrichtung
geblickt und deshalb einen herannahenden Strommasten nicht gesehen. Ein
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Mitreisender riss ihn in letzter Sekunde zurück in den Zug. „Ich habe den
Strommast noch an meinen Haaren am Hinterkopf gespürt.“
Krishna will mir seine ganz persönliche Horrorstation zeigen: Dadar.
Hier berühren sich die Western und die Central Line, hier ist es besonders überfüllt, dreckig und laut. Und hier gibt es häufig Opfer zu beklagen.
Dicht an den Bahnlinien fangen die Slums an, unachtsam überqueren Menschen barfuss die Gleise, kurz bevor der Zug kommt. Wir stehen auf einer
Überführung und beobachten das Schauspiel von oben. „See, see, see!“,
schreit Krishna immer dann, wenn jemand über das Kiesbett huscht und
der Zug kommt.
Einmal ist es besonders knapp, ein Jugendlicher bleibt im Gleisbett stehen, lässt sich ablenken, bemerkt nicht den herannahenden Zug. Die Menschen beginnen zu schreien und im letzten Moment bringt sich der Jugendliche in Sicherheit. „Wow“, ruft Krishna anerkennend, „that was tough“.
Jedes Jahr sterben 4.500 Menschen durch Zugunfälle, etwa 13 Menschen
pro Tag. Entsetzt ist darüber aber niemand so recht. Ein Menschenleben
zählt nicht viel in dieser Stadt, die zu viele Menschen hat. Als vor wenigen Wochen die 22-jährige Nagma Sheikh aus dem Abteil fiel und auf den
Gleisen verblutete, dachte niemand daran, die Notbremse zu ziehen und der
jungen Frau zu helfen. Sie hätte dadurch gerettet werden können. Ihre geschockte Schwester berichtet der Hindustan Times: „Truly, this city sometimes seems to have no heart.“
Von der Überführung in Dadar aus haben wir einen guten Überblick auf
die ankommenden Züge, und jetzt sehe ich auch mit eigenen Augen, was ich
Krishna zunächst nicht geglaubt hatte: Pendler, die auf dem Zugdach oder
zwischen den Waggons reisen. „See, see, see!“, ruft Krishna aufgeregt und
zupft an meinem Ärmel. Ein junger Kerl hat sich flach auf das Dach gelegt,
den Kopf auf seine Tasche gebettet, es sieht so aus, als würde er schlafen.
Zwei Züge später rauscht eine ganze Clique Jugendlicher im Schneidersitz
auf dem Zugdach vorbei, sie grinsen stolz in meine Kamera. Je näher die
Hauptverkehrzeit rückt, je voller die Züge, desto mehr Menschen fahren auf
dem Dach. Da ist ein Mann im Bürodress, der ein Buch liest, ein anderer telefoniert. „Do you believe me now?“, schreit Krishna in den Krach des abfahrenden Zuges hinein. „That’s crazy, that’s fuckin’ crazy Bombay!”
Auch Krishna war schon da oben, auf dem Dach. Auch er war schon auf
den Kupplungen zwischen den Waggons unterwegs. Das ist eine sehr riskante Art der Fortbewegung, die Züge sind zwar alt, aber trotzdem mit hohem
Tempo unterwegs. Wer sich auf dem Zugdach nicht rechtzeitig duckt, knallt
gegen einen Brückenbogen, wer von der Kupplung fällt, den zermalmen die
Zugräder. Die extreme Gefahr ist der Kick. Es sei cool, da oben zu sitzen,
ein „aufregendes Gefühl von Freiheit“, sagt Krishna. Rooftop Romeos wer-
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den die Jüngeren genannt, weil sie mit ihren waghalsigen Aktionen Frauen
beeindrucken wollen.
Das Chaos in den Zügen wächst unaufhörlich, weil die Stadt größer wird,
weil mehr Menschen reisen. Insgesamt fahren jährlich 2,2 Milliarden Menschen mit den heruntergekommenen Zügen. Die Western Railway, eine von
drei großen Eisenbahngesellschaften in Bombay, die täglich 3,22 Millionen Gäste befördert, verzeichnete in den Monaten von März bis September
2007 einen Anstieg der täglichen Fahrgäste von 87.000 zusätzlichen Menschen. Die Gesellschaften kämpfen gegen die Masse mit mehr Zügen und
neuen Zugtypen. Im November weihte die Western Railway einen von Siemens entwickelten Zug ein, der weniger Sitze und damit mehr Stehplätze
und eine bessere Belüftung hat. Doch jeder weiß: Das ist ein hilfloses Kurieren am Symptom.
Völlig fehlgeschlagen sind auch Versuche, die langen Warteschlangen an
den Fahrkartenschaltern mit modernen Automaten abzubauen. Viele Inder
verstehen die Touchscreen-Technik nicht. „Sie drücken eine Weile darauf
rum“, erzählt Krishna, „irgendwann werden sie wütend und schlagen die
Automaten kurz und klein.“ Eine typische Szene am Bahnhof Victoria Terminus: Vor dem Fahrkartenschalter haben sich lange Schlangen gebildet. An
der Wand ein metergroßes Werbeplakat für die elektronischen Fahrkartenautomaten: „Be smart, don’t queue!“ steht da geschrieben. Sei schlau, stell
dich nicht in die Schlange!
Kürzlich war Ken Livingstone, der Londoner Bürgermeister, in der Stadt.
Er sollte der Stadtverwaltung Ratschläge geben, wie Bombay die Verkehrsmassen bewältigen könne. Zunächst wagte er den Selbsttest und quetschte
sich mit den Bombayern in ein Abteil, was er als „extrem aufregend“ empfand. Dann schlug er den Stadtplanern ein U-Bahn-System mit einer Kapazität von mindestens vier Millionen Menschen pro Tag vor. „Zusätzliche
oberirdische Züge werden in Bombay niemals reichen“, sagt Livingstone.
Und die Metropläne, die bisher existieren, seien um den Faktor drei bis vier
unterdimensioniert.
Erst wenn das U-Bahn-System funktioniere, so Livingstone, könne die
Stadt den Verkehr stärker besteuern, um die vielen Autos aus der City zu
verdrängen und die extrem schlechten Luftwerte zu verbessern. Das Geld
für die vielen Straßen und Flyovers hält Livingstone für vergeudet: „Ihr
könnt damit weitermachen, mehr Straßen zu bauen und sie werden gefüllt
mit Autos“, erklärte er den Stadtoberen. Die bedankten sich artig. Und machen weiter wie bisher.
Das jüngste Zeichen typisch indischer Infrastrukturplanung: Der „Bandra Worli Sea Link“, ein 260 Millionen-Dollar-Projekt mit einer achtspurigen
Brücke, die die westlichen Vororte mit der Innenstadt verbindet. Das Prob-
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Indien
lem an diesem gewaltigen Bauvorhaben: Es nützt ausschließlich den zwei
Prozent der Bombayites, die Auto oder Laster fahren. Der Wirkungsgrad des
Sealinks ist also gering. Pro Stunde werden so viele Menschen befördert wie
in zwei an- und abfahrenden Zügen des Bahnhofs Churchgate.
Wie, fragt man sich, kann Stadtplanung in einer dysfunktionalen Stadt
die offensichtlichen Probleme so ignorieren und Klientelpolitik für Reiche
machen? Die Stadtverwaltung von Bombay ist relativ machtlos, sie wird
gesteuert von der ineffizienten Regierung des Bundesstaates Maharashtra.
Die Vielzahl der Einzelbehörden mit ihrer Korruptionsanfälligkeit behindert
vernetztes Denken. Niemand ist verantwortlich, niemand blickt durch. Und
immer wieder erleben die Bürger, wie die Infrastrukturpolitik, die Wasserund Stromversorgung, der Straßenbau, das Müllmanagement vor allem den
Reichen zugute kommt. Bei jedem Monsun kann man die Auswirkungen
dieser Politik sehen. Der reiche Süden kommt schadlos durch die regenreichen Monate. Im armen Norden saufen regelmäßig ganze Viertel ab.
4.3 Das Collier der Königin und zweieinhalb Millionen Kilo Scheiße
Wäre da nicht diese unglaubliche, drückende Hitze, die wie eine schwere
Decke über der Stadt liegt und das Leben so unendlich mühsam macht, wäre
es am Marine Drive ganz gut auszuhalten. Sanft schwingt sich der Prachtboulevard am Meer entlang vom Stadtteil Churchgate bis zum Chowpatty
Beach. Art-Déco-Fassaden zieren die Uferhäuser, Pärchen sitzen abends auf
der Kaimauer und tauschen verschämte Küsse aus. Wenn die Sonne nach einer wildromantischen Dämmerung versunken ist, glitzern die Straßenlaternen aufgereiht wie Diamanten in den Nachthimmel. Queens Necklace heißt
der Marine Drive deshalb liebevoll – das Collier der Königin.
Bombay ist – zumindest im südlichen Teil – eine elegante Stadt, dessen
einstige bauliche Pracht an jeder Ecke hervorblitzt. Im Touristen-Viertel Colaba wimmelt es vor stolzen (wenn auch heruntergekommenen) Kolonialbauten und angesagten Cafés wie dem Leopold’s, bekannt aus dem großartigen, 1.000 Seiten starken Bombay-Roman Shantaram. Der Bestseller von
Gregory David Roberts wird nun verfilmt und soll in einem Jahr in die Kinos kommen. Weiter nördlich, in Malabar Hill, flaniert es sich hübsch in
den hängenden Gärten, am Juhu Beach versammeln sich Bollywood-Sternchen, die Rooftop-Bars, Nobelhotels und vielen Clubs geben der Stadt etwas
Mondänes, Weltläufiges, wie es sich für eine anständige Hafenstadt gehört.
Bombay ist mitnichten eine verschlafene Gartenstadt wie Bangalore, die
mehr oder weniger durch eine glückliche Fügung der Geschichte nach oben
gespült wurde. Bombay ist eine ziemlich coole, vibrierende und (leider) ex-
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trem teure Stadt – vielleicht mit Shanghai das Aufregendste, was Asien zu
bieten hat. Wohl nirgendwo in Indien wird mehr verdient, mehr gekokst,
mehr bestochen, mehr geprügelt, mehr geliebt. In unendlichen Wendungen
wird die Megalopolis literarisch umkreist. „Diese Stadt“, schreibt etwa der
indische Star-Schriftsteller Kiran Nagarkar, „bläst Dir das Hirn raus.“ Für
ihn ist Bombay „Crack, Kokain, Ecstasy, Engelsstaub, und Heroin“. Und
weiter: „Die Megacity ist eine Art Droge, die man bisweilen zwar verabscheuen mag, für die man aber lieber sein Leben aufs Spiel setzt, als auf sie
zu verzichten.“
Seit der Liberalisierung der indischen Wirtschaft hat Bombay sein Tempo
noch mal kräftig angezogen. Jedes Jahr rollen 100.000 Autos mehr durch
die engen Straßen, Aktienkurse und Gehälter steigen, internationale Firmen lassen sich in Bombay nieder, entsenden reiche Expats. Bollywood
dreht pro Jahr tausende Filme, Shopping-Malls und Autohäuser sprießen
aus dem Boden.
Und doch ist das morbide Bombay allgegenwärtig: Modrige, vom Monsun verschimmelte Gebäude, Dreck in den Straßen, ein fürchterlicher Gestank, der Verkehr zum Verzweifeln. Statistisch betrachtet hat Bombay eine
der schlechtesten Lebensqualitäten der Welt. In den vielen Slums sind die
Lebensbedingungen zum Teil menschenunwürdig. Viele der Slum Dwellers haben keine Toilette, kein fließendes Wasser, keinen Strom, kein bisschen Privatsphäre, kein Geld und absolut keine Chance, jemals dem Elend
zu entfliehen.
Der Mangel an sanitären Einrichtungen nimmt den Menschen die Würde. Schon im Flugzeug vom Rollfeld aus werden die Passagiere unfreiwillig
Zeuge, wie Bewohner des angrenzenden Slums auf Müllbergen ihre Notdurft verrichten. Frauen halten ein, bis es dunkel ist. Dann laufen sie Gefahr, während ihrer Toilettengänge vergewaltigt zu werden. Der Filmemacher Prahlad Kakkar, der einen Film mit dem ironischen Titel „Bumbay“
drehte, rechnet vor, dass „die Hälfte der Bevölkerung keine Toiletten hat, um
reinzuscheißen, also scheißen sie im Freien. Das sind fünf Millionen Menschen. Wenn jeder ein halbes Kilo scheißt, sind das zweieinhalb Millionen
Kilo Scheiße jeden Morgen.“
Für diese Menschen ist Bombay nicht die gute Bucht, wie der Name portugiesischen Ursprungs verheißt. Sie gehören zu den Millionen Ausgeschlossenen, die nicht profitieren, wenn der indische Aktienindex Sensex immer
neue Höhen erklimmt, wenn Wachstumsraten zweistellig werden und die
neue Mittelschicht in den schicken Clubs ihren Aufstieg feiert.
In Bombay zählt nur das Geld. Die ganze Stadt ist dem Kommerz verfallen, dem Mehren von Reichtum, dem Wettlauf um das meiste Geld. Selbst
die Ärmsten gehen diszipliniert ihrem Tagwerk nach. In Bombay wird an
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jeder Ecke gebettelt, etwa 85 Prozent der Bettler sind Vollprofis. Sie halten ihre leprösen Arme wie Waffen unter die Nase, schockieren mit entsetzlich entstellten Gesichtern, Kinder hängen sich ans Hosenbein, Krüppel
schießen wie Sandspinnen aus ihren Löchern hervor, wenn man ihren Weg
kreuzt, klopfen an die Autoscheibe und laufen hinter dem Wagen her.
Als ich mal wieder im Stau stand, ging ein Junge von vielleicht zehn Jahren mit seinem etwa dreijährigen weinenden Geschwisterchen auf dem Arm
bettelnd von Auto zu Auto. Immer, wenn die Kleine aufhörte zu weinen,
schlug der Bruder so lange zu, bis sie wieder losheulte. Ein tränenüberströmtes Kind ist eine Geldmaschine, das Geschrei geht direkt ins Herz,
selbst hart gesottene Touristen, die aus gutem Grund Bettlern nichts geben,
zücken ihre Brieftaschen. Gerüchten zufolge verstümmeln einige Mütter
ihre Kinder, damit die Kinder mehr Mitleid erwecken. Glücklicherweise bin
ich solchen Kindern nicht begegnet.
Die Bettler sind bestens organisiert. Sie haben die Stadt in Bezirke aufgeteilt, bezirksfremde Bettler werden sofort von den anderen vertrieben. Jeder
Bezirk hat einen Bettlerkönig wie die berühmte Figur des Jeremy Peachum
aus Berthold Brechts „Dreigroschenoper“. An diese Bezirksfürsten müssen
die übrigen Bettler einen Teil des Geldes abführen, dafür halten diese ihnen
die Konkurrenz aus anderen Bezirken vom Leibe.
4.4 Slum zu verkaufen
Dieser seltsam-süßliche Geruch legt sich über dich, nimmt dich in Beschlag, dringt tief in die Fasern deiner Kleidung ein. Er begleitet dich während der Wanderungen durch den Slum, zwischendurch nimmst du ihn
nicht mehr wahr, weil die anderen Sinne das Spektakel der Armut kaum
verarbeiten können, weil für’s Riechen keine Zeit bleibt. Und dann, auf dem
Weg zurück in die entwickelte Welt, in der es Duschen und Toiletten, sauberes Wasser und Strom gibt, erinnert dich der Geruch daran, dass du in Dharavi warst, einem Ort des Mülls, des gesellschaftlichen Abfalls, die Stätte
der Niederlagen und der Verlierer. Und daran, wie komfortabel, wie luxuriös
das Leben in der anderen Welt ein paar Bahnstationen weiter ist.
Dharavi ist Asiens größter Slum, erbaut auf sumpfigem, von Moskitos
verseuchtem Gelände, das die reichen Süd-Bombayites in den 50er Jahren
beinahe zufällig trockenlegten, indem sie dort ihren Müll abkippten. Dharavi bietet heute fast einer Million armer Menschen Zuflucht. Jahrzehnte
kümmerte sich niemand um den Schandfleck mitten in Bombay.
Jetzt steht der Slum im Zentrum eines weltweit einzigartigen Projekts:
Die Regierung plant, Dharavi zu einem Mittelklasse-Viertel umzubauen, die
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flachen Hütten werden verschwinden, auf dem wertvoll gewordenen Grundstück sollen mehrstöckige Wohnhäuser in den Himmel wachsen, Freizeitparks entstehen. Und wie immer, wenn die Regierung etwas plant, gibt es
gewaltigen Ärger.
Noch sind die Bulldozer nicht angerückt, noch scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, noch wirkt Dharavi wie ein Museum für misslungene Urbanisierung. Die Gassen sind so schmal, dass das Tageslicht nicht hineinfindet, dass meine Schultern zu beiden Seiten die vom Kondenswasser feuchten
Wände berühren. Es ist stickig und schwül. Kabel hängen drohend herab,
„bloß nicht berühren“, sagt Devendra, ein 20-jähriger Mann, der mich durch
den Slum führt, „die könnten unter Strom stehen“.
Dharavi, das wird jedem Besucher schon nach wenigen Minuten klar, ist
ein unwirtlicher und zugleich faszinierender Ort des Drecks, der Asozialen,
der Mafia und der ganzen Last des unterprivilegierten Daseins, aber auch
ein Ort des Unternehmertums, des Aufstrebens, der ewigen Hoffnung auf
eine bessere Zukunft.
Devendra läuft leichtfüßig voran, ich torkele hinterher, verwirrt von den
vielen Eindrücken. Ein Bettler liegt auf der Straße im Dreck, er trägt keine
Kleidung am Leib und sieht aus, als sei er Opfer eines Brandes geworden.
Seine Haut ist seltsam verwachsen, sein Hals ist gar nicht mehr zu erkennen, der Körper ist übersät mit Narben. Er spricht nicht, er liegt einfach nur
nackt da und wartet auf seinen Tod. Niemanden, so scheint es, kümmert sein
brutales Schicksal.
Doch es bleibt keine Zeit, über den armen Kerl nachzudenken, immer
neue Eindrücke prasseln auf mich ein. Menschenmassen strömen durch die
engen Gassen, jeder ist emsig beschäftigt, trägt irgendetwas durch die Gegend, hat es eilig, an sein Ziel zu kommen, verkauft, kauft, bearbeitet, macht
und tut. Kinder springen mir entgegen, hängen sich an mich, wollen fotografiert werden, strahlen um die Wette. Was für ein Gewusel und Gewimmel.
Dharavi ist ein riesengroßer menschlicher Ameisenhaufen.
Auf dem Boden liegt Unrat, in offenen Kanälen fließt stinkendes Abwasser,
über dem Insekten kreisen. Ratten huschen über den Weg. Die Hütten sind
auf Sand gebaut. Hunde und Ziegen streunen herum. An den Wegesrändern
stehen alte Fässer und Tonnen, weiße Säcke mit unbekanntem Inhalt verstreuen sich. In Dharavi wird die Trennung zwischen Müll und Gebrauchsgegenstand aufgehoben. In Dharavi gibt es im Grunde keinen Müll, weil alles, aber
auch wirklich alles, weiterverarbeitet und zu Geld gemacht wird.
Dharavi ist in jeder Hinsicht ein Superlativ. Allein die Dichte an Menschen ist weltrekord-verdächtig. Auf etwa 2,2 Quadratkilometer Boden leben über 900.000 Menschen. Zum Vergleich: Die 991.000 Einwohner von
Köln verteilen sich auf eine Fläche von 405 Quadratkilometern. Da sämtli-
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Indien
ches Zahlwerk in Dharavi auf Schätzungen beruht, ist nicht hundertprozentig sicher, aber doch ziemlich wahrscheinlich, dass dieser Flecken Erde an
der Südseite des Mahim Creek, umsäumt von zwei S-Bahnlinien inmitten
der Megalopolis Bombay, der am dichtesten besiedelte Ort der Welt ist.
Devendra, mein Guide, hat freundliche Augen, ansonsten sieht er aus wie
viele junge Männer in Bombay: dunkle Jeans, weites T-Shirt, Schlappen. Er
erklärt in ruhigen Worten, wie dieser Mikrokosmos funktioniert. Er weiß,
wovon er spricht, er ist in Dharavi aufgewachsen. Und er hat es aus diesem
Dreck heraus an die Uni geschafft. Die ganze Familie legt Geld zurück, damit Devendra studieren kann, auch einen MBA will er nach dem Studium
draufsatteln. Ohne MBA kommt man in Indien nicht weit.
All das kostet viel Geld, deshalb verdient sich Devendra nun als Sherpa
ein Zubrot. Ich bin sein letzter Kunde, er brauche jetzt mehr Zeit zum Lernen, sagt er. Devendra will bei den harten MBA-Zulassungstests unbedingt
eine hohe Punktzahl erreichen, nur dann kann er sich an einer renommierten MBA-Schule einschreiben, die nur die besten eines Jahrgangs aufnimmt.
Ich muss an Karim denken, den Aushilfsmakler und reichen Studenten aus
Süd-Bombay. Karim gibt unumwoben zu, dass er nicht schlau genug ist,
um bei den Zugangstests mit 600.000 Kombattanten auf den vorderen Plätzen zu landen. Er wird also viel Geld brauchen, um die Direktoren milde zu
stimmen. „Anders“, sagt Karim, „habe ich keine Chance“. Ich würde viel
drum geben, jetzt zehn Jahre in die Zukunft blicken zu können und zu wissen, welchen Weg diese beiden etwa gleichaltrigen und doch so verschiedenen jungen Männer gehen.
„Aus dem Weg, weg da!“, ruft jemand von hinten auf Hindi, und Devendra zieht mich hastig beiseite. Zwei Männer balancieren etwa 30 blank
polierte Kanister auf einer Trage und verschwinden in einem dunklen Eingang. Wir folgen ihnen, die schwere Stahltür gibt den Blick frei auf acht
Männer, die mich skeptisch anstarren. Sie sitzen vor gestapelten silbrig
glänzenden Kanistern, die sie auswaschen, über Feuer abkochen und anschließend polieren. Von hinten brechen Sonnenstrahlen durch die löchrige Wand des Verschlags, die hundertfach reflektiert werden von den
silbernen Kanistern, der Rauch tänzelt in den Sonnenfluten. So muss es
ausgesehen haben in den englischen Werkshallen zu Beginn der industriellen Revolution.
Devendra klärt mich auf: Wir befinden uns in der so genannten industrial area mit etwa 10.000 unterschiedlichen Gewerben. Alles in allem werden
in Dharavi jährlich Waren im Wert von 665 Millionen US-Dollar produziert. Wir gehen in den so genannten 13th Compound, Bombays Recyclinghof. Tausende Plastiksammler schwärmen täglich durch die Stadt und
schleppen ihre Beute, Plastiktüten, Kanister oder Flaschen, nach Dharavi.
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Dort häckseln sie das Plastik, waschen und trocknen es nach Farben sortiert, bevor das Plastik zu Pellets zerschmolzen und zurück an die plastikverarbeitende Industrie geht. Ähnlich läuft es mit gebrauchten Tonnen und
zerbeulten Metall-Kanistern, die die Bewohner von Dharavi wieder herrichten, lackieren und verkaufen. „Ohne Dharavi“, sagt Devendra, „würde
Bombay im Müll versinken.“
Im Slum gibt es alles, was man in einer Großstadt erwartet: Schulen, Krankenhäuser, Kinos, jede Form von Nahrungsmittelindustrie, ja sogar FitnessStudios und Schönheitssalons. Ich will das mit eigenen Augen sehen, Devendra führt mich über eine verrostete Treppe in das Slumkino, der Saal ist
rammelvoll, sie übertragen gerade ein Kricketspiel. Und ein paar Meter im
Slum-Gym wuchten tatsächlich schwere Jungs Gewichte vor einem vergilbten Arnold-Schwarzenegger-Plakat. Ich darf sie fotografieren, stolz posieren sie mit aufgepumpten Muskeln für die Kamera.
Natürlich ist nichts von all dem offiziell angemeldet, Strom und Wasser
kommen von illegalen Zapfstellen, die Behörden sind geschmiert. Sie drücken beide Augen zu, wenn in Dharavi unter zum Teil brutalen Bedingungen, zu miserablen Löhnen von 100 bis 150 Rupien (1,70 bis 2,20 Euro) gearbeitet wird, pro Tag wohlgemerkt, nicht pro Stunde. Durchschnittlich hat
ein Haushalt in Dharavi nach einer Umfrage aus dem Jahr 2002 monatlich
knapp 3.000 Rupien zur Verfügung, das sind etwa 53 Euro.
Wir klettern auf das Dach eines Hauses. Von oben haben wir einen perfekten Blick. Dicht an dicht schmiegen sich Hütten aneinander, jeder Zentimeter Platz ist genutzt, auf den Dächern liegt das Plastikpulver. Barfuss
laufen einige Männer durch den Plastiksee, sie schichten das Plastik um, damit es von der Sonne gleichmäßig getrocknet wird. Vereinzelt steigen kleine Rauchsäulen auf. Dort backen sie die Brotfladen, die man überall in den
Restaurants bekommt, frittieren Salzgebäck, kochen über offenem Feuer die
Kanister aus, backen aus Ton ihre Töpfe.
Devendra stammt aus einer der 2.000 Töpferfamilien. Er zeigt mir seine
Hütte, sie liegt direkt neben einem Töpferofen, der vor sich hinqualmt und
die Sicht vernebelt. Der Rauch ist noch schlimmer als der süßliche Gestank,
er macht das Atmen unmöglich, provoziert Hustenattacken. Wie kann man
unter solchen Umständen wohnen, frage ich ihn. „Man gewöhnt sich daran“,
antwortet er. Und grinst.
Devendras Hütte ist picobello aufgeräumt. Seine Mutter döst auf dem Boden vor sich hin, es stört sie offenbar nicht, dass da jetzt ein Fremder in ihrem Wohnzimmer sitzt. Die Hütte besteht aus zwei Räumen, knapp 25 Quadratmeter für fünf Personen. Das ist komfortabel in Dharavi. 48 Prozent der
Bewohner haben weniger als zehn Quadratmeter Platz. Sie leben mit bis zu
acht Leuten unter einem Dach.
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In dieser Hütte versteckte sich Devendra während der Riots im Dezember
1992, als „Säbel schwingende Moslems durch den Slum zogen, um Rache
zu nehmen an den Hindus“, berichtet Devendra. Radikale Hindus hatten zuvor im Bundesstaat Uttar Pradesh eine Moschee in Brand gesetzt. Angestachelt von Bal Thackeray, dem Teufel von Bombay, kam es auch in Bombay
zu Unruhen, den berüchtigten ’93er Riots mit fast 1.000 Toten. Thackeray
ist noch heute Chef der regierenden Stadtpartei Shiv Sena (Shiwas Armee),
die mit ihrer anti-muslimischen Hetze und ihrem extremen Nationalismus
(leider) vielen Hindus in Bombay aus der Seele zu sprechen scheint.
Auf die Riots folgten prompt die Bombay Bombings, 13 Sprengstoffanschläge auf verschiedene Gebäude in der Stadt, unter anderem auf die Börse, sie kosteten vielen das Leben. Für die Bombenanschläge wird Dawood
Ibrahim verantwortlich gemacht, ein muslimischer Gangster mit Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst und den afghanischen Taliban.
Angeblich ist er in Kanada untergetaucht.
Leute wie Thackeray und Ibrahim haben ganze Arbeit geleistet und die
Atmosphäre zwischen Hindus und Moslems in Bombay nachhaltig vergiftet. Seit den ’93er Riots kommt es immer wieder zu Zusammenstößen. Viele
Bombayites haben seitdem zwei Visitenkarten dabei. Eine mit der muslimischen Schreibweise ihres Namens, eine mit der Hindi-Version.
Auch hier in Dharavi haben die Riots die religiöse Segregation vorangetrieben, reine Moslem- und Hindu-Viertel schälen sich heraus. Ihnen gemein
ist, dass die Preise für die Hütten ständig steigen. Bombay ist um Dharavi
herum gewachsen, die wuchernde Stadt umspült den herzförmigen Schandfleck. Und je teurer Bombay wird, desto mehr profitiert auch das herunter gekommene Dharavi. Eine Hütte von 20 Quadratmetern ohne Wasseranschluss und Bad ist derzeit etwa 25.000 Euro wert.
Weil das so ist, haben das Beratungshaus McKinsey, der indische Stararchitekt Mukesh Mehta und Vertreter der Lokalpolitik beschlossen, das Dharavi Project zu starten. Die Lage des Slums ist einzigartig, gleich nebenan
liegt der Finanzdistrikt Banda Kurla, mit dem Grund und Boden lässt sich
viel Geld verdienen. Nach Schätzungen ist Dharavi die gewaltige Summe
von etwa 7,5 Milliarden Euro wert. Das weckt Begehrlichkeiten.
Mukesh Mehta ist ein groß gewachsener Mann mit festem Blick und
tiefer Stimme. Der Architekt hat einen großen Teil seiner Lebenszeit mit
Dharavi verbracht, seit Jahrzehnten arbeitet der 58-Jährige daran, aus dem
Slum eine schicke Mittelklasse-Gegend zu formen. Wir sitzen in einem herunter gekühlten Präsentationsraum im noblen Stadtteil Bandra West, sein
Presse-Attaché verpasst mir einen zehnminütigen Einlauf. Jedes Zitat müsse
bitteschön abgestimmt werden, und überhaupt dürfe ich Mehta nur zitieren,
wenn keiner dieser renitenten Protestler aus dem Slum in meinem Artikel
298
Indien
Andreas Große Halbuer
auftritt. Ich nicke unbedarft, und dann legt Metha ohne Umschweife los mit
seinem Vortrag über die phantastischen Chancen von Dharavi.
Ein Weltklasse-Viertel werde er aus Dharavi machen, mit modernen
Kliniken, Schulen und Wohnhäusern, eine Blaupause für andere Slums in
Megacities. Sogar Golfplätze, ein Kricket- und ein Bollywood-Museum sind
in Planung. Der Slum soll ein touristisches Highlight in der Weltstadt Bombay werden. „We wanna bridge the gap“, sagt Mehta. Er will Brücken schlagen zwischen der Mittelklasse und den Armen, die Leute im Slum bräuchten
doch unbedingt bessere Wohnungen. „Wir werden sie von diesen Umständen befreien.“ Mukesh Mehta ist ein geschickter Verkäufer, er weiß seine
Pläne in klangvolle Worte zu kleiden.
Und die sind durchaus genial. Jene Slum Dwellers, die unter das Rehabilitierungsgesetz fallen, also vor 1995 als Siedler gemeldet waren, sollen bei
dem Dharavi Remake entschädigt werden: Sie bekommen in neuen siebenstöckigen Häusern eine Wohnung. Die Gewerbetreibenden können in modernen Hallen ihrem Tagwerk nachgehen. Zurzeit sucht die Stadt per Ausschreibung eine Entwicklungsgesellschaft, die groß genug ist, um dieses
Mammutprojekt zu stemmen. Das Dharavi Remake soll als so genanntes
PPP-Projekt, also im „Public-Private-Partnership“-Format über die Bühne
gehen. Stadt und privater Investor schaffen gemeinsam, wozu die öffentliche Hand allein finanziell nicht in der Lage wäre. Der Investor gibt das
Geld, etwa zwei Milliarden Euro. Er baut die Häuser, bringt die Bewohner
von Dharavi unter und vermietet den restlichen Wohnraum, damit sich die
Investition rechnet.
Da gibt es nur mindestens drei gravierende Probleme. Erstens ist
ungeklärt, was mit den Leuten in Dharavi passieren soll, die sich nach 1995
im Slum niedergelassen haben. Zweitens haben bisherige Erfahrungen mit
der Rehabilitierung zu so genannten vertical slums, also heruntergekommenen Hochhäusern geführt. Die Wohnungen dort sind so winzig, dass die Bewohner ihre Möbel aus Platzmangel auf den Flur stellen. Und genau davor
haben drittens die Gewerbetreibenden Sorge. Sie brauchen mehr Platz als
bisher von Metha vorgesehen für ihre Gerätschaften und Maschinenhallen,
außerdem bewohnen sie für Bombayer Verhältnisse große Verschläge, in
denen meist mehrere Familien leben.
Auch Raju Wala, ein kleiner dicker Mann, gehört zu den Skeptikern.
Er ist einer von 2.000 Töpfern, in seinem großen Slumhaus lebt die ganze
Familie, insgesamt 15 Personen. Würde sich Metha durchsetzen, hätte die
Familie weniger als ein Fünftel des jetzigen Platzes. „Wie soll das gehen?“,
fragt Wala. Dass der Slum modernisiert werden soll, findet er richtig. Aber
Mukesh Metha, dem traut er nicht über den Weg. „Der macht das doch nicht
für uns, der macht das für sich selbst, um Geld zu verdienen.“
299
Andreas Große Halbuer
Indien
So wie er denken viele im Slum. Jockin Arputham ist ihre Stimme.
Der Präsident der National Slum Dwellers Association sitzt im
Versammlungsraum der Association im Schneidersitz vor einem winzigen
Pult. Etwa 30 Frauen reden aufgeregt auf ihn ein. Krishna, der an diesem
Tag an meiner Seite ist, versucht zu übersetzen. Es geht um Strom- und
Wasserrechnungen, wer welche Zuschüsse bekommt und wer nicht. Die
Diskussion zieht sich endlos hin, wir müssen uns gedulden. Nach zwei
Stunden bedeutet Arputham mir in gnädiger Geste, neben ihm Platz zu
nehmen.
Arputham ist angriffslustig und Mukesh Mehta offenbar sein Lieblingsfeind. Sobald der Name fällt, springt Arputham aus dem Hemd. Der
sei heuchlerisch, das Projekt würde die Lebensumstände der Bewohner
nicht verbessern, es gebe keine Transparenz bei der Auftragsvergabe. Und
überhaupt, dass Metha so eng mit der Stadt zusammenarbeitet, sei doch sehr
seltsam. „Der hat alle Politiker geschmiert“, schimpft Arputham. „Ich sage
alle, er hat sie alle geschmiert“. Man solle lieber den Bewohnern das Geld
geben, dann würden sie schon was Ordentliches aus dem Slum machen.
Aber das Projekt von Mukesh Metha, das sei „top down“ geplant, gegen den
Willen der Armen. Warum, fragt Arputham, plane die Stadt nicht „bottom
up“ und fragt die Bewohner von Dharavi?
Arputham hat auch außerhalb des Slums mächtige Unterstützer. Prominente wie der UN-Diplomat Shashi Tharoor oder die amerikanischen Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen kritisierten in einem offenen Brief
mit ähnlichen Argumenten die Generalüberholung von Dharavi.
Trotz aller Bedenken, die zuständige Slum Rehabilitation Authority
behauptet, nach einer Umfrage seien 70 Prozent der Bewohner für die
Pläne von Metha. Die hofften auf bessere sanitäre Anlagen und
Abwassersysteme, es gibt kaum Toiletten im Slum, schwere ansteckende
Krankheiten sind an der Tagesordnung. Protest komme vor allem von den
Reicheren im Slum, die künftig wohl weniger Platz haben werden. Und
von den besonders armen Slum Dwellers, die sich nach 1995 in Dharavi
niedergelassen haben und deshalb nicht von der Stadtregierung unterstützt
werden.
Je näher das Projekt rückt, desto heftiger werden Leute wie Arputham kämpfen. Sollte es den Widerständlern gelingen, die breite Masse auf ihre Seite zu ziehen, werden auch die Politiker einknicken. Slums
sind Vote Banks, als Schwarm haben ihre Bewohner gewaltigen Einfluss.
Bisher ist es nur bei drohenden Worten geblieben, doch Arputham hat schon
angekündigt, zur Not die S-Bahn-Gleise zu besetzen. Damit wäre die Riesenstadt vollständig lahm gelegt. Gut möglich also, dass die Uhren in Dharavi noch ein Weilchen stehen bleiben werden.
300
Indien
Andreas Große Halbuer
4.5 Bombay von oben
Es sind nur wenige Kilometer, die das Armenhaus Dharavi vom elegantesten Ort der Stadt, dem Taj Mahal Palace & Tower trennt. Wer die Extreme
dieser Stadt erleben will, sollte beide Orte an einem Tag aufsuchen. Die kulturelle Konfusion ist programmiert. Schon die gewaltige Eingangshalle mit
ihrer alabasterfarbenen Decke, dem edlen Marmorboden und den zeitgenössischen Gemälden an den Wänden verschlägt mir die Sprache. Was für eine
Pracht, welch unermesslicher Reichtum und welch historischer Stolz verkörpert dieses wohl nobelste Hotel des ganzen Orients. Das zigfach preisgekrönte Taj liegt auf der Ostseite von Bombays Südspitze, die Front blickt
auf die Arabische See, gleich nebenan ragt das berühmte Gateway of India
in die Höhe.
Der Legende nach wurde seinem Erbauer, dem parsischen Industriellen
JN Tata, der Zutritt in ein europäisches Hotel in Bombay verwehrt, er sei ein
Eingeborener. Aus Protest ließ er 1903 den Palast bauen, der alle anderen
Hotels überflügelte. Das Gateway war zu diesem Zeitpunkt noch nicht errichtet. Das erste, was Besatzungen einlaufender Schiffe deshalb von Bombay sahen, war die spektakuläre Fassade des Hotels. Inzwischen überragt
auch der in den 70er Jahren angebaute Turm das Gateway, im Dreiklang bilden die Gebäude das architektonische Wahrzeichen der Stadt. In den 565
Zimmern, darunter 47 luxuriöse Suiten, betteten Könige, Präsidenten, Musiker, Filmstars, Schriftsteller und Spitzen-Unternehmer ihre Häupter. Die
Liste reicht von Bernard Shaw bis Bill Clinton, von John Lennon bis Margaret Thatcher. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel stieg bei ihrem
Bombay-Besuch im Taj ab.
Kein Gästewunsch, behauptet das Management, sei zu ausgefallen, dass
er nicht erfüllt werden könne. Selbst bei der Wahl exklusiver Transportmittel hilft man gerne weiter. Zum Haus gehören eine 50-Fuß-Jacht mit drei
Schlafzimmern und zwei zweistrahlige Falcon-Jets für spontane Erkundungen der Umgebung. Diskret und sicher, versteht sich, denn darauf legt die
vermögende Kundschaft großen Wert. Jede Suite hat eine Verbindungstür
zu einem kleineren Zimmer, damit die Bodyguards im Ernstfall schnell eingreifen können. Die Räume sind geschmackvoll eingerichtet, antike und
sehr kostbare Möbel mischen sich so elegant wie unaufgeregt mit modernem Interieur. In fast beiläufiger Lässigkeit rundet dann ein antiker Sessel
für 60.000 Dollar die Sitzgruppe einer Suite ab.
Wie selbstverständlich hängen millionenschwere Kunstschätze in freizugänglichen Räumen und machen aus dem Taj eines der führenden Museen
des Subkontinents. Hotelrestaurants wie der „Zodiac Grill“ zählen zu den
besten des Landes. Auch die körperliche Ertüchtigung kommt nicht zu kurz.
301
Andreas Große Halbuer
Indien
Der schwimmbadgroße Pool im Innenhof gestattet wunderbare Abkühlung
vom heißen Bombay. Vielleicht noch wichtiger als der Pool selbst ist die
Symbolkraft seiner Größe: Platz, der größte Luxus in Bombay, hat das Taj
im Überfluss. Einen größeren Gegensatz zu der klaustrophobischen Enge
Dharavis, zu den als Toiletten umfunktionierten Müllhalden, zu den Sorgen
und Nöten seiner Bewohner, kann es auf dieser Welt nicht geben.
Die Hotel-Managerin Birgit Zorniger ermöglicht mir ein Abenteuer der
besonderen Art: Vom Sicherheitspersonal begleitet, klettere ich auf das Dach
des Hotelturms und genieße in der Morgendämmerung die wohl perfekteste Aussicht, die man in Bombay haben kann. Vor meinen Augen glitzert die
Arabische See, hinter mir erhebt sich die Silhouette der Stadt gemächlich
aus dem Morgendunst. Von unten schallt ein gleichmäßiges Lachen hoch
auf das Dach. Der Bombayer Lach-Yoga-Club hat in kreisrunder Formation Aufstellung genommen. Jeden Morgen treffen sie sich am Gateway, um
den Tag mit organisierter Fröhlichkeit zu begrüßen. Schnell steigt die Sonne
am Horizont auf und tunkt das Gateway of India in ein sanftes Rot. „URBS
PRIMA IN INDIS“ steht auf einer Tafel vor dem Gateway geschrieben: Die
erste Stadt in Indien. Wohl war.
5. Liste der Waren und Dienstleistungen, die ich dankend
abgelehnt habe
Hölzerne Kobras, Trommeln, Landkarten, Spielzeug-Hubschrauber mit
Fernsteuerung, Uhren, anderthalb Meter große Luftballons aus Gummi,
Horoskop mittels Hüpf-Präferenzen von Wellensittichen in eigens dafür
angefertigten kleinen Käfigen, Backgammon-Spiele, Zeitungen, Bücher,
Haschisch, Sex mit schlanken Frauen, Sex mit dicken Frauen, Sex mit Männern, Sex mit zwei Frauen gleichzeitig, Kokain, Rollenangebote für Bollywood-Produktionen, Seifenblasenmaschinen, Schachspiele, Münzen, Massagen und schließlich die Einladung eines seltsamen älteren Mannes, mit
ihm im Pool seines Hockeyclubs zu planschen, um über Angela Merkels
Außenpolitik zu diskutieren.
6. Danksagung
Allererster Dank gilt Ute Maria Kilian für ihre Geduld und die wertvollen Tipps und Anregungen. Mein Dank gilt außerdem dem Land NordrheinWestfalen, das diesen Ausflug in die indische Urbanität möglich gemacht
hat. Vielen Altstipendiaten und besonders Steffi danke ich für ihre Ideen
302
Indien
Andreas Große Halbuer
und ihre Hilfsbereitschaft. Christoph Dittrich von der Universität Freiburg
gebührt Dank für seine wissenschaftliche Beratung, Otto für seine Großzügigkeit, Karim, Stefanie, Krishna und Chris für die ausführlichen Erklärungen. Auch die Stadtverwaltung von Bangalore sei lobend erwähnt. Wegen
der ständigen Stromausfälle hatte ich viel Zeit zum Nachdenken.
303
Anastasiya Khonyakina
aus der Ukraine
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
vom 1. September bis 30. Dezember 2007
305
Nordrhein-Westfalen
Anastasiya Khonyakina
Deutsch im Leben, Leben in Deutschland
Von Anastasiya Khonyakina
Nordrhein-Westfalen, vom 1. September bis 30. Dezember 2007
307
Nordrhein-Westfalen
Anastasiya Khonyakina
Inhalt
1. Zur Person
310
2. Die Reise nach Deutschland ist eine Reise in meine zweite Heimat. 311
3. Meine Vorstellungen über Deutschland
312
4. September: Deutsch im Leben, Leben in Deutschland
312
5. Oktober: Ich lerne die deutsche Kultur, ich bringe ukrainische
Kultur mit.
314
6. November: In Ost-Deutschland steht mein Haus. Bei der
Deutschen Welle hatte ich kein Praktikum, ich nenne das Arbeit.
315
7. Dezember: Der Monat endet mit Weihnachten.
316
8. Alles Schöne ist nicht zum letzten Mal.
317
309
Anastasiya Khonyakina
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Ich heiße Anastasiya Khonyakina, bin am 19. Juli 1984 geboren und bin
Ukrainerin. Ich bin gut ausgebildet, habe Journalistik und Jura studiert und
schon viele Erfahrungen im Journalismus gemacht. Das sind nur einige Informationen über mich; natürlich sagen sie nichts darüber, welche Person
ich bin. Davon möchte ich in diesem Bericht erzählen, und darüber, was für
mich Journalismus bedeutet.
Journalismus ist für mich kein Beruf, er ist Charakter, er ist Lebensstil.
Ich bin eine Fernsehjournalistin. Ich sehe die Welt wie einen Film, der aus
vielen Szenen besteht. Ich schneide die Szenen des Lebens zusammen, in jeder Situation suche ich immer nach einem interessanten Blickwinkel. Wenn
ich einen Film sehe, beobachte ich, wie der Kameramann gearbeitet hat, was
der Regisseur sagen möchte, wie das Licht fällt u.s.w.. Ich interessiere mich
nicht nur für das Leben des Hauptdarstellers. Alles, was ich bisher in meinem Leben erlebt habe, erscheint mir wie ein Theaterstück, die Szenen aus
dem Film meines Lebens.
Von anderen höre ich sehr oft, dass ich verrückt bin. Natürlich ist das keine medizinische Diagnose; es geht um meinen Lebensstil. Ich mag, wenn
es regnet, ich verstehe die Menschen nicht, die Regenschirme benutzen. Ich
mag es, verrückte Ideen zu verwirklichen, um das Leben toll und aktiv zu
machen. Und alle diese verrückten Ideen sind für mich eigentlich ganz normal, nur für andere Menschen sind sie manchmal absurd. Finden Sie es zum
Beispiel verrückt, des Nachts im Regen mit guten Freunden durch den Wald
zu laufen? Können Sie sich vorstellen, nur mit einem Zelt und einem Rucksack im November ins Gebirge zu gehen und in der Natur zu übernachten?
Haben Sie schon einmal im Regen auf der Straße mit jemandem getanzt?
Eigentlich ist das ganz normal, aber nur wenige Leute wollen das alles machen. Wenige Leute verstehen, dass die Zeit sehr schnell verfliegt, dass jede
Minute des Lebens ein Schatz ist. Für mich ist es wichtig, meine eigenen individuellen Pläne zu verwirklichen, anstatt nur das zu tun, was alle anderen
Menschen auch machen.
Ich habe immer sehr viel gearbeitet. Manchmal fragen die Leute: „Wie
lange arbeitest du schon als Journalistin?“. Ich antworte: „Seit fünf Jahren“. Sie wundern sich und fragen weiter: „Wie alt bist du?“. „Ich bin 23“.
Nicht alle Aspekte im Journalismus sind interessant, aber ich versuche,
aus allen Details etwas Interessantes zu machen. Wenn ich einen Film oder
einen Bericht mache, kann ich einige Ideen im Traum sehen. Dann stehe
ich sofort auf, schreibe die Idee nieder um sie nicht zu vergessen, und danach schlafe ich wieder ein. Ich arbeite ohne Zeitbegrenzungen, ich arbeite, wenn ich träume, ich arbeite, wenn ich im Bus fahre, ich arbeite, wenn
310
Nordrhein-Westfalen
Anastasiya Khonyakina
ich mit anderen spreche. Das ist keine Arbeit, das ist Lebensstil, das ist
Charakter.
Dieser Bericht ist nicht trocken und offiziell, wie man erwarten könnte.
Ich möchte davon erzählen, was ich erlebt habe. Als erwachsener Mensch
habe ich auch schon viele Schwierigkeiten erlebt, trotzdem bleibe ich voller
Leben, manchmal bin ich wie ein Kind. Keine Sorge, sage ich mir und erinnere mich an Erich Kästner, der einmal gesagt hat: „Nur wer erwachsen wird
und ein Kind bleibt, ist wirklich erwachsen“.
2. Die Reise nach Deutschland ist eine Reise in meine zweite Heimat.
Seit fast zwei Jahren lerne ich die deutsche Sprache. In dieser Zeit habe
ich oft davon geträumt, Deutschland zu besuchen. Ich konnte niemandem
erklären, warum. Meine Freunde haben mich oft gefragt: „Warum lernst du
die deutsche Sprache? Englisch ist genug für die internationale Kommunikation. Die deutsche Sprache klingt nicht angenehm.“ Ich habe geantwortet: „Weil ich diese Sprache mag. Keine Ahnung, warum“. Dann habe ich
meine Freunde mit deutscher Musik bekannt gemacht. „Ist das Deutsch?“
haben sie sich gewundert. „Die deutsche Sprache klingt angenehm“, haben
wir festgestellt.
Aber es war nicht nur eine Frage der Sprache. „Kannst du Karriere als Journalistin in Deutschland machen?“, fragten meine Freunde weiter. „Deutschland hat sehr viel Erfahrung im Journalismus. Diese Erfahrung möchte ich
auch bekommen“, antwortete ich.
All diese Fragen meiner Freunde hatte ich erwartet. Ich habe selber viel
darüber nachgedacht. Schließlich war ich noch in meiner Kindheit der Meinung, die deutsche Sprache nie lernen zu wollen, da sie mir nicht gefiel.
Heute denke ich anders: „Sag niemals nie“.
An der Universität habe ich deutsche Romane aus der Zeit der Romantik
gelesen. Ich war beeindruckt von E.T.A. Hoffmann. Später habe ich Thomas
Mann gelesen. Seither liebe ich die deutsche Literatur.
Ich habe oft versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, „Warum
Deutschland?“ Früher wusste ich es nicht, jetzt kenne ich die Antwort:
Deutschland ist meine zweite Heimat. Ich werde erklären, warum:
Es war ganz dunkel. Ich war noch ein kleines Kind, es gab kein Licht zu
Hause, mein Vater hat mir gezeigt, wie ich ein neues Lied auf der Gitarre
spielen soll. Meine Mutter saß im Sessel und hörte Musik. Dann erzählte sie
mir davon, wie sie in Deutschland gelebt hatte. Meine Mutter hat die Geschichte von meiner Familie so erzählt, als ob es ein Märchen wäre. Mein
Vater war beim Militär, sie haben in Ost-Deutschland gelebt; meine ältere
311
Anastasiya Khonyakina
Nordrhein-Westfalen
Schwester ist dort geboren. Meine Mutter erinnerte sich an viele verschiedene Dinge. Mir ist ein Satz von ihr im Gedächtnis geblieben: „Ich würde
gerne immer in Deutschland leben“. Diese Geschichte war die Antwort, warum ich Deutschland als Zuhause empfinde. Weil Deutschland meine zweite
Heimat ist. Ich war noch nicht geboren, als meine Eltern und meine Schwester in Deutschland lebten, aber das Gefühl, dass Deutschland meine zweite
Heimat ist, habe auch ich bekommen.
Ich persönlich möchte die Welt kennen lernen, möchte in verschiedene
Länder reisen, aber nirgendwohin für immer emigrieren.
Als ich die Nachricht von der Heinz-Kühn-Stiftung bekam, dass ich nach
Deutschland fliegen solle, habe ich mir ganz ruhig gesagt: „Ich fahre nicht
ins Ausland, ich fahre nach Hause“.
Während dieser vier Monate hatte ich nie Heimweh, weil ich ja zu
Hause bin.
3. Meine Vorstellungen über Deutschland
Über jedes Land gibt es natürlich viele Klischees. Deutschland ist da keine Ausnahme. Auch ich hatte ein paar Vorstellungen von Deutschland, die
ich hier jetzt nennen möchte. Aber was mit ihnen passierte, das können Sie
in den weiteren Teilen meines Berichtes lesen.
• Vorurteil Nummer eins: Die Deutschen sind sehr pünktlich.
• Vorurteil Nummer zwei: Die Deutschen sind sehr ordentlich.
• Vorurteil Nummer drei: Deutschland ist sehr sauber.
• Vorurteil Nummer vier: Die Deutschen arbeiten sehr viel.
• Vorurteil Nummer fünf: Die Deutschen leisten sich viel.
Heute, nach vier Monaten, in denen ich in Deutschland gelebt habe, kann
ich mir mein eigenes Bild machen. Und das hat meine Vorstellungen in manchen Punkten verändert.
4. September: Deutsch im Leben, Leben in Deutschland
Im Programm der Heinz-Kühn-Stiftung habe ich zuerst zwei Intensivkurse der Deutschen Sprache im Goethe-Institut absolviert. Das Goethe-Institut
liegt in Bad Godesberg. Bad Godesberg liegt am Rhein, ist ziemlich klein,
sehr gemütlich und hat eine lange Geschichte. Es war einst die Badestadt
der Kölner Erzbischöfe und Kurfürsten, sowie des höfischen Adels. Gegen
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt zum Kurort und zum
beliebten Altersruhesitz reicher Leute. Aus diesen Zeiten stammen viele re-
312
Nordrhein-Westfalen
Anastasiya Khonyakina
präsentative Bauwerke, sowie der großzügig angelegte Kurpark. Mit Beginn
der Bonner Hauptstadtära wurde Bad Godesberg durch zahlreiche Botschaften geprägt, die ihren Sitz in dem beschaulichen Städtchen nahmen. In der
Nähe von Stadthalle und Stadtpark befindet sich das Goethe-Institut. Im
September und Oktober war das Goethe-Institut mein Zuhause, in dem ich
eine Menge Zeit verbrachte.
Das Vorurteil Nummer vier: Während dieser Zeit war es immer schwierig,
sich daran zu gewöhnen, dass alle Geschäfte am Sonntag geschlossen sind.
In der Ukraine gibt es nie ein Problem, am Sonntag einkaufen zu können,
weil viele Geschäfte nicht nur am Sonntag, sondern auch in der Nacht geöffnet sind. Dann habe ich ein Vorurteil revidiert: „Die Deutschen arbeiten sehr
viel“. Fast alle Geschäfte, bzw. Restaurants, die in Deutschland am Sonntag
geöffnet sind, gehören den Ausländern.
Die Methode des Goethe-Instituts war für mich nichts Neues. In der Ukraine habe ich die deutsche Sprache auch im Goethe-Institut gelernt. Das
neue war, so viele Studenten aus verschiedenen Ländern zu treffen und
gemeinsam Deutsch zu lernen. Einige Nationen sind schnell und aktiv, andere sind langsam, einige sind sehr ruhig. Wir waren alle ganz verschieden, das war interessant, aber auch schwierig. Während dieser Zeit habe
ich meine persönliche Methode entwickelt, wie ich die deutsche Sprache
verbessern kann. Ich muss sprechen, je mehr, desto besser. Zu Hause kann
ich lesen, hier aber muss ich zuerst sprechen. Als ich die Wahl hatte mit
Deutschen zu sprechen oder die Übungen zu Hause zu machen, habe ich
natürlich gewählt Deutsch zu sprechen. Deshalb hatte ich viel Erfolg während des Unterrichts.
Wie sagt das Goethe-Institut: „Deutsch lernen – Kultur erleben“. Meine Mitstipendiatin und ich sind auch viel gereist. Im September haben wir
Köln, Trier, Mannheim, Heidelberg und München besucht, haben das Schloß
Neuschwanstein und den Drachenfels besichtigt. Manchmal sind wir mit
dem Goethe-Institut gereist, manchmal alleine. Die interessanteste Reise
war die nach München. Das war während des Oktoberfestes. Natürlich sind
wir dorthin mit dem Nahverkehr gefahren, wir mussten ca.7 Mal umsteigen.
Das Oktoberfest an sich war für uns nicht sehr interessant, weil wir zu wenig
Alkohol trinken. Es gab sehr viele Leute und wenig Platz, alle waren total
betrunken, viele sind auf der Straße eingeschlafen, man konnte nicht in die
Bierzelte gehen, um die Tradition zu erleben. Aber alles, was mit dem Oktoberfest zu tun hatte, war unvorstellbar interessant. Und das interessanteste
war der Bahnhof in der Nacht. Wir haben spät am Abend auf unseren Zug
nach Füssen (Neuschwanstein) gewartet und sehr viel erlebt.
Das Vorurteil Nummer drei: „Deutschland ist sehr sauber“. Jeder, der einmal im Leben das Oktoberfest besucht hat und nicht betrunken war, kann
313
Anastasiya Khonyakina
Nordrhein-Westfalen
das bestätigen. Hunderte Menschen schlafen im Bahnhof auf dem Boden,
daneben singen Andere irgendwelche deutschen Lieder, die Lederhosen und
Hemden der Jungen sind schmutzig und von Bier durchnässt. Die Züge waren auch ganz schmutzig.
Wenn man zum Oktoberfest fährt, muss man unbedingt den Bahnhof in
der Nacht besuchen, dort ist das richtige Oktoberfest, dort ist das Leben,
dort ist der Charakter des Oktoberfestes.
5. Oktober: Ich lerne die deutsche Kultur, ich bringe ukrainische
Kultur mit.
Im Oktober lernte ich weiter Deutsch und erlebte die deutsche Kultur.
Und ich habe ein paar gute Freunde gefunden. Sie sind Deutsche, die im
Goethe-Institut als Zivildienstleistende arbeiteten. Mit ihnen habe ich meine
Sprachkenntnisse vertieft und viel über Deutschland gelernt und ganz nebenbei noch ein Vorurteil zerstört.
Das Vorurteil Nummer zwei: „Die Deutschen sind sehr ordentlich“. Bei
diesen Jungen und anderen deutschen Jungen, die ich kennen lernte, gab es
nur Chaos.
Wenn ich ein Land kennen lernen will, bedeutet es nicht, das ich auf mein
Land verzichte. Auch wenn ich Deutschland als meine zweite Heimat empfinde, so bleibt die Ukraine dennoch meine erste Heimat.
Meine Mitstipendiatin, zwei Jungen und ich haben viel Spaß zusammen
gehabt. Wir haben viel gekocht. In der Ukraine passiert es mir sehr selten,
etwas besonderes zu kochen, weil ich dafür zu wenig Zeit habe. In Deutschland habe ich viele ukrainische Speisen gekocht.
Einmal organisierten wir einen ukrainischen Abend. Meine Mitstipendiatin und ich bereiteten Vareniki zu. Diese Speise braucht viel Zeit und Geduld. Dazu hörten wir ukrainische Volksmusik und hissten die ukrainische
Fahne. Dem Anlass entsprechend trug ich ukrainische Kleidung. Zu unseren
Freunden sagten wir: „Heute seit Ihr in der Ukraine“. Einer von ihnen hat
damit begonnen, die ukrainische Sprache zu lernen. Jetzt spricht er schon
ein bisschen ukrainisch. Ich nehme die deutsche Kultur, ich gebe die ukrainische Kultur, das ist ein Tausch.
Auch im Oktober bin ich viel gereist. Ich besuchte Nürnberg, Stuttgart,
Bremen und Hannover, und war in Frankfurt am Main auf der Buchmesse.
Während dieser und aller anderen Reisen revidierte ich noch ein Vorurteil
über Deutschland. Das Vorurteil Nummer eins: „Die Deutschen sind sehr
pünktlich“. Die Züge hatten sehr oft Verspätungen, manchmal hat das bedeutet, dass ich mitten in der Nacht 3 bis 4 Stunden später nach Hause ge-
314
Nordrhein-Westfalen
Anastasiya Khonyakina
kommen bin. Aber diese Situation muss man nicht erklären, sie ist jedem
von uns schon einmal passiert.
Am Ende dieses Kapitels möchte ich noch eine lustige Geschichte über
das Kochen erzählen. Eines Abends entschieden meine ukrainische Mitstipendiatin und ich, uns eine ukrainische Suppe zu kochen. Dazu luden wir
drei Freunde ein. Wir kauften alle Zutaten und fingen an zu kochen. Bei
dieser Suppe ist der Geschmack meistens von der Tomatenpaste abhängig.
In der Ukraine gibt es eine besondere Tomatenpaste für diese Suppe, die
wir Bortsch nennen. In Deutschland konnten wir diese Paste nicht finden.
So gaben wir schliesslich die deutsche Tomatenpaste in die Suppe. Aber
die Suppe hatte keinen Geschmack. Man kann sich die Situation vorstellen: drei hungrige Jungen warten in der Küche, aber die Suppe hat keinen
Geschmack. Keine Panik. Zunächst gaben wir verschiedene Gewürze dazu.
Doch das half nichts. Letztlich rettete uns der Ketchup. Mit dem Ketchup
hat die Suppe vorzüglich wie ein richtiger Bortsch geschmeckt. Alle waren
zufrieden und jeder aß davon zwei bis fünf Teller.
6. November: In Ost-Deutschland steht mein Haus. Bei der Deutschen
Welle hatte ich kein Praktikum, ich nenne das Arbeit.
Von 28. Oktober bis zum 1. November unternahmen wir mit Frau Ute Maria Kilian und vier weiteren Mitstipendiatinnen eine Reise nach Berlin. Wir
sahen vieles, was für unseren Beruf von Interesse ist, und zusätzlich hat es
auch Spaß gemacht.
Als Fernsehjournalistin erlebte ich die besten Momente bei der Deutschen
Welle - Fernsehen. Am Tisch zu sitzen, an dem die Nachrichtensprecherin
sitzt, die ich zu Hause in der Ukraine sehr oft gehört und gesehen habe,
war für mich etwas Besonderes. In der Deutschen Welle wurden wir von einem Mitarbeiter begrüßt, der uns vieles erklärte und uns das ganze Gebäude
zeigte. Interessant war auch der Besuch im Axel-Springer-Verlag. Dort wurden wir von einem Redakteur der Zeitung „Die Welt am Sonntag“ begrüßt.
Er machte uns bekannt mit der Struktur der verschiedenen Zeitungen des
Verlages. Anschließend besichtigten wir den Newsroom.
Unsere Gruppe besuchte auch die Alte Nationalgalerie, das Jüdische Museum, das Dokumentationszentrum Berliner Mauer, den Reichstag und die
Ausstellung zum 100. Geburtstag im Hotel Adlon. Abends probierten wir
mexikanische, brasilianische, afrikanische und ukrainische Küche.
Das offizielle Programm war am 1. November beendet. Für mich war es
nur die Hälfte der Reise. Ich bin weiter nach Frankfurt an der Oder gereist,
weil ich wusste, dass dort meine Schwester geboren ist. Für meine Schwester
315
Anastasiya Khonyakina
Nordrhein-Westfalen
fotografierte ich die Stadt. Anschließend fuhren meine ukrainische Mitstipendiatin und ich nach Fürstenwalde, wo meine Eltern gewohnt hatten. Die
Stadt ist sehr klein, einfach und ziemlich arm. Mein Vater hatte mir erzählt,
dass das Haus, in dem meine Eltern gewohnt hatten, fünf Stockwerke hat und
dass es nahe an einer Brücke liegt. Als ich das Haus schließlich fand, war ich
sehr überrascht. Das Haus steht tatsächlich noch, aber es ist total kaputt, hat
keine Fenster und keine Türen mehr, nur die Wände stehen noch. Vor dem
Haus stand ein Sessel, ganz kaputt und sehr alt. Das Foto von mir auf diesem
Sessel vor dem Haus ist das traurigste Foto, das ich in Deutschland gemacht
habe. Als meine Eltern dort wohnten, war ich noch nicht geboren. Trotzdem
ist dieses Haus – mein Haus, und dieses kaputte Leben – unsere Vergangenheit, die ich nie vergesse, aber wohin ich nie mehr fahren will.
Das Lächeln von Herrn Bernd Johann in der Ukrainische Redaktion der
Deutschen Welle in Bonn sah ich gleich am ersten Tag und verstand sofort,
hier ist es angenehm zu arbeiten. Da ich früher viel beim Radio gearbeitet
habe, gab es für mich bei der Deutschen Welle keine Überraschungen. Ich
lernte alles sehr schnell. Jeden Tag gab es etwas zu tun für mich, jeden Tag
durfte ich Sendungen zu verschiedenen Themen machen. Ich konnte selbst
an größeren Formaten mitarbeiten. Zum Beispiel bei „Deutschland heute“,
„Markt und Karriere“, „Die Kultur“ durfte ich viele Interviews auf Deutsch
machen. Keine Minute fühlte ich mich als Praktikantin, sondern viel eher
als eine Mitarbeiterin.
7. Dezember: Der Monat endet mit Weihnachten.
Die Deutschen sind sehr nett, aber jeder Ausländer kann sagen, dass es
fast unmöglich ist, Deutsche als Freunde zu finden, oder zumindest sehr
schwierig. Alle arbeiten sehr viel und es gab nur wenige Leute, mit denen
ich Deutsch sprechen konnte. Der Monat Dezember war ein Monat der angenehmen Überraschungen, denn wir durften eine vom Auswärtigen Amt organisierte Reise nach Berlin unternehmen. Das Programm war sehr anstrengend und spannend, und für meinen Beruf war es notwendig. Teile unseres
Programmes waren die Besichtigung des Presse- und Informationsamtes der
Bundesregierung, des Auswärtigen Amtes, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der
Konrad-Adenauer-Stiftung, der Bundespressekonferenz und ein Besuch des
Deutschen Bundestages.
Die angenehmste Sache, die ich im Dezember erlebt habe, war natürlich
Weihnachten. Das Vorurteil Nummer fünf: Während der Weihnachtstage
habe ich auch bemerkt, wie gerne die Deutschen sparen. Das letzte Vorurteil, dass die Deutschen sich viel leisten, war somit auch zerstört. Alle
316
Nordrhein-Westfalen
Anastasiya Khonyakina
Werbung nutzte die Wörter „sparen“ und „günstig“ als Signale. Das war für
mich lustig, aber auch klug.
Die Zeit vor Weihnachten sieht in Deutschland ganz anders aus als in der
Ukraine. Die Deutschen bereiten sich sehr früh auf Weihnachten vor. Im November war schon alles beleuchtet, der Weihnachtsmarkt begann eine Woche früher als im Vorjahr, die Menschen feierten ausgiebig den Advent. Es
kommt mir vor, als beginne in Deutschland das Weihnachtsfest schon im
November.
8. Alles Schöne ist nicht zum letzten Mal.
Insgesamt verbrachte ich eine sehr gute Zeit in Deutschland. Alles war
toll. Nun sind die vier Monate fast vorbei. Wenn ich an meine Heimat denke, erinnere ich mich an viel, viel, viel Arbeit. Andererseits bin ich glücklich, dass ich in die Ukraine zurückfliege und so viel Arbeit auf mich wartet.
Denn wenn man viel arbeitet, erreicht man auch viel. Je größer das Ziel ist,
desto mehr erreicht man.
Einmal hat unser Lehrer im Goethe-Institut gefragt: „Was ist Liebe für
Sie? Wach zu sein oder müde zu sein?“. Alle haben natürlich geantwortet:
„Wach, klar!“. Nur ich habe gesagt: „Müde“. Ich arbeite viel, deshalb bin
ich oft müde. Wenn ich müde bin, verstehe ich, dass ich sehr viel gearbeitet
habe. Dann bin ich sehr zufrieden. Weil ich sehr zufrieden bin, bekomme ich
von diesem Gefühl noch mehr Energie. Mit dieser Energie werde ich wieder
wach und glücklich.
Wenn ich nun nach Hause fliege, ist alles, was ich Deutschland sagen will:
„Du bist meine zweite Heimat, danke, dass wie einander so gut verstehen.
Bis bald“.
Dankwort:
- Deutschland;
- dem Kuratorium der Heinz-Kühn-Stiftung
- Herrn Bernd Johann
- Elin Li-Romberg
- Udo Steves
- Irina Rosowik
Ohne sie wäre mein Leben von September bis Dezember 2007 nicht so
sinnvoll und wunderbar gewesen.
317
Nadia Leihs
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt im
Hashemitischen Königreich Jordanien
vom 1. Januar bis 31. März 2008
319
Jordanien
Nadia Leihs
Die Situation der Frauen in Jordanien – Parallelgesellschaften zwischen religiöser Rückbesinnung
und wirtschaftlichem Modernisierungszwang
Von Nadia Leihs
Jordanien, vom 1. Januar bis 31. März 2008
321
Jordanien
Nadia Leihs
Inhalt
1.
Zur Person
324
2.
Das Stipendium
324
3.
Jordanien im Schnelldurchlauf
325
4.
Frauen in Jordanien
328
4.1 Alles eine Frage der Ehre?
329
4.2 Werbemittel Frauenrechte
331
4.3 Powerfrauen
334
4.4 Die neue Generation
339
4.5 Betriebsbesuch
343
4.6 Im armen Amman
345
4.7 Draußen ist alles anders? Raus aus Amman
347
323
Nadia Leihs
Jordanien
1. Zur Person
Geboren 1977 im Osten Deutschlands und 1990 in den Westteil übergesiedelt, weiß ich, was es heißt, zwischen verschiedenen Welten zu wandeln.
Als Tochter einer deutschen Mutter und eines irakischen Vaters, der vor meiner Geburt in sein Heimatland zurückgekehrt war, wusste ich jedoch nichts
über das Arabische in mir. Das wollte ich nach dem ersten Treffen mit meinem Vater im Jahr 2004 ändern. Ich begann Arabisch zu lernen, suchte Kontakt zu arabischen Gemeinschaften im Ruhrgebiet und bekam schließlich
durch die Heinz-Kühn-Stiftung die Chance, einen längeren Zeitraum in einem arabischen Land, in Jordanien zu verbringen.
Meine ersten Schritte auf der arabischen Halbinsel hatte ich in Begleitung
meines Vaters im Jemen gemacht. Doch das „Land hinter Mekka“ machte es mir nicht leicht. Als Frau, die keinen Gesichtsschleier trug, wurde ich
ständig angestarrt und beobachtet, manchmal auch beschimpft. Die Treffen
mit einigen liberalen und toleranten Menschen im ganzen Land relativierten
diese Erfahrungen, hinterließen jedoch auch eine Menge Fragezeichen.
Bei den folgenden Recherchen nach erfolgreichen Frauen und Frauenrechtsinitiativen stieß ich immer wieder auf den Libanon, Marokko, Syrien und Jordanien. Die Hauptrollen bei meiner Entscheidung für Jordanien
spielten Krieg, Pressefreiheit und arabische Dialekte.
2. Das Stipendium
Aus den offiziellen drei Monaten Aufenthalt in Jordanien, die ich mit Hilfe der Heinz-Kühn-Stiftung finanzieren konnte, wurden sieben. Schon im
September 2007 flog ich von Frankfurt am Main in die jordanische Hauptstadt Amman, um mein Arabisch vor Ort im Sprachzentrum der Jamiya alUrdunia, der University of Jordan, aufzupolieren.
Im Januar 2008 begann mein Praktikum bei der Jordan Times, der einzigen englischsprachigen Tageszeitung des Landes. Der Empfang durch Chefredakteur Samir Barhoum war freundlich, doch schon im ersten Gespräch
wurde klar, dass sein Interesse an Praktikanten nicht sehr groß war. Ich brauche nur alle zwei, drei Tage zu erscheinen, Arbeit gäbe es für mich sowieso
nicht. Warum er denn dann überhaupt Praktikanten akzeptiere, fragte ich erstaunt. Weil er so viele Anfragen erhalte, war seine unbeschwerte Antwort.
Dennoch kam ich einige Tage später am späten Nachmittag in das Großraumbüro im zweiten Stock der Jordan Press Foundation, die auch die sehr
viel bekanntere arabischsprachige Tageszeitung al-Rai (Die Meinung) herausgibt. Etwa zehn festangestellte Journalisten arbeiten für die Jordan Times
324
Jordanien
Nadia Leihs
in Amman, zusätzlich liefern freie Journalisten Texte aus der Hauptstadt und
anderen Regionen des Landes. So werden zwei bis drei Lokalseiten sowie
eine lokale Wirtschaftsseite gefüllt, Nachrichten aus dem Ausland kommen
ebenso wie Kommentare oder Kulturthemen in der Regel von den internationalen Nachrichtenagenturen. Die Spannbreite der Nationalitäten der freien
und festen Mitarbeiter reicht von syrisch-kanadisch oder US-amerikanisch
über indisch und spanisch zu russisch, Arbeitssprache ist Englisch mit arabischen Brocken.
Was mir zuerst auffiel, war das Fehlen einer regulären Redaktionskonferenz. Themen wurden in der Regel nur zwischen Chefredakteur und Reporter abgesprochen, vor 16 Uhr war das Büro meist wie ausgestorben. Davor
waren die Kollegen in der Stadt unterwegs – mancher der Festangestellten
auch im Auftrag anderer Arbeitgeber – und klapperten Ministerien, Gerichte, Pressekonferenzen und andere Informationsquellen ab. Danach wurde
häufig bis Mitternacht geschrieben und editiert, und nicht nur einmal fragte
ich mich, wie die Zeitung überhaupt täglich fertig gestellt werden konnte,
wenn selbst die Produzenten der internationalen Seiten ihre Arbeit selten vor
dem späten Nachmittag begannen.
Ich hatte schon während des Sprachkurses erste Kontakte geknüpft und
Interviews geführt, in den sechs Wochen nach dem Praktikum verging fast
kein Tag ohne ein neues Treffen in der Hauptstadt und in Städten und Dörfern im gesamten Land. Als sehr hilfsbereit erwiesen sich dabei die Stiftungen der politischen Parteien Deutschlands, die Gesellschaft für Technische
Zusammenarbeit (GTZ) sowie die zahlreichen jordanischen Frauenorganisationen, denen ich nochmals für die Unterstützung und Vermittlung zahlreicher Kontakte danken möchte. Großer Dank gilt vor allem den Frauen,
die mir Einblicke in ihr Leben gaben, die alle – wenn auch manche nicht namentlich – in diesen Bericht eingegangen sind.
3. Jordanien im Schnelldurchlauf
Das Hashemitische Königreich Jordanien ist ein Kunstprodukt, nach dem
Zerfall des Osmanischen Reichs zunächst Teil des britischen Kolonialreichs
und seit 1946 unabhängig. Zwischen seinen Nachbarn Israel, Syrien, Irak
und Saudi-Arabien liegt es in einem der politisch unruhigsten Landstriche
der Gegenwart. Durch die starke Bindung des Königshauses an die USA
und seine um Ausgleich bemühte Israelpolitik galt das Land lange Zeit als
Außenseiter in der arabischen Welt. Seine innenpolitische Stabilität wurde
vor allem durch den massenhaften Zuzug palästinensischer Flüchtlinge seit
den 1950er Jahren und die Etablierung anti-israelischer Kräfte gefährdet.
325
Nadia Leihs
Jordanien
Die Zerschlagung der palästinensischen Befreiungsfront (PLO) 1970 sowie
die schrittweise Anerkennung der im Land lebenden Palästinenser, die heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, stabilisierten die innenpolitische Lage. 1994 unterschrieb König Hussein den Friedensvertrag mit
Israel, die vorsichtige Annäherung an Syrien wird bis heute von der jordanischen Israelpolitik und Wasserstreitigkeiten überschattet.
Bereits der 1999 verstorbene König Hussein bemühte sich um die Liberalisierung und Demokratisierung der konstitutionellen Monarchie, schränkte
gewährte politische Freiheiten jedoch angesichts des welt- und regionalpolitischen Drucks immer wieder ein. So löste er 1974 das Parlament auf, um
den Einfluss der palästinensischen Flüchtlinge zurückzudrängen.
Auch sein Sohn Abdallah II, ausgebildet in den USA und Großbritannien,
verheiratet mit der studierten Betriebswirtschaftlerin Rania und Vater von
fünf Kindern, gibt sich ausgesprochen progressiv. Die gesamte königliche
Familie unterstützt öffentlichkeitswirksam Projekte für Frauen und sozial
Benachteiligte; Rania erhielt für ihr Engagement 2007 einen Bambi. Doch
der große Durchbruch ist bisher ausgeblieben, der Einfluss der traditionell
geprägten Stammesvertreter in Militär, Administration und staatlicher Wirtschaft kaum zurückgedrängt worden. Vor allem der palästinensischstämmige
Teil der Bevölkerung beklagt das System der Wasta, das zu einer Verteilung
von Studien- und Arbeitsplätzen führt, die weniger auf Qualifikation, sondern vielmehr auf persönlichen Beziehungen beruht, und unter anderem auch
die Verfolgung von Straftätern aus einflussreichen Familien behindert.
Politische Parteien existieren kaum, abgesehen von der den Muslimbrüdern zugehörigen Islamischen Aktionsfront. Politiker stützen sich bei
Wahlen auf ihren Familiennamen und die Stimmen des eigenen Stammes.
Politische Forderungen werden in der Regel durch Berufsverbände und
Nichtregierungsorganisationen erhoben, Entscheidungen der politischen
Elite durch die weitreichenden Befugnisse des Königs beschränkt. Entsprechend gering ist die Wahlbeteiligung bei Kommunal- und Parlamentswahlen, verstärkt wird die Ablehnung der politischen Vertreter durch Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen. So warfen die Islamisten der Regierung vor,
bei den Kommunalwahlen 2007 ganze Busse mit Armeeangehörigen von einem Wahlbüro zum nächsten gekarrt zu haben. Bei der Parlamentswahl im
Herbst 2007 wurden mehrfach Vorwürfe gegen einzelne Kandidaten wegen
Stimmenkauf laut. Vorwürfe, dass der Zuschnitt der Wahlkreise königstreue
Kandidaten bevorzuge und die vor allem in den Städten wohnenden Palästinenser benachteilige, werden seit Jahren wiederholt. Eine Reform wurde
mehrfach in Aussicht gestellt, aber nie durchgeführt.
38 Prozent der knapp sechs Millionen Jordanier leben in der Hauptstadt
Amman. Über die Hälfte der Bevölkerung hat palästinensische Wurzeln. Vie-
326
Jordanien
Nadia Leihs
le der in Jordanien geborenen Flüchtlingskinder haben mittlerweile die jordanische Staatsbürgerschaft, die jüngere Generation definiert sich vermehrt
als palästinensische Jordanier. Schätzungen der Zahl irakischer Flüchtlinge
schwanken zwischen 300.000 und einer Million Menschen.
Das kleine Königreich ist vor allem seit der Ausweisung der zahlreichen
jordanischen Gastarbeiter aus den Golfstaaten Anfang der 1990er Jahre wegen der proirakischen Haltung der Regierung auf finanzielle Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Ausländische Direktinvestitionen fließen mehrheitlich in steuerbefreite Spezialwirtschaftszonen und reichen daher
für den Abbau der Schuldenberge nicht aus. Die Auslandsverschuldung steigt
kontinuierlich und lag 2007 bei geschätzten 8,7 Milliarden US-Dollar.
Die Haupteinkommensquellen Jordaniens sind die verarbeitende
Industrie mit einem Schwerpunkt auf der Herstellung von Kleidung für
den Export sowie die Finanz-, Versicherungs- und Immobilienwirtschaft.
Die Landwirtschaft gilt als größter Verbraucher der äußerst knappen Ressource Wasser; die Produktion von Gemüse und Obst wie Tomaten, Auberginen oder Bananen hat jedoch nur einen Anteil von 2,4 Prozent am Bruttosozialprodukt. Der Krieg im Irak unterbrach die Verbindung zu einem
der wichtigsten Handelspartner in der Region und ist ein Grund massiv
steigender Preise, unter anderem auch, weil die Lieferung verbilligten Öls
wegfiel. Eigene Ölvorkommen hat Jordanien nicht. Der Zuzug irakischer
Flüchtlinge ließ vor allem die Immobilienpreise in die Höhe schnellen. Anfang 2008 strich die Regierung Subventionen für Benzin und Gas. Zudem
leidet auch die jordanische Bevölkerung unter den international steigenden
Lebensmittelpreisen.
Nach inoffiziellen Zahlen liegt die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent, die
Regierung vermeldet dagegen ein stetiges Sinken der Zahlen auf knapp 13
Prozent in 2007. 66 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der Privatwirtschaft, rund 27 Prozent sind bei Polizei und zivilen Verteidigungseinrichtungen beschäftigt. 80 Prozent aller Erwerbstätigen sind männlich.
Dank großer Bemühungen um das Bildungssystem sank die Analphabetenrate deutlich, geschätzte fünf Prozent der jordanischen Männer können
nicht lesen und schreiben, bei den Frauen sollen es 15 Prozent sein. Bei den
unter 30jährigen tendiert die Rate gegen Null, allerdings differieren die Zahlen nach Einkommen und weisen ein Stadt-Land-Gefälle auf. Bis auf wenige teure Privatschulen werden die Schüler geschlechtsgetrennt unterrichtet.
Die Mehrheit verlässt nach zwölf Jahren die Schule mit einem dem Abitur
vergleichbaren Abschluss, unter den Studienanfängern der knapp 20 privaten und öffentlichen Universitäten gibt es einen leichten Frauenüberschuss.
In den weiterführenden Studiengängen nach Abschluss des Bachelor überwiegen die männlichen Studierenden.
327
Nadia Leihs
Jordanien
4. Frauen in Jordanien
Kleider machen Leute und so steht Kleidung weniger für die bloße Bedeckung eines Körpers als vielmehr für die Präsentation einer Lebenseinstellung. Meine Beobachtungen des Frauenlebens in Jordanien begannen für
mich ganz automatisch mit der Mode im Alltag. Vom ersten Spaziergang
über das Gelände der größten jordanischen Universität, der Jamiya al-Urdunia in Amman, bis zum letzten Tag in Jordanien erstaunte mich die Komplexität des Themas Frauenkleidung in Jordanien. Die überwiegende Mehrheit der Mädchen und Frauen an der Universität und auf den Straßen trägt
Kopftücher (Hijab) in einer überwältigenden Farben- und Formenvielfalt,
häufig perfekt abgestimmt auf Garderobe und Makeup. Auf Bänken entlang
der Wege quer über den Campus sitzen neben den gestylten Hijab-Mädchen andere, die Körper und Gesicht komplett mit grauen oder schwarzen
Tüchern verhüllen, die Augen nicht selten mit schwarzem Kajal umrandet.
Und schon auf der nächsten Bank scherzt eine Kopftuchträgerin ganz in
Rosa und Glitter mit einer Freundin, die ihre langen Haare sorgfältig frisiert
und offen über dem kurzärmeligen T-Shirt trägt.
Trotz dieses kommunikativen Nebeneinanders war ich irritiert, denn ich
hatte von einem Land, das sich mir bei den Vorrecherchen als liberal und
frauenfreundlich präsentiert hatte, eine deutlich geringere Dichte bedeckter
Köpfe erwartet. Fotos aus den sechziger und siebziger Jahren zeigen Frauen
in Mini-Röcken auf den Straßen Ammans; ein Kleidungsstück, das ich nur
in noblen Einkaufszentren oder in von überwiegend westlichen Besuchern
geprägten Kneipen und Restaurants finden konnte. Stattdessen beobachtete
und erlebte ich wiederholt, dass Frauen ohne Kopftuch – egal wie zurückhaltend ihre restliche Kleidung war – von Männern auf den Straßen angestarrt und verbal belästigt wurden.
„Manche Mädchen tragen das Kopftuch nur, damit die Jungs sie in Ruhe
lassen“, gestand mir meine Arabisch-Sprachpartnerin Isra’1* Ali, nachdem
ich eines Tages frustriert Dampf abgelassen hatte, „aber auch das klappt
nicht immer.“ Sie selbst trage das Kopftuch freiwillig und lediglich aus religiösen Gründen, versicherte mir die ernsthafte junge Frau wiederholt. Einige Wochen später erlebte ich dann bei einem Besuch in ihrem Elternhaus,
wie ihre jüngere Schwester vom Vater aufgefordert wurde, die kinnlangen,
dunklen Locken künftig außerhalb des Hauses unter dem Tuch zu verstecken. Sie kam diesem Verlangen mit deutlichem Missmut nach.
1
* Das ’ verwende ich als Transkriptionszeichen für den arabischen Buchstaben ain. Bei der Transkription der Namen
folge ich der eigenen Schreibweise der Interviewten, die stark durch die Kenntnis von Englisch als erster Fremdsprache
beeinflusst ist.
328
Jordanien
Nadia Leihs
Frauen in der Öffentlichkeit sind kein seltenes Bild. In den Städten trifft
man sie zumindest bei Tageslicht überall: In der Universität und in den Gängen von Ministerien und Gerichten, als Verkehr regelnde Polizistinnen und
am Steuer von Autos, an den Kassen der Malls und Apotheken. Ein selteneres Bild sind arbeitende Frauen in Gemüseläden, Bäckereien oder anderen
kleinen Geschäften; selbst in Änderungsschneidereien oder Unterwäschegeschäften arbeitet meist männliches Personal. In Restaurants und Kneipen bedienen in der Regel Männer, mit Ausnahme der Gastarbeiterinnen aus Asien
oder Osteuropa. Selbst die Reinigungskräfte in den meisten öffentlichen Gebäuden sind männlich. Nach Einbruch der Dunkelheit sind Frauen auf den
meisten Straßen der Millionenstadt Amman eine Ausnahmeerscheinung.
Außerhalb Ammans sind Frauen im Straßenbild zwar ebenfalls sichtbar,
doch je kleiner der Ort, desto geringer ihre Zahl. Beim Besuch eines Beduinencamps im Wadi Rum wurden wir von Vater und Mutter begrüßt, die jugendlichen Töchter bekamen nur die weiblichen Gäste zu Gesicht – in einem
mit Leinwänden abgetrennten Teil des Zeltes, während die männlichen Gäste
Tee trinkend warteten. Selbst für ältere Frauen ist die Bewegungsfreiheit in
ländlichen Gebieten zuweilen eingeschränkt; zu einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung für die frisch gewählten Vertreterinnen der Kommunalparlamente konnten manche lediglich in Begleitung eines männlichen Angehörigen erscheinen, auch wenn es sich dabei manchmal nur um den jüngsten
Spross der Familie, einen fünf- oder sechsjährigen Jungen handelte.
Dabei gibt es auch auf dem Land eigenverantwortlich lebende Frauen, die
allerdings von ihrer Umwelt als außergewöhnlich betrachtet werden. Das
eindrücklichste Beispiel erlebe ich beim Besuch einer Wasserinitiative in
der Oase Azraq, im Südosten des Landes gelegen. Im Lastwagen kommt
Ma’i vorgefahren, in Tarnhose und Sweatshirt, die langen Haare nachlässig mit einer Spange zusammengezwirbelt. Sie begrüßt die Männer, die zur
Mitgliederversammlung im Haus des Vorsitzenden zusammengekommen
sind, mit Handschlag. Dass der Alte im Kittel ihr aus religiöser Überzeugung die Hand verweigern wird, weiß sie und nickt ihm grüßend zu. Als sie
vor 15 Jahren nach dem Tod ihres Mannes die Farm allein weiterführte, wurde im Dorf viel getuschelt. Eine Frau allein mit ihren Kindern und 15 ägyptischen Gastarbeitern? Das hatte es noch nicht gegeben.
4.1 Alles eine Frage der Ehre?
Morde im Namen der Ehre sind das sichtbarste und am meisten schockierende Zeichen des traditionellen „Konzepts der Scham“. Eine gute Frau
bleibt nach den alten Vorstellungen im Haus, gehorcht dem männlichen Fa-
329
Nadia Leihs
Jordanien
milienvorstand widerspruchslos und stellt ihre Kräfte in den Dienst der Familie. Verlässt sie das Haus ohne Erlaubnis oder wird gar gesehen, wie sie
mit fremden Männern spricht, dann droht sie die Ehre der Familie zu beschmutzen und gerät in Lebensgefahr. Jährlich sterben in Jordanien zwischen 16 und 25 Mädchen und Frauen im Namen der Ehre, getötet von Bruder, Vater, Ehemann oder anderen Verwandten, weil sie mit ihrem Verhalten
den Ruf der Familie gefährdet haben sollen. Tatsächlich stecken hinter diesen Tötungen oft Erbschaftsstreitigkeiten, in der Regel stehen sie am Ende
einer Kette von massiven Misshandlungen.
Als die Gerichtsreporterin der Jordan Times, Rana Husseini, 1993 vom
Studium aus den USA zurückkehrte und ihre Arbeit begann, waren Ehrenmorde kein Thema im Königreich. „Niemand hat darüber gesprochen oder
geschrieben, es war ein gesellschaftliches Tabu.“ Das ist es trotz zahlreicher Aufklärungskampagnen auch heute noch in manchen Teilen der Gesellschaft, denn das Eingestehen eines Ehrenmords innerhalb der Familie oder
Dorfgemeinschaft bedeutet zugleich die Einsicht, dass Frauen und Männer
gegen die gesellschaftlich-religiösen Regeln verstoßen, sich im traditionellen Verständnis beschämend und unmoralisch verhalten haben. Bis heute
existiert der Paragraph 340, der einen solchen Mord als minderes Vergehen wertet, weil das Opfer unrecht und gefährlich gehandelt und damit seinen Tod selbst provoziert hat. Seine von Frauenrechtlerinnen und Königshaus geforderte Abschaffung scheiterte im Parlament. „Die Fallzahlen sind
zwar nicht gesunken, aber das gesellschaftliche Bewusstsein hat sich verändert“, urteilt Rana Husseini. So erlebt die Journalistin immer häufiger, dass
die Gerichte sich auf die Seite von Vergewaltigungsopfern stellen und die
Schuld nicht mehr unreflektiert den misshandelten Frauen zuschreiben.
Ein scheinbar neues Phänomen sind Kindstötungen, allein zwischen August 2007 und Januar 2008 wurden sechs Neugeborene tot aufgefunden. Polizeiliche Ermittlungen ergaben, dass alle Kinder aus illegalen Beziehungen
stammten. Die jordanische Öffentlichkeit reagierte aufgeregt und empört
auf die Morde. Das Aussetzen und Töten von Neugeborenen, um die Schande nicht offensichtlich werden zu lassen, ist jedoch kein neuer Trend. Die
betroffenen Frauen und Mädchen wurden in der Vergangenheit allerdings
sehr viel häufiger bereits vor der Geburt ermordet.
Trotz sozialer Kontrolle und der mit außerehelichen Sexualkontakten verbundenen Todesgefahr gibt es auch in Jordanien Prostitution, und im Gegensatz zur Überzeugung vieler Jordanier verkaufen nicht nur Ausländerinnen,
zumeist Asiatinnen oder Osteuropäerinnen, ihre Körper in Clubs oder auf
dem Straßenstrich. Ahmed Khatib, Kameramann und Journalist, hat in der
Hauptstadt Amman und der nahen Industriestadt Zarqa recherchiert. Eine
seiner Gesprächspartnerinnen sei erst 16 Jahre alt gewesen und von ihrer
330
Jordanien
Nadia Leihs
Mutter in das Geschäft eingeführt worden. Die Mehrzahl der Frauen war jedoch bereits über 40 Jahre alt, geschieden und von Freundinnen zur Prostitution gebracht worden. „Die suchen die Frauen meist aus, schauen, welche
Frau braucht das Geld und sieht gut aus.“ Eine Frau war von ihrem Ehemann
an andere Männer verkauft worden und arbeitete nach der Scheidung selbstständig weiter.
Der Straßenstrich in Amman ist kaum existent oder erkennbar. Die Prostituierten kleiden sich meist von Kopf bis Fuß in schwarze lange Kleider
und Kopftücher. Feste Standplätze gibt es nicht, den Kontakt zu ihnen stellen in der Regel Freunde oder Bekannte her. Dennoch werden häufig normale Mädchen von suchenden Freiern angesprochen, wenn sie am späten
Abend allein und in einer verdächtigen Ecke der Hauptstadt unterwegs sind.
Hat ein Kunde einmal das Vertrauen einer der Frauen erworben, reicht sie oft
die Telefonnummern von anderen, ihr bekannten Prostituierten weiter. Eine
Zuhälterszene wie in anderen Ländern gibt es nicht, glaubt Ahmed Khatib, schränkt allerdings ein: „Die Frauen brauchen einen Beschützer, der sie
zum Beispiel aus dem Gefängnis holt oder durch seine Anwesenheit vor den
Kunden schützt. Aber manche Frauen arbeiten auch ganz allein.“ Im nahen
Zarqa arbeitet eine Fraueninitiative mit den sich prostituierenden Frauen,
überredet sie zu AIDS-Tests, klärt sie über Sexualkrankheiten auf und versucht, sie von ihrer Tätigkeit abzubringen. Doch viele der Frauen benötigten
das Geld, auch wenn sie die Quelle ihres Verdienstes sorgfältig vor ihrer Familie verheimlichen müssen. Dabei schwanken die Verdienste von kleinen
Geschenken wie Guthabenkarten für Mobiltelefone bis zu 200 Dinaren pro
Tag, was ein kleines Vermögen in Jordanien ist. Drogensucht ist im jordanischen Rotlichtmilieu bisher selten.
4.2 Werbemittel Frauenrechte
Die offizielle politische Linie ist mehr als deutlich auf die Stärkung der jordanischen Frauen ausgerichtet. Königin Rania und Prinzessin Basma unterstützen zahlreiche Projekte und Organisationen nicht nur finanziell und treten
selbst modern und selbstbewusst auf. Das Informationszentrum der Regierung gibt Broschüren heraus, die hart mit der bisherigen gesellschaftlichen
Einstellung ins Gericht gehen. Der dort arbeitende Journalist Yasin al-Quaisi
versteht sich auf Schlagworte, die auch einem europäischen Feministen gut zu
Gesicht stünden. Der 37-Jährige ist gerade Vater geworden und erzählt gern,
wie er seine Schwester mit zu Vorträgen oder anderen Veranstaltungen genommen hat und die Entwicklung ihres Selbstbewusstseins gefördert habe.
Frauenförderung sei wirtschaftlich und politisch notwendig und dieser Ge-
331
Nadia Leihs
Jordanien
danke müsse alle Gesellschaftsschichten durchdringen, denn „sonst lassen
wir Teile der Gesellschaft zurück, und diese Lücken lassen sich in der Zukunft nicht mehr schließen.“ Dabei müsse sich Jordanien auf die Vermittlung
der Gleichberechtigung bereits im Schulsystem, die Akzeptanz von Frauen
in Führungspositionen sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf konzentrieren, „aber wir müssen langsam vorgehen, sonst erleben wir aggressive
Reaktionen.“ Eine Kampagne, die Männer dazu aufruft, ihren berufstätigen
Frauen mehr im Haushalt zu helfen, „würde sicher Probleme verursachen.“
Die Recherche führte mich zunächst zu den großen Frauenorganisationen
des Landes und an das Institut für Frauenstudien der Universität in Amman.
Die Antworten meiner Gesprächspartnerinnen waren höchst widersprüchlich. Die einen lobten politischen und gesellschaftlichen Fortschritt, die anderen winkten ab und hatten die Hoffnung, einen positiven sozialen Wandel
mitzuerleben, scheinbar bereits abgeschrieben.
Eine der am längsten für die jordanische Frauenbewegung aktiven Frauen
ist Asma Khader, studierte Anwältin, Frauenrechtsaktivistin, ehemalige Ministerin und heute Vorsitzende der Jordan National Commission of Women.
Für die Rechte der Frau interessierte sie sich schon früh. Den Ausschlag gab
der Schock, als die elfjährige Asma erfuhr, dass ihr Vater nach der Geburt
seines ersten Sohnes von den Leuten nicht mehr als Vater seiner Erstgeborenen, Abu Asma, definiert, sondern nun mit dem Namen seines Sohnes,
Abu Samir, gerufen wurde. Das Mädchen reagierte trotzig, half nicht mehr
im Haushalt, begann Hosen zu tragen und spielte nur noch mit Jungen. „Ich
wollte ein Mann werden, weil ich glaubte, dass Frauen nichts wert seien.“
Fragt man die 55-Jährige nach den Rechten der Frau in Jordanien, beginnt
sie die Erfolge der jordanischen Bewegung aufzuzählen. Das Wahlrecht seit
1984, gut ausgebildete Frauen in allen Wirtschaftsbereichen, Richterinnen,
Ärztinnen, Ministerinnen, Senatorinnen, Parlamentarierinnen. „Niemand
stellt mehr die Fähigkeiten der Frauen in der Politik in Frage.“ Kritisch wird
sie erst auf Nachfrage und zählt die allseits diskutierten rechtlichen Diskriminierungen jordanischer Frauen auf, zu denen unter anderem Benachteiligungen bei der Frage nach der Nationalität von Kindern und Ehemann
oder das bis heute nicht vom Parlament verabschiedete Gesetz gegen häusliche Gewalt zählen. „Wir haben immer noch eine starke Opposition gegen
die Frauenerwerbsarbeit. Die Leute nehmen das Geld und die Energien der
Frauen, aber Rechte wollen sie ihnen nicht zugestehen.“ Ihre Hoffnung richtet sich auf die nächste Generation, die Mädchen, die zurzeit an den Schulen
und Universitäten lernen, denn „die sind selbstbewusster und gebildeter und
haben größere Träume als wir.“
Auch Rula Quawas, Leiterin des Zentrums für Frauenstudien an der University of Jordan, tut sich schwer mit öffentlicher Kritik und betont lieber
332
Jordanien
Nadia Leihs
die Fortschritte der jordanischen Frauenrechtsbewegung. Die Christin ist
überzeugt, „im Vergleich zur Situation vor 20 Jahren können Frauen heute sehr viel mehr gesellschaftliche Sphären erreichen. Das Vertrauen in ihre
Fähigkeiten ist gestiegen.“ Wie Khader verweist sie darauf, dass ein Wandel seine Zeit brauche und der richtige Weg eingeschlagen sei, „auch wenn
für meine Studentinnen eine Heirat oberste Priorität hat.“ Ihre Hauptkritik
richtet sich an die Nichtregierungsorganisationen, die mit Einzelprojekten
oft nach dem Gießkannenprinzip versuchen, Frauen zu stärken und zu fördern. „Die NGOs arbeiten leider sehr unkoordiniert und konzentrieren sich
zu sehr auf Amman. So ist nicht nur die wissenschaftliche Dokumentation
schwierig, auch die Frauen auf dem Land werden vernachlässigt.“ Dass die
Zahl der Frauen, die Kopftuch tragen, in den vergangenen Jahren immer
weiter stieg, beirrt sie nicht: „Für viele Mädchen ist das Kopftuch das Ticket
zur Bildung, weil ihre Eltern sie ohne Tuch nicht studieren lassen würden.
Manche tragen es auch, weil viele Männer nur eine Frau mit Hijab heiraten
wollen. Aber ich glaube, es ist wichtiger, eine gute Ausbildung zu erhalten
als sich gegen ein Stück Stoff zu wehren.“
Die Deutsche Marta Sara überläuft bei solchen Bemerkungen eine Gänsehaut, „die große Zahl der Frauen, die heute im Vergleich zu den 1980er
Jahren ein Kopftuch trägt, ist mir unheimlich.“ Die Rentnerin leitete jahrelang die Frauenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung bis sie feststellte,
dass die Frauen nichts mit den neuen Überzeugungen anfangen können, wenn
ihre Männer Widerstand leisten, und das gesamte Programm auf Jugendliche
beiderlei Geschlechts umstellte. Sie ist mit einem Jordanier verheiratet, hat
ihre drei Kinder in Jordanien großgezogen und beobachtet das Geschehen
im Land kritisch. Viele Frauen trügen das Kopftuch weniger aus Überzeugung, sondern weil sie sich anders nicht frei bewegen könnten. Der Wertewandel hin zu einer stärkeren Religiosität sei dem politischen Weltgeschehen
geschuldet, die Menschen versuchten sich so gegen westliche Einflüsse abzugrenzen und ihre kulturelle Identität zu verteidigen. Dafür hat sie durchaus
Verständnis, doch „meiner Meinung nach nehmen dadurch Doppelmoral und
Heimlichkeiten zu und die individuelle Entscheidungsfreiheit ab.“
„Der Westen unterstützt mit seinem Kampf gegen den Terror die Einschränkung der Menschenrechte in der arabischen Welt“, sagt Leila Hamame, langjährige Aktivistin und Vorsitzende der Arab Women Organisation
in Jordanien. Die AWO unterstützt und koordiniert Frauenprojekte in ganz
Jordanien, klärt mit monatlichen Infoschriften über Gesundheitsfragen oder
rechtliche Entwicklungen auf und versucht, Einfluss auf entstehende Gesetze zu nehmen. Leila Hamame ist gläubige Muslima, auch wenn sie kein
Kopftuch trägt. Doch die um sich greifende Religiosität gefällt ihr nicht,
weder dass die Moscheen mittlerweile nicht mehr nur den Ruf zum Gebet,
333
Nadia Leihs
Jordanien
sondern das gesamte Gebet per Lautsprecher über die Straße schallen lassen, noch die zunehmende Verhüllung der Frauen. „Die steigende Zahl der
Kopftuchträgerinnen ist ein schlechtes Zeichen, weil das Kopftuch für einen
geschlossenen Geist steht.“ Sie sieht die Errungenschaften der jordanischen
Frauenbewegung in Gefahr, zahlreiche Projekte stünden vor dem Aus, weil
die finanzielle Unterstützung gestrichen werde.
Auch Afaf Jabiri von der Frauenorganisation Karama stößt ins gleiche
Horn. Den internationalen Ruf Jordaniens als liberales Land hält die 35-Jährige für Propaganda, verbreitet von westlichen Geldgebern und Verbündeten, die so ihre Unterstützung des Königreichs rechtfertigen. Die dreifache
Mutter engagiert sich seit Jahren gegen Gewalt an Frauen. Die steigenden
Fallzahlen wertet sie als Ergebnis der zahlreichen Kampagnen, die das Thema enttabuisiert habe. Doch die allgemeine Einstellung habe sich nicht geändert, „eine gute Frau gehorcht und klagt nicht über Schläge. Denn dass sie
geschlagen wird, bedeutet, dass sie eine schlechte Frau ist. Außerdem reden
ihr alle ein, dass sie nicht allein überleben kann, wenn sie ihren Ehemann
anzeigt und er deswegen ins Gefängnis kommt, ihre Freunde, ihre Verwandten, die Nachbarn und auch Polizei oder Gerichte.“ Die Fortschritte auf dem
Arbeitsmarkt, die zunehmende Akzeptanz der Erwerbstätigkeit von Frauen
führt auch Afaf vor allem auf den wirtschaftlichen Druck zurück, die politische Repräsentanz von Frauen im Parlament sei nicht einem Mentalitätswandel geschuldet, sondern dem Druck der Geberländer.
4.3 Powerfrauen
Es gibt sie! Jordanische Frauen, die seit Jahren ihren Beruf erfolgreich
ausüben und trotzdem das traditionelle Rollenbild von Ehefrau und Mutter
erfüllen. Frauen, die hochkarätige Posten besetzen, abseits des allgemein für
Frauen akzeptierten Berufs Lehrerin, und sich ein Leben als Hausfrau und
Mutter nicht vorstellen können.
Seit fünf Jahren führt Mayssa Batayneh ihr Architekturbüro, das sie zunächst gemeinsam mit ihrem Bruder gegründet hatte. Als dieser sich auf den
Bereich Medien konzentrieren wollte, machte sie sich selbstständig. Die 47jährige Architektin ist keine Unbekannte in Jordanien, als Diplomatentochter lernte sie früh, sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen, heute ist sie mit dem Bürgermeister Ammans verheiratet und leitendes Mitglied
zahlreicher Wirtschafts- und Frauenorganisationen. Geschlechtsspezifische
Diskriminierung habe sie selbst nie erlebt, sei von den männlichen Architektenkollegen immer akzeptiert worden – auch wenn sie oft die einzige Frau
in der Runde war. „Ich habe mir meine eigene Realität geschaffen, mit har-
334
Jordanien
Nadia Leihs
ter Arbeit und einem starken Selbstbewusstsein“ und mit der Unterstützung
ihrer Familie. Von ihren 50 Angestellten habe nur ein Mann offensichtliche
Probleme mit einer weiblichen Vorgesetzten gehabt, erzählt sie im elegant
eingerichteten Konferenzraum im siebten Stock eines der neuen Bürohochhäuser, die überall in Amman in den vergangenen Jahren entstanden sind.
„Ich habe darauf gar nicht reagiert, ihn ganz normal behandelt und irgendwann kam er zu mir und hat sich dafür entschuldigt, dass er mich anfangs
nicht respektiert hat. Heute ist er einer meiner zuverlässigsten Mitarbeiter.“
Viele junge Mädchen und Frauen würden ihre Rechte am Arbeitsmarkt nicht
einfordern, weil sie Angst hätten zu versagen, urteilt Mayssa kühl. Es sei
Aufgabe der Mütter, den Teufelskreis geschlechtsspezifischer Erziehung zu
durchbrechen. „Nur starke Männer können gleichberechtigte Frauen akzeptieren.“ Ihr Ziel sei keineswegs die „verwestlichte Frau ohne Familie, die
einsam ist und nur für ihren Job lebt“, aber Frauen, die nur Hausfrauen sind,
„müssen ein Tabu werden.“ Sie ist sicher, dass die gut ausgebildete Generation der jungen Frauen sich nicht mehr mit den traditionellen Rollen abfinden wird. Doch die Bedürfnisse der arbeitswilligen Frauen dürften den gesellschaftlichen Ansprüchen nicht zuwiderlaufen, betont sie. „Wir müssen
die Arbeit nach Hause bringen. Dann muss die Frau für ihre Arbeit das Haus
nicht verlassen und ihre Familie nicht vernachlässigen.“
Die primäre Aufgabe einer Frau in der jordanischen Gesellschaft ist die
Familie. An dieser Einstellung hat sich in den Köpfen nicht viel geändert,
auch wenn im Öffentlichen Dienst Frauen in Führungspositionen mittlerweile keine Ausnahme mehr sind. Unverheiratet und kinderlos zu sein, gilt
als Unglück. Eine Heirat ist wichtiger als eine Karriere, eine Karriere nur
möglich mit Erlaubnis und Unterstützung des Ehemanns.
Die University of Jordan ist die größte und älteste Uni des Landes, mitten
in Amman. Im Osten des weitläufigen Campus liegt die Fakultät für Krankenpflege, die Studierenden hier sind wie das Lehrpersonal überwiegend
weiblich. Fatieh Abu Moghli leitet das Institut für klinische Pflege, die 52Jährige kommt aus einer Akademikerfamilie. Ein reines Hausfrauendasein
kam für sie nie in Frage, doch wer die Verantwortung für die Kindererziehung hatte, stand ebenfalls nie zur Debatte. „Selbst wenn der Ehemann der
beste Mann der Welt ist, kann er den Kindern nicht die Liebe geben, die
seine Ehefrau ihnen gibt.“ Die beiden Söhne müssen wie die Tochter im
Haushalt helfen, sagt sie, dennoch macht Fatieh Unterschiede zwischen ihren Kindern. Kommt die 22-jährige Tochter später als zehn Uhr abends nach
Hause, dann hängt der Haussegen schief. „Ein Mann hat Muskeln, er ist
stärker als du, er kann alles machen. Du kannst dich nicht selbst schützen.
Deshalb müssen deine Bewegungen in der Nacht eingeschränkt werden.“
Obwohl die junge Lehrerin mit einem eigenen Auto unterwegs und nicht
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Jordanien
auf Bus oder Taxi angewiesen ist, aus Angst um ihre Jungfräulichkeit darf
sie nach Anbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verlassen. Für die 16
und 21 Jahre alten Söhne gibt es keine vergleichbare Einschränkung. Die
Professorin begrüßt die neuen sozialen Entwicklungen und stellt mit Freude
fest, dass ihre Studierenden weltoffener und kritischer geworden sind, was
sie vor allem dem Einfluss von Internet und Fernsehen zuschreibt. Gerade die Zunahme der männlichen Studierenden in dem typischen Frauenberuf der Krankenpflege wertet sie als Erfolg des gesellschaftlichen Wandels.
Allerdings werden die jungen Männer häufig nur deshalb akzeptiert, weil
Spät- und Nachtdienste für das weibliche Pflegepersonal nach wie vor als
unanständig gelten. Von Stationen mit weiblichen Patienten sind die Krankenpfleger ausgeschlossen.
Fakultätsleiterin Inaam Khalaf sitzt am anderen Ende des Flurs, ebenfalls
im gepflegten Kostüm, mit dezentem Makeup und ohne Kopftuch. Die 48Jährige ist eine von fünf weiblichen Dekanen der Universität, hat wie viele ihrer Kolleginnen im Ausland studiert und ist danach an der Universität
über verschiedene Positionen die Karriereleiter immer weiter emporgestiegen. „Ich hatte nie das Gefühl, dass ich als Frau benachteiligt wurde. Eher
im Gegenteil. Da ich oft die einzige Frau war, haben mich die Männer gefördert.“ Dass die Gehälter von Männern in der Regel deutlich höher seien
als die der Frauen, sieht sie nicht als Diskriminierung, denn „der Mann muss
doch seine Ehefrau mitversorgen.“ Sie hat eine Tochter und denkt, dass diese oft hinter der Karriere der Mutter zurückstecken musste. Trotzdem würde
sie sich wieder für ein Arbeitsleben entscheiden und glaubt, dass die Balance zwischen Familie und Arbeit für Frauen in Jordanien kein Problem sei.
„Viele haben doch Hausangestellte.“ Von ihrer Tochter erwartet sie, dass
diese ihren Ehemann klug genug auswählt, um ebenfalls Kinder und Beruf
verbinden zu können. Inaam hofft auf Doktortitel und Führungsposition für
ihre Tochter, auch wenn sie oft den Eindruck hat, dass die neue Generation
weniger leistungswillig und viel mehr an einem „guten Leben“ interessiert
sei. Dass Männer den Frauen die Führung nicht zutrauen, glaubt sie nicht,
nach ihrer Erfahrung im Lehrbetrieb „sind wir doch oft selbst schuld, weil
wir den Männern die Führung überlassen.“
In der Fakultät für Agrarwirtschaft treffe ich Manar Fayyed, Leiterin des
Instituts für Wasserwirtschaft. Die 57-Jährige trägt ebenfalls kein Kopftuch,
spricht wie die anderen Frauen fließend Englisch und hat vier Kinder großgezogen. Beruf und Familie habe sie nur mit viel Arbeit, wenig Freizeit und
der Unterstützung ihres Ehemanns vereinbaren können, „teilweise ging die
Hälfte meines Gehalts für Haushaltshilfen drauf.“ Im Gegensatz zu ihren
Kolleginnen in der Fakultät für Krankenpflege scheut sie sich nicht auszusprechen, dass sie in ihrem Berufsleben immer wieder Benachteiligungen
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erlebt habe. „Als Frau musst du ganz genau wissen, was du willst und immer härter arbeiten als die Männer.“ Wenn sie ihre Studentinnen beobachtet, stellt sie deutliche Unterschiede zu ihren Studenten fest. Die Mädchen,
so Manar, hätten oft nur wenig Hoffnung auf einen Job und betrachteten das
Studium nur als Quelle von Prestige oder als Möglichkeit, einen Ehemann
kennenzulernen, der nicht dem erweiterten Familienkreis angehört. Sorgen
macht ihr die zunehmende Religiosität ihrer Studierenden, die sie nicht nur
an der steigenden Zahl von Kopftüchern festmacht, sondern auch daran,
dass in ihren Vorlesungen und Seminaren Mädchen und Jungen streng getrennt sitzen. „Ich fürchte schon, dass die Frauen wieder traditioneller werden und häufiger bei den Kindern zu Hause bleiben. Andererseits kenne ich
viele Kopftuchträgerinnen, die sehr offen leben und denken.“
Eine Karriere der ganz anderen Art machte die Anwältin Wa’id Muyhar.
Mit 17 Jahren wurde sie von ihren Eltern verheiratet, bekam drei Kinder,
folgte ihrem streng religiösen Mann in die Vereinigten Staaten und kehrte allein nach Jordanien zurück. Nach 19 Jahren Ehe reichte sie die Scheidung ein, sechs Jahre später bestand sie ihre letzte Prüfung. „Ich war nie mit
meinem Hausfrauendasein zufrieden, aber während meiner Ehe hatte ich
nie Zeit, darüber nachzudenken, was ich eigentlich wollte. Dabei wollte ich
schon immer Anwältin werden.“ Ihr Fernstudium habe sie nur dank der Unterstützung ihrer Familie geschafft, bei Freunden und Bekannten sei sie vor
allem auf Unverständnis für ihre Anstrengungen gestoßen. „Jetzt sagen sie
alle, das sei die richtige Entscheidung gewesen.“ Das Büro der selbstständigen Anwältin, die sich auf Scheidungen spezialisiert hat, liegt im obersten
Stock eines Gebäudes, das ihrem Vater gehört. Die Leute in den unteren Büros kennt sie alle. Anwaltskollegen und Richter hätten ihre Arbeit sofort akzeptiert, sagt sie, viele andere Leute würden einer Frau jedoch nicht zutrauen, dass sie einen Gerichtsfall gewinnen könne. „Aber wer einmal mit mir
zusammen gearbeitet hat, der kommt wieder und schickt auch seine Freunde
und Verwandten zu mir, selbst auf dem Dorf.“
Grund für die steigenden Scheidungsraten Jordaniens sei nicht nur die
Gesetzesänderung, die nun auch Frauen erlaubt, eine Scheidung einzureichen, ohne dem Mann ein Fehlverhalten nachweisen zu müssen – wenn
auch nur unter der Bedingung, dass sie auf sämtliche finanziellen Ansprüche verzichten. „Die Frauen sind auch selbstbewusster geworden und beklagen sich häufiger.“ Gleichberechtigung herrsche aber bei weitem noch
nicht. „Ich war so frustriert, als ich für meinen Sohn einen Pass beantragen
wollte und dafür die Genehmigung meines geschiedenen Mannes benötigte.“ Die meisten Familien bevorzugen noch immer Söhne, glaubt die 49Jährige, einige lassen ihre Töchter keine qualifizierte Ausbildung machen,
manche Ehemänner verbieten ihren Frauen die Erwerbstätigkeit. Dass be-
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rufstätige Frauen heute größere Chancen auf eine Ehe hätten als ungebildete, sei nur durch die steigenden Preise begründet, die keiner Familie mehr
erlauben, von nur einem Einkommen zu leben, nicht durch einen echten gesellschaftlichen Wandel.
Eine vergleichende Untersuchung der Weltbank zeigt, dass die Mehrheit
der jordanischen Unternehmerinnen kleine bis mittlere Betriebe führt, in
denen in der Regel mindestens ein Familienmitglied tätig ist. Startkapital
und finanzielle Unterstützung im Notfall kommen ebenfalls oft aus dem
Familien- und Freundeskreis und fast nie von Banken, die Frauen selten als
kreditwürdig einstufen. Auch in der Agentur der Designerin Suad Irami2*
arbeitet ihr Halbbruder mit. Seit zehn Jahren behauptet sich die Agentur auf
dem Markt, produziert Speisekarten, Werbezettel und ganze Verpackungslinien. Bei ihrer vorherigen Anstellung in einer anderen Agentur habe sie
wenige Probleme mit männlichen Kollegen und Kunden gehabt, allerdings
„haben meine männlichen Kollegen die professionelle Ebene oft nicht akzeptiert, sondern versucht, mich zu einem Date zu überreden.“ Deshalb
ziehe sie es vor, mit Frauen zusammenzuarbeiten; dass sie derzeit keine
weibliche Angestellte habe, liege nur daran, dass sie keine geeigneten Bewerberinnen finden konnte. Den Namen der 47-Jährigen habe ich geändert,
weil sie nicht nur durch ihren Status als unverheiratete Frau eine Ausnahme unter meinen Interviewpartnerinnen darstellt, sondern weil sie auch offen von ihrer Affäre mit einem verheirateten Mann erzählte. Hauptgrund
für ihre Weigerung zu heiraten sei die Erfahrung, wie sehr ihre Mutter unter der zweiten Ehe ihres Mannes litt. Polygamie, die gleichzeitige Ehe mit
bis zu vier Frauen, ist für Männer legal in Jordanien. Die Zahl der mehrfach Verheirateten ist zwar rückläufig, doch im gesellschaftlichen Bewusstsein ist die Mehrfachehe nach wie vor erstrebenswert. „Ich wollte nie einen
Mann in meinem Leben, weil Männer nicht fair sind. Alle Männer, die ich
kennengelernt habe, waren mir zu egoistisch“, sagt Suad. Die Familie habe
mehrfach versucht, ihr eine Heirat schmackhaft zu machen, doch sie blieb
aus Angst vor Betrug und Verletzung bei ihrer Entscheidung. „Verheiratete Männer haben doch oft Freundinnen nebenher, weil die Ehen von ihren
Familien und nicht von ihnen selbst arrangiert sind.“ So auch der Mann,
den sie vor zwei Jahren bei einem Geschäftstermin kennen lernte. Die beiden treffen sich heimlich und meist tagsüber in ihrem Haus oder im leeren
Büro. Ihn würde sie gern heiraten. Aber nur wenn er sich scheiden lasse,
denn ein Leben als Zweitfrau komme nicht in Frage. Sie bedauert, die andere Frau so zu hintergehen, überlege immer wieder, ob sie die Beziehung
2
* Name geändert
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nicht beenden solle, „aber andererseits ist es eben toll, eine Beziehung zu
führen und sich als Frau zu fühlen.“
4.4 Die neue Generation
Die 22-jährige Hiba Fouad blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. Nach dem
Studium für angewandtes Arabisch versuchte sie sich zunächst als Journalistin, dann Kindergärtnerin, jetzt glaubt sie ihre Bestimmung als Lehrerin
für ausländische Arabischschüler gefunden zu haben. Ihr Kopftuch wird gehalten von mit bunten Steinen geschmückten Nadeln, der bodenlange, weite Mantel passt farblich immer dazu. Wenn sie lacht – und das tut sie häufig – dann strahlt ihr rundes Gesicht, ihre Unerfahrenheit überspielt sie mit
ihrer freundlichen, manchmal etwas naiven Art. Dass sie einmal Arbeit und
Familie vereinbaren wird, zieht sie nicht in Zweifel, „das kommt schon von
ganz allein. Aber ich hoffe, wirklich meinen Seelenverwandten zu finden.“
Hiba lebt mit ihren vier Brüdern und einer älteren Schwester im Haus ihrer
Eltern, wo sie immer Bestätigung und Vertrauen erfahren habe. Angesichts
der Schicksale einiger ihrer Freundinnen begreift sie ihr bisheriges Leben
durchaus als Glücksfall, denn manche durfte nach dem Bachelorabschluss
das Studium nicht fortsetzen – aus Angst sie würde keinen geeigneten Ehemann mehr finden – oder muss ihr gesamtes Gehalt an die Eltern abgeben.
Anderen verbot der Ehemann das weiterführende Studium oder die Suche
nach einem Job. Und eine schließlich lag anderthalb Monate lang im Krankenhaus, verprügelt von ihrem Vater, nachdem Gerüchte die Runde gemacht
hatten, sie habe an der Universität eine außereheliche Beziehung. „Mein
Traummann darf mir das Arbeiten nicht verbieten, sondern muss mich bei
der Organisation des Haushalts unterstützen, dann ist es auch nicht schwierig, Arbeit und Kinder zu vereinbaren.“ Dass sie mit dieser Erwartung an
gesellschaftliche Grenzen stößt, ist ihr bewusst, doch sie zieht selbstbewusst
ihre religiöse Überzeugung zur Verteidigung ihrer Hoffnungen heran, „sogar Prophet Mohammed hat doch seine Wäsche selbst gewaschen.“
Auch Shirin Kamal sieht ihre Zukunft in Jordanien, die 25-Jährige versuchte sich zunächst mit einem Freund gemeinsam in der Musikbranche,
schreibt jetzt Kurzgeschichten und lektoriert ein Drehbuch. Aufgewachsen in den Vereinigten Staaten habe sie eine Zeitlang darüber nachgedacht,
ihr Heimatland wieder zu verlassen, weil „Jordanien sehr einförmig ist und
man sehr schnell als seltsam gilt, wenn man nur ein bisschen anders denkt
oder handelt.“ Während des Studiums litt sie darunter, dass nicht Diskussionen gefragt gewesen seien, sondern stures Auswendiglernen, ihre platonischen Freundschaften zu Mitstudenten hätten sie zum Ziel von Gerüchten
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Jordanien
und Lästereien gemacht. Zwar hatte sie schon Beziehungen, von denen nur
ihre Mutter, nicht aber der weit entfernt lebende Vater weiß, doch sie sagt
auch: „Ich war mit Männern immer vorsichtig, weil die schnell die falschen
Gedanken kriegen, wenn du zu freundlich mit ihnen bist.“ Sie betrachtet den
Aufholbedarf Jordaniens als Chance, denn „die Leute schenken dir Beachtung, sobald du etwas ungewöhnliches machst.“ Die Konkurrenz im gerade erst entstehenden Filmgeschäft ist geringer als irgendwo anders auf der
Welt. Die dunklen Locken kinnlang geschnitten und in Jeans und Pullover
gekleidet, verkehrt sie vor allem in von westlichen Ausländern geprägten
Kneipen. „Es wäre verrückt, nachts allein ins Stadtzentrum zu gehen“, erklärt sie, während sie ihren dunkelblauen Kleinwagen durch das nächtliche
Amman steuert. Sie möge die gesamte Stadt, gehe überall hin, „aber danach
kehrt man wieder zurück in die eigene, sichere Zone.“
Rima Dashiha3* will so schnell wie möglich raus. Die Mediendesignerin
hat bei manchen ihrer Freunde keinen sehr guten Ruf, was nicht nur an ihrer vergleichsweise freizügigen Kleidung oder ihrem gelegentlichen Hang
zu Alkohol liegt, sondern vor allem daran, dass sie bereits die zweite Beziehung mit einem Ausländer führt und dies auch öffentlich macht. Ihre Mutter weiß von ihren Beziehungen, der Vater ist nach der Scheidung gestorben,
der Rest der Familie im zwei Stunden entfernten Irbid hat keine Ahnung von
Rima Dashihas Privatleben. Sie mache sich keine Gedanken darum, sagt sie.
„Lieber habe ich 27 Jahre gelebt wie ich wollte, als 60 Jahre so wie andere es
erwartet haben.“ Ob ihre Familie sie für ihr als unmoralisch geltendes Verhalten bestrafen oder gar töten würde, beantwortet sie mit einem Schulterzucken, „sie könnten sehr wütend und beschämt sein.“ Dabei ist sie schon früh
aus dem Rahmen gefallen, entschied sich mit zehn Jahren gegen den Widerstand ihrer Familie für das Kopftuch und legte es sieben Jahre später wieder
ab, erneut gegen den Willen von Vater und Mutter. Heute glaubt sie nicht
mehr an Gott und die Regeln des Islam, hat gerade für die Hijab-Mädchen
mit den knallengen Jeans und kussrot gemalten Mündern nur Unverständnis und Verachtung übrig. Seit ihrer Rückkehr aus Großbritannien, wo sie
studiert und erste Berufserfahrungen gesammelt hatte, arbeitet sie für den
privaten Fernsehsender ATV, dem seit 2007 die Sendegenehmigung verweigert wird und der mittlerweile Schwierigkeiten bei der regelmäßigen Auszahlung der Gehälter hat. „Ich habe mich in England gelangweilt und dabei
vergessen, was ich hier gehasst habe. Diese kleinen, trivialen Dinge wie das
ständige angehupt werden auf den Straßen. Das macht mich krank.“ Die
Hoffnung auf ein Stipendium für ein Masterstudium in Großbritannien ist
3
Name geändert
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Anfang 2008 zerplatzt, doch sie versucht es weiter, will auf gar keinen Fall
in Jordanien bleiben. „Natürlich hat sich Amman verändert, ist moderner
und westlicher geworden“, urteilt sie. Die Veränderungen seien jedoch nur
auf einen kleinen Teil der Stadt und der Bevölkerung beschränkt, auch wenn
der Eindruck der neuen Hochhäuser und Kneipenszene manchmal selbst sie
täusche. „Die Mentalität der Mehrheit hat sich aber nicht verändert und ich
bin nicht geduldig genug für den Wandel.“
Für die Arbeit am Wandel hat sich Ibtisam al-Atiyat entschieden. Sie hätte nach dem Studium im Ausland bleiben können und entschied sich für die
Rückkehr. Sie stammt aus einer Mittelklassefamilie und hat früher potenzielle Heiratskandidaten abgelehnt. Sie würde gern heiraten und Kinder erziehen, doch ihr Blick und das gezwungene Lächeln auf die Frage nach ihren Plänen verraten, dass die 33-Jährige sich bereits für zu alt hält und keine
Chancen mehr auf dem Heiratsmarkt ausrechnet. Nach einer Gesetzesänderung 2001 müssen Männer und Frauen mindestens 18 Jahre alt sein, um
zu heiraten, Ausnahmen sind möglich. Durch die größeren Bildungsmöglichkeiten, durch Aufklärungskampagnen und wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation ist das Heiratsalter der jungen Jordanier deutlich gestiegen, Frauen heiraten mit durchschnittlich 26 Jahren, Männer mit 29.
Die Sozialwissenschaftlerin Ibtisam hat unter anderem in Berlin und den
Vereinigten Staaten studiert und gearbeitet und ist heute Programmleiterin
der Universität der Vereinten Nationen in Amman. Für ihre Doktorarbeit untersuchte sie die jordanische Frauenbewegung, ist vertraut mit deren Führungspersonen, ihren Erfolgen und Rückschlägen, und glaubt, dass die engagierten Frauen oft fürchten als zu aggressiv zu gelten und deshalb ihre
Forderungen zu vorsichtig formulieren. „Der Wandel, den wir beobachten
können, ist vor allem kosmetisch. Frauen werden immer noch nicht als vollwertige Staatsbürger wahrgenommen.“ Die meisten Frauen strebten heute einen hochwertigen Bildungsabschluss an und seien nicht mehr zufrieden mit einer bloßen Schulbildung. Für viele sei ein Job natürliche Folge
des Studiums und nicht diskutabel. Doch „viele Frauen arbeiten nur wegen
des wirtschaftlichen Drucks“ und gerade beim Kampf um Führungspositionen und die Macht, Entscheidungen zu treffen, würden Männer in allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen bevorzugt. Die
Jüngeren dagegen seien verwirrt von der Unzahl an Lebensentwürfen, die
ihnen heute in den Medien präsentiert werden. Zudem ist ihr Sozialleben
zunehmend der Kontrolle der Gesellschaft entzogen, denn Chaträume oder
Mobiltelefone sind von den Familien kaum zu überwachen.
Tatsächlich führt die starke Verbreitung von Mobiltelefonen zu Kontakten, die früher nie möglich gewesen wären. Junge Männer wählen blind Mobiltelefonnummern, entschuldigen sich, wenn ein Mann antwortet, und ver-
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wickeln Frauen in Gespräche, beteuern schnell ihre Liebe und versuchen,
sie zu Treffen zu überreden. Heimliche Paare können fast ohne Angst vor
Entdeckung mit Kurzmitteilungen Kontakt halten oder Verabredungen treffen. Beim Gang über Universitätsgelände in Amman, Irbid oder Kerak sehe
ich immer Mädchen und Jungen, die abseits von den anderen sitzen, Blicke
tauschen oder gar Händchen halten. Dass die Zahl der vorehelichen Beziehungen deutlich gestiegen sei, hält die Soziologin für Propaganda, die vor
allem der Frauenbewegung schaden soll. Dass Mädchen ihr Hymen mittlerweile aber nicht nur im nahen Libanon, sondern auch in Jordanien für um
die 500 US-Dollar wiederherstellen lassen können, um in der Hochzeitsnacht für eine Jungfrau gehalten zu werden, spricht allerdings eher für eine
Zunahme der vorehelichen Beziehungen.
Ruba al-Zubi treffe ich zufällig auf einer Pressekonferenz des jordanischen Umweltministeriums für den Einsatz von alternativen Energien, vertieft in ein Gespräch mit einer Vertreterin des deutschen Umweltministeriums. Mit Kopftuch und langem Rock fällt sie auf zwischen den Männern
in dunklen Anzügen und den unbedeckten ausländischen Kolleginnen. Die
33-Jährige ist die jüngste und einzige Direktorin im Ministerium, zuvor war
sie je drei Jahre bei Projekten der Welthandelsorganisation und der Europäischen Union beschäftigt. „Vor wenigen Jahren hat unser Minister überrascht festgestellt, dass zwar viele Frauen in seinem Ministerium arbeiten,
aber kaum eine in einer Führungsposition. Heute haben wir auch viele Abteilungsleiterinnen.“ Ihre Position verdankt sie nicht nur ihrer Qualifikation,
sondern auch der internationalen Verpflichtung Jordaniens, Frauen in Führungspositionen zu fördern. In manchen Sitzungen habe sie das Gefühl, dass
ihre Stimme nicht so viel zählt wie die der männlichen Kollegen, mancher
Kollege oder Vertreter von lokalen Partnerorganisationen reagiere skeptisch,
wenn sie mit neuen Vorschlägen an sie herantrete. Aber sie glaubt, dass auch
ein Mann auf viele dieser Widerstände gestoßen wäre und dass der Grund
für die Vorbehalte vor allem ihr Alter sei, nicht ihr Geschlecht. Dass Frauen
von der Gesellschaft als gleichberechtigt akzeptiert werden, will sie damit
nicht sagen. „Einige Familien neigen dazu, ihre Töchter stärker zu beschützen und ihren Söhnen mehr zuzutrauen.“ Auch ihre Familie verhalte sich
sehr beschützend. Während der ganzen Zeit ihres Studiums und auch noch
einige Jahre danach lebte sie im Familienverband in Irbid und pendelte täglich in die Hauptstadt. Seit sie für das Umweltministerium auch ohne Familienbegleitung ins Ausland reisen muss, fühlt sie sich zunehmend stärker
und unabhängiger. Schließlich wurde ihr die tägliche Pendelei zu anstrengend, jetzt lebt sie mit anderen jungen, berufstätigen und ledigen Frauen
in einer Wohngemeinschaft. „Heute vertrauen die Familien ihren Töchtern
schon sehr viel mehr.“ Ihre Familie besucht sie jedes Wochenende.
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Jordanien
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Dass eine Heirat nicht automatisch das Ende von Bildung und Karriere bedeuten muss, beweist das Beispiel von Rula Hadadin. Die 33-jährige Christin arbeitet für den jordanischen Zweig von Save the Children und betreut
dort vor allem die Renovierung und Umstrukturierung von Kindergärten.
Ihren Bachelor hat sie schon vor einigen Jahren abgeschlossen, ein weiteres
Studium hatte sie eigentlich nicht geplant. Doch ihr Ehemann ermutigte sie,
sich für ein Masterstudium einzuschreiben, am Zentrum für Frauenstudien.
Für die junge Frau öffnete sich eine neue Welt, ihr Mann scherze nun schon
manchmal, dass er seine Unterstützung für ihr zweites Studium bereue, weil
sie seitdem oft widerspreche und für ihre Meinung einstehe. „Früher habe
ich mich oft schwach und abhängig gefühlt, aber das neue Wissen hat mein
Leben verändert.“ Viele Frauen würden ihre Rechte nicht kennen, auch sie
selbst habe zum Beispiel nicht gewusst, dass ihr Mann keinen Anspruch auf
ihren Verdienst habe. Im Studium untersuchte sie gemeinsam mit Studierenden aus anderen arabischen Ländern Schulbücher und kam zu einem sie erschreckenden Ergebnis. In den jordanischen Schulbüchern werde zwar von
der Emanzipation der Frau gesprochen, aber gerade die Bebilderung der
Texte und Aufgaben sei noch immer streng traditionell. Frauen mit Kopftüchern versorgten Haushalt und Kinder, Männer brachten das Geld nach
Hause. Dass die ägyptischen und syrischen Schulbücher ihrer Kolleginnen
nicht besser abschnitten, tröstet sie nicht. Doch nicht nur die Schulbücher
machen ihr Sorgen, „ich fürchte, dass die Frauen sich irgendwann nach der
reinen Hausarbeit zurücksehnen werden, weil sie allein Beruf und Familie
vereinbaren müssen und die Männer sich weigern, die Kinder zu füttern, die
Windeln zu wechseln oder auch nur den Abwasch zu machen.“
4.5 Betriebsbesuch
Die Universal Equipment Ltd. arbeitet in einem männlich dominierten
Wirtschaftsbereich, dem Verkauf und der Wartung von Bussen, Lastzügen
und Straßenbaugerät. Die 50 Mitarbeiter werden von Serena Shaban und ihrem Mann geleitet. „Als ich 1999 begann, meinem Mann zu helfen, hatten
wir nur zwei Frauen im Unternehmen“, erzählt die 43-jährige Serena während sie ihren Wagen durch den dichten Verkehr im Westen Ammans lenkt.
„Als es darum ging, neue Mitarbeiter einzustellen, wollte ich die besten Absolventen der Universitäten anwerben. Zu meiner Überraschung waren das
alles Frauen.“ Sie ist eine schlanke, elegante Frau mit exquisitem Kleidergeschmack und dezentem Makeup. Die Botschaftertochter hat eine internationale Ausbildung genossen und ist keine Freundin des Trends zum Kopftuch. Am liebsten würde sie Kopftücher aus dem Unternehmen verbannen,
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Jordanien
doch sie muss die Entscheidungen ihrer Mitarbeiterinnen akzeptieren. Aus
den zwei Sekretärinnen sind heute zehn weibliche Angestellte geworden,
eine Selbstverständlichkeit sind die jungen Frauen im Betriebsablauf jedoch
noch nicht. „Ich ermutige sie immer wieder, offensiver ihre Rechte einzufordern.“ Doch sie brauchen einen langen Atem.
Claude Wamarneh zum Beispiel, groß, blond und die einzige Christin
im Unternehmen, wechselte von einem international tätigen Logistikunternehmen in den mittelständischen Betrieb, weil ihr Chef einen männlichen
Kollegen trotz gleicher Qualifikation ständig bevorzugt hatte – bei interessanten Projekten bis hin zu einer verweigerten Beförderung. Wegen ihres
Geschlechts diskriminiert wird die 30-Jährige jedoch immer noch. Eigentlich soll sie mit Ministerien und anderen staatlichen Einrichtungen verhandeln und deren Fuhrparks und Bauprojekte besichtigen, um dann konkrete
Liefervorschläge zu machen. Doch die staatlichen Partner seien noch nicht
bereit, mit einer Frau zu verhandeln, so die Meinung ihres direkten Vorgesetzten. Deshalb bleibt ihr zurzeit nur, den Papierkram im Büro zu erledigen, und die Hoffnung, dass sie bald das tun darf, wofür sie eigentlich eingestellt wurde.
Täglich direkten Kontakt zu zahlreichen männlichen Kunden hat dagegen
die 25-jährige Sondus al-Quudah. Die studierte Ingenieurin wickelt den gesamten Reparaturservice des Unternehmens ab. Sie nimmt die Fahrzeuge in
Empfang, diskutiert mit Mechanikern, Versicherungen und Ersatzteillieferanten und informiert die Kunden. „Die meisten sind einfache Fahrer, selten
gut gebildet und oft schon älter. Die denken eigentlich immer, ich sei hier
die Empfangsdame, und suchen einen Mann, um die technischen Fragen zu
diskutieren.“ Dabei ist sie nach fünf Jahren Studium besser ausgebildet als
die meisten Angestellten vom Reparaturservice. Doch manche der Kunden
wollen nicht begreifen, dass die junge Frau mit dem Kopftuch die Verantwortung trägt und auch über technische Details versiert diskutieren kann.
Deshalb gilt für die Mechaniker im Hof eine strikte Regel: Keine Diskussion
mit Kunden. Auch wenn sie sich nicht immer daran halten, am Ende müssen
alle Kunden zu Sondus, wenn sie eine verbindliche Auskunft wollen.
Einige Büros weiter arbeitet Alice Hawamleh. Als die 25-Jährige eines Tages im Sommer zur Arbeit kam, wurde sie von Chefin Serena zur Seite genommen und gefragt, ob sie nicht glaube, dass ihre Kleidung ein wenig zu
körperbetont sei. Alice winkte ab und erklärte: „Anfangs mögen sie irritiert
schauen, aber dann gewöhnen sie sich daran.“ Tatsächlich hätten die männlichen Kollegen aber eine Weile gebraucht, bis sie sich an den Anblick der
attraktiven Brünetten gewöhnt hatten, sie nicht mehr anstarrten oder mit Redeschwällen von der Arbeit abhielten. Mittlerweile werde sie von den meisten Männern im Betrieb für ihre Arbeit akzeptiert, „auch wenn manche von
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ihnen immer noch denken, dass ich nicht hier arbeiten sollte.“ Bis heute vermeide sie jede persönliche Beziehung zu den Kollegen. „Man muss formell
bleiben. Freundliches Verhalten wird schnell missverstanden, weil die Idee
von Freundschaften zwischen Männern und Frauen in unserer Gesellschaft
nicht akzeptiert wird.“ Alice fühlt sich manchmal als „Alien“, auch zwischen ihren Kolleginnen, die durchweg konservativer seien und vor allem
auf Heirat und Kinder hofften. Sie selbst wolle nicht nur arbeiten und eine
Familie gründen, sondern auch reisen und die Welt kennenlernen.
Die einzige verheiratete Angestellte ist Ghadeer Naffaa. Die 30-Jährige
arbeitet seit vier Jahren als leitende Verwaltungsangestellte, ist unter anderem für Personalverwaltung und Qualitätskontrolle zuständig. Auch sie erlebte Diskriminierung am Arbeitsplatz, musste die Qualität ihrer Arbeit immer wieder beweisen. „Manche Kollegen glauben, dass Frauen schwach und
nicht fähig sind, Entscheidungen zu treffen, und versuchen, sie in diese Rolle zu drängen.“ Das einzige Mittel gegen diese Einstellung sei, die eigene
Stärke täglich durch Leistung und Qualität am Arbeitsplatz zu beweisen.
Manche der männlichen Kollegen akzeptieren sie heute, andere werden es
nie tun, glaubt sie. Die eigentliche Herausforderung war für Ghadeer jedoch eine andere: „Die Familie meines Mannes hatte große Probleme damit, dass ich nach der Heirat weiterarbeiten wollte.“ Bei jedem Besuch ließen die Geschwister, die Onkels und die Tanten die junge Frau spüren, dass
eine berufstätige Frau ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter nicht ausreichend erfüllen kann. Diese Ablehnung schmerzt noch immer. Ghadeers Blicke wandern zu Boden, während sie spricht, sie weigert sich, von konkreten
Situationen zu berichten. Sie hatte Glück, dass nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr Mann und dessen Eltern sie unterstützen. Die Schwiegereltern betreuten ihren heute vierjährigen Sohn Hussein in der ersten Zeit während Ghadeers Arbeitszeiten, jetzt geht er in einen Kindergarten. Nach zwei
Jahren Ablehnung respektiere ein Großteil der Familie die arbeitende junge
Frau heute, einige der Schwestern ihres Ehemanns suchen sogar selbst nach
Arbeit. „Das ist wirklich ein Erfolg.“ Dennoch fühle sie sich noch immer
häufig als „die Andere“ in der Familie ihres Mannes, als ein nicht vollständig integrierter Fremdkörper.
4.6 Im armen Amman
An einem Mittwochmorgen fahre ich mit Rania Khatib vom Forum for
Business and Professional Women in den Osten Ammans, um eines der Projekte des Forums zu besichtigen. Ein Fahrer bringt uns von ihrem Büro nach
Jabal el-Taj, knapp eine halbe Stunde entfernt von der geschäftigen Garden
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Street, und muss dann im Auto warten. Männer haben keinen Zutritt. Das
ist entscheidend, wenn Familienväter überzeugt werden sollen, ihren Müttern, Schwestern und Töchtern den Besuch des Zentrums zu erlauben. „Hier
greift das Konzept der Scham noch voll, die meisten Familien denken, dass
eine Frau ins Haus gehört. Eine Frau, die auf der Straße herumläuft, ist eine
Schande.“ Seit 2002 existiert das Haus am Berg, vor dem eine Mauer jeden Einblick verwehrt, ein ganz typisches jordanisches Wohnhaus. Im Erdgeschoss liegt das Büro, außerdem eine Küche, die Besucherinnen kochen
selbst Tee und Kaffee, gehen ans Telefon, setzen sich dazu, um den ausländischen Gast zu begutachten, „sie sollen sich hier wie zu Hause fühlen und
das Zentrum als ihres betrachten.“ Im oberen Geschoss stehen die Computer, die Nähmaschinen, die Friseurtische und Trockenhauben, die Schultische und Tafeln für den Unterricht. Sieben Monate dauert eine Ausbildung im Zentrum, danach hilft Munira Shaban, eine ehemalige Hebamme
und Leiterin des Hauses, bei der Jobsuche und betreut die Frauen an ihren
Arbeitsplätzen, vermittelt bei Konflikten. Hinzu kommen Vorträge, die über
Themen von Brustkrebs bis zur Mülltrennung aufklären, oder Workshops,
in denen Frauen zu Klempnerinnen und Elektrikerinnen ausgebildet werden, damit sie in der Nachbarschaft Notfallhilfe leisten können. „Den meisten Zulauf haben wir, wenn es im Anschluss etwas zu essen gibt“, Munira
lacht. Die 62-jährige Christin ist im Viertel bekannt, denn der erste Schritt
ist immer der Besuch der Familien. „Wenn erst mal eine Frau der Familie
bei uns im Zentrum war, dann kommen die anderen recht schnell hinterher.“ Auch wenn schon alle Frauen einer Familie regelmäßig ins Zentrum
kommen, pflegt Munira den Kontakt, hilft bei Problemen, bringt Geld- oder
Sachspenden zu besonders bedürftigen Familien, teilt freudige und traurige
Familienereignisse wie Hochzeiten oder Trauerfeiern.
Der Computerraum ist gerade leer, aber schon in gut drei Stunden werden
die Schulmädchen kommen und für Schulprojekte recherchieren oder private E-Mails schreiben. Einen Raum weiter sind sechs Frauen und ein kleiner
Junge über Nähmaschinen und Schnittmuster gebeugt, an einer Stange hängen bereits fertig geschneiderte und handbestickte Brautkleider. „Manche
Frauen arbeiten nach dem Kurs zu Hause und bessern mit den Näharbeiten
oder Stickereien das Familieneinkommen auf“, erklärt Rania. Im nächsten
Raum sind etwa 15 Frauen beschäftigt mit Waschen, Schneiden, Färben, Fönen. „Ich bin geschieden und brauche einen Beruf, um Geld zu verdienen“,
erklärt die 28-Jährige Fatima, zwei andere Frauen nicken zustimmend, teilen
das gleiche Schicksal. Die 40-jährige Maha dagegen erzählt mit funkelnden
Augen: „Ich wollte nicht die ganze Zeit zu Hause sitzen. Man braucht den
Kontakt nach draußen, muss Leute kennen lernen und mit ihnen sprechen.
Ich habe jahrelang mit meinem Mann diskutiert und ihm gedroht, dass ich
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ihn weiter nerven werde, bis er mir den Besuch im Zentrum erlaubt.“ Ein
vergleichsweise bescheidenes Ziel hat die 24-jährige Hanadi, „ich möchte
meinen kleinen Mädchen die Haare machen.“
Der letzte Raum ist der größte, rechts stehen Stuhlreihen vor einer großen,
weißen Tafel, links sitzen zehn Frauen im Alter von 16 bis 50 Jahren um einen Tisch herum, vor sich Lesebücher, Stifte, Schreibblöcke. Auch hier sitzt
wieder ein kleiner Junge dabei, mitgebracht von seiner Mutter. Am Kopfende steht Lehrerin Muna vor einer Tafel und erklärt gerade, wie die Uhrzeit
von einer Uhr abgelesen wird. Samira ist die älteste Teilnehmerin, das Lernen fällt ihr nicht leicht, aber sie will unbedingt weitermachen. „Es ist gut,
wenn man lesen kann. Man kann Straßennamen lesen. Und wenn man zum
Arzt geht, muss man nicht andere Leute fragen, damit sie das Rezept für einen lesen. Oder wenn man Medizin aus der Apotheke holt, dann kann man
die Gebrauchsanweisungen lesen.“ Ihr gegenüber müht sich die 36-jährige
Nada mit einem Text für Zweitklässler ab. Sie lernt nicht für sich, erklärt sie,
sondern für ihre Tochter. „Sie geht in die sechste Klasse und weil ich nicht
lesen kann, kann ich ihr nicht bei den Hausaufgaben helfen.“ Am anderen
Ende des Tisches sitzen die jungen Mädchen. 16, 17 Jahre alt sind sie und
konnten trotz Schulpflicht zu Beginn des Kurses weder lesen noch schreiben. „Unsere Eltern haben beide gearbeitet, deshalb mussten wir zu Hause
bleiben, um auf unsere jüngeren Brüder aufzupassen“, erklären die Schwestern Do’a und Samira. Doch ganz schlüssig ist diese Geschichte nicht, sagt
Munira später. Denn auch die älteste Schwester hat vor einiger Zeit den Kurs
besucht, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Kurze Zeit nachdem
im Viertel bekannt wurde, dass sie diese Grundbildung erhalten hatte, fand
sich ein Ehemann, der ihr allerdings den weiteren Besuch des Zentrums verbot. Nicht viel später meldete der Vater auch die anderen beiden Schwestern
zum Alphabetisierungskurs an. Selbst die öffentlichen Schulen Jordaniens
verlangen Schulgeld, ergänzt Rania, angesichts weiterer Kosten für Bücher
und Schuluniformen würden gerade arme Familien sich oft dazu entscheiden, nur ihre Söhne zur Schule zu schicken und die Töchter zu Hause zu
lassen.
4.7 Draußen ist alles anders? Raus aus Amman
Seit Jahren pendelt Ferial Saleh zwischen Amman und der Provinz hin und
her. Die studierte Sozialwissenschaftlerin leitet die Zentrale der so genannten Community Center, die mit Hilfe aus der Hauptstadt in Kleinstädten und
Dörfern gegründet und in der Regel nach drei, vier Jahren in die Selbstständigkeit entlassen werden. Aufgabe dieser Zentren ist neben der Aufklärung
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Nadia Leihs
Jordanien
über Frauenrechte oder Gesundheit und Hygiene auch die Stärkung der Gemeinde durch Projekte wie den Bau von Olivenpressen oder die Installation
von Müllcontainern. „Ich sehe den sozialen Wandel in den Gemeinden, in
denen wir unsere Projekte starten. Es sind nur kleine Schritte, aber ich bin
stolz auf jede Veränderung.“ Die Frauen entdeckten im Rahmen der einzelnen Projekte ihre eigene Stärke. Für Frauen, die sich zuvor für schwach und
abhängig hielten, sei das ein entscheidender Wandel, der sich auch auf Familie und Gemeinde auswirke. Sie kritisiert, dass viele Hilfsorganisationen
sich auf die Hauptstadt konzentrieren und die Provinz vernachlässigen. Die
ländlichen Gebiete, wo die Arbeitslosigkeit hoch, die Familien sehr groß
und die Menschen so arm seien, dass sie ihren Kindern nur selten ein Universitätsstudium ermöglichen können, weshalb neue, liberale Gedanken nur
schwer den Weg in die Gemeinschaften finden. Hilfreich bei ihrer Arbeit ist
sicher das konservative Auftreten der 47-Jährigen. Ferial trägt ein Kopftuch
und einen langen, weiten Mantel, ist religiös und begegnet den Forderungen
der westlichen Frauenbewegung mit Skepsis: „Im Westen arbeiten die Frauen sehr viel, aber wir wissen nicht, ob sie das glücklicher macht.“ Leider
finden wir keine Möglichkeit, gemeinsam einige ihrer Zentren zu besuchen,
meine Ausflüge aufs Land mache ich deshalb in Begleitung von Mitarbeitern der GTZ oder allein.
Knapp zwei Stunden nördlich von Amman liegt Irbid. Die Universitätsstadt ist mit 500.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Jordaniens und gilt
als lebendig und liberal. Am Institut für Kunst treffe ich Ghada Baydoun,
die seit 21 Jahren als Assistentin die Studierenden bei der Produktion von
Skulpturen betreut. Ihre Großmutter sei nie in die Schule gegangen, erzählt
die 43-Jährige, ihre Mutter konnte trotz Studium nie einen Job finden. Dass
Frauen arbeiten sei in Irbid heute so normal wie die Gründung einer Familie,
„so wie es jetzt ist, ist es das allerbeste. Männer und Frauen werden gleich
und gut behandelt, die Frauen dürfen über ihr Leben entscheiden, lernen und
arbeiten.“ Das Leben ihrer Mutter und Großmutter sei sehr schwierig gewesen, sagt sie, vollkommen kontrolliert von Männern und nie selbstbestimmt.
Doch die neuen Entwicklungen beobachtet sie auch mit Sorge. Sie habe
nichts gegen professionelle Zusammenarbeit, beteuert sie. Aber dass Männer
und Frauen ohne Trauschein gemeinsam in ein Restaurant gehen, Mädchen
und Jungen in der Universität zusammensitzen und sich dabei auch berühren, das lehnt sie ab. „Ich will keine westlichen Zustände, die traditionellen,
moralischen Werte müssen bewahrt werden.“ Kollege Mahmoud Khaled
nickt zustimmend. Er sitzt rauchend gegenüber auf einem der Sofas in dem
kleinen Raum, der direkt an den belebten Zeichensaal anschließt. Dozenten
und Studenten lassen sich hier in lockerer Runde für einen Plausch und einen Kaffee nieder. Die größte Gefahr sieht er im Internet, vor dessen unmo-
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Jordanien
Nadia Leihs
ralischen Seiten vor allem die jungen Mädchen beschützt werden müssten.
Der 32-Jährige wird demnächst heiraten, seine elf Jahre jüngere Braut hat er
an der Universität kennengelernt, ihre Familien sind schon lange miteinander bekannt. Wenn seine künftige Ehefrau nach der Hochzeit arbeiten wolle, habe er nichts dagegen, „solange sie für mich, das Haus und die Kinder
sorgen kann.“ Dass seine künftige Frau deutlich jünger ist als er, findet er
sehr vernünftig, „der Altersunterschied ist sehr wichtig, weil ihr Leben anders ist und sie durch die Schwangerschaften schneller altern wird.“ Trotz
seiner traditionellen Ansichten beugt sich Mahmoud dem Trend zur Geburtenplanung: Die wirtschaftliche Lage erlaube höchstens vier Kinder, wenn
man ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen wolle.
Die pure Not brachte Huda al-Damiri in eine der Tabakfabriken der Industriestadt Zarqa, im Norden Ammans. Ihr Mann, ein Maurer, konnte wegen
seines Übergewichts nicht mehr arbeiten, die Familie hielt sich mit Mikrokrediten über Wasser, die eigentlich als Anschubfinanzierung eines Kleinunternehmens gedacht waren. Die Schulden drückten immer stärker, eine
Gefängnisstrafe drohte, schließlich suchte die fünffache Mutter im einzigen
Frauenzentrum der Stadt Hilfe. Im 2006 gegründeten Bushra-Zentrum wurde sie zunächst über ihre Rechte aufgeklärt, weitergebildet und dann in einen Job vermittelt, den sie über zwei Monate vor ihrem Mann verheimlichte. Jetzt verpacken sie, ihre einzige Tochter und einer ihrer Söhne in einem
zweigeschossigen Bau mit rund 70 anderen Frauen Tabak für Wasserpfeifen. Aus großen Plastikschüsseln greifen die Frauen, die alle ihre Haare mit
Kopftüchern bedecken und sich zum Großteil nicht fotografieren lassen wollen, in die grün oder rot gefärbte Tabakmasse, wiegen sie ab und wickeln sie
mit Plastikfolie in kleine Pakete, die dann weiterverpackt werden. Der Raum
ist gefüllt vom drückend süßen Geruch der Apfel- und Erdbeeraromen. Dieser Geruch, der nach einiger Zeit den Geruchssinn völlig betäubt und sich
hartnäckig in der Kleidung festsetzt, war es, der sie bei ihrem Mann verriet.
Huda ist sicher, dass er ihr die Arbeit verboten hätte, hätte sie ihn von Anfang an in ihre Pläne eingeweiht. Ihrer Tochter Mona verbot der sture Vater
nach dem Studium die Arbeit als Erzieherin. Doch weil nach anderthalb Jahren Arbeit sämtliche Kredite fast abbezahlt sind, dürfen die Frauen weiter
täglich in die kleine Fabrik kommen. Unterstützung können sie aber nicht erwarten, erzählt die 47-Jährige. Kommt sie abends erschöpft nach Hause, bekomme sie keinen Dank, sondern ein „Beklag dich nicht, du wolltest es doch
nicht anders“ zu hören. Ihr Traum, ein eigener Kindergarten, den sie mit ihrer 24-jährigen Tochter eröffnen will, liegt noch in weiter Ferne.
Für Jihan Marja, die Gründerin des Bushra-Zentrums in Zarqa, ist das
keine ungewöhnliche Geschichte. Die studierte Sonderschulpädagogin arbeitete nach dem Studium zunächst für ein internationales AIDS-Projekt.
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Nadia Leihs
Jordanien
Als die Mittel ausliefen, gründete sie mit eigenem Geld das Frauenzentrum.
Der Bedarf sei groß, sagt sie, aber die ausländischen Hilfsorganisationen
konzentrierten sich noch immer auf die Hauptstadt. Gesundheitsaufklärung,
politische Bildung, Alphabetisierung und immer wieder Kampagnen gegen
häusliche Gewalt stehen auf dem Programm, daneben sammelt das Zentrum Spenden und verteilt sie an besonders arme Familien. Über die Hälfte der Männer leistete zunächst Widerstand gegen Jihan Marjas Arbeit. Sie
lehnen es ab, ihre Ehefrauen oder Töchter zu Workshops gehen zu lassen,
in denen die Frauen unter anderem lernen, Plastikblumen herzustellen oder
Spiegel mit Mosaiken zu verzieren, um damit danach in Heimarbeit zum
Familieneinkommen beitragen zu können. Einer Arbeit außerhalb des Hauses in einer der Tabak- oder Textilfabriken zuzustimmen, ist den Männern
oft gänzlich unvorstellbar. Doch das Bushra-Zentrum hat sich Verbündete
wie den Religionsgelehrten Asad Shawanneh gesucht, der regelmäßig aus
Amman kommt und bei Hausbesuchen Überzeugungsarbeit leistet. Der 40Jährige argumentiert mit Koranversen, wenn er Gewalt gegen Kinder und
Frauen oder außereheliche Beziehungen kritisiert, und überschreitet in den
Gesprächen nie das traditionelle Wertempfinden: „Ich glaube an die Gleichberechtigung. Männer und Frauen haben ihre je eigenen Rechte und Pflichten. Wenn sich jeder daran hält, dann sind sie auch gleichberechtigt.“
Noch weiter im Norden, an den Grenzen zu Syrien und Israel, liegt das
alte Gadara, bekannt seit dem 3. Jahrhundert vor Christi Geburt. Heute liegen die letzten Ruinen der Stadt verlassen zwischen Blumenwiesen, die
letzten Bewohner wurden vor rund zehn Jahren in das neue Dorf Um Quais
umgesiedelt. Im Touristenzentrum in der Mitte der Anlage arbeitet eine
Frau, mit der ich verabredet bin. Andalib verkauft Kleinkunst und Postkarten, ihre Kollegen im daneben liegenden Restaurant sind alle männlich. Ihr
Kleidungsstil ist außergewöhnlich, selbst in der Hauptstadt Amman würde sie so auffallen. Die langen, gelockten Haare fließen über den Rücken,
die Füße stecken in wadenhohen Stiefeln, darüber werden die Beine in einer weißen Wollstrumpfhose sichtbar, bevor sie über dem Knie unter dem
Rock verschwinden. „Andalib ist einzigartig“, bestätigt ihr Bekannter Ibrahim während unserer Diskussion. Der konservative Landwirt, der eigentlich ein studierter Kulturmanager ist, respektiert die 34-jährige, doch mit
ihren Ansichten stimmt er nicht überein. „Ich weiß nicht, ob Schläge in der
Ehe verboten sein sollten“, sagt er und sie verzieht den Mund. Sie streitet
für ihren unbedeckten Kopf, sei an der Universität dafür beleidigt worden
und wird auch im Dorf schwer akzeptiert. Ihrem Sohn hätten Mitschüler
schon gesagt: „Deine Mutter trägt kein Kopftuch und betet nicht. Sie wird
in die Hölle kommen.“ Ehemann Mahmoud wurde vor der Hochzeit nicht
nur einmal gefragt, warum er denn ausgerechnet diese Frau heiraten wol-
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Jordanien
Nadia Leihs
le. Die Anthropologin begann eine wissenschaftliche Arbeit zu den jordanischen Ehrenmorden, konnte sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes aber
nicht abschließen. „In jeder Familie gibt es einen Fall, aber niemand spricht
darüber.“ Auch in Um Quais habe es innerhalb der vergangenen zehn Jahre Ehrenmorde gegeben; ich könne ruhig andere Dorfbewohner danach fragen, sollte aber keine Antwort erwarten. Tatsächlich finde ich am späteren
Abend Gelegenheit, eine Gruppe älterer Frauen zu befragen. Sie wollen erst
nicht so recht heraus mit der Sprache, dann sagt eine: „Ja, aber das war nicht
hier, das war in Irbid.“
Ein Bekannter von Ibrahim nimmt mich mit in sein Haus. Nachdem ich
eine seiner zehn Schwestern und seinen Vater begrüßt habe, lande ich unerwartet in einer Gruppe von etwa 15 Frauen, die im großen Wohnzimmer
ungezwungen auf Polstern sitzen. Es gibt Kaffee und Tee, Orangen und arabische Süßigkeiten. Entlang der Wände liegen Polster, in der Mitte steht der
übliche Gasheizer im Großformat auf dem Teppich. Einige der Mädchen
haben die Kopftücher abgelegt, in der linken Ecke sitzen in Schwarz gehüllt die Alten. Die Unterhaltung ist angeregt und von lautem Lachen unterbrochen, der ausländische Gast wird willkommen geheißen und in der
Mitte platziert. „Wir sind glücklich. Wir sind alt, wir haben unsere Kinder,
wir müssen nicht mehr so viel arbeiten“, antworten mir die drei Schwarzgekleideten auf die Frage, wie sie ihre Lebenssituation einschätzen. Den passenden Ehemann zu finden, benennen die Jüngeren fast einstimmig als ihr
Hauptproblem. Sabah, eine der wenigen ohne Kopftuch, ist 34 Jahre alt und
arbeitet als Stewardess. Die Hoffnung auf eine rauschende Hochzeit hat sie
aufgegeben, „ich bin schon zu alt und habe einen Job, der von den meisten
Männern und ihren Familien nicht akzeptiert wird. So lange ich meinen Job
habe, ist das kein Problem.“ Bevor sie sich mit den anderen auf den Nachhauseweg macht, verschwindet auch ihr schwarzes Haar unter einem dünnen Tuch. Imam und ihre Schwägerin Chulud sind beide verheiratet. Chulud
hat zwei Söhne und wünscht sich eine Tochter, Imam hat sich wegen ihres
Berufs mit ihrem Mann darauf geeinigt, mit Kindern noch zu warten. Neugierigen Verwandten oder Nachbarn erzählt die 29-jährige Lehrerin, dass
das Paar medizinische Probleme habe. Bei ihren Schülerinnen versuche sie
die Basis für das Verständnis von Frauenrechten zu legen, „aber manche
Mädchen wollen so schnell wie möglich heiraten, um aus ihrem Elternhaus
auszuziehen. Dabei ist so eine frühe Heirat ein Fehler, sie sollten ihre Zeit
zum lernen und studieren nutzen.“ Die gleichaltrige Chulud ergänzt: „Viele
Familien wollen unbedingt einen Sohn. Deshalb sind manche Frauen jedes
Jahr schwanger und bekommen zu viele Kinder.“ Die jungen Frauen glauben, dass sich die Situation der Frauen in Um Quais in den vergangenen
Jahrzehnten entscheidend verbessert hat. Zufrieden sind sie trotzdem nicht,
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Nadia Leihs
Jordanien
sondern hoffen auf weiteren sozialen Wandel, der ihren Töchtern mehr Freiraum lassen wird. Die 40-jährige Nuha zum Beispiel, unverheiratet und deshalb älteste Frau im Haus ihres Vaters, träumt von einem eigenen Haus, egal
ob mit oder ohne Ehemann. Ihren Berufswunsch Krankenschwester habe
sie nie erlernen können, weil die dörfliche Gesellschaft das nicht akzeptiert
habe. Nur das von ihrer Mutter geerbte Geld sichert ihren Unterhalt.
Ich besuche an diesem Abend noch zwei weitere Häuser, spreche mit anderen jungen und alten Frauen. Jedes Mal versichern sie, dass die jordanische Gesellschaft sich verändert hat, dass Frauen heute mehr Rechte, gar die
gleichen Rechte wie die Männer hätten. Die Alten verweisen auf die junge
Generation und die Jungen geben sich selbstbewusst. Sie studieren und betrachten einen späteren Job als selbstverständlich, so wie Ehe und Kinder.
Das einzige Problem sei die hohe Arbeitslosigkeit, und die betreffe die Männer doch in gleicher Weise.
Ihre Ignoranz der mir offensichtlich erscheinenden Ungleichbehandlung
irritierte mich. Es war als sähe ich Grenzen, die sie nicht wahrnahmen oder
für irrelevant hielten. Grenzen wie die abendliche Ausgangssperre in den
Studentenwohnheimen für Mädchen, die in den Wohnheimen für Jungen
nicht existiert. Am offensichtlichsten wurde das, als ich in der Nähe von
Kerak, am landschaftlich schönen King’s Highway zwischen Hauptstadt und
Rotem Meer, eine Fraueninitiative in Rakin besuchte.
„Die Frauen haben hier keine Probleme. Einige Männer erlauben ihren
Frauen zwar noch immer nicht, das Haus zu verlassen, aber es gibt sehr viel
weniger Verbote als vor 20 Jahren“, versichert mir Leiterin Sara mehrmals.
Die Society Rakin Women existiert seit 1991, fünf Jahre später übernahm die
Hebamme die Leitung und hat seitdem zahlreiche Projekte in Gang gesetzt.
Dank einer schwedischen Hilfsorganisation gibt es im Zentrum einen Computerraum, die 24-jährige Kindergärtnerin Dina kann hier nach Studium und
Arbeitslosigkeit endlich erste Berufserfahrungen sammeln. Die Arbeitslosigkeit sei das größte Problem für das 6.000-Seelen-Dorf. Deshalb hilft das Zentrum beim Bau von Brunnen und Rankgittern für Wein, bei der Aufstellung
von Bienenstöcken oder der Herstellung von Olivenprodukten und Marmelade und trägt so zu einer Steigerung des Familieneinkommens bei, daneben
gibt es Weiterbildungs- und Aufklärungsangebote. Doch trotz ihres Engagements zur Stärkung der Frauen in ihrem Dorf, lebt Sara ein traditionelles Lebensmodell. Gegen Mittag muss sie das Büro verlassen und nach Hause fahren. Dort wartet ihr Mann, früher beim Militär und jetzt arbeitslos. Obwohl er
Zeit genug hätte, bleibt die Hausarbeit ihre Aufgabe. Das Mittagessen für die
von Schule und Universität kommenden drei Töchter kocht sie.
Emad Hejazeen liebt seinen Beruf, auch wenn der Assistenzprofessor oft
frustriert ist. Der 45-jährige Christ unterrichtet Tourismus an der Universität
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Jordanien
Nadia Leihs
von Kerak. Doch die Mehrheit seiner Studierenden habe eigentlich gar kein
Interesse an seinem Fach, sondern studiere nur bei ihm, weil ihre Abschlussnote für nichts anderes ausgereicht habe. Die meisten Jordanier hätten keinerlei touristische Erfahrungen, manche seiner Studierenden noch nie ein
Hotel von innen gesehen. Entsprechend groß seien die Vorurteile, gerade die
Mädchen hätten nach einem Abschluss kaum Arbeitsmöglichkeiten. Denn
als Touristenführer werden sie nicht akzeptiert, auch in Hotels lassen Väter
ihre Töchter nur ungern arbeiten. Das ist auch das Ergebnis seiner 2007 auf
Englisch veröffentlichten Doktorarbeit. Das jordanische Tourismusministerium hat das Problem bereits erkannt, mit Hilfe von internationalen Organisationen gibt es in einigen Teilen des Landes Informationsveranstaltungen
und Führungen durch Hotels oder Kunsthandwerksläden. Dabei seien die
Mädchen durchweg aktiver im Unterricht und hätten deutlich bessere Noten, so Emads Erfahrung. „Die sitzen eben abends im Wohnheim und lernen,
während die Jungs sich draußen treffen, essen gehen und Wasserpfeife rauchen.“ Das eigentliche Problem beginne jedoch schon viel früher, kritisiert
er das jordanische Bildungssystem. Weil Jungen und Mädchen während der
Pubertät getrennt unterrichtet werden, könnten sie sich nicht vorstellen, dass
Männer und Frauen miteinander arbeiten können „ohne, dass etwas passiert.
Die haben dann richtig Hunger aufeinander.“ Er versucht seine Studierenden, die getrennt nach Geschlechtern in seiner Vorlesung sitzen, zur Kooperation zu bewegen und regelmäßig Diskussionen quer durch den Raum
und über die Geschlechtergrenzen hinweg zu initiieren. „Die neuen Frauen
werden in ihren Familien für die Rechte der Frauen eintreten, weil sie gesehen haben, dass die Männer nicht besser sind als sie selbst. Und die Männer
werden hoffentlich auch ihre Meinung ändern und Frauen mit steigendem
Respekt behandeln.“
Knapp 40 Studierende sitzen im Seminarraum im ersten Stock, vorne die
Mädchen, die meisten mit Kopftuch, hinten die Jungen. Nachdem ich zu
Unterrichtszwecken von meinen eigenen Erfahrungen als Touristin in Jordanien berichtet habe, darf ich ihnen Fragen stellen. An der Diskussion beteiligen sich zunächst vor allem die Mädchen, erst als sie harsche Kritik an
der allgemeinen gesellschaftlichen Einstellung üben und von ihren Berufswünschen erzählen, melden sich auch einige der jungen Männer zu Wort.
Nur wenige der Mädchen wollen den Beruf ergreifen, von dem die Mehrheit
der Gesellschaft glaubt, dass sie dafür nicht geeignet sind: Reiseführerin.
Ein Beruf, der im benachbarten Ägypten mit großer Selbstverständlichkeit
von vielen jungen Frauen ausgeübt wird. „Meine Großeltern haben gesagt,
dass sei ein zu harter Job für eine Frau. Ständig unterwegs, keine Zeit für
die Kinder, verschiedene Sprachen, die man können muss. Aber ich will das
nicht akzeptieren, ich will eine Vermittlerin zwischen unserem Land und
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Nadia Leihs
Jordanien
den Touristen sein“, sagt Nur. Doch die meisten der jungen Frauen haben
Angst vor dem Gerede der Leute, das unvermeidlich wäre, wenn sie allein
reisen und die Nacht außerhalb ihres Hauses verbringen würden. „Dann gilt
sie ganz schnell als leichtes Mädchen“, stimmt Yusif seinen Kommilitoninnen zu. Als allerdings Ali die Hand hebt und sagt „Frauen sind nicht in der
Lage, die Verantwortung in kritischen Situationen zu übernehmen. Männer
haben damit viel mehr Erfahrung, weil sie häufiger außer Haus sind“, protestieren nicht nur die Mädchen. „Es macht doch keinen Sinn, dass die Mädchen Tourismus studieren, wenn sie dann nicht in diesem Feld arbeiten dürfen. Wir brauchen auch weibliche Guides“, widerspricht Mohammed. Dabei
erweist sich die Religion selbst manchmal als Stolperstein für die Mädchen.
„Ich würde eigentlich gern Stewardess werden“, erzählt Sali, „aber das geht
nicht, weil ich dafür mein Kopftuch abnehmen müsste.“
Eine Stunde weiter gen Süden treffe ich Maha al Obedyeen. Sie ist Leiterin einer Schule für besonders begabte Kinder in Tafileh und nimmt mich
mit zu einer der Frauen, die seit 2007 dank einer neu eingeführten Quotenregelung im kommunalen Parlament sitzen. Wir treffen uns im Hinterzimmer
der Apotheke, die Jihan Samha seit zehn Jahren betreibt. Obwohl wir unter uns sind, verbietet mir Maha dort das Rauchen, denn es schickt sich für
Frauen nicht, in der Öffentlichkeit zu rauchen, und Kunden könnten mich
sehen. Auch dass ich später allein auf den Bus warte, der mich zurück nach
Kerak bringt, lässt sie nicht zu. Maha und Jihan sind unverheiratet und engagieren sich seit Jahren für die Frauen ihrer kleinen Stadt. Jihan arbeitete in
einem staatlichen Gesundheitszentrum, bevor sie vor zehn Jahren ihre stark
frequentierte Apotheke eröffnete. Die Bewohner hätten sie durch diese Arbeit bereits gekannt, deshalb sei sie schnell auch als Selbstständige akzeptiert worden, erzählt sie, als sie für einige Minuten den Verkaufsraum verlassen kann. Auch sie betont, wie wichtig die Unterstützung ihrer Familie war.
Während ich mich mit Maha al Obedyeen und Hanan, die der Apotheke gerade einen Besuch abstattet, weiter unterhalte, pendelt sie zwischen uns und
ihren Kunden hin und her. Über ihre Arbeit im Parlament sagt sie: „Anfangs
wurden alle meine Ideen abgelehnt.“ Mittlerweile hat sie ihre männlichen
Kollegen davon überzeugt, dass sie nicht für ihren eigenen Vorteil arbeitet,
sondern für die Gemeinde. Das erste große Projekt, das sie durchsetzen will,
ist ein öffentlicher Treffpunkt für Frauen, „der Kontakt zwischen den Frauen
hier ist nicht sehr gut, weil sie alle sehr beschäftigt sind.“ Doch deren Leistungen im Beruf und für die Familie würden nicht gewürdigt, sondern stattdessen Männer regelmäßig bevorzugt behandelt. Hanan, die jahrelang das
Labor einer Schule betreute, nickt heftig dazu. Die 40-Jährige ist in Frührente gegangen, weil sie ihr Arbeitsumfeld nicht mehr ertragen konnte, „erfolgreiche Frauen werden gefürchtet und oft auch verleumdet. Aber wenn Män-
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Jordanien
Nadia Leihs
ner trotz schlechterer Qualifikation ständig bevorzugt werden, dann kann
man sich nicht beklagen, denn der Chef ist ja Teil des Problems.“
Schuldirektorin Maha betreibt gemeinsam mit ihrer Mutter den einzigen Kindergarten in Tafileh, der zum Teil auch als Treffpunkt von Frauen
genutzt wird. Dabei hat sie die Erfahrung gemacht, dass „neue Ideen die
Frauen auch in Schwierigkeiten bringen, weil sie sich immer erst mit ihrem
Ehemann darüber auseinandersetzen müssen und ihre Verhandlungsposition
dabei immer die schwächere ist. Er kann sich schließlich einfach eine neue
Ehefrau suchen und sie mit den Kindern und ohne Geld zurücklassen.“ Die
49-Jährige hat neun Schwestern und zwei Brüder. Der Jüngste leidet am
Down-Syndrom, „meine Mutter wollte immer Söhne. Alle haben ihr gesagt,
sie soll aufhören. Aber sie ist immer wieder schwanger geworden, und das ist
das Ergebnis.“ Sie klingt bitter, nicht ohne Grund. Denn die Versorgung des
jüngsten Sohnes musste sie übernehmen, als ihre Mutter sich von dem behinderten Kind abwandte. Maha ist eine durchsetzungsfähige, kritische Frau
und auf den Straßen die einzige ohne Kopftuch. Einen Heiratsantrag habe
sie nie bekommen, erzählt sie. Ob das am fehlenden Kopftuch liegt oder an
ihrer starken Art, kann sie nicht sagen. Ihre Freunde würden oft sagen: „Es
ist alles in Ordnung mit Dir, aber bitte bedecke Dich doch endlich.“
„Ich habe nie ein Kopftuch getragen. Aber heute tragen ja alle eins. Und
wer bin ich, dass ich dann die Einzige ohne Tuch wäre?“, Hujan al-Kadi hat
sich dem Trend des Bedeckens vor etwa einem Jahr angepasst. Ich treffe
die 43-Jährige in der staatlichen Wasserbehörde des Jordantals, vor sich einen Aschenbecher, dessen Inhalt eindeutig Spuren ihres Lippenstifts trägt.
Sie verwaltet die Wasserrechnungen für die Landwirte, die Wasser nur nach
einem strengen Plan erhalten; in ihrem Büro sitzt sie mit Männern zusammen, regelmäßig kommen Bauern mit Fragen vorbei. Ehemann und Söhne
sind regional erfolgreiche Musiker klassischer arabischer Musik, sie selbst
hat eine Fraueninitiative gegründet. Ihr Verein Rural Women betreibt unter anderem eine kleine Fabrik, in der frisches Gemüse für den Export sortiert wird. Sie bringt der Initiative nicht nur Geld, sondern bietet auch eine
Arbeitsmöglichkeit für die jungen Mädchen von Der Alla. In den eigenen
Gewächshäusern kultiviert Hujan mit Hilfe eines ägyptischen Arbeiters
Gurken, Paprika und Zucchini, draußen sind die Beete gerade vorbereitet,
dazwischen wachsen Palmen für den Verkauf. Beim Gang entlang der stark
befahrenen Landstraße, unterwegs von ihrem Haus zur Sortieranlage, sehen
wir ein Auto, völlig überfüllt mit einem Fahrer und sechs Frauen, die bis auf
die Augen komplett in bunte Tücher verhüllt sind. „Das sind Landarbeiterinnen. Die fahren gerade raus aufs Feld“, erklärt Hujan. Und angesichts der
bereits im März erbarmungslos brennenden Sonne habe ich in diesem Fall
volles Verständnis für das Verhüllen von Kopf und Gesicht.
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Iryna Rosowyk
aus der Ukraine
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
vom 1. September bis 30. Dezember 2007
357
Nordrhein-Westfalen
Iryna Rosowyk
Deutschland ist für mich so bekannt
und gleichzeitig geheimnisvoll.
Von Iryna Rosowyk
Nordrhein-Westfalen, vom 1. September bis 30. Dezember 2007
359
Nordrhein-Westfalen
Iryna Rosowyk
Inhalt
1. Zur Person
362
2. Sprachkurs im Goethe-Institut
363
3. Studienfahrt nach Berlin
364
4. Praktikum bei der Deutsche Welle
366
5. Zum geplanten Recherche-Thema
367
5. Danksagung
369
361
Iryna Rosowyk
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Mein Name ist Iryna Rosowyk und ich komme aus der Ukraine. Als junge Journalistin wollte ich journalistische Berufserfahrungen in Deutschland
sammeln, um diese Fähigkeiten bei meiner weiteren Tätigkeit in der Ukraine einbringen zu können. Ich interessiere mich schon lange für die deutsche
Kultur, nun bekam ich die Möglichkeit, das Land und seine Menschen persönlich kennen zu lernen.
Ich bin 23 Jahre alt und habe schon eine sechsjährige Arbeitserfahrung
im journalistischen Bereich, da es in der Ukraine üblich ist, dass man schon
während des Studiums Berufserfahrungen sammelt. Ich arbeitete in einer
Zeitung und bei einer Zeitschrift, war im Rundfunk tätig und absolvierte ein
Praktikum als Drehbuchautorin beim Fernsehen. Vier Jahre war ich als Journalistin und Redakteurin in der Internet-Ausgabe der internationalen gesellschaftlichen Organisation, die die Unterstützung unabhängiger Fernseh- und
Rundfunkstationen bezweckt, tätig. Und zurzeit arbeite ich als stellvertretende Chefredakteurin einer Zeitschrift für Frauen.
Natürlich interessiere ich mich für politisches, gesellschaftliches und kulturelles Leben in meinem Land; als eine bewusste Bürgerin möchte ich teilhaben an der demokratischen Entwicklung. Deshalb ist es mein Bestreben,
meine Berufserfahrungen für eine nutzbringende Arbeit in der Informationsbranche der Ukraine einzubringen.
Im Januar des Jahres 2007 erwarb ich das Magisterdiplom in Journalistik. Das Thema meiner Magisterarbeit lautete: „Poetisches Hörspiel: Erfahrungen der Künstler von Deutschland, Österreich, der Schweiz in der Projektion auf die moderne inländische Rundfunkdramaturgie.“ Ich möchte
diese Frage weiter studieren. Ich bin der Meinung, dass die Erfahrungen
des deutschen Rundfunkdramas für die ukrainische Rundfunkkunst äußerst
nützlich wären.
Deshalb war ich grenzenlos glücklich, das Stipendium der Heinz-KühnStiftung bekommen zu haben.
Ich war überzeugt, dass die Heinz-Kühn-Stiftung bedeutende gesammelte Erfahrungen mit der Ausbildung von ausländischen Journalisten, sowie
ein gutes Programm für deren Weiterbildung hat. So habe ich mich auf die
Sachkenntnis der Stiftung verlassen und war für alle Angebote bezüglich
des Studiums und der Forschungsdurchführung offen. Und ich muss sagen,
dass ich nicht enttäuscht wurde. Im Gegenteil: Ich war sehr überrascht, dass
man alles so ausgezeichnet organisieren kann.
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Nordrhein-Westfalen
Iryna Rosowyk
2. Sprachkurs im Goethe-Institut
Vor meiner Reise nach Deutschland habe ich die deutsche Sprache zwei
Jahre intensiv studiert, so hatte ich Basiskenntnisse. Meiner Ansicht nach
waren meine Kenntnisse jedoch in der Sprachumgebung zu verbessern. Ich
wollte diese Gelegenheit gerne nutzen.
Deshalb war ich sehr froh, dass ich den Sprachkurs im Goethe-Institut
in Bonn während der Monate September und Oktober gemacht habe. Diese zwei Monate waren wirklich wunderschön. Ich habe viele Studenten aus
verschiedenen Ländern kennen gelernt. Ich korrespondiere und chatte mit
ihnen jetzt sehr gern. Sie sind wirkliche Freunde von mir geworden.
Das Studium im Goethe-Institut finde ich sehr gut. Während dieser zwei
Monate hatte ich zwei Lehrer. Sie haben auf verschiedene Weise unterrichtet, aber jede Art des Lehrens fand ich toll. Der erste Lehrer hat ziemlich
langsam und deutlich gesprochen, aber er hat viele Hausaufgaben gegeben,
wenn man etwas Kreatives schreiben wollte.
Mit der zweiten Lehrerin haben wir sehr viel gesprochen. Ich habe sogar
zweimal Referate vorbereitet und sie dann gemeinsam mit meinen Kursteilnehmern vorgestellt. Man musste dazu viel vorbereiten, und das finde ich
sehr effektiv. Im Oktober hatte ich das Gefühl, dass ich ein bisschen müde
von Deutsch bin. Meine Lehrerin hat mir erklärt, dass das typisch für die
Studenten ist, die so intensiv die fremde Sprache lernen.
Die Lehrer des Goethe-Instituts finde ich sehr hilfsbereit. Sie haben mir
viele nützliche Ratschläge gegeben, wie ich meine Sprachkenntnisse verbessern kann. Zuerst habe ich regelmäßig und aktiv am Unterricht teilgenommen und außerhalb des Klassenzimmers Deutsch gesprochen. Ich habe
auch täglich ein bis zwei Stunden außerhalb des Unterrichts Deutsch gelernt, wobei ich das einsprachige Wörterbuch benutzte.
Dann entschied ich mich dazu, mit meiner Mitstipendiatin aus der Ukraine so oft auf Deutsch zu sprechen, wie es möglich ist. Das war wirklich
schwierig, aber in jedem Fall sehr effektiv. Zusammen haben wir die Stadt
und die Region näher kennen gelernt. In meinem Handy und in meiner Fotokamera habe ich die deutsche Sprache eingestellt. Und in Museen habe ich
immer deutschsprachige Führungen und Audiophone genommen. Ich habe
auch sehr gern Filme auf Deutsch gesehen. Erstens finde ich das sehr effektiv für meine deutsche Sprache, zweitens bin ich im Allgemeinen für deutsches Kino begeistert. Mir hat auch der Unterricht sehr gut gefallen, wenn
wir etwas über die deutsche Presse durchgenommen haben.
Das Kulturprogramm des Goethe-Instituts war auch sehr interessant und
spannend. Im September haben wir die Führung in Bad Godesberg und den
Ausflug zur Burg Drachenfels gemacht. Mit meinen Kursteilnehmern sind
363
Iryna Rosowyk
Nordrhein-Westfalen
wir auch nach Köln und Trier gefahren. Mit meiner Mitstipendiatin aus der
Ukraine habe ich auch Mannheim, Heidelberg, München und Füssen besucht. Wir sind oft ins Kino gegangen, haben auch verschiedene Museen
und Sehenswürdigkeiten in Bonn besucht. Im Oktober sind wir nach Nürnberg, Stuttgart, Bremen und Hannover gefahren. In Frankfurt am Main haben wir die Buchmesse besucht.
Aber das wichtigste finde ich, dass sich die Studenten und die Lehrer
sehr viel und oft unterhalten haben. Wir konnten etwas von unserer eigenen
Kultur zeigen und gleichzeitig andere verschiedene Kulturen kennen lernen.
Jetzt kann ich sagen, dass die Welt zu kennen nicht nur bedeutet, eine Karte
im Kopf zu haben, sondern man lernt die verschiedenen Kulturen besser zu
verstehen, wenn man die Menschen kennen lernt. Und diese Möglichkeit hat
uns das Goethe-Institut gegeben.
3. Studienfahrt nach Berlin
Vom 27. Oktober bis zum 1. November 2007 habe ich mit meinen Mitstipendiatinnen der Heinz-Kühn-Stiftung, Anastasiya Khonyakina, Cristiane Teixeira, Ameyo Yevoo und Itzel Zuniga eine Reise nach Berlin untergenommen. Frau Ute Maria Kilian war unsere Leiterin und hat für uns ein sehr
interessantes Kulturprogramm organisiert.
Am 28. Oktober haben wir zusammen die Alte Nationalgalerie besucht.
Die Alte Nationalgalerie beherbergt heute Gemälde und Skulpturen des 19.
Jahrhunderts. Sie gilt als umfangreiche Epochensammlung für die Kunst
zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, zwischen Klassizismus und Sezessionen. Sie bildet nun zusammen mit dem Alten Museum, dem Bode-Museum, dem Neuen Museum und dem Pergamonmuseum das Ensemble der Museumsinsel Berlin, die 1999 in die Liste des
UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen wurde, und zählt zu den strahlenden Höhepunkten der europäischen Museumslandschaft. Für mich persönlich war die Ausstellung impressionistischer Malerei sehr interessant und
wichtig. Ich habe dort die Meisterwerke von Edouard Manet, Claude Monet, Auguste Renoir, Edgar Degas, Paul Cézanne und Skulpturen von Auguste Rodin gesehen.
Anschließend nahmen wir ein so genanntes Wassertaxi und machten eine
kleine Reise auf dem Fluss im Berliner Zentrum.
Am 29. Oktober gingen wir ins Jüdische Museum. Das Gebäude des Museums ist wirklich groß und interessant. Die Ausstellung des Museums erzählt über die mehr als 2.000 Jahre der deutsch-jüdischen Geschichte. Sie
ist inzwischen in 15 Teile gegliedert. Es ist fast unmöglich, während eines
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Nordrhein-Westfalen
Iryna Rosowyk
Tages alle diese Räume zu sehen. Ich habe nur die Teile besucht, die das 20.
Jahrhundert charakterisieren. Sie heißen „Deutsche Juden – jüdische Deutsche“, „Verfolgung – Widerstand – Vernichtung“, „Die Gegenwart“ und „So
einfach war das (nicht)“.
Da ich früher für eine Internet-Ausgabe gearbeitet habe, ist für mich die
Arbeit in diesen Medien in Deutschland besonders interessant. Deshalb
wollte ich gerne die Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften besuchen.
So war es gut, dass wir einen Termin beim Axel-Springer-Verlagshaus hatten. Nach dem Museumsbesuch haben wir uns mit Steffen Range, einem
Journalisten der „Welt am Sonntag“, getroffen. Die „Welt“ entsteht jetzt im
größten integrierten Newsroom, der die Arbeit folgender Medien kontrolliert – „die Welt“, „Welt Kompakt“, „Welt.de“, „Mobile.Welt.de“, „Welt.
TV Online“, „Welt am Sonntag“, „Berliner Morgenpost“ und „Morgenpost.
de“. Das bedeutet, dass Redakteure für Zeitung, Internet und Fernsehen zusammen arbeiten. Vorbilder für eine Integration von Print, Online und Fernsehen gibt es in Deutschland kaum, dafür viele in Skandinavien und den
USA. Grund für den Trend sind die rasant wachsenden Werbeinvestitionen
im Web. Steffen Range hat uns diesen Newsroom gezeigt und über seinen
Arbeitsprozess gern erzählt.
Am 30. Oktober besuchten wir die Deutsche Welle TV. Es war für mich
sehr interessant, sich mit dem deutschen Fernsehen vertraut zu machen. Ich
habe nicht so große Erfahrungen in diesem Bereich. Bei meiner Arbeit hatte ich jedoch gelegentlich mit Fernsehsujets zu tun. Somit bin ich mit deren
Besonderheiten, der Struktur und der Bedeutung von Visualelementen vertraut. Die wichtigsten Zielgruppen für Deutsche Welle TV sind die Multiplikatoren im Ausland mit Interesse an Deutschland und Europa. Deutsche
Welle TV ist ein informationsorientiertes Programm, es ist 24 Stunden via
Satellit weltweit präsent – im stündlichen Wechsel auf Deutsch und Englisch, in Amerika auch zwei Stunden auf Spanisch. Hinzu kommt seit Mitte 2002 das Programmfenster Arabisch. Deutsche Welle TV kann in mehr
als 210 Millionen Haushalten direkt empfangen werden. Hunderte Partnersender übernehmen es – ganz oder in Teilen. Unser Ansprechpartner, Herr
Meinhardt, hat uns darüber erzählt und den Arbeitsprozess gezeigt.
Nach dem Termin besichtigten wir das Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Nachmittags schauten wir uns auch die
Hackesche Höfe an.
Am 31. Oktober sind wir zum Reichstag gefahren. Der Reichstag gehört
zu den markantesten und interessantesten Sehenswürdigkeiten von Berlin.
Er gilt mit seiner begehbaren Glaskuppel als ein Symbol für die Symbiose aus Geschichte und Gegenwart. Die Aussicht durch die gläserne Kuppel
über Berlin ist sehr beeindruckend. Später unternahmen wir einen Spazier-
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Iryna Rosowyk
Nordrhein-Westfalen
gang zum Brandenburger Tor und promenierten Unter den Linden. Anschließend besuchten wir das Hotel Adlon. Dieses Hotel ist eines der luxuriösesten und bekanntesten Hotels in Deutschland. Dort sahen wir die Ausstellung
zum 100. Geburtstag des Hotels. An den Abenden probierten wir afrikanische, brasilianische, mexikanische und ukrainische Küche in den jeweiligen
Restaurants, die wir selber aussuchten. Das war auch eine gute Gelegenheit,
etwas über der Heimatländer der anderen Mitstipendiatinnen zu erfahren.
Am nächsten Tag ist unsere Gruppe zurück nach Nordrhein-Westfalen gefahren. Aber meine Mitstipendiatin aus der Ukraine und ich haben uns entschieden, noch ein paar Tage in Ost-Deutschland zu bleiben und verschiedene Städte zu besuchen. Wir sind nach Frankfurt an der Oder, Fürstenwalde
und Potsdam gefahren.
Wir hatten auch Zeit, um Dresden und Leipzig zu besuchen. Und wir haben diese Möglichkeit gern genutzt. Jetzt kann ich sagen, dass ich fast ganz
Deutschland kennen gelernt habe. Dieses Land ist für mich so bekannt und
gleichzeitig geheimnisvoll.
4. Praktikum bei der Deutsche Welle
Da meine Spezialisierung eben Rundfunk ist, wollte ich in einer Rundfunkgesellschaft, z.B. Deutsche Welle, ein Praktikum absolvieren. Es war
sehr interessant, sich mit der Arbeit des ukrainischen Rundfunkdienstes vertraut zu machen und mit diesem künftig zusammenzuarbeiten.
Die Deutsche Welle ist der Auslandsrundfunk Deutschlands, der
„Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat verständlich machen soll“. Die Deutsche Welle erfüllt diesen Auftrag mit einem trimedialen Angebot: Deutsche Welle Radio in 30 Sprachen (Deutsch und Englisch rund um die Uhr),
Deutsche Welle TV auf Deutsch und Englisch, Arabisch und Spanisch,
DW-World.De – das 30-sprachige Internet-Angebot, mit zahlreichen zusätzlichen Info-Portalen und Serviceseiten. Die Deutsche Welle betreibt
die DW-Akademie, wo Rundfunkfachkräfte aus Entwicklungs- und Transformationsländern fortgebildet werden. Die Deutsche Welle stützt sich auf
ein Team von rund 1.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus mehr als
60 Ländern.
Das ukrainische Programm der Deutschen Welle ist im März 2000 gestartet worden. Der ukrainische Dienst der Deutschen Welle macht die Sendungen, die jeden Tag während einer halben Stunde gesendet werden. Es geht
dort um politisches, gesellschaftliches und kulturelles Leben der Ukraine
und der Welt.
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Nordrhein-Westfalen
Iryna Rosowyk
Bei der Deutschen Welle habe ich im November und Dezember eine gute
Praktikumserfahrung als Redakteurin des Nachrichtenteams und als Journalistin gemacht. Ich muss sagen, dass meine Kollegen sich immer für meine Ideen interessierten und dazu bereitet waren, sie umzusetzen. Zu meinen
täglichen Pflichten gehörte das Redigieren der Nachrichten und verschiedener Texte; die Übersetzung der Nachrichten aus deutscher, englischer und
russischer Sprache auf ukrainisch; die Aktualisierung der Web-Seite, Themenrecherche, Interviews per Telefon, sowie die Vorbereitungen und die
Durchführung der Rundfunkprogramme. Gleichzeitig konnte ich meine
journalistischen Kenntnisse durch die Teilnahme an einer ASW-Schulung
erweitern, und ich lernte, Informationen durch verschiedene Quellen zu recherchieren. Außerdem schulte ich durch regelmäßige Aufnahmen meine
Radiostimme. Da ich viele verschiedene Berichte zu unterschiedlichen Themen verfasste, habe ich nun einen guten Überblick.
Am 28. November sind wir auch zum jährlichen Stiftungsfest der HeinzKühn-Stiftung nach Düsseldorf gefahren. Dort wurden Bilder und Filme
von den Stipendiaten und Stipendiatinnen der Heinz-Kühn-Stiftung vorgestellt. Wir lernten auch einige Mitglieder des Kuratoriums der Heinz-KühnStiftung kennen. Daneben gab es auch Zeit, um andere Stipendiaten kennen
zu lernen und sich mit ihnen zu unterhalten.
Während des Praktikums haben wir auch noch eine weitere Reise nach
Berlin auf Einladung des Auswärtigen Amtes und des Goethe-Instituts Berlin gemacht. Das Programm für den Informationsbesuch hat vom 5. Dezember bis 8. Dezember gedauert. Wir haben das Presse- und Informationsamt
der Bundesregierung, das Auswärtige Amt, die Friedrich-Ebert-Stiftung und
die Konrad-Adenauer-Stiftung besucht. Wir haben auch an der Bundespressekonferenz ohne Fragerecht teilgenommen. Zum Schluss hatten wir eine
Führung durch das Reichstaggebäude.
5. Zum geplanten Recherche-Thema
Vor allem möchte ich sagen, dass ich mich für Rundfunkdrama interessiere. Ich erforschte dieses Thema während meines Studiums an der Universität. Und meine Magisterarbeit war dem poetischen Rundfunkdrama in
deutschsprachigen Ländern gewidmet.
In meinem Land befindet sich das Rundfunkdrama leider noch in der Wiedergeburtsphase, weil es bis jetzt verfolgt und verboten wurde. Das deutsche
Rundfunkdrama – das ist eine bis zum Ideal gebrachte Idee. Das sind beste
Muster der Weltrundfunkdramaturgie. Somit verdienen sie es, dass sie in der
Ukraine bekannt gemacht werden.
367
Iryna Rosowyk
Nordrhein-Westfalen
Außerdem ist das Schicksal des besten Hörspieles und der besten Rundfunkdramatiker in unseren Ländern ähnlich: totalitäre Systeme zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts erdrückten die schöpferischen Anstrengungen
der Autoren. Sie wurden vom Regime unterdrückt und bekämpft. Viele kamen ums Leben oder emigrierten in die Ferne. Auch wenn das deutschsprachige Drama nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schnell wieder
aufzuleben begann, so befindet sich das ukrainische Drama bis jetzt noch
am Anfang seiner Wiedergeburt. Die Nationale Rundfunkgesellschaft der
Ukraine schrieb erstmals in diesem Jahr einen Wettbewerb für originelle
Rundfunkdramen aus. In Deutschland dagegen werden viele Wettbewerbe
jährlich durchgeführt, was von der Entwicklung der rundfunkdramatischen
Kunst zeugt.
Ich möchte auch an der Wiedergeburt des Rundfunkdramas in der Ukraine teilnehmen. Ich habe schon bestimmte praktische Konzepte in diesem
Bereich erarbeitet. Erstens bin ich Autorin von zwei originellen Rundfunkdramen, die nach der poetischen Manier deutscher Rundfunkdramatiker geschrieben sind. Eine davon wurde im Nationalen Rundfunk der Ukraine gesendet. Zweitens nahm ich mit der Gruppe von initiativen Studenten und
Hochschullehrern an der Bildung der ersten inländischen Web-Ressource
für studentische Rundfunkdramen teil. Diese Site ist dazu berufen, ein Startplatz für junge talentierte Rundfunkdramatiker zu sein. Und ich hoffe aufrichtig, dass es so sein wird.
Für die genaue Kenntnis der Inhalte der von deutschen Dramatikern geschriebenen Werke, sowie für die Befriedigung meiner wissenschaftlichen
und journalistischen Interessen, ist es wichtig, die deutsche Sprache gut zu
beherrschen. Deshalb nutzte ich die ersten Monate meines Aufenthaltes in
Deutschland zum intensiven Sprachstudium und zur Kommunikation mit
den Menschen, die hier leben.
In Deutschland gibt es eine lange und gute Tradition des künstlerischen
Rundfunks. Die Rundfunkgesellschaften haben spezielle Redaktionen, welche die Hörspiele nach den klassischen und modernen Rundfunkstücken
vorbereiten. Ich wollte mich mit diesem schöpferischen Prozess vertraut
machen: von der Auswahl des originellen Rundfunkdramas im Wettbewerb
bis zu dessen Aufführung und Sendung.
Außerdem interessiere ich mich für das Verfahren bei der Durchführung
von Wettbewerben für Rundfunkdramen. Von welchen ästhetischen Kriterien lässt sich die Kommission bei der Auswahl der besten Werke leiten, welche Genres, Themen, Ideenausrichtungen werden bevorzugt. Solche Wettbewerbe werden unter anderem in Düsseldorf, München, Baden-Baden,
Leipzig, Berlin, Köln durchgeführt.
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Nordrhein-Westfalen
Iryna Rosowyk
Meiner Meinung nach würden diese Erfahrungen in der Ukraine äußerst
nützlich sein, weil das Rundfunkdrama nicht nur eine Kunst ist. Es kann
auch die Wirklichkeit modellieren und dadurch eine prognostische Funktion
erfüllen. Es offenbart die Mängel der Gesellschaft, damit sie korrigiert werden können, was auch zu den Aufgaben der Journalistik gehört. Es macht
das jedoch in bildlicherer Form und manchmal effektiver. Es kann auch soziale Lücken ausfüllen, die für andere Massenmedien unerreichbar sind.
Außerdem wird die Rundfunkkunst die Journalistik mit den bildlichen
Mitteln, Kompositionsverfahren, Inhalt und Ideenausrichtung bereichern.
Das ist für den Journalistennachwuchs sehr wichtig, der nach eigener Entwicklung, sowie nach dem Erwerb der Berufsfertigkeit strebt, der seinen Stil
erarbeiten will und ein echter Meister seiner Sache werden will.
Mit der Hilfe von meinen Kollegen habe ich wichtige Informationen gesammelt, mit denen ich in der Ukraine weiter arbeiten kann. Während meines Studiums in Deutschland habe ich auch erfahren, dass ich die Preisträgerin im ersten ukrainischen Wettbewerb für originelle Hörspiele geworden
bin. Das halte ich auch für eine Errungenschaft.
5. Danksagung
Endlich will ich der Heinz-Kühn-Stiftung dafür danken, dass sie mir als
junge Journalistin die Möglichkeit gegeben hat, in Deutschland meine journalistische Weiterbildung zu fördern und persönliche Einblicke in die deutsche Kultur zu gewinnen.
Das Kuratorium, das sich entschieden hat, mich als eine Stipendiatin dieses Jahres zu wählen.
Frau Ute Maria Kilian, dass sie immer so hilfsbereit war und alles gemacht hat, damit mein Aufenthalt in Deutschland so angenehm war.
Herr Bernd Johann und Kollegen aus der Deutsche Welle, dass sie immer
mit mir so nett waren und mir gezeigt haben, dass die Arbeit Spaß bringen
kann und muss.
Meinen Mitstipendiatinnen aus Brasilien, Mexiko und Togo, dass ich mit
ihnen verstanden habe, wie verschieden die Welt sein kann.
Und meiner Mitstipendiatin aus der Ukraine, dass sie immer zu verschiedenen Abenteuern bereit war.
369
Uwe Schmidt
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Äthiopien
vom 6. Dezember 2007 bis 28. Januar 2008
371
Äthiopien
Uwe Schmidt
„Der aufregendste Ort Afrikas“
Von Uwe Schmidt
Äthiopien, vom 6. Dezember 2007 bis 28. Januar 2008
373
Äthiopien
Uwe Schmidt
Inhalt
1. Zur Person
376
2. Der große Film Äthiopiens
376
3. Der Zauberberg der Habenichtse
379
4. „Das Land wartet darauf, wach geküsst zu werden.”
382
5. Leben ohne Geld
385
6. Der schwere Weg zur leichten Industrie
388
7. Freundschaft zu Tagedieben
391
8. Doppelte Bildungsexpansion
395
9. Die Sehnsucht der Karibik
400
10. Epilog
403
375
Uwe Schmidt
Äthiopien
1. Zur Person
Uwe Schmidt hat die Kölner Journalistenschule besucht und in Köln und
Paris Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Nach dem
Studium zunächst als freier Journalist tätig, jetzt in der Öffentlichkeitsarbeit der Hans-Böckler-Stiftung. Der Aufenthalt in Äthiopien war sein erster
in Afrika. Äthiopien gilt in der europäischen Öffentlichkeit noch immer als
das Hungerland schlechthin, darum wollte er herausfinden, welche Hoffnung es für die Menschen dort gibt. Und tatsächlich verändert sich einiges
in Äthiopien.
2. Der große Film Äthiopiens
Tatek Tadesse sitzt am Steuer seines schwarzen BMW. Wir fahren über
die Bole Road, vorbei an Hochhäusern und Shopping Malls. Tatek ist 36
Jahre alt, trägt kurze Dreadlocks und ein weißes Hemd. Er ist erfolgreicher
Werbefilmer und auch Kino-Regisseur, und er gehört zu den Menschen, die
das so alte und arme Land Äthiopien neu in Szene setzen möchten. Junge
Menschen suchen nach einem äthiopischen Weg ins 21. Jahrhundert, davon
handelt sein nächster Film. Die Hauptfigur will nicht zwischen westlicher
Moderne und äthiopischer Tradition wählen – sie will eine äthiopische Moderne. Der Wunsch danach ist ein ziemlich neues Anliegen in einem Land,
das sich über Jahrtausende von der Welt abgekapselt hat. Erst seit etwa fünf
Jahren breiten sich in Addis Abeba und den Regionalhauptstädten Hochhäuser und Internetcafés aus, und das sind immer noch sehr kleine Inseln
der Moderne. Denn zugleich leben in diesem Land noch rund 60 Millionen
Menschen mehr oder weniger genauso, wie ihre Vorfahren es schon vor etlichen Jahrhunderten getan haben.
Die Erwartungen an Tateks nächsten Film sind riesig: Ganz Addis warte auf ihn, sagt mein Kumpel Mulegheta. Selbst der Premierminister soll
seine Vorfreude und Neugier kundgetan haben. Kein Wunder, schon Tateks
erster Film Gudi Fecha hat dem Publikum gefallen, und nun plant er so etwas wie den großen Film Äthiopiens. Er selbst nennt es nicht so, aber einen
derart ambitionierten Film wie Abyssinia gab es hier bislang nicht. Über
zehntausend Statisten und eine Handlung, die einen großen Bogen von der
Gegenwart in vergangene Hochkulturen schlägt. Abyssinien ist der frühere
Landesname, der streng genommen nur für die nordwestlichen Provinzen
Amhara und Tigray steht. Der Regisseur will zeigen, was das alte Abyssinien für das heutige Äthiopien sein kann: eine Kraftquelle für den Fortschritt
und ein Wegweiser.
376
Äthiopien
Uwe Schmidt
Tatek steht im Stau, die Bole Road ist mittags stets überfüllt. Er nutzt die
Zeit, um den Plot seines Films zu schildern. Es geht um einen Architekturstudenten, der nicht damit zufrieden ist, was man ihm an der Universität beibringt. Er streitet sich mit den Dozenten und wirft ihnen vor: So leben wir
Äthiopier nicht, wir passen nicht in diese Häuser. Ihr lehrt internationale
Architektur, keine äthiopische. Also verlässt er die Uni und sucht auf eigene Faust nach der richtigen Bauweise und auch nach dem richtigen Umgang
mit der äthiopischen Kultur, er reist in Äthiopiens Norden, und dort, in den
Bergen, trifft er alte und weise Menschen. Die Geschichte bekommt hier einen Drall ins Mythische, es wird schwer, Tateks Erzählung zu folgen – doch
zu viel Realismus darf man in diesem tief religiösen Land nicht erwarten.
Die weisen Menschen in den Bergen jedenfalls verhelfen dem Helden dazu,
das Wissen der Vorfahren zu erlernen.
Äthiopien hat in der Gegenwart nicht wenige Sorgen, warum da ein Film
mit so viel Vergangenheit? Die einfache Antwort: weil in kaum einem Land
die Vergangenheit so präsent ist wie in Äthiopien. Wenn ein Äthiopier die
Armut seines Landes beklagt, dann erwähnt er ziemlich sicher auch, dass
sein Heimatland einst reich und mächtig war. Dahinter steht immer die Frage: Wie konnte alles so schief gehen? Die gute alte Zeit, als Äthiopien noch
stark und nicht das Armenhaus der Welt war, ist indes schon furchtbar lange
vorbei. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung war das Reich von
Axum neben Rom und Persien die dritte Großmacht der damals bekannten
Welt. Auch seit der goldenen Epoche, in der die Felsenkirchen von Lalibela
entstanden, sind gut 800 Jahre vergangen.
Tatek will die große Sehnsucht Äthiopiens bebildern, nämlich jene, dass
sich die Gegenwart mit Hilfe eines Verbindungsstücks zu den alten Hochkulturen meistern lässt. Und Abyssinia soll das perfekte Bild liefern. Alles wird mit HDTV aufgenommen, was auch Probleme aufwirft. Als sein
Schnittgerät hakt, muss Tatek in die USA fliegen, nur dort kann er es reparieren lassen. Der Defekt verhindert, dass ich mir Ausschnitte anschauen
kann, etwa der riesigen mittelalterlichen Kriegsszenen. Bisher existiert das
Opus allein im HDTV-Format, und ein paar Szenen sind noch zu drehen.
Doch Verzögerungen stören den Regisseur-Autor-Kameramann nur bedingt,
denn er ist auch der Produzent: Tatek Tadesse steckt das Geld aus seiner
Werbefirma in die Produktion. Das ist mutig, gibt ihm aber auch Ruhe. Ein
Produzent würde auf die Fertigstellung des Werkes drängen, um zügig Geld
zu verdienen. So kann er warten, bis alles passt. Und wenn das Equipment
kaputt geht, dreht er eben erst einen kurzen Werbefilm für ein äthiopisches
Bauunternehmen.
Der schwarze BMW hat sein Ziel erreicht, wir betreten ein mondänes Restaurant im Hier und Jetzt. Direkt nebenan befindet sich ein modernes Kino,
377
Uwe Schmidt
Äthiopien
wo Tatek die Uraufführung plant. In den vergangenen fünf Jahren hat sich
Addis Abeba enorm entwickelt, das sagt jeder, der die Hauptstadt in dieser
Zeit erlebt hat. Wirtschaftlich waren die Jahre seit dem Eritrea-Krieg um unsere Jahrtausendwende gut für das Land. Es ist in der Zeit auch eine kleine
Filmbranche entstanden, nicht zuletzt angefeuert durch die Nachfrage der
äthiopischen Diaspora in den USA und in Europa. Mindestens 2,5 Millionen Äthiopier leben dort, und ausgestattet mit Dollar- und Euro-Kaufkraft
halten sie auch über DVDs in amharischer Sprache die Verbindung zur alten
Heimat. Tateks neues Werk wird auf Amharisch gedreht und dazu mit Untertiteln in neun Sprachen versehen. Dazu zählen nicht die wichtigsten der 80
äthiopischen Sprachen, aber Englisch, Japanisch, Deutsch.
Der Regisseur hat sich inzwischen warm geredet. Er gestikulierte schon im
Auto lebhaft, aber nun sitzt er über seinem Essen und hält einen Salzstreuer
in der Hand. Er hebt den Arm, lässt ihn sinken, schwenkt ihn erneut, und auf
diese Weise bedeckt er nach und nach den halben Tisch mit Salz. Er merkt
es, lächelt, stellt aber den Streuer nicht ab, denn was er zu sagen hat, ist ihm
einfach zu wichtig. Er kennt den Westen und mag ihn, wie viele reiche Äthiopier war er oft in den USA. Und doch fürchtet er, dass die Menschen seines
Landes ihre Lebensart verlieren, wenn sie dem Westen zu sehr nacheifern. So
habe die Art, in der die Äthiopier derzeit ihre Häuser bauen, nichts mit dem
Bedarf zu tun. „Das sind Zerrbilder westlicher Bauweisen”, sagt Tatek, und
es sei egal, ob es sich um Häuser für die untere Mittelklasse oder für die Reichen handele. Der erfolgreiche Werbefilmer lebt in der Oberschicht, daher
stammt auch sein Beispiel. Sein Bruder ist Millionär, und er hat sich seinem
Reichtum entsprechend ein großes Haus gebaut. „Aber in Wahrheit lebt er
fast nie in diesem Haus”, verrät Tatek, „sondern die meiste Zeit in der Dienstboten-Wohnung. In seiner Villa kann er keine Tiere töten.” Den Platz dazu
braucht er, weil Äthiopier immer mal wieder selbst schlachten, etwa zum orthodoxen Weihnachten. Kurz vor Genna liefen in ganz Addis Abeba Ziegen
und Schafe herum, kleine Herden trippelten über den großen Verkehrsknotenpunkt Meskal Square und blökten zwischen den Minibussen.
Die Villa des Bruders ist modern, aber nicht äthiopisch. Das haben sie mit
den Condomium Houses gemein. Die vierstöckigen Condomium Houses
entstehen überall in Addis und auch in manch einer kleineren Stadt, und sie
könnten das Stadtbild komplett verändern. Es handelt sich dabei um eine Art
sozialer-Wohnungsbau-Programm, es ist ein von der Weltbank finanziertes
Riesenprojekt: Die untere Mittelschicht soll raus aus den Wellblechhütten
und künftig in Steinhäusern wohnen, das wird die sanitären Lebensverhältnisse von hunderttausenden Menschen verbessern. Aber werden die Menschen auch glücklicher sein, wenn sie nicht mehr in den organisch gewachsenen Hüttensiedlungen leben, sondern in Plattenbauten?
378
Äthiopien
Uwe Schmidt
Tatek ist skeptisch, zumal in den Condomium Houses nicht nur ein Raum
zum Schlachten fehlt. Selbst für die Kaffeezeremonie könnte es eng werden.
„Kein Platz für die Kaffeezeremonie“, sagt Tatek und schaut mich verständnislos an. „Die Kaffeezeremonie ist doch das wichtigste am äthiopischen
Leben!“ Jede Familie trifft sich einmal am Tag zum rituellen Kaffeetrinken,
und immer sind Gäste, Nachbarn und Freunde eingeladen. Eine junge Frau
röstet die Bohnen auf offenem Feuer, stampft sie und brüht dreimal frischen
Kaffee auf. „Beim Kaffeetrinken finden wir unsere Ideen, die Zeremonie
gibt einem Ruhe zum Nachdenken und Zeit zum Diskutieren”, sagt Tatek
und macht eine Pause.
„Lass uns einen Kaffee trinken gehen.”
3. Der Zauberberg der Habenichtse
Eine Fahrt auf den Entoto ist ein kurzer, aber trauriger Ausflug. Man
nimmt von Siddist Kilo am Nordrand von Addis Abeba einen Minibus und
steigt dann noch zwei Mal um. Es dauert etwas, bis der blau-weiße ToyotaBus voll wird, am Anfang will niemand einsteigen, bis auf einmal aus allen Ecken Fahrgäste auftauchen, eine Familie quetscht sich hinein und noch
eine, bis wirklich niemand mehr rein passt, dann wird noch ein Huhn hinein
gereicht und es kann endlich losgehen. Von Windung zu Windung wird die
Straße steiler, der voll bepackte Minibus ächzt und keucht, wider Erwarten
schafft er die Kurve noch und die nächste auch. Nach und nach verschwinden die Hütten am Wegesrand, es geht auf über 3.000 Meter Höhe. An manchen Hängen stehen Eukalyptusbäume, an anderen hat die Erosion bereits
gesiegt. Weil immer mehr Menschen immer mehr Brennholz brauchen, sind
die Bäume abgeschlagen und der jährliche Regen hat den Rest des Bodens
ins Tal geschwemmt. Noch einmal muss der Minibus ächzen und keuchen,
und dann sind wir oben, auf dem Zauberberg der Habenichtse.
Der Entoto ist der Hausberg Addis Abebas, und eigentlich könnte er auch
ein prächtiges Naherholungsziel sein: Vom Berg aus bietet sich ein wunderbarer Blick auf die Vier-Millionen-Stadt. In den Wäldern ringsum trainieren
die äthiopischen Langstreckenläufer, wenn der Verband seine Athleten in
Addis Abeba zusammenruft. Und hier oben befindet sich die goldverzierte
Maryam-Kirche, in der sich Menelik II., der Begründer des modernen Äthiopiens, 1882 zum Kaiser krönen ließ. Just auf dem Gelände dieser Kirche
hören wir Schreie, und es klingt, als ob ein Mensch furchtbare Schmerzen
hat oder üble Schläge bekommt. „Was ist das?“ frage ich meinen Begleiter
Yonathan. „Das sind die vom Teufel Besessenen“, antwortet er ungerührt.
„Komm mit, ich zeige sie dir.“ Wir treten durch das Tor auf den Hof der or-
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Uwe Schmidt
Äthiopien
thodoxen Kirche. Da stehen zwei Männer in schmutzigen Lumpen und mit
verzerrtem Gesicht, abwechselnd schreien sie auf, laut und rückhaltlos. Der
eine beugt sich vor, geht in die Knie und schreit, richtet sich auf und schreit
wieder. Dann ist der andere dran, auch er beugt sich vor und zurück, und er
brüllt nicht leiser. „Sie warten darauf, dass ihnen der Priester den Satan austreibt“, sagt Yonathan. Yonathan ist ein aufgeweckter Kopf, er spricht Englisch und Französisch und sogar ein paar Worte Deutsch, mit westlichem
Denken ist er durchaus vertraut. Glaubt er etwa auch an den Sinn von Exorzismen? „Sollten diese Leute nicht lieber einen Arzt sehen?“ frage ich
ihn. Meine Haltung wundert ihn. Dass diese Menschen vom Teufel besessen
sind, das sei doch offensichtlich.
Es gibt viele Kranke hier oben, aber keinen Arzt. Wer auf diesem Berg
lebt, kann sich entweder keinen Mediziner leisten, oder er glaubt nicht daran, dass der ihm helfen kann. Die Bewohner des Entotos bauen auf die
Heilkraft des Bergwassers. Vor zehn bis fünfzehn Jahren – Zahlen sind in
Äthiopien immer vage – hat ein Priester auf dem Entoto eine Quelle entdeckt. Anschließend berichtete er, er habe von diesem Wasser geträumt, und
so breitete sich im Land die Nachricht von seiner Vision aus. Der Glaube an heilige Gegenstände und Orte ist nichts Neues in Äthiopien, doch an
kaum etwas knüpfen sich so viele Erwartungen wie an das Wasser des Entotos. Kranke Menschen aus dem ganzen Land kommen hierher, um Heilung
zu suchen. Die meisten von ihnen haben HIV – oder glauben zumindest,
sich mit dem Virus angesteckt zu haben. Außerdem gibt es noch eine große Gruppe psychisch Kranker und Epileptiker. Das ärmliche Dorf aus Bretterbuden rund um die Quelle wächst und wächst, der Entoto ist nicht wie
Lourdes das Ziel einer einmaligen Pilgerschaft; wer hierhin kommt, bleibt.
Inzwischen leben auf dem Berg mehrere tausend Menschen, schätzt man,
und unvermindert kommen neue Kranke.
Kebret hockt mit ein paar Freunden im Schatten vor der Kirche. Um die
Gruppe ausgemergelter Erwachsener spielen Kinder in schmutzigen Schlafanzügen, ein weiterer Besessener ist wie ein Hund an einen Baum gebunden, ein Mann spricht beruhigend auf ihn ein. Kebret steht auf, um mit uns
zu reden, doch während des ganzen Gesprächs schaut er weder mir noch
Yonathan in die Augen. Kebret lebt seit vier Jahren hier oben, er trägt ein
blau-weiß kariertes Hemd und ist 30 Jahre alt, sieht aber deutlich älter aus.
Er bewegt sich sehr langsam. Als er aus seinem Dorf in der Region Wollo
zum Entoto kam, war er krank, sagt er, sehr krank. Jetzt aber gehe es ihm
gut, er sei wieder geheilt. Kebret wirkt alles andere als gesund, darum frage
ich, welche Krankheit er hatte. „AIDS“, antwortet er. „Das kann man heilen?“ frage ich. Nun, er habe einen Test gemacht, als er hier oben ankam,
sagt er, und der war positiv. Bis dahin wusste er gar nicht, woran er litt und
380
Äthiopien
Uwe Schmidt
dass er sich infiziert hatte. Er war über Monate krank und schlapp, aber im
Krankenhaus konnten sie ihm nicht helfen und seine Familie hatte die Geduld mit ihm verloren. Dann kam er zum Entoto, nahm täglich an den Riten
um das heilige Wasser teil, und als er drei Monate später den nächsten HIVTest machte, war der negativ.
Die Wasserzeremonie findet jeden Morgen statt, sie beginnt nach Sonnenaufgang und zieht sich mehrere Stunden hin. Der oberste Priester vom Entoto, Abba Gebremadhem, feiert einen orthodoxen Gottesdienst und segnet
danach das Quellwasser. Dann verteilt er das heilige Wasser an die Gläubigen, die sich damit waschen und es trinken. Es ist wie ein großes Taufritual. Die Gläubigen müssen nüchtern sein und eine Woche lang abstinent gelebt haben – keine Zigaretten, kein Sex, kein Alkohol und kein Khat, eine
in Äthiopien weit verbreitete Droge. Tausende Menschen nehmen täglich
an dem Wasserritual teil, sagt Abba Gebremadhem, der Zeremonienmeister.
Der bärtige Mann schlägt zunächst Yonathan mit einem Holzkreuz auf den
Kopf und hält es anschließend zum Kuss hin, anschließend segnet er auch
mich; dann lässt er uns in sein kleines, voll gestopftes Büro. Der Priester
führt auch die Exorzismen durch, bald wird er sich der beiden armen Seelen
auf dem Kirchhof annehmen. Abba Gebremadhem ist ein bekannter Mann
in Addis Abeba, berichtet Yonathan. „Man sagt, er habe große Macht.” Wenn
dies nicht nur für die Welt der Geister gilt, sondern auch für die Menschen,
wie wirkt er dann auf sie ein? Empfiehlt er den HIV-Positiven, dauerhaft
Medikamente zu nehmen? Die Antwort des Priesters ist merkwürdig zurückhaltend: „Wir ermutigen die Kranken nicht ausdrücklich dazu, wir halten sie aber auch nicht davon ab.”
HIV lässt sich heilen, daran glauben hier oben alle. Die Quelle und die
orthodoxe Kirche speisen diesen Glauben, und welche andere Hoffnung
bleibt den kranken Menschen schon? Gerade auf dem Land bekommen sie
oft keine Medikamente oder Pflege. Darum kommen die Menschen von
Weitem zur Wasserzeremonie, aus allen Teilen des Landes und darüber hinaus, Kebret Mesganow berichtet sogar von Sudanesen und Amerikanern, die
auf dem Entoto Heilung suchten und auch gefunden haben. Kebret streitet
ab, das es unseriöse Tests sind, die den Heilungserfolg belegen, sie gingen
schließlich für die Tests in die Krankenhäuser Addis Abebas.
Abgesehen von den Blutuntersuchungen bleiben die Kranken hier oben;
sie sollen die Versuchungen der Großstadt meiden, schreibt Abba Gebremadhem vor. Er versteht den Aufenthalt auf dem Entoto als ein Exerzitium,
denn die Regel lautet: Wer am innigsten glaubt, dem wird geholfen. Die Entoto-Bewohner verbringen viel Zeit im gemeinsamen Gebet, und sie teilen
das karge Leben. Kebret Mesganow schläft mit acht anderen in einem kleinen Raum. Ein Bett hat niemand von ihnen, eine Matratze nur wenige. Die
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Uwe Schmidt
Äthiopien
Mieten sind teuer geworden. Seitdem die Quelle so viele Menschen anzieht,
fordern die Vermieter umgerechnet fast 20 Euro im Monat für eine karge
Kammer. Aber ohne Obdach geht es auf dieser Höhe nicht.
Kebret Mesganow lebt von Almosen, die Kirche zahlt ihm nichts und Arbeit gibt es im Dorf keine. Doch trotz des Elends sieht er seine Zukunft
hier oben: Auf dem Entoto sei er Gott nahe, dem er für die Heilung danken
möchte. Und er will bei seinen Freunden bleiben, sagt er, die noch nicht geheilt sind, um ihnen beizustehen. Es dürfte einen weiteren Grund geben, erklärt Yonathan später. Kebret kann vermutlich nicht zurück zu seiner Familie, denn sie erwarteten von ihm Hilfe. Ein junger Mann muss in Äthiopien
seinen Eltern Geld bringen, er darf sie nicht welches kosten. Die orthodoxchristliche Gesellschaft kann sehr mitleidlos sein. Egal, ob Kebret Mesganow nun gesund ist oder nicht, er wird auch morgen wieder fasten und zum
heiligen Wasser gehen. Und übermorgen ebenfalls.
4. „Das Land wartet darauf, wach geküsst zu werden.”
Tawidos Belete steht an der Glasfassade im achten Stock und blickt hinüber auf die anderen Hochhäuser. „Schauen Sie”, sagt er, „jetzt bauen sie
schon in der zweiten und dritten Reihe zur Straße. All diese Häuser dort gab
es vor etwas mehr als fünf Jahren noch gar nicht.“ Tawidos‘ Nachbar Haile Gebreselassie, Äthiopiens Wunderläufer und Nationalheld, hat zu Beginn
des Jahrzehnts als erstes an die Straße zum Flughafen von Addis Abeba ein
Hochhaus gebaut. Sein neunstöckiges Alem Building war anfangs ein sehr
einsames Gebäude, denn es stand allein inmitten von ein paar Einfamilienhäusern und vielen Wellblechhütten. Heute fällt es schwer, sich dieses
Bild vorzustellen, inzwischen ist hier ein ganzes Hochhausviertel entstanden. An der Straße zum Flughafen von Addis Abeba wirkt das vermeintlich rückständige Agrarland Äthiopien ziemlich modern und ambitioniert.
Äthiopien, das nie eine europäische Kolonie war, hatte bis dahin kein Wirtschaftszentrum mit Prestigebauten, doch jetzt ist eines an der Bole Road
entstanden. Im Erdgeschoss schicke und oft voll besetzte Cafés, in den ersten beiden Etagen Boutiquen und PC-Läden, darüber Büroräume – so sehen
die Häuser der Bole aus.
Tawidos Belete, der Besitzer des Boston Partners Building, zählt neben
Haile Gebreselassie zu den ersten Investoren von Äthiopiens Wirtschaftsaufschwung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mit seiner Biografie und seinem Ehrgeiz, möglichst viele Menschen am Aufschwung teilhaben zu lassen, taugt er stärker noch als der Läufer zur Symbolfigur für den Aufbruch
des Landes nach schwerer Zeit. Haile hat sein Haus nach seiner Frau Alem
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Äthiopien
Uwe Schmidt
benannt, Tawidos nach dem Ort seines Exils. Er hat 20 Jahre in Boston gelebt, ehe er als reicher Mann in jene Stadt zurückkehrte, die er als Jugendlicher mit nur ein paar Birr in der Tasche verlassen hatte.
Tawidos ist schlank wie fast alle Äthiopier, Mitte 40, trägt ein blaues, offenes Hemd und eine graue Hose. Er wirkt zufrieden in seinem Glaspalast und
besorgt um die Zufriedenheit der Gäste. Als meinem Kugelschreiber die Tinte ausgeht, reicht er mir seinen Stift und spricht einfach weiter. Tawidos berichtet von Flucht und Heimkehr, es ist seine persönliche Geschichte, und sie
hat tatsächlich so etwas wie ein Happy End. Etwas, worauf Äthiopien noch
wartet. Der junge Tawidos muss Ende der 70er-Jahre über die Grenze in den
Sudan, weil sich der Terror des stalinistischen Mengistu-Regimes auch gegen seine Familie richtete. Der Teenager schlägt sich allein im Nachbarland
durch, er versteht kein Arabisch und lebt zunächst auf der Straße. Tawidos
sagt: „Im Sudan habe ich die entscheidenden Dinge für mein Leben gelernt.
Ich habe überlebt, weil ich niemals aufgegeben habe.” Was der Flüchtling im
Sudan erlebte, ist eine tägliche Realität in Afrika, heute wie damals, und doch
wirkt es Welten entfernt vom wohlhabenden und zuvorkommenden Mr. Tawidos und seinem Boston Partners Building, an dessen Eingang ein Schild
verspricht: „Boston Spa – where Glamour and Luxury converge.“
Tawidos findet nach drei Jahren Sudan eine Möglichkeit, in die USA zu
kommen, und mit seinem Kampfeswillen gelingt ihm eine klassisch-amerikanische Karriere. Er arbeitet als Tagelöhner, bald als Zimmerjunge in einem Hotel, danach in einem Friseursalon. Er lernt dieses Handwerk, spart
Geld, um einen eigenen Salon zu eröffnen, und als er ihn hat, macht er ihn
besser und besser. Wie erfolgreich er geworden ist, erzählt Tawidos nicht,
aber ein Ausschnitt aus einer amerikanischen Zeitung an der Wand im Eingangsraum verrät es: Tawidos‘ Salon war der angesagteste ganz Bostons,
über 100 Dollar kostete am Ende ein Haarschnitt. Dem Flüchtling geht es
nach einigen Jahren harter Arbeit blendend in Boston, den Staub der afrikanischen Straßen ist er losgeworden. Doch die Sehnsucht nach Äthiopien hat
er nicht abschütteln können, mit den Jahren ist sie sogar gewachsen. „Jeder
Äthiopier im Ausland möchte wieder zurück in sein Vaterland”, sagt Tawidos. Da er in den USA einiges erreicht hat, verbindet sich sein Heimweh mit
einem Anliegen: Er will nicht nur einfach wieder zu Hause leben, er will
auch mithelfen, sein Land voranzubringen. Darum verkauft er alles, was
er in Amerika besitzt und investiert sein Geld in Addis Abeba. Er baut ein
Haus, vermietet die meisten Etagen und eröffnet im Erdgeschoss das Boston
Day Spa – die bis dahin erste Wellness-Oase in einer schmutzigen und hektischen afrikanischen Großstadt.
Mit der Diskretion eines erfahrenen Dienstleisters führt der Besitzer durch
die Räume seines Spas. Im Eingangsraum eine Couchzone, in der wartende
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Uwe Schmidt
Äthiopien
Gäste gesüßten Zitronensaft schlürfen. Daran schließt sich ein Friseursalon
an, der auch in Paris was hermachen würde und dessen Friseure ebenso darin geschult sind, glattes europäisches Haar zu schneiden wie lockiges afrikanisches. Der Schnitt kostet zwar keine 100 Dollar mehr wie einst in Boston,
sondern etwa 6 Dollar. Aber diese 55 Birr sind in Äthiopien viel Geld, ein
Tagelöhner muss drei Tage auf den Bau, um so viel zu verdienen. In den vergangenen fünf Jahren hat sich in Addis Abeba eine Mittelschicht entwickelt,
die in der Lage ist, 55 Birr für einen Haarschnitt zu zahlen und sich ebenso
die Sauna und Massageräume im hinteren Abschnitt des Boston Day Spas
leisten kann. Jeder zweite Kunde des Spas ist Äthiopier, auch daran lässt
sich die Entwicklung des Landes ablesen – am Anfang kamen nur die Internationalen. Im vergangenen Jahr hat Tawidos rund 70 Kilometer außerhalb
von Addis an einem See ein weiteres Wellness-Resort eröffnet, und da ist
die Quote sogar noch höher, fast 90 Prozent der Kunden sind Einheimische.
„Das hat mich sehr erstaunt”, sagt Tawidos, „und es macht mich sehr froh.”
Er hatte sich vorher in Kenia und auf Sansibar über vergleichbare Einrichtungen informiert. Dort jedoch entspannten und amüsierten sich nur Weiße
auf gehobenem Niveau.
Es lässt sich mittlerweile trefflich Geld verdienen in Äthiopien, wenn man
Wissen und Kapital mitbringt. Nahezu alle wirtschaftliche Entwicklung
steht am Anfang, und es ist wie bei so vielen neuen Märkten: Wer sich frühzeitig bewegt, kann beträchtliche Gewinne einfahren. Tawidos finanzieller
Einsatz hat sich in nur fünf Jahren fast verdreifacht. „Äthiopien hat so tolle
Möglichkeiten, von denen viele noch schlummern”, sagt er. Es sei ein jungfräuliches Land, das darauf warte, wach geküsst zu werden. Die äthiopische
Bürokratie ist kaum korrupt, das Leben in der Stadt sicher und die Äthiopier seien bereit, ihr Geld auch im Inland auszugeben. Darum meint Tawidos:
„Jeder, der einen guten Sinn für Unternehmungen hat, sollte hierher kommen.” Wenn man sich nur anschaue, wie wenig es vor fünf Jahren im Land
gegeben habe, und wie viel sich in dieser kurzen Zeit schon getan habe! Und
das Ende des Aufholprozesses sei noch lange nicht erreicht: „Wir haben bestimmt zehn weitere Jahre mit gutem Wachstum vor uns.” Addis, das ist seine Vision, soll zu einer der drei Top-Städte Afrikas werden.
Wenn Äthiopiens Wirtschaft wachsen soll, braucht es allerdings mehr Unternehmer wie Tawidos: Investoren, die bereit sind, Menschen mit geringer
Bildung einzustellen und anzuleiten. Tawidos lebt inzwischen in der äthiopischen Oberschicht, aber er hat den Mangel und die stumme Verzweiflung
der Armen kennen gelernt. Darum will er als Unternehmer mit sozialer Mission sein Land ändern. Der Geschäftsmann engagiert meist junge Leute aus
Addis‘ schwierigen Vierteln und formt sie. Er vermittelt dem Personal Fachkenntnisse und stärkt ihre Persönlichkeit. Tag für Tag bekommt jeder der
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Äthiopien
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400 Beschäftigten zwei Stunden Unterricht auf Firmenkosten. Wie gehe ich
mit Kunden um? Wie organisiere ich meine Arbeit? Wie baue ich Selbstvertrauen auf? „Äthiopier sind von ihrer Erziehung her sehr schüchtern“, sagt
der Geschäftsmann, und das sei natürlich in Dienstleistungsjobs ein großes
Problem. Er selbst war es auch. Als er in den USA in einem Hotel gearbeitet habe, habe er sich nicht mal getraut, an den Zimmertüren anzuklopfen
und zu fragen, ob der Kunde zufrieden ist oder noch einen Wunsch hat. „Ich
möchte, dass sich diese Menschen entwickeln und sich etwas zutrauen.”
Nach dem Gespräch mit Mr. Tawidos fühlt sich die Welt leichter an. Er
ist ein charmanter Mensch, in dessen Anwesenheit man sich wohl fühlt, und
er hat eine Mission, an der sich einfach nichts aussetzen lässt. Vielleicht
hat Äthiopien also doch eine Chance, auf die Beine zu kommen, denke ich.
Dann ist der Aufzug im Erdgeschoss des Boston Partners Building angekommen, ich trete aus der Tür, gehe die paar Schritte auf die Straße, und
schon erblicken mich die ersten Bettler. Sie laufen mir sofort mit offener
Hand entgegen.
Es wartet noch viel Arbeit auf Mr. Tawidos.
5. Leben ohne Geld
Egal, wie lang die Nacht war, er steht früh auf. Das fällt ihm leicht, denn es
ist nicht zu überhören, wenn Addis Abeba aufwacht. Jetzt, da die Regenzeit
schon Monate vorbei ist, erobert die Sonne morgens um sechs Uhr den Himmel. Der Muezzin begrüßt den Tag, Allahu-alAkbar. Und auch die Christen
wollen gehört werden, schließlich ist die Parität von Christen und Muslime
ein großes Thema in Äthiopien. Also stellen einige Orthodoxe Lautsprecher
mit christlicher Musik und Gebeten auf das Fensterbrett. Die Autos brummen, vor allem die blauweißen Sammeltaxen fahren los und stoppen, fahren
los und stoppen, und der Verkehr bildet den Klangteppich hinter den Stimmen der Gläubigen.
Getaneh zählt zu den gläubigen Orthodoxen, darum steht er so zeitig auf,
er will zur Kirche. Er hat die Nacht in einer Kammer verbracht, im Haus neben dem Restaurant, in dem er arbeitet. Ein kleiner Fleck, ausgelegt mit Decken und einem Schlafsack, in den sich der 16-Jährige hüllt. Nachts wird es
auf 2.400 Metern Höhe kalt, da benötigt man Schutz. Und nicht nur in der
kurzen Nacht braucht Getaneh jeden Schutz, den er bekommen kann. Er ist
einer der vielen Millionen jungen Menschen, die sich in Äthiopien ohne nennenswerte Unterstützung durchschlagen müssen – ohne eine halbwegs wohlhabende Familie, ohne genügend formale Bildung, ohne einen Sozialstaat im
Rücken. Das Land ist heillos damit überfordert, all die jungen Menschen hin-
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Äthiopien
reichend auszustatten fürs Leben: Zwei von drei Äthiopiern sind jünger als
25, jeder zweite unter 18, und das bei bald 80 Millionen Menschen.
Getaneh trottet los, durch den Staub, den die weißen Jeeps der Entwicklungshelfer und der wohlhabenden Äthiopier in die Luft schleudern, und
durch den Dunst aus ungefiltertem Diesel. Er steuert die große MedhaneAlem-Kirche an, die vor wenigen Jahren mit viel Geld mitten in Addis Abeba geklotzt wurde. Die Gebildeten und Weltläufigen rümpfen die Nase über
diese Kirche – viel zu protzig, eine Provokation der Muslime und künstlerisch alles andere als zeitgemäß. Aber Menschen wie Getaneh lieben sie.
Gotteshäuser sind in Äthiopien Orte, zu denen die Beladenen kommen.
Einem Europäer kommt es wie eine biblische Szene vor: Lahme mit Holzkrücken und Blinde, nie habe ich so viele Blinde gesehen wie in Addis Abeba. Rings um die Kirche sitzen viele Menschen am Boden, meist eingehüllt
in handgewebte, graue Tücher, die einmal weiß, gelb oder grün gewesen sein
müssen. Sie hocken regungslos, schauen einen mit großen Augen an, doch
im Gegensatz zu allen anderen Orten rufen die Bettler den Weißen nichts
hinterher. Sie können hier der Almosen recht sicher sein, und auch an diesem Morgen kommt ein Mann mit einer blauen Plastiktüte und drückt jedem
ein Brötchen in die Hand. An Toiletten hat beim Bau der teuren Kirchen niemand gedacht, es riecht nicht gut am Ort der Jenseitigkeit.
Getaneh geht zur Kirche, während ich mich auf eine der Bänke im Innenhof setze. Wenn orthodoxe Christen zu einem Gotteshaus kommen, richtet sich ihre Aufmerksamkeit plötzlich nach innen und sie spulen ein strenges Ritual ab: Kreuzzeichen, tiefe Verbeugungen, Niederfallen auf die Knie,
die Stirn berührt den felsigen Boden, Aufstehen, Verbeugen, Kreuzzeichen.
Manche küssen den Stein der Kirche und die den Innenhof umgebenden
Wände. Das Ganze hat eine große Ernsthaftigkeit, die Europäer in religiösen Fragen kaum noch kennen. Die Gläubigen beten meist vor der Kirche, und wenn sie schließlich eintreten, streifen sie wie bei einer Moschee
die Schuhe ab. Getaneh betet eine Stunde, als Ausgleich dafür, dass er wegen seiner Arbeit den Gottesdienst am Abend versäumt. Das jagt ihm ein
schlechtes Gewissen ein, und seine Freunde und Kollegen verstehen das,
denn gläubig sind eigentlich alle.
Auf dem Rückweg erzählt Getaneh, was er gebetet hat, ohne dass ich ihn
danach frage. Das zu erzählen ist das normalste der Welt für ihn, und er untermalt es mit ausgebreiteten Händen und einem Blick zum smogigen Himmel. Für seine Eltern, dass es ihnen gut gehen solle, dass er ihnen ein guter
Sohn sein möge. Sie wohnen über 300 Kilometer entfernt von der Hauptstadt, in einem Dorf ohne Elektrizität, ohne Fernsehen und Telefon, und
angesichts der schlechten Straßen verlangt es eine Tagesreise, dorthin zu
kommen. Es plagt den Jungen, dass er seine Eltern so selten sieht. Drei der
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Äthiopien
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Kinder sind früh gestorben und nur drei übrig geblieben, Getaneh und seine
beiden großen Schwestern. Seine Eltern leben von dem, was sie anbauen,
sie verkaufen kaum etwas, und wenn sie Geld brauchen, sind sie angewiesen
auf das, was ihnen die Kinder schicken – also vor allem auf das, was ihnen
der Sohn geben kann. Getaneh betet auch für seine Schwestern, und dafür,
dass er bald einen weiteren Job findet. Denn er braucht einen zweiten Job,
unbedingt, nicht nur wegen der Eltern. Er muss mehr Geld haben, wenn er
einmal ausgehen möchte, eine Freundin aushalten und mit dem Sammeltaxi
fahren will und nicht jeden Schritt in dieser weitläufigen Stadt zu Fuß zurücklegen möchte. Er hat so viele Wünsche, und in der Welt, in der er aufgewachsen ist, gibt es nicht viele, die ihm helfen, sie zu realisieren.
Das Restaurant befindet sich in einem guten Viertel von Addis Abeba, einige Gäste kommen schon zum Mittagessen, noch mehr am Abend. Es gibt
die klassische äthiopische Karte: Injera – ein dünner und saurer Teigfladen
– mit Fleisch und an den Fastentagen Injera mit Gemüse. Hier arbeitet Getaneh als Kellner, sechs Tage die Woche von 12 Uhr mittags bis nachts, so lange Gäste da sind. Dafür verdient er etwa 200 Birr im Monat, je nach Trinkgeld mal mehr oder weniger – dem Wechselkurs zufolge sind das keine 20
Euro. Statistisch lebt er also von weniger als einem Euro am Tag. Immerhin,
seinen Grundbedarf muss er nicht davon bestreiten: Er darf im Restaurant
essen und bekommt im Nachbarhaus eine Schlafstätte gestellt. Auch für seine weiße Kellner-Schürze muss er nichts zahlen, was manche Restaurantchefs von ihrem Personal abverlangen.
Getaneh muss heute erst am Nachmittag bedienen, und am Vormittag hat
er keinen Job. Er muss sich darum kümmern, eine zweite Arbeit zu finden,
vielleicht in einem Café, am Tresen in einem kleinen Laden oder als Zeitungsverkäufer. Sein Kumpel Terefe befindet sich in der gleichen Lage. Er
arbeitet nur nachmittags in einem jener erstaunlichen Läden, die nicht größer als ein Wandschrank sind, aber die fast alles für den täglichen Bedarf im
Sortiment haben. Am Morgen hat er ebenfalls Zeit, und zu ihm laufen wir
nun, quer durch die sich aufheizende Stadt. Der schmale Lohn erlaubt natürlich kein Taxi, auch keine Fahrt mit einem Minibus, stattdessen wandern
wir durch eine Siedlung von Wellblechhütten, und in einer von diesen Hütten lebt Terefe bei seinen Eltern, die sechsköpfige Familie teilt sich zwei
Räume. Die beiden Jungs begrüßen sich, wie es äthiopische Männer immer
tun: ein Handschlag, und dann stoßen sie mit der rechten Schulter gegeneinander – das kann mal wie eine innige Umarmung sein oder auch ein rustikales Anrempeln.
Terefe spricht noch weniger Englisch als sein Freund, aber das macht
nichts, denn Getaneh hat mir längst erklärt, worum es geht: Die beiden
Jungs wollen Tanzschritte üben. Eine Diskothek kennen sie zwar nicht, aber
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Äthiopien
sie haben in ihren Familien die traditionellen Tänze gelernt, und mit einer
aufgefrischten Version nehmen sie nun an einem Wettbewerb teil. Die erste
Runde des Castings haben sie schon hinter sich. Die Jungs erklären etwas
umständlich, worum es geht: Es gibt eine Fernsehshow, in der sie so gerne
auftreten möchten. Haben sie Erfolg, dann könnten sie bekannt werden, im
Idealfall könnte es der große Ausweg aus der Geldnot sein. „It is called Ethiopian Idol”, sagt Getaneh und er staunt, dass ich weiß, was er meint, obwohl
ich noch nicht lange im Land bin. Die Blaupause aus den USA funktioniert
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Äthiopien. Hier allerdings lebt
die Sendung nicht von den Rüpeleien der Jury, sondern davon, alte Standards wieder vorzuführen – Melodien und Tanzschritte, die ein oder zwei
Jahrhunderte alt sind. Sie heute zu wiederholen, festigt das äthiopische Gemeinschaftsgefühl. Der kleine Kassettenrekorder plärrt, Getaneh und Terefe bewegen ihre Schultern. Dann wird es Zeit, zur Arbeit zu gehen. Händeschütteln, Schulterrempeln, und ich begleite Getaneh zurück zu seinem
Restaurant.
6. Der schwere Weg zur leichten Industrie
Vor drei Jahren erst hat er sein Textilunternehmen gegründet und das ohne
jede Erfahrung im Nähen, Schneidern, Sticken. Jetzt beschäftigt Haile Ghebreegziabher in seiner Firma Haile Garment 110 Menschen, die in einer
Fabrik am Stadtrand von Addis Abeba genau das tun sollen: nähen, schneidern, sticken. „Als ich hier baute, gab es in der Ecke noch nichts”, sagt der
Unternehmer. Inzwischen ist ein ganzes Industriegebiet entstanden. In der
Werkhalle von Haile Garment läuft der gleiche Ethio-Pop wie in den Kneipen und Minibussen, es ist warm hier drin, im Grunde genommen zu warm
zum Arbeiten, und große Betriebsamkeit sieht tatsächlich anders aus. Nur an
17 der rund 100 Nähmaschinen sitzen Arbeiter und Arbeiterinnen. Ein paar
Beschäftigte stehen schüchtern an den langen Schneidetischen. Auf einem
der Tische liegt eine zehn Jahre alte deutsche Zeitschrift namens Burda Moden – aus der entnehmen die Arbeiter das Schnittmuster. Im Moment fertigen sie Blusen für die Kellnerinnen einer äthiopischen Restaurantkette.
Ein Besuch in einer äthiopischen Textilfabrik hat etwas von einer Zeitreise. Man kann eine Industrie besichtigen, die sich seit dem Ende der 60erJahre aus Europa verabschiedet hat. Jetzt kommt sie in Äthiopien mit unverändertem technologischen Stand an: Die Stickmaschinen lesen die Muster
von einer Lochkarte ab, der Apparat zum Einschweißen der Hemden auch.
Fast die gesamte Ausrüstung seiner Fabrik hat Haile Gebhreegziabher in Italien gekauft, aus den Restposten eines untergegangenen Betriebes. Er ließ
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Nähmaschinen, Stoffe und Stromleitungen nach Djibouti verschiffen und
dann per Truck nach Addis Abeba bringen.
Das Unternehmen Haile Garment und seine Fabrik stehen erst am Anfang, und genau so verhält es sich mit der äthiopischen Industrie. Äthiopien
beginnt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts seine Industrialisierung.
Die äthiopische Regierung plant die Industrialisierung im großen Stil, und
die Chancen, eines der zehn ärmsten Länder der Welt etwas wohlhabender
zu machen, stehen Experten zufolge gar nicht so schlecht. Sechs Branchen,
darunter Textil und Leder, sollen den Anfang machen. Die Hoffnung der
Äthiopier lautet: Wenn in einigen Jahren die Chinesen und andere Asiaten
wirtschaftlich so weit sind, dass die leichten Industrien sie nicht mehr interessieren, dann soll Äthiopien zur Stelle sein und die Lücke ausfüllen.
Soll der Plan gelingen, kommt es auf Leute wie Haile an. Die internationalen Geldgeber wollen keine Staatswirtschaft fördern, darum müssen Privatunternehmen die Industrialisierung vorantreiben – mit kräftiger Unterstützung der äthiopischen Regierung. „Sie haben mir nicht nur geholfen, sie
haben mich überhaupt erst dazu gebracht, in dieses Geschäft einzusteigen”,
sagt der Unternehmer. Haile leitete den einzigen Golfplatz Äthiopiens, als
ihm Land für seine Fabrik angeboten wurde. Und er erhielt so günstige Kredite, dass er seine Bedenken, von Textilien und Bekleidung eigentlich nichts
zu verstehen, zur Seite schob. Haile Gebhreegziabher wurde vor allem aus
einem Grund ausgewählt: Er hat in Italien gelebt und die dortige Arbeitsmentalität mitgebracht. Die Regierung wünscht sich von Heimkehrern wie
ihm, dass sie die Wirtschaft des Landes umkrempeln.
Der Textilunternehmer Haile ist ein drahtiger Mann mit rasiertem Schädel, Sonnenbrille und einem gut geschnittenen Hemd. Sein Jeep ist so wuchtig wie die der Entwicklungshelfer. Und er muss sich auch durchsetzen können, denn Hindernisse und Blockaden gibt es en masse. So mangelt es Haile
Garment an ausgebildeten Fachkräften, und die nur lose Bindung der Beschäftigten an ihre Firma schwächt den Betrieb: „Ich bilde jemanden aus,
und nach wenigen Monaten verlassen sie von einem auf den anderen Tag die
Fabrik.” Junge Frauen schnappen irgendwo auf, dass sie als Kindermädchen
in Dubai mehr Geld verdienen können – und wenn sich dann eine Gelegenheit bietet und ihnen jemand den Flug organisiert, sind sie weg. 20 Jahre war
Haile im Ausland, nun fremdelt er in Äthiopien. „Es gibt viele Dinge, an die
ich mich noch immer nicht gewöhnt habe, obwohl ich schon zehn Jahre wieder da bin”, sagt er. Die älteren Äthiopier sind in einem steinzeitlichen Kommunismus oder Feudalismus aufgewachsen, jedes eigene Engagement wäre
in diesen Gesellschaftsordnungen fatal gewesen. Diese Haltung mussten die
Menschen verinnerlichen, und können sie jetzt nicht mehr abstreifen. Darum steht ihnen der Unternehmer sehr skeptisch gegenüber. Er setzt mehr auf
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die junge Generation, obwohl auch die mit Handicaps zu kämpfen hat. Junge Äthiopier hingegen werden zu großer Ehrfurcht vor älteren Menschen erzogen. Sie müssen, sobald sie einigermaßen erfolgreich sind, für ihre ganze
Familie aufkommen. Woher soll da die Freude an der eigenen Leistung und
am Erfolg kommen?
Doch auch seine Förderer machen es Haile Gebhreegziabher schwer. Die
äthiopische Regierung will die Industrialisierung, und zwar lieber heute als
morgen. In ihrer Eile neigt sie dazu, den zweiten Schritt vor dem ersten
zu machen. Statt ein Unternehmen langsam am Binnenmarkt aufzubauen,
dringt der Staat sofort auf Exporte. Makroökonomisch ist das Anliegen berechtigt, denn Äthiopien braucht mehr Geld für seine Ausfuhren, um seine
Zahlungsbilanz auszugleichen. Das Land hat kaum Bodenschätze und muss
Öl, Eisen und andere Rohstoffe auf dem Weltmarkt teuer einkaufen. Einkünfte bringen nur Kaffee, Schnittblumen und Khat, eine Droge, die vor allem in
die arabischen Länder exportiert wird. Alle drei Exportgüter sind abhängig
vom Wetter und schwankenden Weltmarktpreisen. Obwohl die vergangenen
Jahre gute Erlöse gebracht haben, hat Äthiopien über seine Verhältnisse gelebt. Da kämen Exporterlöse aus der Textilwirtschaft sehr gelegen. Haile erzählt von einem Gespräch mit einem Vertreter des Wirtschaftsministeriums
aus den Tagen der Unternehmensgründung. „Oh prima, Sie machen ein Textilunternehmen auf ”, sagt der. „Für wie viele Dollar werden Sie denn exportieren? Und wie können wir Sie beim Export unterstützen?”
Dabei möchte Haile gar nicht sofort auf den Weltmarkt preschen. Sein
Unternehmen soll sich zuerst auf dem Binnenmarkt durchsetzen, und das
wird schwer genug, denn die kleine Fabrik am Stadtrand von Addis steht einer riesigen Konkurrenz gegenüber: Chinesische Billigprodukte dominieren den äthiopischen Markt. Äthiopien importierte vor zehn Jahren rund
30 Tonnen Kleider, 2006 waren es 74 Tonnen. Auf dem Mercato, dem großen Marktviertel Addis Abebas, werden zu 90 Prozent chinesische Produkte gehandelt. „Ich bin am Mercato nicht konkurrenzfähig, wie soll ich mich
dann am Markt in Deutschland behaupten?” fragt Haile. Er stört sich daran, dass chinesische Importe nicht besteuert werden. Äthiopien gehört nicht
der Welthandelsorganisation an, darum kann das Land die Zölle bilateral
aushandeln. Man darf davon ausgehen, dass die Chinesen beim Zoll einen kräftigen Rabatt bekommen für die kostengünstigen Straßen, die sie in
Äthiopien bauen.
Im Moment fällt es Haile Gebhreegziabher schwer, gute Aufträge zu bekommen. Seine anvisierte Zielgruppe ist die Mittelschicht im Land – die Armen kaufen die Billigwaren aus China, und die Oberschicht will ausländische Labels. Die Dress-Codes der modernen Äthiopier kommen von außen,
sagt der Textilunternehmer. Haile Garment ist eingeklemmt zwischen oben
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Äthiopien
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und unten, und weil die Mitte in Äthiopien zu dünn ist, fertigt das Unternehmen zunächst Haushaltswaren: Tischdecken, Servietten, Betttücher und
Kissenbezüge, auch Arbeitskleidung. Für solche Waren braucht man keine
allzu große Reputation, und seine Fabrik kann sich weiter einarbeiten. Obwohl es zäh anläuft, sieht Haile Gebhreegziabher weiter seine Chance. „Keiner glaubt wirklich, wie sehr sich dieses Land in den vergangenen Jahren
verändert hat”, sagt er. Und der Wandel werde immer schneller und schneller. Das Wachstum der äthiopischen Wirtschaft war im ersten Halbjahr 2007
größer als im ganzen Jahr 2006. „Warum sollte das Wachstum nicht auch
noch die Textilwirtschaft erfassen?“ fragt der Unternehmer.
7. Freundschaft zu Tagedieben
Piazza ist das Zentrum des alten Addis. Es wurde von den Italienern auf
dem Hügel angelegt, die Straßen sind voller Leute, das Leben pulsiert, und
es ist nicht das Leben der reichen Leute. Überall kleine Stände, Bettler, Getümmel. In Piazza kann man Afrika auskosten, doch eines kann man hier
nicht: als Weißer den Rumtreibern entrinnen. Junge Männer laufen neben einem her, lassen sich nicht abwimmeln und wiederholen die immer gleichen
Sätze. Woher kommst du, mein Freund, ah, ein wunderbares Land, ich habe
einen Onkel in Frankfurt. Alle haben einen Onkel in Frankfurt. Einer schlägt
mir ein rundes Abendprogramm vor: In the afternoon we chew chat, in the
evening we drink. And later in the night, there will be some chicks.
Im Piazza-Viertel lerne ich Dani und Matias kennen. Auch sie quatschen
mich auf der Straße an, aber sie machen es netter als die anderen. Es wirkt
zufälliger. Sie vergleichen mich mit einem Freund aus Schweden, und möglicherweise gibt es ihn wirklich, wer weiß das. Kommst du mit ein Gezapftes trinken? Ich bin es müde, ewig abweisend zu sein und gehe mit ihnen in
einen Biergarten. Wir setzen uns, der Tisch wackelt, ich zahle die Runde und
Dani nennt mich his friend. Sie fragen, was ich in Äthiopien mache. Aha,
Journalist. Wie läuft es denn? Ich erzähle ein wenig, der Beginn war schwierig, doch jetzt treffe ich interessante Menschen. Interessante Menschen? fragen sie. Ob ich denn die richtig Interessanten treffe, wollen sie wissen, nicht
diese Reichen, nicht diese NGO-Typen, sondern echte Leute. Dani und Mathias erzählen von ein paar Bekannten, die gemeinsam in einem Haus leben,
was heißt Haus, ein einziger Raum. Keine NGO, nicht Offizielles, vergiss
das. Sie müssen einander helfen, denn sie sind HIV positiv. You want to see
them? Natürlich bin ich neugierig. Sie schlagen vor, jetzt noch hinzugehen,
weil sie nur heute Zeit haben, nachts in die Wellblech- und Lehmhüttensiedlung. Ganz so neugierig bin ich dann doch nicht.
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Dani und Matias nehmen es mir nicht übel, dass ich ihnen an jenem Abend
nicht in die Slums folge. In der Folgezeit sehe ich sie dennoch immer wieder. Wie zufällig stehen sie vor dem Taitu-Hotel, wenn ich es am Abend verlasse. Klasse, dich zu sehen, kommst du mit ein Bier trinken? Dann vielleicht morgen? Die Pläne verschieben sich immer ins Morgen, denn ich
misstraue solchen Straßen-Bekanntschaften, für die eigentlich immer gilt,
dass bereits eine Minute Smalltalk eine Freundschaft begründet, deren Kern
darin besteht, dass der Reiche dem Ärmeren helfen sollte. Das ständige Angesprochenwerden ist so nervig wie verständlich: Addis ist voll mit jungen
Männern, die in der Großstadt keine Chance haben. Die Arbeitslosigkeit ist
riesig, sie haben keinen Job, kein eigenes Zimmer und kein Geld für eine
Freundin, von einer Heirat ganz zu schweigen. Wie sollen sie zu Geld kommen? Der Kontakt zu einem Ferengji, also einem Weißen, könnte ein Weg
sein. Doch ich frage mich, wem damit geholfen ist, wenn man ihnen Geld
gibt. Was ist mit den Schüchternen, die niemanden anquatschen, und den
Stolzen, die nicht betteln wollen? Ich gebe Dani an einem Abend 30 Birr,
geliehen nennen wir das, obwohl nie die Rede auf das Zurückzahlen kommt.
30 Birr sind ein paar Euro, und doch ist es das Doppelte von dem, wofür sich
ein äthiopischer Bauarbeiter einen ganzen Tag plagen muss. Dieses Verhältnis nährt meine Skrupel.
Mit der Zeit stelle ich fest: Kaum etwas an meinen neuen Bekannten ist
so, wie es scheint. Er heißt Dani, so jedenfalls hat er sich vorgestellt. Doch
als ich ihn anrufe, kennt niemand einen Dani. Eine Frau, die kein Englisch
spricht, reicht mich weiter zu einem Mann. Dani? fragt er. Sie müssen sich
verwählt haben. Schwer vorstellbar, denn unter genau dieser Nummer hat er
sich heute Mittag bei mir gemeldet. Und er hatte bei unserem letzten Treffen angekündigt, dass er selbst kein Telefon besitzt, sondern von dem seiner
Mutter aus anrufen wird. Die wenigstens sollte ihn doch kennen. Ich setzte
erneut an: Kennen Sie niemanden, der einmal in Hamburg, in Deutschland
gelebt hat? Ein kurzes Zögern, dann: Doch, den kenne ich, aber der heißt Yonathan. Ich kann ihm sagen, dass Sie angerufen haben.
Dani und Matias heißen eigentlich Yonathan und Sizay. Viermal habe ich
Matias gesagt, dass ich ihm diesen Namen nicht abnehme, viermal beteuert er, dass er so heiße. In Piazza nennt jeder einen falschen Namen, meint
Yonathan. Als Duo sind die beiden kaum zu schlagen: Sisay ist ein heilloser Chaot, er kaut Khat, er raucht Gras und er trinkt zuviel. All das merkt
man ihm bereits an, obwohl er erst 24 ist, er wirkt fahrig und unkontrolliert.
Er bekommt seine Sätze oft nicht sauber zu Ende, lächelt dabei aber so unschuldig, dass es nicht wie eine Schwäche wirkt, sondern wie ein charmanter Kniff. Wenn er betrunken ist, tanzt er raumgreifend. Ist er richtig blau,
dann wird er ausfällig und gerät regelmäßig in Schlägereien, erzählt Yona-
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than. Der Freund muss auf ihn aufpassen. Schon beim ersten Treffen im
Biergarten fährt Yonathan Sizay über den Mund, weil er lauthals öffentlich
über die Regierung schimpft, was in diesem Land nicht zwingend eine gute
Idee ist.
Yonathan, der wie sein großer Bruder daherkommt, ist ein smarter Kerl
mit einem Geheimnis. Man fragt sich immer, warum er zu den Rumtreibern
von Piazza gehört. Er verfügt über eine beachtliche Bildung und tadellose Umgangsformen, spricht exzellent Französisch, nicht schlecht Englisch,
und auch etwas Deutsch; er war ja ein halbes Jahr in Hamburg. Seine Tante
lebte damals dort, er ging wie in Addis zur französischen Schule, doch bald
starb die Tante, er musste zurück. Kurz darauf kam auch sein Vater ums Leben, so zumindest erzählt er seine Geschichte. Die Familie verarmte und es
fehlte an Geld für seine Ausbildung. Seitdem schlägt er sich als Tagedieb
und -löhner in Piazza durch. Er könnte sich einer französischen NGO andienen, mit seinen Sprach- und Ortskenntnissen wäre er bestimmt eine prima
Hilfe, doch das macht er nicht. Er arbeitetet hin und wieder in einer Schreinerei, die jedoch nur selten für ihn was zu tun hat. Häufiger treibt er sich auf
der Straße zum Taitu-Hotel herum.
Sisay und Yonathan stehen wie zufällig vor dem Taitu. Sie wollen unbedingt den Abend mit mir und meiner Freundin – die zu Besuch in Addis ist –
verbringen. Freundschaft eben. Es ist der zweite Timkat-Tag, und Timkat ist
in Äthiopien eine große Sache, es ist neben Weihnachten das große Fest der
orthodoxen Christen. Sisay lädt uns zu sich nach Hause ein, seine Familie
hat eine Ziege geschlachtet, und der vermeintliche Hungerleider von Piazza sagt, es gebe mehr als genug zu essen, wir sollten nicht zögern und brauchen auch kein schlechtes Gewissen zu haben. Meine Freundin ist krank, ein
Magenvirus plagt sie, wir wollen nur in Ruhe was Leichtes essen und nicht
gleich eine frisch geschlachtete Ziege. Doch wir bringen es nicht über das
Herz, die Jungs erneut abzuwimmeln. Also gehen wir mit ihnen in ein Restaurant um die Ecke. Es folgt ein Kampf um die Speisekarte, Sizay erklärt,
was zu empfehlen ist und was nicht, die Tibs hier sind nicht so gut, aber den
Fisch, denkt mal an den Fisch oder an den Grillspieß. Quasselnd erobert
er sich die Rolle des Gastgebers. Dann entdeckt er im Nachbarraum einen
Fernseher, es läuft das Eröffnungsspiel des Afrika-Cups, Ghana gegen Benin, er schaut fünf Minuten, rennt zurück zum Tisch: Mensch, du musst rüberkommen, der Afrika-Cup! Er schüttelt mir die Hand und eilt zurück zum
Fernseher, wo er es wieder nur fünf Minuten aushält.
Nach dem Essen verabschiedet sich meine Freundin, der Magen verlangt
Schonung, aber auch sie denkt, dass ich mit den beiden noch weiterziehen
sollte und Timkat feiern: Sie sind schräg, aber harmlos. Zunächst ins Gondar,
ein Laden voller Männer, nur am Rand ein paar Frauen. Wir trinken zwei,
393
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drei St. George, Matias dreht auf, tanzt, die Arme ausgebreitet, den Kopf ins
Kreuz gelegt, immer eine Bedrohung für das Tablett des Kellners. Es geht
alles gut, aber ihm reicht das Gondar nicht, wir ziehen weiter in die nächste
Kneipe, in der ein erstes Problem auftaucht. Große Debatten mit der Bedienung, ich verstehe nicht ganz, worum es geht. Fordert der Kellner vielleicht
einen Sonderpreis für den Ferengji? Es wird hin und her verhandelt, bis wir
dann weiter gehen. In der dritten Bar gesellt sich ein Dreadlock-Träger zu
uns. My brother! ruft Sisay, sie umarmen sich innig und beteuern einander mehrfach, mindestens so eng zu sein wie leibliche Brüder. Hab ich dich
nicht bei mir beherbergt? Klar hast du das! Und noch eine Umarmung.
Sizays Bruder – Ebo – lebt eigentlich in den USA, das sagt er jedenfalls,
er verbringt ein paar Wochen hier in der alten Heimat. Ebo will wissen, ob
ich mich für Kunst interessiere. Er kramt umständlich in seiner Umhängetasche, zeigt mir ein paar abstrakte Skizzen und fragt, ob sie mir gefallen. „Klasse sind sie“, sage ich, und er antwortet mir: „I am an artist, you
know. I have my own website. We should stay in contact.“ Unterdessen haben wir fröhlich weiter getrunken, Sizay übernimmt mit großer Geste die
Rechnung. Er erzählt mir, dass seine Familie Geld habe, sein Vater sei Minister, also kein Problem, dass er zahlt, und übrigens, wenn ihm abends einer
blöd käme, er habe die Kontakte, um es ihm heimzuzahlen. In Piazza wisse
man das, gegen ihn traue sich keiner. Dann müssen wir erneut weiter, Sisay
ordert ein Taxi für den Weg zur nächsten Location, dabei sind es nur dreihundert Meter. Yonathan schimpft, dafür hätte man kein Taxi gebraucht. „Ist
Sizays Vater wirklich Minister?“, frage ich ihn. „Wenn du es ehrlich wissen
willst“, sagt er, „nein. Sie haben Geld, aber Minister ist er nicht.“
Auf in die nächste Bar, es ist eine Art Diskothek mit kleiner Tanzfläche.
Wir bestellen neue St. Georges und Ebo fängt ein weiteres Mal mit seinem
Künstlerdasein an: „I am an artist, you know.“ Sisay kennt ein paar Leute im
Laden, darunter auch eine bemerkenswert hübsche Frau. Er stellt mir Marta vor, und Marta fragt, was Frauen in den Bars so fragen, während ich antworte, was man so antwortet. Where do you come from, what‘s your name,
nice to meet you. Dann will sie tanzen. Eigentlich gerne, sage ich, aber ich
habe eine Freundin, darum glaube ich nicht, dass es eine gute Idee ist, mit
einer so schönen Frau wie dir zu tanzen. Sie nickt, doch nur zehn Minuten
später fragt sie erneut und sagt: „He, es ist doch nur ein Tanz!“ Na gut, tanzen wir also, und tatsächlich, sie tanzt sehr gut. Aber natürlich geht es doch
nicht nur um einen Tanz. Marta trägt zwar kein knappes Top und einen zu
kurzen Rock, doch ich fürchte, dass sie wie so viele junge Mädchen in Addis anschaffen muss, um sich und ihre Familie über Wasser zu halten. Prostitution ist weit verbreitet in Äthiopien und gesellschaftlich keineswegs ein
Tabu. Viele Mädchen stehen abends an der Straße, es ist fast so normal wie
394
Äthiopien
Uwe Schmidt
die jungen Männer, die tagsüber die Ferengjis anquatschen. Und dennoch
staune ich über Sizays Kaltschnäuzigkeit. Vor wenigen Stunden saß er noch
mit mir und meiner Freundin beim Abendessen, später erklärte er mir mehrfach, wie schön sie doch sei, what a beauty, um mir dann Marta vorzustellen. Sein Bruder Ebo schaut mir aufmerksam zu, er legt die rechte Hand auf
sein Herz, als ich Martas Angebot ablehne. In dem Moment glaube ich, dass
er mir zeigen will, wie sehr ihn meine Treue bewegt. Aber er sagt etwas anderes: „I am an artist, you know. I have my own website.“
Ich habe genug und will gehen. Doch so einfach komme ich nicht davon.
Auch Yonathan, Sizay und Ebo brechen auf. Yonathan kann nicht zu sich
nach Hause, weil er angeblich bei seiner Mutter im Raum schläft, mitten in
der Nacht will er nicht mehr stören. Ebo hat keine Wohnung in Addis. Also
müssen beide mit zu Sizay, und dafür brauchen sie ein Taxi. Auf einmal stellt
Sizay fest, dass er kein Geld mehr hat. Sowas.
„Uwe, you need to help me.“ Er müsse die beiden Freunde mit nach Hause nehmen und für sie ein Taxi zahlen. Ein Taxi kostet vielleicht 20 Birr, ich
gebe ihm 40. Doch nein, es geht nicht nur ums Taxi. „Uwe, das sind meine
Brüder! Ich muss ihnen was bieten, sie sollen heute Nacht noch was erleben. Gib mir 300 Birr.“ „Sizay, warum soll ich dir 300 Birr geben?“ frage
ich. „Ich gebe dir Geld fürs Taxi und damit gut.“ Doch jetzt kippt die Stimmung. „Ich habe dich den ganzen Abend über eingeladen“, ruft Sizay, „und
Du willst jetzt nicht Deinen Teil geben!“ Yonathan versucht ihn zu beruhigen, peinlich berührt, doch er muss ja noch bei Sizay übernachten. Am Ende
steht Sizay vor dem Gitter des Taitu-Hotels und brüllt mir hinterher: „Wir
haben ein Problem, wir zwei!“
8. Doppelte Bildungsexpansion
Chanies Eltern besitzen ein Stück Land im Nirgendwo Äthiopiens. Auf
dem Feld säen und ernten sie Teff, Bohnen, Mais und Kaffee, außerdem gehören ihnen Ziegen und ein paar Kühe. Auf dem kleinen Hof mitten in der
Savanne sind Chanie, seine Schwester und vier Brüder aufgewachsen. Als
Kinder mussten sie den ganzen Tag das Feld harken oder die Rinder hüten.
Die nächste Stadt, Bahir Dar, lag hundert Kilometer entfernt, und auch Bahir Dar ist keine Metropole, sondern trotz der 80.000 Einwohner ein ziemliches Nest. Dass Chanie es an diesem Fleck geschafft hat, gar nicht schlechtes Englisch zu lernen, ist erstaunlich. Wenn der heute 19-Jährige an die
viele Arbeit zu Hause denkt, ist er froh, fort zu sein. „Nein, ich sehne mich
nicht zurück“, sagt er und lächelt. Chanie hat einen großen Sprung gemacht:
Er lebt inzwischen in Dessie, zwei Tagesreisen nach Osten. Dort beginnt er
395
Uwe Schmidt
Äthiopien
im Sommersemester 2008 ein Studium, als erster aus seiner Familie und als
erster aus dem Dorf.
Chanie treffe ich auf dem Campus der Universität Dessie. Die Vorlesungen haben noch nicht begonnen, aber die Neulinge sind schon da, um sich
einzuschreiben und die Schlafsäle zu beziehen. Es gibt nicht viel zu tun
an diesen Tagen, da ist die Ankunft eines Weißen für die Erstsemester ein
echtes Ereignis. Die Menschen in Äthiopien sind in der Regel eher misstrauisch, einem Journalisten gegenüber erst recht, doch hier umringen mich
prompt 50, 60 junge Menschen. Sie sind neugierig und schüchtern zugleich.
Die Mädchen verstecken sich hinter den Jungs, und die Jungs drängeln sich
zwar um mich, als wäre ich Christiano Ronaldo oder Cesc Fabregas, aber sie
sagen nur dann etwas, wenn ich einen Einzelnen gezielt anspreche. Nur wenige können sich auf Englisch so gut ausdrücken wie Chanie, und bei manchem überlege ich, wie er demnächst etwas lernen soll, denn an Äthiopiens
Hochschulen wird auf Englisch unterrichtet.
Ismael gehört zu denen, die auch in der Fremdsprache flüssig reden können, und dazu passt, dass er Englischlehrer werden will. Er stammt aus dem
Süden des Landes und brauchte drei Tage im Bus, um nach Dessie zu kommen. Gesachew hat sich für Psychologie eingeschrieben und Samatchew
hört demnächst Biologie, obwohl sein Wunschfach eigentlich Chemie war.
Aber egal, wen ich frage: Alle, die sich hier in Dessie versammeln, sind die
ersten aus ihrer Familie, die eine Uni besuchen.
Chanie, Ismael und die anderen können studieren, weil der äthiopische
Staat derzeit im großen Stil neue Universitäten bauen lässt. Bislang gibt
es in Äthiopien nur neun Hochschulen für rund 30.000 Studierende – nun
sollen dreizehn neue dazu kommen, so dass bald 120.000 junge Leute im
Jahr eine akademische Ausbildung erhalten können. Das ist bei der Größe
des Landes natürlich immer noch wenig, denn in Äthiopien werden schon
bald mehr Menschen leben als in Deutschland, und in Deutschland gibt es
über 300 Hochschulen. Doch die Verdopplung der Unis und Vervierfachung
der Studentenzahl ist angesichts der dürftigen Infrastruktur Äthiopiens dennoch ein enorm wichtiges und ambitioniertes Projekt. Und ein umstrittenes. Potentielle Geldgeber aus dem Norden hätten es lieber gesehen, wenn
die Äthiopier zuerst ihre Grundschulen verbesserten. Die Regierung will
jedoch zunächst in die höhere Bildung investieren, um Fachkräfte für die
so sehnlich gewünschte Industrialisierung heranzuziehen. Darum bekommt
Äthiopien für den Uni-Bau kein Geld von der Weltbank oder anderen möglichen Financiers – und zahlt die neuen Universitäten komplett aus dem eigenen Haushalt.
Die Überweisungen gehen nach Deutschland, an die deutsche Gesellschaft
für Technische Zusammenarbeit (Gtz), insgesamt 250 Millionen Euro kos-
396
Äthiopien
Uwe Schmidt
tet die Bildungsexpansion. Ohne ausländische Hilfe geht es im Land ohne
Fachkräfte nicht, das ist klar. Aber warum die Deutschen und nicht die weitaus billigeren Chinesen oder Koreaner? Den Ausschlag gab der Wunsch,
das Fachkräfteproblem von zwei Seiten anzupacken: Einerseits wollen die
Äthiopier mehr Unis haben, andererseits aber auch die Bauwirtschaft in
den Provinzen aufpäppeln. Bislang gibt es nur in Addis Abeba Bauunternehmen, in der Hauptstadt wird an allen Ecken und Enden gebaut. In den
kleineren Städten hingegen fehlt es an Firmen und ausgebildeten Maurern,
Klempnern, Elektrikern, und nur wenige Menschen leben in richtigen Häusern. Entsprechend interpretiert die GTZ ihre Rolle: Sie bewegt selbst keine
Steine. Stattdessen organisiert sie die Arbeit, berät kleine Firmen und bildet
Handwerker aus. Capacity Building nennt sich der Ansatz, er gilt derzeit als
die Zauberformel in der Entwicklungshilfe in Äthiopien. Im Gegensatz dazu
pflegen die Asiaten bei ihren Afrika-Geschäften eine andere Herangehensweise. „Wenn die Chinesen den Auftrag bekommen, dann sitzt auch ein Chinese am Bagger“, sagt Martin Hansen, GTZ-Angestellter und Direktor des
University Capacity Building Programme (UCBP).
Hansen, 39 Jahre und studierter Politologe, ist der Chef von 400 Beschäftigten. In seinem hellen Anzug und mit seinem strengen Seitenscheitel könnte er für eine deutsche Versicherung arbeiten. Stattdessen kümmert er sich
in Addis Abeba um einen besonderen Auftrag: Universitäten und zugleich
Kapazitäten aufbauen, das ist in dieser Größe neu für die GTZ. Der Entwicklungshilfe-Konzern hofft auf ähnliche Folgeaufträge, und das könnte
sich lohnen. Der Uni-Bau in Äthiopien ist das bis dato größte Geschäft des
kommerziellen Zweiges der GTZ. Hansen hat am frühen Morgen etwas Zeit
für ein Treffen frei geräumt. Sein Zeitplan ist eng, gleich muss er zu einem
Treffen mit Wondwossen Kiflu, dem äthiopischen Staatsminister für Bildung. Wondwossen genießt unter Entwicklungshelfern einen guten Ruf als
zupackender Politiker, er lässt sich immer wieder auf den Baustellen sehen
und unterstützt den Uni-Bau nach Kräften. „Das Commitment der äthiopischen Regierung finde ich sehr beeindruckend”, sagt Hansen. So ehrgeizig
und diszipliniert arbeiteten nur wenige Partnerländer der GTZ an ihrer Entwicklung – viele andere afrikanische Regierungen nehmen einfach mit, was
ihnen die Geberländer so anbieten. Der UCBP-Chef fährt fort: „Die äthiopische Regierung nimmt ihre Aufgabe verdammt ernst, die Ziele des Landes selbst zu bestimmen, und sie nicht einfach von außen vorgeben zu lassen.” In Addis hört man immer wieder, bei den Bauaufträgen müsse die GTZ
Unternehmen bevorzugen, die der Regierungspartei oder zumindest einem
ihren führenden Köpfen nahe stehen. Doch das sind Vorwürfe, die Hansen
routiniert abwehrt. „Was wir bauen, das sind alles Low-Cost-Gebäude. Damit macht niemand große Gewinne.“ Wolle die Regierung jemandem Ge-
397
Uwe Schmidt
Äthiopien
schenke machen, dann müsse sie an lukrativere Aufträge denken. Und zwar
in der Hauptstadt, nicht in der Provinz.
Kombolcha in der Provinz Wollo hat nur eine asphaltierte Straße, aber
der Ort darf sich seit Kurzem Universitätsstadt nennen. Die dreizehn neuen
Hochschulen sind nach Regionalproporz über Äthiopien verteilt worden:
Eine wird in einem kleinen Dorf im tropischen Regenwald hingesetzt, eine
an den Rand der Danakil-Wüste und eine hier, auf dem staubigen Campus am Südrand Kombolchas zwischen 3.000 Metern hohen Bergen. Die
ersten Low-Cost-Häuser stehen bereits, und wenn die Universität in drei
Jahren fertig sein wird, werden es insgesamt 50 Gebäude sein. Die sollen dann Hörsäle und Seminarräume, Schlaf- und Waschgelegenheiten für
6.000 Studenten bieten.
Geleta, Tigestu und Eysu zählen zu den ersten, die in Kombolcha ein Studium aufnehmen. Sie sind alle 19 Jahre jung, kommen frisch von der Schule und sehen noch nicht wie künftige Ingenieure aus. Sie kennen sich von
zu Hause, und das widerspricht ein wenig den Gepflogenheiten der äthiopischen Bildungspolitik. Das Bildungsministerium in Addis schickt die Studenten am liebsten querbeet durch das Land. Das sorgt bei vielen Studenten
für schlimmes Heimweh, sie sind dann erstmals von ihrer Familie getrennt.
Aber die Bundesregierung will auf diese Weise verhindern, dass sich an den
Unis ethnische Eliten formieren und die Fliehkräfte des Vielvölkerstaates
zunehmen. Die Führungsschicht von morgen soll ein gesamt-äthiopisches
Bewusstsein haben. Auf dem Campus teilen sich Gelata, Tigestu und Eysu
mit einem vierten Kommilitonen einen Schlafraum von 16 Quadratmetern.
Die drei beklagen sich nicht über die Enge, im Gegenteil. „Wir sind sehr
glücklich, dass wir hier sind“, sagt Gelata. Er und seine Freunde erhalten
eine Art BAföG in Naturalien: Sie bekommen Unterkunft und Essen gestellt, und erst wer später gut verdient, muss einen Teil der Verpflegungskosten zurückzahlen. So wird das Studium auch für Kinder armer Eltern möglich – und arm sind bekanntlich fast alle Äthiopier.
Für die Uni Kombolcha sah der Plan vor, dass sie als erstes die Physiker
und Biologen aufnimmt, doch nun hat das Ministerium in Addis Abeba die
Erstsemester der Ingenieurswissenschaften geschickt. Die für sie vorgesehenen Labore kommen allerdings erst im nächsten Bauabschnitt dran. Frank
Urbanskis Aufgabe besteht darin, solche Widrigkeiten zu managen. Der Architekt war bis vor einem Jahr in Afghanistan tätig, davor an einem anderen
Ort in Afrika, nun leitet er den Uni-Bau in Kombolcha. Seine Kollegen sagen, dass er den Tag mit einer halben Stunde Yoga beginnt, und das scheint
sich auszuzahlen: Urbanski strahlt auch in der Hektik der Baustelle eine
buddhahafte Gelassenheit aus. An diesem Morgen führt er Moges Logaw,
den Vizepräsident der neuen Uni über den Campus. Der deutsche Architekt
398
Äthiopien
Uwe Schmidt
trägt Jeans und einen ergrauten Zopf, der äthiopische Professor einen dunkelblauen Anzug. Die beiden schlendern durch den Staub und beschließen,
noch rasch vor der nächsten Regenzeit Gehwege über den Campus zu pflastern. Im Juli und August regnet es vehement in Äthiopien, dann sollen die
Studenten nicht durch den tiefen Schlamm waten müssen.
Noch sieht hier alles proper und schick aus, doch nach den Erfahrungen an den anderen Unis hält sich das nicht sehr lange. Der Vizepräsident
schlägt vor, alle Wände schwarz anzustreichen, dann falle der Schmutz nicht
so auf. Urbanski hält von der Lösung nicht viel, aber auch er ahnt, dass die
hübschen Neubauten rasch herunterkommen werden. „Das ist kein Vandalismus, aber die meisten Studenten kommen eben richtig vom Land und
kennen darum viele Dinge nicht.“ Viele waschen ihre Kleider in den Toiletten und hängen sie dann über die Wasserleitungen – und die sind low-cost
gebaut und brechen ab. „Man müsste es ihnen einfach mal erklären“, sagt
der Architekt. Doch das wäre die Aufgabe der Uni-Verwaltung, nicht der
deutschen Bauhelfer.
Aufgabe der Deutschen ist es, Leute wie Jemal Said zu unterstützen. Jemal ist 44 Jahre, er hat sehnige Unterarme und ist der informelle Chef der
Kooperative Anbassa, einer Truppe von elf Eisenbiegern. Die Kooperative
muss sich für die nächsten Jahre keine Sorgen um Aufträge machen. Urbanski wird die Eisenbieger noch mindestens drei Jahre brauchen, und wenn
der soziale Wohnungsbau des Condomium Housing Programme mehr vierstöckige Häuser nach Kombolcha bringt, dann sollte es auch danach genug
Arbeit für Anbassa geben. Jemal Said arbeitet schon seit 25 Jahren als Eisenbieger, zur Schule ist er nur acht Jahre gegangen - die Kurse von UCBP
zur Buch- und Geschäftsführung kommen ihm darum sehr gelegen. Es war
Jemals Idee, das Tagelöhner-Dasein zu beenden und zum Baubeginn der
Uni Kombolcha eine Kooperative zu gründen. Der Staat setzt starke Anreize
für diesen Schritt, er gibt günstige Kredite und auch Land. Privilegien, die
sonst nur Export-Unternehmen erhalten. Die äthiopische Regierung fördert
Kooperativen von mindestens zehn gleichberechtigten Teilhabern, weil sie
hofft, so eine Spaltung des Landes in reiche Unternehmer und arme Arbeiter zu verhindern. Tatsächlich schafft sie aber auf diese Weise oft unbewegliche Gruppen. Jemals Kooperative arbeitet mit elf Teilhabern, von denen sich
Jemal Said mehr als die anderen um Aquise, Buchhaltung und Organisation kümmert. Jetzt treffen wir ihn auf der Baustelle, ein Bündel Eisenstäbe
in der Hand. Jemal sagt, dass er gern klare Zuständigkeiten hätte. Er träumt
von seinem eigenen Unternehmen.
Für Träume und Gespräche bleibt auf der Baustelle indes kaum Zeit. Alles muss schnell gehen. Die ersten Studenten kommen, und während sie den
Vorlesungen lauschen, gehen nebenan die Bauarbeiten weiter. Sobald ein
399
Uwe Schmidt
Äthiopien
Bauabschnitt fertig ist, werden die Häuser zum nächsten Semester wieder
bezogen. Nicht nur das Gesamtprojekt – doppelt so viele Unis, vier Mal so
viele Studenten – ist ambitioniert. Auch das Tempo ist es. Die Gründe dafür
sind politische: Die äthiopische Regierung muss sich derzeit durch Leistungen beweisen, denn ihre Legitimation durch die Wahl 2005 gilt als zweifelhaft. Eine Wahlbeobachterin des EU-Parlaments hatte der Meles-Regierung
vorgeworfen, die äthiopischen Parlamentswahlen gefälscht zu haben. In der
Folge kam es zu politischen Unruhen, die der Regierung immer noch im Nacken sitzen. Das halten viele Beobachter für den Grund, warum die Regierung nun so aufs Gas drückt und den Wählern Erfolge präsentieren will.
Die Baustelle in Kombolcha kommt gut voran – ähnlich gut wie das ganze
Land. Es gibt sichtbare Fortschritte und Erfolge, und oft staunt man sogar,
wie weit alles in so kurzer Zeit gediehen ist. Und doch wird man den Eindruck nicht los, dass die Äthiopier noch erfolgreicher wären, wenn sie ein
wenig mehr Geduld hätten, wenn sie mit dem ersten Schritt beginnen würden und nicht mit dem zweiten. Die Arbeiter in Kombolcha haben riesige
Tanks auf den Campus gehievt, um die Mensa und die Wohnheime mit Wasser zu versorgen. Denn fließend Wasser gibt es da noch nicht. Einen Auftrag
für die Erschließung der Flächen zu vergeben, dafür fehlte bisher die Zeit.
9. Die Sehnsucht der Karibik
In Shashemene gibt es an diesem Sonntag kein Getümmel auf den Straßen, es sind nur wenige Esel-Wagen unterwegs und auch kaum fliegende
Händler. Niemand ruft mir „Ferengji!“ hinterher, keiner will betteln, ein Geschäft machen oder einfach mit dem Weißen plaudern. Die wenigen Menschen auf der Straße blicken mich an, als ob sie denken: Weiß der Ferengji
eigentlich, wo er hier rumläuft?
Shashemene liegt sechs Autostunden südlich von Addis und hat etwa
86.000 Einwohner. Es ist ein Ort ohne Sehenswürdigkeiten und bestimmt
auch ohne Touristen, und doch klebt auf einmal ein selbst ernannter Fremdenführer an meinen Fersen. „You need a Tour Guide!“ will er mir vorschreiben. Im Unterschied zu den Guides in anderen Orten ist er nicht nur
lästig, er wirkt auch aggressiv, und das ist eine neue Erfahrung in diesem
Land. Äthiopier können anstrengend oder arrogant sein, aber aggressiv?
Shashemene ist ein besonderer Ort in Äthiopien, denn Shashemene ist die
Stadt der Jamaikaner. Vor etwa vierzig Jahren kamen die ersten Einwanderer aus der Karibik, gläubige Rastas, und seither sind ihnen immer weitere
gefolgt. Die Rastas haben in Shashemene eine Art Gemeindezentrum, gut
geschützt hinter hohen Mauern und einem Eisentor. Nach minutenlangem
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Äthiopien
Uwe Schmidt
Warten öffnet endlich ein dünner Rastaman mit einer ausgebeulten rot-gelbgrünen Mütze auf dem Kopf. Auf Besuch hat er keine Lust, das ist rasch
klar. „No man, it‘s Sunday“, knurrt er. Der Hüter des Rasta-Treffs sieht aus
wie Snoop Dog und er spricht auch so gedehnt wie der Rapper. „It‘s clo-osed.“ Es wundert mich, dass nicht mit jedem Wort eine Graswolke aus seinem Mund kommt. In diesem Moment schlüpft ein kleiner, weißer Junge mit
blonden Dreadlocks durch das Tor. Er spricht kurz mit dem Türhüter, läuft
dann los und verschwindet in einem Haus auf der anderen Straßenseite.
Die Rasta-Bewegung stammt aus Jamaika, doch das heilige Land der Rastas ist Äthiopien. Ihr Glaube formte sich unter den Nachfahren jener Afrikaner, die als Sklaven auf den Zuckerrohr-Plantagen der Karibik schuften
mussten. Sie variierten den christlichen Glauben und machten ihn zu einem
Instrument der schwarzen Emanzipation. Der Gott der Rastas ist der Gott
der Bibel, aber ihr Messias ist ein Afrikaner. Die Verbindung zu Äthiopien ergab sich, nachdem ein jamaikanischer Prediger 1928 folgende Vision
hatte: Ein Schwarzer steigt auf den Thron und weist den versprengten Afrikanern den richtigen Weg. Zwei Jahre später wurde in Äthiopien ein Fürst
namens Tafari zum Kaiser gekrönt. Ras Tafari nannte sich als Kaiser Haile
Selassie, seine alte Anrede avancierte zum Namen der neuen Religion. Jahre später schenkte Haile Selassie den jamaikanischen Rastafaris Land in
Äthiopien, in Shashemene. Das ist der Grund, warum sich Menschen von
sonnigen Karibikinseln nach einer staubigen und traurigen Provinzstadt in
Äthiopien sehnen.
Der Rastafari Wantu ist einer von denen, die sich auf den Weg gemacht
haben ins gelobte Land. Er wurde vor 51 Jahren auf Trinidad und Tobago geboren, hat eine Weile in Europa gelebt und kam vor fünf Jahren nach
Shashemene. „Es sind leider nur fünf Jahre“, sagt Wantu und schüttelt den
Kopf. „Mann, es müssten eigentlich fünfzehn sein!“ Jetzt sitzt er in seinem
Haus in Shashemene und hat einen Joint zwischen den Lippen. Der glimmt
jedoch nur schwach, es sieht so aus, als ob Wantu nur deshalb raucht, weil
ein Rastaman es tun sollte. Er wirkt nicht bekifft, sondern formuliert seine
Sätze sauber und mit viel Überzeugungskraft. „Gott liebt dieses Land“, sagt
er. „Am Ende der Zeit möchte ich in Äthiopien sein.“ Äthiopien ist für ihn
ein spiritueller Ort, hier ist er Gott nahe, hier lebt er in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen.
Wantu hat sich in Shashemene ein Haus gebaut; es ist jenes Gebäude, in
das vorhin der Junge verschwand. Der Kleine ist sein Stiefsohn, die Familie
lebt mit zwei Freunden im Erdgeschoss des Hauses, die Stockwerke darüber sind noch nicht ausgebaut. Im Haus liegen Hämmer, Sägen und Zangen
herum, niemand hat den Frühstückstisch abgeräumt, obwohl Mittag längst
durch ist. Sieben Leute hocken beisammen wie in einer Hippie-Kommune,
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Uwe Schmidt
Äthiopien
sie rauchen und quatschen. Alle tragen Dreadlocks, die klassischen RastaZöpfe, und beteuern dennoch, es gehe nicht um Äußerlichkeiten. „Nicht
alle Dreads sind Rastas, und nicht jeder Rasta muss Zöpfe haben“, sagt der
Gastgeber. Besuch ist hier willkommen, und vielleicht gelingt es ja, den Besucher aus Europa zu bekehren. Wenn er schon bis Shashemene gekommen
ist, dann müsste da doch was zu machen sein. Um ein Rastafari zu werden,
muss man nicht aus der Karibik kommen oder schwarz sein. Wantu redet
gerne über seinen Glauben, selbst wenn er auf eine Frage zu seinem Lebensweg antwortet, findet er einen schnellen Weg zur Religion. „Du solltest die
Bibel lesen, junger Mann“, legt er mir an Herz. „Die Bibel – und die Schriften Haile Selassies.“
Bob Marley und andere Musiker haben Rasta weltweit bekannt gemacht,
doch die Gedankenwelt der Rastafaris reicht tiefer, als die popkulturelle
Oberfläche aus Reggae, geflochtenen Zöpfen und Marihuana-Rauch ahnen
lässt. Rasta verknüpft Elemente des Christentums mit äthiopischer Mythologie. Bob Marley besingt immer wieder den Lion of Zion – Haile Selassie
und die anderen äthiopischen Kaiser verstanden sich als Nachfolger der biblischen Könige David und Salomon. Einem äthiopischen Mythos zufolge
hatte Salomon mit der Königin von Saba einen Sohn, der die Gesetzestafeln
mit den zehn Geboten nach Äthiopien brachte. Dadurch rückten die Äthiopier an die Stelle Israels als das auserwählte Volk. Die Afrikaner der Karibik identifizierten sich zudem mit den Israelis des alten Testaments, die
nach Babylon verschleppt wurden. Die europäischen Sklavenhalter waren
die Vertreter Babylons, heute sind es Kapitalisten, manchmal ist es auch
schlicht der Westen. Marley nannte sein Live-Album „Babylon by Bus.“
Heimgekehrt aus Babylon werden die Jamaikaner in Äthiopien oft belächelt. Das Land weiß nicht so richtig, wie es mit ihnen umgehen soll, die
Behörden haben noch keinem der Einwanderer aus der Karibik eine äthiopische Staatsangehörigkeit verschafft. Den Einfluss der Jamaikaner spürt man
am stärksten in der Musik. Teddy Afro, der Held der äthiopischen Jugend,
unterlegt seinen amharischen Gesang mit Reggae-Rhythmen, und er hat es
von den Rastas übernommen, in Konzerten Haile Selassie zu preisen. Selassie ist heute durchaus populär in seinem Land, obwohl er zu Lebzeiten in
Äthiopien wie ein absolutistischer Fürst herrschte. Anfangs wollte er noch
das Land modernisieren, später aber blockierte er den Fortschritt. Die große
Hungersnot 1972 in der Region Wollo kümmerte ihn kaum mehr. Der letzte
Kaiser Äthiopiens wurde schließlich 1974 gestürzt.
Dass die Rastafaris ausgerechnet ihren alten Kaiser als Gott verherrlichen, amüsiert gebildete Äthiopier. Auf einer Party erzählt mir Yealem, eine
22-Jährige Studentin, die Geschichte vom Mann, der die Sonne in die Karibik brachte. Haile Selassie war stets gerne in der Welt unterwegs, und in den
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Äthiopien
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60er-Jahren besuchte er dann auch Jamaika. Der Kaiser rechnete mit einem
kleinen Staatsempfang und war äußerst irritiert von dem, was ihn tatsächlich
erwartete. Am Flughafen begrüßten hunderttausende Menschen ihren Messias, sie rauchten Gras und tanzten. Der konservative Monarch konnte mit
den langhaarigen Kiffern wenig anfangen, die Rastafaris aber waren begeistert. An jenem Tag fanden sie viele neue Anhänger, denn ausgerechnet als
Haile Selassie kam, stoppte der wochenlange Regen und die Sonne kehrte
an den Himmel zurück. „Ein klarer Beweis seiner Göttlichkeit, findest Du
nicht?“ fragt mich Yealem und strahlt.
Zurück nach Shashemene und zu Wantu, dem Rastafari. Ich möchte von
ihm wissen, was er vom Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre hält.
Wenn der internationale Kapitalismus das Land erreicht, bedeutet das für ihn
die Ankunft Babylons? Doch so sieht Wantu die Dinge nicht. Im Gegenteil.
Auch Wantu und seine Freundin freuen sich über den Boom der vergangenen
Jahre. Auch sie wollen etwas aufbauen. Im Moment verdienen sie ihr Geld
mit der Zucht von Truthähnen und Hunden, bald möchten sie ein Restaurant
aufmachen. Äthiopien wird sich entwickeln, es wird florieren, da ist sich
Wantu sicher. Er hat jedoch ganz andere Gründe für seine Hoffnung als all
die Entwicklungshelfer, Politiker und Unternehmer. Die Rastafaris erwarten
eine Endzeit, den Verfall Babylons, und der soll einhergehen mit dem Aufstieg von Gottes Land Äthiopien. Was wir in Addis an der Bole Road sehen,
ist ein Teil dieses Aufstiegs. „Wenn im Norden die Banken kollabieren und
alles schlechter wird, wenn Du spürst, dass es zu Ende geht, dann komm nach
Afrika“, rät mir Wantu, „Komm zu uns ins Rift Valley nach Äthiopien.“
10. Epilog
Es ist dunkel geworden in Addis Abeba. Wir sitzen unter Bäumen, in einem Café nahe der Universität, an den anderen Tischen tauschen sich die
Studenten aus. Mein Gesprächspartner hat fast zwei Stunden über sein Land
gesprochen, doch dann sagt er: „Wenn Du etwas schreibst, erwähne bitte auf
keinen Fall meinen Namen.“ Er hat interessante Dinge berichtet, aber nichts
Brisantes, nichts, was sich gegen die Machthaber richtet, denn auch er sieht
Äthiopien auf dem richtigen Weg. Warum also sorgt er sich? Er antwortet
mir mit einer Formel, die Äthiopier gerne verwenden, wenn irgendetwas
schief läuft: „Das ist Afrika.“ Und er erklärt, was die Formel an dieser Stelle
bedeuten soll: „Die Dinge sind hier immer unsicher. Wenn du dich nur ein
bisschen exponierst, kann es sein, dass du dafür bezahlen musst. Schau doch
nur mal nach Kenia, wohin die Gewalt dort schlägt, und wie viele unschuldige Menschen sie trifft.“
403
Uwe Schmidt
Äthiopien
Es ist eine eigentümliche Erfahrung, in einem Land zu recherchieren, das
keine Tradition der freien Presse hat und in dem die Menschen viel Unrecht
und Unterdrückung erlebt haben. Viele Äthiopier wollen nicht mit einem
Journalisten sprechen oder zumindest nicht zitiert werden. Das gilt selbst
für den jungen Unternehmer, der in den USA studiert hat und zurück nach
Äthiopien gekommen ist, der von seinem Land schwärmt, große Hoffnungen hat und sagt: „Addis ist für mich der aufregendste Ort Afrikas.“ Diese
Zurückhaltung ist angesichts der äthiopischen Geschichte verständlich, ihr
Ausmaß hat mich dennoch überrascht. Darum bin ich heute den Menschen
umso dankbarer, die sich Zeit für ein Gespräch genommen und mir geholfen haben. Namentlich danken kann ich nicht allen, die mir geholfen haben.
Aber ohne Saba und Selam, Emishaw, Abdi und Fikeru hätte ich mich viel
länger fremd in diesem Land gefühlt. Ich danke Wiebke, die mit den Funklöchern der Ethiopian Telecommunications leben musste, und ich danke Ute
Maria Kilian und der Heinz-Kühn-Stiftung, die das alles möglich gemacht
hat. Danke!
404
Petra Tabeling
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Indonesien
vom 2. Dezember 2007 bis 8. Januar 2008
405
Indonesien
Petra Tabeling
Liberal-islamische Netzwerke in Indonesien
Von Petra Tabeling
Indonesien, vom 2. Dezember 2007 bis 8. Januar 2008
407
Indonesien
Petra Tabeling
Inhalt
1. Zur Person
410
2. „Selamat Hari Natal“ – Weihnachten in der Regenzeit
410
3. Reise in die Vergangenheit – die koloniale Geschichte
412
4. „Einheit in Vielfalt“ – die indonesische „Pancasila“
413
5. Glockenläuten und der Ruf des Muezzins
415
6. Interreligiöser Dialog in schwierigen Zeiten
416
7. Die muslimischen Massenorganisationen
418
8. Liberal-islamische Gegenbewegungen –
das „Netzwerk Liberaler Islam“
419
9. Der Wahhabismus auf dem Vormarsch
420
10. „Todes-Fatwa“ gegen Netzwerk-Gründer
421
11. Bildung als Schlüssel zum demokratischen
Islamverständnis – „Rahima“
421
12. Das politische Erbe „Gus Durs“ – das Wahid-Institut
422
13. Wenn Kreativität zur Sünde wird – Indonesiens Künstler
423
14. Anti-Pornographie-Gesetz gegen freie Kunst
425
15. Propheten und Künstler
426
16. „Sex, Religion und Coca-Cola”
427
17. Kritischer Journalismus unerwünscht
428
18. Resümee
432
19. Danksagung
432
409
Petra Tabeling
Indonesien
1. Zur Person
Geboren bin ich 1971 im beschaulichen Norddeutschland, in Cloppenburg. Studium der Germanistik, Anglistik und der Allgemeinen Literaturwissenschaft sowie Gasthörerin im Studiengang Medienplanung, -entwicklung und -beratung in Siegen. Diverse freie Mitarbeiten bei WDR, ZDF, arte
etc. Ab 2001 absolvierte ich ein Volontariat bei der Deutschen Welle mit
anschließender Redakteurstätigkeit. Zwischendrin verbrachte ich eine Zeit
lang beim öffentlich-rechtlichen irischen Sender RTE in Dublin. Seit 2004
arbeite ich als freie Journalistin für Hörfunk und Print in Köln mit Sitz im
Journalistenbüro MediaparkSüd, u.a. für den WDR, DLF, oder qantara.de.
Meine thematischen Schwerpunkte sind vor allem Migration, Gesellschaft
und Medien. Ich war Gastdozentin an der Universität Erfurt und der KonradAdenauer-Stiftung sowie Gastrednerin zum Thema Pressefreiheit und freie
Moderatorin. Seit mehreren Jahren engagiere ich mich für „Reporter ohne
Grenzen“ und beschäftige mich mit den psychischen und physischen Arbeitsbedingungen von Krisenreportern. Im November 2006 erhielt ich das
Dart Center Ochberg Fellowship des „Dart Centers für Trauma und Journalismus“. Seither baue ich dieses Netzwerk, das sich für einen sensiblen Umgang mit Opfern in den Medien und um die Belastungen von Journalisten
kümmert, in Deutschland, Schweiz und Österreich auf.
2. „Selamat Hari Natal“ – Weihnachten in der Regenzeit
Bali, Sumatra oder Lombok, aber Jakarta? Die freundliche Mitarbeiterin im Reiseliteraturfachgeschäft in Köln ist verwundert über mein Reiseziel. Die indonesische Hauptstadt dient bestenfalls als An- und Abflugort,
um weiterzureisen zu den touristischen Höhepunkten wie Bali, auf der man
gerne seine Weihnachtsferien am Strand verbringt. Über die Stadt mit ihren
zehn Millionen Einwohnern finden sich kaum Informationen, dafür stapeln
sich die Fachbücher im bestens sortierten Buchladen über andere indonesische Provinzen. Wohl aus Mitleid bekomme ich einen schon verblichenen, englischen „Lonely Planet“-Stadtführer aus den 90er Jahren geschenkt.
Besser als nichts, denke ich mir, denn schließlich werde ich dort den Großteil meiner Recherche über liberal-islamische Netzwerke verbringen und somit auch Weihnachten und Neujahr, allerdings im tropischen Binnenland,
wo zu dieser Jahreszeit die Regenzeit angebrochen ist. Für mich ist es der
erste Aufenthalt in Asien und ich bin mehr als sehr gespannt.
Mir ist schnell klar – wer sich mit Jakarta und seiner Umgebung auseinandersetzen will, macht das besser vor Ort. Und man muss viel Geduld
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fürs Ankommen aufbringen – fast drei Tage dauert die Reise ab Köln über
München via Abu Dhabi, und sie bereitet mich schon jetzt darauf vor, dass
ich viel Sitzfleisch mitbringen muss. Von der Hauptstadt der Vereinigten
Arabischen Emirate reise ich dann als einzige Europäerin im Flugzeug –
dazu noch als einzige hellhäutige, große und dunkelblonde Frau. Damit ziehe ich nicht ohne Grund viele verstohlene Blicke auf mich, denn meine Gesellschaft besteht aus hunderten zierlichen Indonesierinnen, von denen die
meisten ein buntes Kopftuch tragen. Zwar wird es meist so um Kopf und
Hals geschlungen, dass nur das Gesicht sichtbar ist, doch darf bei manchen
der kräftige Lippenstift passend zur Farbe des Tuches nicht fehlen. Ohne
Punkt und Komma unterhalten sich die Frauen lautstark miteinander und
amüsieren sich, zwölf lange Flugstunden lang. Schlafen tut kaum jemand
von ihnen und ich auch nicht. Der einzige Mann im Flieger ist, außer den Piloten, ein etwas überforderter Flugbegleiter. Die Stimmung unter den Frauen ist ausgelassen, denn sie fliegen einen langen Weg nach Hause zu ihren
Familien. Sie sind Gastarbeiterinnen, die in arabischen Haushalten zumeist
als Reinigungskräfte, Köchinnen oder Hausmädchen tätig sind. Viele von
ihnen können sich eine solche Flugreise kaum leisten. Weihnachten und
Neujahr gelten auch in Indonesien, dem größten islamischen Land weltweit,
als willkommene freie Tage. Die Arbeit in der Ferne ist meist unterbezahlt,
das Tabu, über Ausbeutung von Fremdarbeitern aus Asien oder Indien zu
sprechen, ist groß. Und dennoch glauben viele, das reiche arabische Land
am Persischen Golf biete ihnen die einzige Chance, der wirtschaftlichen Not
und Arbeitslosigkeit in ihrem Herkunftsland zu entfliehen.
Endlich angekommen am Jakarta-Airport, schlägt mir die schwül-feuchte Hitze ins Gesicht, die Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt ist strapaziös, das Verkehrschaos groß. Es geht nur im Schritttempo voran – vorbei
an kleinen Holzhütten, eher armselige Verschläge, die die Hauptausfallstraßen säumen und wie Schachteln vor den in den Ferne hochragenden, grauen Wolkenkratzern aus Beton wirken. Ringsherum steht das Wasser bis an
die Straße, noch am Tag zuvor war die Hauptstraße zum Flughafen überschwemmt und nicht befahrbar. Es ist Regenzeit, Überflutungen sind somit
keine Seltenheit, was die Transportwege allerdings unberechenbar macht.
Dafür sind die Indonesier umso gelassener, denn in dem unübersichtlichen, chaotischen und lauten Zentrum der Megametropole Jakarta, mit seinen unzähligen Mopeds und Wagenkolonnen, die im Stop-and-Go-Tempo
voran kriechen, ist die Umsicht und Ruhe der Einheimischen beeindruckend. Dafür kostet es mich einige Nerven, meine erste, dicht befahrene
sechsspurige Straße ohne Ampel unter den mitleidigen Blicken der Straßenverkäufer zu überqueren. Am anderen Ende erschöpft angekommen, stellen mir schüchtern zwei Indonesierinnen mit einer Kamera hinterher, um
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mir dann nach einigen Missverständlichkeiten zu deuten, dass ich nicht ein
Foto von ihnen machen soll, sondern dass ich das Objekt ihrer Fotobegierde
bin. Sie posieren neben mir, und ich komme mir vor wie ein außerirdisches
Wesen. Im Stadtteil Menteng, einem der etwas wohlhabenderen Stadtviertel im Zentrum Jakartas, finde ich, dank einem Tipp einer deutschen Asien-Korrespondentin, einen preiswerten Unterschlupf in einem so genannten
„Homestay“, einem indonesischen Zimmer mit Frühstück. Das ist im Innenhof einer Künstlergalerie gelegen und bietet mir einen idealen Rückzugsund Ausgangsort, da es zentral liegt.
Der Klimawandel ist allerorts sichtbar. Nachts steigen in den Straßen Jakartas, in dessen Asphalt die größten Schlaglöcher lauern, die ich bislang
gesehen habe, seltsame graue Nebelschwaden auf. Es sind die Abgase der
unzähligen Autos, oftmals verdunkelte Jeeps, so dass niemand in den Wagen
hineinschauen kann, und der knatternden indonesischen Mopedrikschas, die
Fußgänger sowie die an den Straßen aufgereihten Garküchenwägelchen in
Staub hüllen. Jakarta ist tatsächlich keine Stadt, in der man sich lange und
gerne aufhält. Jakarta ist ein Moloch, eigentlich eine Ansammlung vieler
kleiner Städte ohne wirkliches Zentrum. Im Großraum wohnen insgesamt
mehr als 23 Millionen Menschen. Surreal anmutende Glashochhausbauten
schießen wie Pilze aus dem Boden, kleine Hütten und Bungalows reihen
sich zu deren Füßen aneinander. Die Flüsse und Kanäle, vor allem im alten
Hafenviertel Batavia, sind mitunter stinkende Kloaken – eine durchorganisierte, städtische Müllentsorgung gibt es nicht, bis auf einige Straßenkehrerinnen in grellen, orangefarbenen Overalls, die sich verhüllt ihrer Arbeit
widmen und mit stoischer Gelassenheit die Straße mit einem alten Reisigbesen kehren. Welcome to Jakarta!
3. Reise in die Vergangenheit – die koloniale Geschichte
Unweit von Menteng befindet sich der Merdeka-Platz mit dem „National Monument“ – ein riesiger Marmorpfeiler mit über 110 Metern Höhe,
der in den 70er Jahren auf Geheiß des damaligen Präsidenten Suharto errichtet wurde. Der Nationalstolz sollte sichtbar sein und auch nachts leuchten; die künstliche Marmorflamme an der Spitze ist angeblich mit 34 Kilo
Gold verziert. Im Keller des Monuments befindet sich das nationale Geschichtsmuseum – ein Pflichtbesuch für jeden indonesischen Grundschüler
und für mich eine gute Gelegenheit zu erfahren, wie die noch junge Demokratie in Indonesien die koloniale Vergangenheit aufarbeitet. Im Gebäude
hält sich sowohl der Besucherandrang als auch das Angebot in Grenzen, nur
wenige Touristen verirren sich hierhin, das Aufsichtspersonal scheint sich zu
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langweilen. In über 30 Schauvitrinen werden verschiedene Episoden aus der
indonesischen Geschichte mit angemalten Holzfiguren nachgestellt, zwei
Museumsmitarbeiter entstauben die Puppen. Eine kleine Infotafel erklärt
die jeweilige Szene.
Nach fast 100-jähriger portugiesischer Dominanz setzten sich um 1600
die Niederländer als Kolonialherren durch. Im Frühjahr 1942 begann die japanische Armee, das Land zu besetzen. Eine fast 350-jährige Zeit der Kolonialherrschaft war vorbei. Am 17. August 1945 rufen Sukarno und Mohammed Hatta die Unabhängigkeit Indonesiens aus, auf der Grundlage der
Pancasila: „Einheit in Vielfalt“, eine Staatsphilosophie, die sowohl verschiedene Religionen, wie den Islam, den Buddhismus und Hinduismus, als auch
unterschiedliche Sprachen und Kulturen in dem Vielvölkerstaat zu integr
ieren versucht. Im März 1965 ergriff Suharto die Macht und regierte mit
harter Hand bis 1998. Nach einer kurzen Amtszeit von Bacharuddin Jusuf
Habibie wurde Abdurrahman Wahid, der 1991 das Demokratie-Forum in
Opposition zu Präsident Suharto gegründet hatte, Präsident. Abgelöst wurde
er schließlich von der Tochter des ersten indonesischen Präsidenten Achmed
Sukarno, Megawati Sukarnoputri. Nach den ersten direkten und freien Präsidentschaftswahlen des Landes wurde Susilo Bambang Yudhoyono 2004
Staatspräsident und regiert seitdem die Inselrepublik.
Einen aufschlussreichen und spannenden Höhepunkt bieten die figürlichen Anordnungen im Museum nicht. Auch die Schulklassen, die hier
durchgelotst werden, machen eher einen gelangweilten Eindruck. Draußen
merke ich schnell, dass ich wohl ein interessanteres und lebendiges Exponat
bin, an dem das spärliche Schulenglisch der Schüler lauthals praktiziert werden will: „Hello Misses! How are you? Where are you from?“
4. „Einheit in Vielfalt“ – die indonesische „Pancasila“
Indonesien stellt mit seinen rund 240 Millionen Einwohnern die größte
muslimische Gemeinschaft der Welt dar. Doch obwohl fast 90 Prozent der
Indonesier Muslime sind, ist der Islam keine Staatsreligion, Religionsfreiheit ist fester Bestandteil der indonesischen Verfassung. „Einheit in Vielfalt“
– so lautet denn auch das Selbstverständnis des säkularen Staates, der sich
auf die „Pancasila“-Philosophie stützt, die sowohl verschiedene Religionen,
wie den Islam, den Buddhismus und Hinduismus, als auch unterschiedliche
Sprachen und Kulturen zu integrieren versucht.
In diesen Tagen finden sich oftmals dieselben Themen in der englischsprachigen „Jakarta Post“ wieder: Angriffe auf religiöse Minderheiten, Dialoginitiativen zwischen Christen und Muslimen, Verfolgungen der islami-
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schen Ahmadiya-Sekte, Hetzreden fundamentalistischer Eiferer. Vor allem
die Tatsache, dass Weihnachten, und somit ein zentraler Feiertag für Christen vor der Tür steht, heizt die Stimmung nur noch mehr auf. Vor dem Hintergrund wachsender sozialer Probleme seit Ende der 1990er Jahre, die oft
zu religiösen Konflikten stilisiert werden, haben gewaltsame Übergriffe auf
Minderheiten zugenommen, radikal-islamische Splittergruppen bedrohen
den gesellschaftlichen Frieden des Landes.
Das Ende der Suharto-Diktatur und der Beginn der so genannten
„Reformasi“-Ära läutete zwar eine spürbare Demokratisierung in Staat und
Gesellschaft in Indonesien ein. Doch von den neuen Freiheiten profitierten nicht nur liberale Parteien und zivilgesellschaftliche Akteure, die sich
für Toleranz und Demokratie einsetzten, sondern auch Vertreter des radikalen Islams. Heute ist der politische Islam in Indonesien auf dem Vormarsch.
Gruppierungen wie die islamische Verteidigungsfront (FPI) oder die Partei
für Gerechtigkeit und Wohlfahrt (PKS) predigen ein konservatives und einseitiges Islambild. Sie fordern die landesweite Einführung des islamischen
Strafrechts und ziehen gegen alles vermeintlich Dekadente und Unsittliche
in der Gesellschaft zu Felde. Internationales Aufsehen erregte vor allem ein
Bombenattentat auf der Insel Bali, welches 2002 über 200 Menschen tötete. Der Anschlag war der bisher folgenschwerste Akt von Terrorismus in der
indonesischen Geschichte. Die Opfer waren mehrheitlich ausländische Touristen. Hinter dem Anschlag vermutete man Abu Bakar Bashir, den spirituellen Führer der Terrororganisation Jemaah Islamiyah (JI). Der radikalen islamischen Organisation sagt man eine Verbindung zu dem Terrornetzwerk
der Al-Qaida nach. Im August 2003 erfolgte ein weiterer Terrorakt, wieder
an einem Ort, an dem sich auch internationale Touristen aufhielten. Das Ziel
ist dieses Mal das Marriott Hotel in der Innenstadt Jakartas, auf das nur ein
paar Tage vor der Urteilsverkündung gegen einen der Hauptbeschuldigten
des Attentats von Bali ein Anschlag verübt wird. Dabei kostete eine Autobombenexplosion zwölf Menschen das Leben.
2006 macht wieder ein Vorfall in den deutschen und indonesischen Medien von sich Reden, bei dem es dieses Mal nicht um Blut und Tote geht,
sondern um eine eher absurde Situation. In Tangerang, einem Vorort Jakartas, in dem 1,5 Millionen Menschen leben, wird eine Frau, die alleine
nach Einbruch der Dunkelheit an einer Bushaltestelle steht, ohne Angabe
von Gründen, festgenommen. Es geht um ein neues nächtliches Ausgehverbot für Frauen, und um weitere islamisch-konservative Implementierungen, die Eingang in die Stadtgesetze von Tangerang finden, z.B. das Verbot alkoholischer Getränke, und um die Einführung islamischer Gesetze.
Die Frau klagt, der Fall wird von den Medien verfolgt, von den westlichen
wird Tangerang als Symbol der „schleichenden Islamisierung“ bezeichnet,
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die bereits in anderen Provinzen vollzogen war. In der Provinz Aceh ist
beispielsweise die Scharia erlaubt, somit das Kopftuch Pflicht und Alkohol verboten. Bereits 22 Provinzen und Distrikte haben Elemente islamischen Rechts eingeführt. Als „stille Revolution“ macht dieser Vorfall von
sich Reden.
Aspekte, die als bedrohliche Tendenzen aufgegriffen werden und einer
der Anlässe für meinen Aufenthalt sind. Ich frage mich, wie es wirklich um
die viel gepriesene Pancasila und die religiöse Toleranz in der Inselrepublik
bestellt ist. Was hat sich seit den Anschlägen von Bali im Jahr 2002 getan?
Welche Stimme und welchen Einfluss haben die liberal-islamischen Netzwerke in der indonesischen Bevölkerung? Wie steht es um den interreligiösen Dialog und wie um Zensur und Meinungsfreiheit in einer zehn Jahre
alten Demokratie?
5. Glockenläuten und der Ruf des Muezzins
Aber zunächst lasse ich mich am folgenden Tag durch die nahe gelegene,
imposante Moschee führen. Die Istiqlal-Moschee ist die größte Moschee
Indonesiens und eine der größten Zentralasiens. Allein das Hauptgebäude
mit seinen fünf Etagen fasst über 50.000 Gläubige. Die Etagen symbolisieren die „fünf Säulen des Islams“, weiß mein Begleiter, ein junger MoscheeAngestellter in dezenter Uniform. Er zählt sie an seinen fünf Fingern ab: das
islamische Glaubensbekenntnis, das Beten, das Fasten, die Spenden für die
Armen und die Pilgerfahrt nach Mekka. Prinzipien, die im Einklang mit der
Pancasila stünden, der indonesischen Staatsideologie, die ebenfalls auf fünf
Grundwerten basiere. Stolz gibt sich der Reiseführer, als er erklärt, dass die
ungewöhnliche und robuste architektonische Struktur der Moschee auf die
Verarbeitung von viel deutschem Stahl zurückzuführen sei – das Gotteshaus
wurde in den 60er Jahren von einem christlichen Architekt erbaut. Und wie
in jeder Moschee gibt es getrennte Plätze für Männer im unteren Bereich
und für Frauen auf den oberen Ebenen. Die Frauen sehe ich in den Nebengängen beten, einige Männer knien in der riesigen Haupthalle auf einem
Teppich, der in unzählige kleine Miniquadrate eingeteilt ist. Von den oberen Etagen ergibt sich ein beeindruckender Anblick auf das Geschehen unten und die riesigen Räume, deren wuchtige, silbernfarbige Säulen prächtig
schimmern. Man hat den Eindruck, als sei man in einem Palast, aber nicht
in einer Moschee. Selbst in Istanbul habe ich noch nichts Vergleichbares gesehen. Nur der Gestank des Flusses passt so gar nicht zu dem eben Erlebten
– vor der riesigen Moschee türmen sich Abfälle und Fäkalien im Flussbett
in der tropischen Hitze.
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In der katholischen Kathedrale, keine 50 Meter von der Istiqlal-Moschee
entfernt, findet der abendliche Gottesdienst statt. Die lauten Töne der Glockenschläge wetteifern ebenso wie die lauten Rufe des Muezzins über die
Lautsprecher der Minarette, um die Gläubigen zum Abendgebet zur Andacht
zu bitten. Für Westeuropäer eine fast absurde Klangkulisse. Die Kirche ist
voll, hunderte Christen versammeln sich hier in andächtigen Posen auf dem
gepflegten Innenhof des Geländes, um gemeinsam zu beten. In einer Ecke
des Hofes ist eine Art Grotte gebaut, in deren Mitte eine große Madonnenstatue aufgestellt ist. In strahlend hellem Blau scheint sie die Gläubigen, die
vor ihr auf Holzbänken knien, zu beobachten. Für viele ist der Innenhof mit
seinen Sitzgelegenheiten auch ein willkommener Ort, um miteinander leise zu sprechen oder sich schlichtweg auszuruhen. Ein kleiner Kirchenladen
bietet diverse Bibeln und religiöse Devotionalien an.
Doch so friedlich und besinnlich konnten Christen in den vergangenen
Wochen nicht immer zusammen kommen. Ein großes Polizeiaufgebot bewachte vor allem über die Weihnachtsfeiertage letzten Jahres landesweit
zahlreiche Gotteshäuser – aus Furcht vor möglichen Anschlägen radikalislamischer Gruppen. Vor der katholischen Kirche wurde jede Person – wie
am Flughafen – gründlich kontrolliert. Und auch in diesen Tagen wiederholt
sich das Sicherheitsaufgebot.
6. Interreligiöser Dialog in schwierigen Zeiten
Diese Furcht ist nicht unbegründet: In den vergangenen drei Jahren wurden nach Angaben der protestantischen und katholischen Kirchenführung
über 108 Gemeindehäuser und Kirchen attackiert, ausgeraubt, bedroht oder
niedergebrannt, vor allem auf Westjava. Gomar Gultom, Pastor und Vorstandsmitglied der protestantischen Kirchengemeinden in Indonesien (PGI Persekutuan Gereja Di Indonesia), der 81 Mitgliedskirchen mit etwa 10 Millionen Anhängern angehören, glaubt, dass die Ursachen für die zunehmende
islamistische Gewalt vielschichtig sind.
Als ich ihn und seinen Mitarbeiter Erick Barus in der Zentrale der PGI besuche, zeigt er mir eine lange Liste von Überfällen und Angriffen auf christliche Gemeinden. Gultom, ein zurückhaltender, freundlicher Mann, ist enttäuscht, dass die Täter nicht zur Räson gebracht werden. „Das ist eines der
sechs Hauptprobleme im heutigen indonesischen Konflikt zwischen Christen und Muslime“, sagt er und fügt resigniert hinzu: „Das animiert andere,
ungestraft davonzukommen. Das zweite große Problem ist, dass unsere Verfassung Freiheit garantiert. Aber die haben wir nicht wirklich. Drittens spaltet sich unsere Gesellschaft immer mehr, der Sektarianismus unter Christen
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und Muslimen weitet sich aus. Und gepaart mit einer höheren Gewaltbereitschaft in Folge brutaler Darstellungen in den Medien, wird er immer gefährlicher. Das fünfte Problem in unserem Land ist ein falsches Verständnis unserer Demokratie, in der man nicht versteht, dass auch Minderheiten Rechte
haben. Und das macht es sehr schwierig, Kirchen in Gegenden zu bauen, in
der die Mehrheit muslimisch ist. Und das sechste Problem ist, dass das Ministerium für innere und religiöse Angelegenheiten 2006 ein neues Gesetz
erlassen hat, welches vorschreibt, dass eine christliche Gemeinde mindestens 90 Personen umfassen muss, um den Bau einer Kirche zu rechtfertigen.
Aber all diese Bedingungen sind oft nicht zu erfüllen.“
Unkenntnis der religiösen Glaubensprinzipien, Aufstachelung zu Intoleranz und Gewalt sowie die zunehmende soziale Armut in Indonesien sind
die Triebfedern der häufigen Angriffe gegen Christen, aber auch gegen islamische Sekten, wie die Ahmadiya. Doch trotz des Konflikts bemühen sich
sowohl liberale muslimische Organisationen, als auch engagierte christliche
Kirchenvertreter, den interreligiösen Dialog weiter zu fördern. Und es gibt
auch positive Annäherungen.
Im Gegensatz zu dem ruhigen und bedächtig wirkenden Gomor Gultom
wirkt sein Kollege Erick Barus von der Batak-Gemeinde in Nord-Sumatra
fröhlich und spontan. Fast jeden Satz unterbricht er mit einer humorvollen
Einlage. Barus ist vor allem für die Dialogprojekte der Kirche zuständig.
Er berichtet: „Jedes Jahr halten wir ein so genanntes ‚Seminar der Religionen‘ ab, zu dem wir Teilnehmer aller Religionsgemeinschaften einladen,
darunter auch muslimische Gelehrte. Dann diskutieren wir, wie das friedliche Nebeneinander der Religionen in Indonesien verbessert werden kann.
Wir bieten Trainingsseminare an, an denen Pastoren der 86 Kirchensynoden
und muslimische Gelehrte teilnehmen. Den Pastoren werden dann aus einer muslimischen Perspektive Fragen erklärt wie: Was bedeutet eigentlich
Dschihad? Oder was sind die Ursachen des islamischen Fundamentalismus?
Wir veranstalten solche Seminare, weil wir mehr über die jeweils andere Religion in Erfahrung bringen müssen. Das ist wichtig für die Demokratie.”
Neben diesen landesweiten Initiativen gibt es auch auf lokaler Ebene Dialogprojekte. So treffen sich auf Zentraljava regelmäßig Christen mit Muslimen, um gemeinsam die Grundlagen des Islams zu studieren. Für einen Monat leben sie dann in so genannten „pesantren“ (islamische Internatsschulen),
um die Grundlagen des muslimischen Glaubens zu studieren. Junge Muslime
und Christen kommen zusammen, um gemeinsam auf dem Land ehrenamtlich soziale, karitative Arbeiten zu übernehmen. Zudem hat sich die Zusammenarbeit zu liberal-islamischen Gruppen und zur „Nahdlatul Ulama”, der
größten muslimischen Massenorganisation in Indonesien, die rund 30 Millionen Mitglieder zählt, seit Ende der 90er Jahre stetig verbessert.
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7. Die muslimischen Massenorganisationen
Einer, der beste und langjährige Verbindungen zu ihnen hat, ist Pater Franz
Magnis-Suseno. Ich treffe den bereits seit Jahrzehnten in Indonesien lebenden deutschen Jesuitenpater an der Philosophischen Hochschule Driyarkara
in Jakarta. Suseno ist ein sehr höflicher, großer, schlanker Mann mit schlohweißem, dichten Haar und einem unschlagbar milden Lächeln. Ich bin froh,
dass das Treffen mit ihm geklappt hat, denn Suseno ist ein gefragter Interviewpartner, der nicht nur für deutsche, sondern auch für indonesische Medien interessant ist. Unlängst hat er seinen 80sten Geburtstag gefeiert, was
man ihm erstens kaum glaubt und ihn zweitens nicht davon abhält, nach wie
vor an der Hochschule zu arbeiten und sich an verschiedenen Initiativen zu
beteiligen.
Suseno beschreibt den Verlauf des Dialogs zwischen Christen und Muslimen in den vergangenen Jahren so: „Einerseits haben sich die Beziehungen
zur ‚Nahdlatul Ulama‘, aber auch zu anderen großen Organisationen, wie
der ‚Muhammadiya‘, verbessert. Und eigentlich gibt es ständig Diskurse,
wobei wir auch über die Probleme sprechen, aber vor allem seit dem Sturz
Suhartos haben sich die extremistischen Gruppen die demokratische Freiheit zunutze gemacht, um an die Öffentlichkeit zu treten. Diese agieren sehr
lautstark und die Moderaten schweigen in der Regel – vielleicht mit Ausnahme des liberalen Flügels der Muslime.“ Dieser liberal-islamische Flügel sei jedoch nicht allzu einflussreich, weil er für die einfachen Muslime
schlicht zu liberal und abgehoben sei.
Pater Franz Magnis-Suseno, erzogen auf einem Jesuitenkolleg im
Schwarzwald, ist einer der bekanntesten Intellektuellen in Indonesien und
gehört zu den wichtigsten Figuren im interreligiösen Dialog in einem Land,
das von Hunderten verschiedener Kulturen, Sprachen und Glaubenstraditionen geprägt ist. Für seine Arbeit in Indonesien ist er sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. „Jede Religion muss in ihrer Wurzel
humanistisch sein. Ich sehe es daher als meine Aufgabe, für soziales Denken Werbung zu machen. Das wichtigste ist, Kontakt aufzunehmen und sich
gegenseitig kennen zu lernen. Wissen ist der einzige Weg, Ängste und Misstrauen auszulöschen“, sagt Magnis-Suseno, lange Jahre Rektor der Philosophischen Hochschule Driyarkara in Jakarta, der selbst viele muslimische
Freunde hat und den moderaten Konzepten der muslimischen Massenorganisationen wie der Nahdlatul Ulama (NU) und der Muhammadiyah vertraut, um die radikalen Splittergruppen in Indonesien zu überwinden. Und
dann fügt er, gleichsam als Resümee, hinzu: „Mir ist es sehr wichtig, dass im
Westen eine ausgeglichene Sicht darüber herrscht, dass man nicht den Islam
als solchen mit dem Terrorismus gleichsetzen darf. Wir haben in Indonesien
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eine muslimische Terrorgruppe, aber die ist trotz der schlimmen Anschläge
nicht repräsentativ – vor allem die Balibombe hat bei den moderaten Muslimen großes Entsetzen ausgelöst. Und diese stellen immer noch den allergrößten Teil des indonesischen Islam.“
8. Liberal-islamische Gegenbewegungen –
das „Netzwerk Liberaler Islam“
Es gibt durchaus Gegenbewegungen zu den konservativ-islamischen
Gruppierungen. Ein Netzwerk verschiedener muslimischer Nichtregierungsorganisationen hat sich in den vergangenen Jahren gebildet und etabl
iert, um ein zeitgemäßes Islamverständnis zu vermitteln und sich mit ihrer
Arbeit der voranschreitenden Islamisierung entgegen zu stellen. Um dem
radikalen Islam im bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde mit
seinen 240 Millionen Einwohnern etwas entgegenzusetzen, gründeten sich
zahlreiche liberale muslimische Gruppierungen, wie etwa das „Netzwerk
Liberaler Islam“ (Jaringan Islam Liberal), das seit 2001 in der Hauptstadt
Jakarta existiert. Jaringan Islam Liberal (JIL) versteht sich im Gegensatz zu
formal-muslimischen Organisationen, wie der „Nadlathul Ulama“, als loses
Netzwerk diverser liberal-islamischer Gruppierungen, Initiativen und Einzelpersonen. Ihr erklärtes Ziel: den Austausch islamischer Gruppierungen
mit einem liberalen Islamverständnis zu fördern und eine journalistische
Plattform für Analysen, Hintergrundberichte und Interviews zu schaffen.
Eine der ersten großen Veranstaltungen des „Netzwerks Liberaler Islam“
fand im Jahr 2002 statt. Jaringan Islam Liberal lud damals landesweit 30
islamische Organisationen mit einer liberalen Agenda ein, um über die gegenwärtigen Herausforderungen für die muslimische Gesellschaft seit dem
Ende der Suharto-Ära zu diskutieren.
Ich treffe Luthfi Assyaukanie, den Koordinator von Jaringan Islam Liberal, im Innenhof des Bürogebäudes im Zentrum Jakartas. Der weltgewandte
Intellektuelle, Islamwissenschaftler und Dozent an der Paramadina-Universität in Jakarta weiß genau wovon er spricht, wenn er die Bedeutung der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit seiner Organisation hervorhebt: „Wir leben
jetzt in einer demokratischen Gesellschaft. Doch wenn wir diese nicht mit
unseren Ansichten bereichern, dann werden die Radikalen versuchen, diese
Lücke zu schließen. Wir verstehen uns als Antwort auf den wachsenden Islamismus in Indonesien.“
Luthfi Assyaukanies „Netzwerk Liberaler Islam“ stellt eine kleine Bewegung überwiegend junger Publizisten und Islamwissenschaftler dar. Sie engagieren sich für den interreligiösen Dialog, den Erhalt des Säkularismus
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und die Pluralität der indonesischen Gesellschaft. Die Gruppe wendet sich
entschieden gegen eine buchstabengetreue Auslegung des Korans und plädiert für einen zeitgemäßen Islam, in dem Meinungsfreiheit, Frauenrechte
und Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften und Minderheiten respektiert werden. Die Aktivisten des Netzwerks sehen sich – nach Darstellung Assyaukanies – in der Tradition der islamischen Reformbewegung
des 19. Jahrhunderts. Ihre Vorbilder sind Mohammad ’Abduh, Ali Abdel
Razeq und Rashid Rida.
9. Der Wahhabismus auf dem Vormarsch
Darüber hinaus verstehen sie sich als Gegenpol zur wachsenden Islamisierung der indonesischen Gesellschaft seit Ende der 90er Jahre. Das Aufkommen des radikalen Islam sunnitischer Prägung sei dabei nicht so sehr
ein „hausgemachtes Problem“ als Folge des demokratischen Umbruchs
nach dem Ende der Suharto-Diktatur und der damit einhergehenden Toleranz auch gegenüber demokratiefeindlichen Strömungen, betonen die Initiatoren des „Netzwerks liberaler Islam“. Vielmehr blicken die Anfänge des
politischen Islam auf eine sehr lange Vergangenheit zurück, betont Luthfi Assyaukanie: „Diese konservative, dogmatische Ideologie des Wahhabismus kam in den 70er Jahren durch die Erdölgeschäfte mit Saudi-Arabien
ins Land. Davor war der Islam toleranter und wies viele Formen des Synkretismus auf. Aber die Anhänger der Wahhabiten waren gegenüber diesem
Islam-Synkretismus sehr feindlich eingestellt.“
Eine der größten Gefahren besteht in der Einflussnahme der Wahhabiten
im religiösen Bildungs- und Erziehungsbereich, den „madrasas“ und „pesantren“. Mit Finanzhilfen vor allem für die verarmten Schulen in den ländlichen Regionen Indonesiens versuchten sie, sehr gezielt ihre Ideologie zu
verbreiten, erklärt Luthfi Assyaukanie. „Es gibt „pesantren“, die zweifelsohne vom wahhabitischen Denken stark beeinflusst sind. Aber ich glaube,
dass sich die traditionellen islamischen Internatsschulen sehr stark dagegen
wehren, weil sie immer noch die lokalen religiösen Traditionen akzeptieren
und ihre religiöse Praxis synkretisch ausgerichtet ist. Aber die modernen
„pesantren“ haben mit diesem traditionellen Islam nichts mehr zu tun, daher sind sie auch viel ungebundener, was die Interpretation ihres Glaubens
betrifft.“
Ein weiteres wahhabitisches Einflussfeld besteht, laut Assyaukanie, in der
Verbreitung dieser Ideologie in den Moscheen Indonesiens: „Die Moscheen
stellen ja nicht allein den Mittelpunkt der Gläubigen für das tägliche Gebet
dar“, sagt der Koordinator von Jaringan Islam Liberal. „Es gibt das Freitags-
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gebet und viele andere religiöse Anlässe, an denen versucht wird, wahhabitische Islamvorstellungen unter die Gläubigen zu bringen. Dies stellt bis heute
die zweite große Herausforderung für die indonesische Gesellschaft dar.“
10. „Todes-Fatwa“ gegen Netzwerk-Gründer
Mit ihrem Engagement für ein modernistisches Islamverständnis sowie
für den Erhalt des Säkularismus und die Pluralität der indonesischen Gesellschaft ernteten die Aktivisten des „Netzwerks liberaler Islam“ schon bald
nach ihrer Gründung den Zorn radikaler Islamisten. So wurde gegen Assyaukanies Vorgänger, den renommierten Islamgelehrten Ulil Abshar-Abdallah, auf Geheiß des „Indonesischen Rates der Religionsgelehrten“ eine
Fatwa erlassen, in der er als „Abtrünniger des Islams“ bezeichnet wurde.
Manche sehen in diesem umstrittenen Rechtsgutachten ein Todesurteil gegen den Intellektuellen. Der Grund hierfür war sein Essay in der größten indonesischen Tageszeitung, in dem sich der progressive Islamgelehrte und
überzeugte Demokrat für eine neue und offene Interpretation des Islams
aussprach, die eine öffentliche Debatte auslöste – zum Missfallen der religiösen Hardliner. „Die Drohungen kamen damals von den Radikalen und den
Konservativen”, erinnert sich Luthfi Assyaukanie. „Die Konservativen haben schon immer Widerstand gegen unsere Auffassungen und unsere Mission geleistet. Von ihnen werden wir immer mehr in Form von Drohungen
und Fatwas herausgefordert. Als dieser islamische Rat eine Fatwa gegen Ulil
erließ, verstanden wir das natürlich auch als Angriff gegen unsere Organisation insgesamt, weil wir alle für einen liberalen Islam werben.“
Ulil Abshar-Abdallah hat bereits kurz nach dem Fatwa-Erlass seinem Heimatland vorerst den Rücken gekehrt. Er lebt heute in den USA, wo er an
der Harvard-Universität promoviert und als Dozent arbeitet. Unbehagen und
Angst vor Drohungen islamistischer Scharfmacher beschleichen aber zunehmend auch andere Aktivisten des Netzwerks. Auch deshalb, weil ihr Redaktionsgebäude in jüngster Vergangenheit bereits mehrfach von einem islamistischen Mob attackiert worden ist.
11. Bildung als Schlüssel zum demokratischen Islamverständnis –
„Rahima“
Auch die indonesische Frauenrechtsorganisation „Rahima“ engagiert
sich seit vielen Jahren für die Emanzipation der Frau aus einem islamischen Blickwinkel heraus und kämpft für die politischen Mitspracherech-
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te von Frauen in der indonesischen Gesellschaft. Rahima-Direktorin Aditiana Dewi Erdani arbeitet mit einem kleinen Team in einem Haus eines
Wohnviertels in den Außenbezirken Jakartas. Drinnen sitzen ihre Kollegen
geschäftig an Computern, ein Durchgangszimmer dient gleichzeitig als Bi
bliothek und Besprechungsecke. In der Ecke rotieren Stehventilatoren um
die Wette. An der Wand hängen Aktions- und Aufklärungsplakate der Organisation, die sich gegen Gewalt an Kindern, Frauen, Aids und Drogen wenden. Erdani ist eine kleine, zurückhaltende, aber sehr selbstbewusste Frau.
Ich habe sie bereits ein Jahr zuvor auf einer Kölner Konferenz über Frauenrechte im Islam kennen gelernt.
Ihre primäre Aufgabe sieht „Rahima“ insbesondere in der Bildungsarbeit
in den ruralen Distrikten Zentraljavas. „Rahima“ kooperiert sogar mit dem
Lehrpersonal islamischer Internatsschulen, den sogenannten „pesantren“
und anderen islamischen Institutionen, wo sie für ein modernes Islamverständnis werben. „Als ‚Rahima‘ gegründet wurde, war unser primäres Ziel,
mit unserer Arbeit die islamischen Internatsschulen auf dem Land zu erreichen und deren Schulleiter (Qiay) sowie in einem zweiten Schritt die Lehrer
in diesen Schulen für unsere Themen zu sensibilisieren“, berichtet Erdani.
Und in der Fokussierung dieser Themen sind sie nicht alleine. So kooperiert
„Rahima“ bereits seit Jahren erfolgreich mit dem „Wahid-Institut“, das den
Namen des ehemaligen Präsidenten und wohl bekanntesten Islamgelehrten
des Landes, Abdurrahman Wahid (Gus Dur) trägt.
12. Das politische Erbe „Gus Durs“ – das Wahid-Institut
Auch das 2004 gegründete „Wahid-Institut“, das auf Initiative des ehemaligen indonesischen Präsidenten Abdurrahman Wahid („Gus Dur“) zurückgeht, setzt sich als NGO für einen toleranten, pluralistischen Islam sowie für
demokratische Reformen in Indonesien ein. Genau wie „Rahima“ nimmt
sich die Organisation der islamischen Internatsschulen (pesantren) an, da sie
als eigenständiges Schulsystem weitestgehend der staatlichen Aufsicht entzogen sind und dort die Gefahr islamistischer Indoktrination von Schülern
und Lehrern durch den voranschreitenden Wahhabismus am größten ist.
Ich bin mit Ahmad Suaedy, dem stellvertretenden Direktor des „WahidInstituts“ verabredet, und da ich viel zu früh dran bin, mache ich einen Spaziergang durch das Viertel. Mittlerweile weiß ich, dass der dichte und unberechenbare Stadtverkehr in Jakarta ein pünktliches Erscheinen zur ständigen
Herausforderung macht, das ich aber fast jedes Mal dank meiner kundigen
Taxifahrer gemeistert habe. Das Wahid-Institut residiert in einem modernen
Bungalow unweit einer Moschee, in der sich Hunderte Gläubige versam-
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meln, ebenso viele sitzen davor und bieten auf Decken verschiedene Waren an, es sieht aus wie eine Art Flohmarkt. Vor einer Schule zwei Straßen
weiter laufen mir Mädchen im Teenageralter in Schuluniform entgegen, die,
geschminkt und posierend, meine Kamera entdeckt haben. „Do you know
Madonna?“ und kichern belustigt vor sich hin. Sie sehen nicht so aus, als
ob sie später einmal gerne ein Kopftuch tragen möchten. Zwei Studentinnen mit eben solcher Kopfbedeckung sitzen im Garten des Wahid-Instituts
und sind in ihre Literatur vertieft. Im Bungalow selbst besticht die moderne,
westliche Einrichtung, überall hängen große Porträts des Gründers, des ehemaligen Präsidenten Wahid. Der ist mal als Comic-Figur dargestellt, mal als
mild lächelnder Politiker im Porträt.
Als Ahmad Suaedy in den klimatisierten und modernen Konferenzraum
eintritt, führt er mich erst einmal durch das Gebäude. Suaedy wirkt zurückhaltend, aber sehr weltgewandt, und zeigt mir stolz das vor kurzem
ausgebaute Obergeschoss, in der eine schöne kleine Bibliothek untergebracht ist. Hier findet sich alles zum Thema Moderner Islam und natürlich auch diverse Fachbücher und Biografien des Gründers Wahid. „Wir
verstehen unser Institut auch als Anlaufstelle für Interessierte und Studenten“, so Suadey. „Und in mehreren Veranstaltungsräumen finden regelmäßig öffentliche Veranstaltungen über gegenwärtige Diskussionsthemen
statt. Wir erleichtern es der ‚schweigenden Mehrheit der Muslime‘, den
Lehrern der islamischen Internatsschulen sowie den lokalen Führern, über
Islam und Friede, Islam und Pluralismus zu diskutieren, und in manchen
Regionen sorgen wir dafür, dass sie über ihre Schwierigkeiten gemeinsam
im Radio und in den lokalen Medien sprechen“, erzählt Suaedy. Es gilt die
„schweigende Mehrheit der Muslime“ von liberalen Islamvorstellungen
zu überzeugen, dafür werden in speziellen Seminaren und Fortbildungen
private Dozenten ausgebildet, die dann als Vermittler auftreten und in den
lokalen Gemeinden ihre liberalen Islamvorstellungen an Studenten und
Lehrer weitergeben.
Vor allem eines haben alle Gruppierungen des liberal-islamischen Netzwerkes gemein, um den wachsenden Einfluss islamistischer Hardliner zurückzudrängen: Bildung und Dialog als Schlüssel zur gegenseitigen Verständigung im indonesischen Vielvölkerstaat.
13. Wenn Kreativität zur Sünde wird – Indonesiens Künstler
Doch auch wenn sich der Einfluss religiöser Eiferer in Grenzen hält, so
gibt es doch immer wieder einzelne Einschüchterungsversuche auf diejenigen, die in der noch jungen Demokratie die Meinungsfreiheit in ih-
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Petra Tabeling
Indonesien
rer künstlerischen Arbeit ausdrücken. Indonesiens Gegenwartskünstler, die ihr Publikum vor allem in Yogjakarta, der zweitgrößten Stadt
der Inselrepublik, begeistern, fühlen sich zunehmend von islamistischen
Moralpredigern in ihrer Kreativität und ihren Ausdrucksmöglichkeiten
eingeschränkt.
Jüngstes Beispiel ist der auch international bekannte Künstler Agus Suwage. In seinem modernen, großräumigen Atelier in der zentraljavanischen Stadt Yogjakarta stapeln sich halbfertige Skizzen, offene Farbtuben,
Pinsel, Leinwände und Skulpturen auf einem fleckigen, dunkelbraunen
Parkettboden. Eine wahre Fundgrube für skurrile Porträts und Modelle.
Der Avantgardekünstler zeigt auf eine menschengroße, pinkfarbene Plastikpuppe mit ausgestreckten Armen. Die frappierende Ähnlichkeit mit
dem US-amerikanischen Präsidenten ist bereits von weitem leicht erkennbar: „George W. Bush als Opfer unserer heutigen Zivilisation“, murmelt
der 50jährige und lächelt listig. Für Agus Suwage liegen Kunst und Provokation dicht beieinander: Seine Kritik an gesellschaftlichen Missständen
kennt keine Tabus und spiegelt sich in seinen Collagen, Skulpturen und
Zeichnungen wider.
Für den international renommierten Grafiker und Maler ist Kunst keinem Denkverbot unterworfen – so dachte er jedenfalls noch bis vor kurzem.
Denn als er bei der CP Biennale im Oktober 2005 seine Installation „Pinkswing-Park“ in der indonesischen Hauptstadt Jakarta ausstellte, erntete er
lautstarken Protest einer islamistischen Vereinigung, die sich „Front der Verteidiger des Islam“ (Front Pembela Islam – FPI) nennt. Denn Suwage verwendete nackte menschliche Modelle, die symbolisch in einem Garten Eden
zu sehen sind – eine Allegorie. Doch er wurde von der Polizei angezeigt und
das Kunstwerk wurde auf Veranlassung der Organisatoren von der Biennale entfernt. „Dadurch wurde die ganze Sache dann zu einem großen Thema.
Sehr viele Medien haben das mächtig aufgeblasen.” Und Agus Suwage beschleicht jedes Mal ein Gefühl des Unbehagens, wenn er an die Ausstellung
zurückdenkt und den Katalog der Biennale zeigt. Thema: „Urbane Kultur“.
Das Foto seiner Installation zeigt im Vordergrund eine als Schaukel umgebaute Fahrradrikscha, im Hintergrund einen paradiesisch anmutenden Wald,
in dem jedoch nicht Adam und Eva, sondern indonesische „Soap“-Darsteller zu sehen sind. Es gibt keine anzüglichen Gesten, die Geschlechtsteile
sind mit weißen Flecken verdeckt.
Suwage kann noch immer nicht verstehen, was hieran so anstößig sein
soll: „Diese Leute verstehen doch wirklich überhaupt nichts von Kunst. Und
die Medien waren nur auf Schlagzeilen aus – ‚Infotainment‘. Aber wenn wir
von Kunst und von ‚urbaner Kultur‘ sprechen, geht es doch um etwas anderes. Sie vermischen Kunst und Sensation. Es ist ein Missverständnis. Ich
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Indonesien
Petra Tabeling
will etwas mit meiner Kunst ausdrücken und sie reagieren damit, indem sie
die Sache völlig aufblasen und bewusst falsch interpretieren.“ Die Folge:
Selbstzensur als Schutzmechanismus. Viele zeitgenössische Künstler scheuen heute das Risiko, ihre Kunst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu
machen oder meiden künstlerische Themen, die von den religiösen Moralisten in einem Land mit der größten islamischen Bevölkerung als Affront gewertet werden könnten.
14. Anti-Pornographie-Gesetz gegen freie Kunst
Nicht wenige Künstler sehen die gezielten Einschüchterungsversuche als
Teil einer größeren Kampagne – des heftig umstrittenen Anti-PornographieGesetzes, das islamistische Gruppen und Parteien derzeit in Indonesien fordern. „Dieses Gesetz wird bis heute diskutiert, inzwischen seit über zwei Jahren. Viele sprechen sich dagegen aus, weil doch klar ist, dass kein Mensch in
diesem Land Pornographie befürwortet“, erzählt Ahramaniani, eine couragierte Künstlerin aus Yogjakarta. „Dieses Gesetz, dass sie umsetzen wollen,
geht über das Problem der Pornographie weit hinaus: Es geht vielmehr darum, die Moral einer Person zu überwachen, was sehr gefährlich sein kann.
Meiner Meinung nach ist das fast schon faschistisch, weil sie mit einem
solchen Gesetz das Privatleben der Leute kontrollieren könnten.” Geht es
nach dem Willen der islamistischen Moralprediger, sollen per Gesetz obszöne Bilder aus aller Öffentlichkeit verbannt und Frauen dazu gezwungen
werden, Schultern und Beine zu bedecken. Doch auch, wenn es mehr als
fraglich erscheint, ob sich die religiösen Hardliner wirklich mit ihren kompromisslosen Vorstellungen im indonesischen Vielvölkerstaat durchsetzen
können, eines ist jedenfalls gewiss: Ihre lautstarken Drohungen haben ihre
Wirkung nicht verfehlt und diejenigen bereits massiv eingeschüchtert, die
sich schon immer für Toleranz und Pluralismus in ihrem Land eingesetzt haben: Indonesiens Künstler.
Es hat seinen Vorteil, ein paar Tage in einem Gästezimmer eines Künstlerateliers im Herzen Jakartas zu verbringen, denn hier erfahre ich von den
neuesten Ausstellungen in der Hauptstadt und bekomme wertvolle Kontakte vermittelt. Von der Künstlerin Arahmaiani hörte ich allerdings bereits in
Deutschland. Christina Schott, eine deutsche Journalistin, die unter anderem
für das Netzwerk „Weltreporter“ arbeitet und in Yogjakarta lebt, hatte bereits
einige Male über die 46jährige Künstlerin berichtet. Eine außergewöhnliche Frau, die sich unerschrocken der schleichenden Islamisierung entgegenstellt. Wegen ihrer provokativen Kunst zog sie allerdings schon mehrfach
den Zorn radikaler Islamisten auf sich.
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Indonesien
15. Propheten und Künstler
Wie es der Zufall will, lerne ich die couragierte Künstlerin, die zuletzt mit
jungen Künstlern in Indonesien, Thailand und auch in China zusammengearbeitet hatte, zum ersten Mal auf einer Kunstperformance in der Hauptstadt
Jakarta kennen. „Occupying Space“ – so der Titel der mehrtägigen Veranstaltung, auf dem Seminare, Ausstellungen und künstlerische Darbietungen
angeboten wurden. Nach Arahmaianis Vortrag über ihr jüngstes Kunstprojekt in Asien, das sie anhand zahlreicher Dias und Kurzfilme vor einer kleinen Schar Kunstinteressierter Indonesier und Europäer vorstellt und illustriert, finde ich in der Pause schließlich Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu
kommen. Bald kommen wir auf ihren ungewöhnlichen Werdegang als Performance- und Avantgarde-Künstlerin in einem islamischen Land zu sprechen und was sie überhaupt dazu bewogen hatte, Künstlerin zu werden.
„Als ich ein Kind war, hatte ich einen Traum“, beginnt Arahmaiani in fast
akzentfreiem Englisch zu erzählen und lächelt. „Ich wollte unbedingt Prophet werden, und teilte das feierlich meinen Eltern mit, aber mein Vater sagte, dass das nicht möglich sei, weil gemäß islamischer Tradition doch nur
Jungs Propheten werden könnten. Darüber war ich wirklich empört, fand
mich damit allerdings vorerst ab.“ Arahmaianis Vater, selbst ein islamischer
Gelehrter, erwartete von seiner Tochter, dass sie fünf Mal am Tag betete und
den Koran rezitieren konnte. Die Familie ihrer Mutter dagegen praktizierte
„Kejawen“ – eine für Java typische Mischung aus animistischen, hinduistischen und islamischen Traditionen.
Doch die Worte des tief gläubigen Vaters sollten ihr in Erinnerung bleiben. Über ihren Großvater, der in Yogjakarta als Künstler und Tänzer sehr
aktiv war, entdeckte sie die Malerei und das Schauspiel für sich, so dass
schon früh in ihr der Gedanke reifte, bildende Künstlerin zu werden. „Dann
fiel mir der Satz meines Vaters wieder ein und ich sagte mir: Wenn ich schon
nicht Prophet werden kann, dann werde ich eben Künstlerin – und zwar eine
talentierte und berühmte Malerin, um genau zu sein.”
Obwohl ihr Entschluss nur ungläubiges Staunen und Kopfschütteln des
Vaters hervorrief, setzte Arahmaiani ihr Vorhaben konsequent um. Heute
zählt sie nicht nur in Indonesien zu den anerkanntesten zeitgenössischen
Künstlern. Mit ihren zahlreichen kreativen audiovisuellen Kunstwerken, Installationen und Art-Performances ist sie auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Bezeichnend für ihren Stil sind die Reflexion und
der Umgang mit vielschichtigen sozialen und politischen Problemen in der
globalisierten indonesischen Gesellschaft. Sie nennt das „engagierte Kunst“
– eine Richtung, mit der sie allerdings schon früh aneckte – auch mit der
konservativen islamischen Geistlichkeit und den Verfechtern einer buchsta-
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Indonesien
Petra Tabeling
bengetreuen Ausübung der Religion. „Das musste ich aber in Kauf nehmen,
um mich künstlerisch frei zu entfalten, und dafür kämpfe ich schon seit einer ganzen Weile”, erzählt Arahmaiani. „Für jeden hat Religion schließlich
eine andere Bedeutung. Und ich glaube, dass die Religion in dieser Gesellschaft leider in sehr extremer Weise institutionalisiert worden ist. Dadurch
wurde sie von einer Gruppe von Leuten kontrolliert, die allein für sich den
Anspruch erhoben, die Religion zu verstehen und zu interpretieren. Aber ich
persönlich – als gewöhnlicher Mensch – habe doch das Recht, nach meinem
eigenen Verständnis Religion zu deuten und zu beurteilen – auch wenn das
einigen Leuten nicht passt!“
16. „Sex, Religion und Coca-Cola“
Ihre ganz eigene Interpretation von Religion war 1994 erstmals auch in
ihrer Einzelperformance „Sex, Religion and Coca-Cola“ in Jakarta zu sehen. Dort platzierte sie den Koran und die Bibel neben einem Paket Kondome und einer Flasche Coca-Cola. Arahmaiani erinnert sich noch gut an den
Moment, als dies schon bald empörte Proteste nach sich zog. „Die Konservativen protestierten, ihnen gefiel nicht, was sie da sahen. Es empörte sie
vor allem, dass neben dem Koran ein Paket Kondome zu sehen war. Ich hingegen wollte damit vor allem den Konsum in unserer Welt deutlich machen,
nämlich dass alles käuflich und die Welt eine Ware ist. Es gab viele Debatten
in dieser Zeit. Viele fühlten sich persönlich angegriffen von meinem Werk,
bezeichneten es als Blasphemie, aber ich musste deutlich machen, dass ich
ein ganz eigenes Konzept verfolgte und dass es mir vor allem um eine Kritik am Kapitalismus ging, den wir auch hier in Indonesien haben.“ Doch
Arahmaiani bekam weiteren Ärger. Nach der Ausstellung erhielt sie sogar
Todesdrohungen. Und selbst einige Jahre später hatten die Organisatoren einer Wanderausstellung in den USA Bedenken, dass die Cola-Flasche neben
dem Koran Unmut erregen könnte. Gezeigt wurde die Installation schließlich nur noch in New York.
Doch Arahmaiani will sich nicht nur als Kritikerin und „Seismographin“
einer mehrheitlich islamisch geprägten Gesellschaft verstehen, sondern
auch als weltoffene Indonesierin. „Ich will meine kritische Einstellung gegenüber allen Seiten erhalten. Das sehe ich als neue Herausforderung.“ Und
auf die trifft sie auch im Westen nach dem 11. September: Nach ihrer Einreise in die USA wird sie, die als Muslimin offensichtlich Verdacht erregt,
kurze Zeit später von den amerikanischen Einwanderungsbehörden verhört
und verbringt die Nacht im Hotelzimmer, unter Aufsicht eines Wachmannes.
Arahmaiani kann nur den Kopf schütteln, wenn sie daran zurückdenkt. „Und
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Indonesien
diese Aufsichtsperson hat die ganze Nacht vor meiner Tür geschnarcht, ich
habe natürlich kein Auge zugetan“, scherzt die Künstlerin, die all den vergangenen Drohungen, Schikanen und auch existentiellen Nöten stets mit einer großen Gelassenheit begegnet.
Doch trotz allem habe sie manches Mal darüber nachgedacht, für längere
Zeit ins Ausland zu gehen, Indonesien zu verlassen und in einer der vielen
Metropolen Europas, in denen sie Ausstellungen und Performances gibt, zu
leben. Zum Beispiel in Berlin, schwärmt Arahmaiani, das sie besonders gut
kennt, da sie dort eine Zeit lang als Stipendiatin des Goethe-Instituts verbringen konnte. Doch dann gab es vor einigen Jahren ein schweres Erdbeben in Yogjakarta, und viele Künstler starteten eine gemeinsame Initiative,
um der ärmeren Bevölkerung zu helfen, da der Staat viel zu spät reagierte.
So unterstützte Arahmaiani in dem Stadtteil Bantul, der südlich von Yogjakarta liegt und am schlimmsten betroffen war, die Bewohner, die auf sich
selbst gestellt waren. Das gab ihr als Künstlerin einen neuen Impuls, letztlich doch noch im Land zu bleiben – und um sich durch Kunstunterricht an
den islamischen Internatsschulen, den „pesantren“, für den Dialog mit dem
Islam einzusetzen. Bis heute gibt sie in Zusammenarbeit mit einem moderaten „Qiay“ einer islamischen Internatsschule in Bantul Kunstunterricht und
leitet dort verschiedene andere Projekte.
Arahmaiani ist viel unterwegs, engagiert sich ununterbrochen in Netzwerken und knüpft an neue Möglichkeiten an, auch in anderen Ländern
kreative Kunstprojekte zu realisieren. Sie verkörpert Toleranz, Offenheit
und Neugier, um gesellschaftliche und politische Veränderungen in ihrer
Heimat voranzubringen. Ihrem künstlerischen Anspruch, die Kehrseiten
der Globalisierung für Indonesien in ihren Werken aufzuzeigen, ist sie bis
heute treu geblieben.
17. Kritischer Journalismus unerwünscht
Doch zu den größten Herausforderungen für die indonesische Gesellschaft
zählen heute nicht allein die Folgen der Globalisierung und die schleichende Islamisierung durch konservative und radikale Islamisten. Gleichfalls ist
die noch junge Demokratie von ausufernder Korruption und Vetternwirtschaft bedroht. Die wachsende Einflussnahme privater Geschäftsleute und
Medienunternehmer in Indonesien sowie deren häufige Klagen gegen investigative Journalisten stellen die Pressefreiheit in der Inselrepublik vor neue
Herausforderungen. Zwar hat sich seit dem Sturz des autoritären SuhartoRegimes 1998 in Indonesien eine vielfältige und lebendige Medienlandschaft entwickelt – eine der freiesten in ganz Asien. Zensurmaßnahmen und
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Indonesien
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Zeitungsschließungen gehörten der Vergangenheit an, die Einführung des
Presserechtsgesetzes von 1999, das die Medienfreiheit als Bürgerrecht verankerte, bedeutete einen Meilenstein für die junge Demokratie der Inselrepublik. Doch aktuelle Zahlen belegen, dass es gegenwärtig um die Sicherheit von Journalisten und die Pressefreiheit nicht mehr zum Besten steht. So
stiegen die Übergriffe auf Journalisten 2007 im Vergleich zum Vorjahr von
53 auf 75 Fälle an.
Das ist das Ergebnis, das der Vorsitzende der unabhängigen Journalistenorganisation („Aliansi Jurnalis Independen“), kurz: AJI, Heru Hendratmoko, jüngst in der indonesischen Hauptstadt Jakarta präsentierte und in der
Jakarta Post zu lesen ist. Hierzu zählt die Vereinigung, die die Situation der
Medien in Indonesien regelmäßig beobachtet, physische Angriffe, Drohungen und juristische Klagen gegen Medienschaffende.
Ich besuche Heru Hendratmoko in seinem Büro im Zentrum Jakartas,
das ebenfalls gleich nebenan liegt. Er ist sehr beschäftigt, denn neben seiner Position als Vorsitzender der einzigen unabhängigen Journalistenvereinigung AJI leitet er nebenher den größten und ältesten Radiosender der
Stadt. Er führt mich zunächst einmal durch die modernen Tonstudios und
Büroräume, in denen es hektisch zugeht. Kurz zuvor ist für einige Stunden der Strom ausgefallen und somit auch die Klimaanlagen. Ich lerne
die Kunst des dezenten Schwitzens und die unerhörte Schwüle zu ignorieren, was mir besonders dann gut gelingt, wenn ich in einem klimatisierten Taxi sitze. Heru ist etwas nervös und telefoniert besonders häufig
mit seinem Handy, denn er organisiert kurzfristig eine Demonstration. Ein
Journalist in Yogjakarta ist festgenommen worden und sitzt im Gefängnis
in der zentraljavanischen Stadt Yogjakarta. Der Chefredakteur der Zeitung
„Radar Yogya“ wird ad hoc zu einer Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt, weil er angeblich einen einflussreichen Geschäftsmann diffamiert haben soll. Folgen der wachsenden rechtlichen Unsicherheit, die vielen Journalisten im bevölkerungsreichsten muslimischen Land derzeit zu schaffen
machen.
Zwar wurde nach dem Ende der Suharto-Diktatur das Informationsministerium 1999 geschlossen, das die Medien bislang einer strikten Kontrolle unterwarf. Auch wurde im gleichen Jahr das nationale Pressegesetz
zum Schutz der Pressefreiheit eingeführt. Allerdings kommt dieses heute
immer weniger zur Anwendung, kritisiert Heru Hendratmoko: „Wir haben
zwar seit 1999 ein sehr gutes Pressegesetz, das die Pressefreiheit in unserem Land schützt. Allerdings greifen Staatsanwälte und Richter leider immer mehr auf das Strafgesetz zurück“, sagt Hendratmoko. „Deshalb werden
nach wie vor viele Journalisten damit konfrontiert, wenn sie über bestimmte
Themen, wie beispielsweise Korruption, schreiben.“
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Indonesien
Doch mit ihrer Initiative, dem Pressegesetz in Rechtsfällen gegen Journalisten mehr Geltung zu verschaffen, stößt AJI bei der Justiz des Landes auf
taube Ohren: Die Regierung tendiere sogar dazu, das Pressegesetz gänzlich
zu revidieren, um die Kontrolle über die Presse zurückzubekommen, befürchtet Hendratmoko. Denn unter dem gegenwärtigen Pressegesetz habe
die Regierung kaum Möglichkeiten, den Spielraum der Medien einzuschränken oder zu beeinflussen. Und dass das Strafgesetz heute wieder verstärkt
bei Journalisten zur Anwendung kommt, belegt der Fall des Kollegen.
Nicht nur die Aussetzung des Pressegesetzes beeinträchtigt heute die Arbeit von Journalisten, sondern auch, dass zunehmend private Geschäftsleute
als Medienunternehmer aktiv sind und große Teile des Marktes kontrollieren
– und damit auch die Inhalte. Kritische oder investigative Berichterstattung,
etwa gegen Korruption und Vetternwirtschaft, ist da häufig unerwünscht.
Das hat Bambang Harymurti, Chefredakteur der Zeitschrift TEMPO, des
einflussreichsten und investigativsten Nachrichtenmagazins des Landes,
selbst erfahren.
Im Dezember 2003 wurden er und zwei seiner Kollegen angeklagt, weil
TEMPO kritisch über die dubiosen Geschäftspraktiken des Unternehmers
und Medienzars Tommy Winata im Zusammenhang mit dem Brand eines Textilmarktes in Jakarta berichtet hatte. Auch in diesem Fall wurden
die Angeklagten wegen des Tatbestandes der Diffamierung gemäß Strafrechtsparagraph 310 und 311 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Es kam jedoch nie zur Vollstreckung der Urteile. Trotz dieser Einschüchterungen
veröffentlicht TEMPO weiterhin kritische Berichte gegen Korruption und
Vetternwirtschaft. „Im Augenblick haben wir es wieder mit einer Klage eines der reichsten Geschäftsleute Indonesiens zu tun“, erzählt Bambang Harymurti. „In diesem Fall geht es um massiven Steuerbetrug, über den wir
berichtet haben.“
Die anhaltende juristische Auseinandersetzung mit Klägern aus der Privatwirtschaft ist inzwischen fast schon zum Aushängeschild des renommierten
Nachrichtenmagazins geworden. Doch bereitet Harymurti die gegenwärtige
Entwicklung der indonesischen Medienlandschaft große Sorgen: „Ich befürchte, dass immer weniger Medien wirklich investigativen Journalismus
leisten können – erstens wegen des hohen beruflichen Risikos und zweitens,
weil sich immer mehr elektronische Medien in den Händen von wenigen
Geschäftsleuten befinden, denen es ausschließlich darum geht, diese Medien für ihre Interessen zu nutzen.“
Um eine weitere Einschätzung der Medienentwicklungen und der Pressefreiheit zu erhalten, besorge ich mir die aktuellen Daten und Informationen
der Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“, für die ich mich
selbst seit ein paar Jahren engagiere. Das Hauptbüro in Paris hat mir vor
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Indonesien
Petra Tabeling
meiner Abreise den Kontakt zu ihrem Korrespondenten in Indonesien vermittelt. Diese „Stringer“ sind lokale Verbindungskontakte in den Ländern,
in denen die Pressefreiheit eingeschränkt wird. Seit ein paar Jahren macht
das ein gewisser „Item“, ein indonesischer Journalist, von dem ich mir erhoffe, dass er mir generell eine gute Einordnung der Entwicklungen in seinem Land geben kann. Item ist viel im Lande unterwegs, und aufgrund des
aktuellen Falles in Yogjakarta kaum in Jakarta anzutreffen. Also reise ich
nach Bandung, wo er sich kurzzeitig auf einer Tagung aufhält.
Wir treffen uns in dem Restaurant meiner Pension, eine herrlich begrünte
Hotelanlage, errichtet vor langer Zeit von den Niederländern, die ihnen im
Zweiten Weltkrieg angeblich als eine Art Erholungsstätte diente. Item ist ein
kleiner, dynamischer, drahtiger und jugendlicher Typ. Das Handy ständig in
Bewegung, tippt er flink diverse Textnachrichten, um sich nach den neuesten
Entwicklungen und dem Wohlergehen seiner kleinen Tochter zu erkundigen.
Item ist allein erziehender Vater, was ich in Indonesien für eine Seltenheit
halte. Darüber hinaus scheint seine Energie unendlich. Ein umtriebiger, stets
wissbegieriger Mensch, der atemlos scheint und darüber hinaus großen Humor beweist. Der Name „Item“ ist so etwas wie ein Pseudonym. Es bedeute soviel wie „Wiesel“ auf Indonesisch, erklärt er mir und lacht dabei, „und
der Name passt gut zu mir.“ Gerade kehrt er aus Yogjakarta zurück, wo er
den Fall des Kollegen beobachtet hat. Leider bleibt die Situation unverändert. Item weiß aber mehr über den besagten Geschäftsmann zu berichten,
dem der Journalist ein Dorn im Auge war. „Dabei handelt es sich um einen
Großunternehmer, dem auch ein Zeitungsverlag gehört und der den Ruf hat,
nach dem Sultan von Yogyakarta eine Art ‚zweiter König der Stadt‘ zu sein“,
berichtet „Item“, alias Eko Maryadi. „Und weil ihm die Berichterstattung
unseres Kollegen in seinem Fall nicht gefiel, hatte er kurzerhand gegen den
Chefredakteur geklagt – mit Erfolg.“
Item arbeitet seit fast 20 Jahren als Journalist und berichtete über Aufstände, Unruhen, Gewalt, Osttimor. Was er dort damals gesehen hat, vermag man sich nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorzustellen.
Unter Suharto war er selbst Opfer von Repressionen geworden und wurde
inhaftiert. Mit Humor nimmt Item trotz allem das, was ihm widerfuhr. Ein
bewundernswerter Mann, der mit seinen qualvollen Erinnerungen und Erfahrungen umzugehen vermag und immer optimistisch nach vorne blickt.
Auch das seit mehr als zwei Jahren im indonesischen Parlament diskutierte Anti-Pornographie-Gesetz schränkt die Pressefreiheit ein. Denn alles
das soll für illegal erklärt werden, was als „sexuelle Provokation und pornografische Handlung“ ausgelegt werden könnte. So erhielt der Herausgeber
des indonesischen „Playboy“, Erwin Arnada, bereits zur Erstausgabe im April 2006 Todesdrohungen von Islamisten, Konservative zogen vor Gericht.
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Indonesien
Daraufhin wurde der 42jährige wegen Verletzung der „Moralnormen“ und
„Unzüchtigkeit“ von der Staatsanwaltschaft angeklagt – wegen Abbildungen „entblößter Brüste“. Doch im April 2007 wurde Arnada freigesprochen,
denn die in der Zeitschrift veröffentlichten Fotos seien nicht als pornografisch zu bewerten, urteilte der vorsitzende Richter des Bezirksgerichts in Jakarta. Die Zeitschrift erscheint weiterhin, doch produziert wird sie nun auf
der Insel Bali – denn dort leben mehr Hinduisten als Muslime.
18. Resümee
Zurück im Flieger von Jakarta via Abu Dhabi nach München sitze ich
schon wieder als einzige westliche und hellhäutige Frau zwischen hunderten indonesischen Frauen. Im Gegensatz zu meinem Hinflug wirkt die Stimmung dieses Mal jedoch gedrückt. Kaum ein fröhliches Lachen ist zu hören,
die Frauen wirken ernst, sie wissen, sie werden ihre Heimat und Familien
eine Zeit lang nicht wieder sehen. Meine Eindrücke machen mich ebenfalls
sehr nachdenklich. Einerseits gibt es immer wieder Anlässe, die noch junge Demokratie Indonesiens auf den Prüfstand zu stellen. Ich muss an Menschen wie Pastor Gomor Gulton denken, der den Überfällen seiner christlichen Gemeinde ohne den Schutz der Regierung hilflos gegenübersteht.
Andererseits denke ich mit Bewunderung an den deutsch-indonesischen Pater Franz Magnis-Suseno, der aus den vielen Hochs und Tiefs im Dialog mit
den Religionen, seiner vergangenen Erfahrung mit dem autoritären Machtregime und den gegenwärtigen Demokratieproblemen einer freien Regierung eine gewisse Lässigkeit und Ruhe entwickelt hat, die ihn auch jetzt
positiv in die Zukunft blicken lassen. Als hoffnungsvoll empfinde ich die
engagierten Vordenker für einen toleranten, interreligiösen Austausch, die
keinen unerheblichen Einfluss auf die Debatten im Lande forcieren und das
Land in einen derzeit sehr spannenden, langsamen Prozess der Demokratisierung führen, die 2008 zehn Jahre alt wird.
Und nicht nur Zentraljava mit seinen buddhistischen und hinduistischen
Kulturstätten, sondern selbst die Millionenmetropole Jakarta, die mich anfangs überforderte, hat mir ihren Charme eröffnet. Zu Unrecht wird die Stadt
gerne überflogen, im wahrsten Sinne des Wortes, auf dem Weg nach Bali.
19. Danksagung
Ich danke Ute Maria Kilian und der Heinz-Kühn-Stiftung für das Vertrauen, mich als erste Stipendiatin nach Indonesien zu schicken. Ich wünsche
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Petra Tabeling
diesem faszinierenden Land noch viele entdeckungswillige und neugierige Stipendiaten. Großen Dank auch an all die Gesprächspartner und deren
spontane Bereitschaft, mir so viel Zeit zu widmen und mir weitere hilfreiche Kontakte zu vermitteln. Christina Schott danke ich insbesondere für die
kollegiale Hilfe, das Weiterreichen ihrer Netzwerke – einfach für Rat und
Tat. Vor allem Arahmaiani, die couragierte Künstlerin, hat mich sehr beeindruckt. Sie hat mich nicht nur in die indonesische Kunstszene und in eine
„pesantren“ geführt, sondern mir auch gezeigt, wie bereichernd ihre Art,
ihre Kunst und ihre Lebenseinstellung sind. Obwohl sie selbst wenig besitzt,
hat sie dadurch unschätzbare Reichtümer geschaffen. Aus der wunderbaren
Gastfreundschaft meiner spannenden Gesprächspartner sind mehr als nur
„Kontakte“ geworden, sondern neue Freundschaften.
Und meinem Mann, Arian Fariborz, der selbst einige Jahre zuvor mit der
Stiftung verreisen durfte, verdanke ich mehr als fachliche und emotionale
Unterstützung. Ein neues Abenteuer ist umso schöner und wertvoller, wenn
es ein geteiltes ist.
433
Cristiane Teixeira
aus Brasilien
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
vom 1. Juli bis 30. Dezember 2007
435
Nordrhein-Westfalen
Cristiane Teixeira
Leben in Deutschland
„Libertas Quae Sera Tamen“
Publius Vergilius Maro, römischer Dichter
Von Christiane Teixeira
Nordrhein-Westfalen, vom 1. Juli bis 30. Dezember 2007
437
Nordrhein-Westfalen
Cristiane Teixeira
Inhalt
1. Über mich
440
2. Deutschland und was es mit meiner Familie zu tun hat
441
3. Die Deutsche Sprache – Ein Sturm von Konsonanten
442
4. Berlin hinten seinen Mauern
443
5. Hospitantin beim ZDF
444
6. Die Unterschiede
446
7. Pressefreiheit
449
8. Spaß
452
9. Was es für mich bedeutet, hier zu sein
454
10. Danksagung
455
439
Cristiane Teixeira
Nordrhein-Westfalen
1. Über mich
Heute bin ich das Ergebnis von meinen Lebenserfahrungen, guten und
schlechten. Ich habe schon im Regen gestanden und habe die sonnigen
Tage genauso genossen. Bin einen Berg zu Fuß hinaufgestiegen, um mir
einen schönen Wasserfall anzuschauen. Bin mit einem Deltaflügel geflogen, schwimmen gegangen, habe Bauchtanz geübt und Yoga kennengelernt.
Habe versucht Klavier, akustische und elektrische Gitarre zu spielen und zu
singen. Trug Zahnspangen, auf der Suche nach dem perfekten Lächeln. Ich
habe den Bedürftigen geholfen und helfe ihnen weiter. Drei Kontinente bereist, badete in drei Ozeanen, probierte die mexikanische, amerikanische,
deutsche, japanische, italienische, chinesische und thailändische Küche. Ich
habe viel gelacht bis zum Umfallen, aber auch viel geweint. In meinem Leben gab es Hunger, Müdigkeit, Wärme und Kälte, und ich lernte aus meinen
Fehlern für mein Leben. Ich verliebte mich, erlebte auch Enttäuschungen.
Ein paar Leute habe ich geliebt, andere gehasst. Von mir selber und meinem
Wunsch, eine bessere Welt zu gestalten, war ich immer überzeugt. Ich habe
studiert, gearbeitet und geträumt. Ich lernte Englisch und Deutsch, beschäftigte mich auch mit Spanisch und Italienisch. In Brasilien wohnte ich in Belo
Horizonte und Itumbiara, in den USA in Honolulu, in Deutschland in Bonn,
Köln und Düsseldorf. Mal hatte ich ein Stipendium, ein anderes Mal musste ich meine Ausbildung selber finanzieren. Der Vorlesungssaal war mein
zweites Zuhause. Ich habe meinen Karibikurlaub gegen mein Journalismusstudium getauscht, habe während der Weihnachtszeit, Ostern und Karneval
und anderen Feiertagen gearbeitet. Durch meinen Beruf habe ich TV, Radio,
Internet und PR kennengelernt. Ich arbeitete als Praktikantin, Produzentin,
Reporterin, Moderatorin und Interviewerin für verschiedene Bereiche, wie
zum Beispiel Politik, Kultur, Sport, Wirtschaft und Internationales. TV Rio
Parnaiba, ein Partnersender des TV Globo im Süden von Goiás; Radio Itatiaia, einer der wichtigsten Sender von Minas Gerais; die Deutsche Welle in
Bonn und das ZDF-Landesstudio in Düsseldorf waren einige Stationen in
meinem bisherigen journalistischen Leben. In diesem Leben gab es Tage,
an denen ich umsonst arbeitete, aber es gab auch solche, wo ich an einem
einzigen Tag sehr viel Geld verdient habe. Ich war auch schon arbeitslos,
hatte aber immer etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und gute Leute um mich. Von einigen Personen wurde ich enttäuscht, aber niemals von
Kindern oder Hunden. Morgen werde ich eine andere Person werden. Neue
Schwierigkeiten, Zweifel, Erfolge, Freude, Träume und Phantasien werden
ein Teil von mir werden. Mit meinen Wurzeln werde ich immer Cristiane
Vieira Teixeira sein, Brasilianerin, geboren 1974 in Belo Horizonte, Minas
Gerais, Marketingspezialistin und Journalistin. Ich schöpfe viel innere Kraft
440
Nordrhein-Westfalen
Cristiane Teixeira
aus meinem Glauben an Gott und bin sehr ehrgeizig. Journalismus ist für
mich nicht nur ein Beruf, sondern ein Lebensstil. Ich folge meinem eigenen
Weg, ich suche nach….
2. Deutschland und was es mit meiner Familie zu tun hat
Nicht alle wissen, dass viele Deutsche nach Brasilien ausgewandert sind.
Eine Geschichte, die mehr als 180 Jahre alt ist. Es waren nicht so viele wie
die Portugiesen, die Italiener oder die Spanier. Aber in Südbrasilien haben
die deutschen Einwanderer und ihre Nachkommen viel beeinflusst und sind
dort bis heute geblieben, mit ihrer Kultur und sogar ihrer Sprache. Daher
gibt es Brasilianer/innen, die täglich Deutsch sprechen. Meistens handelt
es sich dabei nicht um Hochdeutsch, wie man es heutzutage in Deutschland
spricht, sondern um ein durch das Portugiesische beeinflusstes Deutsch, dessen Wurzeln oftmals stark mit dem Dialekt der Vorfahren z. B. aus Hunsrück
oder Pommern verbunden sind. Ich war nie in Süd-Brasilien. Daher kenne
ich diese historischen Fakten und Einflüsse lediglich aus Büchern oder aus
der Schule. Außerdem habe ich keine deutschen Vorfahren. Dennoch ist es
drei Frauen aus meiner Familie mit Hilfe eines Wörterbuches gelungen, eine
Verbindung nach und mit Deutschland aufzubauen.
Im September 1988 ist meine Tante Aloísia Ladeira de Teixeira nach
Deutschland gekommen. Sie ist Professorin in Brasilien und hatte ein Stipendium des brasilianischen Bildungsministeriums. Während ihrer Zeit in
Deutschland hat sie in Karlsruhe gelebt. Dort hat sie einen Kurs und ein
Praktikum absolviert. Zwölf Monate später ist sie mit dem Gefühl, einen bestimmten Lebensabschnitt beendet zu haben, nach Brasilien zurück geflogen.
Doch dieses Gefühl hat sich nicht bewahrheitet. Meine Tante ist noch drei
weitere Male nach Deutschland gereist. Im Jahr 2005 begann die Geschichte
meiner Schwester in Deutschland. Sie heißt Sílvia Maria Vieira Teixeira, ist
von Beruf Systemanalytikerin und bekam ein Stipendium von der Carl-Duisberg-Gesellschaft und dem Deutschen Bundesministerium für Bildung und
Forschung. Zuerst kam sie nach Saarbrücken, um Deutsch zu lernen. Danach
ist sie nach Karlsruhe umgezogen, um dort beim Fraunhofer-Institut für Informationsverarbeitung in Technik und Biologie ein Praktikum zu machen.
Ende 2002 schrieb sie sich an der Fachhochschule Karlsruhe ein, um einen
Masterstudiengang in Wirtschaftsinformatik zu absolvieren. Zwischen 2003
und 2005 hat sie bei SAP in Walldorf gearbeitet. Insgesamt hat sie fünf Jahre
in Deutschland gelebt. Heute wohnt sie mit ihrem deutschen Ehemann in Los
Angeles, USA. Folglich kann es bedeuten, dass es zwischen meiner brasilianischen Familie und Deutschland eine gewisse genetische Bindung gibt.
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Und nun ich! Das erste Mal bin ich gemeinsam mit meiner ältesten Schwester Ana Carolina nach Deutschland gekommen, als meine Schwester Sílvia
heiratete. Wir drei waren dann in Deutschland zusammen, machten interessante Reisen nicht nur in Deutschland, sondern auch in andere Europäische
Länder. Ich war beeindruckt von dieser für mich neuen Welt. Mir gefiel dieses Land, obwohl das Wetter für mich natürlich viel zu kalt war (und ist). In
Brasilien hatte ich schon einen Deutschkurs besucht. Mittels des Wörterbuches meiner Tante Aloísia, das vor mir auch meine Schwester Sílvia benutzt
hatte, lernte ich meine ersten deutschen Worte. Es ist wie eine Verbindung
zwischen uns dreien. Ein Jahr später wurde ich eingeladen, nach Deutschland zu reisen. Das war im August 2006, als ich bei der Deutschen Welle in
Bonn zwei Praktika absolvierte. Da hörte ich zum ersten Mal von der Möglichkeit eines Stipendiums der Heinz-Kühn-Stiftung. Ich bewarb mich und
so kam ich wieder nach Deutschland. Heute, nach weiteren sechs Monaten
in Deutschland, bin ich mir sicher, dass unsere „deutsche“ Geschichte noch
weitergehen wird. Und das Wörterbuch wird mich weiter dabei begleiten.
3. Die Deutsche Sprache – Ein Sturm von Konsonanten
Als ich dieses Stipendium erhielt, bin ich nach Deutschland gereist. Obwohl ich schon vier Sprachschulen besucht hatte, also insgesamt zweieinhalb Jahre Deutsch gelernt hatte, waren meine Sprachkenntnisse noch relativ
gering. Beim Goethe-Institut wurde ich zunächst in das B1-Niveau eingestuft. Doch in den vier Monaten, die ich das Institut besuchte, konnte ich
mein Sprachniveau sehr verbessern. Das lag vor allem daran, dass ich einen
sehr intensiven Unterricht hatte. Ich freute mich darüber, dass ich mich mehr
und mehr auf Deutsch ausdrücken konnte. Das Goethe-Institut hat eine besondere Methode, einem diese Sprache unter anderem spielerisch beizubringen. Deswegen konnte ich in kurzer Zeit vieles besser verstehen und sogar
sprechen. Auf dieser Sprachschule konnte ich nicht nur die Sprache spielerisch lernen, sondern mir wurde die Möglichkeit geboten, meine bisherigen
Kenntnisse besser anzuwenden und auszubauen. Heute – anders als früher –
schäme ich mich nicht mehr, Deutsch zu sprechen.
An dieser Stelle muss ich auch sagen, dass man, um die Deutsche Sprache
zu lernen, sehr viel Mühe auf sich nehmen muss. Ohne diese Bemühungen
hilft nicht einmal eine sehr gute, professionelle Methode. Mein Ziel war es,
mindestens diese Sprache zu verstehen. Um dies zu erreichen, habe ich intensiv sowohl allein zu Hause, mit Freunden als auch mit Kollegen geübt. Es
waren sehr viele Tage, an denen ich im Goethe-Institut bis Dienstschluss geblieben bin. Zu Hause habe ich noch mehr gelernt. Inzwischen habe ich die
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Stufe B2 erreicht. Ich kann mich besser ausdrücken und meine Umwelt gut
verstehen. Dennoch kann ich mich noch nicht über alle Themen unterhalten.
Da besteht noch etwas mehr Lernbedarf. Und ob die deutschen Konsonanten
jemals meine Freunde werden, ist ein noch offenes Thema.
4. Berlin hinten seinen Mauern
Ich bin viel gereist in Deutschland. Mit der Heinz-Kühn-Stiftung habe ich
Köln, Bonn, Krefeld, Duisburg, München, Füssen, Todtnau, Colmar (Frankreich), Bremen und Berlin besucht. Mit dem Goethe-Institut unternahmen
wir Reisen nach Hamburg, Koblenz, Dachau bei München, einige Orte entdeckte ich allein, wie zum Beispiel Luxemburg, in anderen Orten besuchte
ich Freunde, die dort leben. Vieles kannte ich schon, aber jede Reise war unterschiedlich und interessant. Berlin hatte für mich eine besondere Bedeutung, denn es war die erste Stadt in Europa, die ich im Jahre 2005 kennengelernt habe. Deshalb war es schön für mich, dass es jetzt die letzte Stadt
war, die ich im Oktober/November 2007 besucht habe. Es ist eine wunderbare Hauptstadt. Wir waren dort mit allen ausländischen Stipendiatinnen der
Heinz-Kühn-Stiftung. Während unseres Aufenthaltes von sechs Tagen hatten wir ein wunderbares Programm. Wir sahen Monumente, Museen, Kirchen und alte Gebäude. Alle wichtigen Medieninstitutionen sind in Berlin
ansässig, und zwei davon haben wir besucht. Als Heinz-Kühn-Stipendiatinnen besuchten wir die Deutsche Welle Fernsehen und die Redaktion der Zeitung „Die Welt“.
In der Deutschen Welle wurden wir von Herrn Ernst Meinhardt begrüßt.
Er hat mit uns eine Tour durch das Unternehmen gemacht. Während meiner
Zeit in Bonn hatte ich bereits in den Abteilungen Radio und Online gearbeitet, daher wusste ich schon ein wenig mehr über das alltägliche Geschäft des
Unternehmens. Trotzdem war ich von den Studios beeindruckt. Das Kennenlernen und Erleben der Studios, die ich bereits aus dem Fernsehen in
Brasilien kannte, live hier vor Ort, war für mich ein Traum. Ich war beeindruckt von den Geräten, dem technischen Equipment und der Atmosphäre,
die uns Herr Ernst Meinhardt zeigte.
Die größte Überraschung aber wartete auf mich, als wir das Gebäude des
Axel-Springer Verlages besuchten, um die Redaktionen der verschiedenen
Zeitungen und Zeitschriften des Verlages kennenzulernen. Wir wurden vom
Wirtschaftsredakteur Steffen Range, einem ehemaligen Heinz-Kühn-Stipendiaten, freundlich empfangen. Er erklärte uns zunächst generell die Struktur des Axel-Springer-Verlages, und wie Journalismus im Printbereich sich
durch die neuen Technologien im Laufe der letzten Jahre verändert hat und
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noch weiter verändert wird. Aufgrund dessen wussten wir im Nachhinein
mehr über die Struktur und die Zielgruppe der Zeitung. Zum Axel-Springer Verlag gehören mehrere Zeitschriften und Zeitungsgruppen: „Welt Kompakt“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“, „Berliner Morgenpost“, die Fernsehzeitschrift „Hör Zu“, sowie diverse Internetportale: „Welt.de“, „Mobile.
Welt.de“ und „Morgenpost.de“.
Mich hat die Redaktionsstruktur besonders fasziniert. Seit November 2006
entsteht „Die Welt“ im größten integrierten Newsroom. Chefredakteure für
alle Zeitungen und Internetseiten der Verlagsgruppe arbeiten gemeinsam im
gleichen Raum. In diesem Raum sind mehr als 50 professionelle Journalisten zusammen tätig. Trotzdem ist es unglaublich ruhig. Steffen hat uns darüber aufgeklärt, dass dies nötig ist, um diese besondere Arbeit machen zu
können, die viel Konzentration erfordert. Es gibt ein bestimmtes Licht, die
Teppiche verschlucken Geräusche und auch die Tasten der PCs sind nicht
so laut. Daher ist es möglich, dass so viele Menschen gemeinsam in einem
Raum arbeiten können. Die Redakteure arbeiten integrativ mit Online- und
Printmedien. Die Texte werden an die jeweilige Zielgruppe angepasst, etwa
weil „Welt kompakt“ jüngere Leser anspricht als „Die Welt“. Die Redakteure müssen auch mit verschiedenen Technologien arbeiten, zum Beispiel
Podcasts für das Internet verfassen. Das bedeutet mehr Arbeit für den Redakteur und verlangt mehr Flexibilität. Um hier zu arbeiten, muss man nicht
nur gut schreiben können, sondern auch sprechen. Dies ist wohl ein Hinweis
für die Zukunft des Journalismus: vielseitige Talente werden gefragt sein.
5. Hospitantin beim ZDF
Wenn man kein fließendes Hochdeutsch spricht, kann es für ausländische Praktikantinnen gelegentlich sehr frustrierend sein, bei Deutschen
Medien zu arbeiten. Wie alle wissen, Journalismus hat ein besonderes „timing“ – er ist vor allem eins: schnell. Sehr selten haben Kollegen, obwohl
sie sympathisch sind, Zeit, mit jemandem, der nur wenig Ahnung hat, über
die Arbeit zu reden oder generell darüber zu sprechen. Deswegen ist es
schwierig, in den Alltag hineinzukommen oder gar gute Arbeit abzuliefern
in nur zwei Monaten. Was ich sehr positiv finde, ist, dass der Unterschied
zwischen Praktikum und Arbeit in Deutschland sehr deutlich ist. Ich meine, wenn man ein Praktikant ist, kann und darf man nicht alles machen.
Die Aktionsmöglichkeiten sind sehr eingeschränkt, die Verantwortung ist
gering; daher fällt der Lohn niedriger aus. Sehr oft verdient man nichts bei
einem Praktikum im Journalismusbereich, sondern es geht nur darum, Erfahrungen zu sammeln.
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In Brasilien sind Praktikantenlöhne auch gering. Aber die Möglichkeiten und Verantwortungen sind größer. Als Praktikantin habe ich in Brasilien oft an Feiertagen gearbeitet und hatte immer sehr viel Verantwortung
– wie ein professioneller Journalist. Obwohl die brasilianischen Gesetze
sagen, dass man Journalismus studiert haben muss, um als Journalist zu
arbeiten, kenne ich Leute, die durch ein Praktikum nun als Reporter oder
sogar als Moderatoren arbeiten. Einerseits haben sie während der Praktika
die Möglichkeit zu lernen, andererseits ist es schlecht für die allgemeinen
Arbeitskonditionen der Journalisten generell. Denn wenn ein Praktikant die
Arbeitsstelle eines Spezialisten ausfüllt, ist die geleistete Arbeit qualitativ
schlechter, und für die gut ausgebildeten Spezialisten fehlen entsprechende Arbeitsplätze. Heute ist der brasilianische journalistische Markt für viele sehr traurig. Viele Journalisten sind arbeitslos, und ein Großteil der Arbeitsstellen ist durch Praktikanten belegt. Der Mindestlohn wechselt von
Bundesland zu Bundesland, aber er ist normalerweise sehr gering im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten. Die guten Gelegenheiten, die existieren, sind selten. Viele Journalisten haben zwei Jobs, damit sie finanziell
über die Runden kommen.
Das funktioniert in Deutschland anders. Hier sind die Aufgabengebiete
für Praktikanten eng eingegrenzt. Sie haben nicht so viel Verantwortung wie
die Professionellen und erhalten nicht, wie in meinem Heimatland, so einfach eine Stelle als Moderator oder Redakteur, weil sie zum Beispiel wichtige Leute kennen oder sich wirkungsvoll präsentieren können.
Zurück zu meinen Erfahrungen beim ZDF – zumindest zu denen, die ich
als Hospitantin machen konnte. Leider war es mir nicht möglich, wegen
meiner mangelnden Sprachkenntnisse einen Bericht zu schreiben oder ein
Interview zu führen. Ferner gelang es mir auch nicht, ein gutes Thema vorzuschlagen, denn um ein Thema vorschlagen zu können, muss man die Gesellschaft gut kennen und bestens informiert sein. Während der Sitzungen
war es für mich manchmal schwierig, die Kollegen zu verstehen. Trotzdem
habe ich oft versucht, etwas vorzuschlagen und habe ein paar Absagen gehört. Ich brauchte so lange, um einen Zeitungsbericht zu lesen. Meine Themenvorschläge waren stets zu alt für das Medium Fernsehen. „Timing“, darauf kommt es an beim Fernsehen. Meine Aufgaben beschränkten sich also
weitgehend auf Hilfestellungen, ich konnte den Kollegen mithelfen, die
Geräte zu bringen, oder als „Schauspielerin“ für die Berichte arbeiten, aber
leider nicht als wirkliche Journalistin. Nach zwei Wochen war ich von mir
selbst enttäuscht: Trotz meiner bisherigen Erfahrungen in der Medienwelt
hat mir die Sprachbarriere das Leben beim ZDF schwer gemacht. Durch
diese Erfahrungen hat sich mein Blickwinkel verändert und mich angeregt,
im anschließenden Absatz den Unterschied zwischen der fernseh-journalis-
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tischen Arbeitswelt in Brasilien und Deutschland zu umreißen. Dafür wähle
ich zwei Aspekte: Pressefreiheit und Arbeitstätigkeiten.
6. Die Unterschiede
Trotz meiner Enttäuschung war es dennoch beim ZDF eine beeindruckende Zeit und eine wichtige Erfahrung. Fernsehjournalismus in Deutschland
und Brasilien ist unterschiedlicher als ich gedacht habe. Ich denke, dass die
Arbeit eines Fernsehjournalisten in Deutschland umfangreicher ist als in
meinem Heimatland. Das hat etwas mit der Geschichte des Fernsehjournalismus zu tun, die zwei unterschiedliche Modelle zwischen Europa und den
USA, das Brasilien beeinflusste, entwickelt hat. Gut sichtbar wird das zum
Beispiel bei den Dreharbeiten. In Deutschland ist der Journalist bei der Produktion eines Berichts von Anfang bis zum Ende dabei. Der Redakteur oder
Reporter recherchiert, geht drehen und ist auch beim Schnitt dabei. In Brasilien ist das meistens nicht möglich. Das Konzept funktioniert wie eine Serienproduktion. Jeder hat eine Arbeitstätigkeit und macht meistens auch nur
diese, dann wird das schnell umgesetzt. Es gibt einen Produzenten, der die
Termine macht, einen Reporter, der die Dreharbeiten organisiert und begleitet, den Text schreibt und die Berichte vertont. Ein Texteditor, der die Texte korrigiert, der Bildeditor, der die Bilder schneidet, während der Reporter vielleicht schon zu einem neuen Drehort gefahren ist. Und dann ist der
Bericht fertig. Es kommt in Deutschland nicht vor, dass zum Beispiel ein
Reporter einen Bericht anfängt und ein anderer ihn fertig stellt, wie das in
Brasilien häufig passiert. Hier hat man mehr Zeit, um eine ausführliche Recherche zu machen. Ein Dreh kann drei Tage dauern und anschließend muss
man noch mal zwei Tage für den Schnitt kalkulieren. Das geht in Brasilien
nur bei seltenen und besonderen Produktionen.
Ich wusste zwar, dass die Produktionskosten hier höher sind, aber nicht,
wie sehr das die Arbeitstätigkeit beeinflusst. Ein Beispiel ist, dass die Mehrheit der Redakteure ihre Texte schreiben und sprechen, während oder nachdem sie den Beitrag schneiden. Das habe ich in Brasilien noch nicht gesehen,
aber ich finde, es ist eine sehr gute Idee, denn das wichtige am Fernsehen ist
das Bild! Indem sich der Journalist am Bild orientiert, wird er dem Medium
Fernsehen mehr gerecht. Aber das braucht Zeit und Zeit kostet Geld. Deshalb geht das in Brasilien bei den Alltagsthemen und in den Landesstudios
normalerweise nicht. Dort muss man sehr schnell berichten.
Ein weiterer Unterschied besteht bei den Landesstudios. In Brasilien haben die Landesstudios normalerweise auch eigene Sendungen und machen
ihre Berichte nicht nur für das Zentralstudio. Beim ZDF ist das anders. Hier
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arbeiten die einzelnen Landesstudios dem Zentralstudio in Mainz zu. Eigene Journale gibt es nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß, wie zum Beispiel die Morgensendung „Volle Kanne“, die im Düsseldorfer Studio produziert wird.
Beim ZDF bekommt sogar ein sehr einfacher Bericht eine bestimmte Produktion: bestimmte Musik, bestimmte Effekte, bestimmte Geräte und so
weiter. Dafür braucht man nicht nur genug Geld, um in den Gerätebestand
zu investieren, sondern man muss auch mehr Zeit veranschlagen. Dabei ist
die Technikqualität immer am wichtigsten. Nun bedeutet das zwar nicht,
dass wir in Brasilien nicht auch auf Qualität achten, aber es wäre für uns zu
teuer, bei den Alltagsthemen immer auf die perfekte Bildqualität, die Musik und die perfekten Effekte beim Schneiden zu achten. Ich würde sagen,
dass wir informationsorientierter sind und dass wir versuchen, möglichst
den besten Bericht in sehr knapper Zeit zu machen. Und das ist für uns die
wichtigste Sache im Journalismus.
Auch wenn es gelegentlich vorkommt, dass man genügend Zeit für einen
Bericht hat, so gibt es doch immer noch ein weiteres Problem. Und das sind
die technischen Geräte in Brasilien. Sie sind nicht immer auf dem neuesten
Stand. Ich habe noch bei keinem nationalen öffentlich-rechtlichen Sender
in Brasilien gearbeitet. Trotzdem weiß ich, dass man für diese Programme
mehr Zeit, Mitarbeiter und technische Möglichkeiten hat., wie mir die Kollegin Cleide Klock sagte, die Reporterin bei der RBS-Gruppe in Süd-Brasilien ist: „Wir drehen mit Beta und DVCam und schneiden linear für Alltagsthemen und nichtlinear, also digital, nur für die Berichte, die länger sind und
die mehr Produktion, wie z. B. Effekte oder Musik brauchen.“
Allerdings sieht die Realität für die Mehrheit der Journalisten in Brasilien anders aus. Eine kleine Geschichte kann mir helfen, das zu erklären. Ich
habe vor zwei Jahren bei einem großen Radiosender in meinem Bundesland
Minas Gerais gearbeitet, dem Radio Itatiaia. Dort musste ich mir einen PC
mit einer Kollegin teilen, die bis 13 Uhr arbeiten sollte. Ich aber sollte ab
12 Uhr den gleichen PC benutzen dürften. Obwohl das schlechte Voraussetzungen sind, war das dennoch machbar. Beim ZDF in Düsseldorf, im Landesstudio, hat jeder Redakteur nicht nur einen eigenen PC, sondern er ist
sogar noch mit einem Laptop ausgestattet. Das Unternehmen arbeitet schon
seit Ende der 90er Jahre mit digitaler Technik beim Senden, Schneiden und
Drehen. Im Moment lernen die Kameraleute viel über diese Technologie. Es
gibt ca. fünf verschiedene Kameramodelle beim ZDF in Düsseldorf, vier davon sind digital. Seit diesem Jahr gibt es im Düsseldorfer Landesstudio das
neueste Kameramodell P2, welches mit einer Karte anstelle eines Bandes
funktioniert. Die digitale Speicherkarte arbeitet wie eine Festplatte. Sie kostet ca. 800 Euro und kann 30 Minuten aufnehmen. Die Kamera besitzt einen
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kleinen Bildschirm, damit man die Bilder gleich sehen kann. Wie in einem
digitalen Fotoapparat kann man ein Menü wählen. Diese Technik hat jedoch
ihren Preis, da sie hohe Kosten verursacht. So berichtet mir der Redakteur
Heiko Rahms: „Früher haben wir alle Drehaufnahmen für drei Monate archiviert, jetzt nur noch für sieben Tage. Das ist keine gute Idee.“
Bei Radio Itatiaia werden seit ein paar Jahren alle Berichte durch ein digitales System geschnitten. Doch erst seit kurzem sind auch die Aufnahmen digital möglich. Nur zwei von 28 Reportern der Newsabteilung würden mit einem Digital-Audio-Recorder arbeiten, so meine Informationen
von meinem Kollegen Eduardo Costa. Alle anderen benutzen noch ein sehr
altes Gerät, welches mit Kassetten funktioniert. Einige Journalisten müssen unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten, zum Beispiel teilen sich
fünf Kollegen ein einziges Telefon. Das hat mir die Kollegin Danielle Domingues, ehemalige Mitarbeiterin von TV Horizontes, einer Sendung der
katholischen Kirche in Minas Gerais, erzählt. Und diese Realität kann noch
schlechter sein, wenn die Journalisten in kleinen Städten oder kleinen Medien arbeiten.
Allerdings hat mir der Kollege Heiko Rahms beim ZDF erklärt, dass auch
er schon unter schlechten Bedingungen in Deutschland gearbeitet habe. Er
erklärte, dass er bei einem lokalen Radiosender mit sehr alten Geräten arbeiten musste. „Ich hatte einen Kassettenrecorder und ein Mikrofon, sonst
nichts“. Damals konnte der Redakteur bereits digitale Cutter benutzen, jedoch nur in der Redaktion. „Aber das war vor sieben Jahren“, fügt er hinzu.
Das ist nur ein Beispiel dafür, was auch in Deutschland passieren kann, aber
die Regel ist es nicht. Auch die Kollegin Cristina Krippahl, die für WDR
und Deutsche Welle arbeitet, bestätigt die exzellente Verfügbarkeit der Geräte am Arbeitsplatz.
Während ich diesen Text schrieb, wurde in Brasilien am 2. Dezember
2007 das digitale Fernsehen eingeführt. Zunächst bezog sich das nur auf
die Sendungen der Region von São Paulo und die nähere Umgebung. „In
Kürze werden die digitalen Signale auch im ganzen Land zu empfangen
sein, und dieser Fortschritt wird für alle sichtbar sein,“ so der brasilianische Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva während der offiziellen Feierlichkeiten zum Eintritt in das digitale Medienzeitalter. („Aos poucos, o
sinal digital chegará ao país inteiro e seus avancos serao sensíveis a todos“)
In Deutschland geht das schon seit mehreren Jahren. Gemäß einer EU-Bestimmung soll ab 2012 das analoge Fernsehen in Deutschland nicht mehr
existieren.
Deswegen empfinde ich die Arbeitsumstände der Fernsehjournalisten
beim ZDF als Wunschzustand im Vergleich zu der Arbeit von Journalisten in Brasilien. Trotzdem sind hier viele unzufrieden. Sie sagen, dass sie
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unzufrieden sind, wobei man hier nach Lösungswegen sucht. In Brasilien
habe ich letztes Jahr meinem Chef gesagt, dass mein Lohn viel niedriger
ist, verglichen mit meinen Arbeitspflichten. Als Antwort bin ich dann gefeuert worden. Alle im Büro wussten das. Dem Arbeitgeber kam es wohl
gelegen, weil er der Auffassung war, dass sich nun niemand mehr beschweren würde. Nicht nur in Brasilien, sondern in vielen Ländern vergisst man, dass Journalismus auf ethischen Grundsätzen beruht. Ein Journalist, der zu passiv ist, weil er etwa Repressalien befürchtet, kann nicht
mehr wirklich bei dieser Tätigkeit mitmachen. Dies ist ein Dilemma: Die
Länder brauchen kritische, gut ausgebildete und mutige Journalisten, die
sich trauen, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen, ohne Angst vor
Verfolgung haben zu müssen. Sie brauchen sie zum Aufbau einer funktionsfähigen Demokratie. Aber in der Realität wird die Arbeit von Journalisten oft behindert. Mit welchen Mitteln, darum geht es in dem nächsten
Thema: Pressefreiheit.
Libertas Quae Sera Tamen
Diese Lateinischen Worte stehen auf der Flagge meines Bundeslandes
Minas Gerais und stammen aus einem Vers des ersten Hirtengedichtes des
römischen Dichters Publius Vergilius Maro. Sie bedeuten sinngemäß: „Spät,
doch frei.“ Bei Vergil beziehen sie sich auf die Landverteilung in Oberitalien an die Veteranen des Augustus. Für mich haben sie noch eine eigene Bedeutung. Man kann die Freiheit erreichen, doch es kann manchmal lange
dauern, man muss viel erdulden und auf vieles verzichten. Das ist der Preis
der Freiheit.
7. Pressefreiheit
Sechs Monate weg von Brasilien haben mir beim Nachdenken geholfen.
Was bedeutet Pressefreiheit in Wahrheit? Ich war an keine Pressefreiheit gewöhnt. Das ist mir bewusst geworden. Wie viele Male habe ich einen Anruf
bekommen, indem mir gesagt wurde, ich dürfe ein Interview nicht machen.
Als ich noch Praktikantin und Studentin war, untersuchte ich eine Information gegen den Präsidenten des Landtages meines Staates Minas Gerais, wo
es einen Skandal beim Parlament gab. Ich habe seinen Presseagenten um ein
Interview gebeten. Minuten später bekam ich einen Anruf. Es war der große
Chef des Senders. Er hat mir gesagt, „heute sprechen wir nicht darüber“. Ich
wusste, dass ich meine Arbeitsstelle riskieren würde, wenn ich mich nicht an
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diese Maßgabe hielte. Kein Wort wurde also an diesem Tag darüber gesprochen, kein Interview wurde gemacht.
Trotzdem habe ich das versucht, was viele meiner Kollegen täglich auch
machen: meine Zuschauer mit guten Informationen zu versorgen. Ich kenne viele Kollegen, die für wichtige Informationen entlassen wurden. Als ich
weit weg von dieser Realität war, hier in Deutschland, konnte ich Pressefreiheit besser verstehen. Weil dieses Thema immer diskutiert wird.
In Russland wurde die bekannte Journalistin Anna Politkowskaya aus
Moskau am 7. Oktober 2006 ermordet. Die Hintergründe sind bis heute ungeklärt, die Mörder noch nicht gefunden. Obwohl der Fall schon älter ist als
ein Jahr, spricht man immer noch darüber und versucht so zu erreichen, dass
der Fall nicht vergessen wird.
Am 16. Oktober 2007 wurde von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ die sechste Rangliste zur Situation der weltweiten Pressefreiheit veröffentlicht. Die Statistik zeigt das Niveau der Pressefreiheit in 169 Ländern.
Brasilien liegt auf dem 84. Platz.
Welche Bedeutung hat das im Arbeitsalltag eines Journalisten in Brasilien? Es bedeutet, dass sie oft keine Berichte machen dürfen oder können. Ein
sehr respektierter Kollege, Eduardo Costa, der bei Radio Itatiaia in Minas
Gerais arbeitet, hat mir erklärt: „In den 30 Jahren, die ich als Journalist arbeite, habe ich viele Beiträge in allen Medien, in denen ich gearbeitet habe,
nicht senden oder publizieren können. Entweder weil es gegen die Interessen eines Kunden oder weil es gegen die Interessen der Politik war. Bei einem Bericht versuche ich, die verschiedenen Standpunkte und Meinungen
zu hören. Wenn ich eine Empfehlung vom Chef bekomme, dass ich darüber
nicht sprechen dürfe, gehe ich mit Rücken- oder Nackenschmerzen nach
Hause. Es gibt immer eine körperliche Reaktion“.
Ein anderes Beispiel, dass mit der Pressefreiheit zu tun hat, handelt von
einem Kollegen, Marcelo Baeta, der als Student eine Videodokumentation
über Pressefreiheit in Minas Gerais, Brasilien, gemacht hat. Die Dokumentation heißt „Liberdade essa Palavra“ („Freiheit, dieses Wort“), und sie zeigt
uns fünf Journalisten, die in Minas Gerais gearbeitet haben. Sie sprechen
darüber, welche Berichte sie gemacht haben, und dass es ihnen im Jahre
2003/2004 Probleme eingebracht hat, da sie sich kritisch über die Regierung
geäußert hatten. Allen fünf Journalisten wurde gekündigt.
Auf der Webseite der „Reporter ohne Grenzen“ gibt es Statistiken über
Gewalt gegen Journalisten. Es ist eine Schande, wie die Zahl der getöteten Journalisten von 25 in 2002 auf 85 in 2006 gestiegen ist. Von Januar bis
November 2007 wurden weltweit 81 Journalisten getötet. Mich persönlich
macht das traurig, dass jedes Jahr mindestens ein brasilianischer Journalist
auf dieser Liste steht. Zwischen 2002 und 2007 waren es acht: Luiz Carlos
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Barbosa Filho (Jornal do Porto, 5 Mai 2007), Ajuricaba Monassa de Paula
(Freelancer, 24. Juli 2006), José Cândido Amorim Pinto (Rádio Comunitária
Alternativa, 1. Juli 2005), José Carlos Araújo (Rádio Timbaúba FM, 24. Mai
2004), Samuel Roman (Estação Conquista, 20. April 2004), Nicanor Linhares Batista (Radio Vale do Jaguaribe, 30. Juni 2003), Luiz Antônio da Costa
(Freelancer, 23. Juli 2003) und Tim Lopes (TV Globo, 2. Juni 2002). Sie alle
sind wegen ihrer Arbeit gestorben.
Aber warum wurden diese Menschen getötet? Wir denken an Tim Lopes, der letzte aus dieser Statistik. Dieser Journalist hat sein Leben verloren,
während er über die Rauschgifthändler in den Favelas von Rio de Janeiro recherchierte. Er wollte einen Bericht machen, indem man sehen konnte, welche Verbindungen zwischen Rauschgift und Kinderprostitution existieren.
Der Mann wurde erfasst, gefoltert, misshandelt, und am Ende wurde sein
Körper verbrannt, um die Identifizierung der Leiche zu erschweren.
Wenn man den FENAJ, den Nationalen Journalistenverband in Brasilien, über Pressefreiheit in Brasilien fragt, bekommt man eine sehr deutliche
Antwort: „FENAJ hat systematisch angeprangert, dass es in Brasilien keine Pressefreiheit, sondern Unternehmensfreiheit gibt. Eine Hand voll Unternehmer entscheidet täglich die öffentliche Agenda der brasilianischen
Gesellschaft. Die politischen und wirtschaftlichen Interessen weniger Familien, regionaler politischer Gruppen und Kirchen kontrollieren die Massenmedien und spiegeln sich in den Aussagen der Zeitungen, des Radios
und des Fernsehens wider. Seitens des FENAJ befürworten wir das Bedürfnis, einen Bundesrat für Journalisten zu gründen. Dieser soll die Aufgabe
haben, die Ausübung des Berufes zu überwachen und die Manipulation von
Informationen anzuzeigen, die Zensur und die Selbstzensur zu bekämpfen,
indem er die Pressefreiheit nicht nur als Eigentum der Medienunternehmen
und deren Journalisten beschützt, sondern vor allem als allgemeines Gut der
brasilianischen Gesellschaft.“
Aber wie ist das in Deutschland? Nach Angaben von „Reporter ohne
Grenzen“ gab es keine deutschen Journalisten, die zwischen 2002 und 2007
ermordet wurden. Was bedeutet es, wenn Deutschland auf dem 20. Platz der
Rankingliste steht? Etwas wird mir hier deutlich: In Deutschland sind die
Journalisten freier als in Brasilien. Aber was sagen die Deutschen Kollegen
selber darüber?
Der Deutsche Journalistenverband mochte die Zahlen von „Reporter ohne
Grenzen“ nicht kommentieren. Zur Pressefreiheit in Deutschland sagt dessen Pressesprecher Hendrik Zörner: „Die Pressefreiheit in Deutschland
ist aus unserer Sicht durch einige Gesetze bzw. Gesetzesvorhaben eingeschränkt. Dazu zählen die gerade beschlossene Telekommunikationsüberwachung und die Vorratsdatenspeicherung. Sollte die von Bundesinnenmi-
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nister Wolfgang Schäuble betriebene Online-Durchsuchung Wirklichkeit
werden, wäre auch sie ein Verstoß gegen die Pressefreiheit.“
Heiko Rahms, freier Mitarbeiter beim ZDF Düsseldorf, denkt, dass man
in Deutschland über fast alles berichten kann. „Fast alles“, sagt er. „Normalerweise können wir machen was wir möchten. Wir bekommen die Information und wir bekommen keinen Druck von der Politik oder seitens der
Wirtschaft“, erklärt der Redakteur. „Es ist nicht gefährlich hier (in Deutschland) zu arbeiten. Aber natürlich gibt es ein paar Themen, die sind immer ein
bisschen gefährlich, wie Korruption oder bestimmte politische Themen.“ So
komme es auch zu Versuchen, Einflussnahme auf die Berichterstattung zu
nehmen, aber bisher ohne Erfolg.
Auch Cristina Krippahl, DW und WDR, hatte bisher keine Probleme.
Zwar kann es vorkommen, dass sie ein Thema vorschlägt, welches von der
Redaktion abgelehnt wird, aber das liegt dann an mangelndem Interesse für
das Thema und nicht an einer Zensur.
Dennoch gibt es einen gewissen wirtschaftlichen Druck, wie zum Beispiel
der Wirtschaftsredakteur Steffen Range von der Zeitung „Die Welt“ erzählt.
„Zeitungen werden manchmal erpresst von großen Anzeigenkunden. Es wird
damit gedroht, dass Werbung und Anzeigen storniert werden, wenn die Berichterstattung missfällt. Von solchen Fällen kann jede Zeitung berichten.
Vor allem Konzerne versuchen dadurch, die Berichterstattung in ihrem Sinne
zu beeinflussen – und manchmal haben sie damit Erfolg.“ Trotzdem sagt er
auch: „Die Presse ist in Deutschland frei und Reporter haben – jedenfalls von
Behörden und Geheimdiensten, Justiz oder Politikern – keine Einschränkungen zu befürchten. Auch wenn es in jüngerer Zeit Bestrebungen gibt, die Arbeit von Journalisten zu erschweren, wenn es um angebliche Staatsgeheimnisse geht oder um die Abwehr von angeblichem Terrorismus.“
Ich persönlich meine, dass Pressefreiheit eine Ideologie ist, etwa wie Unparteilichkeit. In der Praxis gibt es sie nicht wirklich, denn jeder hat eine eigene Sichtweise, und in dem Moment, wo ich mich für eine Quelle entscheide,
gebe ich meinem Bericht eine Richtung und meine Meinung. Aber es ist unsere Pflicht, nicht nur für Journalisten, sondern für alle gesellschaftlichen Gruppen Pressefreiheit ernst zu nehmen und ethische Grundsätze zu beachten. Und
deswegen ist es auch so wichtig, immer wieder darüber zu diskutieren.
8. Spaß
In diesem Kapitel möchte ich ein bisschen Spaß machen, bzw. von einigen Dingen erzählen, die mir in den letzten sechs Monaten passiert sind und
die mir Spaß gemacht haben. Mein Lieblingswort ist „Quatsch“. Ja, das ist
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im Moment mein Lieblingswort auf Deutsch. Erstens, weil es eine wunderbare Bedeutung hat, zweitens, weil es gut klingt, und drittens, weil es schön
ist „Quatsch“ auszusprechen.
Beim ZDF sollte ich jeden Tag auf eine Tafel schauen, damit ich sehen
konnte, was es an diesem Tag zu tun gab. Danach sollte ich mit dem zuständigen Redakteur sprechen und ihn fragen, ob ich ihn auf den Dreh begleiten könne. Eines Tages ergab es sich, dass ich den Leiter des Landesstudios,
Herrn Martin Schmuck, begleiten durfte. Der Bericht hieß „Trüffelpapst“
und ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Wir sollten über die
Arbeit dieses Mannes berichten. Zunächst drehten wir im Geschäft des Trüffelpapstes, und Herr Schmuck lud mich zu einem späteren Dienst ein, wo
wir ein Abendessen drehen sollten. Eigentlich hatte ich an diesem Abend
schon etwas anderes vor, aber natürlich war es mir unmöglich, meinem Chef
„nein“ zu sagen, und so fuhr ich an diesem Abend mit. Wie meist auf einem
Drehtermin sollte meine Arbeit darin bestehen, einfach zuzuschauen was
passiert. Was ich nicht wusste, dass dieses Abendessen etwas ganz Besonderes war. Es war eine Trüffelgala mit neun verschiedenen Trüffelsorten auf
verschiedenen Tellern und sehr guten Getränken. Der Preis betrug 169 Euro
pro Person. Ich war sehr überrascht, dass ich dorthin einfach mit hingehen
durfte. Als ich mich an den Tisch setzte, die Serviette auf meine Beine legte,
fragte ich mich, wie ich bloß in diese Situation hingekommen bin. Natürlich
habe ich all die Leckereien probiert. Aber ich brauchte nichts zu bezahlen.
Die edlen Trüffel, von denen ich schon einmal gehört hatte, kosten pro Kilogramm 6.000 Euro! Aber so viel habe ich davon sicher nicht gegessen.
Am Ende meines Stipendiums konnte ich nicht nur die Sprache sprechen,
sondern auch die Gesellschaft besser verstehen. Daher hatte ich schon ein
paar Freunde. Und, wie es so geht, ein Freund bringt andere Freunde. Überhaupt habe ich viele nette Leute kennen gelernt. Eines Tages war ich mit Uwe
Hellner, einem ehemaligen Stipendiaten der Heinz-Kühn-Stiftung, der sein
Stipendium in Brasilien absolviert hatte, verabredet. Er brachte eine Freundin mit, und wir gingen in ein portugiesisches Restaurant in Düsseldorf. Anschließend lud uns die Freundin in ihr Haus ein. Wir hatten eine nette Atmosphäre in ihrem Haus, wo auch drei Tiere, ein Hund und zwei Katzen
wohnten. Wie immer wurden wir vorgestellt. Der Hund hieß „Zinc“, was mir
schwer fiel auszusprechen. Ich dachte zunächst, es sei vielleicht ein deutscher Name. Die Katzen hörten (oder auch nicht) auf die Namen Sete (portugiesisch für sieben) und Nove (portugiesisch für neun). Und dann wurde mir
auch klar, dass der Hund nicht Zinc, sondern eben Cinco (portugiesisch für
fünf) heißt. Ursprünglich soll es auch noch einen Vogel gegeben haben, namens Oito (portugiesisch für acht). Aber da die Chemie zwischen Oito und
Sete und Nove nicht wirklich stimmte, wurde er in die Freiheit entlassen.
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In Düsseldorf sah ich mein erstes Theaterstück in Deutschland. Es gab
„Buddenbrooks“ von Thomas Mann im Düsseldorfer Schauspielhaus. Es
war noch zu Anfang meines Aufenthaltes, und ich ging alleine dort hin.
Zwar verstand ich längst nicht jedes Wort, aber ich meinte eine Ahnung
über die grundsätzliche Idee zu haben. Nach etwa anderthalb Stunden betrat
eine Frau die Bühne, die bisher noch nicht in der Szene war. Sie sprach einen Satz, den ich nicht verstand, dann war das Stück fertig. In diesem Moment dachte ich: „Zwei Jahre lernst Du nun schon diese Sprache, und immer
noch kannst Du nichts verstehen.“ So verließ ich etwas resigniert das Theater Richtung U-Bahn-Haltestelle. Als ich an der U-Bahn die Uhrzeit sah, bemerkte ich, dass das Stück nur die halbe Zeit gedauert hatte. Ich habe dann
gedacht, vielleicht ist es noch nicht fertig, und bin zurückgegangen. Tatsächlich, im Theater waren alle noch da. Den zweiten Teil konnte ich dann besser
verstehen. In Brasilien gibt es keine Pause während eines Theaterstückes.
Mein Deutsch war wirklich nicht so schlecht, aber ich musste mehr über die
deutsche Kultur lernen.
9. Was es für mich bedeutet hier zu sein
Es war für mich ein Traum, in Deutschland zu leben. Ihn konnte ich in
2006 konkretisieren, als ich die erste Praktikumseinladung der Deutschen
Welle bekam. Als ich hier ankam, versuchte ich, meine professionellen Erfahrungen zu erweitern, denn ich bin davon überzeugt, dass eine internationale Erfahrung mich bereichern kann.
Das Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung eröffnete noch mal eine andere
Welt. Es hat mir sehr viel bedeutet. Nur mit dem intensiven Deutschkurs des
Goethe-Institutes war es mir möglich, die deutsche Sprache und Kultur kennen und verstehen zu lernen. Ohne die Heinz-Kühn-Stiftung hätte ich sicher
kein Praktikum beim ZDF machen können, eine wirklich wichtige Erfahrung für mein berufliches Leben. Für mein Wohl war immer bestens gesorgt.
Was ich hier erlebt habe, gehört zweifellos zu den bereichernsten Erfahrungen meines Lebens, das meine ich ganz ohne Übertreibung. Wer zwischen
so großen kulturellen, klimatischen und wirtschaftlichen Erfahrungen nicht
offen ist, kann nicht lernen.
Doch nicht nur die berufliche Erfahrung war tiefgründig, sondern auch
die persönliche. Heute fühle ich mich als freie und aufgeschlossene Person, stark und vorbereitet für das Leben und für die Arbeit. Ich fliege zurück nach Brasilien mit einem guten Überblick über Europa und die Welt,
über mein eigenes Land, dass ich gelernt habe, aus der Außenperspektive zu
betrachten. Ich gehe zurück nach Hause mit einem stärkeren Bewusstsein
454
Nordrhein-Westfalen
Cristiane Teixeira
der Notwendigkeit von Veränderung meiner Gesellschaft, mit der ich mich
bisher sorglos identifiziert habe. Ich gehe auch mit einem besseren Wissen,
worauf ich in Zukunft Wert legen möchte, oder worauf weniger, wie präsent
die Sonne in meinem Tag ist, auch wenn kleine Probleme auftauchen, die
immer unseren Weg kreuzen. Ich sehe Deutschland als eine Schule, bzw.
wie eine Mutter, die mich mit offenen Armen willkommen geheißen hat und
die Hand in Hand mit mir zurückgeht für einen neuen Start in einen neuen
Lebensabschnitt.
10. Danksagung
Ich bedanke mich sehr bei:
Johannes Beck, der mir zum ersten Mal von der Heinz-Kühn-Stiftung erzählt hat,
Martin Schmuck, der mein Praktikum beim ZDF möglich gemacht hat,
Kerstin Edinger und Heiko Rahms und allen Kollegen beim ZDF für ihre
Hilfe,
Marianne und Heinz Kilian für die liebevolle Aufnahme im Schwarzwaldhaus
Steffen Range für die Einsichten in „Die Welt“ und die Interviews,
Ernst Meinhardt, der uns in der Deutschen Welle TV betreut hat,
meinen Interviewpartnern Aloísia Ladeira de Teixeira, Cleide Klock, Danielle Domingues, Eduardo Costa und Cristina Krippahl, die meine Geschichte verbessert haben,
Silke Katenkamp, Yasemin Kaygili und Tetyana Bondarenko, drei zukünftige Journalistinnen, die mir bei den Korrekturen geholfen haben,
Max Rodrigues und Marta Barroso, die mir bei der Übersetzung geholfen
haben,
Silvia Maria Vieira Teixeira und Alexander Falk, die mich viel und immer
und mit allem, was ich brauchte unterstützten,
Juliana Gomes Lachini e Pedro Augusto de Souza e Silva, porque para ser
feliz é preciso ter amigos. Valeu demais galera!
Ralph, der mir gezeigt hat, dass man nicht soviel zu sagen braucht, um sehr
nett zu sein. Und der mir viele leckere Gerichte gekocht hat.
Und besonders bedanke ich mich bei Ute Maria Kilian, für all den Rückhalt
und die Orientierung, um das Stipendium so optimal wie möglich zu nutzen. Für die theoretischen und praktischen Lektionen in deutscher Weinwissenschaft, Kunst, Kultur und Sprachunterstützung. Für immer freundliche
Schultern und offene Ohren für meine kleinen Probleme. Für die wunderba-
455
Cristiane Teixeira
Nordrhein-Westfalen
ren Momente, die gleichzeitig amüsanten und intelligenten, die wir in diesen sechs Monaten geteilt haben. Querida, gosto demais de você!
Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, Francisco Cupertino Vieira Teixeira
und Carmen Ladeira de Teixeira, die immer bei mir sind.
456
Jana Tošic
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in Ägypten
vom 10. Oktober 2007 bis 5. Januar 2008
457
Ägypten
Jana Tošic
„Spuren im Wüstensand – Ägyptens indigene
Bevölkerung zwischen Kulturerhalt
und Identitätsverlust“
Von Jana Tošic
Ägypten, vom 10. Oktober 2007 bis 5. Januar 2008
459
Ägypten
Jana Tošic
Inhalt
1. Zur Person
462
2. „Augen auf und durch!“ – Filmen in Ägypten
462
3. Terror, Tourismus und Isolation
463
4. KAIRO – Schwierigkeiten der Großstadt-Beduinen
465
5. REISE NACH MARSA MATRUH – Kleidung als Stigma
467
6. MARSA MATRUH – Ausverkauf mit staatlichem Kalkül
470
7. SIWA – Oase der unsichtbaren Frauen
477
9. Fazit und Ausblick
491
10. Dank
492
461
Jana Tošic
Ägypten
1. Zur Person
Ich bin am 4. Mai 1971 in Burgsteinfurt geboren und in einem binationalen Haushalt aufgewachsen. Vermutlich, weil ich die serbische Muttersprache meines Vaters nie richtig lernte, stürzte ich mich mit Begeisterung auf
andere Sprachen. Ich studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität
Spanisch und Germanistik, befasste mich mit Farsi, lateinamerikanischen
Indianersprachen und der Sprache der Sefarden in der nordafrikanischen
Diaspora. In meiner Examensarbeit ging ich dem „Einfluss des Arabischen
auf die spanische Sprache“ auf den Grund. Im Jahre 2002/03 volontierte ich
beim WDR, wo ich im Anschluss ein Jahr als TV-Redakteurin mit interkulturellem Schwerpunkt tätig war. Nach einem ersten Kontakt zu Beduinen
auf dem Sinai begann ich 2004 arabisch zu lernen und mich intensiv mit
der Thematik zu befassen. Seitdem bin ich als freie Fernsehjournalistin und
Filmemacherin selbständig. Dank der Heinz-Kühn-Stiftung konnte ich im
Herbst 2007 meinen Traum realisieren und drei Monate durch Ägypten reisen, um das Leben des Wüstenvolks besser kennen zu lernen, als es jemals
als Touristin denkbar gewesen wäre.
2. „Augen auf und durch!“ – Filmen in Ägypten
„Nehmen Sie die Filmkamera auf die Seite Ihres Körpers, die vom Wachposten abweicht. Filmen Sie auf keinen Fall den Polizisten dort oder das
Wachhäuschen. Das gilt als militärisches Gebiet. Sonst kann man Sie festnehmen. Filmen Sie erst, wenn wir außer Reichweite sind. Schauen Sie nicht
zu dem Mann, er beobachtet uns schon die ganze Zeit durch sein Fernglas.
Sicher hat er schon unsere Wagennummer notiert und lässt sie grad’ per
Funk überprüfen. Ach, und plaudern Sie mit mir als ob nichts wäre!“ Meine vorausschauende, beduinische Reiseleiterin meint es eigentlich nur gut.
Doch Einschränkungen, die für sie völlig normal sind, geben mir als an deutsche Pressefreiheit gewöhnte Journalistin ein ungutes Gefühl. Man könnte
annehmen, ich wollte geheimes Gelände ausspionieren. Dabei will ich doch
nur eine Beduinensiedlung an der Mittelmeer-Küste filmen!
Schon in der an Touristen gewöhnten Hauptstadt Kairo kann ich mir nicht
sicher sein beim Filmen. Die vielen schwarz uniformierten, bewaffneten
Hilfspolizisten, die eigentlich auch für meine Sicherheit da sein sollten, werden beim Anblick meiner (in ihren Augen zu großen) Kamera misstrauisch
und kontrollieren mich. Anders als in Deutschland habe ich hier kein Recht
darauf, in der Öffentlichkeit zu filmen, was ich möchte. Immer wieder unterbrechen mich Polizisten, schicken mich weg oder verbieten „unschöne“
462
Ägypten
Jana Tošic
Motive: So darf ich den märchenhaft-orientalischen Bazar filmen, den Bettler um die Ecke aber nicht. Auch mein Stativ macht sie skeptisch: An der
Kasse zum Pyramidengebiet muss ich ein eigenes Ticket für mein Stativ erwerben; als ich es später nutze, werde ich wegen journalistischen Filmens
des Platzes verwiesen. Beweisbilder von Demonstrationen oder Szenen, wie
ein Polizist einen Beduinen mit Schlägen vertreibt, könnten mich die Kamera kosten, warnt mich ein ARD-Kameramann vor. Deswegen gibt es viele meiner Reisebeobachtungen nur auf Papier festgehalten, nicht auf einer
Filmkassette.
Auch die Recherchen gestalten sich anders als in Deutschland. Zwar hat
jedes Ministerium Pressestellen und Ansprechpartner. Doch bei unbequemen Fragen muss ich die Erfahrung machen, dass die Zuständigen sich
plötzlich doch nicht mehr zuständig fühlen oder auf einmal keine Zeit mehr
für mich haben. Die arabische Höflichkeit verbietet außerdem ein eindeutiges „Nein“, und so muss ich erst lernen, warum manche Gesprächspartner
ausweichen, sinnlose Hinweise und falsche Telefonkontakte herausgeben. In
Ägypten Journalistin zu sein, heißt, Geduld zu haben und gute Menschenkenntnis zu entwickeln. Manches Mal bin ich in einer eindeutigen Recherche-Sackgasse gelandet, weil die Interviewpartner zu viel Angst vor Repressalien hatten. Besonders umsichtig müssen Nichtregierungsorganisationen
sein: Ein falsches Interview kann sich bei der Genehmigungsvergabe für
neue Projekte negativ auswirken. Aber manchmal braucht es auch einfach
nur etwas Zeit, Vertrauen und viele Tassen gezuckerten Tees, bis ich doch
noch meine gesuchten Informationen bekomme.
3. Terror, Tourismus und Isolation
Die Wüstenböden des Sinai waren noch nicht von den Landminen vorhergehender kriegerischer Konflikte geräumt, als in den vergangenen Jahren
insgesamt fünf Bombenanschläge die beliebten Badeorte Sharm Al-Sheikh,
Nuweiba, Dahab und Taba erschütterten. Die Hauptverdächtigen in den Augen der ägyptischen Ermittler: Beduinen. Nur sie kennen die geheimen Offroad Wege in den Bergen der Halbinsel, weichen geschickt verminten Straßenabschnitten aus und stehen seit jeher unter dem Verdacht mit dem „Feind“
zu kollaborieren (wahlweise Israelis, Palästinenser oder auch Al-Qaida). Die
Folge: Über 2.500 Beduinen – Männer, Frauen, sogar Kinder – wurden willkürlich verhaftet. Der erklärte Ausnahmezustand machte DNA-Tests und
Folterungen möglich. Nach Beobachtungen von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch sind viele der damals Inhaftierten bis heute
noch nicht wieder frei. In der Folgezeit verschärfte sich das ohnehin ange-
463
Jana Tošic
Ägypten
spannte Verhältnis zwischen Beduinen und ägyptischem Staat weiter. Hinzu kam eine Verschlechterung der Lebensbedingungen, da die Touristen zunächst ausblieben.
Etwa eine halbe Million Beduinen leben derzeit auf dem Sinai und in der
westlichen, „libyschen“ Wüste. Vermutlich stammen sie von Nomaden-Clans
ab, die im siebten Jahrhundert aus den Gebieten des heutigen Jemen und Saudi-Arabiens eingewandert sind. Die Sinai-Beduinen teilen sich in cirka 25
Stämme auf, die in eigenen Gebieten leben und einem Sheikh (Clanführer)
unterstehen. Sie sprechen unterschiedliche arabische Dialekte und verwenden teilweise anderes Vokabular. Generell können sie sich aber miteinander
verständigen. Der Begriff „Beduine“ ist abgeleitet von dem arabischen „badauwi“ (Plural: „bedu“) und bedeutet soviel wie „Wüstenbewohner“, nicht
zwingend „Nomade“. Daher werden auch die am Mosesberg lebenden „Gabalaya“, deutsch: „die aus den Bergen“, als Beduinen bezeichnet, obwohl
sie die Nachfahren christlich-mazedonischer Sklaven sind. Diese haben zunächst den Islam angenommen und dann die beduinische Lebensform.
Für mich ist es auch nach drei Monaten Ägypten schwer, die Stämme
nach ihrem Aussehen zu unterscheiden. Ihnen gemeinsam sind ein zierlicher
Wuchs, eine hagere Figur mit schmalem, bronzefarbenem Gesicht, hochliegende Wangenknochen und dunkle Augen. Sie unterscheiden sich auch
in ihrem Auftreten vom gewöhnlichen Ägypter. Sie sind eher dezent, traditionsbewusster, höflicher, frommer und empfindsamer. Außerdem besitzen sie so etwas wie Stammesstolz, je näher sie mit den Vollnomaden, den
„asil“, blutsverwandt sind.
„Raubüberfälle sind unsere Landwirtschaft“, sagen die Beduinen schmunzelnd über ihre Vergangenheit als räuberische Vollnomaden. Heute leben sie
mehr schlecht als recht von ein wenig Viehzucht, harten Jobs in der Zementund Ölindustrie und dem Tourismus. Kein Geheimnis ist, dass mancher
Beduine von der wenig ertragreichen Ziegenzucht auf gewinnbringenden
Cannabis- und Mohnanbau umstellte. Zwangsangesiedelt in slumähnlichen
Vororten verlernen sie die beduinisch-traditionellen Tugenden, ohne die
Vorteile der ägyptisch-modernen Lebensweise übernehmen zu können.
Die Berber Siwas
Ein ähnlicher, an sozialen Abstieg gekoppelter Kulturverlust droht auch
den etwa 30.000 Berbern in Siwa in der libyschen Wüste. Sie sind keine einheitliche Volksgruppe und blutsmäßig nicht mit den Beduinen verwandt. Die
Bezeichnung „Berber“ geht vermutlich auf das von Römern benutzte „Barbari“ zurück, „einer, der stammelt“, also nicht richtig Latein sprach. Dies
lässt die Vermutung zu, dass jeder, der zu römischen Zeiten nach Nordafrika
einwanderte, ein Berber sein konnte. Nachweislich gingen in dieser Bevöl-
464
Ägypten
Jana Tošic
kerungsgruppe auch die etwa 80.000 Familien germanischer Vandalen auf,
so dass bis heute ein Prototyp des Berbers blond und hellhäutig ist. Typische
Siwi-Familien mit hell-bronzefarbener Haut, dunkelblondem Haar und grünen Augen sind wohl auf diesen Einfluss zurückzuführen. Da über Dekaden
sudanesische Sklaven in Siwa ansässig waren, gibt es aber auch den ganz
dunklen Typus des Siwi. Insgesamt sind sie wohl eine Mischung aus Berbern,
Beduinen und Sudanesen, die auf jeden Fall mehr ethnische Nähe zu den
Völkern Nordwestafrikas haben als zum Niltal. Verständigen können sie sich
mit anderen Berbern nicht: Es gibt hunderte verschiedener Berbersprachen,
und das Siwi ist mittlerweile durchtränkt von arabischen Wörtern.
Als östlichste Enklave berberischen Brauchtums waren die Siwis in ihrer
entlegenen Oase seit Jahrhunderten bis 1980 für den Tourismus geschlossen, unterhielten nur Handelskontakte mit durchreisenden Karawanen. Seit
der Öffnung fahren Linienbusse die Oase nun über den Mittelmeer-Badeort Marsa Matruh dreimal täglich an, und Geschäftsleute wittern den großen Deal unter dem Deckmantel „Entwicklungshilfe“. Siwaexperte Samir
Sobhi mahnt an, dass sich die Oasenkultur über Jahrhunderte gehalten hat,
aber man ihr in den vergangenen zwanzig Jahren beim Verfall regelrecht zuschauen kann.
Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht, wohl aber gibt es erste hoffnungsvolle Projekte zum Erhalt des indigenen Kulturerbes und einer Verbesserung
der Lebensumstände der Beduinen und Berber. Ich möchte einige dieser
Entwicklungen und Projekte aufzeigen und ihren Nutzwert für die Beduinen in Frage stellen. Wie gelingt Berbern der Spagat zwischen Moderne
und Tradition? Wie gestaltet sich der Alltag für die aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Beduinenfrauen? Gelingt es ihnen, durch die Teilnahme an Kunsthandwerkprojekten ihre Stellung innerhalb des Stammes oder
zumindest innerhalb ihres Clans zu verbessern? Meine Recherchen fallen
in eine Zeit höchst heterogener Entwicklungen: Terrorismusvorwürfe gegen
die Sinai-Beduinen, Stigmatisierung, Massentourismus, Profitgier, schwindendes Traditionsbewusstsein, mangelnde Chancengleichheit, populär werdender Umweltschutz, aufkeimender Kulturstolz, Autokratieerhalt mit allen
Mitteln, Korruption und einer Pressefreiheit, die „Reporter ohne Grenzen“
mit einem Platz 133 bedachte. Willkommen in Ägypten!
4. KAIRO – Schwierigkeiten der Großstadt-Beduinen
Giza – nur 12 km vom Stadtkern Kairos entfernt. Raus aus dieser immerlauten, versmogten Stadt, die Pyramiden sehen und die ersten Beduinen treffen. Etwa eine halbe Stunde Fahrt ist nötig, durch Vororte voller beiger, zer-
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Jana Tošic
Ägypten
fallener Häuserblocks, die nur durch die aushängende Wäsche als bewohnt
zu erkennen sind. Schafherden auf den Straßen, Eselskarren, die mit blankpoliertem, wohlsortiertem Obst und Gemüse so schwer beladen sind, dass
die Eselchen durch die Unwucht vorne fast abheben, vollverschleierte Straßenverkäuferinnen, die wie schwarze Brocken reglos auf dem Boden sitzen
und Passanten mit lascher Hand Taschentücherpäckchen anbieten. Ungeahnte Grüngürtel und Wälder aus Palmen am Stadtrand, kleinere und größere Gärtnereien, die wild, aber ertragreich aussehen.
Dann plötzlich die lange, letzte Straße zum Wüstenhochplateau Giza, vorbei an dem Luxushotel Mina Oberoi Hotel und durch eine Straßenabsperrung hindurch.
Es ist, als begänne mit dem sandigen Wüstenplateau Gizas auch zugleich
eine rechtsfreie Zone. Plötzlich rennen schreiende, ungepflegte junge Männer neben dem Taxi her und greifen durchs offene Fenster. Es ist so erschreckend wie sinnlos. So kann man keine Kunden gewinnen! Mein nervenstarker Taxifahrer wehrt sie alle ab, bringt mich direkt zum Ticketschalter und
warnt mit erhobenem Zeigefinger: „Tickets nur am Schalter kaufen. Nichts
kaufen. Niemandem Geld geben. Nicht mit dem Gesockse hier sprechen!“
Drinnen schreien Kutschenfahrer, berittene Reiseführer und noch schulpflichtige, kleine Souvenirverkäufer alle durcheinander, um die Gunst der
ausländischen Touristen zu erhaschen. Eine gewisse Würde strahlen allenfalls die hoch auf ihren Kamelen im Schneidersitz thronenden Beduinen
aus. Doch nur solange, bis ich bemerke, dass sie sich jedem Touristen zwar
in der großen Gemütlichkeit des Kamelschritts, dennoch unvermeidlich vor
die Kameralinse drängen und mit einem geschäftstüchtigen Grinsen zwischen Räuber und beduinischem Businessman rufen: „Pliiiiiiis piktshurrrrr
mi!“ („Bitte fotografiere mich!“).
Ahnungslose Touristen, die stehen bleiben, haben schon verloren. Ich
sehe, wie zwei knapp bekleidete Britinnen sich schüchtern und arglos erkundigen, was denn das obligatorische „Kamel-und-ich-vor-der-Pyramide“Foto kosten würde. Da greift einer der Beduinen beherzt zu und hievt die
erste fleischige Britin auf sein Kamel, setzt sich vor sie. Ein anderer Bedu
hilft ihrer blonden Freundin auf sein Kamel. Doch statt des erwünschten
Fotos bringt er das Kamel in schnellen Galopp. Ab die Post! Aus der Ferne
höre ich die Britin noch kreischen: „Wo reitest Du mit mir hin?“. Dabei ist
nicht „wohin“ die richtige Frage, sondern „wie lang und wie teuer“!
Eine halbe Stunde Kamelreiten kostet bei gutem Verhandeln (im besten
Falle BEVOR man auf dem Kamel sitzt) vierzig ägyptische Pfund, also etwa
fünf Euro. Das ist eine Summe, die ein Tourist womöglich an demselben
Tag auch für zwei Fastfood-Menüs in Kairo bezahlen würde oder für ein
typisches Souvenir wie einen Baumwollschal. Diese Summe entspricht al-
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Ägypten
Jana Tošic
lerdings auch einem Dreitageslohn eines einfachen Arbeiters. Ein Beduine
kann für dieses Geld die typischen Grundnahrungsmittel aller Wüstenbewohner kaufen (Mehl, Zucker, Tee, Reis und Salz) und immerhin mehrere
Tage davon leben.
Wie auch immer man diese gelegentlich räuberische Art des Geldverdienens beurteilen mag, so sind doch die Einnahmen für die Beduinen keineswegs sicher. Die Konkurrenz im Pyramidengebiet ist groß, und es gibt
vielerlei Arten für die Touristen, ihr Geld auszugeben. Hinzu kommt die berittene Polizei, die sich quasi als natürlicher Feind der Beduinen versteht:
In schwarzen Uniformen, ebenfalls stolz hoch oben auf Kamelen, schlagen sie mit einer Gerte so lange auf die Kamele der Beduinen, bis diese
von Preisverhandlungen mit Touristen ablassen. „No. No talk to Bedouin!“
heißt die barsche Belehrung an den Touristen dann. Nicht nur im Schatten
der Pyramiden erinnern sich Ägypter gern an ihr pharaonisches Erbe. „Wir
sind Nachfahren der Pharaonen“, höre ich häufig Ägypter während meiner Recherchereise prahlen. Und wer sich in der Genealogie der Pharaonen wähnt, vermag in den schwindenden indigenen Beduinengesellschaften
kaum ein erhaltenswertes Kulturerbe zu entdecken. Dabei sehen sich die Polizisten als Beschützer der Touristen, selbst dann, wenn der Tourist gern ein
Kamel mieten will. In vielen Fällen aber übernehmen Touristen intuitiv die
Geringschätzung der ägyptischen Polizei gegenüber den Beduinen und sind
erleichtert über den polizeilichen Beistand.
5. REISE NACH MARSA MATRUH – Kleidung als Stigma
Über die Unmöglichkeit vollverschleiert würdevoll Banane zu essen.
Die alte Beduinen-Lady tut mir etwas leid, wie sie da im Bus nach Matruh sitzt und mit Strickhandschuhen an den Händen versucht, eine Banane
zu schälen. Als das vollbracht ist, hindert sie ein schwarzer Gesichtsschleier (der Niqab), der nur ihre Augen frei lässt, daran zu essen. Ihre ebenfalls
vollverschleierte Enkelin muss ihr das Tuch etwas hochhalten, damit sie die
nun geschälte Banane irgendwie unter das Tuch in Richtung Mund bringen kann und gleichzeitig trotzdem ihr Gesicht verdeckt. Die alte Dame
schnauft; sie ist recht beleibt und die beklemmende Enge im Bus, die mit
Teppich bezogenen Sitze, an denen der Stoff ihres Kleides hängen bleibt,
die Hitze und wohl die unbehagliche Vorstellung, im vollbesetzten Bus die
Blicke auf sich zu ziehen, machen der Frau sichtbar zu schaffen. Nach der
Prozedur spült sie ein Fläschchen Mangosaft hastig hinterher und beginnt
sich mitten im Bus unbeholfen die behandschuhten Hände mit ein wenig
Trinkwasser zu reinigen. Wasser tropft auf den Boden und es riecht dunstig
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Jana Tošic
Ägypten
nach Banane und alter Kleidung. Als sie nach einem kurzen Beine vertreten
draußen kaum die steilen Stufen in den Bus hinein schafft, packe ich mit
an und helfe der Enkelin, ihre beleibte Großmutter wieder auf ihren Platz
zu hieven. Und aus dem Sehschlitz heraus lächeln mich zwei verknitterte,
aber wache Äuglein verschmitzt an. Gott sei Dank freut sie sich über diese
Hilfe. Denn das ist bei streng religiösen und auch sehr abergläubigen Frauen nicht selbstverständlich.
Für diese Frau aber ist die Vollverschleierung keine Demonstration einer gelebten religiösen Überzeugung, sonst hätte ich sie womöglich gar nicht anfassen dürfen, sondern ein textiler Sichtschutz, um ihre ländliche Herkunft und
ihre Unbeholfenheit bei einem Großstadt-Ausflug nach Alexandria zu verhüllen. Und für ihre Enkelin mögen der Gesichtsschleier und die Handschuhe die
Voraussetzung für eine generelle Reiseerlaubnis ohne Mann gewesen sein.
Schleiereulen-Alarm!
Anders als früher sehe ich auch in Kairo zunehmend mehr Frauen, die sich
voll verschleiern, obwohl dies der Koran nicht zwingend vorschreibt. Die
Mehrheit der Ägypterinnen trägt modisch-farbige Schals, die sie zweifach
um den Kopf schlingen und seitlich mit einer Tuchnadel feststecken. Kecke
Schulmädchen kombinieren mehrere Tücher in Knallfarben und stecken diese mit einer gewissen Kunstfertigkeit zu voluminösen Gebilden zusammen.
Frauen ganz ohne Kopftücher sind in Kairo selten geworden. Häufig sind es
Koptinnen, Christen also, bei denen das Tuch keine religiöse Bedeutung hat.
Komplett verschleierte Frauen werden im Stadtbild häufiger und geben
sich – völlig im Gegensatz zu der betagten Beduinendame aus dem Bus –
besonders selbstbewusst. Die Zeit längerer Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln nutzen manche von ihnen, um genüsslich oder mit strafendem Blick
die „Sündigen“ zu mustern. Die große Zahl der Verschleierten erzeugt eine
charakteristische Art von Druck, dem man sich auch als Touristin nicht völlig entziehen kann. Dem kann ich nur mit Humor begegnen und nenne die
voll verschleierten Gafferinnen heimlich „Schleiereulen“.
Auf einem anderen Blatt steht, dass die Vollverschleierung durch Lichtund Vitaminmangel ausgelöste Krankheiten begünstigt. Vollverschleierte
Frauen, die sich auch zu Hause in den typisch arabischen, fensterlosen Räumen aufhalten, riskieren Migräne, Depressionen, Hauterkrankungen und
Knochenschwund (Osteomalazie und Osteoporose). Bei Schwangeren kann
der Lichtmangel zu Bluthochdruck, Diabetes mellitus, vorzeitigen Wehen
und zu kleinen, zu leichten Babys („small for gestational age infants“) führen. Infolge dessen kommt es bei Kleinkindern häufig zu Rachitis (Knochenfehlstellung), die auch wegen einer calciumarmen Ernährung nicht
ohne weiteres ausgeglichen werden kann.
468
Ägypten
Jana Tošic
Allerdings ist eine Komplettverschleierung auch in Kairo nicht unbedingt
dezent. Manche Touristin aus Saudi-Arabien oder den Emiraten zeigt ihren
Reichtum durch edelstes Tuch und ihren Geschmack durch auffälliges Augen-Make-up. Nicht zuletzt kann die schwarze Vollverschleierung anonymisieren. Meine kleine Beduinenfreundin Fatma (16) verriet mir, dass manche
Prostituierte die Komplettverschleierung zur Tarnung nutzt.
Das Tuch bei den Beduinen
Die Kopftuchfrage bei den Beduinen ist tatsächlich keine. Denn egal bei
welchem Stamm man schaut, jeder trägt ein Tuch auf dem Kopf. Auch die
Männer. Es schützt vor Hitze, verhüllt das (möglicherweise erotische) Haar,
hält im Schlaf Insekten davon ab, in Ohren zu krabbeln, kann bei Sandstürmen schnell vor das gesamte Gesicht gezogen werden, und manche wischen
sich daran in Ermangelung anderer Lappen Hände und Nase ab.
Je nach Jahreszeit variiert die Stoffdicke und je nach Stamm die Farben und Muster. So tragen die Aleiqat an der Westküste Sinais häufig hellblaue, fein bestickte Tücher, während die Muzeina im Süden der Halbinsel
gern auch die bei uns als Palästinensertücher bekannten Stoffe zum Turban drehen.
Die Frauen tragen auch bei größter Hitze aus Tradition schwarze Tücher
und Kleider, (die häufig farbenprächtige und bestickte Hauskleider überdecken). Dabei verstehen sie das Tuch so geschickt um den Kopf zu wickeln, dass es hinten weit über den Rücken fällt, aber vorn in einer zweiten
Lage die Nase mit abdeckt und nur den oberen Teil des Gesichtes freilässt.
Fremden Menschen und Männern, mit denen sie nicht verwandt sind, zeigen sie ihr Gesicht nicht. Typisch ist daher, wie die Frauen bei längeren
Gesprächen oder nach dem (geschlechtergetrennten) Essen mit einer wohl
bereits tausendfach ausgeführten und daher so beiläufigen Geste mit dem
Daumen das Tuch wieder über der Nase platzieren. Kommt männlicher
Besuch, ruft dieser schon zehn, zwanzig Meter vor dem Haus, um so die
Erlaubnis zum Eintreten zu erbitten und den Damen des Hauses die Chance zu geben, sich zu verschleiern. Je jünger und schöner die Frau, desto
eher ist sie gehalten, sich ordentlich zu verschleiern. Ältere Damen, die
Erst-Ehefrauen des Hausherrn und auch betagte Witwen haben häufig viel
mehr Freiheiten. So hab’ ich diese auch schon mal gemeinsam mit jungen
Beduinenmännern unverschleiert essen sehen und danach eine selbstgedrehte Zigarette rauchen. Eigentlich ein No-Go in der streng ritualisier ten
Welt der Beduinen!
Generell aber gilt: Am Männerkopftuch kann ein Städter üblicherweise
die ländliche oder beduinische Herkunft seines Gegenübers erkennen. Somit kann also auch ein noch so edles Stammeszeichen zum Stigma werden.
469
Jana Tošic
Ägypten
Nach fast sechs Stunden Fahrt scheint die alte Dame im Bus ebenso froh
zu sein wie ich, als wir endlich in Marsa Matruh ankommen. Aus dem riesenhaften Gepäckfach des Busses puhle ich leider ohne männliche Hilfe
meinen schweren Wanderrucksack heraus und versuche dann, ihn mir allein
auf den Rücken zu hieven. Doch siehe da: Die alte Dame hilft mir ein wenig. Viel heben kann sie nicht, aber ich freue mich, als ich in ihren lächelnden Sehschlitzen ein wenig Frauensolidarität aufglimmen sehe. Bevor ich
davon wandere, blicke ich noch einmal zurück. Ein schwarzer Strickhandschuh winkt mir hinterher.
6. MARSA MATRUH – Ausverkauf mit staatlichem Kalkül
Weißer Pudersand, glasklares, türkisfarbenes Wasser und schroff zerklüftete Kreidefelsen machen Marsa Matruh zu Ägyptens beliebtestem Badeort
unter Einheimischen. Im Sommer. Im Winter aber ist es das ödeste, artifiziellste Kaff, das man sich vorstellen kann.
Die fast karibisch wilde Schönheit der Küste steht im krassen Gegensatz
zu den barock-opulenten Balustraden der Strandpromenade, den verkitschtmaritimen Skulpturen mit Kaufhaus-Charme und den quietschbunten Riesenmosaiken an den betonklotzartigen Hotels, die nicht mit gutem Service,
sondern allenfalls mit ihren bronzefarbenen Sonnenschutzfenstern brillieren. Das Gouvernat Matruh hat es sich einiges kosten lassen, das einstige Beduinen- und Fischerdorf auszubauen. Mittlerweile leben etwa 80.000
Menschen dort. Die ortsansässigen Beduinen des Awlad-Ali-Stammes leben
häufig am Stadtrand oder ganz außerhalb der Stadt.
Ganz unvorbereitet trifft mich der Anblick dieser architektonisch-geschmacklichen Irrungen in Marsa Matruh unterdessen nicht: Beginnend mit
meiner Abfahrt in Alexandria reiht sich entlang der Küstenstraße nach Westen ein künstliches Feriendorf neben das andere. Etwa entlang eines Küstenstreifens von 70 Kilometern ist kein öffentlicher Zugang mehr zum Strand
möglich. Schon 1974 hat das ägyptische Parlament dieses dünn besiedelte
Gebiet, das vorwiegend von den ansässigen Awlad-Ali-Beduinen als Weideland für ihre Herden benutzt wurde, als Schwerpunktregion für den Binnentourismus ausgewiesen. Bis zum Jahr 1999 haben 220 Bauprojekte mit
über 300.000 Wohneinheiten eine Genehmigung bekommen. Die Feriendörfer tragen klangvolle Namen wie Marbella, Maraqia oder Marina und sind
von weithin wie Trutzburgen der materialisierten Sommerfrische an ihren
imposanten und von Sicherheitskräften bewachten Eingangstoren zu erkennen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit erholen sich dort Juristen, Ärzte,
Universitätsprofessoren und vor allem Beamte des hiesigen Militärapparats
470
Ägypten
Jana Tošic
– kurz: die Kairoer Oberschicht. Wer frühzeitig zugeschlagen hatte, konnte
sich die teils staatlich subventionierten Ferienwohnungen zu günstigen Preisen sichern.
Die Awlad Ali
Die durch den Bau der Touristendörfer verdrängten Beduinen stammen
aus der libyschen Wüste und gehören überwiegend dem Stamm der Awlad
Ali an. Sie siedelten sich bis ins Nil-Delta an. Manche weichen bis Siwa und
Kairo aus, wo sie im Tourismus arbeiten. Zum Awlad-Ali-Stamm gehören
etwa 45 Clans. Wie viele Menschen das genau sind, ist unklar. Noch immer
verweigern viele der freiheitsliebenden Beduinen eine staatliche Erfassung
und haben keinen Ausweis. Schätzungen zufolge sind von den 280.000 Einwohnern des Gouvernats etwa zwei Drittel beduinischer Abstammung. Traditionell leben die Awlad Ali von ihren Schaf-, Ziegen- oder Kamelherden.
Diese Lebensweise jedoch verschwindet allmählich, denn Landesgrenzen,
schrumpfende Weideflächen und mangelnder Zugang zu Trinkwasserquellen
machen eine nomadische Lebensweise immer unmöglicher.
Pionierin ohne Nachfolgerin
„Dr. Selima, as-salamu aleikum! Ich bin gekommen, um zu bezahlen – dafür, dass Du letzte Woche mein Kamel behandelt hast. Gott segne Deine Hände! Hast Du die Rechnung schon fertig?“, fragt ein alter Mann respektvoll
mit freundlich-knarzender Stimme beim Reinschlurfen in die Tierarztpraxis.
Die so angesprochene Frau ist etwa Mitte Fünfzig und schaut mit wachen,
freundlichen braunen Augen von ihrem Schreibtisch auf. Alles an ihr ist dezent, fein und bronzefarben. Außer ihrer imposanten Gesichtstätowierung:
ein Baumgeäst in dicken, fast ungeschickten blauen Linien an Stirn und
Kinn. Es ist ein früher bei Beduinen übliches Stammeszeichen der Awlad
Ali, das schon den Kleinkindern mit einfachsten Mitteln unter die Haut gestochen wird. Doch es ist nicht die Gesichtstätowierung, die sie so außergewöhnlich macht. Dr. Selima Abdel Rahim ist die einzige Beduinin ihres
Stammes, die jemals durchgesetzt hat zu studieren. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine Pionierin. Deswegen bin ich hier. Ich will ihre außergewöhnliche
Geschichte hören.
Eigentlich sollte Selimas Kindheit so verlaufen, wie die ihrer Mutter und
zuvor ihrer Großmutter: Als junges Mädchen sollte sie alles lernen, was man
zum Führen eines Haushaltes braucht. Und mit 14 oder 15 sollte sie dann
heiraten und eigene Kinder bekommen.
Doch als ihr damals sechsjähriger Bruder Schulbücher mit nach Hause brachte, begann Selima stattdessen, sich selbst das Lesen beizubringen.
„Dann habe ich mit meinem Vater einen Deal ausgehandelt: Ich habe ge-
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Jana Tošic
Ägypten
sagt: Lass mich mit dem Bruder zur Schule gehen, ich passe auf, dass er
nicht wegläuft und spielen geht“, erzählt sie schmunzelnd. Der Vater war damit einverstanden, bis eines Tages der Bruder die ungeliebte Schule abbrach
und damit ein Dilemma auslöste: Es war ohnehin schon ungehörig, dass ein
Beduinenmädchen in den sechziger Jahren zur Schule ging; in Abwesenheit
eines männlichen Verwandten allerdings war das Verlassen des Hauses ein
glatter Regelbruch in der beduinischen Gesellschaft. Selima setzte sich jedoch mit guten Leistungen durch und beendete sogar die höhere Schule. Das
Veterinärstudium in Alexandria begann sie gegen den Wunsch ihrer Eltern.
Rückendeckung holte sie sich, indem sie tollkühn den Gouverneur von Marsa Matruh um Unterstützung für ihr Vorhaben bat.
Dabei hat sie ihren Beruf ganz danach ausgesucht, dass er später der
Beduinengemeinschaft nutzen sollte: „Eigentlich wollte ich gerne Sozialwissenschaften studieren, aber dann ist mir klar geworden, dass die landwirtschaftliche Tie