Zeugen des Aufbruchs Ein Stahlrohrstuhl macht noch
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Zeugen des Aufbruchs Ein Stahlrohrstuhl macht noch
Einmalige Ausgabe 2016 | kostenfrei Alles so schön bunt hier: Magdeburg erlebte in den 20er Jahren die wundersame Verwandlung von tristem Grau hin zu expressiver Farbigkeit. Bunte Häuserfassaden, Kioske, Reklame. Die Deutsche Theaterausstellung 1927 auf dem Stadthallenareal mit Albinmüller-Turm (s. Bild oben) bot auch Magdeburg als Metropole der Moderne und des Neuen Bauens eine große Bühne. © Stadtarchiv Magdeburg GASTBEITRAG Zeugen des Aufbruchs Einen frischen Blick auf die Magdeburger Moderne richtet der promovierte Kunsthistoriker und Architekturkritiker Dr. Christian Welzbacher in seinem Gastbeitrag. Die Bauwerke der Moderne bezeichnet Welzbacher als „Zeugen des Aufbruchs“. Seite 2 INTERVIEW Ein Stahlrohrstuhl macht noch keine Moderne „Große Pläne!“ ist ein Projekt der Stiftung Bauhaus Dessau, an dem sich Magdeburg mit fünf Ausstellungen beteiligt. Im Interview erläutern Ausstellungsmacher aus Dessau und Magdeburg, wie Bauhaus und die Magdeburger Moderne zusammenhängen. Seite 3 LIEBLINGSEXPONATE Vier Ausstellungsmacher zeigen, wofür ihr Herz schlägt Stadt des „Neuen Bauwillens“ Von Prof. Dr. Matthias Puhle, Magdeburger Kulturbeigeordneter Die Stadt Magdeburg erlebte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die man auch die „Goldenen Zwanziger“ nennt, einen regelrechten Modernisierungsschub. Große Pläne wurden in der Zeit des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Hermann Beims zwischen 1919 und 1931 entwickelt und zu einem guten Teil auch verwirklicht. Der nun einsetzende Wirtschaftsaufschwung ermutigte Stadt und Wirtschaft, Magdeburg zum Mittelpunkt des Wirtschaftsraumes Mitteldeutschland zu machen, die Einwohnerzahl der Stadt stieg auf nahezu 300.000 Menschen. Zu der rasch aufblühenden Kulturlandschaft trugen vor allem die 1793 gegründete Kunstgewerbeschule Magdeburg sowie herausragende Persönlichkeiten im Bereich der Stadtentwicklung wie etwa Bruno Taut, Johannes Göderitz, Heinz-Hugo Meyer, Xanti Schawinsky oder Carl Krayl bei. Auf der Basis eines Flächennutzungsplanes, der die wichtigen Elemente Boden, Wasser, Luft und Klima mit den sozialen Ansprüchen der Menschen zu einer Einheit verschmelzen sollte, wurde Magdeburg durch großflächige neue Siedlungen zur Stadt des „Neuen Bauwillens“. Es entstanden das Stadthallenareal und als Höhepunkt einer Reihe viel beachteter Industrie- und Handwerksausstellungen die Deutsche Theaterausstellung 1927 unter Mitwirkung von Wilhelm Deffke und unter der Leitung von Albin Müller. Silberwürfel, Zeichnungen, Projektionsraum – und ein Nachbau der Magdeburger Pilotenrakete: Dr. Annegret Laabs (Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen), Dr. Michael Stöneberg (Kulturhistorisches Museum), Norbert Eisold (Forum Gestaltung e.V.) und Gerhard Unger (Technikmuseum) stellen ihre Lieblingsexponate aus den Magdeburger „Große Pläne!“-Ausstellungen vor. In der spätexpressionistischen Künstlervereinigung „Die Kugel“ fanden sich Künstlerinnen und Künstler zusammen, für die Kunst mehr als ein Broterwerb war, vielmehr eine Lebenseinstellung, in der sich auch die Sehnsucht nach einer besseren Welt widerspiegelte. Die überragende Rolle, die Kunst, Kultur und Stadtplanung für die Entwicklung Magdeburgs in den zwanziger Jahren spielte, ist es nicht nur wert, in Ausstellungen, Publikationen und anderen Aktionen in Erinnerung gebracht zu werden, sondern zeigt uns, welche Bedeutung kulturelle Entwicklungen für die Zukunft Magdeburgs haben können. In der Hoffnung auf ähnliche Entwicklungen bewirbt sich die Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt um den Titel der Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2025. Gerade auch vor diesem Hintergrund ist die gute Zusammenarbeit verschiedener Kultureinrichtungen Magdeburgs mit der Stiftung Bauhaus Dessau so wichtig, weil hier mit der Ausstellung „Große Pläne! Moderne Typen, Fantasten und Erfinder. Die Angewandte Moderne in SachsenAnhalt 1919-1933“ im Zusammenhang mit Verbundausstellungen im ganzen Land, vor allem aber in Magdeburg, sich Sachsen-Anhalt deutlich als Land der klassischen Moderne im europäischen Kontext profiliert. Diese gelungene Zusammenarbeit verschiedener Institutionen und Städte in Sachsen-Anhalt unter dem Thema „Klassische Moderne“ und „Bauhaus“ berechtigt zu der Hoffnung, dass die Hundertjahrfeier für das Bauhaus im Jahr 2019 eine mindestens ebenso fruchtbare Kooperation hervorbringen wird wie die „Großen Pläne“ 2016. REPORTAGE Ikonen des modernen Siedlungsbaus Auf der Rundfahrt zu den Zeugnissen der Magdeburger Moderne geht es auch zu den Siedlungen der 20er Jahre. Neben Frankfurt am Main und Berlin sind auch in Magdeburg die Siedlungen des Neuen Bauens stadtbildprägend und geschlossen erhalten. Seite 6 Seite 4/5 Anger-Siedlung © Stadtplanungsamt Magdeburg Seite 2 MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 Siedlung Cracau, Zetkinstraße. © Magdeburger Museen, Foto C. Christoph GASTBEITRAG Moderne-Pfadfinder in Magdeburg Von Dr. Christian Welzbacher Die Bauhaus-Welle rollt auf uns zu. Unerbittlich nimmt sie Fahrt auf. Unvermeidlich wird sie uns treffen. Im Jahr 2019. Und sie wird uns ganz gehörig durchnässen. Uns? Nicht nur uns. Die ganze Welt! Man schaue sich um. Und stelle fest: Überall ist Bauhaus. In Boston, Massachusetts. In Magnitogorsk. In Shanghai. In Bexhill-on-Sea. In Tel Aviv. Und selbstverständlich auch in Magdeburg. Natürlich ist nicht überall Bauhaus drin, wo Bauhaus draufsteht. Es wäre ja auch erstaunlich, wenn eine Kunsthochschule, die ein gutes Dutzend Jahre existiert hat, in der Lage gewesen wäre, einen derartig umfassenden Einfluss an so vielen Plätzen der Erde auszuüben. Aber wer hinterfragt das schon? Und umgekehrt: Welche Stadt würde nicht ihr Marketing mit dem Label „Bauhaus“ versehen wollen. Es klingt gut, ist eine eingeführte „Marke“, unter der sich jeder etwas vorstellen kann und es interessiert die Menschen. Und das ist zunächst einmal eine rundherum positive Sache, an der es nichts zu rütteln gibt. Aber Magdeburg? Magdeburg ist doch keine Bauhaus-Stadt. Wer nach Magdeburg kommt, der kommt doch wegen anderer Dinge. Magdeburg hat einen imposanten gotischen Dom mit Skulpturen von erhabener Schönheit. Magdeburg feiert den Barockkomponisten Georg Philipp Telemann, das lockt Musikliebhaber. Und natürlich hat die Stadt auch sonst alles, was man haben sollte als Stadt: Einkaufsmöglichkeiten, Arbeitsplätze, Verwaltung, Industrie, Dienstleistung, Wohnungen, Straßen, Bäume, die Elbe – und die gleich mehrfach. Und dennoch. Wer sich länger in Magdeburg aufhält oder die Stadt zum wiederholten Mal besucht, sieht bei einem ausführlichen Stadtspaziergang neben ausgedehnten Gründerzeitvierteln auch: die Magdeburger Moderne! Sie liegt nicht ganz so auf der Hand. Man muss erst auf sie aufmerksam werden, muss, wie ein Pfadfinder, auf Spurensuche gehen. Vielleicht, indem man auf die Elbinsel gerät und auf den Backsteinkoloss der Stadthalle von 1927 stößt – und, gleich daneben, Stelen mit Pferden und einen schlanken, gläsernen Turm. Wer diese Strukturen sieht, hat einen guten ersten Eindruck davon, was die Magdeburger Moderne ausmacht: diese Bauwerke sind Zeugen des Aufbruchs. Er war durch die Entwicklungen der mitteldeutschen Industrie getragen, wurde durch die (damals sozialdemokratische) Politik gelenkt und von der Gesellschaft – den Bürgern – umgesetzt. Vielleicht kann sich der Pfadfinder an dieser Stelle schon drei Namen merken: Bruno Taut, Johannes Göderitz und Carl Krayl. Die beiden erstgenannten Herren bekleideten nacheinander das Amt des Stadtbaurates und waren als oberste Planungsbeamten für die Stadtentwicklung zuständig. Carl Krayl wirkte als Leiter des Entwurfsbüros im Hochbauamt der Stadt. Was sie erreicht haben, kann der Pfadfinder der Magdeburger Moderne am besten sehen, wenn er weiterwandert, bis er in die Siedlungen der 20er Jahre vordringt. Magdeburg hat beeindruckende Siedlungen der Moderne. Sie sind wichtige Beiträge zu dem, was man damals als „existenziell“ erkannte: die „soziale Frage“. auch bald viele Pfadfinder durch die Stadt lotst, diese Moderne zu erkunden – kann als Glücksfall gelten, von dem dann auch die Bürger der Stadt profitieren. Wenn auf diese Weise die Bauhaus-Welle gebrochen und kanalisiert wird, wenn wir so erfahren, dass es noch eine andere neben und mit dem Bauhaus gab – so dürfte dies das Jubiläum nicht nur erträglicher, sondern auch wahrhaftiger machen. Schließlich ist das „Bauhaus“ eine von vielen Aufbruchsentwicklungen gewesen – unter denen auch die Magdeburger Moderne einen Platz einnimmt, dessen Bedeutung es wiederzuentdecken lohnt. In allen großen Städten errichteten Baugesellschaften und Genossenschaften im Verbund mit den kommunalen Verwaltungen neue Wohnkomplexe. Man kann sagen, dass die Moderne in den Siedlungen der „Weimarer Republik“ zu ihrem eigentlichen Wesen gefunden hat. Damit verbunden natürlich: eine neue Infrastruktur – auch sie „modern“. Kanalisation, öffentlicher Nahverkehr, das damals gerade erfundene Radio, Elektrizität und Gasversorgung. All das ist selbstverständlich auch Teil der Magdeburger Moderne – ein Teil, der unsichtbar unter der Erde liegt, aber dennoch die Dinge oberhalb der Erde erst so modern erscheinen ließ. Hand auf’s Herz: Von diesen Errungenschaften profitieren wir bis heute, seien wir nun Magdeburger oder Bewohner einer anderen Stadt, die den Aufbruch in die Moderne mitgemacht haben. Das schon zeigt, dass wir unsere Gegenwart besser verstehen können, wenn wir eine Ahnung davon haben, was in den 20er Jahren geschah. Dass anlässlich des Bauhaus-Jubiläums 2019 Magdeburg nun seine Moderne entdeckt – und damit Über den Gastautor: Dr. Christian Welzbacher, Kunsthistoriker und Publizist (Jg. 1970), lebt in Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählt: „Monumente der Macht. Eine politische Architekturgeschichte Deutschlands 1920–1960“, Parthasverlag, Berlin 2016. Im Jahr 2005 erhielt Welzbacher für seine Dissertation „Moderne und Repräsentation. Die Staatsarchitektur der Weimarer Republik in Berlin“ den Theodor-Fischer-Preis des Zentralinstituts für Kunstgeschichte. Bauhausgebäude Dessau, Walter Gropius (1925–26), Südseite Copyright: Tadashi Okochi © Pen Magazine, 2010, Stiftung Bauhaus Dessau MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 Seite 3 Kuratoren im angeregten Austausch: Norbert Eisold, Torsten Blume und Dr. Michael Stöneberg (großes Foto von links) INTERVIEW ZUM „Große Pläne!“-PROJEKT DER STIFTUNG BAUHAUS DESSAU „Modern sein heißt nicht, einen Stahlrohrstuhl zu besitzen“ Im Mittelpunkt des „Große Pläne!“-Projekts der Stiftung Bauhaus Dessau steht die Moderne in Sachsen-Anhalt. Allein in Magdeburg sind fünf große Ausstellungen zu sehen. Doch wie hängen Bauhaus und die Magdeburger Moderne zusammen – und wie bereitet sich Sachsen-Anhalt auf das Bauhausjubiläum 2019 vor? Über diese Fragen sprach Dr. Tanja Glootz, MMKT-Pressesprecherin, mit Torsten Blume (Stiftung Bauhaus Dessau), Dr. Michael Stöneberg (Kulturhistorisches Museum Magdeburg) und Norbert Eisold (Forum Gestaltung e.V. Magdeburg). MMKT: Herr Blume, was erwarten Sie sich als Kuschreiben Sie der Moderne in Magdeburg zu? len Stellen diese Modernisierung vom Geist her rator des „Große Pläne!“-Ausstellungsprojekts Dr. Michael Stöneberg: Wichtig finde ich, in sicher sehr verwandt war. der Stiftung Bauhaus Dessau von der Ausstellung der Kunstlandschaft mehr als nur bestimmte MMKT: Nun hat Bauhaus als Label eine viel gröfür Sachsen-Anhalt, für Ihre Stadt, und für die Kristallisationspunkte wie das Bauhaus wahrßere Außenwirkung als die Magdeburger MoKorrespondenzstandorte, zu denen auch Magzunehmen. Für Menschen in Sachsen-Anhalt ist derne. Ist das ein Problem? deburg zählt? das neu. Magdeburg als eine Stadt zu sehen, die Torsten Blume: Das ist dieser Mythos. Ich finde Torsten Blume: Ich wünsche mir als Kurator diesich früh der Moderne verschrieben hat, und sich es am besten, wenn die Dinge ihren Eigenwert ser Ausstellung mit dem Untertitel „Moderne Ty1921 mit der Berufung von Bruno Taut als Stadtbekommen. pen, Fantasten und Erfinder“, dass sie ein Impuls baurat in diese Richtung fortbewegte. MMKT: Mit welchem Label sollte sich Magdesein wird für viele Ausstellungen in Sachsen-AnUnd es dieser Stadt durch Kontinuität – die lange burg profilieren? halt, die alle gleichberechtigt sind. Amtszeit des Magdeburger Oberbürgermeisters Dr. Michael Stöneberg: Der Begriff der MagdeMMKT: Was bedeutet das „Große Pläne!“-ProBeims – gelang, vier Jahre früher als in Frankfurt burger Moderne der 20er Jahre ist in der Arbeitsjekt im Hinblick auf das Bauhausjubiläum 2019? am Main die Moderne voranzutreiben. gruppe auf Stadtebene in Magdeburg im Jahr Torsten Blume: Es bilUnd doch ist das Neue 2015 entwickelt worden. Wir sollten bis 2019 die„Wichtig ist, in der Kunstlandschaft mehr Frankfurt, das 1925 von det den Auftakt für neue ses Label verwenden und versuchen, uns damit als nur bestimmte Kristallisationspunkte Ernst May initiiert wurKooperationen, Partnerzu profilieren: Magdeburg, die erste Großstadt, schaften, Folgeprojekte. de, als Stadt der Moderdie sich klar modern definiert hat. wie das Bauhaus wahrzunehmen.“ Vor allem wird es einen ne so viel bekannter als MMKT: Es kristallisieren sich zwei Ansätze herDr. Michael Stöneberg neuen Blick auf das BauMagdeburg. aus: Erstens, den Begriff Magdeburger Moderne haus werfen, das nicht nur, wie allgemein beMMKT: Zieht Magdeburg an einem Strang, weiter zu profilieren. Und zweitens die Verbinkannt, ein Ankerplatz der internationalen Moum sich als Großstadt der Moderne stärker ins dungslinien zwischen Magdeburger Moderne derne und ein Forum der Avantgarde gewesen Bewusstsein zu bringen? und Bauhaus sichtbar zu machen. ist, sondern auch ein sehr in seiner Region, dieDr. Michael Stöneberg: Hier haben sich meine Norbert Eisold: Bei den Verbindungslinien sem Industriegebiet, verankertes und vernetztes Erwartungen bereits erfüllt. Beim Netzwerkprofängt man am einfachsten bei Walter Dexel an, Institut. jekt „Große Pläne!“ arbeiten wir mit der Stadtder 1928 nach Magdeburg gekommen ist und der MMKT: Herr Eisold, steht auch für Sie die Region verwaltung und auf Dezernatsebene zusammen. vorher in Jena den Jenaer Kunstverein leitete, wo im Mittelpunkt des „Große Pläne“-Projekts? Die Magdeburger Moderne der 20er Jahre hat die Bauhausmeister alle mit ihren Ausstellungen Norbert Eisold: Die Erwartung ist tatsächlich die nun definitiv einen höheren Stellenwert bei den zu Gast waren. Der Geist, der dort herrschte, zog einer differenzierteren Wahrnehmung, als diese Stadtpolitikern und in der Verwaltung erlangt. dann von Jena in Gestalt von Dexel auch nach bislang in der Region vorhanden gewesen ist – Torsten Blume: Es ist Magdeburg. Der Maler, „Ich hoffe, wo der Begriff „Moderne“ sich doch mehr oder auch meine Erwartung, Bühnenbildner und Foweniger am Bauhaus kristallisiert hat. Im Jahr den Begriff der Moderne tograf Xanti Schawinsky dass Bewegung hier ins Land kommt.“ 1964 hat Walter Dexel einen Aufsatz verfasst mit neu zu entdecken. Wenn ist eine weitere VerbinNorbert Eisold dem Titel „Der Bauhausstil, ein Mythos.“ Darin ich an Carl Krayl denke, dungslinie – ein glücklihat er versucht, das aufzulösen und sinngemäß wie er als expressiver Künstler anfängt und dann cher Umstand, dass er ins Hochbauamt nach geschrieben, dass es diesen Bauhausstil im Grunrationaler Baumeister und Siedlungsplaner wird. Magdeburg kam. Innerhalb von zwei Jahren fuhr de nicht gibt und die moderne Bewegung naDas ist ein geistiges Feld. Modern sein heißt ja er ein unwahrscheinliches Themenrepertoire der türlich viel differenzierter, vielfältiger und auch nicht, einen Stahlrohrstuhl zu besitzen und im Moderne auf. sicher widersprüchlicher war. Flachdachhaus zu wohnen. MMKT: Wo sehen Sie alle die Magdeburger MoTorsten Blume: Bauhaus war nur ein KatalysaMMKT: Wie hängen nun Bauhaus und die Magderne in zehn Jahren? tor, ein Ort, an dem diese Bewegung durchgelaudeburger Moderne zusammen? Dr. Michael Stöneberg: Es wird ein differenfen ist. Bauhaus war Teil dieser Bewegung, hat Dr. Michael Stöneberg: Wir sprechen einerzierteres Bild von der Magdeburger Moderne der ihr vielleicht als Schulplatz gedient. seits von einer Schule und andererseits von einer 20er Jahre geben. Auch wird man wissen, dass Norbert Eisold: Natürlich, die Dichte an künstStadt. Eine Schule ist per se wesentlich geschlosdas Neue Frankfurt nur das abgekupfert hat, was lerischer Potenz, die sich in Dessau versammelt sener und von ihren inneren Konflikten zwischen bereits vier Jahre vorher schon in Magdeburg hatte, war besonders hoch. Die Leute kannten den Persönlichkeiten geprägt, welche in der Lehwar. sich, aber ich sehe es re wirkten. Torsten Blume: Vielleicht wird auch ein neues nicht so einheitlich, wie Aber eine Schule defipädagogisches Projekt mit Leben gefüllt sein, „Ich finde es am besten, wenn die Dinge Sie das eben beschrieben niert auch gemeinsame und es gibt mindestens zehn Bücher zu den Theihren Eigenwert bekommen.“ haben. Johannes MolZiele. Eine Stadt dagemen, die wir hier angerissen haben. Torsten Blume zahn war ein Anlaufgen kann niemals ein so Norbert Eisold: Ich hoffe, dass sich die Öffentpunkt für Gropius in der Weimarer Gründungshomogenes Gebilde sein wie eine Schule. Umso lichkeit von den Beispielen, Visionen und Kühnphase, er hat auch immer mit dem Bauhaus erstaunlicher ist es, für Magdeburg auf vielen heiten anstecken lässt. Dass Bewegung hier ins sympathisiert, aber es gab eine wesentliche DifEbenen eine Richtung zu erkennen, die sich mit Land kommt. So etwas geht nicht nur von den ferenz mit Gropius: Molzahn war der Meinung, den Attributen „modern“ oder „Reform“ verseAusstellungsmachern aus, sondern von den Verdass eben nicht die Architektur die Mutter der hen lässt. tretern aus Wirtschaft und Politik, da wünschte Künste sei, sondern die „Erde und ihre geschichtNorbert Eisold: Verblüffend ist aber doch, dass ich mir einen etwas frischeren Geist. lichen Epochen“. Das Visionäre in der Moderne ungeachtet der beschriebenen Differenziertheiprovozierte eben auch Spannungen. ten aus dem Rückblick doch so etwas wie ein MMKT: Herr Dr. Stöneberg, welche Bedeutung Corporate Design entsteht. Warum? Weil an vie- Seite 4 MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 „GROSSE PLÄNE!“-PROJEKT Fünf Ausstellungen zur Magdeburger Moderne der 20er Jahre In fünf großen Ausstellungen blüht die Magdeburger Moderne der 20er Jahre auf. Das Forum Gestaltung e.V. stellt Magdeburg als Reklame- und Ausstellungsstadt der Moderne vor. Reklame erhielt in den 20er Jahren eine neue Wertigkeit, Großausstellungen nutzte die Stadt zur Selbstdarstellung. Spannende Bezüge zur Luft- und Raumfahrt stellt das Technikmuseum Magdeburg her. Der Nachbau der Magdeburger Pilotenrakete lässt erahnen, welchen Gefahren sich Himmelsstürmer freiwillig aussetzten. Die erste Retrospektive über den Architekten Carl Krayl zeigt das Kulturhistorische Museum Magdeburg. Im Bereich Architektur zählt Krayl zu den wichtigsten Gestaltern der 20er Jahre-Moderne in Magdeburg. Das Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen wiederum nähert sich der Moderne aus dem Blickwinkel der Fotografie im Projekt „Joachim Brohm. State of M.“. In seinem zweiten Projekt macht das Kunstmuseum das Gesamtwerk des großen Künstlers der Moderne – Xanti Schawinsky – bekannt, und zwar über das Thema Magdeburg hinaus. Magdeburger Ausstellungsmacher zeigen ihre Schätze Vier Ausstellungsmacher, vier Lieblingsexponate der Magdeburger Moderne: Dr. Annegret Laabs (Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen), Dr. Michael Stöneberg (Kulturhistorisches Museum Magdeburg), Norbert Eisold (Forum Gestaltung e.V.) und Gerhard Unger (Technikmuseum Magdeburg) stellen Ihnen ihre persönlichen Schätze vor. Lassen Sie sich überraschen! Dr. Annegret Laabs, Direktorin Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg Ost + West (2)2, 1925 (Frauengestalt) Ost + West I, 1925 Kosmische Existenzialität, 1925 „Denke ich an Xanti Schawinsky, dann fallen mir spontan die mit Oskar Schlemmer im Zusammenhang stehenden Vorbereitungen für das Triadische Ballett und die Theaterinszenierungen in Dessau ein. Schawinsky hat wunderschöne Zeichnungen zum Ballett angefertigt, die mich berühren, weil sie sehr schön diesen Grundgedanken des Bauhauses illustrieren: Den Tanz, das Theater, die Bildende Kunst, die Musik, die Architektur – all das in eins zu setzen und zu sehen, das ist das Thema des Bauhauses, und später des Black Mountain Colleges. Bei den drei Figurinen-Skizzen von Schawinsky ist alles vorhanden: Die abstrakten Formen, die beschrieben werden. Und der Schwung des Tanzes, der gar nicht abgebildet ist, aber von dem man weiß, dass er da sein wird, wenn sich die Figurinen über das Parkett auf dem Theaterboden bewegen. Also, das ist wie ein Bild. Nicht umsonst ist Oskar Schlemmers Triadisches Ballett auch zu einem Bild für Bauhaus geworden. „Ein Rot, das roter ist als rot“ Blau, Rot, Gelb – richtig schön strahlende Bauhaus-Farben sind das. Sie erinnern mich auch an einige Originale von Schawinsky, die ich in einer Ausstellung in Berlin gesehen habe. Farben, die man sich eigentlich nicht vorstellen kann. Ein Rot, das roter ist als rot. Und ein Blau, das blauer ist als blau. Ich habe vor diesen einzelnen Zeichnungen aus den Jahren 1928 und 1929 gestanden, und dachte nur: Was ist das für ein Blau! Das kennen wir gar nicht mehr, weil man es nicht drucken kann und es in keinem der digital erzeugten Bilder vorkommt. Das ist auch das Faszinierende an der „Xanti Schawinsky Retrospektive“ in Magdeburg. Wenn jemand zuerst den Katalog anschaut und denkt: „Ach, Zeichnungen, kleine Formate.“ Aber dann, wenn man das Original gesehen hat, gibt es so ein inneres Leuchten. Ich hoffe natürlich, dass dieses Leuchten auf die Besucher überspringen wird.“ „Virtueller Krayl-Pavillon nimmt mich gefangen“ Wir lassen einen Pavillon von Carl Krayl aus den 20er Jahren als sehr realistische Projektion wieder aufleben! Als digitale Rekonstruktion eines Baus, der nur zwei Jahre stand. 1922 hatte ihn Krayl für den Magdeburger Schokoladenhersteller Hauswaldt entworfen, als Kakaotrinkstube auf der Großausstellung MIAMA – Mitteldeutsche Ausstellung für Siedelung, Sozialfürsorge und Arbeit. Durch seine kristallinen Formen und starke Farbigkeit sorgte der Pavillon für großes Aufsehen. Es war der erste Bau, den Krayl hier als Privatarchitekt realisierte, neben seiner Anstellung bei Stadtbaurat Bruno Taut. Ein Schlüsselbau im Gesamtwerk von Krayl, das in unserer Ausstellung erstmals gezeigt wird. In der Geschichte der Moderne gilt der Hauswaldt-Pavillon als bedeutendes Zeugnis expressionistischer Architektur in Deutschland. Im Kulturhistorischen Museum Magdeburg lässt sich der Bau ganz besonders realistisch erleben. Wie funktioniert das? Es wird eine digitale Zeichnung mit der Software von Computerspielen kombiniert, so dass eine virtuelle Realität entsteht. Als Betrachter sehe dann ich den Pavillon, als würde ich vor ihm stehen. Ich gehe um ihn herum, trete ein, schaue mich um. Der Eindruck ist überzeugend, weil das alles in einem runden Projektionsraum passiert. Darin ist man mit mehr als einem Halbkreis von einer Leinwand umschlossen, so dass man deren Enden nicht mehr sehen kann. Das alles wird durch eine Kooperation mit der Architekturfakultät der Hochschule Anhalt möglich. Dr. Michael Stöneberg, Kurator für Zeitgeschichte im Kulturhistorischen Museum Magdeburg Der mit einfachen Mitteln ausgeführte Bau hat eine faszinierende Architektur. Besonders im Inneren, mit verschachtelten Räumen, zackenförmigen Gebilden an der Decke, dreieckigen Fenstern und gekippten Wänden. Besucher der MIAMA konnten sich hier in einen expressionistischen Film versetzt fühlen, denn die Architektur erinnerte an den gleichzeitig entstandenen Blockbuster von Fritz Lang, „Dr. Mabuse“. Diese Atmosphäre lässt sich jetzt nachempfinden. MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 Seite 5 Quadratisch, praktisch, gut – und schön „Ein quadratischer Würfel aus Silber mit einer Kantenlänge von sieben Zentimetern. Auf einer der Flächen erkennt man das eingravierte Wappen Magdeburgs, die anderen sind von einem konstruktivistischen Netz aus Zahlen und Buchstaben überzogen, die nur mit einiger Mühe lesbar sind: „AUS ANLASS SEINES 25JAEHRIGEN DIENSTJUBILAEUMS …“. Der Würfel war eine Ehrengabe an Mitarbeiter des Magistrats. In seiner würdigen Simplizität, seiner Kühnheit und Strenge, seiner maßhaltigen, Maß haltenden Schönheit steht er als Zeugnis für einen gestaltenden Anspruch, der nicht nur in den Ateliers seiner Schöpfer, sondern auch auf einigen entscheidenden Fluren der Stadtverwaltung in den 1920ern und Anfang der 30er Jahre in Magdeburg herrschte. Die Gestalter waren Wilhelm Deffke und Hermann Eidenbenz. Deffke, „Pionier des modernen Logos“ Wilhelm Deffke (Projekt), Hermann Eidenbenz und seit 1925 Direktor und radikaler Reformer der (Schrift), Aus Anlaß seines 25-jährigen Dienstju- Magdeburger Kunstgewerbe- und Handwerkerschule, der Schweizer Eidenbenz seit 1926 daselbst biläums, Silber, graviert, 1926. Leiter der Schriftklasse. Nach seinem Weggang 1932 © Bröhan Design Foundation wurde er mit seinem Büro zu einem der wesentli© Nachlass Hermann Eidenbenz chen Begründer des modernen Schweizer Grafikdesigns und hat später die erste Banknotenserie für die Bundesrepublik Deutschland gezeichnet. Ein Originalexemplar des Würfels ist nicht überliefert, womöglich hat es überhaupt nur ein oder zwei davon gegeben. Aber wir besitzen den Entwurf von Eidenbenz und einige aussagekräftige Fotos, sodass wir ihn nochmals herstellen und in unserer Ausstellung „maramm Magdeburg – Reklame- und Ausstellungsstadt der Moderne“ zeigen können. Ich freue mich schon, wenn ich ihn das erste Mal in Norbert Eisold, Kurator Forum Gestaltung e.V. Magdeburg der Hand halten kann. Natürlich hat so ein Gegenstand auch haptische Qualität. Was für ein grandioser Wurf, dieser Würfel! In seiner Gegenwart, so stelle ich mir vor, werden all die Ehrenpokale, die vor allem Pokale der Geistlosigkeit und der Geschmacklosigkeit sind, wie Wachs in der Sonne schmelzen. Ein Zauberwürfel: quadratisch, praktisch, gut – und schön!“ „Magdeburger Pilotenrakete für kleine Himmelsstürmer“ „Wir bauen die berühmte Magdeburger Pilotenrakete in Originalgröße nach. Sie wird 8,00 m hoch sein, ihr Durchmesser beträgt 75 cm. Der Reiz des Nachbaus dieser Flüssigtreibstoff-Rakete besteht darin, dass sie begehbar ist. Das Ausstellungsexponat lässt sich so interaktiv nutzen. In die Geschichte eingegangen ist die Magdeburger Pilotenrakete, weil diese Flüssigtreibstoff-Rakete des Raketenpioniers Rudolf Nebel Anfang der 30er Jahre quasi die Generalprobe für den allerersten bemannten Raketenflug sein sollte. Und ein Vorläufer der modernen Raketenantriebstechnik. Und der Pilot, der mit dieser Magdeburger Pilotenrakete fliegen sollte, war bereits namentlich bekannt. Kurt Heinisch, ein Testflieger, absolvierte sogar eine Fallschirmausbildung, um sich auf den Raketenflug vorzubereiten. Zum bemannten Flug ist es allerdings nicht gekommen. 5 AUSSTELLUNGEN ZUR MAGDEBURGER MODERNE DER 20er JAHRE 22. März – 12. Juni 2016 Joachim Brohm State of M. ©Technikmuseum Magdeburg Aber immerhin startete im Jahr 1933 auf dem Gelände des Guts Mose bei Magdeburg die unbemannte Flüssigkeitsrakete, weit flog sie allerdings nicht. Die Raumfahrt steckte damals noch in den Kinderschuhen. Mit der begehbaren Magdeburger Pilotenrakete wollen wir Kindern nun dieses Gefühl für die Anfänge der Raumfahrt vermitteln. Über den Stand der heutigen Weltraumfahrt mögen sie informiert sein, aber unsere Ausstellung „Magdeburger Pilotenrakete, Himmelsstürmer, Visionäre und Erfinder“ gibt den Verweis darauf, wie alles angefangen hat. Ein entscheidender Schritt hat mit dem Start der ersten Flüssigtreibstoff-Rakete in Magdeburg stattgefunden.“ Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg kunstmuseum-magdeburg.de 1. Juni – 11. Dezember 2016 maramm Magdeburg – Reklame-und Ausstellungsstadt der Moderne Forum Gestaltung e. V. forum-gestaltung.de/maramm Dauerausstellung 28. Oktober 2016 – 12. Februar 2017 Bunte Stadt – Neues Bauen. Die Baukunst von Carl Krayl Kulturhistorisches Museum Magdeburg khm-magdeburg.de 21. Juni – 25. September 2016 Xanti Schawinsky Retrospektive Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg kunstmuseum-magdeburg.de Modell der Pilotenrakete © ecke design Dauerausstellung erster Öffnungstag: 27. Mai 2016, 16 Uhr Es waren enthusiastische Himmelsstürmer, die dieses Projekt vorantrieben und höher hinaus wollten, als jemals zuvor. Vor allem die jüngeren Besucher können nun – sofern sie sich trauen – in die nachgebaute Rakete einsteigen und die Enge verspüren, die bei einem bemannten Start der Magdeburger Pilotenrakete geherrscht hätte. Die Pilotenkabine ist 1,20 m hoch und hat einen Durchmesser von 70cm. Raketengeräusche lassen alles noch realistischer wirken. Es war der Traum von Nebel, den bemannten Raketenflug in die Tat umzusetzen. Magdeburger Pilotenrakete, Himmelsstürmer, Visionäre und Erfinder Technikmuseum Magdeburg technikmuseum-magdeburg.de Gefördert durch: Gerhard Unger, Leiter des Technikmuseums Magdeburg Weitere Veranstaltungen unter www.grosse-plaene.de Seite 6 MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 REPORTAGE Der Gründerzeit zu Leibe gerückt Rundfahrt zu den Zeugnissen der Magdeburger Moderne mit dem Architekten und Stadtplaner Dr. Eckhart W. Peters und Liane Radike, Abteilungsleiterin im Stadtplanungsamt Magdeburg. VERANSTALTUNGEN ZU DEN SIEDLUNGEN DER MODERNE 25. April 2016, 19.00 Uhr THEMENABEND MAGDEBURG & DIE MODERNE In der Reihe STADTENTWICKLUNG UND BAUKULTUR IN SACHSENANHALT Gemeinsame Veranstaltung des Landes Sachsen-Anhalt und der Architektenkammer | Partner: Landeshauptstadt Magdeburg Ort: Vertretung des Landes SachsenAnhalt beim Bund in 10117 Berlin, Luisenstraße 18 Pferdetor, © Stadtplanungsamt Hermann-Beims-Siedlung, © Stadtplanungsamt 11. Oktober 2016, 18.00 Uhr AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG/ GESPRÄCHSABEND SIEDLUNGEN DER 20er JAHRE im IBA-Shop, Regierungsstr. 37 Veranstalter: Stadtplanungsamt 13. Oktober 2016, 12.00 Uhr STÄDTENETZKONFERENZ 1 2 3 Stadthalle, © MMKT Dr. Eckhart W. Peters „nimmt uns mit“ zu den Zeugnissen der Magdeburger Moderne der 20er Jahre. Auf dem Werder zwischen der Stromelbe und Alter Elbe erreichen wir im Rotehornpark die erste Station der Rundfahrt: Das Stadthallen-Areal. „Hier fand 1927 die Deutsche Theaterausstellung statt. Zeugnisse dieser Zeit sind die Stadthalle, das Pferdetor und der Aussichtsturm. Stadtbaurat Johannes Göderitz ließ die Stadthalle in nur acht Monaten erbauen.“ Der Aussichtsturm mit Cafe und das Pferdetor waren Teile der Gesamtkonzeption für die Theaterausstellung von Professor Albinmüller. Es war eine riesige Ausstellung, die die geistigen, künstlerischen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritte der deutschen Theaterwelt präsentierte. Bald steht Stadtplaner Peters vor dem Eingangsbereich der Stadthalle. Er stellt sich auf die Linien am Boden, die rasterförmig auf die Säulen zugehen und macht auf die funktionsgerechte Bauweise aufmerksam. Die Farbe des Materials, die dunkle Lasur der Steine, die Riffelung der schwarzen Kacheln, diese Mischung aus Material, Helligkeit und Licht prägen die Architektur. Und zum ersten Mal während dieser Tour erfahren wir, dass nach dem Ersten Weltkrieg die oftmals spekulative, gründerzeitliche und schachbrettartige Architektur durch das Neue Bauen überwunden wurde. Eine Mission, die Bruno Taut, von 1921 bis 1924 Stadtbaurat in Magdeburg, in aller Konsequenz verfolgte. Peters sagt dazu: „Sein Ziel war es, die Wohnungsnot zu lindern, soziale, menschenwürdige Siedlungen zu schaffen und das graue Einerlei der Gründerzeit mit Farbe zu überwinden“. Als Avantgarde stellte er die Weichen für die dynamische Entwicklung Magdeburgs zur Stadt der „Moderne“. Licht, Luft, Sonne – darum geht es bei allen Siedlungen der Magdeburger Moderne, zu denen uns Liane Radike, Abteilungsleiterin im Stadtplanungsamt Magdeburg, führt. An uns ziehen die Siedlung Cracau, Anger-Siedlung, CurieSiedlung, Siedlung Westernplan, Siedlung Heimat, Hermann-Beims-Siedlung, Siedlung Schneidersgarten und die Gartenstadt-Kolonie Reform vorbei. Die Siedlung Cracau mit ihrer leicht geschwungenen Form Richtung Elbe, durch die bei Westwind frische Luft hineinströmt. Frau Radike stellt fest: „Grundlage für diese Siedlungen war der richtungsweisende Generalsiedlungsplan 1922 von Bruno Taut und der Flächennutzungsplan von Johannes Göderitz.“ Viele Gemeinsamkeiten der Siedlungen werden sichtbar. Die Gebäudehöhe ist drei- bis fünfgeschossig, große Frei- und Grünflächen sowie Gemeinschaftsanlagen schaffen Lebens- und Wohnqualität. Und immer wieder führen große Torein- 4 5 Veranstalter: Kompetenzzentrum Stadtumbau Ost Ort: Gesellschaftshaus Magdeburg, Schönebecker Straße 129 fahrten ins Herz der jeweiligen Siedlung hinein. Noch heute sind die Grünanlagen zwischen den Gebäuden autofrei und stehen den Kindern zum Spielen und den Erwachsenen zur Erholung zur Verfügung Resümierend stellt Peters dazu fest: „Die Siedlungen der Magdeburger Moderne sind mit denen in Berlin oder Frankfurt am Main vergleichbar. Der genossenschaftliche soziale Wohnungsbau ist vom Gedanken des Neuen Bauens durchdrungen und sicherlich wert, in Gänze als Welterbe beantragt zu werden.“ Schließlich wird Magdeburg richtig bunt. Nach Abstechern zum AOK-Gebäude, der Sparkassenfiliale sowie der Willy-Brandt-Schule geht es in die Otto-Richter-Straße. Wir werden fast sprachlos angesichts des Farbenfeuerwerks der bemalten Fassaden, die Eindrücke sind überwältigend. Peters schwärmt: „Die Bemalung erinnert mich an Wassily Kandinsky, an das Bauhaus. Welche Kraft der Formen und der Farbe, welche Phantasie und was für Mut, Gebäude so anzumalen!“ Unter der Leitung von Taut wurden die Gründerzeitfassaden in der Otto-Richter-Straße vom Künstler Carl Krayl konsequent übermalt. Und Peters wird nicht müde, diesen wichtigen Schritt zu betonen. Bruno Taut hätt´s gefreut. 6 Detailaufnahme des Wohn- & Geschäftshauses mit Sparkassenfiliale, © MMKT AOK-Gebäude Stadtplanungsamt, Foto Rudolf Hatzold Otto-Richter-Straße 2, © MMKT MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 Seite 7 PORTRAIT: Professor Ralf Niebergall Unterwegs zur Straße der Moderne Es gibt Sehnsuchtsstraßen wie die Route 66 in den USA. Und Straßen, die nirgendwo zu finden sind, nicht auf einer Landkarte und schon gar nicht im GPS-System. Es existiert nur die Sehnsucht nach ihnen, in den Köpfen und im Herz. So ist das bei Ralf Niebergall. Warum nicht eine Straße der Moderne durch Sachsen-Anhalt auf den Weg bringen? Das wär‘s aus seiner Sicht – eine touristische Route mit vielen Stationen, ähnlich wie bei der Straße der Romanik. „Da können wir selbstbewusst auftreten“, sagt Niebergall. Das Kernland der Moderne, mit der Ikone Bauhaus im Zentrum. In der Nachbarschaft die industriellen Kerne um Magdeburg und Halle herum. Die Zeugnisse des „Neuen Bauwillens“ in Magdeburg. Dieser versteckte Schatz hat es ihm angetan. Es sei „atemberaubend“, dass Magdeburg in der Siedlungsentwicklung dieser 20er Jahre komplett auf Augenhöhe mit Berlin und Frankfurt ist, obwohl es sich um eine deutlich kleinere Stadt handelt. Man braucht wohl mehr von dieser Begeisterung, mehr Menschen wie Niebergall, damit Großes entsteht. Aber der Präsident der Architektenkammer Sachsen-Anhalt hat sich eine Portion Realismus bewahrt. Gar nicht so einfach, den Schatz zu heben. Seine Architektenkammer hat es viel Kraft gekostet, in der Öffentlichkeit durchzudringen. Mit dem Konzept der Architektouren durch Dessau, Magdeburg und Halle (Saale) zum Beispiel – eine Art „Einstiegsdroge“ in die Welt der Moderne. Einen neuen Touristenmagneten zu schaffen ist das eine. Professor Ralf Niebergall, Präsident der Architektenkammer Sachsen-Anhalt Das andere: Professor Niebergall agiert auch als Botschafter der Moderne, wenn er mit seinen ausländischen Studierenden von der Hochschule Anhalt in Dessau nach Magdeburg aufbricht. Das ist wie ein Tauchgang bis an den Grund des Meeres, wo einem durch die Bullaugen das mit Gold gefüllte Schiff entgegen glänzt, reif für seine Bergung. Dabei geht es nicht um Stilfragen, sondern um das Neue Bauen, um eine gewisse soziale Verantwortung einer bestimmten Zeit. Für die Studierenden, die in ihren Heimatländern Wohnungsnot erleben, ein wichtiger Erkenntnisgewinn. Und überraschend dazu: Die bunte Straße von Carl Krayl, die Otto-Richter-Straße, hätten sie in Südamerika erwartet, nicht aber in Mitteleuropa! Das Soziale der Moderne, schon sind wir im Exkurs: Im Weltmaßstab betrachtet gibt es eine gewaltige Wohnungsnot, da kann die Moderne in anderen Konzepten aufgehen. Das Stichwort Cohousing fällt: Unter dem Druck teurer Wohnungsmärkte Modelle entwickeln, bei denen der individuelle Wohnraum kleiner ausfällt, dafür aber größere Räume gemeinschaftlich genutzt werden. Zurück nach Magdeburg. Die Magdeburger Moderne ist eine emotionale Achterbahnfahrt für Niebergall, vor allem, wenn er an die Zukunft denkt. Er will aufrütteln, mitreißen, aufputschen. Wenn eine Stadt den Anspruch erhebt, 2025 Kulturhauptstadt zu werden, dann müsse sich ein großer Geist allgemein in der Stadt verbreiten, findet der Architekt. Wirtschaft, Kultur, Architektur, Planung – alle müssten jetzt zusammenkommen in einem Think Tank. Ja, das wäre sein Ziel. Indes weiß er: Auch in den 20er Jahren erfüllten sich nicht alle Träume, aber sie haben Prozesse angestoßen. Dann bricht sie doch durch, die Bewunderung Niebergalls für den Mut zur Utopie. Rudolf Nebel und seine Magdeburger Pilotenrakete, dafür hat der Stadtrat einfach mal Geld für Raketentests locker gemacht. Unglaublich. Die Rakete sei nicht weit geflogen, aber man habe sich doch zu einer modernen Metropole entwickelt. FAHRRAD-ARCHITEKTOUR „DAS BUNTE MAGDEBURG“ Mit dem Aufbruch in die Moderne als „Stadt des neuen Bauwillens“ zeigte Magdeburg in den 1920er Jahren ihre Verwandlung in eine farbige Stadt. Der magdeburgische, moderne Siedlungsbau ist vergleichbar mit jenen in Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main. Auf dieser aktiven Tour werden Ihnen die architektonischen Besonderheiten unserer immer noch bunten Ottostadt nahe gebracht. Die Architekturgeschichte Magdeburgs in ihrer Bandbreite ist auf dem Domplatz hervorragend abzulesen. Die Tour führt zur Stadthalle über das Uniklinikum in die GartenstadtKolonie „Reform“ bis hin zur Otto-RichterStraße mit der expressiven Farbgestaltung. ZEITRAUM: Juni - September TERMINE: 18. Juni (Premiere) / 07. Juli / 27. August / 17. September BEGINN: Juni & September um 14.00 Uhr Juli & August um 10.00 Uhr DAUER: 2 Stunden PREIS: 12,00 EUR pro Person (Keine Ermäßigungen) TREFFPUNKT: Steinernes Schachspiel am Domplatz ENDE: Domplatz HINWEIS: Fahrräder werden nicht zur Verfügung gestellt, sind in Magdeburg ausleihbar. Bitte reservieren Sie! Tourist-Information Magdeburg Ernst-Reuter-Allee 12 39104 Magdeburg Tel: 0391 8380-403 www.magdeburg-tourist.de Magdeburg – Zentrum der klassischen Moderne Im 21. Jahrhundert schärft Sachsen-Anhalt sein Profil als Kernland der Moderne weiter. Dass Magdeburg dabei eine wichtige Rolle einnimmt, macht Kultusminister Stephan Dorgerloh in seinem Beitrag deutlich. „Magdeburgs Erbe ist nicht nur mittelalterlich, die Elbestadt ist auch ein Zentrum der klassischen Moderne. Allein fünf Korrespondenzausstellungen der landesweiten Schau „Große Pläne!“, die SachsenAnhalt als Land der Moderne präsentiert, heben in der Landeshauptstadt diese Rolle hervor. Technischer Fortschritt, Reformwille, Kreativität und der Mut zu Innovationen gefördert von weitblickenden Politikern und Künstlern, Stadtplanern und Architekten wie Beims, Taut, Göderitz und Krayl haben in Magdeburg unverkennbare Spuren hinterlassen. Das 1927 geschaffene Gebäudeensemble im Kulturpark Rotehorn mit Stadthalle, Aussichtsturm und Pferdetor stehen ebenso exemplarisch dafür wie Klinikbauten, die Hermann-Beims-Siedlung oder die Gartenstadt-Kolonie Reform. Aber auch verrückt klingende Raketenpläne, erste Schritte auf dem Weg zur bemannten Raumfahrt, gehören neben grundlegenden Neuerungen im Kommunikationsdesign dazu.“ FÖRDERUNG FÜR „GROSSE PLÄNE!“ SACHSEN-ANHALT Kultusministerium Das Land Sachsen-Anhalt fördert das Ausstellungsprojekt „Große Pläne!“ der Stiftung Bauhaus Dessau im Verbund mit Ausstellungen in Dessau, Halle (Saale), Magdeburg, Merseburg, Leuna, Elbingerode und Quedlinburg mit 1,3 Millionen Euro aus Landesmitteln, davon erhalten die fünf Magdeburger Ausstellungen 290.000 Euro. Seite 8 MAGDEBURGER MODERNE | Einmalige Ausgabe 2016 KONTRASTE Zeitflug durch die Stadt des Neuen Bauens Wie sah die Magdeburger Moderne der 20er Jahre früher aus, und wie heute? Gibt es Beispiele, können wir Vergleiche ziehen? Die Antwort ist: Ja, das können wir. Wir setzen uns in die Zeitmaschine, drücken den Hebel, und sind im freien Fall unterwegs, um uns ein Bild zu machen von fünf Bauwerken aus einer anderen Zeit. Die Augen ruhen auf fünf Bild-Paaren, identischen Bildausschnitten, die aber markante Zeitkontraste offenbaren. Die Welt hat sich weitergedreht, auch für das Stadthallen-Areal mit Albinmüller-Turm, für ein Haus der Angersiedlung (Wörlitzer Straße), für den Schlachthof, die OLi-Lichtspiele und das Volksbad Südost. Wir drehen die Zeit noch einmal zurück. Und Kontinuität: Das Kino lebt weiter. Damals bewegte Bilder, heute ein Kult-Kino: Die Rede ist von den OLi-Lichtspielen, entworfen vom Künstler Carl Krayl, einem Mitstreiter von Stadtbaurat und Präger der Stadt des Neuen Bauwillens, Bruno Taut. Eröffnung war im Jahr 1936. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dort weiter Filme gezeigt. Heute geht das Angebot im renovierten Kino über Filmvorführungen hinaus, neben Filmklassikern stehen auch Konzerte, Lesungen und Theater auf dem Programm. Stadthalle und Ausstellungsturm Stadthalle und Albinmüller-Turm (um 1930) © Stadtarchiv Magdeburg (2016) © Conrad Engelhardt Zuerst geschäftiges Treiben an der Stadthalle. Die alte Aufnahme aus den 30er Jahren vom Stadthallen-Areal und Albinmüllerturm lässt heute noch das geschäftige Treiben erahnen, das dort auch 1927 während der Deutschen Theaterausstellung geherrscht haben muss. Im Rahmen der Ausstellung wurde die Stadthalle eingeweiht, ein Bauwerk des bedeutenden Vertreters des Neuen Bauens, Johannes Göderitz. Nur acht Monate hatte die Bauzeit betragen. Bemerkenswert. Rechts neben der Stadthalle schießt der Albinmüller-Turm in die Höhe. Und heute? Beide Bauwerke im Rotehornpark auf der Elbinsel sind lebendige Wahrzeichen der Landeshauptstadt Magdeburg: Panorama-Blick vom Albinmüller-Turm, Kulturveranstaltungen in der Stadthalle, Spaziergänge durch den Rotehornpark. OLi-Lichtspiele (alt) © Archiv Niemann OLi-Lichtspiele (2016) © Conrad Engelhardt Schließlich, ein Volksbad, das keines mehr ist. Dann laufen Schweine durchs Bild. Bildwechsel, ein anderer Ort in Magdeburg, Schweine laufen durchs Bild. Sie wissen noch nicht, aber ahnen vielleicht schon, dass ihr Schicksal bald besiegelt sein wird, im städtischen Schlacht- und Viehhof. Volksbad Südost (ca. 1927) © Stadtarchiv Magdeburg Schlacht- und Viehhof, Großviehmarkthalle (um 1928) © Stadtarchiv Magdeburg Schlachthof (heute) © Conrad Engelhardt In den 20er Jahren entstanden nach Plänen von Göderitz neue auf Funktion und Rationalität ausgelegte Schlachthofbauten wie die ehemalige Schweinemarkthalle. Wo früher Schweine über den Vorplatz getrieben wurden, parken heute Autos. Die denkmalgeschützte Schweinemarkthalle beherbergt einen Supermarkt. Staunen über eine verwandelte Hausfassade. Gröninger Bad (heute) © Conrad Engelhardt Zum Schluss geht es um ein Volksbad, das keines mehr ist. Das Volksbad Südost öffnete im Jahr der Deutschen Theaterausstellung (1927). Ein nüchtern-sachlicher Bau, der den Industriearbeitern als öffentliches Dusch- und Wannenbad sowie Bibliotheksort Abwechslung vom Alltag bot. Kultureller Begegnungsort ist das Bad – das heute den Namen Gröninger Bad trägt – immer noch, aber anders: Live-Musikkonzerte füllen das denkmalgeschütze Gebäude heute. Wenn wir die Zeitmaschine wieder verlassen, nehmen wir eines mit: Die Magdeburger Moderne hat auch im 21. Jahrhundert einen Platz – ja, sogar viele Plätze. Impressum HERAUSGEBER Landeshauptstadt Magdeburg – Der Oberbürgermeister – 39090 Magdeburg Alter Markt 6, 39104 Magdeburg, Tel.: 0391 540-0 E-Mail: info@magdeburg.de www.magdeburg.de REDAKTION UND TEXTE (soweit nicht anders angegeben): Dr. Tanja Anette Glootz, Magdeburg Marketing Kongress und Tourismus GmbH, Am Domplatz 1 b, 39104 Magdeburg Angersiedlung, Wörlitzer Straße (alt), © Werner Klapper Angersiedlung, Wörlitzer Straße (neu), © Werner Klapper Wie aus alt wieder neu wird, zeigt sich besonders erfrischend an einer Hausfassade in der Anger-Siedlung (Wörlitzer Straße), die zu einem bunten Blickfang geworden ist. Magdeburg ist ein Hort zahlreicher schöner Siedlungen aus der Zeit des Neuen Bauens, die es zu entdecken lohnt, wie die Hermann-Beims-Siedlung, die Anger-Siedlung, die Curie-Siedlung oder die Siedlung Cracau. GESTALTUNG. Magdeburg Marketing Kongress und Tourismus GmbH, Jana Ignatius Am Domplatz 1 b, 39104 Magdeburg REDAKTIONSSCHLUSS: 30.03.2016