Workshop Nr. 8 Sexuelle Traumatisierung und Bindung
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Workshop Nr. 8 Sexuelle Traumatisierung und Bindung
Workshop Nr. 8 Sexuelle Traumatisierung und Bindung Die Folgen von sexueller Gewalt für die Persönlichkeitsentwicklung und die Beziehungsgestaltung Referentin: Dipl. Psych. Ulrike Werner, Kinderzentrum St. Vincent I. Grundlagen und Definitionen I.1. Bindung und Bindungsstörung I.1.1. John Bowlbys Bindungstheorie • „Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet. • Entwicklung im Laufe des 1.Lebensjahres • Sichert das Überleben des Säuglings WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 2 I.1.1. Bindung 2/ „Kreislauf der Sicherheit “9 • Beim Kind: • Bindungsverhaltenssystem • Neugierverhaltenssystem / Explorationsverhalten • Bezugsperson: • • • • sichere Basis externer emotionaler Regulator Fürsorgeverhaltenssystem Feinfühligkeit 9 Scheuerer-Englisch Hrsg.(2003) Wege zur Sicherheit WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 3 I.1.2.Bindungsqualitäten und Entwicklung • Sichere Bindung ( B-Muster) Schutzfaktor • Unsichere Bindung ( A, C, D) Risikofaktor – A vermeidendes Muster – C ambivalentes Muster • Zusätzliches Muster D desorganisiertes und desorientiertes Verhalten (hochunsicher) WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 4 I.1.3.Typen von Bindungsstörungen differenziert nach dem Bindungsverhalten nach Karl-Heinz Brisch7 Typ I ohne Bindung Typ II undifferenziert – Typ II A soziale Promiskuität – Typ II B Unfall-Risiko Typ III gesteigert / Übererregung Typ IV Hemmung Typ V Aggression Typ VI Rollenumkehr Typ VII Psychosomatik – Typ VII A Wachstumsretardierung – Typ VII B mit Schrei-, Schlaf- und Essproblematik WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 5 I.2. Trauma I. 2.1. Definition: Trauma 1 • „Ein psychisches Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht, und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt.“ (G. Fischer, Ridesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie) • Traumatisierung als das Ereignis des Traumas einschließlich der Folgen. ( L.-U. Besser) WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 6 I.2.1 Klassifikation von Traumata 2 • Verursachung – Menschlich verursachte ( „man made disasters“) – vs. Zufällige Traumen • Dauer – Kurzandauernde (Typ-I-)Traumen – vs. länger andauernde wiederholte Traumen (Typ- II), • Unterscheidung nach Francine Shapiro – Traumata im engeren Sinne Big-T-Traumata – und weiteren Sinne: Small-t-Traumata WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 7 I.2.2 Die Traumatische Zange 1 • Traumata sind plötzliche oder lange anhaltende oder auch sich wiederholende objektiv oder subjektiv existenziell bedrohliche und ausweglose Ereignisse, bei denen Menschen in die Schutzlosigkeit der sogenannten Traumatischen Zange (M.Huber) geraten: WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 8 I.2.2. Die Traumatische Zange 2 Überwältigende Angst, Schmerz Alarmreaktion des Körpers Keine Bindungsperson Keine Fluchtmöglichkeit Keine Kampfmöglichkeit No Flight Hilflosigkeit No Fight Ohnmacht Freeze Ausgeliefertsein on i t ia z Trauma o ss Di Unterwerfung Submission“ Fragmente isolierte Erinnerungssplitter WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 9 I.2.3. traumatische Gedächtnisprozesse/ Fragmentierung • Die Zusammenarbeit von rechter Hirnhälfte mit linker Hirnhälfte ist blockiert. • Die einzelnen situativen Aspekte des Traumas werden als einzelne Traumafragmente – wie Splitter eines zerbrochenen Spiegels – isoliert bzw. dissoziiert gespeichert. • Diese Traumafragmente erscheinen eingefroren, des bewussten kognitiven Zugangs und damit einer Bearbeitung beraubt. • Jedes einzelne Erinnerungsfragment kann als unbewusster Trigger ängstigende Flashbacks oder filmartig ablaufende Erinnerung (Intrusionen) auslösen. • Die komplexe Dissoziation als Schutzmechanismus vor weiterer Übererregung im Gehirn verhindert die Integration ins Gedächtnis und in die Identität. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 10 I.3. Sexuelle Gewalt und Missbrauch Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch sind Beispiele für Man-Made und meist langandauernde, sequentielle Traumata (Typ II)!! 1.Definition 2.Häufigkeiten in der stationären Jugendhilfe 3.Struktur des Missbrauchs 4.Sexueller innerfamiliärer Missbrauch WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 11 I.3.Sexuelle Gewalt und Missbrauch 1. Definition • • Sexuelle Gewalt ist eine individuelle, alters- und geschlechtsabhängige Grenzverletzung und meint jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind oder einem/einer Jugendlichen entweder gegen dessen/deren Willen vorgenommen wird oder der das Kind oder der/die Jugendliche aufgrund körperlicher oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. ( Dirk Bange 1996, S.57) Es ist sexueller Missbrauch, wenn eine Person ihre Machtposition oder die Unwissenheit, das Vertrauen, oder die Abhängigkeit eines Mädchens oder Jungen zur Befriedigung der eigenen sexuellen Bedürfnisse benutzt. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 12 I.3.2. Häufigkeit von sexuellen Gewalterfahrungen in der stationären Jugendhilfe • Margarethe Finkel 1998: – jedes 4. Mädchen und jeder 15. Junge in stationärer Jugendhilfe ist sex. missbraucht • Hartwig: 50-75% der Mädchen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 13 I.3.3. Struktur der Taten bei sexuellem Missbrauch • Struktur des Missbrauchs: – Wiederholungstaten – meist gezielt geplant ( Missbrauchskreislauf) – Dauer über Wochen oder Jahre • Sexueller Missbrauch ist in erster Linie Machtmissbrauch, die sexuellen Handlungen dienen als Instrument dazu. • Meist wird eine „besondere“ Beziehung hergestellt, die vom Täter für den Machtmissbrauch ausgenutzt wird. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 14 I.3.4. Sexueller innerfamiliärer Missbrauch • ca. 10 % der Täter leben mit dem Kind direkt in einer Familie. • Bei innerfamiliärem Missbrauch bleibt der Bindungskontext bis zum Aufdecken meist erhalten. • Täter bleibt außerhalb der Missbrauchssituation die Bindungsperson. Folge: Hochunsichere Bindungen und Bindungsstörungen wahrscheinlich WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 15 I.4. Neurophysiologie des Gehirns I.4.1. Neuroplastizität / Nutzungsabhängige Gehirnentwicklung • Unser Gehirn ist zeitlebens plastisch wie eine Wachstafel, • in der Kindheit jedoch besonders formbar, d.h. aber auch störanfällig. • Aus ursprünglich schmalen Pfaden werden je nach Häufigkeit, Dauer und emotionaler Intensität der Nutzung feste neuronale Strukturen, die häufig genutzt werden oder auch wieder verfallen. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 16 I.4.2 psychosoziale Entwicklungsbedingungen und Gehirnwachstum / Lernen 1 1. 2. 3. Optimales Lernen ( Gehirn wächst!!!) „emotionales Gedächtnis für erfolgreiches / erfolgloses Bewältigen“ Lernen unter Angst und Stress Rückgriff auf und Stabilisierung der aktivierten, älteren bereits bewährten Verschaltungen Extreme langanhaltende Angst, Stress, Trauma (Gehirnabbau!!) Aktivierung und Bahnung von archaischen, früh angelegten subcortikal gesteuerten Notfallreaktionen (Erstarrung, Hilflosigkeit) im Hippocampus, im limbischen und präfrontalen Cortex: Abbau bereits gebahnter, komplexer Verschaltungen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 17 I.4.3. psychosoziale Entwicklungsbedingungen 2/ neurophysiologische Traumafolgen d.h. Folgen „früher“ Traumatisierung3: • Trifft sequentielle Traumatisierung auf ein unreifes Gehirn so strukturiert es sich „traumatoplastisch“ (L. Besser). Es automatisiert Überlebensreaktionen wie – Schnelles Anfluten von Erregung / Angst (Stressreaktion mit Flucht- o. Kampftendenzen) und – Dissoziation (Abschalten, Wahrnehmungsveränderung), • auf die es später reflexartig – oft schon bei kleinen alltäglichen Anlässen – zurückgreift. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 18 II.Traumafolgestörungen II.1. Übersicht 5 WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 19 II.2 Symptombild der posttraumatischen Belastungsstörung ICD 10 F.43.1.5,6 • • • • Intrusionen: sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen Hyperarousal /Übererregungssymptome Vermeidungsverhalten/ Konstriktion emotionale Taubheit WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 20 II.2. spezifische PTBS- Symptome bei Kindern 5 • Intrusionen: wiederholtes (nicht lustvolles) Durchspielen des traumatischen Erlebens, (Reinszenierung) • Vermeidung: Davonlaufen Verstecken, Erstarren, Lügen, … • Übererregung: Verhaltensauffälligkeiten, z. T. aggressive Verhaltensmuster; Impulskontrollstörungen; Konzentrationsstörungen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 21 II.3. Exkurs: Bindungs- und traumaorientiertes Symptomverständnis von ADHD3 1. Unaufmerksamkeit, dissoziative Phänomene Konzentrationsprobleme Ausblenden und Abschalten Informationsverarbeitungs- , (Wahrnehmungs) -blockaden, verzerrungen 2. Impulsivität Traumaschema: Flucht- und Kampfimpulse 3. Hyperaktivität Desorientiertes Bindungsmuster (oder Bindungsstörung), anhaltender Hyperarousal WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 22 III. Mögliche Folgen von sexueller Gewalterfahrung und sexuellem Missbrauch • • Die Folgen sexueller Gewalt sind um so gravierender, je enger die Beziehung zw. Opfer und Täter und je häufiger die Übergriffe geschehen. Die Langzeitfolgen hängen maßgeblich damit zusammen, ob das Mädchen/ der Junge nach der Ausbeutung emotionale Unterstützung und Trost erfährt, ob ihm geglaubt wird. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 23 III.1. Auswirkungen von sexuellem Missbrauch auf die Persönlichkeitsentwicklung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Vertrauensverlust Sprachlosigkeit Schuldgefühle Schamgefühle Ohnmacht Zweifel an der eigenen Wahrnehmung Angst Rückzug auf sich selbst Identifikation mit dem Aggressor WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 24 III.1.1. Vertrauensverlust • Täter als Bindungsperson sichere Basis fehlt unsicheres Bindungsmuster wahrscheinlich • Verlust des Vertrauens in die Umwelt tiefes Misstrauen • Vertrauensverlust in sich selbst keine Selbstwirksamkeit, Selbstwert Schweigegebot / Lügen müssen erleben sich selbst als unglaubwürdig • Glaube, es gibt niemand der einem glaubt / glauben könnte WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 25 III.1.2. Sprachlosigkeit • Worte fehlen tatsächlich • Schweigegebote, oft in Verbindung mit Gehorsamsgeboten • Reden sollen / wollen als Trigger • „Nur selber nicht dran denken“ Verleugnung, Unterdrückung von Gedanken, dissoziative Reaktionen Doppeldenk ( J. Herman): • Trotzdem versucht jedes Kind sich mitzuteilen, über nonverbale, versteckte Hinweise, die häufig nicht verstanden werden • Sexuelle Gewalt war / ist gesellschaftliches Tabu „Blinde Flecken“ WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 26 III.1.3. Schuldgefühle • Kind entwickelt eigene Schuldgefühle lebenslang präsent • Glaube, dass sie den Missbrauch verdient haben, weil so etwas nur ihnen passiert • Schuld (aktiv) lässt sich leichter ertragen als Ohnmacht. • „…als Introjekte der Schuldgefühle des Erwachsenen“ (Sandor Ferenczi 1932) • Verstärkung der kindlichen Schuldgefühle durch die Umwelt Entwicklung eines „Doppelten Selbst“ (Selbstbild voller Selbstverachtung. Ekel, Abscheu, „Bin böse“ vs. Hochleistungen, Erfolge) Spaltung als zentrales Persönlichkeitsmerkmal WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 27 III.1.4.Schamgefühle • Der Täter ist schamlos – das Opfer übernimmt die Scham für ihn. • Scham bleibt an dem Mädchen kleben, wie die Hände des Missbrauchers auch noch später fühlbar sind. (Barbara Kavemann) • „Sieht man mir das nicht an?“ Scham über die Verletzungen, die Tabubrüche, für die eigene Existenz Ekel vor andern, vor sich selbst Scham verhindert die Hilfesuche des Opfers Wichtig!!! • Wenn die HelferInnen die Scham verstehen und erkennen, können die Opfer darüber sprechen und diese überwinden. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 28 III.1.5. Ohnmacht • Machtverhältnisse, emotionale Verstrickung und Abhängigkeit • Keine vorstellbaren Lebens-Alternativen • Besonders „ohnmächtig“: Behinderte Mädchen und Jungen Werden zu Ja-Sagern erzogen, ohne Recht auf Selbstbestimmung, Selbstdurchsetzung Ohn-Macht, Verzweiflung, Anpassung Auto-Aggression, Depression, Apathie, Selbstmordversuche (die letzte Selbstkontrolle ) WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 29 III.1.6. Zweifel an der eigenen Wahrnehmung • TäterInnen sind Meister der Täuschung!!! • Traumatische Gedächtnisprozesse (Dissoziationen) und Amnesien verunsichern, unerklärliche Gefühle, Gedanken (angetriggerte Trauma-Erinnerungen/ Fragmente ) • Normen, Werte: Wem soll ich glauben? • öffentlichen und allgemeine Zweifel an den Aussagen des Kindes; sekundäre Problematiken erhöhen die Unglaubwürdigkeit Doppeldenk „fehlende Zeit“ oder Nichtwissen/ -erinnern aufgrund von Abspaltung Verlust des Realitätsbezugs WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 30 III.1.7.Angst - das zentrale Lebensgefühl • aufgrund des Verlustes der Sicherheit (Bindungssicherheit), der körperlichen Unversehrtheit und des Urvertrauens in die Welt • als physiologische Folge auf die Traumatisierung, den Dauerstress • Schwächt und lähmt den Glauben an die eigene Stärke und Widerstandskraft Aufbau von Vermeidungsverhalten, Ritualen oder Zwängen, um Kontrolle zu gewinnen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 31 III.1.8. Rückzug auf sich selbst • Schutz des innersten Selbst im Inneren • Dissoziationen, Spaltungsmechanismen, Ablehnung des Körpers • Derealisation, Depersonalisation • Entwicklung einer Phantasiewelt • Kein Zugang mehr zu den eigenen Gefühlen ( positiv, negativ), Wünschen, Bedürfnissen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 32 III.1. 9. Identifikation mit dem Aggressor 1 • Missbrauch durch eine Bindungsperson bringt ein Kind in eine ausweglose Situation. • Kognitive Dissonanz ( Liebe, Wunsch nach Nähe vs. Angst, Nicht verstehen können) Rationalisieren, Normalisieren, Ent-schuldigen des Täterverhaltens Sichtweise des übermächtigen Täters übernehmen, um sich ein ungebrochenes Bild vom Täter erhalten zu können Gefahr der Entwicklung von übergriffigen ReInszenierungen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 33 III.1.9.Identifikation mit dem Aggressor 2 Wichtig: • Idealisierung und Entschuldigung der ausbeutenden Bindungsperson nicht als Zeichen einer positiven emotionalen Bindung, sondern als Zeichen der Identifikation mit dem Aggressor!!! WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 34 III. 2. Modell der vier traumatogenen Faktoren bei sexuellem Missbrauch Finkelhor & Browne ( 1985)10 zitiert nach W. Weiß S. 30 ff 1.Verrat Vertrauen ist erschüttert Misstrauen, Wut, Feindseligkeit, tiefe Trauer, Depression, Manifestation der Opferrolle 2. Ohnmacht / Hilflosigkeit Untergrabung der Überzeugung der eigenen Kontrollfähigkeit Selbstbild; Angst, Panikattacken, Dissoziationen, Zwänge, Phobien 3. Stigmatisierung Verstärkung des Zwangs zur Geheimhaltung, Isolation, Gefühl nicht dazuzugehören Schuld, Scham Suchtentwicklung, Autoaggressionen 4. Traumatische Sexualisierung Formung der Sexualität des Kindes nicht dem Entwicklungsalter entsprechend, zwischenmenschlich dysfunktional Verwirrung der sexuellen Normen, Identität, Verwechslung von Sexualität mit Liebe, übermäßige Beschäftigung mit Sexualität, zwanghafte sowie aggressive sexuelle Verhaltensweisen WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 35. III. 3. Folgen für die Sexualität 1 Die sexuelle Traumatisierung formt die Sexualität des Kindes auf unangemessene Weise. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 36 III.3. Folgen für die Sexualität 2 • • • • • • • • • • • • Sexualisieren von sozialen Beziehungen exzessive sexuelle Neugierde Offene Masturbation Bloßstellen der Genitale zwanghaft promiskes Verhalten Auffälliges Verhalten während der Menstruation Altersunangemessenes Sexualverhalten bzw. sexuelles Spiel Verweigerung / Negierung sexueller Bedürfnisse Prostitution Sexuelle aggressives Verhalten sado-masochistisches Sexualverhalten „sexuelle Verwahrlosung“ WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 37 III.4 Selbstheilungsversuche • Drogen- und Alkoholabhängigkeit • Autoaggressionen , Selbstverletzungen, - verstümmelungen • Suizidversuche, Todessehnsucht ( „Gevatter Tod“ als Bindungsperson, die letzte Kontrolle ) • Arbeitssucht • Exzessives „sich-spüren-Wollen“ (Gefahrensuche, Extremsport etc.) • Re-Inszenierung alter traumatischer Situationen stellen das Erlebte dar, mit der Hoffnung auf eine gute Wendung • Zwangsrituale (Klaus Vavrik 3/2007) 3 WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 38 IV. Auswirkungen von sexuellem Missbrauch 1.1. auf die Beziehung zum nicht– missbrauchenden Elternteil 1 • • • Täter versucht systematisch die Beziehung zur Mutter zu stören Kind Verunsicherung, Misstrauen, Enttäuschung – Schweigen des Kindes – um Mutter oder Familie zu schonen, Kummer zu vermeiden – Isolation, Rückzug – Wut auf die (nicht schützende, weniger mächtige) Mutter Nichtmissbrauchender Elternteil – „unvorstellbar“ – blinder Fleck; „Ahnungen“ Loyalitätskonflikte – Schweigen des Kindes als Kränkung, Vertrauensbruch erlebt – Viele versuchen unbewusst ihre Kinder zu schützen Ambivalenz, Unsicherheit, Angst, Schuld, Wut, Enttäuschung und Protest; Beziehungsstörung, Bindungsunsicherheit Unsichere Bindungsrepräsentanz WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 39 IV.1.2. Die Situation der Geschwister bei innerfamiliärem sexueller Missbrauch Immer auch die Geschwister betroffen: • direkt auch Opfer (gleichzeitiger Missbrauch von mehreren Geschwistern 35% Finkelhor 1984), • indirekt über Störung der Geschwisterbeziehung: Eifersucht aufs Lieblingskind; Verunsicherung, Aggression • Leben in sexualisierter Atmosphäre Zeuge von Traumatisierung sein; als Schutzschild gegen Übergriffe dienen müssen.. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 40 IV.1.3. Die Beziehung zu den Geschwistern • Täter treibt Keil zwischen die Geschwister; Eifersucht; Streit; Isolation, Schuld Verhinderung von Solidarität und somit Aufdeckung • Täter zwingt Geschwister sich gegenseitig zu missbrauchen Opfer wird auch zum Täter • Übermäßige Verantwortung übernehmen müssen oder ganz abgeben • Einsamkeit und Isolation, Rivalität, Misstrauen, Scham, Schuld, Angst WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 41 IV.2. Vom Opfer zum Täter • 50 % der erwachsenen männlichen Täter berichten von eigenen sexuellen Gewalterfahrungen • Als Re-Inszenierung von selbst erlebten sexuellen Übergriffen • Täter-Introjekt: Als Kompensation von erlebter Ohnmacht und Kränkung • Desorganisiertes Bindungsmuster / Bindungsstörung: Grenze zwischen Bindungsverhalten und Sexualverhalten kann u. U. aufgehoben sein WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 42 V. Pädagogische und therapeutische Grundsätze im Umgang mit (sexuell) traumatisierten Kindern und Jugendlichen • Zum Verständnis von Traumatisierten hilft die Therapeutische Frage: 6 • Welche der präsentierten Symptomatik im Denken, Fühlen, Verhalten, im Bereich der Körperregulation, auf der somatoformen Ebene und Beziehungsebene könnte ein fragmentarischer Teil eines Traumas sein? • Oder eine Reaktion im Traumakontext, eine Überlebensstrategie? WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 43 IV.1. Grundsätze im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen 1.Korrigierende Gruppenatmosphäre Reagiert auf … • Geheimhaltung • Schuld • Angst • Willkür • Ohnmacht, Objekt • Verstecken von Gefühlen • Beziehungslosigkeit • Traumatische Erfahrungen… Mit Direkter offener Kommunikation Entlastung Sicherheit Transparenz, klaren Strukturen Mit-, Selbstbestimmung Akzeptanz der Gefühle, Beziehungsangebot Schutz vor Wiederbelegung… (Wilma Weiß 2008) WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 44 IV.1.2.Therapeutische Aspekte • Verhinderung von sekundärer Traumatisierung im Therapeutischen Setting (Erleben von erneuter Unabwendbarkeit, Ausgeliefertsein ans Schicksal, Ohnmacht, Hilflosigkeit, „Selbst-daran-Schuldsein“ Psychoedukation: Vermittlung von individuellem Symptomverständnis als Überlebensstrategie, „normale Reaktion auf unnormale Welt Aufbau von Selbstbewussheit, Selbstkontrolle, Mitbestimmung Halt gebende Beziehung; Veränderung der Bindungsrepräsentanz Aufbau eines positiven Rollenbildes, wertschätzende gleichberechtigte Sexualität WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 45 IV.1.3.Kontaktgestaltung des traumatisierten Kindes zu den Eltern • CAVE bei nicht bestätigtem Verdacht auf Missbrauch in der Familie, aber auch bei bestätigtem: • Wunsch nach Nähe des Kindes zur Bindungsperson, bei gleichzeitiger Gefahr von Re-Traumatisierung • Idealisierung als Ausdruck der Identifikation mit dem Aggressor • Wenn ein Missbrauch nicht widerlegt wurde, (Kind sagt nichts) besteht weiterhin die Gefahr erneuter Übergriffe durch den Täter; die Machtstrukturen können weiterbestehen. WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 46 IV.2.Umgang mit ungewöhnlichen sexuellen Verhaltensweisen Sowohl für BetreuerInnen als auch Betreute ist anzustreben: • Sicherheitsheitsschaffende äußere Rahmenbedingungen (Gruppenregeln, Normen, Werte) • Transparenz, Enttabuisieren des Themas Sexualität/ Sexuelle Übergriffe • Klarheit bzgl. Haltungen, Vorgehensweisen • Konsequentes und sicheres Reagieren • Wissen , Psychoedukation, Fortbildung • Sensibilität und Achtsamkeit für Traumata und Belastungsfakoren in der Vorgeschichte • Bindungstherapeutisches Verständnis WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 47 Literatur 1 Hüther Gerald (12/2002) Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen auf die Hirnentwicklung. Agsp.de / UB Veröffentlichungen 2 Fegert Jörg ( 1995) Ärztliche Diagnosemöglichkeiten in Klinik und Praxis. In Endres U. Zart war ich, bitter war´s. Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. KIWi 3 Klaus Vavrik 3/2007 Neurobiologie der psychischen Verarbeitung insbesondere Traumatischer Erfahrungen. Wissenschaftliche Sitzung Kinder- und Jugendheilkunde Wien 4 Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage 2007 - ISBN: 978-3-7691-0492-9, S. 311 - 317 5 Flatten G, Gast U, Hofmann A, Liebermann P, Reddemann L, Siol T, Wöller W, Petzold ER: Posttraumatische Belastungsstörung - Leitlinie und Quellentext. 2. Auflage, Schattauer-Verlag, Stuttgart, New York 2004 AMWF-online 6. Besser Lutz-Ulrich Skript Psychotraumatologie und Traumatherapie Fortbildungscurriculum 20092011 in Bad Endorf 7. Karl-Heinz Brisch, Klassifikation und klinische Merkmale von Bindungsstörungen. In Monatschrift Kinderheilkunde 2002 .150 S. 140-148; Springer Verlag 8. Weiß Wilma (2008), Philipp sucht sein Ich. 4. überarb. Aufl. 9 Scheuerer-Englisch Hermann, Suess Gerhard J., Pfeifer Walter-Karl O. (HG).( 2003) Wege zur Sicherheit Bindungswissen in Diagnostik und Intervention. Psychosozialverlag Gießen 10[ Finkelhor, David; Browne, Angela (1985). The Traumatic Impact of Child Sexual Abuse: A Conceptualisation. American Journal of Orthopsychiatry. 55,530-541 11 Herman Judith Lewis ( 1994/2003) Die Narben der Gewalt. Kindler Verlag WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 48 ENDE Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit und Mitarbeit!!! Begriffsdefinitionen • Re-Inszenierung (der sexuellen Traumatisierung): ein durch ein Trauma erlerntes Rollenverhalten, der Versuch die unvollständige Handlung im Trauma zu einem guten Ende zu führen. • Abwehrmechanismen im Kontext PTBS- Vermeidung ( Dissoziation, Gefühlsabwehr..) • Flashback: Wiedererleben der traumatischen Situation • Traumaschema: Kampf- oder Fluchtreaktion • Traumakompensatorisches Schema: erlerntes Verhalten um das Trauma zu kompensieren WS Nr.8 "Sexuelle Traumatisierung und Bindung" 50