als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen

Transcription

als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen
ISSN 1433-4488
H 43527
FLÜCHTLINGSRAT
Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen
Regina Andresen
Nigerianer im Kirchenasyl
Dokumentation
Rassismus & Sozialabbau
brutale Verschärfung des
AsylbewerberLG
Jean-Rene Kwaka
Kongo-Zaire:
Von Befreiung keine Spur
Kein Mensch ist illegal
Aufruf von Kassel
Interview mit Sans Papiers
AK Asyl Oldenburg
Knast, Botschaftsrundreisen
und Panda-Service:
Abschiebepraxis für Fortgeschrittene
OLYMPIC-Staatsaffaire
Das niedersächsische
Kartell der Ahnungslosen:
Goldene Nasen mit dem
Elend der Flüchtlinge
Ausgabe 3|97
Heft 44|45
Juli 1997
Service
InfoBrief Asyl in der Kirche
Gerichtsentscheidungen
Durchführungserlaß AsylbLG
Materialien, Seminare
K U R D E NVE R F O LGU NG - K I R CHE NAS Y L - HÄR T E F ALLR E GE LU NG
Einladung zur
FLÜCHTLINGSRAT - Redaktion
Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen
Liebe Leserinnen und Leser !
Am Rundbrief ist in den letzten Monaten technisch und organisatorisch einiges so verbessert
worden, daß er auch im online-Zeitalter wirkungsvoll verwendet werden kann.
Die „Service“-Funktion, die der gedruckte Rundbrief zwischen der persönlichen Beratung in der
Geschäftsstelle und dem künftigen online-Betrieb leistet, muß weiter ausgebaut werden.
Wichtiger aber ist, daß der Rundbrief die Vielfalt der Aktionen und Diskussionen in der flüchtlingspolitischen Arbeit vermittelt.
Zur Klärung der grundsätzlichen und praktischen Organisation unserer künftigen redaktionellen
Arbeit lade ich alle Interessierten aus der flüchtlingspolitischen Arbeit herzlich nach Hannover ein.
Diese Einladung ist ausdrücklich nicht an die förmliche Mitgliedschaft gebunden.
Offene Redaktions-Versammlung
Sonnabend, den 26. Juli um 11.00 Uhr
in Hannover, Rolandstraße 16, Geschäftsstelle der VVN/BdA
(U-Bahnstation Werderstraße)
Für die organisatorische und inhaltliche Vorbereitung würde ich mich über eine Rückmeldung sehr
freuen, - natürlich auch von denjenigen, die an der persönlichen Teilnahme verhindert sind.
Mit herzlichen Grüßen
George Hartwig
Beitrittserklärung/Abonnement
Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zum „Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V.“
Die Satzung habe ich zur Kenntnis genommen und erkenne sie an. Das Abonnement des Flüchtlingsrat-Rundbriefs ist in dem
Vereinsbeitrag enthalten (Mindestbeitrag: 10,-DM pro Monat für Einzelpersonen und Initiativgruppen und Organisationen)
für Erwerbslose: 5.- DM
Hiermit abonniere ich den Flüchtlingsrat-Rundbrief zum Preis von 120,- DM pro Jahr
Name
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ Straße
Plz/ Ort
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ Tel
Datum/Unterschrift
________________________________
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ Fax
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ Organisation
___________
_____________________________
Ich möchte meinen Beitrag wie folgt begleichen:
auf Rechnung
durch Einzugsermächtigung:
monatlich
Geldinstitut
DM
_ _ _ _ _ _ _ _ _ von meinen Konto Nr. _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ abzubuchen
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ BLZ
Datum/Unterschrift
Bitte einsenden an:
2
Ich/Wir ermächtige/n Sie - bis auf Widerruf - , den Mitgliedsbeitrag in Höhe von
___________
________________________________________
Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V. - Lessingstr.1 - 31135 Hildesheim
Kontonummer 8402-306 beim Postgiroamt Hannover BLZ 25010030
Inhaltsverzeichnis
Spendenaufruf für Braunschweiger Kirchenasyl
OLYMPIC-Staatsaffaire
Aufruf: Kein Mensch ist illegal
Kampagne “Verfolgte Frauen schützen!"
Europäischer Friedenszug nach Diyabakir
Europa “Die Spirale nach unten” (Herbert Leuninger)
Kurden-Verfolgung und Kirchenasyl
Delegationsreise in die Türkei (Ex-Minister Schnoor u.a.)
Kurdische Flüchtlinge im Kirchenasyl (BAG INFOBRIEF 2/0097)
Flucht vor Folter (Malte Schubert/ai)
Haßbriefe gegen Kirchenasyl (E.Spoo)
Freispruch für “illegalen” Flüchtling (BI Regensburg)
IHD-Bilanz u. Ermordung von Kurden im Krankenhaus Erbil
kurdischer KDV/European Peace Congress
22 Jahre Knast für kurdische Fahne
Auseinanderreißen einer kurdischen Familie (Anfrage der Grünen)
Polizeiliche Räumung eines Kirchenasyls im Saarland
Deportation
Abschiebung nach Algerien (Pro Asyl)
BMI: Vietnamesische Flüchtlinge raus!
Tamilen in Niedersachsen
“Abschiebepraxis für Fortgeschrittene” (AK Asyl Oldemburg)
Länderberichte
Kongo-Zaire (Jean-Rene Kwaka Mbangu und Kass Kasadi)
Nigeria (Regina Andresen)
Bürgerkriegsflüchtlinge
“Abschiebung verfrüht” (US-Außenministerium)
UNHCR klagt über die BRD
Bericht über Flüchtlingsfamilie bei Nienburg (HARKE)
Bericht über Flüchtlingsfamilie in Braunschweig (Gabriele Thiel)
Antrag im Landtag zur Rückführung (Grüne)
Bericht über einen Kosova-Flüchtling in Hannover
Menschenrechtslage im Kosova (Pro Asyl)
“bayrische Verhältnisse” in Niedersachsen (Frauenhilfe Bosnien/AK Asyl)
Härtefallregelung
Keine Abschiebungen der Familien Aka, Bashir, Dogan, Sincar
Keine Abschiebung bei Petition (Vergleich Baden-Württemberg/Nds.)
Grundrecht auf Asyl
17000$ Freikauf vom Wehrdienst?
Asylrecht: 1 Jahr nach Karlsruhe 60
Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention
Das Bundesamt auf dem Weg in die Illegalität (SAGA Freiburg)
Rassismus und Sozialabbau
“Deutschfeindliche Machenschaften” in Salzgitter (Kai Weber)
Krankenhausbehandlung nur noch im Ausnahmefall (Gabriele Thiel)
Verschärftes Asylbewerberleistungsgesetz (Pro Asyl)
Gutscheine sind Schlechtscheine (Karl-Heinz Welder)
Bundesweiter Leitfaden in Vorbereitung (Georg Classen)
Arbeitsverbot für Flüchtlinge
Service
INFOBRIEF 2/97 der Ökumenischen BAG Asyl in der Kirche
BVG-Entscheidung: Keine Fluchtalternative für kurdischen Jugendlichen
Kurzbericht zur IMK vom 6.6.97 36
Nds.MI: Abschiebungsschutz für sowjetische Deserteure
VG: Keine Abschiebung von serbischen Roma nach Bosnien-Herz.
Rückübernahmeverfahren mit BR Jugoslawien
Nds. MI zu Rückführung unbegleiteter Minderjähriger/Int.Sozialdienst
Nds. Durchführungserlaß zu AsylbLG
Materialien/Seminare
EUROPA
Die Spirale nach
unten
Asylpolitik in Europa
und der Europäische Flüchtlingsrat*
Herbert Leuninger
Mit Frankreich
zusammen
bestimmt Deutschland die europäische, vielleicht
mittlerweile sogar
die internationale
Asylpolitk.
Dies wiederum
geschieht unmittelbar über den
Einfluß, den
Deutschland auf
allen Ebenen
ausübt, indirekt
aber auch durch
die Bedeutung, die
europäische Entwicklungen im
Asylbereich auf
der Weltebene
haben.
D
as Asylrecht steht in Europa
unter starkem Druck und es
stellt sich die Frage, ob es auf
Dauer diesem Druck standhält
und in seinem wesentlichen Gehalt überleben kann. Unter der
Oberfläche der Diskussionen um
die Asylpolitik in Europa sieht der
EUROPÄISCHE FLÜCHTLINGSRAT
(ECRE) eine Debatte verlaufen, in
der tiefere Werte infrage stehen.
Es geht nicht nur um die Kosten
für die Aufnahme von Flüchtlingen oder um die Effektivität der
Asylverfahren. "Wir sprechen über
die Zukunft des Asylrechts überhaupt". So sagte es der Generalsekretär von ECRE Philip Rudge
auf einer Internationalen Tagung
zur Inhaftierung von Asylbewerbern Ende des vergangenen Jahres. Er hält es nicht für unstatthaft, zu fragen, ob einige Staaten
das Asylrecht überhaupt noch erhalten wollen. Generell geht es
derzeit darum, Flüchtlinge daran
zu hindern überhaupt noch nach
Europa zu gelangen.
Diesem Abwehrziel dienen
• die Einführung der Visapflicht
für mehr als 130 Staaten,
• die Bestrafung von Verkehrsunternehmen vor allem der Fluglinien, die Flüchtlinge ohne ausreichende oder mit gefälschten
Papieren transportieren,
• die Drittstaatenregelung mit
ihrem Domino-Effekt und nicht
zuletzt
• die Inhaftierung von Asylbewerbern.
* Dieser Text ist die aktualisierte und erweiterte Fassung eines Vortrags von Herbert Leuninger vor der Jahrehauptversammlung 1997 des Niedersächsischen Flüchtlingsrats. Er ist
in dieser Form entnommen der Homepage von PRO ASYL im
internet
4
Womit müssen wir in Zukunft
noch alles rechnen?
Diese Entwicklung schließt mittlerweile auch die Länder Mittelund Osteuropas ein. Das Abwehrund Abschreckungskonzept, wie
es vor allem in Deutschland entwickelt wurde, hat in allen europäischen Ländern mit unterschiedlicher Wirkung Schule gemacht. Auf internationalen Konferenzen der Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen wird
deutlich, wie stark der direkte
und indirekte Einfluß Deutschlands auf die Ausgestaltung des
Asylrechts in der EU, bei zwischenstaatlichen Vereinbarungen
und im nationalen Kontext ist.
Mit Frankreich zusammen bestimmt Deutschland die europäische, vielleicht mittlerweile sogar
die internationale Asylpolitk. Dies
wiederum geschieht unmittelbar
über den Einfluß, den Deutschland auf allen Ebenen ausübt, indirekt aber auch durch die Bedeutung, die europäische Entwicklungen im Asylbereich auf
der Weltebene haben. Dabei ist
die Interessenlage der westlichen
Industrienationen unter Einschluß
der USA und Kanadas ziemlich
ähnlich. Die Unterschiede liegen
eher in der Rechtskultur der einzelnen Länder bzw. in dem Gewicht, den der organisierte Bereich der Bürgergesellschaft und
dabei der menschenrechtliche
Sektor auf die Asylpolitik hat.
Deutschlands Einfluß hat auch
durch die EU ein wirkungsvolles
Instrumentarium. Wenn auch die
EU nur aus 15 Staaten besteht,
verfügt sie mit ihrer gesammelten
Entscheidungsmacht einen weitreichenden Einfluß auf die ganze
Region und selbst weit über diese
hinaus.
Die gemeinsame Aufgabe
Wie dem auch sei, die Aufgabe
bleibt unaufgebbar und zwar
geht es darum, eine gemeinsame
europäischen Asylpolitik nicht auf
dem untersten sondern auf dem
höchsten Menschenrechts-Niveau
zu fordern. Eine derartige Europapolitik hätte dann, wie jetzt im
negativen, eine positive Bedeutung für den weltweiten Flüchtlingsschutz. Die Asylinitiativen
und -organisationen dürfen diese
Aufgabe allerdings nicht isoliert
und nur auf nationaler Ebene,
sondern müssen sie in einem
möglichst starken, zumindest
schon einmal europäischen Verbund angehen.
Auch deswegen ist es sehr wichtig, daß es neben UNHCR regierungsunabhängige Organisationen wie u.a. den EUROPÄISCHEN
FLÜCHTLINGSRAT (ECRE) gibt, die
diesen Prozeß aufmerksam verfolgen und die entsprechenden Positionen in den politischen Prozeß
einzubringen versuchen.
ECRE sieht seine Aufgaben
und Ziele in der nahen Zukunft darin
allgemein
• seine und die der einzelnen
Mitgliedsorganisationen Anwaltskompetenz auszubauen
• sich mit den wichtigen Themen
auf der Tagesordnung der EU
zu befassen
• Stellungnahmen zu formulieren, die die Vorstellungen, wie
sie auch von den Mitgliedsor
ganisationen erarbeitet werden, aufnehmen und bündeln,
• die eigenen Positionen auf allen politischen Ebenen und in
der Öffentlichkeit wirksam einzubringen
• sich auf neue konzeptionelle
Überlegungen auf dem Flüchtlingssektor einzulassen,
im einzelnen
1) ECRE will eine Kampagne
gegen die Inhaftierung von
Asylbewerbern und Flüchtlingen starten
ECRE hat sich bereits auf einer
Tagung im Jahre 1987 gegen das
Konzept der Inhaftierung von
Flüchtlingen gewandt. Damals
schon hatte UNHCR das Thema
auf die Tagesordnung des Exekutiv-Komitées gesetzt. Trotz der
wohlmeinenden Absicht, auf diese Weise dem Mißbrauch solcher
Maßnahmen begegnen zu können, zeichnete sich für ECRE damals schon die Gefahr ab, daß
Behandlung dieses Themas eher
zu einer weiteren Verbreitung der
Inhaftierung führen könnte.
Tatsächlich haben wir es mit einer
ziemlich verbreiteten Angelegenheit zu tun. Dies gilt für Großbri-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
EUROPA
tannien, Österreich, Deutschland,
die Schweiz, Belgien und Dänemark. Dabei bleibt dieses Thema
in der öffentlichen Diskussion
ziemlich kontrovers. In den Niederlanden hat es Bemühungen
gegeben, dem Rechnung zu tragen. In Italien, Griechenland,
Spanien und Portugal, wo Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber keine allgemeine Praxis
ist, gibt es auch keine öffentliche
Diskussion hierüber.
minalisierung des Asylbewerbers,
scheint der eigentliche Zweck der
Inhaftierung ganz klar die Abschreckung zu sein. Das Argument, die Nicht-Inhaftnahme bestimmter Asylbewerber könnte
andere zum Kommen ermutigen,
so als Argument in einem Regierungsschreiben an ai, ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß Haft gegenwärtig benutzt wird um mögliche Ankömmlinge zu entmutigen.
In der Politik und in Teilen der Öffentlichkeit verstärkt sich eine
Haltung, Flüchtlinge sollten für
den ihnen gewährten Schutz
dankbar sein, gleich unter welchen Bedingungen dieser Schutz
gewährt wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der Asylbewerber
verhaftet werden, entspringt
nicht zuletzt einer solchen Einstellung. Dabei ist Haft vielleicht
der größte Gegensatz zu dem,
was wir als die soziale Dimension
des Asylschutzes bezeichnen. Ein
Mensch verliert nicht seine Menschenrechte nur dadurch, daß er
Asyl beantragt. Das ist eine geradezu absurde, das ganze Konzept
des Asyls und der Menschenrechte infrage stellende Position. Gerade das Thema der Inhaftierung
verdeutlicht, daß die rechtlichen
und sozial-humantitären Aspekte
des Asyls nicht leicht voneinander
getrennt werden dürfen. Außerdem kann eine Haft die Möglichkeit des Asylbewerbers seine Verfahrensrechte wahrzunehmen,
drastisch beschränken.
Bei dem ganzen Komplex gibt es
unter den Asylorganisationen
grob gesprochen zwei Positionen., die der "Abschaffer" und die
der "Reformer". Beide Positionen
haben gute und ehrenhafte
Gründe für sich und sie müssen nach Philip Rudge - nicht unbedingt als Gegensätze betrachtet
werden. Die "Abschaffer" räumen
nur ganz, ganz seltene Fälle einer
berechtigten Inhaftnahme ein
und möchten, daß die davon betroffenen Häftlinge unter besseren Bedingungen und mit mehr
Rechten inhaftiert werden. Unterdessen gehen die "Reformer" davon aus, daß Haft für Asylbewerber in manchen Ländern unverhältnismäßig oft stattfindet. Sie
stellen sich daher auf Mindestforderungen ein und sind der Auffassung, daß eine derartige pragmatische Haltung in der jetzigen
politischen Stimmung der einzig
gangbare Weg ist. Bei PRO ASYL
hat es übrigens die gleiche Diskussion gegeben, die mit dem
produktiven Kompromiß endete,
sowohl die Abschaffung der Abschiebehaft wie auch deren Verbesserung zu fordern, solange sie
besteht.
Wo die äußeren Bedingungen
vielleicht zufriedenstellend sind,
wird es schwierig sich die seelischen Verletzungen vorzustellen,
die dadurch entstehen, daß der
Häftling nicht weiß, warum und
wie lange man ihn einsperrt. Es
ist ein Mißverständnis, daß ein
vielleicht komfortables Gefängnis
kein Gefängnis ist. Eine Verbesserung der Haftbedingungen sollte
die Tatsache nicht verdunkeln,
daß sich die Rechtslage weiterhin
verschlechtert und die Zahl der
Gefangenen sich vergrößert. Es
geht bei der Verbesserung der
Lage letztlich um eine Veränderung der Rechtslage.
Entgegen einem in den Medien
entstehenden negativen Bild und
der wachsenden Tendenz zur Kri-
2) ECRE nimmt Stellung zur
Entschließung des EU-Rates
zur "Lastenteilung"(20./21. Juni 1995)
•ECRE geht davon aus, daß Regelungen zur "Lastenteilung" der
direkten Aufnahme großer Gruppen von Flüchtlingen und Vertriebenen dienen sollten. Keinesfalls
sollten sie an die Stelle individueller Asylverfahren treten, wo diese
angezeigt sind. Die Ursachen, die
eine größere Fluchtbewegung
auslösen, sollten keinen Einfluß
auf die "Lastenteilung" haben. Somit darf auch die Ratsentschließung keinesfalls so interpretiert
werden, daß dadurch individuelle
Rechte von Flüchtlingen und Vertriebenen beeinträchtigt würden.
•ECRE legt Wert darauf, daß die
neuen Regelungen dem Recht
auf Familieneinheit für Flüchtlinge und Vertriebene keine Hindernisse in den Weg legen.
•ECRE setzt sich dafür ein, daß
die Umsetzung der Kriterien aus
§ 4 der Ratsentschließung flexibel
und großzügig erfolgt, so daß eine Verteilung von Flüchtlingen
auf Staaten, die eine für die Aufnahme von Flüchtlingen wenig
geeignete Infrastruktur besitzen,
vermieden wird.
•ECRE fordert eine Politik, bei der
Umverteilungen im Rahmen der
"Lastenteilung" nur freiwillig und
kurz nach Ankunft erfolgen.
•ECRE befürwortet eine finanzielle "Lastenteilung", durch die eine
Weiterverteilung von Flüchtlingen
von einem in ein anderes EULand vermieden wird. Dazu wäre
die Einrichtung eines entsprechenden Dauer-Fonds sinnvoll.
•EC RE empfiehlt, daß neben den
regierungsamtlichen Berichten
auch Informationen solche von
unabhängigen und Regierungsunabhängige Organisationen herangezogen werden. Dadurch sollte sichergestellt werden, daß Entscheidungen bei einer Umsetzung sachgerecht und unparteiisch getroffen werden.
Ein Mensch verliert nicht seine
Menschenrechte
nur dadurch,
daß er Asyl beantragt.
Das ist eine geradezu absurde,
das ganze Konzept des Asyls
und der Menschenrechte infrage stellende
Position.
Entgegen einem
in den Medien
entstehenden negativen Bild und
der wachsenden
Tendenz zur Kriminalisierung
des Asylbewerbers, scheint der
eigentliche
Zweck der Inhaftierung ganz
klar die Abschreckung zu
sein.
3) ECRE will Einfluß zu nehmen auf die Politik der Rückführung der Flüchtlinge aus
Bosnien und dem vormaligen
Jugoslawien;
Aus der Sicht von ECRE sind in
Bosnien-Herzegowina drei Phasen
notwendig: 1.die Konsolidierung;
2. die Normalisierung 3. die Versöhnung
1. Konsolidierung
bedeutet das Ende von Gewalt,
des Mordens, der ethnischen
Säuberungen und der Zerstörung.
2. Normalisierung
heißt jeder erdenkliche Einsatz,
um wieder die Grundvoraussetzungen für eine Existenz zu
schaffen, wie sie in Europa als
normal angesehen werden: d.h.
Freizügigkeit, Schulbesuch, ärztliche und medizinische Versor5
EUROPA
gung, die Wahrnehmung geschäftlicher und wirtschaftlicher
Aktivitäten und ein Leben in Frieden und Ordnung.
Dennoch wäre
es erforderlich,
über die rechtlichen Fragen
hinaus auch die
soziale und wirtschaftliche Dimension der
Flüchtlingsfrage
besser als bisher
in den Blick zu
nehmen.
3. die Versöhnung
Es dürfte ein langer und komplizierter Weg sein, um alle Bereiche der Gesellschaft in einen Dialog der Toleranz einzubeziehen.
Ziel muß sein, eine Basis für das
Zusammenleben der gesamte Bevölkerung zu schaffen, in das
Flüchtlinge und Vertriebene,
wenn sie zurückkehren einbezogen werden können.
Die Rolle der unabhängigen Regierungsorganisationen in dem
gesamten Prozeß könnte folgendermaßen umschrieben werden:
Zusammenarbeit mit Flüchtlingsgruppen, zu denen bereits ein enger Kontakt besteht.
- sobald das von UNHCR geplante Informationssystem funktioniert und die Lageberichte aus
den Heimatorten vorliegen, die
Beratung möglicher Rückkehrer,
aber auch jener, die derzeit oder
nie mehr zurückkehren können.
- Viele unabhängige Regierungsorganisationen arbeiten bereits in
den drei nationalen Einheiten des
vormaligen Jugoslawien beim humanitären und sozialen Wiederaufbau und werden dies in den
kommenden Monaten fortführen.
4) ECRE schaltet sich ein in
die Diskussion über das Konzepts eines "Schutz auf Zeit",
bei großen Fluchtbewegungen
ECRE fordert,
• daß Flüchtlingen, denen
"Schutz auf Zeit" gewährt wurde, nach zwei Jahren das Recht
auf Daueraufenthalt bekommen.
• daß die Möglichkeit Asyl zu beantragen, durch einen "Schutz
auf Zeit" nicht verloren gehen.
• daß während des zeitlich befristeten Aufenthalts Flüchtlinge
an Bildungsprogrammen teilnehmen können.
• daß sie hinsichtlich der Familienzusammenführung, der
6
Wohnung, Arbeit, Sozialhilfe,
der Ausweise und Reisedokumente wie anerkannte Flüchtlinge behandelt werden.
5) Es geht ECRE künftig darum, die wirtschaftliche und
soziale Lage aufgenommener
Flüchtlinge zu verbessern
Es gibt eine Initiative aus der Zeit
der spanischen Präsidentschaft,
nach der die wirtschaftliche und
soziale Lage der Flüchtlinge in
Europa untersucht werden soll.
Eine auch in diesem Bereich sinnvolle Harmonisierung müßte
nach ECRE den Vorstellungen einer menschenwürdigen Lebensgestaltung entsprechen, wie sie
immer noch in den demokratischen Ländern Europas gelten.
Allerdings variieren in Europa die
sozialen Verhältnisse in einem so
starken Maße, daß hier eine Harmonisierung wohl vorläufig nicht
zu erwarten ist. Dennoch wäre es
erforderlich, über die rechtlichen
Fragen hinaus auch die soziale
und wirtschaftliche Dimension
der Flüchtlingsfrage besser als
bisher in den Blick zu nehmen.
6) Weiterhin sollen die Auswirkungen der "sicheren
Drittstaaten"-Regelung verfolgt werden.
Hier hat ECRE ein Projekt zur Beobachtung und Dokumentierung
einzelner Fälle gestartet, das fortgeführt werden soll.
7) Es sind rechtsstaatlich einwandfreie Bedingungen für
die Rückführung in einen "sicheren Drittstaat" durchzusetzen
ECRE erhebt hierfür Mindestforderungen:
• Danach muß das Aufnahmeland ein Asylverfahren durchführen, wenn eine Familienbindung vorliegt.
• Die Entscheidung über die
Rückführung soll durch die
zentrale Asylbehörde erfolgen.
• Der aufnehmende Staat muß
zur Rückübernahme bereit sein
und folgende Voraussetzungen
erfüllen:
• Er ist Unterzeichnerstaat der
Genfer Flüchtlingskonvention,
bietet damit Schutz gegen
• die Zurückweisung in den Verfolgerstaat und
• ist in der Lage zu einer menschenwürdigen Behandlung
und Unterbringung des Flüchtlings.
Der zurückweisende Staat
• übersetzt die Entscheidung der
Asylbehörde in eine für den
Flüchtling verständlichen Sprache,
• erlaubt eine (aufschiebende)
Berufung gegen die Entscheidung,
• stellt ein Papier darüber aus,
daß die Nichtbehandlung des
Asylantrags keine inhaltliche
Entscheidung darstellt.
8) ECRE fordert einheitliche
Mindestgarantieren für Asylverfahren in der EU
Hier hat ECRE folgende Vorstellungen entwickelt.
• Jedem Asylbewerber muß ein
faires Verfahren zugestanden
werden, das von der kompetenten und zentralen Asylbehörde durchgeführt wird.
• Es muß eine individuelle und
umfassende Prüfung erfolgen,
• bei der Rechtsberatung und
Übersetzungshilfe garantiert
sind.
• Auch muß jederzeit der Kontakt zu UNHCR oder zu Asylorganisationen möglich sein.
Erfolgt eine Ablehnung des Asylantrags
• ist der Ablehnungsbescheid
dem Flüchtling schriftlich, mit
der Begründung und mit einer
Rechtsmittelbelehrung zuzustellen.
• muß ein eingelegtes Rechtsmittel aufschiebende Wirkung haben.
• ist der Widerspruch inhaltlich
zu prüfen.
Das ECRE-Netzwerk "Anwaltschaft wahrnehmen"
Unter der Federführung des Brüsseler ECRE-Büros wurde ein eigenes Netzwerk "Anwaltschaft
wahrnehmen" gegründet, an
dem sich Mitgliedsorganisationen
aus 12 europäischen Ländern beteiligen. Ziel des Netzwerkes ist
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
EUROPA
es, in der europäischen Politik die
ECRE-Positionen möglichst gleichzeitig in den verschiedenen Ländern und auf der EU-Ebene vernehmbar zu machen, diese zu erläutern und an ihrer Umsetzung
mitzuwirken. Zu diesem Zweck
sollen gemeinsame und möglichst gleichzeitige Aktionen von
Brüssel aus koordiniert werden.
Ein wichtiges Element bei diesem
Netzwerk ist ein gut funktionierender Austausch von Ideen und
Informationen. Hierzu sollen alle
technischen und elektronischen
Möglichkeiten genutzt werden.
Eine wichtige Voraussetzung für
das Projekt ist, daß ECRE in Brüssel die Vorhaben in der EU rechtzeitig erfährt und bereits an die
Entwürfe der Dokumente herankommt.
Um die Ziele, die sich das Netzwerk gesteckt hat, erreichen zu
können, sind vielfältige Formen
der politischen Einflußnahme erforderlich. Sie werden in der Bundesrepublik bisher nur zum Teil
und sporadisch angewendet.
Hierzu zählen vornehmlich:
• Treffen mit PolitikerInnen aus
Regierung, Parlament und Parteien
• gezielte Verteilung der Positions-Papiere von ECRE
• Kontakte zu den Medien
• gemeinsame Aktionen mit anderen Organisationen wie UNHCR, Kirchen und Gewerkschaften
• Die Einrichtung einer zentralen
Informationsstelle
• Die Durchführung von Tagungen und Seminaren
• Anregungen und Informationen für Anfragen im Parlament
• informelle Kontakte mit Politikerinnen und Politikern.
In der europäischen Asylarbeit
haben wir es teils mit unterschiedlichen teils mit vergleichbaren Organisationsformen wie in
der Bundesrepublik zu tun. Auffällig ist, daß in den anderen Ländern durchweg ein besseres Verhältnis, als wir es in der Bundesrepublik kennen, zwischen den
Organisationen und ihren Regierungen sowie den Parlamenten
besteht. In den skandinavischen
Ländern, aber auch in Ländern
wie Großbritannien, Italien,
Holland, Belgien und der Schweiz
sind runde Tische und gemeinsame Konferenzen in Asylfragen
selbstverständlich, auch wenn die
Politik dieser Länder sich der Tendenz nach nicht wesentlich von
der deutschen unterscheidet.
Dennoch gibt es einen von beiden Seiten irgendwie nützlich erachteten Informationsaustausch.
Auf diesen Erfahrungen beruht
auch der Netzwerk-Plan.
Die Vertreterinnen und Vertreter
aus anderen Ländern sind immer
wieder überrascht zu hören, daß
wir in der Bundesrepublik, das
gilt vor allem aber nicht nur für
PRO ASYL, mit der (Bundes-) Regierung nur über die Öffentlichkeit Kontakt halten und diese
Verbindung eher den Charakter
der Konfrontation hat. Woran
dies liegt, ist schwer zu sagen.
Liegt es an einem selbstherrlichen
Verständnis staatlicher Vollmacht
in der Bundesrepublik, an einer
besseren demokratischen Substanz in anderen europäischen
Ländern, hat dort die Bürgeroder Zivilgesellschaft einen anderen Rang oder sind die asylpolitischen Vorstellungen in Deutschland so unterschiedlich, daß eine
vernünftiger Austausch überhaupt nicht mehr möglich ist?
Dies ist schwer einzuschätzen.
Noch gibt es auf der Ebene einiger Bundesländer diesen für ein
demokratisches Staatsverständnis
notwendigen Kontakt. Es wird in
Deutschland zu überlegen sein,
was in Sachen wirksamer Lobbyarbeit bei Regierung und Parlamenten besser gemacht werden
kann. Allerdings müßten Regierung und Parlamentsmehrheiten
auch eine größere Frustrationstoleranz aufweisen, wenn es um
die Kritik an ihren Entscheidungen geht.
Maastricht II
und die Asylpolitik
Am 17. Oktober 1995 hat der
Generalsekretär des Europäischen
Flüchtlingsrates Philip Rudge bei
der öffentlichen Anhörung des
Ausschusses für institutionelle
Angelegenheiten des Europäischen Parlaments eine Stellungnahme abgegeben. Es ging um
die Regierungskonferenz 1996
(Maastricht II) und speziell um
den Bereich Justiz und Inneres,
der sogenannten Dritten Säule. In
diesen Bereich fallen die Einwanderungs- und Asylpolitik. Diese
Politik wird durch zwischenstaatliche Verträge und Abmachungen
geregelt. Dadurch entsteht - im
Unterschied zu dem, was in der
Ersten Säule geregelt wird - kein
verbindliches übernationales
Recht.
ECRE konnte dabei dem zustimmen, was der Ausschuß in seiner
im Mai 1995 beschlossenen "Resolution zum Funktionieren des
Vertrags über die Europäische
Union" gesagt hatte. Hauptanliegen dabei war die Rolle, die die
Europäischen Institutionen, vor
allem auch das Europäische Parlament zu spielen haben. Es geht
darum, daß die Prozesse der Entscheidungsfindung möglichst demokratisch verlaufen. Außerdem
ging es um den Charakter der
Verträge, die zwischenstaatlich
abgeschlossen werden. ECRE hatte sich dazu in seinem "Positionspapier über das Funktionieren
des EU-Vertrages hinsichtlich der
Asylpolitik" vom Juni 1995
geäußert. Dabei wurde betont,
daß eine Reform der Strukturen
noch keine Garantie dafür ist,
daß es wirklich zu einer fairen
und großzügigen Asylpolitik
kommt.
Die Vertreterinnen und Vertreter aus anderen
Ländern sind
immer wieder
überrascht zu
hören, daß wir
in der Bundesrepublik mit der
Regierung nur
über die Öffentlichkeit Kontakt
halten und diese
Verbindung eher
den Charakter
der Konfrontation hat.
Andererseits sieht ECRE in einer
Strukturreform die Voraussetzung
dafür, daß sich die vom Europäischen Parlament eingenommenen Positionen auf die europäische Asylpolitik auswirken könnten. Das bezieht sich vor allem
auf die "Entschließung zur Mitteilung der Kommission an den Rat
und das Europäische Parlament
die Zuwanderungs- und Asylpolitik betreffend. ECRE hatte sich zu
einer künftigen europäischen
Asylpolitik geäußert und gefordert, daß diese an den höchsten
Menschenrechtsstandards statt
an dem kleinsten gemeinsamen
Nenner orientieren sollte.
Daß die EU-Mitgliedstaaten aber
zu letzterem tendierten, konnte
an zwei Beispielen belegt werden: Sie machen die Mängel
sichtbar, die sich aus derzeitigen
Asylpolitik in der Europäischen
Union ergeben.
7
EUROPA
Dieser völlige
Mangel an
Transparenz, an
demokratischer
Kontrolle auf sowohl nationaler
wie auch europäischer Ebene, das Fehlen
einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit, schließlich
die übliche Geheimniskrämerei
im Umfeld der
europäischen
Asylpolitik sind
unannehmbar.
Zum einen wurde im Juni 1994
vom Rat der Justiz- und Innenminister eine "Entschließung über
Mindestgarantien für Asylverfahren" angenommen. Sie wurde ohne vorherige Beratung mit einem
der nationalen oder dem Europäischen Parlament verabschiedet. Nicht einbezogen worden
waren auch zwischenstaatliche
Gremien, die über ein entsprechendes Expertenwissen verfügen. Darüber hinaus gab es auch
weder eine Beratung mit dem
Amt des UNHCR, noch mit nichtstaatlichen Organisationen oder
juristischen Fachkreisen. Dieser
völlige Mangel an Transparenz,
an demokratischer Kontrolle auf
sowohl nationaler wie auch europäischer Ebene, das Fehlen einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit, schließlich die übliche Geheimniskrämerei im Umfeld der europäischen Asylpolitik
sind unannehmbar. Und Offenheit ist gerade dann erforderlich,
wenn es um die Grundrechte von
Menschen geht, die in ihrer Verletzlichkeit eines besonderen
Schutzes bedürfen. Was den Inhalt dieser Entschließung betrifft,
haben die EU-Mitgliedstaaten,
statt sich an Mindestgarantien
für faire und effiziente Asylverfahren, die auf Menschenrechtsstandards basieren, zu orientieren, den kleinsten gemeinsamen
Nenner gewählt. Sie haben bei
der Visapflicht, bei der Drittstaatenregelung, bei den Sanktionen
gegen Transportunternehmen
oder bei der Auslegung des
Flüchtlingsbegriffs einfach in die
für die Flüchtlinge ungünstigsten
nationalen Regelungen zusammengefaßt.
Zweites Beispiel ist Artikel 1 der
Genfer Flüchtlingskonvention. Er
stellt mit seiner Flüchtlingsdefinition den Eckstein des Asylrechts
und des Flüchtlingsschutzes dar.
Und doch, wie wird diese Grundfrage von den Mitgliedstaaten
erörtert? Wiederum sind außerhalb des Rates keine Arbeitspapiere verfügbar. Darum ist es
auch nicht möglich, daß irgendein nationales oder das Europäische Parlament einen formellen
Beitrag zur Diskussion leisten
konnte. Dies war erst recht nichtstaatlichen Organisationen verwehrt.
8
Mit dem einstimmig festgelegten
"Gemeinsamen Standpunkt" wollten die Regierungen verhindern,
daß Staaten mit einem besseren
Asylrecht nach dem Abbau eines
Teils der EU-Binnengrenzen mehr
Asylbewerber aufzunehmen hätten. ECRE hat ähnlich wie UNHCR
kritisiert, daß die Gemeinschaft
damit eine Chance zum besseren
Schutz der Flüchtlinge vertan habe. Zwar gelte nach wie vor, daß
Flüchtlinge gemäß der Genfer
Konvention wegen ihrer politischen und religiösen Überzeugung oder ihrer Angehörigkeit zu
einer bestimmten Bevölkerungsgruppe Schutz vor Verfolgung
genießen sollten, aber nicht bei
der "Verfolgung durch Dritte".
Darunter sind nichtstaatliche
oder oppositionelle Gruppen zu
verstehen. So sei der Status algerischer Flüchtlinge ungesichert.
Auch Bürgerkriegsflüchtlinge hätten generell keinen Anspruch auf
Aufnahme, oder nur dann, wenn
bestimmte Gruppierungen wie in
Bosnien-Herzegowina einen Teil
des Territoriums kontrollierten.
UNHCR hatte darauf hingewiesen, daß derzeit nur in vier EUMitgliedstaaten, nämlich in
Deutschland, Frankreich, Italien
und Schweden Menschen, die
von nichtstaatlicher Seite verfolgt
wurden, nicht als Flüchtlinge anerkannt würden. Nun solle, wenn
auch durch einen Rechtstext, der
zwar nicht bindend sei, dennoch
die restriktive Praxis einer Minderheit in der EU auf alle ausgedehnt werden. Beunruhigend sie
auch die Zweideutigkeit der Vereinbarung. Obwohl gemeinsame
Kriterien für die Auslegung der
Genfer Flüchtlingskonvention von
1951 beschlossen worden seien,
hätten die Mitgliedstaaten nach
wie vor die Möglichkeit, eigene
Wege in der Asylpolitik zu beschreiten.
UNHCR gestand zu, daß der "Gemeinsame Standpunkt" auch positive Elemente enthalte. Sie
könnten in einigen Staaten bei
konsequenter Anwendung zu
Verbesserungen führen. Dies gelte in Deutschland für Flüchtlinge,
die den Kriegsdienst aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität
oder politischen Überzeugung
verweigert hätten.
Zurück zu Maastricht II: Bei der
anstehenden Revision würde ECRE die Übertragung des Asylbereichs auf die Zuständigkeit der
Gemeinschaft befürworten. Das
System, nach dem in den letzten
Jahren Abkommen zwischen den
einzelnen Staaten geschlossen
wurden, habe sich als erfolglos
und unzulänglich erwiesen. Dies
hätten auch der Rat, die Kommission und das Europäische Parlament auch so gesehen. Vor allem
hatte das Europäische Parlament
die dabei aufgetretenen Defizite
an Demokratie und Information
beklagt. Daher sollte die Regierungskonferenz 1996 genutzt
werden, um Artikel K 9 des EUVertrages zu nutzen, bestimmte
Bereiche von der Dritten zur Ersten Säule und damit in die Zuständigkeit der Gemeinschaft zu
verlagern. (Bild 10) Nur dann - so
sieht es ECRE - könnten Transparenz und demokratische Kontrolle
der Politik sichergestellt werden.
Nach Artikel K 9 des EU-Vertrages
wäre es möglich, daß die Asylund Einwanderungspolitik auf die
Union übertragen würde, die
dann verbindliches Unionsrecht
setzen könnte.
Es sollte schließlich sichergestellt
werden, daß alle EU-Entscheidungen, die von allgemeinem Interesse sind, im vorgesehenen
Publikationsorgan der Gemeinschaft veröffentlicht werden.
Kommissionspapiere und die Diskussionen hierüber sollten generell der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden. Dies würde die
Zusammenarbeit mit anderen,
nicht zuletzt auch mit regierungsunabhängigen Organisationen und eine Beratung durch sie
möglich machen.
ECRE und alle seine Mitgliedsorganisationen, das sind in
Deutschland - neben PRO ASYL die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der
Deutsche Caritasverband, das
Deutsche Rote Kreuz und das
Diakonische Werk der Evangelischen Kirche, sind einbezogen in
einen europäischen Prozeß. Dieser ist schwer zu verfolgen, noch
schwerer zu durchschauen und,
wenn überhaupt, dann nur unter
Einsatz aller Kräfte zu beeinflussen.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KEIN MENSCH IST ILLEGAL
D
er nebenstehende
Aufruf ist am 28.6.
beim bundesweiten Treffen in Kassel verabschiedet worden.
Aus Niedersachsen waren Gruppen aus Göttingen, Hannover und Oldenburg vertreten.
Bis zum 7.7. können
ErstunterzeichnerInnen
sich per Post, Fax, Telefon oder Email unter der
Documenta-Adresse
melden:
“Kein Mensch ist illegal”
vom 28.06. bis 07.07. in
der Orangerie
Hybrid WorkSpace - documenta X
An der Karlsaue 20c, D34117 Kassel
Telefon: 0561-108 88 90
oder 0172-841 66
Telefax: 0561-108 88 91
http://www.contrast.org
/borders
grenze@ibu.de
http://www.documenta.de/workspace
workspace@documenta.de
Nach dem 07.07. ist die
Postadresse:
Initiative
“Kein Mensch ist illegal”
c/o FFM
Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin
Der Aufruf mit ErstunterzeichnerInnen soll in Tageszeitungen veröffentlicht werden.
Anzeigen kosten Geld,
deshalb Spenden dazu
bitte auf das Konto:
Forschungsgesellschaft
Flucht und Migration
e.V., Stichwort:
“Kein Mensch ist illegal”
Kto.-Nr. 630024264
Berliner Sparkasse
BLZ 100 500 00
Der Aufruf “Kein Mensch
ist illegal” ist keine zentral organisierte Kampagne. Jede/r ist aufgerufen, in den jeweiligen
örtlichen und organisatorischen Bezügen aktiv
und kreativ zu werden.
"Ihr sollt wissen, daß kein Mensch illegal ist.
Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner.
Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal?
Wie kann ein Mensch illegal sein?"
(Elie Wiesel)
Kein Mensch ist illegal
M i g ra n t I n n e n u n d F l ü c h t l i n g e si n d i n E u ro pa u n e rw ü n sc h t . Na c h de m e s
fü r si e n a h e z u u n m ö g l i c h i st , a u f l e g a l e m We g h i e rh e r z u fl i e h e n , e i n z u re i se n o de r e i n z u w a n de rn , i st di e Ü be rsc h re i t u n g de r S t a a t sg re n z e n n u r n o c h
" i l l e g a l " m ö g l i c h u n d n i c h t se l t e n m i t t ö dl i c h e n Ge f a h re n ve rbu n de n .
" I l l e g a l " w i rd, w e r bl e i bt , o bw o h l de r Au fe n t h a l t n i c h t m e h r e rl a u bt , g e st a t t e t o de r g e du l de t i st . S yst e m a t i sc h w e rde n di e ve rbl i e be n e n E i n re i se - u n d
Au f e n t h a l t sm ö g l i c h k e i t e n re du z i e rt . S o w i rd e i n e i m m e r g rö ß e re Z a h l vo n
M e n s c h e n i n di e I l l e g a l i t ä t g e z w u n g e n .
Gre n z e n t re n n e n n i c h t n u r T e rri t o ri e n , Gre n z e n t re n n e n M e n sc h e n . Gre n z e n ve rl a u fe n ü be ra l l : i m S o z i a l a m t w i e a u f de m B a h n h o f, i n de r I n n e n st a dt w i e a n de r S t a a t sg re n z e . D i e Gre n z e i st ü be ra l l , w o M e n sc h e n be fü rc h t e n m ü sse n , n a c h P a pi e re n g e fra g t z u w e rde n .
I n e n t re c h t e t e m , u n g e si c h e rt e m o de r i l l e g a l i si e rt e m S t a t u s z u l e be n , be de u t e t di e st ä n di g e An g st vo r D e n u n z i a t i o n u n d E rpre ssu n g , w e i l di e E n t de c k u n g B e st ra f u n g , Absc h i e be h a f t o de r di e so f o rt i g e Absc h i e bu n g z u r
F o l g e h a t . E s be de u t e t vö l l i g e S c h u t z - u n d R e c h t l o si g k e i t g e g e n ü be r B e h ö r de n , Arbe i t g e be rn u n d Ve rm i e t e rn , a be r a u c h i m F a l l e vo n K ra n k h e i t e n ,
U n f ä l l e n o de r Ü be rg ri f f e n . E s be de u t e t a u c h , so z i a l e K o n t a k t e f ü rc h t e n z u
m ü sse n . K i n de r k ö n n e n k e i n e S c h u l e u n d k e i n e n K i n de rg a rt e n be su c h e n ,
J u g e n dl i c h e k e i n e Au s bi l du n g a n f a n g e n .
E s be de u t e t , st ä n di g a u f de r Hu t z u se i n .
I m K a m pf g e g e n R a ssi sm u s w i rd e s i m m e r w i c h t i g e r, Mi g ra n t I n n e n i n i h re n
K ä m pf e n g e g e n I l l e g a l i si e ru n g u n d f ü r i h r R e c h t , ü be rh a u pt R e c h t e z u h a be n , po l i t i s c h u n d pra k t i s c h z u u n t e rs t ü t z e n .
Je de r M e n sc h h a t da s R e c h t , se l bst z u e n t sc h e i de n , w o u n d w i e e r l e be n
w i l l . D e r R e g u l i e ru n g vo n Mi g ra t i o n u n d de r Ve rw e i g e ru n g vo n syst e m a t i sc h e n R e c h t e n st e h t di e F o rde ru n g n a c h Gl e i c h h e i t i n a l l e n so z i a l e n u n d
po l i t i sc h e n B e l a n g e n , n a c h de r R e spe k t i e ru n g de r M e n sc h e n re c h t e j e de r
P e rso n u n a bh ä n g i g vo n He rk u n f t u n d P a pi e re n e n t g e g e n .
D e sh a l b ru f e n w i r da z u a u f , M i g ra n t I n n e n be i de r E i n - u n d We i t e rre i se z u
unterstützen.
Wi r ru fe n da z u a u f, Mi g ra n t I n n e n Arbe i t u n d P a pi e re z u ve rsc h a ff e n .
Wi r ru f e n da z u a u f , M i g ra n t I n n e n m e di z i n i sc h e Ve rso rg u n g , S c h u l e u n d
Au sbi l du n g , U n t e rk u n f t u n d m a t e ri e l l e s Ü be rl e be n z u g e w ä h rl e i st e n .
Denn kein Mensch ist illegal.
9
KURDENVERFOLGUNG
Kurdenverfolgung
systematische Folter von Staat gedeckt
Delegationsreise in die Türkei
Bericht über die Gespräche und Ergebnisse der Menschenrechtsdelegation
in die Türkei vom 17. bis 20. April 1997
Autoren:
Dr. Herbert Schnoor
ehemaliger Innenministerdes Landes Nordrhein-Westfalen
Dr. Arendt Hindriksen
Mitglied der Bremischen Bürgerschaft
für Bündnis 90/Die Grünen
A
Dieser Bericht
ist Anlaß für
eine erneute
AbschiebestoppForderung an
die Innenminister
uf Initiative und Veranlassung
von KOMKAR - Verband der
Vereine aus Kurdistan e. V. hielt
sich die Delegation vom 17. bis
20. April 1997 in Ankara auf, um
durch Gespräche und Begegnungen einen Eindruck über die aktuelle Situation der Menschenrechte und Demokratie in der
Türkei zu gewinnen und durch
einen Besuch bei IBRAHIM
AKSOY im Gefängnis in HAYMANA und von anderen politischen
Gefangenen auf das Schicksal
von derzeit über 170 unschuldigen Gewissensgefangenen in türkischen Gefängnissen hinzuweisen und auf ihre Freilassung hinzuwirken.
Die Delegation bestand aus
· Herrn Dr. Herbert Schnoor, ehemaliger Innenminister des Landes
Nordrhein-Westfalen
· Herrn Jörn-Erik Gutheil, Landeskirchenrat der Ev. Kirche im
Rheinland
· Herrn Dr. Arendt Hindriksen,
Mitglied der Bremischen Bürgerschaft für Bündnis 90/Die Grünen
· Herrn Heiko Kauffmann, Sprecher von PRO ASYL
· und als Dolmetscher Herrn
Mustafa Aydin.
10
Heiko Kauffmann
Sprecher von PRO ASYL
Jörn-Erik Gutheil
Landeskirchenrat der Ev. Kirche
im Rheinland
Gespräch mit dem
Türkischen Menschenrechtsverein
IHD in Ankara
Die Delegation sprach mit dem
Generalsekretär des IHD Ankara,
Herrn KAMIL ATESOGULLARI,
Vorstandsmitgliedern und weiteren Mitarbeitern des IHD Ankara.
Schwerpunkte des Gesprächs waren die Arbeit des IHD, das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen und Folter, die Lage der
Gefangenen, die Rückkehrgefährdung abgeschobener Flüchtlinge.
Die menschenrechtswidrige Behandlung von politischen Gefangenen, die Anwendung von Folter durch Polizei und andere Sicherheitsorgane, sei in der Türkei
nach wie vor gang und gäbe:
„Folter ist systematische staatliche
Politik und weit verbreitete Praxis...
Sie geschieht systematisch und
mit politischer Unterstützung; sie
ist politisch gewollt; Folterer werden vom Staat gedeckt!"
Wenn Folterer identifiziert und
überhaupt überführt werden
könnten, werde nicht gegen sie
ermittelt, schon gar nicht würden
sie verurteilt - i.d.R. würden sie
versetzt, z.B. auch nach Deutschland.
„Die Folterer laufen frei herum,
die Opfer werden verurteilt - und
die unter Folter erzwungenen
Aussagen werden noch gegen sie
verwendet."
Die Folter mache nicht einmal
mehr vor Kindern halt; das Beispiel von MANISA, wo 16 Jugendliche zwischen 14 und 18
Jahren in Polizeihaft schwer
mißhandelt wurden, zeigt deutlich, daß die Polizei nicht zur Rechenschaft gezogen wird (trotz
Intervention des türkischen Abgeordneten SABRI ERGÜL) - die
meisten der Jugendlichen wurden
inzwischen zu 2 ½ bis 12 ½ Jahren Haft verurteilt aufgrund von
Anklagen, die ausnahmslos auf
den Foltergeständnissen in Polizeihaft beruhen.
Auf unsere Frage, ob dies eher
als „Einzelfall" oder „Ausnahme"
zu verstehen sei, wurde geantwortet:
„Manisa gibt es tausendfach;
Manisa findet jeden Tag an vielen
Orten der Türkei statt; es wird
versucht, es zu verschweigen und
zu verleugnen."
Über das Ausmaß an Menschen-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KURDENVERFOLGUNG
rechtsverletzungen, Folter, extralegalen Hinrichtungen, Attentaten, Morden, außergesetzlicher
Haft, der Praxis des Verschwindenlassens, der Vernichtung von
Dörfern und anderen Menschenrechtsverletzungen gibt der IHD
monatlich und jährlich jeweils eine Übersicht, einen aktuellen Report, heraus. Die Delegation erhielt die Zusammenstellungen
der letzten Jahre und die aktuellen Monatsübersichten von Januar, Februar und März 1997.
Die Abschiebepraxis abgelehnter
Asylbewerber/innen, z.B. aus
Deutschland, trage zu einem bedrohlichen Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen in der
Türkei bei. Nach den Regeln des
humanitären Völkerrechts stimmten die Voraussetzungen für die
Abschiebung von Flüchtlingen in
die Türkei nicht, da sie sich aufgrund des Fehlens oder beliebigen außer-Kraft-Setzens von
rechtsstaatlichen Kriterien nicht
an Abmachungen und Zusicherungen halte (z.B. deutsch-türkisches Konsultationsverfahren vom
10. März 1995).
Abgelehnte Asylbewerber/innen,
die einer gegen den türkischen
Staat gerichteten Straftat verdächtigt werden, würden nach
Maßgabe der Anti-Terror-Gesetze
behandelt, die in der Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte
liegen. Sie können zwischen 15
und 30 Tagen in Polizeihaft genommen werden, ohne rechtliches Gehör, ohne Hilfe von
Rechtsanwält/inn/en, immer der
Gefahr der Folter ausgesetzt.
Auf unsere Nachfrage nach der
Intensität der Rückkehrgefährdung wird deutlich und bestimmt
erklärt:
„Wenn nach Ankunft abgeschobener Asylbewerber jemand im
Verhör als Kurde, als Alevit oder
als politisch Linksoppositioneller
identifiziert wird, ist er jederzeit
in Gefahr, geschlagen, mißhandelt und gefoltert zu werden!"
Der IHD nennt als aktuelles Beispiel den Fall von HASSAN KUTGAN, der im Dezember 1996 in
die Türkei abgeschoben, von der
Flughafenpolizei verhaftet und in
Haft brutal geschlagen und syste-
matisch gefoltert worden sei.
Auch die von amnesty international dokumentierten Fälle abgeschobener Kurd/inn/en, die nach
ihrer Abschiebung gefoltert oder
mißhandelt wurden, sind dem
IHD namentlich bekannt.
Gespräch mit
der türkischen
Menschenrechtsstiftung (TIHV)
Der IHD bezweifelt auch die von
den deutschen Innenministern
vermutete Fluchtalternative im
Westen der Türkei. Die Praxis der
Dorfzerstörungen verfolge eine
erzwungene Vertreibung von
über 3 Mio. Menschen aus politischen Gründen. Auch in den
Großstädten, in die sie geflohen
seien, gebe es immer wieder gezielte Razzien, Verlust von Arbeitsplätzen, Festnahmen und erneute Vertreibung:
Dr. ÖLCER berichtet über die Arbeit der Menschenrechtsstiftung,
die in der Türkei über 4 regionale
Behandlungs- und Rehabilitationszentren für Folteropfer verfügt (Ankara, Istanbul, Izmir und
Adana).
„3,5 Mio. Menschen leben in der
Türkei in einer Asylsituation!"
Die Rechtsunsicherheit in der Türkei werde immer größer. Initiativen für Frieden und Toleranz
würden als „Gefahr" angesehen,
Vorschläge und Initiativen wie die
vom Unternehmerverband TÜSIAD würden von Nationalen Sicherheitsrat sofort vehement abgewehrt werden.
„Die Macht der Militärs wird immer größer."
Dies führe zu einer Spaltung der
Gesellschaft und zu immer mehr
Rechtsunsicherheit („Militär-Demokratie"). Auf die demokratischen Institutionen sei kein Verlaß, weil letztlich alles vom Militär und den Sicherheitsdiensten
abhinge. Es käme vor, daß Leute
in Zivil in den östlichen Provinzen
in die Dörfer kämen und um eine
Spende für die PKK gebeten hätten; am nächsten Tag seien dieselben Leute als Polizisten wiedergekommen. Kurden könne
schon der Besitz von „verdächtigen" kurdischen Büchern zum
Verhängnis werden.
Auch die Arbeit im IHD sei mit
Gefährdungen und Risiken verbunden, wie Beispiele in der Vergangenheit belegten.
Neben der Behandlung und Hilfe
für die Folteropfer arbeiten die
Zentren wissenschaftlich, um die
physischen Spuren der Folter
nachzuweisen. Der TIHV betreibt
außerdem Aufklärungsarbeit über
Folter und Menschenrechtsverletzungen, bietet Seminare an und
dokumentiert und veröffentlicht
Berichte über Folter, Verschwundene und über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.
„Wenn nach Ankunft abgeschobener Asylbewerber jemand
im Verhör als
Kurde, als Alevit oder als politisch Linksoppositioneller
identifiziert
wird, ist er jederzeit in Gefahr, geschlagen, mißhandelt
und gefoltert zu
werden!"
Da in den TIHV-Zentren alle Informationen über Menschenrechtsverletzungen, Folter etc. zusammenlaufen, gibt die Menschenrechtsstiftung jeden Tag eine
zweisprachiges Bulletin - in türkisch und englisch - heraus, das
an ca. 140 Abonnenten im Inund Ausland geschickt wird. Darüber hinaus veröffentlicht der
TIHV jährlich den „Turkey Human
Rights Report" und andere Publikationen („File of Torture - Deaths in Detentention Places or Prisons").
Diese Berichte belegten u.a., daß
in der Türkei seit 1980 Hunderttausende Menschen gefoltert
und über 420 Menschen durch
Folter getötet worden sind (1980
- 1995).
Dr. ÖLCER bekräftigt die Berichte
des IHD; die Zahl der Gefolterten
habe zugenommen, die allgemeine Entwicklung ginge nicht in
Richtung Verbesserungen, sondern Verschlechterung. Die Türkei
habe zwar alle internationalen
Vereinbarungen über Folter bzw.
die Verhinderung von Folter unterschrieben, aber nicht die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen geschaffen, sie in der Türkei auch umsetzen und anwenden zu können.
11
KURDENVERFOLGUNG
Es gebe allein über 150 Gesetze,
mit denen Gefangene ohne
Grund festgehalten werden
könnten:
„Polizisten, die
foltern, werden
nicht vor Gericht gestellt;
Menschen, die
gefoltert wurden,
werden verurteilt
- und die unter
Folter erpreßten
´Geständnisse`
werden gegen
sie verwendet".
„Solange das Anti-Terror-Gesetz
nicht abgeschafft wird, solange
wird es Folter und politische Gefangene in der Türkei geben!".
Solange Militärs und Nationaler
Sicherheitsrat die Politik bestimmten, bliebe auch ein Menschenrechtsminister nur ein Alibi, der
nichts ausrichten könne. Bestimmt und entschieden wird die
Aussage des IHD zum Thema Folter bekräftigt:
„Polizisten, die foltern, werden
nicht vor Gericht gestellt; Menschen, die gefoltert wurden, werden verurteilt - und die unter Folter erpreßten ´Geständnisse`
werden gegen sie verwendet".
„Die Folterer laufen frei herum".
Folter werde in der Türkei nicht
nur systematisch angewandt und
gebilligt: „Die Folter geschieht
mit politischer Unterstützung; sie
wird von der Regierung gewünscht."
Die Polizei in der Türkei sei sehr
politisch. Viele Polizisten gehörten ´Sicherheitsgruppen` der
rechten Parteien oder den ´Grauen Wölfen` an.
Dr. ÖLCER bekräftigte auch die
Angaben des IHD über die Rückkehrgefährdung abgeschobener
Flüchtlinge: „Es gibt keine Garantie für Rückkehrer, nicht geschlagen und gefoltert zu werden."
Zusicherungen aus Ankara könnten nicht funktionieren, weil die
rechtsstaatlichen Voraussetzungen nicht vorhanden seien. Viele
Menschen, die gefoltert und
mißhandelt worden seien, hätten
Angst und kämen nicht zur Behandlung zum TIHV, um nicht
noch weitere Schwierigkeiten zu
bekommen. Viele berichteten jedoch telefonisch über Folter und
erlittene Menschenrechtsverletzungen, ohne dabei ihre Identität
zu offenbaren. Auch unter diesen
befänden sich aus Deutschland
abgeschobene Flüchtlinge.
Dr. ÖLCER schloß sich der Einschätzung des IHD an: „Die Abschiebung von Flüchtlingen soll
ausgesetzt werden, weil das, was
12
mit ihnen passiert, zunehmend
nicht mehr berechenbar ist."
Dr. ÖLCER berichtete der Delegation von Einzelfällen, in denen
der TIHV auf dringende medizinische Hilfe angewiesen ist.
Während des Gesprächs traf aus
Deutschland die telefonische Mitteilung ein, daß ein junger kurdischer Flüchtling aus Bremen abgeschoben worden sei und am
Nachmittag in Istanbul eintreffen
werde.
Auch der TIHV bestätigte Schwierigkeiten mit den Behörden, Ermittlungen, Verfahren gegen die
Menschenrechtler. Der Verein/die
Sektion in ADANA sei von
Schließung bedroht bzw. geschlossen worden, z.B. weil Ärzte
sich geweigert hätten, die Namenslisten ihrer Patienten herauszugeben.
Gespräche mit
der Gewerkschaft
KESK
HASAN HAYIR, der Vorsitzende
der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes und ca. 15 Mitglieder dieser Gewerkschaft berichteten in einer lebhaften Diskussion
von den Schwierigkeiten der gegenwärtigen Gewerkschafts- und
Menschenrechtsarbeit in der Türkei.
8 Jahre habe die Gewerkschaft
um ihre Anerkennung kämpfen
müssen; heute sei sie mit ca.
500.000 Mitgliedern eine der
größten Organisationen in der
Branche, was ihre Spielräume jedoch nicht vergrößere. Seit 1980
seien Gesetze in Kraft, die sich
gegen die Gewerkschaften richteten. Sie richteten sich auch gegen die allgemeine demokratische Arbeit: „Denken und Schreiben ist immer noch strafbar in
der Türkei".
Tausende seien dafür ins Gefängnis gekommen. Auf unsere Nachfragen zu den Berichten von IHD
und TIHV:
„Man kann schon froh sein,
wenn man (von der Polizei) nicht
geschlagen wird".
„Die Folter ist eine Säule des
Staates; sie gehört zur Sicherheitskultur der Türkei."
„Die Polizisten haben nur eine
Bildung - und das ist die Folter."
Bei der Frage nach den Möglichkeiten, Visionen und Zielen der
Gewerkschaft wurde der schmale
Grat deutlich, auf dem sich Gewerkschaftsarbeit bewegt. KESK
setzt sich nicht nur für Einkommensverbesserungen ein: „Wir
wollen Demokratie." Die Türkei
habe 1992 der ILO zugesagt, daß
sie die Gewerkschaften als Partner sehe. KESK halte internationale Kontakte zu Gewerkschaften
- auch zu DGB und GEW (in der
KESK sind sehr viele Lehrer organisiert). Diese Beziehungen gäben
den Mitgliedern Kraft und Mut.
KESK habe aber auch Kontakte
und führe Gespräche mit den
Staatsgewerkschaften und mit
dem Unternehmerverband Tusiad, dessen Forderungen aus seinem jüngsten Papier (u.a. Abschaffung der Folter, Auflösung
des Nationalen Sicherheitsrates)
von KESK geteilt werden. Es gäbe
zwar Folter, Unterdrückung,
Menschenrechtsverletzungen und
Rechtsunsicherheit in der Türkei,
aber es gäbe auch Gegenkräfte,
die für eine Veränderung eintreten. Allerdings gibt es viel Angst
und Unsicherheit. 3 Millionen
Menschen seien seit 1980 bereits
mindestens einmal inhaftiert worden, weil sie ihre Meinung
geäußert hätten. Die Kurden
kämpften seit über 10 Jahren für
ihre Rechte; es gäbe Tausende
von Toten auf beiden Seiten. Dieser Krieg binde Ressourcen, die
für Verständigung und friedliche
Entwicklung gebraucht würden.
Täglich ereigneten sich Anschläge
und Explosionen. Demonstrationsteilnehmer würden brutal zusammengeschlagen. Dies schaffe
vermehrt Angst und Unsicherheit
in der Bevölkerung. Die Militärs
nutzten die Konflikte zwischen
Kurden und Türken, zwischen
Aleviten und Strenggläubigen
aus; die Menschen würden bewußt in Gruppen geteilt und
Konflikte zwischen diesen Gruppen von Regierung und Militär
benutzt, um einen Dialog und
friedliche Veränderungen zu verhindern. Vor diesem Hintergrund
bewerteten Mitglieder von KESK
auch die Konflikte der Militärs
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KURDENVERFOLGUNG
und innerhalb der türkischen Regierung mit der REFAH-Partei Erbakans.
Weitere Themen in dem Gespräch mit KESK waren
· die Verstrickung von Regierung
und Sicherheitskräften in Verbrechen und schmutzige Geschäfte;
· Waffenlieferungen aus Deutschland, die im Krieg gegen die Kurden eingesetzt werden;
· die Möglichkeiten von Lehrern,
im Unterricht Fragen von Frieden
und Verständigung zu behandeln.
Dazu die Aussage: „Ein türkischer
Lehrer darf nicht unterrichten,
was der Staat selbst unterzeichnet hat, z.B. die Kinderrechtskonvention oder die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen".
Gespräch
mit KÜRT-KAV
Stiftung für
kurdische Kultur
und Wissenschaft
YILMAZ CAMLIBEL, der Vorsitzende, berichtet über die Arbeit der
Stiftung, die im Februar 1992 gegründet und im Januar 1996 offiziell als erste kurdische Stiftung
überhaupt anerkannt worden ist.
Die Stiftung verfolgt die Ziele
· über die kurdische Kultur und
Geschichte zu forschen und sie
lebendig zu halten;
· an der Einleitung des Friedensprozesses mitzuwirken;
· den Ärmsten und Schwächsten
unter den Kurden durch entsprechende Projekte Hilfe und Unterstützung zu geben;
· eine Schule für kurdische Sprache (in Istanbul) zu errichten.
Zu den Projekten, deren Finanzierung zum Teil bei Stiftungen im
Ausland beantragt ist, gehörten
Sprachkurse, Gesundheitsprojekte
für Familien, Projekte für Kinder
von Flüchtlingen (Binnenvertriebene), Projekte für Frauen und
Mädchen, die von Dorfschützern
vergewaltigt und von den Eltern
und Verwandten verstoßen worden seien (Frauenhaus), ein Kultur- und Begegnungszentrum.
Bezüglich der Durchführung von
Sprachkursen in Istanbul, die Ende April 1997 beginnen sollen,
habe sich ein ernsthafter Konflikt
mit der Regierung entwickelt.
Nachdem die Stiftung alle Auflagen erfüllt und die Genehmigung
der Schulbehörde in Istanbul erhalten habe, habe die Regierung
Widerspruch eingelegt; eine eigene Schule, auf der kurmanci gelehrt wird, sei als „Separatismus"
bezeichnet worden. Das Bildungsministerium habe die Anträge der Stiftung abgelehnt.
Diese sei daraufhin bis vor das
Verfassungsgericht in Ankara gegangen und habe schließlich
Recht und die höchstrichterliche
Erlaubnis zur Durchführung der
Sprachkurse bekommen. Das Bildungsministerium ignoriere dieses Urteil und beharre auf seiner
Ablehnung - ein Beispiel dafür,
daß die Achtung der vollziehenden Gewalt vor den Gerichten offenbar nicht mehr vorhanden sei.
CAMLIBEL erklärte:
„Es gibt keine Achtung vor den
Gerichten. Die Türkei ist gesetzlos. Exekutive und Militär machen, was sie wollen!"
„Es gibt kein Gesetz, auf das die
Bürger sich verlassen können!"
CAMLIBEL nannte ein weiteres
Beispiel für die offensiven
Bemühungen der Regierung zur
Zerstörung der kurdischen Sprache und Kultur und verwies als
Beleg dafür auf entsprechende
Berichte in türkischen Zeitungen.
Die Innnenministerin, Frau Meral
Aksener habe einen Antrag an
den Nationalen Sicherheitsrat gerichtet, alle Kinder in nationalen
Kindergärten zu sammeln, damit
sie dort von klein auf (nur) türkisch lernten. Solche Zwangskindergärten hätten für die kurdischen Kinder eine „Türkisierung"
zur Folge, weil ihre Mütter sie
nicht mehr, wie bisher, die kurdische Sprache lehren könnten.
Gespräch mit
der Stiftung für
Erziehung, Kultur
und Sozialdienste
für die Türkei
Hier handelt es sich um eine junge Stiftung im Aufbau, die
hauptsächlich Projekte für Menschen aus den zerstörten Dörfern, für Kinder und Gesundheitsprojekte durchführt; weitere Informationen, Projektbeschreibungen etc. erhalten die Delegationsteilnehmer nach Rückkehr in
Deutschland.
Gespräch mit
der Partei für
Demokratie und
Frieden - DBP
„Es gibt keine
Achtung vor den
Gerichten. Die
Türkei ist gesetzlos. Exekutive und Militär
machen, was sie
wollen!"
Die Gespräche mit dem Vorsitzenden YAVUZ KOCOGLU und
mehreren Mitgliedern be- und
verstärkten die Informationen
und Eindrücke aus den vorangegangenen Begegnungen und Gesprächen.
Von einer Öffnung in Richtung
Demokratie könne in der Türkei
keine Rede sein; sie sei auch nicht
gewollt. Obwohl die ökonomische Lage sich weiter verschlechtere, werde über ein Drittel des
Staatshaushaltes der Türkei in
den Krieg gegen die Kurd/inn/en
gepumpt.
Würde dieses Geld - jährlich über
10 Milliarden Dollar - für Gesundheit und Soziales ausgegeben, ginge es Türk/inn/en und
Kurd/inn/en besser und man
könnte die kurdische Frage in
Frieden lösen. "Die kurdische Frage ist eine politische Frage, sie
wird aber von der Regierung und
den Militärs nur als Terror-Frage
behandelt!" Tatsächlich griffen
Terror und Willkür immer mehr
um sich, eine Geheimarmee und
Geheimpolizei seien aufgebaut
worden, es gäbe seit mehreren
Jahren spezielle "Anti-Terror Einheiten".
Auch bei den rechten Parteien
gäbe es immer mehr bewaffnete
13
KURDENVERFOLGUNG
"Es gibt oft keinen Straftatbestand, den man
Verfolgten vorwerfen kann;
dafür gibt es
dann spezielle
Organisationen,
die bringen die
Menschen um
und werden nie
vor Gericht gestellt."
Gruppen. "Diese Schwadronen
werden ausgebildet, um im
Osten Menschen umzubringen,
über 90% sind Freiwillige." Diese
bewaffneten Gruppen, Todesschwadrone wie die "Türkische
Rachearmee", arbeiteten mit Kriminellen zusammen; über sie liefe der Drogenhandel und das
Glücksspiel; sie würden vom
Staat gedeckt. Der "Susurluk-Unfall" sei zum Synonym für die Verstrickungen und Verbindungen
zwischen Regierung, Sicherheitsdiensten, Terrorgruppen und Kriminellen geworden.
malige Innenminister des Landes
Nordrhein-Westfalen, Dr. Herbert
Schnoor, ihm Asyl angeboten
hatte.
"Es gibt oft keinen Straftatbestand, den man Verfolgten vorwerfen kann; dafür gibt es dann
spezielle Organisationen, die
bringen die Menschen um und
werden nie vor Gericht gestellt."
Anläßlich seines 500. Hafttages
am 26. Februar 1997 startete
KOMKAR in Deutschland eine
Kampagne, um die Öffentlichkeit
auf sein und das Schicksal der
anderen politischen Gewissensgefangenen aufmerksam zu machen. Die Delegationsmitglieder
sind Mitunterzeichner einer Anzeige, die am 21. März 1997 geschaltet und in der die Freilassung IBRAHIM AKSOYS und der
anderen Gefangenen gefordert
wurde.
Auch Mitglieder der DBP seien
ohne Grund verhaftet, geschlagen und nach 2 Tagen wieder
freigelassen worden. Es gäbe Ermittlungen und Verfahren gegen
mehrere Mitglieder.
Besuch bei
IBRAHIM AKSOY
im Gefängnis von
Haymana am
19. April 1997
Ein vorrangiges Ziel der Reise war
es, IBRAHIM AKSOY, den ehemaligen Abgeordneten und Vorsitzenden der Partei für Demokratie
und Wandel und nach Möglichkeit weitere der noch inhaftierten
DEP-Abgeordneten wie Leyla Zana und Orkan Dogan zu besuchen. Damit wollten wir auf das
Schicksal der über 170 Gewissensgefangenen in der Türkei
aufmerksam machen, die allein
deshalb inhaftiert wurden, weil
sie ihre Meinung frei geäußert
haben. AKSOY war nach § 8 des
Anti-Terrorismus-Gesetzes im Zusammenhang mit von ihm verfaßten Schriften und mündlichen
Stellungnahmen verurteilt worden.
Er trat seine Haftstrafe am 14.
Oktober 1995 an, obwohl er sich
bei Urteilsverkündung gerade in
Deutschland aufhielt und der da14
Gegen AKSOY liegen über 40 Anklagen bei den Staatssicherheitsgerichten der Türkei vor. Selbst
wenn er aus der Haft entlassen
wird, kann er wegen der noch
laufenden Verfahren jederzeit sofort wieder verurteilt und inhaftiert werden. Inzwischen haben
sich sowohl die Interparlamentarische Union als auch amnesty international Aksoys angenommen.
Vor diesem Hintergrund war
schon von Deutschland aus versucht worden, eine Besuchserlaubnis zu erhalten. Auch die
persönliche Intervention von Dr.
Schnoor hatte jedoch nicht zu
dem gewünschten Erfolg geführt.
Dennoch fuhren wir am 19. April
noch Haymana, ca. 60 km von
Ankara entfernt, um mit seinem
Anwalt und Freunden von der
DBP zu versuchen, mit Ibrahim
zusammenzutreffen.
Es war Bayram, Opferfest, und
vor dem Gefängnis standen viele
Familien, um ihre inhaftierten Angehörigen zu besuchen. Wir stellten uns in die Reihe der Wartenden und wurden schließlich auch
zur umfänglichen Sicherheitsüberprüfung in den Vorhof des
Gefängnisses eingelassen.
Während die türkischen Freunde
und auch unser Dolmetscher
schon passieren durften, Jörn-Erik
Gutheil bereits den Handstempel
zum Passieren erhalten hatte und
unsere Sicherheitsüberprüfung
schon so gut wie abgeschlossen
war, kam einer der wachhabenden Offiziere angerannt und erklärte aufgeregt, daß - nach einem Anruf der Staatssicherheit
aus Ankara - kein Ausländer zu
IBRAHIM AKSOY vorgelassen
werden dürfe. Dieses Besuchsverbot politischer Gefangenen gelte
für alle Ausländer.
Das Gefängnis in Haymana, am
Rande des kleinen Ortes, ist ein
altes Gefängnis in altem Gemäuer für ca. 50 Inhaftierte, die sich
zu viert eine Zelle von ca. 16 qm
teilen müssen und von dort jeweils Zugang zu einem kleinen
Innenhof haben. Eine mannshohe Mauer mit aufgesetztem Stacheldrahtverhau umgibt das Gefängnis im Abstand von ca. 2025 m. Nur vom vergitterten Eingangstor aus hat man ungehinderten Einblick in den Vorhof
und den Eingangsbereich des Gefängnisses. Während wir vor diesem vergitterten Tor warteten, erschien überraschend IBRAHIM
AKSOY an der Tür des Gefängnisses, hob die Arme und winkte
uns zu.
Er hatte unsere Botschaft und
Grüße erhalten. Wir winkten
zurück, solange das aufmerksam
gewordene Wachpersonal dies
zuließ. Wir haben IBRAHIM
AKSOY gesehen. Er hat uns gesehen und weiß von unserer Delegation; insofern war unser Besuch trotz des Verbots nicht ohne
Erfolg.
Zusammenfassung und Bewertung,
Empfehlungen und Konsequenzen
Die Kernaussagen und Schwerpunkte aller Gespräche lassen
sich in vier Punkten zusammenfassen:
I. Systematische Folter,
vom Staat gedeckt
Folter wird - nach allen Informa-
tionen, die wir haben - in der
Türkei weiterhin systematisch in
einem erschreckenden Ausmaß
angewendet. Entgegen aller Zusagen und Versprechungen, diese
Praxis zu ändern, muß davon
ausgegangen werden, daß Folter
mit staatlicher Unterstützung ge-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KURDENVERFOLGUNG
schieht und daß Folterer vom
Staat gedeckt werden und straffrei bleiben.
Die Türkei hat 1988 die Europäische Antifolterkonvention und
das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die Folter,
1995 die Konvention über die
Rechte des Kindes ratifiziert.
Auch die einstimmige Verurteilung der türkischen Regierung
wegen "weitverbreiteter ..., ständiger ..., vorsätzlicher ... und systematischer Folter" durch das
Komitee gegen Folter (CAT) der
Vereinten Nationen 1993 hat die
Regierung zu keinerlei Maßnahmen veranlaßt, diese Praxis abzustellen und zu verhindern. Auch
die Berichte des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen
über Folter von 1995 und 1996
bestätigen erneut diese Vorwürfe.
Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat die Türkei
im Dezember 1996 erstmals wegen (1992 erfolgter) Folterungen
verurteilt; mehrere hundert Klagen gegen die Türkei liegen der
Europäischen Menschenrechtskommission noch vor. Dies alles
läßt die türkische Regierung und
die türkische Staatsmacht einschließlich der Militärs offensichtlich
unberührt.
Folter scheint - allen gelegentlichen und wiederholten Ankündigungen zum Trotz - eine "Säule
türkischer Politik", zum Bestandteil der herrschenden "Rechtsund Sicherheitskultur" der Türkei
geworden zu sein.
Selbst Kinder und Jugendliche
bleiben nicht verschont. Damit
verstößt die Türkei in eklatanter
Form auch gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen, unter anderem gegen
die Art. 3, 19, 34 und 37 der
Konvention.
II. Zunehmende Rechtsunsicherheit und Unberechenbarkeit durch die Aushöhlung
und Zerstörung demokratischer Institutionen
Fortgesetzte Verstöße gegen die
Menschenrechte, willkürliche
Festnahmen, Polizeiterror, ungesetzliche Haft, Verschleppungen,
Überfälle, Anschläge und Morde
durch Privatarmeen und Todesschwadrone, die Korruption in
der Regierung, stilles und offenes
Einvernehmen zwischen Justiz,
Politik und Militärs über die Verfolgung und "Kriminalisierung"
Unschuldiger sowie die Begünstigung und Deckung der Täter
deuten auf die Aushöhlung
rechtsstaatlicher Institutionen der
Türkei hin.
Allen Gesprächen und Aussagen
war die Eindringlichkeit gemeinsam, mit der unsere Gesprächspartner immer wieder auf den
Gegensatz zwischen dem Vorhandensein, der "formalen" Existenz der Institutionen eines demokratischen Rechtsstaates einerseits und ihres zunehmenden
Mißbrauchs, ihrer ständigen Aushöhlung und Instrumentalisierung durch Regierung, Militärs
und rechte Staatsparteien einschließlich ihrer eigenen "Sicherheitsorgane" - andererseits
hinwiesen.
Kaum einer unserer Gesprächspartner, der nicht aus persönlicher Erfahrung oder aus seinem
engsten Umfeld über Festnahmen, Inhaftierungen, Folter, Verschleppungen und Vertreibungen
berichten konnte.
"Susurluk" scheint zum Synonym
für die engen Verbindungen und
Verstrickungen von und zwischen
Sicherheitsdienst, Mafia und Politik in der Türkei geworden zu
sein. Der Gegensatz, der wachsende Widerspruch zwischen
Recht und Rechtsanwendung
wurde von unseren Gesprächspartnern eindringlich vermittelt
("Die Türkei ist gesetzlos").
Immer wieder wurde von den
Gesprächspartnern auch darauf
hingewiesen, daß die enormen
Kriegslasten der hochverschuldeten Türkei die sozialen und wirtschaftlichen Gefahren noch verschärften, was radikale und fundamentalistische Strömungen begünstigen könne. Diese Lage
werde wiederum von den Militärs
benutzt, sich als Garanten von Sicherheit und Ordnung zu präsentieren. Die Militärs verschärften
so die Gegensätze in der Bevölkerung und zwischen den ethnischen - religiösen Gruppen.
Mehrere Gesprächpartner wiesen
vor diesem Hintergrund mit Sorge auf das Beispiel `Algerien´
hin.
III. Behinderung und Zerstörung der kurdischen Kultur
und der kurdischen Sprache
Der türkische Staat scheint mit einer neuen Offensive zur Zerstörung der kurdischen Kultur
und der kurdischen Sprache zu
beginnen.
Verbote von Sprachkursen durch
das Bildungsministerium - trotz
der Erlaubnis und gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts -, Berichte über Pläne zur
"Türkisierung" der kurdischen Kinder in staatlichen "Zwangskindergärten" lassen neue, sehr ernst zu
nehmende offene und indirekte
Bemühungen erkennen, den Gebrauch der kurdischen Sprache
und das Bekenntnis zur kurdischen Identität zu kriminalisieren
und weiter "einzudämmen" und
so die kurdische Sprache und
Kultur zu zerstören.
Kaum einer unserer Gesprächspartner, der
nicht aus persönlicher Erfahrung oder aus
seinem engsten
Umfeld über
Festnahmen, Inhaftierungen,
Folter, Verschleppungen
und Vertreibungen berichten
konnte.
In diesem Zusammenhang erscheint ein "vertraulicher" Bericht
des Nationalen Sicherheitsrates
aufschlußreich, in dem vor der
"kurdischen Gefahr" wegen der
höheren Geburtenrate der kurdischen Bevölkerung gewarnt wird.
Danach hätte diese bis zum Jahr
2025 die 50%-Grenze überschritten. Um "schwerwiegende Folgen" zu verhindern, schlägt der
Bericht eine Familienplanungskampagne in der kurdischen Region vor. In diesem Bericht wird
ebenfalls bestätigt, daß Maßnahmen der "inneren Sicherheit", insbesondere der Kampf gegen den
Terrorismus - für die nach dem
Gesetz der Innenminister zuständig ist - nun ganz und gar vom
Militär übernommen worden sind
(laut CILDKET 51/96 und 52/96,
zitiert aus "Nützliche Nachrichten"
1/97 des Dialogkreises).
IV. Rückkehrgefährdung abgeschobener
Asylbewerber/innen aus
Deutschland
Unsere Gesprächspartner trugen
vor, es bestehe eine unmittelbare
Gefährdung eines großen Teils
15
KURDENVERFOLGUNG
der aus der Bundesrepublik
Deutschland abgeschobenen
Flüchtlinge. Auch nach wiederholter Befragung bestätigten die
Gesprächspartner - unabhängig
voneinander - ihre Aussagen. Sie
erklärten:
Wer nach der Rückkehr aus
Deutschland im Verhör
- als Kurde
- als Alevit
- als politisch links-stehend
identifiziert wird, sei jederzeit in
Gefahr, geschlagen, mißhandelt
oder gefoltert zu werden.
Wer nach der
Rückkehr aus
Deutschland im
Verhör
- als Kurde
- als Alevit
- als politisch
links-stehend
identifiziert
wird, sei jederzeit in Gefahr,
geschlagen,
mißhandelt oder
gefoltert zu werden.
Alle Gesprächspartner lehnten
deshalb entschieden die gegenwärtige Abschiebepraxis ab. Absprachen mit der türkischen Regierung seien nicht hilfreich, weil
die türkische Seite ihre Zusagen
nicht einhalte.
Eine Gefährdung abgeschobener
Asylbewerber/innen könne sich
nach Auffassung unserer Gesprächspartner bereits aus der
Teilnahme an in der Bundesrepublik legalen, d.h. zugelassenen
Demonstrationen ergeben; viele
Rückkehrer meldeten erlittene
Mißhandlungen und Folterungen
"anonym" und tauchten aus
Angst vor weiteren Nachstellungen und Verhaftungen unter. Die
Rückkehrgefährdung müsse sich
nicht unmittelbar nach der Ankunft ergeben - sie bestehe zeitversetzt immanent fort.
So sei Mehmet Kaya im Oktober
1993 aus Deutschland in die Türkei abgeschoben worden; er sei
am 24. Juni 1996 in der Türkei
von Mitgliedern der "Türkischen
Rachearmee" (Türk Intikam Tugayi) ermordet worden, als er
sich auf dem Heimweg von einem Kongreß der Kurdischen Demokratischen Partei (HADEP) befunden habe. (Quelle: PRO ASYL)
Die Forderung der Menschenrechtsvereinigungen in der Türkei
an die Bundesregierung ist deutlich: "Abschiebungen von Flüchtlingen sollen ausgesetzt werden,
weil das, was mit ihnen geschieht
und passieren kann, zunehmend
nicht mehr berechenbar ist!"
16
Empfehlungen
und
Konsequenzen
Die zentralen Aussagen unserer
Gesprächspartner lassen u. E. in
der Zusammenschau eine neue
Qualität hinsichtlich des Ausmaßes und der Intensität von
Menschenrechtsverletzungen in
der Türkei erkennen.
Aus ihren Kernaussagen müssen
Konsequenzen für die deutsche
Politik gezogen werden. Die Aussagen stimmen nicht mit den Erklärungen der Bundesregierung,
den Lageberichten des Auswärtigen Amtes und den Einschätzungen der Innenminister über die
aktuelle Menschenrechtslage in
der Türkei sowie über die Rückkehrgefährdung abgeschobener
Asylbewerber/innen überein. Wir
haben keine Veranlassung, die
Glaubwürdigkeit unserer Gesprächspartner in Frage zu stellen, deren Berichte auch von anderen Stellen immer wieder bestätigt worden sind. Innenminister, Auswärtiges Amt und Bundesregierung dürfen sich deshalb
nicht über ihre Aussagen, Argumente und Urteile einfach hinwegsetzen.
Die Kenntnis und Prüfung der
Aussagen und Berichte unserer
Gesprächspartner sollte es den
Verantwortlichen in Regierung
und Parlament möglich machen,
eine Neubewertung der Bonner
Haltung und der deutschen Politik gegenüber der Türkei vorzunehmen. Dies gilt für die Außenwie für die Innenpolitik:
1. Wenn in der Türkei systematisch gefoltert und die Folter in
der Staatspraxis weiterhin ohne
energische Gegenmaßnahmen
hingenommen wird, dann kann
dies nicht ohne Auswirkungen
auf die deutsche Außenpolitik
gegenüber der Türkei bleiben.
Der Bundesaußenminister muß
deshalb handeln - im Interesse
der deutsch-türkischen Freundschaft und im Interesse der Menschen in der Türkei, die trotz aller
Repressalien immer wieder die
Einhaltung der Menschenrechte
einfordern.
2. Die Innenminister der Länder
dürfen abgelehnte Asylbewerber/innen nur dann in die Türkei
abschieben, wenn sie sicher sind,
daß diesen dort keine menschenrechtswidrige Behandlung droht.
Wir wissen, daß nicht alle Ausländer/innen, die in der Bundesrepublik Deutschland um politisches Asyl nachsuchen, auch
wirklich verfolgt sind und deshalb
auch wirklich einen Asylanspruch
haben. Das gilt auch für Asylbewerber/innen aus der Türkei.
Aber auch dem Asylbewerber gegenüber, dem kein Asyl in der
Bundesrepublik Deutschland gewährt und der deshalb in seine
Heimat zurückgeschickt wird, hat
die Bundesrepublik Deutschland
Schutzpflichten.
Den Hinweisen aus der Türkei,
daß in die Türkei abgeschobene
Kurden, Aleviten und Angehörige
bestimmter politischer Gruppen
immer mit der Möglichkeit der
Folter zu rechnen haben, müssen
die Innenminister nachgehen,
denn keine deutsche Regierung
oder Behörde darf durch Abschiebungen an menschenrechtswidrigen Maßnahmen anderer
Staaten mitwirken.
3. Wir erwarten deshalb, daß das
Auswärtige Amt Kontakt zu unseren Gesprächspartnern, insbesondere zum türkischen Menschenrechtsverein (IHD) und zur
türkischen Menschenrechtsstiftung (TIHV) aufnimmt und zu deren Aussagen in einem ergänzenden Lagebericht „Türkei" konkret
Stellung nimmt.
Von den Innenministern der Länder erwarten wir, daß sie sich bei
ihren Entscheidungen über die
Abschiebung von Asylbewerbern
in die Türkei konkret mit den
Aussagen unserer Gesprächspartner über die Lage der Menschenrechte in der Türkei auseinandersetzen.
Frankfurt, Düsseldorf, Bremen,
den 17. Mai 1997
gez.
gez.
gez.
gez.
Dr. Herbert Schnoor
Dr. Arendt Hindriksen
Heiko Kauffmann
Jörn-Erik Gutheil
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGUNG VON KURDEN
F
amilie Arslan hat drei schlechte
Jahre hinter sich: 1994 Verhaftung und Folterung des Vaters
durch türkische Sicherheitskräfte,
1995 Flucht nach Deutschland,
1996 Ablehnung des Asylgesuchs
durch die deutschen Behörden.
Der Vater, Emin Arslan, besaß bis
zu seiner Flucht ein Restaurant in
Viransehir, einem kleinen Ort in
der Osttürkei. Daß er gelegentlich
der kurdischen Arbeiterpartei PKK
Lebensmittelspenden zukommen
ließ, ist in den vorwiegend von
Kurden bewohnten Provinzen im
Südosten der Türkei nichts besonderes. Die politische Forderung der PKK nach einem unabhängigen kurdischen Staat findet
breite Unterstützung in der Bevölkerung. Die Anwendung der
Gewalt durch die PKK wird jedoch von vielen, so auch Emin,
abgelehnt.
Die Lebensmittelspenden sollten
für Emin Arslan fatale Folgen haben. Am frühen Morgen des 14.
Februar 1994 holten ihn Mitglieder einer Polizeisondereinheit zu
Hause ab. Sie brachten ihn gefesselt und mit verbundenen Augen
in ein Gebäude. Nach zwei Tagen
des ungewissen Wartens wurde
er zum Verhör abgeholt. Er mußte sich nackt ausziehen und die
Handgelenke in von der Decke
hängendende Metallschellen legen. Diese wurden dann nach
oben gezogen, so daß er gerade
noch auf den Zehenspitzen stehen konnte. Dann wurde er mit
eiskaltem Wasser abgespritzt und
mit Stöcken bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen. Die Polizei legte
ihm einen Mord oder zumindest
die Mitwisserschaft zur Last.
Außerdem wurde ihm eine Verbindung zur PKK vorgeworfen.
Auch in anschließenden Verhören
wurde er geschlagen und mit
Fußtritten traktiert. Bis Ende Februar dauerte dies Martyrium.
Während dieser Zeit wußte seine
Familie nichts über seinen Verbleib.
Fortwährende Schikane
Nach der Gerichtsverhandlung
am 28. Februar wurde er unter
der Bedingung freigelassen, sich
täglich auf der Polizeiwache zu
melden. Auch nach seiner Entlassung war er fortwährenden Schikanen ausgesetzt. Mitglieder ei-
ner Polizeisondereinheit suchten
ihn in seinem Restaurant auf und
beschimpften ihn. Für Emin Arslan waren diese Besuche ein
deutliches Signal für weiteres Unheil. Das Gefühl, bedroht zu werden, wuchs zu einer Angst um
sein Leben und das seiner Familie, als zwei seiner Verwandten,
die mit ihm verhaftet worden
waren, Anfang 1995 ermordet
und von Folter gekennzeichnet
aufgefunden wurden. Daraufhin
versteckte er sich mit seiner Familie außerhalb von Viransehirs.
Hiermit machte er sich jedoch
straffällig, da er der Auflage des
Gerichts, sich täglich bei der Polizei zu melden, nicht mehr nachkommen konnte. Daher war auch
an eine Flucht in den Westen der
Türkei nicht zu denken. Der einziger Ausweg, sich vor einer möglichen Bedrohung zu retten, bestand darin, das Land zu verlassen.
Die Flucht nach Deutschland sollte jedoch nicht die erhoffte Sicherheit bringen. Der Asylantrag
der Familie wurde vom Bundesamt für die Anerkennung von
Asylbewerbern abgelehnt. Die
ablehnende Entscheidung des
daraufhin angerufenen Verwaltungsgerichts Hannover wird damit begründet, daß die Verhaftung von Emin Arslan "im Zusammenhang mit einer Strafverfolgungsaktion" geschehen sei. Die
Tatsache, daß Emin Arslan gefoltert wurde, wird vom Gericht
hierbei gar nicht verneint. Im Gegenteil. Es bestätigt, daß Herr
Arslan viele Einzelheiten schildern
konnte. Dennoch befindet das
Gericht, daß Abschiebungshindernisse wegen Foltergefahr nicht
vorlägen, da er sich durch zwei
falsche Datumsangaben unglaubwürdig gemacht habe. In dem
einen Fall hatte er jedoch die Angaben aus seiner Anhörung
vorm Bundesamt bei Gericht korrigiert, in dem anderen Fall ließ
sich die Datumsangabe durch eine Verwechslung erklären. Angesichts der Angst vieler Flüchtlinge
vor Gericht und der geringen Bedeutung von Kalenderdaten in
seinem bisherigen Leben verwundert dies nicht. Der Richter
ließ sich hiervon nicht beeindrucken. In völliger Unkenntnis
der Sachlage stellte er zudem
fest, daß die Familie ja im Westen
der Türkei Zuflucht finden könn-
Flucht vor Folter
Kurdische Familie sucht Zuflucht in einer
Kirchengemeinde, da laut Verwaltungsgericht trotz Folter keine Abschiebungshindernisse vorliegen
Malte Schubert*
te. Hier wäre Emin Arslan jedoch
in zweifacher Weise vor einer
Verfolgung nicht sicher gewesen:
Kurden unterliegen auch im Westen des Landes einer zunehmenden Verfolgung. Außerdem war
er den Auflagen des Gerichts
nicht nachgekommen. Eine Verhaftung mit erneuter Folter wäre
höchstwahrscheinlich.
Skandalös an der richterlichen
Entscheidung ist auch, daß versäumt wurde, die Gefahr einer
Wiederholung der Folter als Abschiebehindernis nach § 53 Ausländergesetz zu berücksichtigen.
Dieser Paragraph soll Personen,
denen kein Asyl gewährt wird,
Schutz vor Folter gewähren.
amnesty international wandte
sich daraufhin mit der Bitte an
den Petitionsausschuß des Bundestages, auf Bundesinnenminister Kanther in der Weise einzuwirken, für Familie Arslan ein Abschiebungshindernis festzustellen.
Die Entscheidung des Bundesamtes im Hinblick auf Abschiebungshindernisse ist nämlich weisungsgebunden. Dadurch besteht
die Möglichkeit, die Entscheidung zu beeinflussen. Auch die
gerichtliche Bestätigung steht
dieser Einwirkungsmöglichkeit
nicht entgegen.
Auf einer Pressekonferenz, die
zusammen mit der Kirchengemeinde veranstaltet wurde, sollte
auf das Schicksal der Familie hingewiesen werden. Die Resonanz
in den Medien und der Bevölkerung war hervorragend. Binnen
weniger Wochen konnten mehrere tausend Unterschriften gesammelt werden.
Die Flucht nach
Deutschland
sollte jedoch
nicht die erhoffte Sicherheit
bringen.
* Malte Schubert ist Pressesprecher von
amnesty international Bezirk Hannover. Die Familie Arslan
wurde von Peggy Kupiers, ebenfalls ai Hannover, betreut.
25
VERFOLGUNG VON KURDEN
Haß-Briefe gegen
das Kirchenasyl
Pfarrer schildert Anfeindungen
Hilfe der Polizei vermißt
Eckart Spoo*
In Hannover
sind es vor allem FlugblattPamphlete der
Statt-Partei, mit
denen die BürgerInnen angesprochen werden, die offensichtlich auch
der Innenminister für die
Mehrheit seiner
Wähler hält.
Pfarrer von Gemeinden, in denen
ausländische flüchtlinge Kirchenasyl gefunden haben, werden
von Rassisten mit Haß verfolgt.
Nicht nur in Lübeck, wo man
nach dem Brand in der St. Vicelin-Kirche den Namen eines solchen Pfarrers und mehrere Hakenkreuze an die Wand geschmiert fand. Auch in Hannover.
Seit die Gerhard- Uhlhorn- Gemeinde in Hannover- Linden eine
Gruppe von Nigerianern aufgenommen hat, die in aktiver Opposition zum Militärregime in ihrer Heimat stehen, erhält Pastor
Frank-Peter Schultz neben Zuspruch, tatkräftiger Unterstützung und vielen Spenden auch
manche Briefe und Anrufe, die
ihn erschrecken. bei der Kriminalpolizei, berichtet er im Gespräch
mit der FR, finde er gegen die
Drohungen keine Hilfe.
Es begann damit, daß ihn ein
junger Mann, Jura-Student, telefonisch attakkierte und an alle
haushalte in der Umgebung der
Kirche Flugblätter verteilte. Die
Empfänger wurden aufgefordert,
dafür zu sorgen, „daß der
Mißbrauch mit dem sog. Kirchenasyl ein Ende hat und Wirtschaftsflüchtlinge, die sich hier
alimentieren lassen wollen, nach
Recht und Gesetz abgeschoben
werden". Die Bürger müßten „sofort handeln".
Der Flugblatt- Verantwortliche erstattete auch Strafanzeige gegen
Schultz und einen zweiten Pfarrer
wegen Beihilfe zur Verhinderung
von Abschiebungen. Das Verfahren ist inzwischen bei der Gene-
* in der Frankfurter Rundschau vom28.05.1997
26
ralstaatsanwaltschaft in Celle anhängig. Der Student wandte sich
ferner ans niedersächsische Innenministerium: Eine in der Gemeinde tätige ABM-Kraft helfe
bei der Betreuung der Nigerianer,
was doch nicht rechtmäßig sei.
Das Ministerium schaltete
prompt das Arbeitsamt ein, das
einen Kontrolleur in die gemeinde entsandte.
Mit Namen, Anschrift und Telefonnummer sowie „Deutschem
Gruß" meldete sich bei Schultz
ein Briefschreiber, der in schlechtem Deutsch wissen ließ, illegale
Flüchtlinge gehörten „in die
Zuchthäuser und Zwangsarbeitslager ihrer Heimatsländer". Der
Absender verlangte „äußerste
Härte, Null-Toleranz". Es kamen
auch anonyme Schreiben, darunter eines, in dem Frank-Peter
Schultz als „Pastorenschwein"
beschimpft wurde, weil er „Beihilfe zum Diebstahl von Sozialhilfe und Förderung der Verrassung
und Bastardisierung Deutschland"
leiste. Ähnliche Schreiben gingen
anderen Gemeinden zu,die Kirchenasyl gewährt haben. Ein
Brief an Schultz endete mit dem
Satz: „dein Kadaver wird der
nächsten Müllverbrennungsanlage zur Entsorgung zugeführt."
Der Pfarrer erstattete dreimal
Anzeige. Im Gegensatz zu den
gegen ihn selber eingeleiteten Ermittlungen wurden die von ihm
beantragten jeweils rasch eingestellt.
Für die abgelehnten Asylbewerber aus Nigeria wurden Folgeanträge gestellt, die beim Verwaltungsgericht schmoren; in einem
vorläufigen Bescheid meinte die
zuständige Richterin, außer „verschärften Vernehmungen" hätten
die Flüchtlinge nach einer Abschiebung doch wohl nichts zu
befürchten. Jetzt hofft die gemeinde, daß ihre Schützlinge in
Kanada Zuflucht finden werden.
Die dortige Beamten, erfuhr
Schultz, hätten die Fälle gründlich geprüft; zwei Nigerianer
könnten voraussichtlich im Juli
die Reise antreten.
Kirchenasyl
Freispruch für “illegalen” kurdischen Flüchtling
BI Asyl, Presse-Erklärung vom 5.6.97
Nach einer 4-stündigen Berufungsverhandlungen am 4. 6. 97
hob das Landgericht Regensburg
auf, in dem Nuri Bekiroglu wegen
„illegalem Aufenthalt" zu 50 Tagessätzen à 8 DM verurteilt worden war. Der kurdische Flüchtling
wurde freigesprochen.
Zur Vorgeschichte: 1994 und
1995 befand sich Nuri Bekiroglu
zeitweilig im Schutz einer Kirche
bzw. der BI Asyl. Dies wurde damals sofort den Zuständigen der
Stadt und der Öffentlichkeit mitgeteilt und erregte großes Aufsehen. Auch die Medien berichteten.
Durch diesen Schutz wurden die
beabsichtigten Abschiebungen in
der Türkei verhindert. Aufgrund
seiner vielfältigen politischen Aktivitäten für die Rechte seines
kurdischen Volkes drohen Nuri
Bekiroglu in der Türkei zumindest
Inhaftierung und Folter.
Wegen „illegalem Aufenthalt" in
diesem Zeiträumen wurde er vom
Amtsgericht Regensburg im Juni
1996 zu oben genannter Strafe
verurteilt. Gegen dieses Urteil erhob sowohl die Staatsanwaltschaft Berufung (ihr erschien das
Strafmaß zu gering als auch Nuri
Bekiroglu. vertreten durch seine
Rechtanwältin Frau Schenk. die
auf Freispruch plädierte.
Zur Urteilsbegründung: Nachdem
in der Verhandlung die Sachlage
ausführlich erörtert worden war,
begründete der Vorsitzende Richter mündlich die Aufhebung des
Amtsgerichturteiles und die Freisprechung zusammengefaßt wie
folgt:
Nuri Bekiroglu befand sich wegen
der geplanten Abschiebung in einer Notlage. Er befürchtete. in
der Türkei festgehalten und inhaftiert zu werden. Daß ihm dies
im Fall der Abschiebung tatsäch-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGUNG VON KURDEN
lich gedroht hatte, kann nach seinen Erläuterungen seiner Anwältin und ai, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und
Auswärtiges Amt nicht ausgeschlossen werden. Das Rechtsgut
der körperlichen Unversehrtheit
ist höher zu werten als die Ausreisepflicht. Deshalb ist sein Verstoß gegen die Ausreisepflicht
nicht rechtswidrig.
Der Vorsitzende Richter bemerkte
abschließend, das in der Ver-
handlung die Verhältnisse in der
Türkei nur bis März 1995 (der
Zeitraum der drohenden Abschiebung) und die daraus möglichen
Gefahren für Nuri Bekiroglu geprüft worden seien, und sein
Freispruch insoweit nicht verallgemeinert werden könne.
IHD-Bilanz
April 97
Ermordungen von Kurden
Der Menschenrechtsverein veröffentlichte die Bilanz der ihm bekannt gewordenen Menschenrechtsverletzungen (in der Türkei
und in Kurdistan) im April 97:
Festnahmen
von Pressemitarbeitern
623
27
36
41
Angriffe auf Pressemitarbeiter11
Beschlagnahmte Ausgaben
von Publikationen
28
Polizeiüberfälle
auf Büros von Zeitungen
u. Publikationen
10
Von Sicherheitskräften
erschossen, da angeblich der
Aufforderung stehenzubleiben
nicht nachgekommen
3
In der Haft "verschwunden"
Menschen
Bombenanschläge
5
14
Anklage des Staatssicherheitsgerichts Istanbul gegen
7
Vorstandsmitglieder des IHD wegen "separatistischer Propaganda" (wegen einem bei einer
Durchsuchung beschlagnahmten
Videofilm.)
* KURD-SOL-H@trilos.han.de
Das Rechtsgut
der körperlichen
Unversehrtheit
ist höher zu werten als die Ausreisepflicht.
im Krankenhaus des Kurdischen Roten Halbmonds
Kurdistan-Solidarität Hannover*
Festnahmen
davon Kinder
Haftbefehle
Kurzbewertung:
Eine schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Wir
begrüßen dieses Urteil und freu-
en uns darüber. Das Urteil hat
großer prinzipielle Bedeutung,
auch wenn es (verständlicherweise) nicht verallgemeinert werden
kann.
Wir erwarten nun, daß die vor 2
Jahren in die Wege geleiteten Ermittlungen gegen uns (BI Asyl)
wegen Verdacht auf Beihilfe zum
illegalen Aufenthalt von Nuri Bekiroglu endlich eingestellt werden.
Prof. Dr. Ulrich Gottstein (IPPNW Deutschland)
DRINGENDE NOTWENDIGKEIT:
Die deutsche Bundesregierung
muß von den USA ein sofortiges
Eingreifen in dieser von den UN
anerkannten Schutzzone verlangen.
Das Internationale Komitee vom
Roten Kreuz muß ebenfalls sofort
aktiv werden, um weitere Ermordungen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und Übergriffe auf Patienten in den Krankenhäusern verhindern zu helfen.
nachdem Hilferufe vom Kurdischen Roten Halbmond hier soeben eingingen: WIE IN SREBRENICA SCHAUT DIE WELT ZU,
während eine fremde Macht, mit
Unterstützung durch lokale Profiteure, hunderte oder tausende
von Männern, Frauen und Kindern ERMORDET, sowie Frauen
vergewaltigt werden.
Nicht nur wird erneut das Vertrauen in UN und US-Schutzzonen total zerstört, sondern wiederum wird der Verdacht
genährt, daß die UN und USA
nur dann mit diplomatischem
Druck und Gewaltandrohung reagieren, wenn das Vorkommen
von Öl (Golfkrieg) oder ein politischer Vorteil gesichert werden
sollen.
Dabei sind es die Forderungen
und Hoffnungen der Menschen
der Welt, daß Menschlichkeit und
Menschenrechte verteidigt werden. Wichtiger als NATO-Osterweiterung wäre es, Sorge zu tragen, daß das NATO-Mitglied Türkei gezwungen wird, von kriegerischer Invasion Iraks abzusehen
und endlich den Krieg gegen die
Mehrheit des Kurdischen Volks zu
beenden.
JETZT ABER IST IHRE DRINGENDE
INTERVENTION NÖTIG! BITTE
HELFEN SIE !
Sehr verehrter Herr Minister, sehr
verehrter Herr Präsident,
Mit sorgenvollen Grüßen,
gez. Prof.Dr. Gottstein
ich schreibe mit der dringenden
Bitte um sofortige Intervention,
* aus Presse-Erklärung vom 19,5.97 über
Isi@kurbel.Infodrom.North.DE (Isgard Lechleitner)
Im folgenden dokumentieren wir
das Schreiben von Prof. Dr. Ulrich
Gottstein (IPPNW Deutschland)
vom 18.5.1997 an den Bundesaußenminister, Dr. K. Kinkel und
dem Präsidenten des Deutschen
Roten Kreuzes, Prof. Dr.K. Ipsen,
zu den Morden an der kurdischen Zivilbevölkerung in Erbil
durch Angehörige der KDP und
des türkischen Geheimdienstes
(MIT):
betrifft: ERMORDUNGEN VON
KURDEN IM KRANKENHAUS des
Kurdischen Roten Halbmonds in
ERBIL/Nordirak, sowie MASSENERMORDUNGEN AUF DEN
STRASSEN von ERBIL durch
TÜRKISCHEN Geheimdienst, Militär sowie KDP-Kämpfer von MESUT BARZANI
27
VERFOLGUNG VON KURDEN
Kurdische Kriegsdienstverweigerer
Besonders schlimmer Fall von
Behördenignoranz DFG-VK fordert Bleiberecht für
kurdische Familie
Deutsche Friedensgesellschaft
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen NRW
und DFG-VK Bildungswerk NRW e.V*
Welche Konsequenzen es hast,
wenn ein kurdischer Alevit den
Kriegsdienst in
seiner Heimat
verweigert, dazu
braucht es nicht
viel Phantasie.
Die Familie Dalmirzak lebt derzeit
in schrecklicher Angst. Das Ordnungsamt der Stadt
Mülheim/Ruhr möchte gegen sie
spätestens zum 20. Juni dieses
Jahres „aufenthaltsbeendende
Maßnahmen", d.h. die Abschiebung in die Türkei, gegen die
kurdisch alevitische Familie „einleiten".
Die beiden Söhne Ecevit und Deniz sind Kriegsdienstverweigerer
und müssen bei der Abschiebung
in die Türkei mit drakonischen
Strafen rechnen. Bekanntlich
gibt es in der Türkei kein Recht
auf Kriegsdienstverweigerung,
obwohl dies ein anerkanntes internationales Menschenrecht ist.
Kriegsdienstverweigerer müssen
sich auf hohe Haftstrafen, auf
Folter und schlimmstenfalls auf
ihr „Verschwinden" einstellen.
Manfred Stein, Leiter des Ordnungsamtes Mülheim/Ruhr,
schiebt diese Tatsache laut WAZ
vom 27.5.97 mit der lapidaren
Bemerkung beiseite, daß man in
einem „demokratischen Land den
Militärdienst nicht so einfach verweigern kann".
Daß Deutschland für die Familie
Dalmirzak zur zweiten Heimat
geworden ist, sei hier nur kurz
erwähnt. Die Söhne haben nach
* Presse-Erklärung
dfg-vk.nrw@anarch.free.de vom 02.06.97
28
Beendigung ihrer Schule einen
Ausbildungsplatz erhalten und
auch ihr Vater hat einen Arbeitsplatz (Dazu Originalton Manfred
Stein: „Wir sind kein Immigrationsland - bei fünf Millionen Arbeitslosen wüßte ich nicht, wieso
ein Arbeitsplatz ein Grund sein
sollte, den Aufenthalt zu gestatten.").
Die Aktionen ihrer Mitschüler für
sie - sie sammelten 800 Unterschriften für ein Bleiberecht - zeigen zusätzlich, daß Ecevit und
Deniz viele Freunde gewonnen
haben.
Nachdrücklich möchte die DFGVK noch einmal darauf hinweisen, daß kurdische Aleviten in der
Türkei unter einer besonderen
Verfolgung leiden.
Welche Konsequenzen es hast,
wenn ein kurdischer Alevit den
Kriegsdienst in seiner Heimat verweigert, dazu braucht es nicht
viel Phantasie.
Nur am Rande erwähnt sei, daß
der älteste Sohn der Familie, Jussuf Dalmirzak seit acht Jahren in
der Türkei „verschwunden" ist.
Die DFG-VK verurteilt das Vorhaben der Stadt Mülheim/Ruhr, die
Familie Dalmirzak abzuschieben.
Sie fordert ein unbeschränktes
Bleiberecht der Familie und ruft
zur gemeinsamen, bundesweiten
Solidarität mit der Familie Dalmirzak auf.
European Peace
Congress 98
- KDV und Asyl Vom 29.-31. Mai 1998 findet in
Osnabrück der European Peace
Congress statt.
Einer der drei Arbeitsschwerpunkte befaßt sich mit dem Thema “Kriegsdienstverweigerung,
Desertion und Asyl”.
Der Flüchtlingsrat arbeitet in der
Vorbereitungsgruppe u.a. mit
connection e.V. und amnesty international zusammen.
Schwerpunkt sind die ost- und
südosteuropäischen Länder.
Interessierte und arbeitswillige
Menschen wenden sich bitte an
Norbert Grehl-Schmitt, der dies
Projekt federführend im Flüchtlingsrat betreibt.
22 Jahre
Knast für
eine kurdische Fahne
Führungsmitglieder der kurdischen Partei Hadep in Ankara zu Haft verurteilt
Weil er beim Parteitag der einzigen legalen pro-kurdischen Partei, Hadep, eine türkische Flagge
abgerissen und sie durch eine
kurdische Fahne ersetzt hat, ist
ein junger Mann vom Staatssicherheitsgericht in Ankara zu einer Gefängnisstrafe von 22 Jahren und 6 Monaten verurteilt
worden. Außerdem wurden 31
Führungsmitglieder der Hadep
wegen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans
(KKP) zu Haftstrafen verurteilt,
der Hadep-Vorsitzende Murat
Bozlak und ein anderes führendes Parteimitglied zu jeweils 6
Jahren Haft.
Bei dem Parteitag im Juni 1996
hatten maskierte Männer die türkische Fahne heruntergerissen
und durch die kurdische Flagge
und ein Foto der PKK-Chefs Abdullah Öcalan ersetzt. Das genügte seinerzeit, um die Delegierten beim Verlassen des Parteitags
von der Polizei zusammenknüppeln zu lassen und gegen die
Parteiführung einen Prozeß anzustrengen. Nach dem Urteil wird
mit einem Verbot der Hadep gerechnet. Die Partei war 1994
nach dem Verbot ihrer Vorgängerpartei DEP gegründet worden.
Die gewählten Abgeordneten der
DEP waren zu langen Haftstrafen
verurteilt worden.
K u rz v o r Dru c k l e g u n g w i rd
b e k a n n t, d a ß a u c h K u d re t
G ö z ü to k z u 4 ½ Ja h re n H a f t
verurteilt worden ist.
F ra u G ö z ü to k i s t e i n e fü h re n d e H A DE P -F u n k ti o n ä ri n
u n d w a r a u f E i n l a du n g de s
Flüchtlingsrats auf einer
Vortragsreihe in Nieder sa c h se n u n d b e i de r Au s länderkomission.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGUNG VON KURDEN
D
ie Abgeordneten Lippmann-Kasten und Schröder (Grüne) hatten gefragt:
Wie aus Presseberichten zu entnehmen war, konnte am 16.01.
d.J. in letzter Minute die vom
Landkreis Schaumburg angeordnete Abschiebung einer kurdischen Mutter und ihrer vier Kinder aus Hülsenhagen in die Türkei durch Intervention des niedersächsischen Flüchtlingsrates gestoppt werden. Die unangekündigte Abschiebung war angeordnet worden, obwohl der Vater
der Kinder im Besitz einer bis
zum 31.01.97 gültigen Duldung
war, erklärt hatte, freiwillig auszureisen und sogar eine gemeinsame Ausreise der Familie gerichtlich angeordnet war. Obwohl
der Vater zum Zeitpunkt der Abholung der Familie durch die Beamten nicht zu hause war, wurden die Frau und die vier Kinder
zum Flughafen gebracht und
später durch eine Anordnung des
Innenministeriums wieder aus
dem Flugzeug geholt.
Wir fragen die Landesregierung:
1.Wie bewertet die Landesregierung das Vorgehen des Landkreises?
2.Wie ist das Vorgehen mit dem
Erlaß der Landesregierung vom
07.07.1997, wonach Familien
nicht getrennt abzuschieben sind,
in Einklang zu bringen?
4.Wird das Land dienstaufsichtsrechtliche Konsequenzen ziehen?
Innenminister Glogowski
beantwortete wie folgt:
“(...) Nachdem seine Asylanträge
erfolglos blieben, ist er seit Mitte
1995 vollziehbar ausreisepflichtig. Da die Asylverfahren seiner
Ehefrau und der gemeinsamen
Kinder seinerzeit noch anhängig
waren, wurde der Aufenthalt des
Familienvaters zunächst noch geduldet. Nach dem auch die Asylverfahren der Ehefrau und der
Kinder seit 01.08.1996 rechtskräftig negativ abgeschlossen
sind, ist die gesamte Familie vollziehbar zur Ausreise aus Deutschland verpflichtet. Da sie dieser
Verpflichtung nicht freiwillig
nachkommen ist, ersuchte der
Landkreis Schaumburg am
06.12.1996 das für die Koordinierung von Flugabschiebungen
zuständige Landeskriminalamt,
die Familie nunmehr zwangsweise in die Türkei zurückzuführen.
Am 16.01.1997 erhielt das Niedersächsische Innenministerium
Kenntnis von der unmittelbar bevorstehenden Abschiebung.
Da die Ausländer im Besitz von
bis zum 31.01.1997 gültigen
und als Duldungen zu qualifizierenden Bescheinigungen des
Landkreises Schaumburg waren,
veranlaßte des Innenministerium
die Aussetzung der Abschiebung.
Zu Frage 1:
Da der Aufenthalt der Familie
aufgrund der vom Landkreis
Schaumburg erteilten Bescheinigungen bis zum 31.01.1997 als
geduldet galt, war die Einleitung
der Abschiebung vor Ablauf dieser Frist unzulässig. Die Familie
durfte darauf vertrauen, daß eine
Abschiebung auch anderer Familienangehöriger vor Ablauf der
Duldungsfrist nicht erfolgen würde.
Zu Frage 2:
Um die gemeinsame Ausreise
asylsuchender Familienangehöriger bei unterschiedlichen Verfahrensständen zu ermöglichen,
kann nach § 43 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) der
Aufenthalt bereits ausreisepflichtiger Familienmitglieder im Rahmen einer Ermessenentscheidung
geduldet werden, bis die Verfahren der anderen abgeschlossen
sind. Mit Runderlaß des Innenministeriums vom 07.07.1994 wurden die Ausländerbehörden des
Landes Niedersachsen aufgefordert, dieses Ermessen grundsätzlich zugunsten der betroffenen
Ausländer auszuüben und ihnen
die gemeinsame Ausreise zu ermöglichen, es sei denn, die unverzügliche Beendigung des Aufenthalts einzelner Familienangehöriger ist aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unter den Voraussetzungen
der § 46 Nrn. 1-5 oder § 47 des
Ausländergesetzes (Ausweisungsgründe) geboten. Wenn aufgrund dieser Regelung der weitere Verbleib einzelner Familienmitglieder im Bundesgebiet bis zu
einem bestimmten Zeitpunkt geduldet wird, darf die Aufenthalts-
Auseinanderreißen
einer kurdischen
Familie
rechtswidriges Verhalten
des Landkreises Schaumburg
Antwort des Innenministers
Presseinformation Nr. 73/97 (Auszug)
bescheinigung erst nach diesem
Zeitpunkt oder nach schriftlichem
Widerruf der Duldung erfolgen.
Zur Klarstellung weise ich darauf
hin, daß die in der Fragestellung
enthaltene Aussage, der fragliche
Runderlaß verbiete die getrennte
Abschiebung von Familienangehörigen, unzutreffend ist. Die
Regelung soll es Familien unter
den genannten Umständen vielmehr ermöglichen, gemeinsam
auszureisen. Wenn die Familie
bzw. einzelne Familienmitglieder
diese Möglichkeit nicht nutzen,
entfalten § 43 Abs. 3 AsyVfG und
der Runderlaß vom 07. 07. 1994
keine Bindungswirkung mehr und
es sind aufenthaltsbeendende
Maßnahmen einzuleiten.
Zur Klarstellung
weise ich darauf
hin, daß die in
der Fragestellung enthaltene
Aussage, der
fragliche Runderlaß verbiete
die getrennte Abschiebung von
Familienangehörigen, unzutreffend ist.
Daneben war in diesem Einzelfall
der Runderlaß des Innenministeriums vom 28.11.1995 zur Vermeidung von Abschiebungen
und Abschiebungshaft zu beachten. Danach soll Familien mit Kindern in der Regel der konkrete
Abschiebungstermin angekündigt
werden, um ihnen Gelegenheit
zu geben, Vorbereitungen für die
Ausreise zu treffen.
Die vom Landkreis Schaumburg
vorgetragenen Gründe rechtfertigen im Fall der türkischen Familien ein Abweichen von dieser Regel nicht.
Zu Frage 4:
Der Landkreis wurde von der Bezirksregierung Hannover als zuständige Fachaufsichtsbehörde
entsprechend den Antworten auf
die Fragen 1 und 2 belehrt und
angewiesen, die Regelungen des
Runderlasses vom 28.11.1995 zu
beachten.
29
VERFOLGUNG VON KURDEN
APPELL VON HANNOVER:
„JOIN THE
WINNING SIDE
JOIN THE
PEACE TRAIN"
Europäischer Friendenszug nach Diyarbakir
Hans Branscheidt
Sehr geehrte Damen und Herren,
Im Nahen Osten gibt es keinen Frieden!
„Der Zug stellt einen Anschluß an Europa her.
Einen Anschluß Kurdistans. Der Türkei. Der
Friedenszug befördert
keinen militärisch-wirtschaftlich-diplomatischen
Anschluß, sondern die
Einführung menschlicher,
solidarischer, demokratischer Beziehungen auf
dem Weg zur Vollendung
eines zivilen Europas.
Dieser Zug irrt sich
nicht. Die Invasion ist
der Irrtum. Der Zug
kennt & äußert seine
Botschaft: „Es ist höchste Zeit für den Frieden".
Der Zug irrt nicht, weil
sein Motto die Erkenntnis der Menschen Europas ausdrückt, nicht die
Ansicht einer Minderheit
von Generälen. Der Zug
ist ein Pionierzug. Ein
Erstereignis. Gegründet
auf der Erwartung auf
allgemeine Demokratie.
Auf Einhaltung der Menschenrechte. Für Kurden
wie Türken. Auf Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Ein unschlagbarer Zug."
30
Wir alle wissen seit langem vom
Krieg in Kurdistan. Von den Menschenrechtsverletzungen der Türkei. Von den Opfern. Den Flüchtlingen und den vielen Menschen,
die gefoltert wurden.
In diesen Tagen schiebt sich die
Dampfwalze der Türkischen
Kriegsmaschinerie als tödlicher
Zug auf dem Wege einer völkerrechtswidrigen Invasion in die
Kurdengebiete des Nordirak. Erneut auch hier Tod & Verderben
stiftend. Die Option des Krieges
auf alle Ewigkeit verlängernd und
ausdehnend.
Entgegen dem Veto des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.
Entgegen den Friedens- und
Menschenrechtsvorstellungen des
Europäischen Parlaments. Entgegen den Friedensbekundungen
und der Verhandlungsbereitschaft der kurdischen Seite. Gegen auch unsere Bemühungen
und Aufrufe und Friedenskonferenzen, die unter dem Namen
Appell von Hannover Beachtung
fanden.
Der Entscheidung des Nationalen
Sicherheitsrates der Türkei für die
Fortsetzung und Ausdehnung des
Krieges wollen wir heute unsere
demokratische Friedensvorstellung entgegensetzen.
Wir schicken der Invasion einen
Friedenszug ins Haus.
Einen europäischen Friedenszug
der von Brüssel über Istanbul
nach Diyarbakir fährt. Ein Friedenszug mit dem Namen des ermordeten kurdischen Dichters
„MUSA ANTER". Einen Sonderzug
der europäischen Bundesbahnen
mit Menschen aus Deutschland
und ganz Europa. Die den Bevölkerungen der Türkei und Kurdistan den Friedenswunsch der
Völker Europas überbringen.
„ES IST HÖCHSTE ZEIT FÜR
DEN FRIEDEN IN KURDISTAN"
Diese Botschaft ist gerichtet an
die Regierung der Türkei. Verbunden mit der Erwartung auf Einhaltung der Menschenrechte. Auf
Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit.
Diese Botschaft wird in Istanbul
und Diyarbakir im Rahmen
großer Friedensfestivals ihre Bestätigung finden.
Die Botschaft des Friedenszuges
gründet auf vielfältigen Bekundungen des kurdischen und türkischen Volkes für den Frieden und
den politischen Dialog auf dem
Weg zu einer allgemeinen Demokratisierung. Jenseits aller Waffen.
Die Menschen des Europäischen
Friedenszuges erwarten während
ihrer Anwesenheit eine Antwort
der türkischen Regierung. Die
Antwort sollte die Vorstellungen
des kurdischen Volkes & die Forderungen des Europäischen Parlaments positiv berücksichtigen.
Ein Zeichen der Friedensbereitschaft der türkischen Regierung
wäre die sofortige Freilassung der
international bekannten Abgeordneten Leyla Zana und des renommierten Wissenschaftlers Ismail Besikci sowie aller anderen
inhaftierten Parlamentarier,
Schriftsteller und Journalisten.
Die Teilnehmer des Europäischen
Friedenszuges, darunter Vertreter
von namhaften Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Parteien,
Verbänden und NGO’s werden
vor ihrer Rückkehr in die Metropolen Europas in einem demonstrativen Akt den Friedenswunsch
der demokratischen Menschen
Kurdistans und der Türkei öffentlich bestätigen.
DAS VERSPRECHEN AUF DEMOKRATIE ERFORDERT DIE
FRIEDLICHE LÖSUNG DES
KONFLIKTS
Eine weite Reise für den Frieden
in einem großen Zug auf langer
Fahrt wird auch für die Beteiligten eine großartige solidarische
Möglichkeit der menschlichen Begegnung bieten. Eine lange Fahrt
mit Lesungen, Vorträgen und
Programmen in allen reservierten
Waggons.
ZUR TEILNAHME AN DIESEM
EREIGNIS WIRD HERZLICH EINGELADEN
NIE WAR EIN FRIEDENSZUG
WICHTIGER
FAHREN SIE MIT
Bitte fragen Sie uns nach den
Umständen und Bedingungen
der Mitreise.
Bitte fordern Sie die weiteren Informationen an.
Bitte unterzeichnen & begrüßen
Sie unsere Absicht auch im Falle
Ihrer Nichtteilnahme durch Ihre
Unterschrift.
Bitte unterstützten Sie in diesem
Fall auch das wichtige Vorhaben
durch Ihre Spende unter dem
Stichwort: „Friedenszug" auf das
Konto Hans Branscheidt, 3o 24
79 - 6o2 (BLZ 5oo 1oo 6o), Postgiro FFM.
Der folgende technische Intruktionsbrief soll Sie vorab über den
praktischen Ablauf der Reise informieren. Sie können den Anmeldebogen auch sofort ausfüllen.
Mit ganz herzlichem Dank und
guten Grüßen
Hans Branscheidt
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGUNG VON KURDEN
D
er große Friedenszug „MUSA
ANTER" nimmt Gestalt an.
Das Angebot der Deutschen Bundesbahn liegt endlich vor.
Dieses Schreiben geht an beide:
Mitreisende wie Unterstützer und
Befürworter. Mit der Bitte um genaue Lektüre. Mit der Bitte um
sofortige Rückantwort des ausgefüllten Fragebogens samt verbindlicher Teilnahmebestätigung.
Mit der gleichfalls dringenden
Bitte um sofortige Überweisung
des Fahrgeldes für den Zugtransfer. Und schließlich möchten wir
auch Ihre Programmwünsche für
die Zugreise wissen & womöglich
in Erfahrung bringen, ob sie selber etwas beitragen möchten?
DER START
Die 1o Waggons des SONDERZUGES starten in Brüssel am 26. August gegen 7.00 Uhr am frühen
Morgen. Am Vorabend der Abfahrt wird sich in Brüssel eine
große Europäische Friedenskundgebung ereignen, durch die Zug
und Reisende mit ihrer Botschaft
verabschiedet werden.
Die Reisezeit dauert insgesamt etwa 47 Stunden bis zur Ankunft
in Istanbul. Wir werden uns
bemühen, möglichst Liegewagen
zu reservieren, damit die Teilnehmer ausgeruht ankommen.
Die Route wird durch Aufenthalte
und Kurzveranstaltungen in verschiedenen an der Strecke liegenden Stationen unterbrochen:
Köln, Mainz, München, Wien,
Sofia.
Nach der Abfahrt aus Istanbul
wird der Zug an jeder Station auf
dem Weg nach Diyarbakir haltmachen.
Ankunft am 1. September 1997
zum Großen Friedensfest in
Diyarbakir.
WAS MAN WISSEN MUSS
Wir bitten alle Teilnehmer & Teilnehmerinnen möglichst in Brüssel
zuzusteigen: Des gemeinsamen
demonstrativen Startes wegen.
Der Zugang zum Zug ist aller-
dings auch an den oben genannten Stationen der Reiseroute
möglich. Die genauen Zeiten des
Eintreffens des SONDERZUGES
auf den verschiedenen Bahnhöfen werden wir noch mitteilen. Es
versteht sich, daß bei diesen Gelegenheiten nur verbindlich angemeldete Teilnehmer einsteigen
können, deren Namen auf den Listen unserer Zugbegleiter erfaßt
sind und abgehakt werden.
Der Zug wird einen Waggon für
Medienarbeit mit sich führen, der
mit Fax, Telephon und anderen
elektronischen Kommunikationsmitteln ausgerüstet ist.
Wir werden bemüht sein, in
Diyarbakir für die Teilnehmer Unterkünfte in Hotels zu für ein bis
zwei Tage zu mieten. Individuelle
Wünsche, etwa ein längerer Aufenthalt an Ort und Stelle, müssen
aus eigener Kraft realisiert werden.
Für die Rückreise nach Europa
(Deutschland) empfehlen wir
denn doch das Flugzeug. Wir
versuchen, eine Chartermöglichkeit von Istanbul zu arrangieren.
Wir haben nichts dagegen, wenn
Teilnehmergruppen aus bestimmten Ländern oder Regionen die
Rückflugcharter selber organisieren. Dies geht mühelos über jedes Reisebüro.
Nach unseren eigenen Berechnungen ergeben sich für die Reiseteilnahme Gesamtkosten in
Höhe von ca. 15oo.- DM. Dies
beinhaltet die Bahnfahrt, die Verpflegung, die Busrückfahrt nach
Istanbul, den Rückflug, die zwei
Übernachtungen und etwas Taschengeld.
Zur Bestätigung Ihrer verbindlichen Anmeldung bitten wir Sie
heute um - neben der Ausfüllung
des Anmeldebogens - die Überweisung von DM 7oo.- (Bahnfahrtkosten) auf das Konto Postgiro 3o 24 79 - 6 o2 (BLZ 5oo
1oo 6o), von Hans Branscheidt.
Nur die rasche Anmeldung und
Überweisung sichert Ihnen ihren
Platz.
Viele Anmeldungen liegen uns
erfreulicherweise bereits vor. Die
Fahrt soll zu einem solidarisches
Erlebnis werden. Wir werden uns
Anmeldung
zum Friedenszug
weitere Informationen
im Büro des Flüchtlingsrats
aus dem Merkblatt von Hans Branscheidt
viel zu sagen haben. Wir haben
ein Programm. Wir transportieren
eine Botschaft.
Es wird auf der Reise also
menschlich zugehen und freundlich. Dennoch müssen wir auch
deutlich machen, daß die Reise
strapaziös werden könnte. Die eigenen physischen Verhältnisse
sollten also vorher gründlich bedacht sein.
Ein paar Tips am Schluß:
Verzichten Sie auf ein Zuviel an
Kleidung. Leichtes Gepäck. Sicher
ist ein Pullover für den Abend
gut. Eine leichte Decke. Die nötigen Hygieneartikel. Medikamente. Toilettenpapier in Reserve.
Feuchtigkeitstücher. Filme, Foto,
Schreibmaterial vergißt wahrscheinlich niemand. Die Papiere
(Pässe) müssen unbedingt in Ordnung sein. Ablaufdatum beachten!
Noch nie war ein Friedenszug wichtiger.
Unterstützen Sie uns.
Fahren Sie mit!
Der Europäische Friedenszug fährt von Brüssel nach Diyarbakir.
Der Frieden wird siegen.
„Join the winning side,
join the Peace Train"
Mit ganz herzlichen
Grüßen
Hans Branscheidt
DER HINWEIS AN MITREISENDE & BESONDERS AN NICHTMITREISENDE:
In gewissem Umfang können Sie
Faltblätter & Plakate kostenlos
zum Verbreiten bei uns bestellen.
Es gibt T-Shirts und Mützen und
Sticker mit dem Logo des Friedenszuges. Die sollen verkauft
werden.
Sie können auch mithelfen, Interviews und Medientermine für uns
zu vermitteln: auch über die regionalen Programme und die lokale Presse.
Wir gehen ein erhebliches finanzielles Risiko. Ein fördernde Überweisung wäre nicht schlecht.
31
VERFOLGUNG VON KURDEN
Bundesverfassungsgericht:
Keine
Fluchtalternative
Kurdischer Jugendlicher hatte Erfolg
- 2 BvR 1024/95 -
Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung dokumentieren wir die
Entscheidung des BVG vom 21.
Mai 1997 im vollen Wortlaut:
... zwei Hilfsbeweisanträge, um
zu belegen, daß
Jugendliche, die
ohne Verwandte
in Großstädten
der Westtürkei
leben, unter
menschenunwürdigen Bedingungen auf der
Straße dahinvegetieren müßten.
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des türkischen Staatsangehörigen A...
Bevollmächtigte: Rechtsanwältin
Ursula Hein und Kollege,
Mörkenstraße 61, Hamburg hat die 1. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Sommer,
Jentsch, Hassemer gemäß §93c
in Verbindung mit §93a Absatz 2
Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 (BGBI I s. 1473)
am 24. März 1997 einstimmig
beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 14.
März 1995 - 11 VG A 5190/93
- verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Artikel 19 Absatz 4 in Verbindung mit Artikel 16a Absatz
1des Grundgesetzes. Es wird
aufgehoben. Die Sache wird
an das Verwaltungsgericht
zurückverwiesen.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer
die notwendigen Auslagen zu erstatten.
32
Gründe :
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft aus Art. 16a Abs. 1 GG folgende verfassungsrechtliche Anforderungen an die zur Abweisung einer Klage als offensichtlich unbegründet führende Feststellung einer inländischen
Fluchtalternative.
I.
1. a) Der Beschwerdeführer, ein
inzwischen 16jähriger Kurde aus
dem von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und der PKK betroffenen
Osten der Türkei, reiste im Alter
von elf Jahren in das Bundesgebiet ein und stellte im März 1993
einen Asylantrag. Zur Begründung gab er an, er habe in seinem Heimatdorf Angriffe und Razzien des türkischen Militärs miterlebt, bei denen Einwohner
mißhandelt und als PKK-Mitglieder verdächtigte Bauern getötet
worden seien. Er sei von seinem
Vater ins Ausland geschickt worden, als das Militär angekündigt
habe, daß es die Jugendlichen
aus dem Dorf entfernen wolle.
b) mit Bescheid vom 29. Juli
1993 lehnte das Bundesamt für
die Anerkennung ausländische
Flüchtlinge den Asylantrag ab,
stellte fest, daß keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, und drohte dem Beschwerdeführer die Abschiebung
an. Zur Begründung führte es
aus, der Beschwerdeführer habe
keine individuelle staatliche Verfolgung vorgetragen und allein
wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit keine kollektive Verfolgung zu befürchten.
c) Mit der daraufhin beim Verwaltungsgericht Hamburg erhobenen Klage berief sich der Beschwerdeführer auf eine Gruppenverfolgung als kurdischer Jugendlicher. In seinem Heimatdorf
gebe es inzwischen keine männlichen Jugendlichen mehr. Sie seien alle als Unterstützer der PKK
angesehen und diesem Grunde
systematisch verfolgt und
mißhandelt worden. Als 13jähriger habe er keine Möglichkeit, an
einem anderen Ort in der Türkei
menschenwürdig zu leben. Er habe keine Verwandten in der
Westtürkei, die ihn aufnehmen
könnten. In Istanbul lebten bereits jetzt 15.000 Kinder und Jugendliche unter menschenunwürdigen Umständen auf der Straße.
In der mündlichen Verhandlung
berichtete der Beschwerdeführer,
sein Heimatdorf sei zwischenzeitlich zum größten Teil zerstört
worden. Von Verwandten habe
er gehört, daß seine Familie das
Dorf verlassen habe. Sie wüßten
jedoch nicht genau, wo sich seine Angehörigen jetzt aufhielten.
Er habe außer ihnen nur Verwandte in der Provinzhauptstadt,
wo die Situation nicht viel besser
sei als in seinem Dorf.
Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers stellte zwei
Hilfsbeweisanträge, um zu belegen, daß Jugendliche, die ohne
Verwandte in Großstädten der
Westtürkei leben, unter menschenunwürdigen Bedingungen auf
der Straße dahinvegetieren müßten und daß Jugendliche aus
dem kurdischen Teil der Türkei,
die von Sicherheitskräften allein
in der Westtürkei aufgegriffen
würden, zwangsweise zu ihren
Eltern zurückgebracht würden.
2. Mit dem angegriffenen Urteil
vom 14. März 1995 wies das
Verwaltungsgericht Hamburg die
Klage als offensichtlich unbegründet ab:
Der Beschwerdeführer sei als
Kind vor seiner Ausreise weder
individuell politisch verfolgt worden, noch könne er sich darauf
berufen, als Kurde einer landesweiten Gruppenverfolgung ausgesetzt zu sein. Denn ihm stehe
trotz seines jugendlichen Alters
eine inländische Fluchtalternative
offen. Den dazu gestellten Hilfsbeweisanträgen sei das Gericht
nicht nachgegangen, weil das insoweit in der Dokumentation des
Verwaltungsgerichts vorliegende
Material ausreichend erscheine.
Die Behauptung, Jugendliche, die
ohne Verwandte in Großstädten
der Westtürkei leben, müßten
unter menschenunwürdigen Bedingungen auf der Straße leben,
werde zwar von Sachverständigen in dieser allgemeinen Form
bestätigt. Dies besage jedoch
nichts für die Frage, ob für den
Beschwerdeführer in der gesamten Türkei keine inländische
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGUNG VON KURDEN
Fluchtalternative bestehe. Zum einen seien die Fluchtalternativen
nicht auf die wenigen Großstädte
in der Westtürkei begrenzt, über
welche entsprechende Sachverständigengutachten erstattet
worden seien. Zum anderen
müßte ausgeschlossen werden,
daß die Familie des Beschwerdeführers selbst, Verwandte, Bekannte, Dorfangehörige oder politische Freunde sich des Jugendlichen in der Westtürkei an irgendeinem Ort annehmen könnten.
Im übrigen sei es unschlüssig,
vom Fehlen einer inländischen
Fluchtalternative zu sprechen,
weil der Rest seiner großen Familie, darunter seine Geschwister,
nach wie vor in der Türkei lebten.
In der mündlichen Verhandlung
habe der Beschwerdeführer angegeben, er habe gehört, daß
seine Familie inzwischen das Dorf
verlassen habe. Darüber, wo die
Familie jetzt lebe, sei nichts vorgetragen worden, auch nicht darüber, aus welchen Gründe der
Beschwerdeführer dort nicht leben könne.
1. Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt
der Beschwerdeführer, das Urteil
verletze ihn in seinen Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1, Art. 16a
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19
Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Die angegriffene Entscheidung
werde insbesondere den verfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Abweisung eines Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet nicht gerecht:
Wenn das Verwaltungsgericht
davon ausgehe, daß alleinlebende kurdische Jugendliche in den
Großstädten der Westtürkei unter
menschenunwürdigen Bedingungen dahinvegetierten, müsse
auch davon ausgegangen werden, daß dem Beschwerdeführer
ein solches Schicksal drohe, solange es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gebe, daß in seinem Falle diese Regelvermutung
nicht gelte. Es sei unerfindlich,
wie das Gericht zu der Annahme
komme, es gebe außerhalb der
Großstädte Fluchtalternativen für
den jugendlichen Beschwerdeführer. Willkürlich sei es, die unter Beweis gestellten Lebensbedingungen für Jugendliche in den
Großstadtslums für unerheblich
zu halten, weil der Beschwerdeführer nicht ausgeschlossen habe, daß sich seine Familie, Verwandte, Bekannte, Dorfangehörige oder politische Freunde seiner
in der Westtürkei annehmen
könnten. Es sei ihm schlechterdings nicht möglich, das Nichtbestehen einer Tatsache unter Beweis zu stellen.
Allein der Umstand, daß seine Familie noch in der Türkei lebt, bedeute nicht, daß er dort Schutz
vor einem menschenunwürdigen
Leben auf der Straße finden
könnte. Es sei ihm weder zuzumuten, in seine Heimatregion
zurückzukehren, noch wisse er,
wo sich seine Familie derzeit aufhalte. Dies habe das Verwaltungsgericht offenbar nicht zur
Kenntnis genommen, weil es ausführe, daß weder der Aufenthaltsort der Familie vorgetragen worden sei, noch weshalb der Beschwerdeführer dort nicht leben
könne. Kein Gehör gefunden habe er auch mit seinem unter Beweis gestellten Vortrag, daß in
der Westtürkei alleinlebende kurdische Jugendliche damit rechnen
müßten, zwangsweise zu ihrer
Familie in den kurdischen Teil der
Türkei zurückgebracht zu werden.
2. Das Bundesverfassungsgericht
hat der Justizbehörde der Freien
und Hansestadt Hamburg sowie
den Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Die Justizbehörde hat sich zu der
Verfassungsbeschwerde unter anderem wie folgt geäußert: Das
Verwaltungsgericht habe sich mit
der Frage, ob dem Beschwerdeführer als Kurden eine inländische
Fluchtalternative offenstehe, auseinandergesetzt. Im Hinblick auf
die obergerichtliche Rechtsprechung, die für Kurden den vom
Bestehen einer inländischen
Fluchtalternative in westlichen
Landesteilen der Türkei ausgehe,
dürfte die Abweisung der Klage
hinreichend begründet sein.
Auch die Frage, ob dem Beschwerdeführer wegen seines jugendlichen Alters etwa eine inländische Fluchtalternative nicht
offenstehen könnte, sei in der
angegriffenen Entscheidung gewürdigt worden.
B.
I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung der in §90 Abs. 1 BVerfGG
genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§93a
Abs. 2 Buchstabe b, §93b Satz 1
BVerfGG). Dem Beschwerdeführer
würde durch die Versagung einer
Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entstehen.
Das hier zuständige Hamburgische Oberverwaltungsgericht vertritt zwar im Einklang mit der
Rechtsprechung anderer Obergerichte grundsätzlich die Auffassung, daß es Kurden aus den traditionellen Siedlungsgebieten im
Osten der Türkei generell zumutbar sei, in der Westtürkei Zuflucht vor Verfolgung zu suchen.
Jedoch sei eine Berücksichtigung
individueller Umstände unter anderen hinsichtlich der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die
Annahme einer inländische
Fluchtalternative (Gewährleistung
des Existenzminimums) nicht ausgeschlossen. So sei bei sehr jungen Asylbewerbern im Einzelfall
zu prüfen, ob sie in der Lage
sind, am Ort der inländischen
Fluchtalternative ihren Unterhalt
zu sichern; dies könne insbesondere dann zweifelhaft sein, wenn
sie dort keine Unterstützung von
Verwandten oder anderen Personen zu erwarten haben (vgl.
Hamburgisches OVG, Beschluß
vom 1. November 1995 - OVG Bs
V 150/95). Es erscheint daher
nicht ausgeschlossen, daß der
Beschwerdeführer nach Aufhebung des angegriffenen Urteils
und Zurückverweisung der Sache
bei einer erneuten, verfassungskonformen Entscheidung mit seiner Klage zumindest in der Berufungsinstanz Erfolg haben könnte
(vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
Es sei unerfindlich, wie das Gericht zu der Annahme komme,
es gebe außerhalb der Großstädte Fluchtalternativen für
den jugendlichen
Beschwerdeführer. Willkürlich
sei es...
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist
zulässig und im Sinne von § 93c
Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auch offensichtlich begründet. Die für
die Beurteilung maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen
sind vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Danach
ist es mit Art. 19 Abs. 4 in Ver33
VERFOLGUNG VON KURDEN
bindung mit Art. 16a Abs. 1 GG
unvereinbar, daß das Verwaltungsgericht mit letztlich spekulativen Erwägungen dem Beschwerdeführer den vollen Nachweis für das Nichtbestehen einer
inländischen Fluchtalternative
aufgebürdet und zugleich den
weiteren Rechtsweg abgeschnitten hat.
Vielmehr mußte
sich das Gericht
in Wahrnehmung seiner
Aufklärungspflicht durch geeignete Fragen
und Nachforschungen selbst
davon überzeugen, daß eine inländische
Fluchtalternative außerhalb
vernünftiger
Zweifel gegeben
ist.
1. a) Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf die einen
Asylsuchenden in seinem Heimatland erwartende (Verfolgungs-)
Situation sowohl hinsichtlich der
Ermittlung des Sachverhalts
selbst als auch seiner rechtlichen
Bewertung zu prüfen, ob die
tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und
Umfang ihrer Ermittlungen der
Asylgewährleistung gerecht werden (vgl. BVerfGE 76, 143
<162>).
Den Fachgerichten ist dabei ein
gewisser Wertungsrahmen zu belassen. Verfassungsrechtlich zu
beanstanden ist eine fachgerichtliche Bewertung aber dann,
wenn sie anhand der gegebenen
Begründung nicht mehr nachvollziehbar ist oder nicht auf einer
verläßlichen Grundlage beruht
(vgl. 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschlüsse vom 20. Juni
1990 - 2 BvR 1727/89 -, InfAuslR
1991, s. 85 <88> und vom 12.
März 1992 - 2 BvR 721/91 -, InfAuslR 1992, s. 231 <233>.
b) Besondere Anforderungen an
die Sachverhaltsermittlung sind
bei der Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet
zu stellen, welche die Unanfechtbarkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zur Folge hat. Denn
die Asylgewährleistung des
Grundgesetzes fordert geeignete
verfahrensrechtliche Vorkehrungen, die der Gefahr unanfechtbarer Fehlurteile entgegenwirken. Es
muß sich die auf der Hand liegende Aussichtslosigkeit der Klage zumindest eindeutig aus der
Entscheidung selbst ergeben. Das
Bundesverfassungsgericht hat
den unbestimmten Rechtsbegriff
der Offensichtlichkeit in Anlehnung an die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts dahin
ausgelegt, daß im maßgeblichen
Zeitpunkt der Entscheidung des
Verwaltungsgerichts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststel-
34
lungen des Gerichts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann
und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt (vgl. BVerfGE 65, 76 <95
f.>; 71 276 <293>; BVerwG,
DÖV 1979, s. 902 f.). Den sich
aus Art. 16a Abs. 1und 19 Abs.
4 GG ergebenden Mindestanforderungen an die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich
unbegründet ist durch die Neuregelung des Asylgrundrechts sowie des Asylverfahrensrechts
nicht die Grundlage entzogen
worden (vgl. Kammerbeschluß
vom 3. September 1996 - 2 BvR
2353/95 -, NVwZ Beilage 2/1997,
S. 9 m.w.N.).
c) Soll der Asylsuchende bei
angenommener regionaler
Gruppenverfolgung auf eine
inländische Fluchtalternative
verwiesen werden, so setzt
dies verläßliche Feststellungen darüber voraus, daß der
Betroffene dort nicht in eine
ausweglose Lage gerät.
Er muß danach in dem in Betracht kommenden Gebiet nicht
nur vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher sein; es dürfen
ihm dort auch keine anderen
Nachteile und Gefahren drohen,
die nach ihrer Intensität und
Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutsbeeinträchtigung aus
politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle
Gefährdung am Herkunftsort so
nicht bestünde (vgl. BVerfGe 80,
315 <343 f.>; 81, 58 <65 f.>).
Eine existentielle Gefährdung
kann sich auch daraus ergeben, daß der Asylbewerber
am Ort der Fluchtalternative
für sich das wirtschaftliche
Existenzminimum weder aus
eigener Kraft noch mit Hilfe
Dritter gewährleisten kann.
2. Die maßgeblichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts zum
offensichtlichen Bestehen einer
inländischen Fluchtalternative
halten einer Überprüfung anhand
der dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht
stand. Die Annahme, daß der Beschwerdeführer in der Westtürkei
eine zumutbare Zuflucht vor der
vom Verwaltungsgericht unterstellten Gruppenverfolgung in
seiner Heimatregion finden könnte, beruht nicht auf einer verläßlichen Grundlage. Um eine inländische Fluchtalternative als offensichtlich gegeben ansehen zu
können, durfte sich das Verwaltungsgericht nicht mit der Feststellung begnügen, es sei nach
den Angaben des Beschwerdeführers und den vorhandenen Erkenntnissen nicht ersichtlich,
warum er nicht an irgendeinem
Ort in der Westtürkei - gegebenenfalls mit Hilfe Dritter - sollte
leben können. Vielmehr mußte
sich das Gericht in Wahrnehmung seiner Aufklärungspflicht
durch geeignete Fragen und
Nachforschungen selbst davon
überzeugen, daß eine inländische
Fluchtalternative außerhalb vernünftiger Zweifel gegeben ist.
Das ist nicht geschehen.
A) Der Beschwerdeführer hatte
angegeben, daß seine Familie aus
dem Heimatdorf vertrieben worden sei und er bisher nicht habe
in Erfahrung bringen können, wo
sie sich gegenwärtig aufhalte. Die
Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens ist vom Verwaltungsgericht
nicht nachvollziehbar in Zweifel
gezogen worden. Das Verwaltungsgericht hätte deshalb davon
ausgehen müssen, daß eine
Rückkehr des Beschwerdeführers
zu seine Familie im Zeitpunkt seiner Entscheidung ausschied, weil
weder ihr Aufenthaltsort bekannt
war noch feststand, ob dieser Ort
eine hinreichend sichere, nicht
mit existentieller Not erkaufte Zuflucht vor Verfolgung bot. Den
Beschwerdeführer traf zwar die
Pflicht, nach bestem Wissen Auskunft über den Verleib seiner Familie zu geben, nicht aber die
volle Darlegungs- und Beweislast
für ihren Aufenthaltsort, den er unwidersprochen - selbst nicht
kannte. Eine Beweislastentscheidung vermochte daher die für die
Annahme einer inländischen
Fluchtalternative erforderlichen
Feststellungen des Gerichts zum
Aufenthaltsort der Familie nicht
zu ersetzen.
b) Die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts, wenn schon
die Familie oder Verwandte nicht
in Betracht kommen sollten, so
könnten sich doch Bekannte,
Dorfangehörige oder politische
Freunde des Beschwerdeführers
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGUNG VON KURDEN
in der Westtürkei annehmen, ist
ebenfalls nicht tragfähig. Das
Verwaltungsgericht hat den Beschwerdeführer nicht danach gefragt, ob er möglicherweise andere Bezugspersonen in der Westtürkei habe, die ihm die notwendige Unterstützung leisten
könnten. Es hat ihn lediglich zum
Aufenthaltsort seiner Familie und
dazu angehört, ob er keine Verwandten an anderen Orten habe,
wo er hingehen könne. Mit keinem Wort hat das Gericht darauf
hingewiesen, daß es auch Personen außerhalb des Verwandtenkreises als Garanten einer inländischen Fluchtalternative in Betracht ziehe. Der Beschwerdeführer hatte deshalb keine Veranlassung, bereits in der mündlichen
Verhandlung - wie später in der
Verfassungsbeschwerde - darzulegen, daß er in der Westtürkei
auch außerhalb des Familienund Verwandtenkreises niemanden kenne, der bereit wäre, ihn
aufzunehmen.
c) Das Offensichtlichkeitsurteil
läßt sich auch nicht mit der Erwägung begründen, daß möglicherweise alleinstehende Jugendliche in der Westtürkei außerhalb
der Großstädte nicht unter menschenwürdigen Bedingungen auf
der Straße leben müßten, weil
dies so bisher lediglich in Gutachten über die Situation in den
Großstädten bestätigt worden
sei. Es wäre Sache des Gerichts
gewesen, sich erst durch die Einholung entsprechender Auskünfte sachverständiger Stellen zu
vergewissern, ob der von ihm angenommene Ausweg für Jugendliche zumutbar ist, ehe es das
Asylbegehren des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet beurteilen durfte.
d) Auch der - von ihm auf der
Grundlage nicht tragfähiger Erwägungen offenbar für nicht
entscheidungserheblich erachteten - Frage, ob Jugendliche wie
der Beschwerdeführer zwangs-
weise zu ihren Eltern in das Krisengebiet zurückgebracht werden, wenn sie von der Polizei allein in der Westtürkei angetroffen
werden, hat sich das Verwaltungsgericht nicht gestellt.
Das Urteil des
Verwaltungsgerichts ist aufzuheben.
III.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist aufzuheben; die Sache
ist an das Verwaltungsgericht
zurückzuverweisen, damit über
den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Asylantrag neu
entschieden werden kann (§ 93c
Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG):
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a
Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Jentsch
Hassemer
Kirchenasyl geräumt
Polizeiliche Räumung des Kirchenasyls im saarländischen Heusweiler und Abschiebung*
D
ie Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der
Kirche protestiert gegen die polizeiliche Räumung des Kirchenasyls in Heusweiler bei Saarbrücken
und die Abschiebung der kurdischen Familie Sahindal in die Türkei.
Die Räumung des Kirchenasyls
ist eine Mißachtung des gewaltfreien Schutzraums im Gemeindezentrum der alt-katholischen
Gemeinde Saarbrücken. Während
Vater und Tochter festgenommen
wurden, gelang der Mutter und
dem Sohn die Flucht. Die kurdische Familie, die seit fünf Jahren
in der Bundesrepublik lebte, hatte in der Friedenskirche Zuflucht
gefunden, weil sie bei einer Abschiebung in die Türkei um ihre
Sicherheit fürchtete.
Die gewaltsame Beendigung des
Kirchenasyls und die Abschiebung sind eine Verhöhnung des
christlich humanitären Engagements der alt-katholischen Gemeinde. Sie beherbergte die Familie, weil die erlittene Folter
Zweifel an der Rechtmäßigkeit ei-
ner Abschiebung begründete.
Außerdem besteht für abgeschobene kurdische Flüchtlinge in der
Türkei generell, darauf wies auch
der ehemalige Innenminister von
Nordrhein-Westfalen, Herbert
Schnoor, kürzlich hin, ein hohes
und unmittelbares Rückkehrrisiko.
Berichte von Menschenrechtsorganisationen belegen, daß Abgeschobene in türkischen Gefängnissen und Polizeistationen festgehalten, mißhandelt und gefoltert oder zum Verschwinden gebracht werden.
Die Abschiebung der Familie Sahindal macht sichtbar, daß auch
die politisch Verantwortlichen in
Saarbrücken der Senkung von
Flüchtlingszahlen Priorität gegenüber dem Schutz von Flüchtlingen einräumen. Die polizeiliche
Räumung dieses Kirchenasyls
zeigt aber auch in erschreckender
Weise, daß Politiker mehr und
mehr zu gewaltsamen Mitteln
greifen, um dem zivilgesellschaftlichen Engagement christlicher
Gemeinden ein Ende zu setzen.
Seit der neuen Welle ausländerfeindlicher Progrome in Deutsch-
land und der Beschneidung des
Asylrechts 1993 wurde heute
zum dritten Mal die christliche
Beistandspflicht einer zufluchtgewährenden Gemeinde verletzt.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft
Asyl in der Kirche bittet die altkatholische Gemeinde Saarbrücken, in ihrem Engagement
für bedrohte Flüchtlinge nicht
nachzulassen und fordert alle Kirchengemeinden und alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes
auf, zufluchtsuchenden Flüchtlingen Schutz zu bieten.
Sie bekräftigt ihre Forderung
nach einem generellen Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge
aus der Türkei.
Kontakt:
Alt.- Kath. Pfarramt Saarbrücken,
Pfr. Schmitt-Auer
Tel: 0681-9850909
Fax: 0681-985090910
*Presseerklärung der BAG Asyl in der Kirche vom 27.6.97
35
DEPORTATION
Amt habe festgeAbschiebungs- Auswärtige
stellt, daß diese Person wohlbehalten in Algerien lebe.
konferenz (s. auch die folgenden Beiträge)
der Innenminister Bosnien:
pflaumenweiche Beschluß
am 6. Juni 1997 Der
der IMK zur nachrangigen Ab-
Kurzbericht
Algerien:
Die algerische Regierung will
nachverhandeln. Mit einem Inkrafttreten des Rückübernahmeabkommens ist nach Aussage des
MI in nächster Zeit noch nicht zu
rechnen. Der in Zeitungen transportierte Bericht über einen algerischen Flüchtling, der nach seiner Abschiebung aus England ermordet worden sein sollte, entspreche nicht den Tatsachen: Das
schiebung von Flüchtlingen bosnischer und kroatischer Volkszugehörigkeit aus der Republik
Srpska wird in Niedersachsen
(ähnlich wie in Hessen) durch Ergänzungserlaß konkretisiert:*
(Nicht nur Familien, sondern
auch Einzelpersonen bosnischer
und kroatischer Volkszugehörigkeit aus der Republik Srpska werden bis zum nächsten Jahr geduldet. Hessen duldet diesen Personenkreis bis Ende März, Niedersachsen nur bis Ende Februar
(„Dann ist der Winter zu Ende").
* Der Erlaß vom 12.6., verteilt am 24.6.
liegt inzwischen beim Flüchtlingsrat vor
AhmdiyyaFlüchtlinge:
Der rheinland-pfälzische Innenminister ist mit seinem Antrag ge-
Abschiebung nach Algerien:
PRO ASYL: Vorgehen der Behörden fahrlässig und inhuman
Erneute Forderung eines Abschiebestopps
Presseerklärung vom 19. Mai 1997
weder seine
hochschwangere
deutsche Verlobte, noch sein Anwalt erhielten
auf Nachfrage
Auskunft über
den Verbleib von
Ismail Grip
Der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO
ASYL, Heiko Kauffmann, hat
scharf gegen die Abschiebung
des algerischen Flüchtlings Ismail
Grip protestiert, der am Freitag
vor Pfingsten - einen Tag nach
dem vorläufigen Inkrafttreten des
Rückführungsabkommens - von
den deutschen Behörden nach
Algerien abgeschoben worden
ist.
„Der gerade begonnene Wahlkampf hat in Algerien zu einer
neuen Welle des Terrors geführt.
Die täglichen Berichte über Massaker, Folter, Morde und Anschläge zeugen von der fortgesetzten
Verschlechterung der Menschen-
36
rechtssituation. Unmittelbar
nachdem die neue britische Regierung infolge der Ermordung
eines abgeschobenen Flüchtlings
in ‘algerischem Polizeigewahrsam’ einen Abschiebestopp erlassen hat, muß das Vorgehen der
deutschen Behörden als ‘fahrlässig und inhuman’ bezeichnet
werden", erklärte Kauffmann. Ismail Grip sei als ehemaliger Polizist und Deserteur sowohl von
seiten der islamistischen bewaffneten Terrorgruppen als auch der
algerischen Behörden und Sicherheitskräfte bedroht.
„Angesichts der Situation in Algerien ist die Ignorierung des
staatlichen Terrors, der staatlichen Verfolgung und der Rück-
scheitert, aufgrund neuer Hinweise zur Bedrohung und Bespitzelung von Ahmadiyya-Flüchtlingen
einen bundesweiten Abschiebungsstopp zu verhängen. Sollten die Berichte über islamistische
Gruppen zutreffen, die Ahmadis
in Deutschland bis in die Anhörungen beim Bundesamt hinein bespitzeln, so sei dies im Rahmen von Asyl(folge)anträgen zu
klären, erklärten die Minister.
(Dies betrifft besonders das aktuelle Kirchenasyl in Braunschweig;
hier hatte man sich im Innenministerium über den Abschiebestopp-Antrag aus Rheinland-Pfalz
schon vor der IMK mokiert.)
Kongo/Zaire:
Bis auf Weiteres bleiben Abschiebungen nach Kinshasa nach § 54
AuslG ausgesetzt. Der Abschiebungsstopp soll in Abstimmung
mit dem BMI zu jedem 15. des
Monats um jeweils vier Wochen
verlängert werden. Ein neuer Lagebericht des Auswärtigen Amts
liegt offenbar noch nicht vor.
(s. hierzu die Stellungnahmen in
diesem Heft)
kehrgefährdung von Flüchtlingen
geradezu grotesk, wirklichkeitsfremd und problemblind", sagte
Kauffmann.
Die Begleitumstände der Abschiebung nannte Kauffmann empörend: weder seine hochschwangere deutsche Verlobte, noch
sein Anwalt erhielten auf Nachfrage Auskunft über den Verbleib
von Ismail Grip.
Daß seine Papiere von den deutschen Behörden nicht für die angestrebte, vom Paar seit langem
geplante Eheschließung anerkannt wurden, aber offensichtlich
ausreichten, um Ismail Grip in die
Hände seiner potentiellen Verfolger auszuliefern, nannte Kauffmann „ein beschämendes Zeugnis der Hartherzigkeit deutscher
Abschiebementalität."
Erneut fordert PRO ASYL einen
Abschiebestopp nach Algerien
und die Aussetzung des Rückführungsabkommens.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
DEPORTATION
S
eit dem Inkrafttreten des
Rückübernahmeabkommens
zwischen der Bundesregierung
und Vietnam bis zum 7.5.97
wurden 2.365 Flüchtlinge aus
Deutschland in die Volksrepublik
abgeschoben.
Dennoch ist die Bundesregierung
unzufrieden - schließlich sollten
bis zu 40.000 Flüchtlinge die
Bundesrepublik bis zum Jahr
2000 verlassen.
Im Rahmen einer weiteren
Vereinbarung mit der vietnamesischen Seite soll nun das
procedere geändert werden,
um noch mehr Flüchtlinge
loswerden zu können.
Dies geht aus einem „Bericht der
Bundesregierung an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages zur Umsetzung des
deutsch-vietnamesischen Rückübernahmeabkommens vom
21.Juli 1995" hervor, den die
Bundesregierung kürzlich auf Bitten der SPD-Fraktion vorlegte.
Die Kernpunkte der Vereinbarung, die der Bonner Staatssekretär Prof. Dr. Schelter am 20.
März 1997 dem vietnamesischen
Botschafter übersandte, sehen
vor:
· „Freiwillige Rückkehrer sollen
unmittelbar von der vietnamesischen Botschaft die Heimreisepapiere erhalten, ohne daß die besonderen Verfahrensbestimmungen des Rückübernahmeabkommens eingehalten werden müssen."
· „Um sicherzustellen, daß abzuschiebende Vietnamesen ein von
der Grenzschutzdirektion bereits
eingeleitetes Rückübernahmeverfahren nicht durch einen Antrag
auf freiwillige Rückkehr unterbrechen und dadurch die von den
deutschen Behörden angestrebte
Abschiebung verhindern können,
soll ein bereits eingeleitetes Verfahren nach dem Abkommen
grundsätzlich Vorrang haben vor
der Antragstellung des Ausländers bei der Botschaft."
· „Ferner soll die vietnamesische
Botschaft die Personalien der dort
um Rückkehr nachsuchenden Vietnamesen dem Bundesministerium des Innern zur Verfügung
stellen, damit von der Grenzschutzdirektion ein Abgleich mit
den dort vorhandenen Daten
durchgeführt werden kann."
Bei 19.001 bis zum 7. Mai 1997
bei der Grenzschutzdirektion Koblenz eingegangenen Anträgen
auf Rückübernahme seien rund
5.000 Antragsteller bereit, freiwillig nach Vietnam zurückzugehen. Die Abschiebung ohne
Rücksicht auf das Bemühen der
Betroffenen um freiwillige Rückkehr würde daher „eine wesentliche Verfahrenserleichterung" bedeuten. Allerdings habe die vietnamesische Seite ihr Einvernehmen noch nicht erteilt.
Zu Klagen der vietnamesischen
Behörden über die menschenrechtswidrige Behandlung, Fesselung und Beraubung abgeschobener Flüchtlinge, denen mitgeführtes Bargeld weggenommen
worden sei, stellt die Bundesregierung fest, „daß sich die Behörden in all diesen Fällen rechtmäßig verhalten haben", was sich
bekanntlich nicht widersprechen
muß.
Wichtiger als die Klagen der Vietnamesen über Menschenrechtsverletzungen erscheinen der Bundesregierung angebliche Versäumnisse der vietnamesischen
Behörden:
- Nichteinhaltung der vereinbarten Prüfungsfrist (6 bzw. 12
Wochen),
- Ablehnung von Abschiebungsersuchen wegen „ungenauer"
Angaben,
- unterschiedliche Behandlung
von Familienangehörigen
Auch auf Seiten der Bundesländer werden „Umsetzungsschwierigkeiten" beklagt. 40 bis 50 Prozent der für einen Flugtermin gemeldeten Personen entziehe sich
der Abschiebung durch Untertauchen. „Ein möglicher Grund hierfür kann darin liegen, daß einzelne Ausländerbehörden die interne Vorschrift einhalten müssen,
den konkreten Abschiebungstermin dem jeweiligen vietnamesischen Staatsangehörigen im Vorfeld mitzuteilen", lautet die unverhohlene Kritik des BMI.
BMI:
Vietnamesische
Flüchtlinge raus!
Bis zum 7. Mai wurden 2.365 Flüchtlinge
gem. Abkommen nach Vietnam abgeschoben
Kai Weber
Derzeitiger Stand der Umsetzung des Rückübernahmeabkommens (Stichtag 7.5.97)
1. Bei der Grenzschutzdirektion
Koblenz eingegangenen Anträge
. . . . . . . . . . . . . . . . . .19.001
2. Davon an die deutsche Botschaft in Hanoi weitergeleitet
. . . . . . . . . . . . . . . . . .16.889
3. Durch dt. Botschaft an das vietnam. Innenministerium übergeben
. . . . . . . . . . . . . . . . . .16.357
4. Von Vietnam anerkannt (Liste
B) . . . . . . . . . . . . . . . . . .6.803
5. Vom vietnam. Innenministerium zurückgegebene Anträge
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .3.514
6. Fristüberschreitung (6 Wochen
bzw. 3 Monate) .3.539 Personen
7. Vollzogene Abschiebungen
. . . . . . . . . . . .2.365 Personen
Vietnam
Veranstaltung
am 23. Juli
in Hannover
Am 23.7.97 treffen sich bundesweit VertreterInnen von exil-vietnamesischen Organisationen und
Zeitungsredaktionen und in Hannover. Anlaß der Konferenz ist
der erste öffentliche Auftritt von
vietnamesischen Dissidenten, die
sich z.T. seit 1967 in Haft bzw. in
Hausarrest befanden.
(Nähere Infos im Büro.)
37
DEPORTATION
Abschiebungsschutz
für Deserteure der ehemaligen Westgruppe
der früheren sowjetischen Streitkräfte
Erlaß
des Nds. Innenministeriums
vom 29.4.97
Bezug: 1. Mein Erlaß vom 11.
04.1997 -Az.:45.03 -12230/1-1
(§ 54) 1-14
2. Mein Erlaß vom 07. 07.1995 Az.:45.25 - 12230/1-1 (§30) VORIS 26200 000 000 038
D
ie Innenminister und -senatoren der Länder haben mit
ihrem Beschluß vom 17.04.1997
die Entscheidung des Bundesministers des Innern, das Bundes-
amt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge anzuweisen,
auf Antrag bei Deserteuren der
ehemaligen Westgruppe der
früheren Sowjetarmee Abschiebungshindernisse gem. §53 des
Ausländergesetzes (AuslG) zu
prüfen, zustimmend zur Kenntnis
genommen.
Gleichzeitig haben die Innenminister und -senatoren der Länder
beschlossen, die Abschiebung
des betroffenen Personenkreises
bis zur Entscheidung des Bundesamtes auszusetzen.
Hiermit ordne ich im Einvernehmen mit dem Bundesminister des
Innern gem. § 54, Satz 2 AuslG
an, die Abschiebung von Deserteuren der ehemaligen Westgruppe der früheren Sowjetarmee so
lange auszusetzen, bis das Bundesamt über den Antrag der Betroffenen zum vorliegen von Abschiebungshindernissen gem.
§ 53 AuslG entschieden hat.
Bevor aufenthaltsbeendende
Maßnahmen für vollziehbar aus-
reisepflichtige Deserteure und Zivilbeschäftigte und deren Angehörige der ehemaligen Westgruppe der früheren Sowjetarmee, deren Asylverfahren bereits
bestand - oder rechtskräftig abgeschlossen ist -, eingeleitet werden, bitte ich, die Betroffenen
auf die jetzt vom BMI eröffnete
Möglichkeit, auf Antrag Abschiebungshindernisse gem. § 53 AuslG vom Bundesamt prüfen und
feststellen zu lassen, hinzuweisen. Soweit bereits Bescheide vorliegen, werden die Verfahren
wieder aufgegriffen.
In den Fällen, in denen das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungshindernisse gem. § 53
AuslG feststellt, sind den Betroffenen unter Beachtung meines
Bezugserlasses zu 2. Aufenthaltsbefugnisse gem. § 30 AuslG zu
erteilen.
Meinen Bezugerlaß zu 1. hebe
ich auf.
Im Auftrag...
Einbürgerung ist teuer:
Sind 17.000 US-Dollar für den Freikauf vom Wehrdienst zumutbar?
Grüne stellen Anfrage zur behördlichen Aufforderung zum Rechtsbruch
Bündnis 90/Die Grünen im Landtag*
I
n einer Kleinen Anfrage an die
Landesregierung schildert die
migrationspolitische Sprecherin
der Grünen im Landtag, Heidi
Lippmann-Kasten, zwei Beispiele,
in denen einmal die Bezirksregierung Braunschweig und das Bundesamt zur Anerkennung von
Flüchtlingen Antragstellern die
Möglichkeit zum Rechtsbruch
aufzeigen.
* Pressemitteilung vom 15.05.97
38
Lippmann-Kasten fragt die Landesregierung, ob sie, wie die Bezirksregierung Braunschweig einem einbürgerungswilligen Iraner
schreibt, die Zahlung von
„17.000 US-Dollar für den Freikauf vom Wehrdienst" im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens für zumutbar hält. In einem
weiteren Beispiel zitiert sie aus
dem Ablehnungsbescheid eines
irakischen Asylbewerbers, dem
vom Bundesamt gesagt wird, er
könne von der Türkei aus in den
Irak einreisen, „mit ge- oder verfälschtem Paß, ggf. mit Hilfe eines Schleusers, legal bzw. illegal".
Lippmann-Kasten bezeichnet diese Aufforderungen zum Rechtsbruch durch deutsche Bundesbzw. eine nds. Bezirksregierung
als skandalös. Während Behördenvertreter deutsche Gesetze bis
zum i-Tüpfelchen korrekt auslegen bzw. umsetzen und jeder
Verstoß massiv geahndet wird,
wird Antragstellern anderen Staaten gegenüber die Möglichkeit
zum illegalen Verhalten empfohlen.
Mit Spannung erwartet sie die
Antwort durch den Innenminister, der gerade in flüchtlingsund ausländerpolitischen Fragen
immer wieder auf die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik
Deutschland verweist.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
DEPORTATION
underte von tamilischen Flüchtlingen aus Sri Lanka müssen demnächst mit ihrer Abschiebung aus Niedersachsen rechnen. Nach einer Wende in der obergerichtlichen Rechtsprechung werden tamilische
Flüchtlinge in der überwiegenden Mehrzahl nicht mehr als politisch
Verfolgte anerkannt.
Seit Beendigung des vorübergehenden Waffenstillstands im Jahr 1995
wütet der Bürgerkrieg auf der Insel jedoch schlimmer als je zuvor. Tamilische Flüchtlinge, die gewaltsam nach Sri Lanka abgeschoben werden, sind an Leib und Leben gefährdet.
Aus diesem Grund demonstrierten am 5. Mai 1997 einige Hundert von
der Abschiebung bedrohte tamilische Flüchtlinge in der Hannoverschen
Innenstadt. Die Demonstrationsroute führte vom Kröpke zum niedersächsischen Innenministerium (Referat Ausländer- und Flüchtlingsangelegenheiten), wo die Abschlußkundgebung stattfinden wird.
Tamilen
in Niedersachsen:
Zu der im Anschluß stattfindenden Pressekonferenz luden über den
Flüchtlingsrat ein:
Hulle Hartwig, SPD MdL, Vorsitzende der Ausländerkommission
Heidi Lippmann-Kasten, Bündnis 90 / DIE GRÜNEN MdL
Vertreter/in des Niedersächsischen Flüchtlingsrat
Vertreter/in der World Tamil Movement
Vertreter/in der von Abschiebung betroffenen Flüchtlinge
Offener Brief an den Nds. Innenminister
H
Außer bei einem Lokalredakteur der NP und einer freien Mitarbeiterin
der JW fand dies Thema kein Medien-Interesse.
Wir dokumentieren im folgenden einige Unterlagen; Kontaktadressen
sind über das Büro erhältlich.
W
ir wenden uns in einer Situation an Sie, in der viele
unter uns tamilischen Flüchtlingen in Niedersachsen verzweifelt
sind. Dies ist auch der Grund
warum wir am heutigen Tage mit
einer Kundgebung und Demonstration in Hannover auf uns aufmerksam gemacht haben.
Seit 1993 herrscht Krieg in unserem Land. Doch niemals zuvor ist
dieser Krieg in derart grausamer
Weise eskaliert wie seit Beendigung des vorübergehenden Waffenstillstands im Jahre 1995. In
den vergangenen Monaten erreichten uns immer wieder
schreckliche Nachrichten von unseren Angehörigen. Danach sind
weite Teile unseres Siedlungsgebietes im Norden auf der JaffnaHalbinsel zerstört. Unsere Dörfer
und Städte wurden bombardiert,
nahezu die gesamte dort lebende
Bevölkerung wurde zu Flüchtlingen und lebt unter erbärmlichen
Umständen weitgehend abgeschnitten von humanitärer Hilfe.
Unabhängige internationale Beobachter und Journalisten dürfen
das Land nicht betreten.
In den östlichen Siedlungsgebieten der Tamilien herrscht ein
strenges Regiment der Regierung.
Überall kommt es zu heftigen
Kämpfen zwischen der Regierung
und der LTTE.Die Dörfer im Osten
werden von Sicherheitskräften
durchkämpft. Jede/r die/der auch
nur im Verdacht steht mit den tamilishen „Tigern" zusammenzuarbeiten wird mitgenommen. Viele
„verschwinden" ohne je wiedergesehen zu werden. Manchmal
finden sich ihre Leichen.
In den bisher nicht umkämpften
Gebieten, dort wo man behauptet, wir könnten unbehelligt leben, wie im Großraum Colombo,
herrscht unter uns Tamilen ebenfalls ein Klima der Angst..
Für die Regierung ist jeder Tamile
ein potentieller „Tamil Tiger". Wir
bekommen das dadurch zu spüren, daß wir wie Menschen 2.
Klasse in einem System der
Apartheid behandelt werden. Es
kommt zu großangelegten
Durchsuchungsaktionen und tausende werden willkürlich verhaftet, gefoltert oder „verschwinden". Niemand kann sicher sein,
daß er trotz Zahlung von Bestechungsgeldern und der Erduldung erniedrigender Behandlung
die Stationen und Lager der Sicherheitskräfte lebend verläßt.
Der Fund von schrecklich zugerichteten Leichen ist alltäglich.
Besonders gefährdet sind sind tamilische Rückkehrer aus dem Exil.
Wir würden heute nicht demonstrieren,
verehrter Herr Minister,
wenn wir im Falle unserer zwangsweisen
Rückkehr nicht wirklich um unser Leben
fürchten müßten.
Sie gelten in den Augen der Regierung als zugehörig zum Netz
der LTTE in der Diaspora.
Trotz dieser für uns als tamilische
Flüchtlinge gefährlichen Lage, in
der wir im Falle eine Rückkehr
nach Sri Lanka mit hoher Wahrscheinlichkeit um unser Leben
fürchten müssen, haben die niedersächsischen Verwaltungsgerichte und auch das zuständige
Oberverwaltungsgericht, die Asylbegehren hunderter tamilischer
Flüchtlinge in den vergangenen
Monaten abgewiesen. Sie taten
dies mit der Begründung, daß
seit Anfang 1994 von einer
Gruppenverfolgung der Tamilen
in Sri Lanka nicht mehr ausgegangen werden könne, es sich
bei den Konflikten um einen
„normalen" Bürgerkrieg handele
und die Rückkehrer schließlich sicher im Großraum Colombo leben könnten. Sie lehnten die Asylanträge ab, obwohl nahezu alle
Kenner der Lage in Sri Lanka,
einschließlich der bekannten
Menschenrechtsorganisation und
Gerichtsgutachter von einer Verschlimmerung der Situation seit
1995 ausgehe.
Der Fund von
schrecklich zugerichteten Leichen ist alltäglich.
Aus diesem Grund möchten wir
sie bitten, sich unserer Befürchtungen anzunehmen. Wir bitten
Sie, lassen Sie sich durch unabhängige Zeugen und Kenner der
Situation in Sri Lanka informieren. Bitte veranlassen Sie, daß
niemand der tamilischen Flüchtlinge abgeschoben wird, bis die
wahre Situation bekannt wird,
bis wir in Frieden in unsere Heimat zurückkehren können.
39
DEPORTATION
Keine Abschiebung Wie sieht es
von Tamilen wirklich aus in
nach Sri Lanka Sri Lanka?
Aufruf zur Demonstration
Alagan Ananadaraja*
S
Mit Repressalien
hätten insbesondere auch die
Flüchtlinge zu
rechnen, die aus
dem Ausland
nach Colombo
abgeschoben
würden: "Es wäre geradezu kriminell, die Leute
zurückzuschicken".
eit 1983 herrscht Krieg in Sri
Lanka.
Seither sind wir Tamilen/innen gezwungen, das Land je nach Eskalation des Krieges, in immer neuen Flüchtlingswellen, zu verlassen.
Diejenigen unter uns, die bis Ende 1993 nach Niedersachsen gekommen sind, haben von der Regierung oder den Gerichten den
Status als Flüchtling erhalten und
dürfen hier bleiben.
Dafür sind wir dankbar.
Dies gilt nicht für diejenigen, die
nach 1993 geflohen sind und
auch für diejenigen nicht, die
aufgrund der bisher gewalttätigsten Phase des Krieges nach
1995 das Land verlassen mußten.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
und die Verwaltungsgerichte sagen, daß wir Tamilen nicht mehr
als Gruppe politisch verfolgt werden. Sie sagen, daß es sich um
einen normalen Bürgerkrieg handelt, und daß wir deshalb keinen
Schutz erhalten können. Und sie
sagen, daß wir in der Hauptstadt
Colombo vor Verfolgung sicher
seinen. - Doch die Faktenlage ist
anders.
Seit Beendigung des vorübergehende Waffenstillstands im Jahre
1995 ist die Lage für uns Tamilen
in Sri Lanka so schlimm wie niemals zuvor.
In unserem Siedlungsgebiet im
Norden auf der Jaffna-Halbinsel
hat die srilankische Armee in
ihrem Eroberungsfeldzug das
Land zerstört und fast die gesamte dort lebende Bevölkerung zu
Flüchtlingen gemacht.
Der Krieg wurde gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung geführt.
Mit Flugzeugen und Artillerie
wurden unsere Städte und Dörfer
bombardiert. Kein ausländischer
Beobachter darf das Gebiet betreten, in dem die Armee wütet
und sich zur einzigen Nachrichtenquelle aufspielt. Hunderttausende haben alles verloren.
In den anderen Siedlungsgebieten, vor allem im Osten des Landes, werden unsere Dörfer und
Städte von Sicherheitskräften
durchkämmt und alle mitgenommen, die auch nur im Verdacht
stehen, mit der LTTE, den tamilischen Tigern, in Verbindung zu
stehen.
Die Menschen verschwinden zu
Hunderten.
Sie werden gefoltert.
Manchmal finden sich ihre Leichen.
Für die Sicherheitskräfte ist jeder
Tamile ein potentieller „Tamil Tiger". Das bekommen wir auch in
den vermeintlich sicheren Landesteilen, wie in Colombo, zu
spüren.
Man behandelt uns wie Menschen 2. Klasse in einem System
der Apartheid.
Tausende werden willkürlich verhaftet und erst nach schlimmen
Leiden durch Folterungen und
nach Zahlung von Bestechungsgeldern wieder freigelassen.
Und auch hier kann niemand sicher sein, daß er die Folterlager
der Sicherheitskräfte nicht als Leiche verläßt.
* Sprecher der tamilischen Flüchtlinge;
Demo vom5. Mai 1997 in Hannover
40
balam, Rechtsanwalt und Generalsekretär des „All Ceylon Tamil
Congress", der ältesten tamilischen Partei Sri Lankas, anläßlich
eines Pressegeprächs im April `97
in Bremen. Jeder Tamile, der sich
in Colombo aufhalte, werde
grundsätzlich als „Tamil Tiger"Mitglied verdächtigt. Regelmäßig
komme es zu groß angelegten
Durchsuchungsaktionen, Kontrollen und Festnahmen, bei denen
immer wieder Tamilen „verschwinden" würden. Mit Repressalien hätten insbesondere auch
die Flüchtlinge zu rechnen, die
aus dem Ausland nach Colombo
abgeschoben würden: "Es wäre
geradezu kriminell, die Leute
zurückzuschicken". Während seines Deutschlandbesuchs in 1986
behauptete der srilankische
Außenminister Lakshman Kadirgama in einem Interview mit der
„Frankfurter Rundschau", daß „alle Asylbewerber, die im Ausland
um Aufenthaltsgenehmigung bitten, von den `Tigers´ geschickt
worden" seien.
Wir fragen: Wer übernimmt angesichts der tatsächlichen Lage
und einer solchen Stimmung, die
auch durch die anfangs Verständigungsbereitschaft signalisierende Präsidentin Chandrika Kumaratunge gegen alle Tamilen geschürt wird, eine Garantie für unsere Sicherheit. Auch das „Direktorat für ausländische Beziehungen" der Europäischen Kommission betont in einem Schreiben
vom Februar 1997, daß sie zu
keiner Unterstützung von Repatriierungsmaßnahmen bereit seien, solange in Sri Lanka Krieg geführt wird.
Wir können in unser schönes
Land nicht zurückkehren, solange
dieser schreckliche Krieg andauert. Und deshalb fürchten wir
den Tag unserer Abschiebung.
Wir erbitten und fordern von der
Regierung in Niedersachsen: Keine Abschiebung von Tamilen
nach Sri Lanka.
Wir erbitten und fordern von den
Verwaltungsgerichten die rechtmäßige Flüchtlingsanerkennung.
Täglich werden durch Folter Ermordete gefunden.
Dies bestätigte Kumar Ponnam-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
DEPORTATION
I
ch komme heute auf ihr Schreiben vom 30.04.1996 zurück, in
dem Sie darum gebeten haben,
einen Abschiebungsstopp für tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka
anzuordnen.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) hat seit
November 1992 tamilische Volkszugehörige aus Sri Lanka, die aus
dem Norden des Landes stammen, als politisch Verfolgte anerkannt. Gleichzeitig hat das OVG
eine fehlende inländische
Fluchtalternative für tamilische
Volkszugehörige festgestellt, da
in anderen Teilen des Landes für
Tamilen ein ausreichendes wirtschaftliches Existenzminimum
nicht gewährleistet sei.
Diese Rechtsprechung hat das
OVG Anfang dieses Jahres geändert. In den Leitsätzen zu seiner
Entscheidung vom 22.02.1996
hat das OVG tamilische Volkszugehörige, die nach Ende 1993
aus Sri Lanka ausgereist sind,
nicht mehr grundsätzlich als
gruppenverfolgt angesehen. Es
hat damit auf den politischen
Wandel reagiert, der bereits 1992
/1993 in Sri Lanka einsetzte und
der nach den von den ehemals
wichtigsten Oppositionsparteien
gewonnenen Parlementswahlen
im August 1994 und den Präsidentschaftswahlen im November
1994 Fortschritte gemacht hat.
Die Präsidentin, Frau Kumaratunga, setzt nach den Erkenntnissen
des Auswärtigen Amtes ihre Bemühungen, Sri Lanka zu einem
nach westlichen Grundsätzen geprägten demokratischen Rechtsstaat zu führen, konsequent fort.
Die Regierung habe den Schutz
und die Förderung der Menschenrechte zu einem Schwerpunkt ihrer Politik erklärt. Die im
Jahre 1992 auf internationalen
Druck in Sri Lanka eingesetzte
„Human Rights Task Force" sei
mit zusätzlichen Rechten ausgestattet, die es ihr erlaube, Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch srilankische
Sicherheitskräfte nachzugehen
und aufzuklären.
Die auch in der Vergangenheit
beklagten Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka beschränkten
sich auf die Gebiete, die im Norden und Osten des Landes bisher
von den Separatisten der LTTE
kontrolliert wurden und seien nahezu ausschließlich der LTTE zuzurechnen. Im Westen und Süden des Landes und in der
Hauptstadt Colombo sind nach
Auskunft des Auswärtigen Amtes
Tamilen keiner besonderen Gefärdung oder Verfolgung durch srilankische Sicherheitskräfte ausgesetzt. Vor dem Hintergrund der
häufigen Terroranschläge tamilischer Separatisten mit zahlreichen Opfern in der Zivilbevölkerung hätten lediglich junge mänliche Tamilen, insbesondere in der
Hauptstadt Colombo mit häufigen Polizeikontrollen und auch
kurzzeitigem Polizeigewahrsam
zu rechnen, wenn ihre Identität
ungeklärt sei. In einer Ergänzung
zum Lagebericht für Sri Lanka
vom März dieses Jahres wird vom
Auswärtigen Amt die Erklärung
des UNHCR`s vom 04.01.1996
zitiert, wonach die Eskalation des
bewaffneten Konflikts mit der LTTE nicht zu einer verminderten
Beachtung der menschenrechte
durch die Regierung führe. Vom
UNHCR wird bestätigt, daß sich
trotz der Herausforderungen, denen sich die Behörden wegen der
Sicherheitslage in Colombo und
anderen Gebieten auf Grund der
verübten Terroranschläge durch
tamilische Separatisten ausgesetzt sehen, die Verbesserungen
in der menschenrechtlichen Situation die von der gegenwärtigen Regierung erzielt wurden,
aufrechterhalten und in einigen
Bereichen sogar verstärkt werden
konnte. Junge Tamilen, die im
Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus häufiger durch srilankische Sicherheitskräfte kontrolliert
und kurzzeitig in Gewahrsam genommen würden,erfahren nach
Einschätzung des UNHCR`s eine
faire und humane Behandlung.
Gleichzeitig weist der UNHCR
darauf hin, daß zurückkehrende
Asylbewerber keiner negativen
Sonderbehandlung unterliegen
und die institutionellen und
rechtlichen Mechanismen zur
Überwachung und Verhinderung
von Menschenrechtsverletzungen
in Sri Lanka funktionieren würden.
In diesem Kontext muß auch die
Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vom
20.06.1995 gesehen werden, in
Nds. Innenministerium:
“Keine
Notwendigkeit”
für Abschiebungsstopp für tamilische
Volkszugehörige aus Sri Lanka*
der das Gericht festgestellt hat,
daß auch bei Gruppenverfolgten
im individuellen Verfahren geprüft werden müsse, ob Umstände vorlägen, die die Verfolgungsbetroffenheit mindern bzw. entfallen lassen könnten. Solche
mindernden Umstände lägen z.B.
bei srilankischen Staatsangehörigen tamilischer Volkszugehörigkeit vor,die aus Europa zurückkehrten, weil dieser Personenkreis
einem wesentlich geringeren Risiko einer Verhaftung ausgesetzt
sei, als junge Tamilen die in Sri
Lanka lebten.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß es über das individuelle
Asylverfahren hinaus keine Notwendigkeit für einen gruppenbezogenen Abschiebungsschutz für
tamilische Volkszugehörige aus
Sri Lanka gibt. Die Anordnungsbefugnis der Obersten Landesbehörden zur Aussetzung von
Abschiebungen gem. § 54 des
Ausländergesetzes (AuslG) darf
nicht in der Weise erfolgen, daß
die geänderte Rechtsprechung
aufgrund der deutlich verbesserten Menschenrechtssituation in
einem bisherigen „Verfolgerstaat"
durch die Anordnung eines Abschiebungsstopps ausgehebelt
wird. Eine solche Vorgehensweise
würde auch dem Sinn und Zweck
der Anordnungsbefugnis der
Obersten Landesbehörden zur
Aussetzung von Abschiebungen
gem. § 54 Satz 1 AuslG widersprechen.
§ 54 des Ausländergesetzes
(AuslG) darf
nicht in der
Weise erfolgen,
daß die geänderte Rechtsprechung aufgrund
der deutlich
verbesserten
Menschenrechtssituation
in einem bisherigen „Verfolgerstaat" durch
die Anordnung
eines Abschiebungsstopps
ausgehebelt
wird.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrage...
* aus einem Schreiben vom 28.8.96
an den Nds. Flüchtlingsrat
41
KONGO-ZAIRE
Kongo-Zaire:
Von Befreiung
noch keine Spur
Jean-René Kwaka Mbangu*
Übersetzung: Anne Wehmann
E
Wie soll in einem Staat Demokratie hergestellt werden,
der sich lediglich auf seine repressiven Apparate beschränkt?
Wie kann man
vorgeben, Veränderungen zu
wollen, wenn die
beigetragenen
Praktiken doch
nur die des Systems bleiben,
das ersetzt werden sollte?
s ist noch nicht absehbar, ob
die neue politische Ära in der
Demokratischen Republik Kongo
ebenso lange anhalten wird wie
die vorherige. Sicher ist, daß
zahlreiche Beobachter jetzt schon
Parallelen zwischen den Personen
und ihren Methoden ziehen. Der
Poet und Dramaturg Elikya M’Bokolo, sich wieder den „Quellen
der zairischen Krise" zuwendend,
deckte im Monde diplomatique
des vergangenen Monats den Virus der „Heldenschöpfung" im
politischen Leben auf. Als Erbe
Mobutus hat diese Plage letztendlich sämtliche politischen Führer des ehemaligen Zaire angesteckt. Gestern noch Patrice Lumumba, der von Mobutu Sese
Seko als Nationalheld proklamiert
wurde, der im Anschluß selbst
mit dem Bild des „Führers" und
„Retters" des zairischen Volkes
behängt wurde, heute LaurentDesiré Kabila, der „Befreier" von
Kongo-Zaire, als welcher auch
jetzt noch Etienne Tshisekedi, zu
Beginn des Jahrzehnts „Messias"
genannt, gesehen wird. Aber die
frappierendste Ähnlichkeit, die
somit in den Augen des Autors
dieser Worte den ersten
Schwachpunkt der Männer des
AFDL darstellt, ist die Inbeschlagnahme der Staatsattribute, nach
dem, was man schon allein aufgrund der bereits vor Ende des
Krieges ausgehandelten unglaublichen Verträge beurteilen kann.
* Jean-René Kwaka Mbangu ist Mitglied des Flüchtlingsrats. Er gibt in Hildesheim als Journalist die
deutsch-französische Zeitschrift “Elikya” (Hoffnung)
heraus über die Hintergründe des Konflikts in Kongo-Zaire und über Flüchtlingspolitik in Deutschland
42
Der zairische Verein für Menschenrecht (Azadho), ganz mit
den ihn betreffenden Problemen
beschäftigt, schaut mit strengem
Blick auf das Verhalten der neuen
Herren in Kinshasa. In einem Bericht vom Beginn dieses Monats
hat diese Organisation, als
Hauptzuständige für die Verteidigung der Menschenrechte, die
Ausschreitungen der AFDL in
Kinshasa angeprangert. Die Autoren dieses Berichtes, die laut Reuter die Zahl der Getöteten vor,
während und nach dem Fall der
Hauptstadt an die AFDL-Truppen
auf 647 schätzen, haben darüber
hinaus ihre Besorgnis bezüglich
der Tendenz der neuen Autoritäten ausgesprochen, in einen totalitären Staat und eine pseudofreiheitliche Demokratie abzugleiten.
Im Ausland ertönen die gleichen
Alarmschreie, der gleiche Ton,
mit dem Unterschied, daß die
Standpunkte nicht immer leicht
zu fassen sind. Sicherlich hat
Frankreich mit einer scheuen
Strenge seine Befürchtungen bezüglich der Initiativen des neuen
Regimes zur Einschränkung der
individuellen Freiheiten zum Ausdruck gebracht. Aber die Sichtweise Frankreichs aufgrund seiner
Affinitäten mit dem gestürzten
Diktator und dem Zusammenbruch, der auf seine väterliche
Afrikapolitik zurückzuführen ist,
hat bei den europäischen Partnern kaum Aufsehen erregt.
Deutschland zum Beispiel, obwohl während des Konfliktes im
Kongo eher zurückhaltend, war
eines der ersten Länder, das dem
heutigen Regime in Kinshasa seine Zusammenarbeit anbot. Die
USA hingegen, deren Unterstützung der zairischen Rebellion
nicht weiter nachzuweisen ist,
setzt auf Mehrdeutigkeit. Und
zwar verlangen die Amerikaner
einerseits von den neuen Machthabern eindeutige Schritte in
Richtung Demokratie, vertreten
andererseits aber den Standpunkt, daß der aktuelle Präsident
von Kongo durchaus eine autoritäre Haltung einnehmen muß,
um seine Macht zu verankern. Es
fällt nunmehr schwer, den amerikanischen Einfluß auf die UNO zu
übersehen, die dem Druck Kinshasas nachgeben will und Roberto Garreton, den chilenischen
Anwalt, der für die Untersuchun-
gen über die Flüchtlingsmassaker
verantwortlich ist, absetzen zu
lassen.
Kabila selbst hat klare Vorstellungen über seine Politik. Für ihn
müssen die ersten Regierungsmaßnahmen der Organisierung
dieses untergehenden Staates
dienen, damit das kongolesische
Volk Wahlen abhalten kann. Dieses Versprechen, in zwei Jahren
Wahlen durchzuführen, gilt als
Bürgschaft für seine demokratische Einstellung. Darauf, dies
hervorzuheben, bestand, wie sollte es anders sein, Nelson Mandela selbst. Obwohl er an der Spitze
der Friedensvereinbarungen
steht, die unter anderem das
Aufstellen einer Transitionsbehörde vorsah, die sämtliche zairischen Parteien repräsentieren
soll, schätzt der südafrikanische
Präsident das Verbot jeglicher
Betätigung der politischen Parteien als einziges Mittel Laurent-Desiré Kabilas ein, in seinem Land
wieder Ordnung zu schaffen und
gegebenenfalls seinen eigenen
politischen Selbstmord zu vermeiden. Aber wie sich schon Elikya
M’Bokolo seinerzeit in Anbetracht der Demokratisierungsversprechen seitens Mobutu fragte:
Wie soll in einem Staat Demokratie hergestellt werden, der sich
lediglich auf seine repressiven
Apparate beschränkt? Wie kann
man vorgeben, Veränderungen
zu wollen, wenn die beigetragenen Praktiken doch nur die des
Systems bleiben, das ersetzt werden sollte?
Während des rasenden Vordringens ihrer Truppen durch die
„befreiten Gebiete" hat die Allianz von ihrem Vorhaben der persönlichen Machtausübung insbesondere durch die Verbreitung ihrer eigenen staatsbürgerlichen Erziehung mittels obligatorischer
Ideologiefortbildungen kein Hehl
gemacht. Da verwundert es wenig, daß die ersten Maßnahmen
dem Verbot der politischen Parteien galten, die der Allianz nicht
angehören und des weiteren alle
Demonstrationen gegen die neuen Machthaber zu unterdrücken.
Diese autoritären Maßnahmen,
Grund für das abweichende Verhalten der Befreiungssoldaten,
ziehen als ärgerliche Konsequenz
die erneute Debatte um die Ab-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KONGO-ZAIRE
sichten Kabilas und seine tatsächliche Position innerhalb der Allianz nach sich. Als Beispiel nur
Brüssel, wo Hunderte von Demonstranten Mitte Mai vor der
amerikanischen Botschaft gegen
die „Besetzung unseres Landes
durch „ausländische Kräfte" protestierten. Es ist natürlich einfach,
darin nur die spontane und unüberlegte Reaktion einer Gemeinschaft zu sehen, die sich ausge-
schlossen fühlt. Aber auch die Informationen, die Anfang Juni von
Brian Atwood, dem Vorsitzenden
der amerikanischen Entwicklungsagentur USAID an Reuter
geliefert wurden, zeigen die Anwesenheit ausländischer Truppen,
insbesondere aus Ruanda, im
Osten Zaires. Ende Mai machte
Philippe Buyoya, obwohl Berater
im Außenministerium, vor Reportern der französischen Presse-
agentur folgende Aussage: „Kabila hat sich mit den Leuten verbündet, denen an seinem Sieg
gelegen ist."
Es ist für eine Regierung, der einerseits an der Sicherung der Interessen ihrer Beschützer gelegen
ist und die andererseits die Bestrebungen eines Volkes nach
Freiheit erfüllen muß, schwierig,
den Vormarsch der Demokratie
zu verfolgen.
Wi e a u ße ro rde n tl i c h sc h w i e ri g di e S i tu a ti o n de r z a i ri sc h e n F l ü c h tl i n ge
i n De u tsc h l a n d z u b e u rte i l e n i st, z e i g t d e r fo l g e n d e B e i tra g :
W
enige Monate hätten Mobutu Sese Seko noch gefehlt, um am 24. November den
32. Jahrestag seiner Machtergreifung zu feiern. Die Hälfte der
mehr als 40 Millionen Menschen
zählenden Bevölkerung des von
Mobutu in Zaire umgetauften
Landes ist unter dreißig Jahre alt
- ein anderes Leben als das unter
seiner Diktatur ist ihnen unbekannt.
Die Millionen Menschen, die im
Südwesten in der Hauptstadt
Kinshasa leben, kennen die Situation ihrer Landsleute in der südöstlichen Großstadt Lubumbashi
oder im nordöstlichen Goma an
den Großen Seen nur aus zweiter
Hand. Geringe Mobilität und
staatskontrollierte Fernsehbilder
ließen über Jahrzehnte die Gerüchteküche brodeln. So wurde
die Basis für den Glauben an den
Mythos unüberbrückbarer ethnischer Konflikte geschaffen. So
wurde im Land über Jahre der
Realitätssinn für die Existenz politisch motivierter Opposition getrübt.
Trotz dieser Rahmenbedingungen
ist es der AFDL, der Allianz der
Demokratischen Kräfte für die Befreiung, gelungen, in kürzester
Zeit quer durch das riesige Land
zu marschieren und die Diktatur
aus Dörfern, Städten und schließlich der Hauptstadt zu vertreiben.
Der Jubel über die Befreiung, mit
dem die Soldaten der Allianz im
ganzen Land begrüßt wurden,
muß zumindest als eine Abstimmung gegen die Beibehaltung
des Systems Mobutu, als Akklamation der Veränderung, bewer-
tet werden.
Im historischen Vergleich verlief
die zairische Revolution dabei
außergewöhnlich unblutig. Es ist
unbestreitbar, daß Menschen ermordet wurden und die Tragödien jedes Einzelnen dieser Schicksale wird aufgearbeitet werden
müssen. So wurde beispielsweise
bereits eine Untersuchungskommission unter Leitung von Herrn
Yambuya eingesetzt, der seit Jahren für die italienische Sektion
von Amnesty International arbeitet, um die Flüchtlingstragödie
im Lager Ubundu aufzuklären.
Dennoch bleibt für die Geschichte festzuhalten, daß Millionenstädte wie Kinshasa oder Kisangani befreit wurden, ohne daß es
zu einer einzigen großen
Schlacht gekommen wäre.
Die AFDL Sammelbewegung für den
Wiederaufbau
Seit ihrer Gründung im Herbst
1996 erweiterte sich die AFDL
von einer Allianz ihrer vier Gründungsparteien zu einer echten
Sammelbewegung. Sie kennt keine Mitgliedsausweise, die verschiedenen Strömungen der Gesellschaft tragen zum Meinungsbildungsprozeß innerhalb der Allianz bei. Heute beraten unter
dem Sammelbegriff AFDL nicht
nur die Mitglieder des größten
Teils der ehemals über 500 Parteien Zaires über die Zukunft des
Landes, sondern auch zahlreiche
Nichtregierungsorganisationen
und verdiente Personen des zivilen Lebens. Weitere Organisationen, auch Kirchen und Gewerk-
Demokratische Republik Kongo -
Die Aufgabe
Kass Kasadi*
schaften, würden sich zwar nicht
als Teil der AFDL bezeichnen,
bringen jedoch ihre Positionen
trotzdem aktiv in die von der
AFDL organisierten Kommissionen ein.
Die Zukunft der Demokratischen
Republik Kongo bedeutet eine
unglaublich große Aufgabe des
Wiederaufbaus und Neuaufbaus
nicht nur materieller Wert, sondern auch ideeller Werte, wie
zum Beispiel Glaube an die Demokratie und an die Menschenund Bürgerrechte.
Zur Mitarbeit an diesem Wiederaufbau ist jede Hilfe und jede
Person gefragt, ausgenommen
die Leute, die sich in der Zeit der
Diktatur durch Verbrechen schuldig gemacht haben. So können
* Kass Kasadi ist Europarepräsentant des Secrétariat
Générale der AFDL (ALLIANCE DES FORCES DEMOCRATIQUES POUR LA LIBERATION DU CONGO)
Der Beitrag stammt von FIC@OLN.comlink.apc.org (FIC)
vom 28.05.97. Er ist hier gekürzt widergegeben.
43
KONGO-ZAIRE
bspw. Mitglieder der Partei Mobutus, der MPR, an den Beratungen der verschiedenen lokalen
Runden Tische und Kommissionen teilnehmen, solange sie nicht
persönlich eines Verbrechens
überführt wurden.
Ent-mobutufizierung
Der gewählte Sprecher der Allianz, Laurent Kabila, sagte am 17.
Mai, nachdem er sich bereit erklärte, die Exekutivaufgaben eines
Präsidenten zu übernehmen, diese Revolution solle eine „Revolution des Pardons" sein, nicht der
Rache.
Hauptziel der notwendigen Entmobutufizierung ist es, den Opfern der Diktatur die Gewißheit
zu geben, daß ihnen nun Gerechtigkeit widerfahren wird.
Hierzu wurden bereits in vielen
Stadtteilen und Orten Meldezentren eingerichtet. Opfer der Diktatur können sich an diese Zentren richten und über ihnen oder
ihren Angehörigen verübten Verbrechen und Enteignungen berichten. In dieser Phase geht es
dabei zunächst einmal darum,
Beweise zu sammeln.
Der weitere Umgang mit den Tätern fällt in den Bereich des wiederaufzubauenden Justizwesens.
Zum Justizminister wurde für diese Aufgabe Herr Luangy Celestin
ernannt. Celestin war schon in
den sechziger Jahren in der Opposition gegen Mobutu aktiv. Damals gehörte er zu den Köpfen
der Studierendenbewegung ECP.
Zur Flucht gezwungen, beendete
er sein Jurastudium in Belgien,
wo er bis zum vergangenen Jahr
als Anwalt tätig war. Bei der Planung des neuen Justizwesens
wird er, wie alle Ministerinnen
und Minister, von einer überparteilichen, zwölfköpfigen Fachkommission unterstützt.
Die neue Regierung
Die Abschaffung der Diktatur
Mobutus bedeutete gleichzeitig
auch die Auflösung der Institutionen des alten Regimes und des
alten Staates Zaire. Viele dieser
Institutionen und der dort beschäftigten Beamten hatten aufgrund der ausbleibenden Bezahlung ohnehin schon seit länge44
rem ihre Arbeit eingestellt. Trotz
erfolgreicher Revolution müssen
in der neuen Demokratischen Republik Kongo jedoch bestimmte
Instanzen schnell wieder zur
Funktion gebracht werden, um
Versorgungsengpässe für die Bevölkerung zu verhindern und das
Ernten der Früchte der neuen
Freiheit, bspw. der Mobilität,
überhaupt zu ermöglichen. Das
Land braucht also umgehend eine neue Exekutive und diese wurde für eine Übergangsperiode
mit der Ernennung Kabilas zum
Präsidenten und der Berufung
fachkompetenter Ministerinnen
und Minister geschaffen.
Laurent Désir Kabila wurde in einer Nachtsitzung des erweiterten
Rates der Allianz am 17. Mai
zum Präsidenten gewählt. Da die
Stabilität innerhalb des Landes
noch immer die vordringliche
Aufgabe der neuen Regierung ist,
fällt auch die Organisation des
Verteidigungsressorts zunächst in
den Aufgabenbereich des Präsidenten. Der Präsident ist in seinen Entscheidungen nicht autonom, sondern hängt von den
Vorgaben des Secrétariat Général
bzw. der Fachkommissionen ab.
Somit ist die Verhinderung jeglicher Alleinherrschaft einer einzelnen Person nachhaltig garantiert.
Die wichtigsten Aufgaben der
neuen Regierung
Die neue Regierung hat sich drei
Prioritäten gesetzt. An erster Stelle der Aufgaben steht die Gewährleistung von Sicherheit und
Stabilität in dieser ersten Phase in
Kongo. Zwar kann tagsüber bereits in den meisten Teilen des
Landes die öffentliche Sicherheit
gewährleistet werden, doch
nachts bedrohen noch in vielen
Regionen des Landes mordende
Terrorbanden das Leben der
Menschen. Zu diesen Banden
gehören insbesondere die berüchtigten Milizen der sogenannten Interahamw‚ Sympathisanten
der ehemaligen Diktatur im benachbarten Ruanda. Aber auch
Bewaffnete, die an Konflikten in
anderen Nachbarstaaten beteiligt
sind, sowie noch nicht entwaffnete Einheiten der Armee Mobutus stellen für die Sicherheit der
Bevölkerung noch immer eine
große Bedrohung dar. Die Verhin-
derung dieser Überfälle ist die
Grundvoraussetzung für eine
ausreichende Versorgungssituation der Bevölkerung.
An zweiter Stelle steht die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Waren und Dienstleistungen. Dafür ist der Ausbau
von Kommunikationsmöglichkeiten und Mobilität unerläßlich.
Mobilität ist notwendig, um die
Möglichkeiten zur eigenständigen
Versorgung des Landes im Binnenhandel nutzen zu können.
Kommunikation ist die Voraussetzung für demokratische Mitgestaltung und Kontrolle. Eigenständige Medien und Kommunikationsnetze sollen hierbei gezielt
aufgebaut werden. Die AFDL
selbst verfügt heute lediglich
über drei tägliche Sendetermine
von jeweils zwei Stunden auf
dem Radiosender Voix du Peuple.
Das übrige Programm gestaltet
der Sender selbst. Die eigene Zeitung der AFDL, „Congo Libre", ist
gerade erst in Zweitausgabe erschienen. Ihr zur Seite werden
verschiedenste Zeitungen, die
sich bereits unter Mobutu Verdienste als Stimmen der Opposition erworben haben, im Sinne
der Demokratisierung des Landes
von der neuen Regierung gefördert werden. Diese Förderung soll
insbesondere in Produktionshilfen
(Papier) und Unterstützung im
überregionalen Transport bestehen und auf die Erlangung einer
finanziell unabhängigen Position
der Zeitungen hinauslaufen. Die
Organe der alten Diktatur erhalten keine Förderung mehr.
Der dritte Hauptaufgabenbereich
ist die Ankurbelung der Wirtschaft des Landes und die Schaffung der notwendigen finanziellen Ressourcen des Staates, sowie
der Investitionsfähigkeit der Bevölkerung. Als oberste Aufgabe
des wirtschaftlichen Lebens wird
dabei die Förderung des Gemeinwohls betrachtet. So wird bspw.
die Vergabe von Schürflizenzen
an internationale Partner an die
Bedingung gekoppelt, Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung
zu schaffen.
Demokratisierung
Jede im Land lebende Person
kann sich zur Mitwirkung in
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KONGO-ZAIRE
Kommissionen bereiterklären.
Nach Prüfung der Qualifikation
(letztinstanzlich durch das
Secrétariat Général) wird eine
Empfehlung ausgesprochen, auf
welcher Ebene die Person ihren
Aufbauwillen und ihre Kompetenz einbringen sollte. Neben
den Kommissionen entstehen zudem überall im Land Runde Tische, an denen die Bewältigung
der lokalen Aufgaben, aber auch
die weitere politische Entwicklung des Landes diskutiert werden. Durch zweiwöchige freiwillige Bildungskurse u.a. über Bürgerrechte, Grundzüge eines demokratischen politischen Systems
oder politische Partizipation, die
in Französisch, Lingala, Suaheli
und anderen Landessprachen
durchgeführt werden, und eine
Informationsbroschüre wird das
Mitarbeitspotential der Bevölkerung gefördert.
Für die Tausende, die aus dem
Exil ins Land zurückkehren, wurden schon in den letzten Monaten ähnliche Strukturen entwickelt. Neuankommende werden zunächst befragt, ob sie nur
zu Besuch kommen wollen, ob
sie länger bleiben oder ob sie für
immer nach Kongo zurückkehren
wollen. Dann werden sie nach
ihren Fachkompetenzen und
nach ihrer demokratischen Orientierung befragt. Auch sie müssen
sich, bevor ihnen eine Empfehlung für ein Aufgabengebiet ausgesprochen wird, drei Tage lang
über Bürgerrechte, über Demokratie, aber auch über interessante Details wie den Ursprung des
Namens „Zaire" informieren lassen.
Ob man sie nun als „Sekretariate", „Kommissionen" oder „Räte"
übersetzen will, diese parteiübergreifenden Strukturen bestimmen
derzeit auf allen Entscheidungsebenen die politische Organisation
des Landes. Insbesondere in den
Regionen, die schon länger aus
der Kontrolle Mobutus befreit
wurden, haben sie bereits eine
recht hohe Entscheidungsdynamik entwickelt.
In diesen Regionen blühen auch
die so lange unterdrückten Nichtregierungsorganisationen wieder
auf, bspw. die Marktfrauenvereinigung von Lubumbashi.
Auch sie bringen ihre Fachkom-
petenz direkt als Mitglieder der
Kommissionen ein.
In der gestaffelten Verwaltungsstruktur der Übergangsperiode
gilt dies bis hinauf zum Secrétariat Général.
Aus dem Secrétariat Général der
AFDL heraus wurden schließlich
auch die Empfehlungen ausgesprochen, auf die hin kürzlich die
einzelnen Ministerinnen und Minister des neuen Staates berufen
wurden. Jedem Ministerium ist
darüber hinaus eine zwölfköpfige
Fachkommission zugeordnet. Das
gilt auch für den Präsidenten,
dem eine eigene Kommission
quasi als Stab zur Seite gestellt
wurde. Entsprechend der Art der
Ministerien gibt es innerhalb des
Secrétariat Général Fachbeauftragte, die während der Übergangsperiode die Kommunikation
zwischen dem Politik formulierenden Organ und den ausführenden Instanzen gewährleisten. Als
zusätzliche Kommission besteht
zudem die Sonderkommission,
die sich mit der Wiederbeschaffung der von Mobutu und seiner
Machtclique gestohlenen Gelder
und Sachmittel beschäftigt.
Verfassung und Wahlen
Bis ca. Mitte Juli wird der nächste
Schritt der Demokratisierung eingeleitet sein: die Berufung der
Assemblée Constituante. Diese
voraussichtlich etwa 300 Personen zählende konstituierende
Versammlung wird ebenfalls parteiübergreifend und mit Beteiligung der NGOs zusammengesetzt sein und die wichtigen Entscheidungen über die Verfaßtheit
des neuen Staates einleiten,
bspw. das Zusammentreten der
Verfassungsgebenden Versammlung.
Die dort entwickelte Verfassung,
die sich in ihrem Entwurf vermutlich zum einen an der für das historische Bewußtsein des Landes
so wichtigen ersten Verfassung
nach der Unabhängigkeit orientieren wird, zum anderen an modernen, progressiven Verfassungen wie etwa der des neuen Südafrikas, wird schließlich die politische Grundlage bilden, auf der
im ganzen Land freie, gleiche
und geheime Wahlen stattfinden
können.
Die Situation innerhalb der
Bevölkerung
Zur Zeit läßt sich noch kein einheitliches Bild zur Situation der
Bevölkerung in Kongo zeichnen,
da die östlichen Landesteile bereits seit einem halben Jahr befreit sind - und sich somit die
Normalisierung des Lebens vollziehen konnte - während Kinshasa erst am 17. Mai 1997 von der
Diktatur befreit wurde. Allerdings
läßt sich bereits für das gesamte
Land feststellen, daß die Sicherheit der Bevölkerung nunmehr
gewährleistet ist. Die Menschen
beginnen nun, die neue Freiheit
zu nutzen und bringen z.B. Waren sicher über weite Strecken,
ohne befürchten zu müssen, von
marodierenden Armee-Einheiten
erpreßt zu werden Dadurch sind
die Märkte in den Städten sehr
gut bestückt und die Preise sinken. Es wird immer mehr Menschen möglich, das alltägliche Leben zu finanzieren. Durch die
Preissenkungen werden nicht nur
Nahrungsmittel bezahlbar, auch
die medizinische Versorgung wird
für weite Teile der Bevölkerung
langsam möglich. Die früher
wertlose Landeswährung Nouveau Zaire gewinnt gegenüber
dem US-Dollar (vor der Befreiung
wurde in Lubumbashi ein Dollar
für 450.000 NZ getauscht, heute
sind es 140.000 NZ).
Den Menschen ist nunmehr aber
nicht nur das überleben ermöglicht, auch die Organisation des
politischen Lebens außerhalb der
AFDL wird unterstützt und gefördert. Gewerkschaften, Kirchen
etc, die vor der Befreiung existierten und die nicht die Diktatur unterstützten, setzen ihre Arbeit
fort oder bauen neue Strukturen
auf.
Viele Menschen sind bereit, sich
in den vorhandenen oder neu geschaffenen Strukturen zu engagieren, auch wenn sie dafür keinerlei Lohn erhalten; in erster Linie
ist für sie der Aufbau des Landes
wichtig. Besonders deutlich ist
dieses im Bereich der sozial tätigen NGOs zu sehen.
45
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
US-Außenministerium kritisiert
deutsche Flüchtlingspolitik:
Abschiebungen bosnischer Flüchtlinge
„verfrüht"
Auszüge aus einer Pressekonferenz
des amerikanischen Außenministeriums
vom 21.5.971)
Daher ist das
Prinzip der freiwilligen Repatriierung ein sehr
wichtiges Prinzip, das nach
Auffassung der
Vereinten Nationen hochgehalten werden muß.
Frage: Was sagen Sie dazu, daß
tausende Bosnien-Flüchtlinge gezwungenermaßen die 16 deutschen Länder verlassen und damit
ein neues Balkan-Wirrwarr erzeugen? [...]
Herr Burns: [...] Die Vereinigten
Staaten unterstützen die Rückkehr der Flüchtlinge unter den
Wachsende
Bedrohung
UNO beklagt unverhohlene Mißachtung der
Flüchtlingskonvention
Andreas Zumach2)
Diese Kritik der
Hochkommissarin richtete sich
auch gegen die
Zwangsrückführung bosnischer Flüchtlinge aus Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten
Die UNO-Hochkommissarin für
Flüchtlinge, Sadako Ogata, sieht
das Recht auf Asyl und Schutz
vor Verfolgung weltweit einer
„wachsender Bedrohung" und
Erosion ausgesetzt. Immer mehr
Staaten verletzten dieses in der
UNO-Flüchtlingskonvention von
1951 verankerte Recht durch unverhohlene Zutrittsverweigerungen an ihren Grenzen oder durch
die „subtilen Veränderungen von
1)Quelle: Internet: http://www.state.gov/www/briefings/9705/970521.htr; Übersetzung: Kai Weber
2) aus der Tageszeitung vom 02.04.97
46
Bedingungen des Dayton-Friedensabkommens und der Rückkehrbemühungen der UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Frau
Ogata. UNHCR, die UN, hat jetzt
eine Strategie zur Ermöglichung
einer Rückkehr von Flüchtlingen
und im eigenen Land Vertriebenen über zwei Jahre, 1997 und
1998, formuliert. In dieser Angelegenheit drängen wir die deutsche Regierung, bei der Repatriierung eng mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten und
zu differenzieren, zu unterscheiden zwischen Bosniern aus Gebieten, in denen ihre ethnische
Gruppe in der Minderheit ist und
denjenigen aus Gebieten, in denen ihre ethnische Gruppe der
Mehrheit angehört.
Die Vereinigten Staaten unterstützen mit Nachdruck die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen
und inländischen Vertriebenen
nach Bosnien. Wir sind überzeugt, daß es verfrüht ist, Bosnier
mit Gewalt in Gebiete zurückzubringen, in denen ihre ethnische
Gruppe in der Minderheit ist. Die
Begründung dafür ist: Wir müssen realistisch sein. Die Bedingungen sind noch nicht geeignet
für die Rückkehr von Minderheiten in einige Gebiete. Wir haben
in der letzten Woche fürchterliche Gewalt von Kroaten gegen
die serbische Minderheit in der
Krajina-Region erlebt, und wir
haben auch gewalttätige Vorfälle
in Ostslovenien gesehen. Ministerin Albright hat der kroatischen
Regierung ihre Mißbilligung dieser Vorfälle übermittelt. [...]
Worauf es hier ankommt ist:
Wieviel Fortschritt auch immer
wir in Sachen Bosnien gemacht
haben, es ist noch immer nicht
sicher für einige Flüchtlinge, in
ihre Heimatstädte zurückzukehren. Daher ist das Prinzip der freiwilligen Repatriierung ein sehr
wichtiges Prinzip, das nach Auffassung der Vereinten Nationen
hochgehalten werden muß. [...]"
Gesetzen", erklärte Ogata gestern
vor der UNO-Menschenrechtskommission in Genf.
Flüchtlinge, die diese Hürden
dennoch überwinden könnten
und Aufnahme in einem anderen
Land fänden, seien zunehmend
gefährdet durch „tödliche
Attacken" auf ihre Unterkünfte.
Vor allem Frauen und Kinder
würden immer häufiger Opfer
von Übergriffen und sexueller Gewalt. Mit Blick auf die Lage in
Ruanda und Zaire monierte die
Hochkommissarin, daß Insassen
von Flüchtlingslagern - darunter
auch Kinder - von den Konfliktparteien zwangsrekrutiert werden. Ogata beklagte, das in der
UNO-Konvention vereinbarte
Prinzip der „freiwilligen Rückkehr"
von Flüchtlingen werde „zunehmend unterminiert durch
Zwangsrückschaffungen in Heimatländer, in denen keine sicheren Lebensbedingungen herrschen".
Diese Kritik der Hochkommissarin
richtete sich auch gegen die
Zwangsrückführung bosnischer
Flüchtlinge aus Deutschland und
anderen westeuropäischen Staaten. Bosnien ist für Ogata ein Bei-
spiel für den Verstoß gegen das
in der UNO-Konvention verankerte Recht auf die Rückkehr von
Flüchtlingen in ihr Heimatland.
Das Dayton-Abkommen vom Dezember 1995 enthalte zu dieser
Frage zwar „viele exemplarische
Bestimmungen". Deren Umsetzung scheitere aber an „unakzeptabler politischer Obstruktion"
verschiedene Seiten in Bosnien
sowie an fehlendem politischen
und finanziellen Engagement der
internationalen Gemeinschaft.
Seit Verabschiedung der UNOFlüchtlingskonvention 1951 stieg
die Zahl der Flüchtlinge, die unter
das damals formulierte Mandat
des UNO-Hochkommissariats fallen, von 1,5 auf 13,2 Millionen
im Jahre 1996. Zusätzlich betreut
das UNO-Hochkommissariat derzeit 3,1 Millionen Rückkehrer sowie 9,4 Millionen innerhalb ihres
Heimatlandes Vertriebene - insgesamt also rund 26 Millionen
Menschen. Darüber hinaus gab
es nach UNHCR-Schätzungen
1996 weitere rund 20 Millionen
intern vertriebene Menschen, für
deren Betreuung die finanziellen
Mittel der UNO-Organisation
nicht ausreichen.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
Al s b e i sp i e l h a fte P re sse -B e ri c h te rsta ttu n g d ru c k e n w i r d e n fo l g e n d e n
B e i tra g v o n F ri e db e rt Wo l te r a u s de r N i e n b u rge r T a ge sz e i tu n g „ H ARK E "
v o m 1 1 . Ju n i 1 9 9 7 . Di e se r Arti k e l v e rmi tte l t i n a l l e r K ü rz e di e z e n tra l e
P ro b l e ml a ge de r F l ü c h tl i n ge mi t de r e rz w u n ge n e n Rü c k k e h r u n d z u gl e i c h mi t de r so z i a l e n Di sk ri mi n i e ru n g i n De u tsc h l a n d.
H
aßbergen. Sie sind 28 und 24
Jahre alt, der Sohn ist vier.
Sie haben Tod und Terror erlebt,
wie Eltern der Nachkriegsgeneration: Dzeko Muratovic (28), Ana
(24) und Desan (4). Als Bürgerkriegsflüchtlinge haben sie in
Haßbergen eine wohnliche Bleibe
gefunden - auf Zeit. Sie sollen
zurückkehren, sagt der Landkreis
Nienburg, sie wollen es selbst,
können es aber nicht gemeinsam.
Grund dafür ist, daß das Ehepaar
unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehört, er Moslem, sie
serbisch-orthodox. Weder Serbien
noch Kroatien toleriert beides, sagen sie im Gespräch mit der
HARKE: Deswegen hatten sie
auch ihren Wohnort Cajnice in
der Republik Srpska (Serbien) verlassen müssen, hatten nach anderer Bleibe gesucht, Trebine zum
Beispiel, und waren von Miliz
und Polizei immer wieder vertrieben worden. „Verschwindet hier",
hieß es.
Dzeko und Ana haben vorübergehend in Haßbergen ihre neue
Heimat gefunden, kümmern sich
rührend um ihren Sohn, der die
Odyssee mit anschließender
Flucht miterlebte. Still mußte er
sein, als es tagsüber besser war,
sich zu verstecken. Nachts ging
es per Lkw und auch zu Fuß auf
unbekannter Route gen Norden
ungefähr eine Woche lang.
Der Bruder Dzekos in Leer war erste Anlaufstelle, bis Haßbergen
im Dezember 1994 zugewiesener
Aufenthaltsort würde. „Wir haben viel freundlichen Kontakt zur
Bevölkerung", sagen beide, füh-
len sich wohl, „weil wir keine
Angst haben müssen, es steht einer hinter uns und fragt nach
Glauben oder Herkunft".
Deutsch haben sie in nullkommanichts gelernt, Verständigung ist,
kein Problem viel mehr die Ungewißheit um die Zukunft. Reguläre
Arbeit zu regulärem Lohn bleibt
Illusion, Hoffnung, solange in
Deutschland bleiben zu dürfen,
bis zu Hause Menschen nicht
mehr wegen ihres Glaubens vertrieben werden.
Gearbeitet hat das Ehepaar Muratovic übrigens schon, wie es
das Gesetz in ihrem Fall vorsieht
oder erlaubt. Etwa zehn Tage Unkraut jäten an einer Straße in der
Samtgemeinde Heemsen stand
an, Stundenlohn zwei Mark. Angewandt wird auf Bürgerkriegsflüchtlinge das Asylbewerberleistungsgesetz, das zwei Mark Aufwandsentschädigung für Arbeit
an staatlichen kommunalen und
gemeinnützigen Stellen vorschreibt.
Noch eine Arbeit stand an, Heidelbeeren pflücken. Für das Kilo
gab es 1,50 Mark, gut drei Wochen lang, Verdienst zirka 300
Mark. Verdienst?
„Wer Leistungen der Sozialhilfe
nach dem Bundessozialhilfegesetz erhält oder begehrt, ist auch
verpflichtet, seine Arbeitskraft
einzusetzen und sich um Arbeit
zu bemühen. Wer sich weigert,
zumutbare Arbeit zu leisten, hat
keinen Anspruch auf Hilfe zum
Lebensunterhalt", heißt es in dem
Schreiben des Landkreises an Familie Muratovic.
Und weiter: „Wie sich ergeben
hat, werden noch Saisonkräfte
für die Heidelbeerernte benötigt.
Sollten Sie diesen Termin nicht
wahrnehmen, werde ich zu prüfen haben, ob die bisher gewährte Sozialhilfe eingestellt oder zumindest gekürzt wird."
„Als wären es
unsere eigenen
Kinder"
Flüchtlingsfamilie aus Haßbergen
soll nach Serbien zurück - will auch kann aber nicht
Von Friedbert Wolter
Am 9. April legt der Landkreis die
Rückkehr nach Ex-Jugoslawien
nahe, mit vorsorglicher Abschiebungsandrohung, freiwillig bis
31. Juli. Mit Hilfe von Betreuerin
Regina Andresen wird Einspruch
erhoben.
Laut Erlaß vom 14. April 1997 ist
„die Rückführung der bosnischen
und kroatischen Volkszugehörigen aus der Republik Srpska erst
für nächstes Jahr vorzusehen".
Der Landkreis am 15.Mai:
„Nach....Abstimmung mit dem
niedersächsischen Innenministerium in diesem Einzelfall wird auch
von dort kein Anlaß zur Beanstandung an dieser Verfahrensweise gesehen, insbesondere
auch nicht am der gesetzten Ausreisefrist in diesem Fall".
Dazu Regina Andresen:
„Familie Murotovic nimmt ihr
Schicksal selbst in die Hand, und
was haben die schon durchmachen müssen. Die Betroffenen
kennen ihr Problem am besten,
ich kann nur helfen."
47
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
Rückkehr
nach Nirgendwo
Eine ganz normale Abschiebungsandrohung
Gabriele Thiel
Familie K. aus dem Gebiet der sogenannte Herceg-Bosna flüchtete
1993 nach monatelanger Verfolgung aus Todesangst nach
Deutschland. Vater und Tochter
waren in Konzentrationslagern in
der Nähe Moslars inhaftiert. Die
Flucht gelang nur unter abenteuerlichen und lebensgefährlichen
Bedingungen. Die Frauen lebten
mehrere Wochen hinter Matratzen versteckt und verkleideten
sich als katholische Nonnen, obwohl sie der muslimischen Minderheit angehörten, um über
Kroatien nach Deutschland zu
entkommen. In Braunschweig
fanden sie Zuflucht und konnten
sich von den Strapazen erst einmal erhoben.
Doch November 1996 erhielten
sie die Ausreiseaufforderung mit
Abschiebungsandrohung, gegen
die bei der Ausländerbehörde
Widerspruch eingelegt wurde.
Unterstützerinnengruppe
für Frauen im Exil
K arla
Begründung: Eine Rückkehr in
das Gebiet um Mostar sei nicht
möglich, die Wohnung sei zerstört, die Zusage, sich in einer
anderen Stadt in der bosnisch-
48
Karla
kroatischen Förderation niederlassen zu dürfen, sei nicht zu bekommen. Hinzugefügt wurden
Atteste über verschiedene schwere Erkrankungen der Frau und
der Traumatisierung des Ehemannes. Erwähnt wurde auch die geplante Anhörung vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.
Doch die Ausländerbehörde ließ
die Familie bis Mai im Ungewissen. Nun sollte plötzlich die Reisefähigkeit durch das hiesige Gesundheitsamt überprüft werden.
Die Familie geriet in Panik. Mit
ärztlichem Attest wurde dem Gesundheits- und Ausländeramt
mitgeteilt, daß die gesundheitliche Verfassung eine Rückkehr in
eine völlig ungewisse Zukunft
nicht erlaubt.
Der Leiter des Gesundheitsamtes
hielt jedoch die vorgetragenen
Beschwerden für wenig glaubwürdig. Das Ausländeramt kündigte der Familie mündlich an,
daß die Abschiebungsandrohung
nicht aufgehoben werde.
In diese Situation platzte die
Nachricht, daß ab sofort Flüchtlingen aus Westeuropa Zölle bis
zu 51% des Neuwerts für ihr Hab
und Gut auferlegt werden, wenn
sie zurückkehren. Offensichtlich
hält man die Flüchtlinge für besonders vermögend und übersieht, daß fast alle von Sozialhilfe
leben mußten.
Frau K: „Ich bin verzweifelt. In
Bosnien erwartet uns bitterste Armut. Im besten Fall werden wir
Unterkunft in einem Lager finden. Dort leben bis zu 30 Personen in einem Raum. Die Ernäh-
ist eine unabhängige und selbstorganisierte Frauengruppe in Oldenburg. Wir arbeiten seit ca. zwei Jahren mit
und für geflüchtete Frauen, vor allem mit Frauen
aus der ZAST Blankenburg.
Unsere Schwerpunkte sind Austausch, Angebot
(bei Bedarf) von z.B. Sprachkursen, Beratung und
Öffentlichkeitsarbeit.
Frauen, deren Transfertermin feststand, haben
uns häufig nach Adressen von Gruppen und Initiativen in den jeweiligen Transferorten gefragt.
Deshalb haben wir jetzt vor, möglichst viele Kontaktadressen aus anderen Städten in einer Broschüre zusammen zustellen, die wir an die Frauen in der ZAST weitergeben können.
rung ist nicht gesichert. Suppenküchen haben kaum noch Gelder. Ohne offizielle Anmeldung
werden neuankommende Flüchtlinge gar nicht erst registriert und
haben überhaupt keinen Anspruch auf humanitäre Hilfe
durch Flüchtlingsorganisationen.
Ich selbst bin sehr krank und
weiß nicht, ob ich irgendeine Arbeit bewältigen kann. Mein
Mann ist auch schon über 60.
Die Rückkehr in unsere Heimatstadt ist völlig unmöglich. Wir
waren in Todesgefahr. Die Spannungen um Mostar herum nehmen laufend zu. Vielleicht gibt es
bald wieder Krieg und Kroatien
verleibt sich die gesamte HercegBosna ein.
So müssen wir Zuflucht in Sarajevo suchen. Doch dort können wir
nur illegal leben. Nur wenn jemand für uns einen Garantiebrief
unterschreibt, können wir vielleicht dort bleiben. Auf dem
Schwarzmarkt kostet ein solcher
Brief 2500,- DM pro Person. Ich
weiß nicht, wie wir dieses Geld
aufbringen sollen."
Fazit: Nicht nur Flüchtlingen aus
der sogenannten Republik Srpska
droht bitterste Not und damit
Gefahr für Leben und Gesundheit, auch viele BosnierInnen aus
der Konförderation sind in einer
ausweglosen Situation. Sie brauchen Unterstützung, um entweder ihre Rechte in Deutschland
doch noch durchzusetzen oder
auf lange Sicht vielfältige Hilfen
in Bosnien-Herzegowina. Sonst
war es in Deutschland nur ein
„Überleben auf Zeit".
(Braunschweig, 20. Juni. 1997)
So haben sie direkt eine oder mehrere Anlaufstellen.
Wer Interesse hat setze sich doch mit uns in
Verbindung. Am besten schickt ihr gleich eure
Adresse, Bürozeiten und eine Beschreibung der
Arbeit, die für asylsuchende Frauen verständlich ist! Eine Übersetzung in die geläufigen
Sprachen wäre natürlich toll.
Vielen Dank
Karla
Unterstützerinnengruppe für Frauen im Exil
Kaiserstr. 24
26122 Oldenburg
Tel/ Fax: 0441-2489661
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
D
er Landtag wolle beschließen:
Nach dem Friedensschluß von
Dayton ist die Situation in den
Bürgerkriegsgebieten im ehemaligen Jugoslawien immer noch instabil. Die Trennung in ethnisch
scharf von einander abgegrenzte
Gebiete führt dazu, daß viele
Menschen in ihre ursprüngliche
Heimatregion zum derzeitigen
Zeitpunkt nicht zurückkehren
können. Dies betrifft insbesondere multiethnische Familien und
Ehepaare, aber auch diejenigen,
deren Region ethnisch anderweitig aufgeteilt wurde. Darüber
hinaus lassen Gründe wie z.B. eine starke Traumatisierung durch
die Kriegserlebnisse, Vergewaltigungen und Folter, eine Rückkehr
nicht zu. Die gesellschaftlichen
Strukturen sind durch Krieg, Massenmord, Flucht und Vertreibung
zerrüttet. Haß und Mißtrauen
zwischen den Volksgruppen sind
im gesamten Land spürbar.
Das in dem Abkommen von
Dayton allen Flüchtlingen zugesicherte Recht, frei an ihren früheren Wohnort zurückzukehren, in
Sicherheit, ohne jedes Risiko der
Bedrohung, Einschüchterung,
Verfolgung oder Diskriminierung,
das mit dem Ziel vereinbart wurde, langfristig gesehen zu einem
friedlichen Zusammenleben der
verschiedenen Ethnien zurückzukehren, kann derzeit nicht garantiert werden.
Im Gegensatz zu diesem Geist
von Dayton geht das niedersächsische Innenministeriums in seinem Erlaß vom 14. April 1997
nunmehr davon aus, daß alle
bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge einschließlich der gemischtethnischen Familien und der Personen bosniakischer und kroatischer Volkszugehörigkeit aus der
Republik Srpska zurückgeführt
werden können, da - mit wenigen Ausnahmen - jeder die Möglichkeit habe, sich in einem Gebiet niederzulassen, in dem seine
Volkszugehörigkeit die Mehrheit
hat. Dieses steht im Widerspruch
zu dem Lageberichtes des Auswärtigen Amtes für Bosnien und
Herzegowina und die Republik
Srpska vom 30. Januar 1997, in
dem die Situation in allen Lebensbereichen als erschreckend
dargestellt wird.
Während Innenminister Kanther
die „Rückführung" der bosnischen Kriegsflüchtlinge den Ländern überläßt, hat sich der Bundesaußenminister Kinkel gegen
die Rückführungspläne der Innenministerkonferenz gewandt.
Die Länder sind mehrfach von
ihm aufgefordert worden, nicht
nur den Familienstand, sondern
vielmehr die Herkunftsorte der
Flüchtlinge zu berücksichtigen.
Die Forderung des Bundesaußenministers nach lückenloser Einhaltung des Daytoner Abkommens
beinhaltet nicht nur eine Verpflichtung für die Vertragspartner. Auch die Bundesrepublik, die
der Unterzeichnung des Vertrages als Zeuge beigewohnt hat, ist
gefordert, mit der Rückführung
solange zu warten, bis eine Rückkehr an den Heimatort möglich
ist. Gegenstand der Kritik des
Außenministers war wiederholt
auch die rigide Form, mit der die
Länder die Rückführung der
Flüchtlinge durchsetzen.
Der Niedersächsische Landtag
stellt fest, daß die Freiwilligkeit
der Rückkehr und - gemäß dem
Geist des Daytoner Abkommens das Recht der Flüchtlinge, frei an
ihren früheren Wohnort zurückzukehren, in Sicherheit und Würde, höchste Priorität hat. Die Politik der ethnischen Säuberung
darf nicht durch Abschiebungen
in ethnisch-bereinigte Gebiete im
Nachhinein legitimiert werden.
Die Landesregierung wird
aufgefordert,
a) die Kritik des Bundesaußenministers und der Flüchtlingshilfsorganisationen an der übereilten
und unsensiblen Abschiebungspraxis zur Kenntnis zu nehmen
und von dem derzeitigen Rückführungszeitplan Abstand zu
nehmen
b) in Abstimmung mit den Innenministern der Länder und der
Bundesregierung ein Bleiberecht
für diejenigen sicherzustellen, die
derzeit nicht die Möglichkeit zur
Rückkehr in Sicherheit und Würde haben.
Hierzu gehören insbesondere:
- Angehörige bi-ethnischer Familien, bis die Situation in BosnienHerzegowina sich so verändert
hat, daß diese Familien in Sicherheit und Würde an ihre Heimat-
Antrag
Statt Abschiebung - Recht der bosnischen
Flüchtlinge auf Rückkehr in Sicherheit und
Würde
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im
Niedersächsischen Landtag
orte zurückkehren können
- Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, die nicht in den Genuß
einer Amnestie kommen, um sie
vor Strafverfolgung zu schützen,
weil sie sich dem Kriegsdienst in
einem völkerrechtswidrigen Krieg
entzogen haben
- Personen aus Gebieten, in denen sie bei einer Rückkehr nicht
mehr der Mehrheitsbevölkerung
angehören würden
- Roma, weil sie nach Aussagen
von Menschenrechtsorganisationen im gesamten Gebiet von
Bosnien-Herzegowina keine Existenzgrundlage mehr haben
- Schülern, Auszubildenden und
Studenten bis zum Abschluß ihrer Ausbildung.
Ein dauerhaftes Bleiberecht bedürfen insbesondere
- durch Kriegs- und Fluchtereignisse traumatisierte Personen, so
z.B. ehemalige Häftlinge aus
Konzentrationslagern, vergewaltigte Frauen und weitere Opfer
schwerer Menschenrechtsverletzungen
- geladene und potentielle Zeuginnen und Zeugen des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag,
um die Betroffenen persönlich zu
schützen und um die Anklagen in
Den Haag nicht zu gefährden.
Die in dem Erlaß des Innenministeriums vom 14.4.1997 vorgesehenen Ausnahmeregelungen für
bestimmte, auch hier genannte
Personengruppen, sind nicht ausreichend.
Die Landesregierung wird aufgefordert zu veranlassen, daß den
Betroffenen eine mindestens
zwölfmonatige Aufenthaltsbewilligung und Arbeitserlaubnis ausgestellt wird.
49
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
Der Niedersächsische Landtag
stellt fest, daß der Wiederaufbau
und die Rückkehr Hand in Hand
gehen müssen. Er fordert die
Landesregierung auf, denjenigen,
die freiwillig zurückgehen wollen
und die Möglichkeit dazu haben,
über die bisherigen Leistungen
hinaus bei ihrer Rückkehr behilflich zu sein. Selbsthilfe-, Rückkehr- und Wiederaufbauprojekte
von Flüchtlingen sollen unterstützt und finanziell gefördert
werden. Hierzu wird eine Koordinationsstelle eingerichtet, die bei
allen technischen und finanziellen
Fragen tätig wird, so z.B. bei der
Koordinierung und Kostenübernahme von Möbel-, Hausrat- und
Baumaterialien-Transporten. Darüber hinaus wird eine Informations- und Beratungsstelle als
Netzwerk für Initiativen zur Rückkehrhilfe eingerichtet, die Betroffene, Städte und Gemeinden,
Schulen, Einzelpersonen und
Gruppen über die Möglichkeiten
von Partnerschaften und Wiederaufbauprojekten berät und finanziell unterstützt.
Begründung
Der Lagebericht des Auswärtigen
Amtes vom 30. 1. 1997 stellt die
Situation in allen Lebensbereichen in Bosnien, Herzegowina
und der Republik Srpska als überaus erschreckend dar. So bestehen in vielen Gebieten des Landes mafia-ähnliche und lokalherrschaftliche Strukturen aus Kriegszeiten fort, wobei die Polizei das
Recht nur unvollkommen durchsetzt. Flächendeckend kommt es
weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen und Mißhandlungen im
Polizeigewahrsam.
Die Menschenrechtslage hat sich
kaum verbessert. Es kommt weiterhin zu Diskriminierungen von
Minderheiten, zu Zerstörungen
von Häusern aus ethnischen
Gründen und zu Vertreibungen
in Einzel- und Gruppenfällen.
Zwischen den einzelnen ethnischen Gebieten ist die Bewegungsfreiheit kaum gewährleistet. Es kommt zu willkürlichen
Verhaftungen. In ganz Bosnien
und Herzegowina kommt es
nach wie vor zu Übergriffen und
Schikanen durch die Bevölkerung,
zu Schießereien, Handgreiflichkei50
ten und Eigentumsdelikten, wobei die lokalen Behörden häufig
nicht einschreiten.
Von schätzungsweise 2,1 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen sind im vergangenen Jahr ca.
250.000 an ihre Herkunftsorte
zurückgekehrt, von denen der
größte Teil Binnenvertriebene
sind. Etwa 80 % der Bevölkerung
leben weitgehend von humanitärer Unterstützung. In der industriellen Produktion, die auf ca.
8-12 % des Vorkriegsniveaus gesunken ist, sind ca. 5 % beschäftigt. Hinzu kommen 250.000 demobilisierte Soldaten, die nur
schwer einen Arbeitsplatz finden.
Ca. 60 % des Wohnungsbestandes sind zerstört oder stark beschädigt. Rücksiedlungsprojekte
werden von örtlichen Behörden
blockiert. Tagsüber aufgebaute
Häuser werden nachts wieder abgerissen. Nach wie vor lebt eine
große Zahl von Binnenflüchtlingen in Sammellagern, wie Kasernen, Turnhallen und Schulen. Vielerorts stößt eine Rückkehr ethnischer Minderheiten auf Widerstand.
Trotz gewährter finanzieller Hilfen
durch die internationale Staatengemeinschaft kommt der Wiederaufbau nicht voran. Dies gilt insbesondere auch für das deutsche
Vorzeigeprojekt im Kanton Una
Sana, das bisher lediglich finanziell bewilligt ist, jedoch noch nicht
ansatzweise in die Tat umgesetzt
wurde.
Sowohl von staatlicher als auch
nicht staatlicher Seite werden
Rückkehrmöglichkeiten bestimmter Volkszugehöriger unterbunden. Da die Infrastruktur des Landes nicht in der Lage ist, eine
größere Zahl von Rückkehrern
aufzunehmen, würden Massenabschiebungen zu einer weiteren
Destabilisierung vor Ort führen.
Angesichts fehlender Arbeitsplätze und Wohnraums wären die
Betroffenen kurz- bis mittelfristig
von der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und humanitärer Unterstützung abhängig. Trotz gegenteiliger Äußerungen der bosnischen Verwaltung
gibt es große Schwierigkeiten bei
der Registrierung der RückkehrerInnen durch die Gemeindeverwaltungen, die Voraussetzung
für finanzielle Hilfe zum Leben
ist. Viele Gemeinden verweigern
die Registrierung bei Flüchtlingen, die versuchen, in einer anderen als ihrer Heimatgemeinde
Aufnahme zu finden.
Abgesehen von der hier allgemein beschriebenen Situation in
der Föderation sind darüber hinaus bestimmte Personengruppen
gefährdet, so z.B. bi-ethnische
Familien, gegen die insbesondere
in ländlichen Gebieten Vorbehalte bestehen. Eine weitere Gruppe, die mit verschärften Sanktionen rechnen muß, sind Deserteure. Trotz der Verabschiedung eines Amnestiegesetzes kommt es
zu Verhaftungen. Nach dem gültigen Strafgesetzbuch steht Desertion im Kriegszustand nach
wie vor unter schwerer Strafe, bis
hin zur Todesstrafe.
In der Republik Srpska ist die Situation in allen Bereichen noch
schwieriger als hier dargestellt.
Darüberhinaus weigert sich die
serbische Führung, Nicht-Serben
und Serbinnen aufzunehmen.
Angesichts dieser Fakten ist es
unverantwortlich, Bürgerkriegsflüchtlinge unter Zwang nach
Bosnien, Herzegowina und in die
Republik Srpska abzuschieben.
Von daher ist es unerläßlich, die
geplanten Abschiebungen nach
Bosnien zu stoppen und sich auf
Bundesebene dafür einzusetzen,
den unrealistischen Zeitplan für
die Rückkehr der Flüchtlinge
zurückzunehmen.
Das Land Nordrhein-Westfalen
hat dieses schon durch die Verlängerung des Abschiebungsstopps bis zur nächsten Innenministerkonferenz getan.
Statt weiterhin Druck auf die
Flüchtlinge auszuüben, ist es
dringend erforderlich, die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr zu schaffen und in Zusammenarbeit mit bosnischen Stellen, internationalen und nichtstaatlichen Organisationen, Kommunen sowie den Flüchtlingen
selbst Wiederaufbauprojekte in
die Wege zu leiten.
(Hannover, den 10.06.97)
A n m e rk u n g : A u c h d i e s e r g u tg e m e i n te A n tra g l ä ß t j e d e Ä u ß e ru n g z u e i n e m s e l b s tv e rs tä n d l i c h e n B l e i b e re c h t v e rm i sse n . R e d .
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
D
ie 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Göttingen hat
am 2. Juni 1997 durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Kaiser als Einzelrichterin
beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung der
Klage der Antragsteller 4 A
4228/97 gegen den Bescheid der
Antragsgegnerin vom 14.05.
1997 wird insoweit angeordnet,
als den Antragstellern die Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina angedroht worden ist.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Gegenstandswert beträgt
4.500,00 DM.
Gründe
I.
Der Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der
gleichzeitig erhobenen Klage (4 A
4228/97) gegen den Bescheid
der Antragsgegnerin vom 14. 05.
1997 ist gemäß §§ 75, 71 Abs.
4, 36 Abs. 3 Asyl-VFG i. V. m.
§80 Abs. 5 VwGO zulässig und
mit dem tenorierten Ausspruch
begründet.
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5
VwGO zu treffende Abwägungsentscheidung zwischen dem öffentlichen Interesse am Vollzug
des angefochtenen Bescheides
und dem privaten Interesse der
Antragsteller bis zur Entscheidung in der Hauptsache von der
Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen verschont zu
werden, geht zugunsten der Antragsteller aus. An der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen bezüglich der
Abschiebungsandrohung nach
Bosnien-Herzegowina ernstliche
Zweifel i. S. v. § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG.
Deutschland und der Bundesregierung der Bundesrepublik Jugoslawien über die Rückführung
und Rückübernahme von ausreisepflichtigen deutschen und jugoslawischen Staatsangehörigen
(MBI. 1997, 133) heißt es hierzu,
daß der Besitz eines jugoslawischen Passes noch kein Nachweis
über die jugoslawische Staatsangehörigkeit ist.
Soweit der im Paß eingetragene
Wohnort außerhalb des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Jugoslawien liege, sei dies ein Indiz
dafür, daß es sich nicht um einen
jugoslawischen Staatsangehörigen handele. Hierzu gehörten
insbesondere Personen, denen
man in Jugoslawien aus „humanitären Gründen" einen jugoslawischen Paß ausgestellt habe. Es
handele sich hierbei fast ausschließlich um bosnische Staatsangehörige serbischer Volkszugehörigkeit, die keinen bosnischen
Paß mehr besäßen und die Ausstellung auch nicht beantragen
wollten, weil sie sich als Serben
fühlten.
Im Hinblick darauf, daß die Antragsteller entsprechend ihren
bisherigen Angaben (bestätigt
durch den Besitz der jugoslawischen Reisepässe) serbische Roma
aus dem Gebiet der Föderation
Bosnien und Herzegowina sind,
begegnet die Rechtmäßigkeit der
Abschiebungsandrohung nach
Bosnien und Herzegowina ernstlichen Zweifeln.
Die Entscheidung der Antragsgegnerin, für die Antragsteller ein
weiteres Asylverfahren nicht
durchzuführen, begegnet schon
aus den im Bescheid genannten
Gründen, denen das Gericht folgt
(§ 77 Abs. 2 Asyl-VFG) keinen
rechtlichen Bedenken.
Die Antragsteller stammen aus
dem heute bosniakisch dominierten Volovo.
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.01.1997
ist eine Rückkehr von Serben sowohl in kroatisch als auch in bosniakisch dominierte Gebiete der
Föderation praktisch nicht möglich. Unter Berufung auf Auskünfte von UNHCR wird im Lagebericht mitgeteilt, daß Rückkehrmöglichkeiten für Vertriebene
serbischer Nationalität in die Föderation weitgehend sowohl von
staatlicher als auch von nichtstaatlicher Seite unterbunden
würden.
(...) Nach dem Erlaß des Nds. MI
vom 29.11.1996 zur. Umsetzung
des Abkommens zwischen der
Regierung der Bundesrepublik
Soweit die Antragsteller sich
grundsätzlich bei einer Rückkehr
auf die serbisch dominierte Republik Srpska (RS) verweisen lassen
Serbische Roma
dürfen nicht nach Bosnien-Herzegowina
abgeschoben werden
Verwaltungsgericht Göttingen
Aktenzeichen: 4 B 4229/97
müssen, sind nach dem Lagebericht aus dem Ausland zurückkehrende Serben wegen Zweifel
an ihrer Loyalität gegenüber der
RS-Regierung nur bedingt willkommen.
Im übrigen sind die Lebensbedingungen in der RS deutlich
schlechter als in der Föderation.
Viele Flüchtlinge leben dort unter
völlig unzureichenden Bedingungen in Sammellagern.
Rückkehrer in die RS haben danach nur sehr geringe Chancen
aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt zu verdienen und der
überwiegende Teil der internationalen Wiederaufbauhilfe konzentriert sich auf die Föderation.
“An der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen
Bescheides bestehen bezüglich
der Abschiebungsandrohung
nach BosnienHerzegowina
ernstliche Zweifel.”
Es bestehen nach alledem Anhaltspunkte dafür, daß ein zwingendes Abschiebungshindernis
aus § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG für
die Antragsteller zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung insoweit führt, als BosnienHerzegowina in der Androhung
nicht als Staat ausgeführt ist, in
den die Abschiebung nicht erfolgen darf (§ 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG).
Entsprechendes hat die Kammer
mit Beschluß vom 20.05.1997 im
Verfahren 4 B 4215/97 für einen
Bosniaken aus Bijeljina in der RS
entschieden.
Nach alledem war dem gegen die
Abschiebungsandrohung gerichteten Eilantrag zu entsprechen.
Die Kostenentscheidung beruht
auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b
Abs. 1 AsylVfG.
51
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
Verfahren
Rückübernahmeabkommen Jugoslawien,
freiw. Ausreisen
Bundesinnenministerium*
B
Die jugoslawische Seite machte erneut deutlich, daß sie
nicht zur Rückübernahme von
bosnischen
Kriegsflüchtlingen, denen aus
humanitären
Gründen jugoslawische Pässe
ausgestellt wurden, bereits ist.
etr.: Abkommen zwischen der
Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Bundesregierung der Bundesrepublik Jugoslawien über die Rückführung
und Rückübernahme von ausreisepflichtigen deutschen und Jugoslawien Staatsangehörigen
(Rückübernahmeabkommen)
hier. 1. Sitzung des Expertenausschusses
Am 30./31. Januar 1997 fand in
Belgrad die 1. Sitzung des gemäß
Artikel 8 des Rückübernahmeabkommens eingerichteten
deutsch-jugoslawischen Expertenausschusses statt.
Die jugoslawische Seite hat bekräftigt, ihren Verpflichtungen
aus dem Rückübernahmeabkommen ohne Einschränkungen
nachkommen zu wollen. Bei der
praktischen Durchführung ergeben sich jedoch derzeit folgende
Probleme:
1. Wird mit dem Ersuchen auf
Feststellung der Identität und der
Staatsangehörigkeit von den
deutschen Stellen ein Originalpaß
übersandt, so verfährt das jugoslawische Bundesministerium für
innere Angelegenheiten wie
folgt.
- Wird Ersuchen positiv beschieden, so wird der Paß einbehalten,
* Schreiben vom 05.02.1997
an die Innenminister /-senatoren der Länder; leicht gekürzt
siehe auch nds. Umsetzungserlaß in FLÜCHTLINGSRAT 2/97
52
für die Rückübernahme wird von
den diplomatisch-konsularischen
Vertretungen der Bundesrepublik
Jugoslawien in der Bundesrepublik Deutschland ein Paßersatzpapier ausgestellt. Die betroffene
Person erhält ihren Paß erst nach
Einreisein die Bundesrepublik Jugoslawien zurück.
- Wird das Ersuchen negativ beschieden, ebenfalls wird der Paß
einbehalten, da die jugoslawische
Seite in diesen Fällen von einer
Ungültigkeit des Passes ausgeht.
- Eine Zurücksendung des Originalpasses kann nach jugoslawischer Auffassung nur dann erfolgen, wenn die Überprüfung ergibt, daß es sich bei der betreffenden Person um einen Kriegsflüchtling aus Bosnien und Herzogowina handelt, dem aus humanitären Gründen ein jugoslawischer Paß ausgestellt worden
ist.
In der Regel sollte daher von der
Übersendung von Originalpässen
abgesehen und der Weg der
Glaubhaftmachung mittels Paßkopie gewählt werden.
2. Die jugoslawische Seite besteht auch bei freiwilliger Ausreise auf Prüfung der Staatsangehörigkeit und Identität des
Rückkehrers. Die Rückreise kann
nur mit einem von der diplomatisch-konsularischen Vertretung
ausgestellten Paßersatzpapier erfolgen.
Die zu 1. gemachten Ausführungen gelten daher auch für freiwillig Zurückkehrende.
3. Wird ein von der Abschiebung
bedrohter jugoslawischer Staatsangehöriger in einer diplomatisch-konsularischen Vertretung
vorstellig, um seine freiwillige
Ausreise einzuleiten, so ist die
Botschaft oder das Konsulat bereit, auf Antrag eine Bescheinigungen über diese Vorsprache
auszustellen. Bisher von den
deutschen Behörden verwendete
Vordrucke, mit denen die diplomatisch-konsularischen Vertretungen die persönliche Vorsprache bestätigten sollten, werden
seitens Jugoslawiens nicht akzeptiert. Sie werden von dort als Fälle der unfreiwilligen Ausreise an-
gesehen. Daher sollten solche
Vordrucke auch nicht mehr verwandt werden.
5. Zur Frage der Rückführung von
Personen, die in gemischt-nationaler Ehe leben, vertritt die jugoslawische Seite die Auffassung,
daß ein Verfahren gemäß dem
Rückübernahmeabkommen nur
für den Ehepartner mit jugoslawischer Staatsangehörigkeit eingeleitet werden kann.
Gleiches gilt für diejenigen Kinder, deren Geburt in Deutschland
in den diplomatisch-konsularischen Vertretungen zur Eintragung ins Geburtenregister angemeldet worden ist.
Der nicht-jugoslawische Ehepartner unterfällt dem jugoslawischen Ausländerrecht und muß
ein Einwanderungsvisum beantragen.
6. Die jugoslawische Seite machte erneut deutlich, daß sie nicht
zur Rückübernahme von bosnischen Kriegsflüchtlingen, denen
aus humanitären Gründen jugoslawische Pässe ausgestellt wurden, bereits ist. Sie bittet von
Rückübernahmeersuchen betreffend dieses Personenkreises abzusehen. Ist die Zugehörigkeit zu
diesem Personenkreis aus dem
deutschen Behörden vorliegenden Unterlagen nicht eindeutig
zu erkennen, so ist die jugoslawische Seite zur Entgegennahme
des Ersuchens und zur Prüfung
der Staatsangehörigkeit und
Identität der betroffenen Personen bereit.
7. Gemäß Artikel 5 Abs. 1 des
Rückübernahmeabkommens haben die Rückführung und Übernahme von Personen gleichmäßig
und kontinuierlich zu erfolgen.
Die jugoslawische Seite bittet,
diese Prinzipien auch bei der
Übermittlung der Ersuchen anzuwenden. In Anbetracht der z.Zt.
in großem Umfang eingehenden
Ersuchen sieht sie sich nicht in
der Lage, die im Abkommen sowie im Durchführungsprotokoll
vorgesehenen Fristen einzuhalten.
Ich bitte, die zuständigen Behörden entsprechend zu unterrichten.
Im Auftrag ...
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
1
993: G. flieht aus dem serbisch
besetzten Kosova und kommt
nach Deutschland; als Flüchtling
aus „Rest-Jugoslawien" erhält er
eine Duldung.
1994: G.s Duldung wird nur noch
wochenweise verlängert, um G.s
Bemühungen um die Paßbeschaffung durch die „jugoslawischen"
Behörden zu forcieren.
Im Juni stellt G. auf Anraten seiner Freundin einen Asylantrag; zu
diesem Zeitpunkt geht das OVG
Lüneburg von einer Gruppenverfolgung der Kosova-Albaner aus.
Er muß von seiner Unterkunft in
der Innenstadt Hannovers in die
ZAST Langenhagen ziehen und
erhält dort statt der Sozialhilfe
ein Taschengeld von 16 DM
wöchentlich.
Vor der Anhörung wird die
Freundin aus dem Anhörungszimmer geschickt; der Angestellte
des Bundesamtes verweigert die
Einholung einer Erlaubnis durch
den Stellenleiter; während der
Anhörung unterstellt er G., daß
er lüge - „Was würden Sie dazu
sagen, wenn ich Ihnen nicht
glaube?" und erklärt, daß er als
Laie nicht verstehen könne, wie
auf Fotos aus erhöhter Perspektive Einzelpersonen zu erkennen
sein können; (G. erklärt, daß die
Polizei ihm bei seiner Verhaftung
ein Demonstrationsfoto vorgelegt
hätte);bei der Protokollverlesung
fordert der Dolmetscher G. auf,
das Protokoll ohne die von G. geforderte Berichtigungen zu unterschreiben.
Das Protokoll von G.s Anhörung
geht zur Entscheidung nach Bielefeld, während das Bundesamt
in Langenhagen inzwischen auch
schon von einer Gruppenverfolgung der Kosova-Albaner ausgeht. Der „Anhörer": „Du
kommst hier nicht so einfach
durch, dafür sorge ich!"
Im Juli reicht G. durch seine Anwältin ein ärztliches Attest nach,
daß Brandnarben an G.s Beinen
konstatiert.
Im September erfolgt die Ablehnung von G.s Asylantrag; sein
Vortrag sei unsubstantiiert; das
Attest findet keine Erwähnung;
die Rechtsanwältin legt Widerspruch ein. Einziger Lichtblick: G.
wird umverteilt und darf in die
Wohnung seiner Freundin ziehen.
Ende Oktober erkennt das VG
Hannover G. als asylberechtigt
aufgrund der Gruppenverfolgung
in Kosova an.
Ebenfalls im Oktober hob aber
das BVG die Rechtsprechung des
OVGs auf, indem es eine Gruppenverfolgung in Kosova verneint. G. muß abwarten, daß seine Anerkennung rechtskräftig
wird.
1995: Im Januar unterrichtet der
Bundesbeauftragte für die Anerkennung Ausländischer Flüchtlinge G. s Anwältin (die Kanzlei hatte inzwischen eine andere angestellt), daß er (im November!) die
Zulassung zur Berufung beantragt habe - damit wird das Urteil
des VG nicht rechtskräftig.
Ende Dezember entscheidet das
OVG Lüneburg, daß der Widerspruch zulässig sei - im Unterschied zu früheren Zulassungsanträgen, die das OVG zurückgewiesen hatte, hat der Bundesbeauftragte in seine Begründung zu
G.s Fall inzwischen einen entscheidenden neuen Passus aufgenommen.
1996: Im Juli erkunden sich G.
und seine Freundin beim Standesamt über die für eine Heirat
notwendigen Papiere; ihnen wird
erklärt, daß man auf das laufende Asylverfahren keine Rücksicht
nehmen könne; er habe also seinen Paß, seine Geburtsurkunde
und eine Ledigkeitsbescheinigung
vorzulegen, letztere mit einem
Bestätigungsstempel des zuständigen Gerichtes (Apostille); könne
er die nicht bekommen, sei eine
entsprechende Negativbescheinigung der zuständigen Behörden
erforderlich. Im übrigen hätten
andere Kosova-Albaner die Papiere schließlich auch besorgen können.
1997: Nach drei Monaten illegalen
Aufenthalt im Kosova gelingt es
G. mit entsprechendem Geldaufwand einen über ein Jahr gültigen Paß sowie die anderen
benötigten Urkunden samt der
„Apostille" zu erhalten - zuvor
wurde die Polizeiliste ebenfalls
durch einen angemessenen Geldbetrag von G.s Namen „gecleant".
Als die Papiere dem Standesamt
Hannover im Februar vorgelegt
werden, wird ihnen mitgeteilt,
daß inzwischen eine Ledigkeitsbescheinigung nicht mehr ausrei-
Lotteriespiel Asyl und weiterer
Behördenärger
Chronik eines „Einzelfalls"
Christine Polzer
che - ein „Ehefähigkeitszeugnis"
sei notwendig, das dann auch
noch von der deutschen Botschaft im betreffenden Land bestätigt („legalisiert") werden müsse. Glücklicherweise ist die mitgebrachte Ledigkeitsbescheinigung
eigentlich sogar schon das gewünschte Ehefähigkeitszeugnis.
Es fehle also nur noch der Stempel der deutschen Botschaft in
Belgrad.
Später stellt sich heraus, daß das
zuständige OLG ein Ehefähigkeitszeugnis erst ab 1. April des
Jahres verlangt, doch das hannoversche Standesamt es schon ab
dem Februar eingefordert habe,
da bis zum 1. April keine Aufgebotsbestellung mehr angenommen werden könne.
G. schickt das Papier also per Einschreiben an die Kurierstelle des
Auswärtigen Amtes in Bonn. Dort
kommt es nie an. Im März erklärt
die Deutsche Post AG das Schreiben als endgültig verschollen gegangen; als Entschädigung werden 54,50 DM überwiesen.
Die Standesbeamtin, der das Originalpapier vorgelegen hatte,
sähe „noch eine Möglichkeit", bekommt aber von ihrer Leiterin
keine Zustimmung für ihren Plan:
Die Erstellung des Aufgebots
wird trotz der Verlustbestätigung
durch die Post verweigert. Als G.
und seine Freundin daraufhin ein
Gespräch mit der Leiterin einfordern, läßt sich diese die vorhandenen Papiere vorlegen. G. zeigt
seinen Paß vor, woraufhin die Leiterin beim gegenüberliegenden
Ordnungsamt anruft; die zuständige Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde kassiert den Paß ein.
Ende Februar hatte unterdessen
die Berufungsverhandlung vor
dem OVG stattgefunden. Erstmals seit der Anhörung wird wie53
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
der über die individuelle Verfolgungsgeschichte entschieden.
Das Gericht urteilt, daß diese
nicht glaubwürdig sei - aufgrund
einer Demonstrationsteilnahme
werde auch in Kosova niemand
verhaftet und außerdem halte
sich kein wirklich politisch Verfolgter ein Jahr in Deutschland
auf, bevor er erst dann einen
Asylantrag stelle. Das Attest, in
dem auch die Verfolgungsgeschichte G.s beschrieben wird,
wird als „im wesentlichen nicht
medizinischen Inhalts" abgetan.
Daß oder ob G. Flugblätter verteilt habe, ist offenbar unerheblich; er sei nicht verhaftet worden
und könne somit auch nicht die
beschriebenen Folterungen erlitten haben.
Kosova:
März 1997 dokumentiert, die
nach ihrer Ankunft von der serbischen Polizei verhört, verhaftet
und mißhandelt wurden.
Menschenrechtslage in Kosova dramatisch
und besorgniserregend:
Dokumentation von PRO ASYL belegt
Rückkehrgefährdung
Aussetzung und Annullierung des
Abkommens gefordert
PRO ASYL*
A
Die Broschüre
"Kosovo - Kosova. Fluchtursachen, Asylpraxis,
Materialien zur
Rückkehrgefährdung" ist ab sofort beim Förderverein PRO
ASYL e.V., PF
10 18 43
60018 Frankfurt
am Main zum
Preis von DM
13,- erhältlich.
ls "dramatisch und äußerst
besorgniserregend" bezeichnete PRO ASYL, die Menschenrechtslage in Kosova ein halbes
Jahr nach Inkrafttreten des Rückführungsabkommens zwischen
Deutschland und der Bundesrepublik Jugoslawien.
Eine soeben fertiggestellte Dokumentation von PRO ASYL belege
- so der Autor und Sprecher des
Bayerischen Flüchtlingsrats, Michael Stenger: "daß Flüchtlinge aus
Kosova bei ihrer Rückkehr nachweislich Verhören, Verhaftungen
und zunehmend körperlichen
und psychischen Mißhandlungen
ausgesetzt sind."
In der Broschüre sind mehr als 40
Beispiele von Rückkehrer/inne/n
zwischen September 1996 und
* Presseerklärung vom 1. Juni 1997
54
Unterdessen hat G.s Bruder das
erforderliche Papier ein zweites
Mal recht zügig besorgen können; ein Verwandter bringt es
Die `Urgent Actions´ von amnesty international wegen drohender Mißhandlung und mutmaßlichen staatlichen Mordens sind
ebenso wie die Berichte des "Rates zur Verteidigung der Menschenrechte und Freiheit" (KMDLNJ) in Prishtina aufgenommen,
eine der wichtigsten Menschenrechtsgruppen in Kosova, deren
Aussagen auch vom Auswärtigen
Amt als "verläßliche Quelle" eingestuft werden.
Danach registrierte der Menschenrechtsrat in Kosova allein
für das Jahr 1996 unter anderem:
14 Todesfälle in Polizeihaft oder
Gefängnis,
14.919 Mißhandlungsfälle,
1.712 Fälle willkürlicher Inhaftierung
5.197 Fälle von Folter,
240 Fälle von Gewalttaten gegenüber Kindern,
269 Mißhandlungen von Frauen.
Michael Stenger: "Fast täglich erreichen uns neue Meldungen
über Menschenrechtsverletzungen; fast täglich erhalten wir Belege dafür, daß serbische Polizei
gegen die Bürger/innen albanischer Abstammung vorgeht, ihnen droht, sie festnimmt oder
mißhandelt." Dies gelte selbst für
"freiwillig" zurückkehrende Arbeitsmigrant/inn/en und gehe bis
zur Sippenhaft bei Desertion: "Einer der erschütterndsten Fälle der
Dokumentation ist der Fall der
Familie Gashi, deren Familienangehörige - Mutter und kleine Geschwister - nach der Flucht des
nach Deutschland. Diesmal gehen G. und C. zum Standesamt
im Ort der Nebenwohnung von
C., das in einem anderen Bundesland liegt. Dort, so haben sie erfahren, reicht es noch aus, eine
Ledigkeitsbescheinigung vorzulegen. Diese muß nicht an die Botschaft, sondern muß dem OLG
vorgelegt werden. Dieses hat sieben Wochen später die Papiere
überprüft. Am Freitag, den 13.
Juni, heiraten G. und C..
Vaters und zweier erwachsener
Söhne nach Deutschland (Deserteure) von der Polizei mehrfach
bedroht und geschlagen wurden.
Der 14-jährige Bruder wurde
zehn Tage inhaftiert, mißhandelt
und erst nach Zahlung eines Lösegeldes wieder freigelassen."
Stenger: "Das Rückführungsabkommen gefährdet nicht nur die
jeweils Betroffenen, sondern bewegt die jugoslawische Seite
ganz offensichtlich zu einer noch
schärferen Gangart in Kosova.
Bonn darf diese explosive Stimmung nicht noch weiter anheizen!".
PRO ASYL erklärte: "Bonn muß
endlich begreifen, daß internationale Alleingänge bei der Frage
der Rückführung von Flüchtlingen, Abkommen ohne international überprüfbare Garantien für
die Sicherheit der Rückkehrer/innen und ohne die Einbeziehung
der zuständigen Gremien wie
UNHCR und der Vertretung kosova-albanischer Organisationen,
sich kontraproduktiv auf Menschenrechte und Flüchtlingsschutz auswirken!"
Angesichts dieser anhaltend instabilen und gefährlichen Lage in
Kosova und der nachweislich vorhandenen Rückkehrgefährdung
für Flüchtlinge fordert PRO ASYL
die unverzügliche Aussetzung
und Annullierung des Abkommens.
Die Broschüre "Kosovo - Kosova.
Fluchtursachen, Asylpraxis, Materialien zur Rückkehrgefährdung"
ist ab sofort beim Förderverein
PRO ASYL e.V., PF 10 18 43
60018 Frankfurt am Main zum
Preis von DM 13,- erhältlich.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
BÜRGERKRIEGS-FLÜCHTLINGE
D
ie Warnungen des bosnischen Flüchtlingsministers Rasim Kadic vor Massenabschiebungen, die in Bosnien-Herzegowina
zu massiven politischen und sozialen Spannungen führen werden, stoßen bei Innenminister
Glogowski auf taube Ohren. Der
Wunsch der bosnischen Regierung nach freiwilliger und vorbereiteter Rückkehr der Bürgerkriegsflüchtlinge in ihre angestammten Orte wird auf makabere Art und Weise zur Vorbereitung und Legitimierung von Massenabschiebungen mißbraucht.
Bosnien-Herzegowina ist immer
noch zu 50-60% zerstört. Die industrielle Produktion beträgt 8 12% des Vorkriegsstandes. 60%
des Wohnraums sind zerstört
oder schwer beschädigt. 8O%
der Bevölkerung leben von humanitärer Unterstützung. Die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 70
und 80% im Landesdurchschnitt.
In Bosnien-Herzegowina leben
zur Zeit etwa 750.000 Binnenflüchtlinge. Weite Gebiete des
Landes sind durch die Verminung
wirtschaftlich nicht nutzbar (1-3
Millionen Minen nach Schätzung
des UNHCR). Im Durchschnitt
werden jeden Monat 50 Menschen durch Minen getötet oder
verletzt. (Quellen: u.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v
30 011997; Bundesministerium
der Verteidigung, 16.01.1997).
Zwischen Dagebliebenen, Binnenflüchtlingen und aus dem Ausland Zurückkehrenden entwickeln
sich Gegensätze, die das Zusammenleben erschweren. Die Auswirkungen der Rückkehr werden
nicht erfaßt, so daß entstehender
sozialer Sprengstoff nicht rechtzeitig entschärft werden kann.
Dies gefährdet die beginnende
Stabilisierung im Land.
Es ist festzustellen, daß eine
Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur in Einzelfällen möglich
ist. Die Rückkehr einer großen
Zahl von Flüchtlingen würde das
zerstören, was mit der Aufnahme
der Menschen in Deutschland geleistet wurde.
Der überwiegende Teil der bosnischen Flüchtlinge wird dann sofort zurückkehren, wenn es mög-
lich ist, an ihre Heimatorte zurückzukehren. Dennoch wird
durch den neuen niedersächsischen Erlaß vom 14 04.1997 ein
Druck zur „freiwilligen Rückkehr"
ausgeübt, der an Psychoterror
grenzt und zu einer Retraumatisierung vieler Flüchtlinge durch
die erneute Vertreibung führen
kann. Unter diesem Druck der
Androhung von Abschiebungen
von „freiwilliger Rückkehr" zu
sprechen, grenzt an Zynismus.
Die deutschen Behörden verlagern die Verantwortung für die
im Abkommen von Dayton und
im Rückkehrabkommen zugesagte Rückkehr in die Heimatorte in
vollem Umfang auf die Zentralregierung von Bosnien-Herzegowina, obwohl bekannt ist, daß diese keinen Zugriff auf das serbisch
besetzte Gebiet (Republika Srpska) hat, aus der allein 60% der in
Deutschland lebenden Flüchtlinge
stammen. Eine Klärung der jeweiligen Wohnraumsituation, von
der die notwendigen Lebensgrundlagen abhängig sind, ist
nach dem neuen Erlaß für Abschiebungen nicht erforderlich.
Diese in höchstem Maße unmoralische und unverantwortliche
Umgehensweise mit Bürgerkriegsflüchtlingen leistet sich in
ganz Europa einzig die BRD.
Die Behauptung des Innenministeriums, es sei für jeden bosnischen Flüchtling möglich, sich in
einem Gebiet niederzulassen, in
dem seine Volkszugehörigkeit die
Mehrheit hat ist schlichtweg
falsch! Fast alle Städte und Gemeinden in Bosnien-Herzegowina
sind nur dann bereit, Flüchtlinge
aufzunehmen und zu registrieren, wenn sie bereits vor dem
Krieg ihren Wohnsitz dort hatten.
Daher ist es so gut wie unmöglich, sich in einem anderen als
dem Heimatort registrieren zu
lassen.
Aber auch eine Rückkehr in die
ursprünglichen Heimatorte scheitert oftmals daran; daß die Fristen, um frühere Wohnrechte
oder Wohneigentum zurückzufordern, inzwischen abgelaufen
sind und der Wohnraum an Binnenvertriebene weitergegeben
wurde. Rückkehrer erhalten diese
Wohnungen nicht zurück. Ohne
Wohnraum können sie sich je-
Erlaß:
SPD-Regierung schafft bayrische Verhältnisse
in Niedersachsen
Frauenhilfe Bosnien und Arbeitskreis Asyl*
doch nicht registrieren lassen.
Die Registrierung ist jedoch die
elementare Voraussetzung, ohne
die keine Lebensgrundlage besteht.
Wohin die Familien zurückkehren
können, die aus unterschiedlichen Volksgruppen kommen, läßt
der Erlaß offen, stellt nur sarkastisch fest, daß auch sie „zurückgeführt" werden können. Bezahlt
Herr Glogowski den Scheidungsanwalt und versorgt er die Trennungskinder?
Vor dem Hintergrund dieser realen Situation wird deutlich, daß
der Erlaß aus einer Mischung von
Verdrehungen, Unterstellungen,
Zynismen, Naivitäten, Lügen
und Halbwahrheiten zusammengesetzt wurde, der sich über alle
Erkenntnisse des UNHCR und anderer Hilfsorganisationen hinwegsetzt sowie alles Reden von
humanitärer Flüchtlingspolitik Lügen straft. Von der „Zumutbarkeit" einer freiwilligen Rückkehr
für alle Flüchtlinge zu sprechen,
zeigt deutlich die Gesinnung unseres Herrn Innenministers.
Dieses Handeln von Innenminister
Glogowski und seiner Kollegen ist
nur möglich, wenn wir alle
schweigen:
Wir fordern jede und jeden auf,
beim Innenministerium (Lavesallee 6, 30169 Hannover) und bei
den Landtagsabgeordneten gegen diesen Erlaß und gegen Abschiebungen von bosnischen
Flüchtlingen zu protestieren.
Keine Abschiebungen nach
Bosnien-Herzegowina!
Rückkehr in Freiwilligkeit und
Würde!
* V. Stüben c/o Aktionszentrurn, Bernhardstr 48,
27472 Cuxhaven; (Text gekürzt)
55
NIEDERSÄCHSISCHE HÄRTEFALLREGELUNG
Forderung an den niedersächsischen Innenminister Glogowski:
Keine Abschiebung der Familien Aka, 2. Familie Bashir
Familie Bashir reiste im August
in die Bundesrepublik ein.
Bashir, Dogan und Sincar! 1989
Die Familie gehört der Ahmadiyya
Bleiberechtsregelung von 1996 muß angewandt werden
Wir wenden uns mit unserem Aufruf gegen die drohende Abschiebung von mindestens vier Flüchtlingsfamilien, die mit ihren
Kindern seit 8 bis 11 Jahren im Bundesgebiet leben und in die
deutschen Lebensverhältnisse vollintegriert sind.
Die Abschiebungen werden vorbereitet, obwohl die Bleiberechtsregelung aus dem Jahr 1996 ein Aufenthaltsrecht für
langjährig im Bundesgebiet lebende Flüchtlinge vorsieht: Wer
vor dem 01.07.1991 in das Bundesgebiet eingereist ist und eine
Arbeit nachweisen kann, soll der Bestimmung zufolge eine Aufenthaltsbefugnis erhalten.
Dennoch haben die zuständigen Ausländerbehörden – allein
drei der vier Familien leben im Landkreis Hannover, die vierte Familie kommt aus dem Landkreis Goslar – die Erteilung eines Bleiberechts mit unsäglichen Begründungen verweigert.
Das Schicksal der Familien
stellt sich im Einzelnen wie
folgt dar:
1. Familie Aka
Im September 1986 reiste die Familie Aka ins Bundesgebiet ein
und beantragte Asyl. Nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylantrags durch das OVG Lüneburg
am 20.11.1989 wurde Familie
Aka jedoch nicht abgeschoben,
sondern jahrelang weiterhin geduldet, teils wegen einer im Dezember 1990 an den niedersächsischen Landtag gerichteten Petition, teils wegen jeweils bestehender Abschiebungsstopps für Kurden aus der Türkei oder wegen
der für die Kinder Sükriya und
Even betriebenen Asylverfahren.
Nach Aufhebung des Abschiebungsstopps beantragte die Familie am 28.6.1994 erneut die
Anerkennung als Asylberechtigte.
Auch dieser zweite Asylantrag
wurde schließlich mit der Entscheidung des VG Hannover vom
02.07.1996 abgelehnt.
Den im September 1996 gestellten Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltsbefugnis nach der
Bleiberechtsregelung lehnte der
LK Hannover am 30.01.1997 mit
der Begründung ab, die Familie
habe sich „nicht in die hiesige
56
wirtschaftliche, soziale und rechtliche Ordnung integriert".
Gegen diese Einschätzung hat
die Petrus-Kirchengemeinde Barsinghausen heftig protestiert.
Auch der Arbeitgeber von Herrn
Aka gab zu Protokoll, Herr Aka
gelte in ihrer Firma als „äußerst
zuverlässiger und versierter Mitarbeiter" mit einem „guten und
freundschaftlichen Kontakt zu
seinen Kollegen". Der Landhof
Hülsemann, bei dem Frau Aka
stundenweise arbeitet, bestätigte,
Frau Aka werde „als zuverlässige
und fleißige Kraft" geschätzt und
solle daher weiterhin beschäftigt
werden.
Alle diese Gründe vermochten
das Verwaltungsgericht Hannover
jedoch nicht zu überzeugen: Herr
Aka sei, so die skandalöse Begründung, nicht „durchgängig"
einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Außerdem habe die Familie mehrfach Asyl beantragt
und auch daher keinen Anspruch
auf die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis.
Um der Abschiebung zu entgehen, rettete sich die Familie Aka
ins Kirchenasyl nach Barsinghausen.
Die eingelegte Petition für ein
Aufenthaltsrecht der Familie Aka
wurde am 20.6. im Landtag ohne jede Aussprache abgelehnt.
-Glaubensgemeinschaft an. Angehörige dieser moslemischen
Religionsgemeinschaft werden in
Pakistan nach wie vor verfolgt.
Jahrelang wurden Ahmadiyya
durch niedersächsische Gerichte
als Gruppenverfolgte anerkannt.
Der Asylantrag der Familie Bashir
scheiterte erst im Sommer dieses
Jahres vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Den daraufhin gestellten Antrag
auf Erteilung eines Bleiberechts
nach der Bleiberechtsregelung
lehnte der Landkreis Goslar ab. Es
fehle an „erkennbaren Integrationsbemühungen", so die skandalöse und sachlich unhaltbare
Begründung für die Ablehnung
des Antrags auf Erteilung eines
Bleiberechts, welche von der Bezirksregierung Braunschweig bestätigt wurde.
Tatsächlich ist Familie Bashir weitgehend in den deutschen Lebensalltag integriert. Die Kinder sind
in der Ausbildung oder gehen in
deutsche Schulen. Sie kennen ihre sog. „Heimat" nur vom Hörensagen, sprechen fließend deutsch
und können sich ein Leben in Pakistan nicht vorstellen. Der Vater
Ahmed Bashir hat sich mehrfach
intensiv um Arbeit bemüht und
1995 u.a. eine Ausbildung zum
Taxifahrer absolviert. Leider erhielt er später keine Beschäftigung als Taxifahrer, da er ohne
Aufenthaltsbefugnis nur über eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis verfügt. Kurzzeitig konnte
Herr Bashir in einer Pizzeria „Capri" eine Anstellung als Spezialitätenkoch aufnehmen. Diese Arbeit
mußte er jedoch wieder aufgeben, da die Arbeitserlaubnis auf
Betreiben des LK Goslar nicht verlängert wurde.
Inzwischen hat Herr Bashir jedoch eine ganze Reihe weiterer
Arbeitsangebote vorlegen können, die er sofort antreten würde, wenn er eine neue Aufenthaltserlaubnis und damit verbundene Arbeitserlaubnis erhielte.
Der Empfehlung des nds. Innenministeriums, Herrn Bashir eine
Aufenthaltsbefugnis „auf Probe"
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
NIEDERSÄCHSISCHE HÄRTEFALLREGELUNG
zu erteilen, mochte der LK Goslar
nicht folgen. Um der Abschiebung zu entgehen, floh Familie
Bashir ins Kirchenasyl der ev.-reformierten Gemeinde Braunschweig. Eine für die Familie eingelegte Petition wurde schließlich
im Landtag abgelehnt.
Vorausgegangen waren spektakuläre Falschaussagen des Innenministers vor dem Landtag.
3. Familie Sincar
Familie Sincar reiste am 6.9.1986
ins Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Sämtliche Asylanträge für alle Familienangehörigen
wurden jedoch abgelehnt. Zwar
gestand das Gericht zu, daß verschiedene politisch aktive Familienangehörige verfolgt und teilweise sogar ermordet worden
waren, jedoch bestehe, so das
Gericht, kein derartig enger räumlicher und zeitlicher Kontakt,
daß Sippenhaft befürchtet werden müsse. In den vergangenen
Jahren wurden mehrere Familienangehörige der Familie Sincar ermordet, darunter der ehem. HEP
(später: DEP-) Abgeordnete Mehmet Sincar.
Mit Schreiben vom 14.08.96 beantragte Familie Sincar unter Bezugnahme auf den Erlaß des MI
vom 25.04.96 die Erteilung einer
Aufenthaltsbefugnis nach der
Härtefallregelung. Der Landkreis
Hannover bestätigte daraufhin
mit Schreiben vom 15.08.96 den
Eingang des Antrags und erklärte, bis zum Abschluß der Prüfung
würden keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen eingeleitet.
Diese Prüfung des LK Hannover
dauerte lange: Erst am
25.02.1997 teilte der Landkreis
mit, die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis sei wegen ergänzenden Sozialhilfebezugs nicht
möglich.
Dagegen ist festzuhalten, daß Familie Sincar nach eigener Aussage seit Oktober 1996 keine ergänzenden Sozialhilfeleistungen
mehr in Anspruch nimmt. Die Familie bestreitet ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit. Ein ggf. bestehender Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe
wird von Familie Sincar nicht genutzt, er wäre auch unschädlich,
wie aus dem Erlaß des MI vom
25.09.96 hervorgeht.
4. Familie Dogan
Familie Dogan reiste im Dezember 1989 in das Bundesgebiet ein
und beantragte ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt lehnte diese Anträge mit Bescheid vom
17.12.1990 ab. Gegen den mit
Datum vom 29.4.1991 zugestellten Bescheid erhob Familie Dogan Klage, welche mit Urteil vom
24.5.1993 abgewiesen wurde.
Den Antrag, die Berufung gegen
dieses Urteil zuzulassen, lehnte
das OVG Lüneburg durch Beschluß vom 11.08.1993 ab. Zwischenzeitlich wurde die Familie
wegen eines verhängten Abschiebungsstopps geduldet.
Am 30.08.95 stellte Familie mit
ihren sechs Kindern unter Bezugnahme auf den Antrag an den LK
Hannover einen Folgeantrag
beim Bundesamt. Dieser wurde
abgelehnt. Aufgrund der über
einjährigen Duldung erhielt Familie Dogan eine Frist zur Ausreise
bis zum 13.05.96.
Mit Schriftsatz vom 10.06.96 beantragte Familie Dogan die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis
gem. Bleiberechtsregelung. Obwohl die Familie seit über einem
Jahr Arbeit nachweisen kann und
seit Oktober 1996 in der Lage ist,
ihren Lebensunterhalt vollständig
aus eigener Kraft zu bestreiten,
wurde ihr Antrag vom Landkreis
Hannover mit der denkwürdigen
Begründung abgelehnt, es könne
nicht von einer Integration der
Familie gesprochen werden, „da
eine Erwerbstätigkeit nicht durchgängig vorgelegen hat". Für den
26.6.1997 war die Abschiebung
geplant. Der Landkreis Hannover
hat “zugestimmt”, die Abschiebung wegen der laufenden Petition bis zur Sommerpause auszusetzen.
Die Angehörigen der o.g. Familien leben seit mittlerweile
8 - 11 Jahren im Bundesgebiet
und sind in die hiesigen Verhältnisse bestens integriert.
Die Kinder gehen auf deutsche Schulen und kennen ihr
Herkunftsland nicht. Vor diesem Hintergrund wäre es unmenschlich, die Familien abzuschieben. Wir möchten Sie
daher bitten, sich unserer Forderung nach einem Bleiberecht für die hier genannten
Familien anzuschließen:
Zur Unterstützung der Forderung des Niedersächsischen
Flüchtlingsrats läuft eine Unterschriftenaktion mit der Bitte an die Landesregierung,
den Familien Aka, Bashir, Dogan und Sincar ein humanitäres Bleiberecht in Niedersachsen zu ermöglichen.
Wir bitten um Hilfe für diese
Aktion; Unterschriftslisten
sind im Büro erhältlich.
Spendenaufruf
für Braunschweiger Kirchenasyl
Das Kirchenasyl in Braunschweig sollte - entsprechend der Zusagen aus
dem Niedersächsischen Innenministerium für eine positive Lösung dieses skandalösen Falles - eigentlich nur wenige Wochen dauern.
Mittlerweile ist nicht mehr absehbar, wielange es dauern kann, bis die
Familie den Schutz der Kirchengemeinde in Sicherheit verlassen kann.
Die Verantwortlichen in Politik und Ministerialbehörde wollen keine
“Schwäche” zeigen und setzen anstelle einer humanitären Entscheidung auf Zermürbung und “Aushungern” des Kirchenasyls.
In der Tat belastet ein Kirchenasyl alle Beteiligten enorm.
In Braunschweig sind durch die besondere Situation erhebliche finanzielle Mittel notwendig, für die die beteiligte Gemeinde nicht alleine verantwortlich bleiben sollte.
Wir bitten deshalb herzlich um Unterstützung der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde in Braunschweig:
Spenden
bitte unter Stichwort “Kirchenasyl” an Pastor Kuhlmann
KtoNr.: 21373-306 Postbank Hannover BLZ 250 100 30
57
NIEDERSÄCHSISCHE HÄRTEFALLREGELUNG
Baden-Württemberg:
Keine Abschiebung
bei Petition
Petitionsausschuß verteidigt Stillhalteabkommen gegen den Innenminister
Fritz Schwab*
Stuttgart - Innenminister Thomas Schäuble (CDU) ist mit seinen Plänen, Ausländer trotz laufender Petitionsverfahren abzuschieben, gescheitert. Der Petitionsausschuß des Landtags hat
sich dieser Absicht erfolgreich widersetzt.
Bei den Abgeordneten im Petitionsausschuß herrschte in den
vergangenen zwei Wochen helle
Empörung. Stein des Anstoßes
war eine Kabinettsvorlage, die an
die Öffentlichkeit gelangt war.
Die Landesregierung hatte geplant, das mit dem Parlament vor
fünf Jahren ausgehandelte Stillhalteabkommen für Bürgerkriegsflüchtlinge, ausländische Straftäter und Asylbewerber aufzukündigen. Der Schutz vor Abschiebung sollte zukünftig auch
während eines laufenden Petitionsverfahrens entfallen. Doch in
der Regierung hatte man nicht
mit dem parteiübergreifenden
Widerstand der Landtagsabgeordneten gerechnet, die das in
der Verfassung verankerte Petitions-Grundrecht in seinem Kern
gefährdet sahen.
Nachdem das Stillhalteabkommen nun auf unbefristete Zeit
bestehen bleibt, bewertet der
Vorsitzende des Petitionsauschusses, Hans Freudenberg (FDP), diesen Erfolg des Parlaments als
„Sieg der Argumente und einen
Erfolg für die beispielhafte Petitionskultur in Baden-Württemberg". Freudenberg spricht von
einem „sachlichen Gespräch".,
* in der Nürtinger Zeitung/Wendlinger Zeitung
vom 20.05.1997
58
das zwischen ihm und dem Innenminister stattgefunden habe.
Dabei habe sich Schäuble von
den guten Gründen für das derzeit praktizierte Stillhalteabkommen überzeugen lassen.
Seit 1992 bewahrt eine Petition
vom sofortigen Vollzug einer Abschiebung, wenn ein Mitglied des
Petitionsausschusses gegen diese
Maßnahme Einwände erhebt.
Über hundert Fälle wurden so in
den vergangenen Jahren zugunsten der betroffenen Personen
entschieden. „Ich konnte das
Hauptargument der Regierung,
nämlich die Sorge vor einer Verzögerung bei der Ausweisung,
entkräften", beurteilt Freudenberg
das Ergebnis des Vier-Augen-Gesprächs. Das Innenministerium
befürchtet vor allem bei den Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem
ehemaligen Jugoslawien die
Flucht in das Petitionsverfahren.
Doch in der obersten Ausländerbehörde des Landes wird die
Kontroverse mit dem Petitionsausschuß inzwischen gelassener
gesehen. Man konzentriert sich
auf die Fälle, die Schäuble derzeit
heißer unter den Nägeln brennen. So hat das Ministerium allein gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und
Montenegro) in den vergangenen
Wochen 13600 Anfragen auf
Rücknahme von Bürgerkriegsflüchtlingen gestellt. Gerade einmal 300 Landsleute will der Balkanstaat aber wieder aufnehmen,
so eine Sprecherin des Innenministeriums. Im Vergleich dazu fallen
die 122 ausländerrechtlichen Petitionen, die in den ersten drei
Monaten dieses Jahres eingereicht wurden, kaum ins Gewicht.
Politikverbot in Niedersachsen:*
Petition hat keinen Status
Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern während
des Petitionsverfahrens beim
Niedersächsischen Landtag
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit Schreiben vom 14.04.1997
übersandten Sie mir vorab eine
Durchschrift einer Eingabe an
den Niedersächsischen Landtag
mit der Bitte um Aussetzung aller
Abschiebungen von straffällig gewordenen Jugendlichen, die im
Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sind, zumindest bis
zur Entscheidung über die Petition.
Das Ausländergesetz (AuslG) regelt in § 55 die Voraussetzungen
für die Aussetzung der Abschiebung durch Erteilung einer Duldung. es besteht die Möglichkeit,
im öffentlichen Interesse die
Durchführung von Abschiebungen gem. § 55 Abs. 3 AuslG
vorübergehend auszusetzen. Von
dieser Ermächtigung wird in Niedersachsen gebraucht gemacht,
in dem grundsätzlich Abschiebungen bis zum Abschluß eines
Petitionsverfahren ausgesetzt
werden. Ist jedoch durch Gericht-
sentscheidung rechtskräftig entschieden, daß die Abschiebung
eines Ausländers zulässig ist,
kann gem. § 55 Abs. 4 AuslG eine Duldung nur noch erteilt werden, wenn die Abschiebung aus
rechtlichen oder tatsächlichen
Gründen unmöglich ist oder ein
Abschiebungsstopp vorliegt. Eine
Landtagseingabe stellt dabei
grundsätzlich kein Abschiebungshindernis in diesem Sinne dar. Bei
Vorliegen einer rechtskräftigen
Entscheidung eines Verwaltungsgericht ist daher eine Aufenthaltsbeendigung trotz anhängigen Petitionsverfahrens möglich.
Bezüglich des von Ihnen angesprochenen türkischen Staatsangehörigen Bülent Tumani liegt
derzeit eine rechtskräftig inhaltliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Abschiebung nicht
vor, so daß sein Aufenthalt bis zu
einer gerichtlichen Entscheidung
bzw. einer Entscheidung im Petitionsverfahren geduldet wird.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrage...
* Schreiben des Niedersächsischen Innenministeriums vom 02.05.1997
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
MINDERJÄHRIGE
Zu dem bei einer Ausländerbehörde Ihres Bezirks bekanntgewordenen Umstand, daß der Internationale Sozialdienst e.V.
(ISD) für seine Bemühungen bei
der Vorbereitung der Rückkehr
minderjähriger unbegleiteter
Flüchtlinge eine Gebühr von
250,- DM den Ausländerbehörden in Rechnung stellt und der
Frage einer evtl. Erstattungspflicht seitens des Landes ergibt
sich folgendes:
Die internationalen Schutzabkommen für Kinder und Minderjährige (Kinderrechtskonvention
der Vereinten Nationen, Haager
Minderjährigen-Schutzabkommen) stehen der Rückführung illegal eingereister bzw. im Asylverfahren erfolglos gebliebener
minderjähriger Ausländer nicht
entgegen. Nach Auffassung der
Bundesregierung Iäßt die Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen die innerstaatlichen
Vorschriften über die Einreise und
den Aufenthalt vom Ausländern
unberührt.
Gleichwohl dürfen Minderjährige,
sofern keine asylverfahrensunabhängigen Bleibegründe bestehen,
aus Gründen des KindeswohIs
nur dann in ihr Herkunftsland
zurückgeführt werden, wenn
dort die Unterbringung und Betreuung in der eigenen Familie,
im Verwandtenkreis oder einer
geeigneten Einrichtung möglich
ist.
Diese Position vertritt die Bundesregierung auch im Rahmen der
VerhandIungen auf europäischer
Ebene über gemeinsame
Grundsätze für die Behandlung
von unbegleiteten Minderjährigen.
Die Prüfung, ob die Unterbringung und Betreuung ausländischer Minderjähriger in der eigenen Familie, im Verwandtenkreis
oder einer geeigneten Einrichtung - und damit die Rückführung selbst - möglich ist, obliegt der örtlichen Ausländerbehörde. Da die örtlichen Ausländerbehörden mangels detaillierter
Erkenntnisse die Situation in der
Regel nicht selbst bewerten können, bedienen sie sich der Hilfe
der Behörden des Herkunftsstaates und der dortigen deutschen
Vertretung. Soweit auf diesem
Wege eine zeitnahe und ausreichende Aufklärung nicht möglich
sein sollte, können sie auch die
Hilfe des ISD in Anspruch nehmen. Der Verein hatte dem Saarland in anderem Zusammenhang
im September 1995 mitgeteilt,
daß z.B. bei Rückführungen in
die Türkei ein Sozialbericht nach
einer drei- bis sechsmonatigen
Bearbeitungsdauer erstellt werde,
der der zuständigen Behörde in
deutscher Übersetzung nebst einer Rechnung über eine einmalige Kostenpauschale in Höhe von
250,- DM zugehe.
Die Inanspruchnahme ISD ist insoweit als besondere „Serviceleistung", die von anderen staatlichen oder nichtstaatlichen Stellen
so nicht erbracht werden kann,
anzusehen. Die ggf. erhobene
Ausländerrecht
Rückführung unbegleiteter minderjähriger
Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer,
Inanspruchnahme des Internationalen
Sozialdienstes Deutscher Zweig e.V,
Frankfurt
Nds. Innenministerium*
Kostenpauschale ist somit auch
von der Stelle, die die Hilfe in Anspruch nimmt, zu erstatten. Diese
Kosten stehen im Zusammenhang mit der Prüfung, ob eine
Rückführung überhaupt möglich
ist, so daß eine Erstattungspflicht
des Landes nicht besteht.
Soweit Ausländerbehörden dies
zum Anlaß nehmen sollten, künftig aus Kostengründen auf die
Einschaltung des ISD trotz ungeklärter Unterbringungssituation
im Heimatland zu verzichten,
müßten sie von Rückführungen
im Einzelfall absehen, ggf. auch
unter Hinnahme der sich aus der
Sozialhilfebedürftigkeit ergebenden Kosten.
Auf die telefonischen Besprechungen mit Herrn van Lehmden
nehme ich Bezug.
Im Auftrage...
* Rundschreiben vom 10.02.1997
Bis auf Weiteres
keine Abschiebungen ins ehemalige Zaire
Erlaß des MI vom 25.06.1997:
Ausländerrecht
Abschiebungen in die
Demokratische Republik Kongo /
ehem. Zaire
Aufgrund der im ehemaligen Zaire herrschenden Verhältnisse sind
Abschiebungen dorthin bereits
seit geraumer Zeit nicht möglich.
Unabhängig von der vom Auswärtigen Amt avisierten aktuellen
Lageeinschätzung kann von einer
kurzfristigen Veränderung dieser
Situation derzeit nicht ausgegangen werden, so daß Abschiebungen bis auf weiteres nicht durchgeführt werden können.
Von der Beantragung von Abschiebungshaft gem. § 57 AuslG
ist daher abzusehen. Soweit sich
zairische Staatsangehörige bereits
in Abschiebungshaft befinden
sollten, ist die Aufhebung des
Haftbeschlusses zu beantragen.
Im Auftrage ...
59
GRUNDRECHT AUF ASYL
Asylrecht
Ein Jahr nach Karlsruhe:
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
noch nicht umgesetzt
PRO ASYL*
Nicht Schlußpunkt, sondern
Ausgangspunkt
„Flüchtlingsarbeit und -politik
wird durch das
Engagement
Tausender Bürgerinnen und
Bürger mehr
denn je zum
Prüfstein im
Kampf für die
Schutzrechte des
Individuums gegenüber dem
Staat und gegen
den Verlust weiterer sozialer
und humanitärer
Standards dieser
Gesellschaft!"
„Die Karlsruher Asylentscheidungen vor einem Jahr sind für PRO
ASYL und die Flüchtlingsbewegung nicht Schlußpunkt, sondern
Ausgangspunkt für eine Neuorientierung des Flüchtlings- und
Menschenrechtsschutzes im Sinne des Grundgesetzes, der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Europäischen Menschenrechtskonvention", erklärte Heiko Kauffmann, Sprecher von PRO ASYL,
zum Jahrestag der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylrecht vom
14. Mai 1996.
PRO ASYL kritisiert die Untätigkeit
der Bundesregierung, welche bislang weder die Vorgaben des Gerichts zum Flughafenverfahren
umgesetzt noch erforderliche
Konsequenzen aus dem Drittstaaten-Urteil gezogen habe.
Beim Flughafenverfahren gehe es
um die Festschreibung und Einrichtung einer kostenlosen asylrechtlichen Beratung: „Das Bundesinnenministerium macht es
sich zu einfach, wenn es die
Rechtsanwaltskammern um die
Einrichtung eines ‘Notdienstes’
bittet", erklärte Kauffmann. Es
gehe darum, dem verfassungsrechtlichen Gebot Genüge zu tun
*Presseerklärung vom 13. Mai 1997
60
und in Frankfurt und an anderen
Flughäfen (insbesondere München, Berlin, Düsseldorf und
Hamburg) eine rechtlich fundierte Beratung zu organisieren und
ständig bereitzustellen. Dies müsse in Absprache und unter Beteiligung der unverzichtbaren Arbeit
der Flughafensozialdienste geschehen.
Nach Auffassung von PRO ASYL
sind ebenfalls aus dem Drittstaaten-Urteil Konsequenzen zu ziehen. So erfordere das Konzept
der „normativen Vergewisserung"
eine regelmäßige Kontrolle und
Überprüfung der Praxis und Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention durch die Dritt- und
Viertstaaten. Da diese jederzeit
weitere und neue Verträge mit
Viert-, Fünft- und Sechststaaten
abschließen könnten, sei auch eine laufende Überprüfung und
Aktualisierung verfassungsrechtlich geboten.
Die Bundesregierung müsse endlich die vom Verfassungsgericht
ins Auge gefaßte europäische
Gesamtregelung ernst nehmen.
Kauffmann: „Die Urteile des
höchsten Gerichts sind durchgängig vom Europa-Gedanken geprägt - nun muß auch die europäische Karte ‘gespielt’ werden."
Diese verbiete eine „Harmonisierung auf niedrigstem Niveau",
sondern müsse grundlegenden
Schutzanforderungen entspre-
chen, wie sie u.a. der Europäische Flüchtlingsrat ECRE formuliert hat:
· einheitliche Grundsätze über
den materiellen Gehalt des Asylrechtes;
· ein Rechtsanspruch auf individuelle Überprüfung des Asylbegehrens innerhalb des einheitlichen EU-Raumes durch eine zentrale Behörde;
· die Möglichkeit der Einlegung
von Rechtsmitteln mit aufschiebender Wirkung;
· die Sicherstellung einer Verfahrensberatung und rechtlichen
Vertretung;
· die Beachtung des Refoulement-Verbots in den Verfolgerstaat (auch in Form einer Kettenabschiebung);
· die Gewährung sozialer Mindestrechte während des Asylverfahrens einschließlich des Rechts auf
Arbeit.
Die Durchsetzung eines effektiven
Rechtsschutzes für Flüchtlings sei
durch die Entscheidungen des
Verfassungsgerichts vom vergangenen Jahr zwar noch schwieriger geworden, aber, so Kauffmann abschließend: „Flüchtlingsarbeit und -politik wird durch das
Engagement Tausender Bürgerinnen und Bürger mehr denn je
zum Prüfstein im Kampf für die
Schutzrechte des Individuums gegenüber dem Staat und gegen
den Verlust weiterer sozialer und
humanitärer Standards dieser Gesellschaft!"
Union will Grundrecht auf
Asyl abschaffen
CDU und CSU wollen das Individualrecht auf Asyl abschaffen
und in eine nur „institutionelle
Garantie" umwandeln. „Nur so ist
zu verhindern, daß jährlich mehr
als 100000 Ausländer unter fälschlicher Berufung auf das Asylgrundrecht nach Deutschland
kommen", sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion,
Erwin Marschewski (FR,1.5.97).
Er kehrte damit zu einer alten
Forderung seiner Partei aus der
Scheinasylanten-Kampagne zurück.
Im Gegensatz zum Individualrecht auf Asyl nach Artikel16 a
Grundgesetz denkt die CDU/CSU
an eine völlig freie und nicht
mehr einklagbare Handhabung
einer „institutionellen Garantie"
für Schutz vor Verfolgung.
Folgerichtig bot die CDU/CSU der
SPD und FDP am 29.4.97 zumwiederholten Male an, gemeinsam über eine Begrenzung des
„unbegründeten und unvertretbaren" Familiennachzugs nach
Artikel 6 Grundgesetz und über
eine Einschränkung des Aussiedlerzuzugs nach Artikel 116 nachzudenken. Nur so sei eine Begrenzung der Zuwanderung
möglich.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
GRUNDRECHT AUF ASYL
Was ist das Asylrecht in der Verfassung noch wert?
Für pragmatische, sprich anwendungsorientierte Flüchtlingsarbeit ist es allemal ein Fakt, mit
dem ohne Illusion gearbeitet
wird.
Für Legalisten aller Lager ist der
Streit wichtig über “Abschaffung” oder “ist eigentlich schon
abgeschafft”...
Vera Gaserow gibt diese Diskussion in ihrem Artikel in der TAZ
vom 8./9 Juni 1996 wider:
M
it seinem Asylurteil hat
das Bundesverfassungsgericht selbst die flüchtlingspolitischen Mindeststandards
unterschritten, zu deren Einhaltung die Bundesrepublik
sich durch internationale Abkommen verpflichtet hat.
Die Karlsruher Richter, so der
Frankfurter Asylrechtsexperte Viktor Pfaff, „haben eine Regelung
bestätigt, die das Herzstück der
Genfer Flüchtlingskonvention
durchbricht.
Deutschland ist an mehreren
Punkten aus dem internationalen Schutzsystem ausgestiegen."
Pfaffs geharnischte Kritik beruht
auf einer ersten eingehenden
Analyse des Karlsruher Urteils, die
der Jurist jetzt auf einem Kollo-
quium in Berlin vortrug. Die Tagung wurde von der Berliner
Ausländerbeauftragten und der
Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz organisiert.
Konkrete Perspektiven aufzuzeigen fiel den versammelten Fachleuten jedoch schwer. Zu viele
Einschränkungen hat das Asylgrundrecht im Laufe seiner über
40jährigen Geschichte erfahren,
und jedesmal warnten die Kritiker, die neuerliche Restriktion bedeute nun aber endgültig seine
Abschaffung. Jetzt sei das bundesdeutsche Asylrecht tatsächlich
auf ein Niveau heruntergeschraubt, wo man ernsthaft über
seine Verzichtbarkeit diskutieren
müsse.
Selbst das Schengener Abkommen, von Flüchtlingsgruppen
und Asylexperten einst heftig als
Rückschritt bekämpft, bietet
Flüchtlingen heute mehr Schutz
als die vom Bundesverfassungsgericht abgesegnete Drittstaatenregelung. Nach dem Vertrag von
Schengen haben Flüchtlinge zumindest einen Anspruch auf
staatliche Überprüfung ihres Asylgesuchs in einem der Vertragsstaaten. Nach dem neuen deutschen Asylrecht können sie ohne
rechtliches Gehör in einen Drittund von dort in einen Viert- und
Fünfstaat bis ins Verfolgerland
weitergeschoben werden.
Verstoß gegen die
Genfer Flüchtlingskonvention
Experten meinen: Seit der Asylentscheidung
des Bundesverfassungsgerichts bieten
internationale Regelungen inzwischen mehr
Schutz als das deutsche Recht
„Ein fundamentaler Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention", die eine Rückschiebung
in den Heimatstaat verbietet, urteilte Victor Pfaff. Der Asylrechtsexperte sprach sich deshalb dafür
aus, für internationale Abkommen zu kämpfen:" Wenn man die
Genfer Flüchtlingskonvention
wirklich einfordert, braucht man
dieses Asylgrundrecht nicht
mehr." Andere Experten warnten,
die Bundesrepublik könne eher
zum Vorreiter werden, Schutzabkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention zu durchlöchern.
„Die Bundesrepublik", so der Berliner Jurist Professor Peter Knösel,
„ist derart weit von zivilisierten
Standards entfernt, daß es eine
Utopie wäre zu glauben, sie ließe
sich auf internationaler Ebene in
eine positive Richtung bewegen."
Artikel 3 EMRK: Bundesverwaltungsgericht im Widerspruch zum Europäischen Gerichtshof
Am 15.4.97 hat das BVerwG (9 C
38.96) erneut entschieden, daß
Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention nur anwendbar sei, wenn die entsprechende Gefahr im Heimatland
von einem Staat oder einer
staatsähnlichen Struktur ausgeht.
Das BVerwG setzt damit seine
Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK
im offenen Widerspruch zu dem
Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte fort (vgl. u.a.
BVerwG U.v. 17.10.95-9 C15/95 )
Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hatte am 17.12.
96 im Fall Ahmed gegen Österreich befunden, daß es auf die
Staatlichkeit oder Quasistaatlichkeit des Gefahrenverursachers
nicht ankommen soll. (Die deutsche Übersetzung kann unter der
Nummer 14963 bei der ZDWF
bestellt werden). Jetzt hat der Europäische Gerichtshof seine
Rechtsprechung verfestigt und
sogar noch erweitert. In einer
Entscheidung vom 2.5.97 (D. gegen Vereinigtes Königreich) bekräftigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Gefahr
im Sinne des Artikel 3 EMRK
nicht von dem Heimatstaat ausgehen muß. Zugleich erstreckte
das Gericht den Anwendungsbereich des Artikel 3 EMRK auf Fälle, in denen ein Schwerkranker
nur aufgrund der medizinischen
Verhältnisse in seinem Heimatland und fehlender persönlicher
Bezugspunkte dort durch eine
Rückkehr zusätzlich gefährdet ist.
Der absolute Charakter des Artikel 3 EMRK bedinge zugleich,
daß er selbst dann anwendbar
sei, wenn der Ausländer nach
den nationalen Bestimmungen
noch gar nicht eingereist sei, jedoch sich physisch auf dem Territorium des EMRK-Unterzeichnerstaates befinde.
Im Fall eines kolumbianischen
Drogendealers (H.L.R. gegen
Frankreich, 29.4.97) hatte der
Gerichtshof ebenfalls entschieden, daß auch eine Gefährdung
durch rivalisierende Drogenbanden eine Gefährdung nach Art. 3
EMRK darstelle. Die Klage wurde
jedoch wegen fehlender Glaubhaftmachung der Gefährdung sowie Zweifeln an der Schutzunfähigkeit und Schutzunwilligkeit
des kolumbianischen Staates abgewiesen. (Quelle: Asylmagazin
3/97)
Kai Weber
61
GRUNDRECHT AUF ASYL
Das Bundesamt
auf dem Weg
in die Illegalität
Asylverschärfungen aufgrund
der Praxis der Anhörungsverfahren
SAGA Freiburg*
Nachfolgendes
Schreiben eines
sogen Außenstellen-Leiters des
"Bundesamts für
die Anerkennung
ausländischer
Flüchtlinge"
liegt vor. Es bildet auch Ausgangspunkt einer
Presseerklärung
von Pro Asyl
vom 8.4.1997 unter dem Titel
"Schwere Eingriffe in das Anhörungsverfahren zu Lasten der
Antragsteller das Bundesamt
auf dem Weg in
die Illegalität".
Ü
ber den Ton und die untenstehende Anweisung des
Außenstellen-Leiters muß nicht
weiter spekuliert werden. Es ist
deutlich erkennbar, welche Eingriffe in die "Weisungsfreiheit der
Einzelentscheider/innen" (Pro
Asyl) vorgenommen werden. Die
meisten AnhörerInnen resp. EntscheiderInnen haben diese Weisungsfreiheit aber bereits "richtig"
verstanden!
Tatsächlich ist die reale Anerkennungsquote des Bundesamts im
Durchschnitt auf 6 - 7 % gesunken. Früher wurde einmal behauptet, mit dem Rückgang der
Flüchtlingszahlen würde auch die
Unterscheidung in "echte" und
sogenannte "unechte" Flüchtlinge
eher möglich sein, d.h. eine
größere Anerkennungswahrscheinlichkeit bestehen. Faktisch
ist aber die Anerkennungsquote
in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken, obwohl sie - nach
dieser Theorie- hätte ansteigen
müssen. Von 1995 (10 %) auf
1996 (7,9 %). Oder genauer
nach Ländern: Türkei: von 21 %
(1995) auf 12 (1996); Afghanistan: von 11 % (1995) auf 5 %
(1996); Iran: von 37 % (1995)
auf 27 % (1996); Sri Lanka: von
14 % (1995) auf 8 % (1996) etc.
Die konkreten Auswirkungen dieser - für das Asylverfahren zentralen - Anhörungsbeschleunigung
sind:
* Anhörungszeiten pro Anhörung
knapp 2 Std.(d.h. mit Überset-
*Südbadisches Aktionsbündnis gegen Abschiebungen
c/o Aktion Dritte Welt Freiburg
aus C.MOELLER@3LANDBOX.COMLINK.APC.ORG
vom 29.05.97
62
zung und evtl. Rückübersetzung
verbleibt zur Darstellung der konkreten Fluchtursachen kaum Zeit,
da die meisten Anhörungen lange Überprüfungen der Reisewege
und Einreisemodalitäten zum Gegenstand haben)
* Protokolle enthalten - bestenfalls - nur noch unmittelbar
fluchtauslösende Momente, nicht
aber eine Fluchtgeschichte. Dolmetscher erklären den Asylsuchenden unaufgefordert bereits
vor der Anhörung, daß frühere
Ereignisse keine Bedeutung hätten. Daten und logische Abläufe
werden in den Übersetzungsverfahren auch aus der Hetze der
Zeit verwechselt oder - um Monate und Wochen- verschoben.
* Rückübersetzungen werden
teilweise nicht mehr gewährlei-
stet. In den Protokollen findet
sich dann der unzutreffende Hinweis, es sei auf Rückübersetzung
"verzichtet" worden.
* Protokolle werden manchmal
direkt während des Verfahrens
der "Anhörung" diktiert, teilweise
werden auch noch indirekte Rede
und Interpretation durch den Anhörer/die Anhörerin willkürlich
durcheinandergebracht.
* das Recht auf eine Anhörerin/
Dolmetscherin für eine Flüchtlingsfrau wird oftmals nicht gewährleistet
* die Anhörungsverfahren werden in vielen Fällen vom Gericht
nicht weiter hinterfragt und in
sich als Grundlage für die nächste
(Negativ-)Entscheidung genommen.
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
Ha-Außenstelle Freiburg - RLV 3.9.
11.2.97
An alle Einzelentscheider im Hause
Am 3. Februar 1997 habe ich mit dem Präsidenten des BAFl ein
Gespräch geführt. Der Präsident hat sich unzufrieden über die Leistungen der Außenstelle Freiburg gezeigt.
Er hat betont, daß zwei Anhörungen und zwei Entscheidungen
pro Tag zumutbar sind und von ihm verlangt werden. Er hat insbesondere Kritik geäußert an der langen Zeit zwischen Antragstellung und Anhörung. Er hat angewiesen, daß nur noch angehört
werden soll bis zwischen Antragstellung und Anhörung maximal
vier Tage liegen.
Ich habe veranlaßt, daß ab Montag, den 17.2.97, täglich 4 Antragsteller pro EE zur Anhörung geladen werden.
In ihrem eigenen Interesse und mit Rücksicht auf die Schreibkanzlei empfehle ich Ihnen, sich möglichst kurz zu fassen.
gez. ...
Ha-Außenstelle Freiburg - RLV 3.9.
(Datum nicht bekannt)
An alle Einzelentscheider im Hause
Mit Schreiben vom 11.2.97 hatte ich Sie angewiesen, ab 17.2.97
nur noch anzuhören und die Entscheidungen aufzuschieben.
Ich hatte 4 Anhörungen pro Tag verlangt. Dies wird von den meisten eingehalten. Mit denjenigen, die dies regelmäßig nicht leisten, werde ich noch weitere Gespräche führen, um die Ursachen
aufzuklären.
Zu meinem Bedauern muß ich feststellen, daß nicht alle meinen
Appell, sich bei der Länge der Protokolle zu beschränken, beherzigt haben.
Nach der Durchsicht zahlreicher Protokolle komme ich zur Überzeugung, daß bei einem durchschnittlich gelagerten Fall ca. 10
Seiten (1 Kassette) ausreichen.
Ich werde dies auch weiter überwachen und auf Beachtung dringen. Das Protokoll gehört nicht zum weisungsfreien Bereich.
gez. ...
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
DEPORTATION
A
sylrechtsgruppen aus Bremen,
Hamburg und Oldenburghaben gestern vor dem Bremer Unternehmen Pandi-Services demonstriert. Die Anti-RassismusOrganisationen werfen der Gesellschaft vor, „auf illegale oder
zumindest dubiose Weise" Paßersatzpapiere für Asylsuchende zu
beschaffen, damit diese abgeschoben werden können. Dabei
sei das Herkunftsland oft egal.
Hauptsache überhaupt eins, da
Flüchtlinge in ihre Heimat abgeschoben werden müssen. Pandi
kassiere dafür Provisionen.
Pandi-Services bezeichnet sich
selbst als Havarie-Kommissariat.
Man werde im Auftrag von Reedereien bei Havarien tätig. Und
bei blinden Passagieren. Dazu
Geschäftsführer Wöhrn: „Wir sorgen nur dafür, daß die Leute wieder in ihre Heimat kommen. Alles
legal."
Dazu sind die Reedereien in
Deutschland tatsächlich verpflichtet. Es sei denn, der Flüchtling
stellt Asylantrag. Wie berichtet,
hatte sich Bremens Ausländerbeauftragte Dagmar Lill erst im vergangenen Jahr mit Innensenator
Ralf Borttscheller darüber gestrit-
ten, weil der mit Hilfe von Pandi
die Identität Asylsuchender feststellen lassen wollte. Das Vorhaben verlief nach heftigen Protesten im Sande.
Den gleichen umstrittenen Service des Bremer Unternehmens
macht sich jetzt offensichtlich
Mecklenburg-Vorpommern zunutze. Der Fall aus Sicht des
Flüchtlingsrats Hamburg: Im Januar 1995 erreicht der Liberianer
Adrews Jackson auf einem russischen Frachter Rostock. PandiMänner wollen ihn dazu überreden nach Ghana zurückzufliegen.
Er weigert sich, stellt einen Asylantrag. Da er im Bürgerkrieg von
Liberia nach Ghana geflohen war,
gibt er zunächst Ghana als Herkunftsland an und die Ausländerbehörde in Mecklenburg-Vorpommern lehnt sein Asylersuchen
ab. Jackson wird mit Paßersatzpapieren abgeschoben, ohne wie eigentlich per Gesetz vorgesehen - der ghanaischen Botschaft vorgeführt zu werden. Die
nötigen Papiere wurden von Pandi besorgt „Anruf genügt", so der
Flüchtlingsrat Hamburg.
Im Februar 1996 erreicht Jackson
erneut als blinder Passagier Ham-
Abschiebepraxis
für Fortgeschrittene
Bremer Firma soll „illegal" Pässe
zum Abschieben beschaffen
Yeti*
burg. Diesmal hat er eine liberianische Geburtsurkunde bei sich.
Diese hält die liberianische Botschaft für gefälscht. Die ghanaische Vertretung erkennt ihn aber
auch nicht als Landsmann an.
„Wir sorgen nur
dafür, daß die
Leute wieder in
ihre Heimat
kommen. Alles
legal."
Dennoch soll Jackson jetzt wieder
nach Ghana abgeschoben werden. Grund: neue Paßersatzpapiere. Wie man daran plötzlich
gekommen ist, konnte das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern nicht so recht erköären. Allerdings liegt das „Ghana emergency travel certifikate"
der taz vor. Darin wird Jackson
als Issaka Abdulai aus Ghana ausgewiesen. Momentaner Wohnort
in Deutschland: „Pandi-Services,
Bremen."
*Bremer taz vom 24/25. 05. 97
Asylgewährung nach dem Zufallsprinzip
Richter will Minderjährigen in die Kriegswirren Afghanistans schicken
Der minderjährige Shukran A. soll
in das kriegsgeschüttelte Afghanistan abgeschoben werden. Er
sollte von den Taliban-Milizen
zwangsrekrutiert werden, floh
und landete am 30. April 1997
auf dem Frankfurter Flughafen.
Dort stellte er einen Asylantrag,
der nur wenige Tage später als
"offensichtlich unbegründet" abgelehnt wurde.
Während die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Frankfurt - wie
fast alle anderen Gerichte in
Deutschland - in ähnlich gelagerten Fällen des vergangenen Monats die Abschiebung regelmäßig
aussetzte, weil dies "gegen Art.3
der Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoßen würde",
sieht der für Shukran A. zuständige Einzelrichter der 6. Kammer
keinerlei Abschiebungshindernisse. Die 5. Kammer des VG-Frankfurt hat demgegenüber in einem
Urteil vom 7. Mai 1997 festgestellt: "Nach den vorliegenden Berichten kommt es zu Amputationen, Steinigungen, Folterungen
und Tötungen jeder Art. Die
Herrschaft der Taliban ist damit in
vielen Fällen willkürlich und unberechenbar ... unter diesen Umständen kann dem Kläger eine
Abschiebung nach Afghanistan
derzeit nicht zugemutet werden."
PRO ASYL-Sprecher Heiko Kauffmann erhebt deshalb schwere
Vorwürfe: "Die Entscheidung über
Leben oder Tod darf nicht von
der zufälligen Zuteilung eines Falles zu einem in unseren Augen
offensichtlich befangenen Richter
abhängen, der ganz alleine entscheidet. Dies ist Asylrechtspre-
chung nach dem Zufallsprinzip
oder in russischer Roulette-Manier." PRO ASYL unterstützt deshalb
den notwendigen Gang von Shukran A. zum Verfassungsgericht
und appelliert an die Verfassungsrichter "ein unhaltbares Urteil nach Recht und Gesetz zu revidieren."
Dies ist Asylrechtsprechung
nach dem Zufallsprinzip oder
in russischer
Roulette-Manier."
In der bevorstehenden Abschiebung des minderjährigen Shukran A. sieht PRO ASYL überdies
einen Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen. In Art. 6 hat sich die
Bundesregierung verpflichtet "in
größtmöglichem Umfang das
Überleben und die Entwicklung
des Kindes" zu gewährleisten.
Presseerklärung PRO ASYL
vom 23. Mai 1997
63
DEPORTATION
Knast,
Botschaftsrundreisen
und Pandi-Service
Wie der Staat Menschen loswerden will
Arbeitskreis Asyl Oldenburg
E
Die zuständige
Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde
Oldenburg wollte diesen Menschen irgendwie
loswerden.
s fing alles ganz harmlos an.
Der Liberianer Jackson Andrews kam am 9.1.1995 als Blinder Passagier auf einem russischen Frachter im Hafen von Rostock an, einer Stadt in der Bundesrepublik Deutschland, wo er
hoffte, nach Bürgerkriegserlebnissen und Herumirren in Westafrika
Schutz und Zuflucht zu finden.
Doch dann kam alles ganz anders
...
Noch bevor ein Fuß auf deutschen Boden gesetzt werden
konnte, kam ein Mann der Hamburger Abschiebeagentur PandiService an Bord und bot den insgesamt acht liberianischen stoaways neue Bekleidung, 50 Dollar
Handgeld, sowie ein Flug nach
Accra/Ghana falls sie die BRD
wieder verlassen würden, ohne
Asylanträge zu stellen. Er sagte
ihnen, sie müßten sich dazu als
Ghanaer ausgeben, weil sie dann
nicht nach Liberia zurückgeschickt würden. Alle bis auf zwei
nahmen das Angebot an, einer
der beiden "Verweigerer" war
Jackson Andrews. Andrews beantragte am 10.1.1995 in der ZAST
Rostock politisches Asyl und folgte in Unkenntnis der rechtlichen
Lage hier dem falschen Hinweis
des Mitarbeiters vom Pandi-Service: Er gab sich, ohne vorhandene
Papiere, als Ghanaer Issaka Abdulai (der Name eines Freundes in
Tema/Ghana) aus; als Geburtsort
erfand er auf die Schnelle den
Ort Bongo. Ob dieser in Ghana
überhaupt existiert, ist bis heute
noch nicht raus.
Das Asylverfahren nahm seinen
gewohnten Verlauf: Ghana ist si-
64
cheres Herkunftsland, entsprechend schnell war der Asylantrag
abgelehnt.
Um die Staatsangehörigkeit von
Andrews zu klären, damit bei der
ghanaischen Botschaft Reisepapiere für die Abschiebung beantragt werden konnten (sog. TC Travel Certificate), wurde vom
Pandi-Service schon gleich nach
der Asylantragsstellung ein Botschaftsangehöriger nach Rostock
eingeflogen. Nach einem mehr
als "Augenscheindiagnose" zu bezeichnenden Kontakt mit Andrews wurde er zum Ghanaer definiert, und die Ausländerbehörde
erhielt über den Pandi-Service das
begehrte TC für die Abschiebung.
Das TC ist mit dem Datum vom
12.1.95 (!) auf Issaka Abdulai
ausgestellt; als dessen Anschrift
ist die Firmenadresse des PandiService eingetragen! Wie die Botschaft Ghanas uns am 29.4.1997
schrieb, wurde das TC 1995 aufgrund eines ghanaischen Passes
von Andrews ausgestellt, aber
weder Andrews noch die Rostocker Ausländerbehörde wußten von solch einem Paß!?! Die
Frage, ob nun die Botschaft zwei
Jahre später eine billige Ausrede
benutzte oder ob der Pandi-Service 1995 mit dem Botschaftsangestellten die Sache unter der
Hand geregelt hat, konnte bisher
nicht geklärt werden. Tatsache
ist, daß Andrews am 15.4.1995
als Issaka Abdulai nach Accra/
Ghana abgeschoben wurde. Wie
er berichtete, landete er dort für
mehrere Monate im Knast, bevor
er dann freikam.
Am 16.2.1996 kam Jackson Andrews erneut in die BRD, diesmal
als einer von neun liberianischen
Blinden Passagieren auf dem
griechischen Frachter Constantinos D. nach Hamburg. Nachdem
er mit einigen anderen tagelang
am Schuppen 64 im Hamburger
Freihafen festgehalten worden
war (um sie wieder "zurückzuschieben"), konnte er durch die
Hilfe Hamburger Flüchtlingsinitiativen Einreisen und Asyl beantragen. Er legte seine liberianische
Geburtsurkunde vor, nach der er
am 25.4.1975 in Monrovia/Liberia geboren wurde.
Der Asylantrag mußte in der ZASt
Oldenburg gestellt werden; dies
passierte Ende Februar, Anfang
März 1996 fand seine Anhörung
statt. Zu diesem Zeitpunkt wußten weder die Hamburger noch
die Oldenburger UnterstützerInnen, daß Andrews schon einmal
in der BRD Asyl beantragt hatte.
Die Folge war die Verhaftung von
Jackson Andrews am 15.3.96 um
6:00 Uhr morgens in der ZASt OL
(die ED-Behandlung machte es
möglich).
Er wurde in die JVA Vechta in
Abschiebehaft genommen, wo er
die nächsten sechs Monate verbrachte. Neben dem "üblichen"
Ärger mit verschwundenen Briefen, eingeschüchterten SozialarbeiterInnen etc., durfte Andrews
die Erfahrung der Botschaftsrundreisen machen.
Die zuständige Sachbearbeiterin
bei der Ausländerbehörde Oldenburg, Frau Kolbe-Michaelsen,
wollte diesen Menschen irgendwie loswerden.
Nun, keine Botschaft der englischsprachigen westafrikanischen
Staaten (Liberia, Ghana, Nigeria,
Sierra Leone ...) erkannte ihn als
einen der ihren an. Interessant
war das unterschiedliche Vorgehen der Botschaften: Während
z.B. die ghanaische Botschaft ein
eher ausführliches Interview
machte, erklärte eine liberianische Botschaftsangestellte den
Hamburger UnterstützerInnen
gegenüber, sie würden nur Kurzinterviews machen, alles andere
würde "einiges" an Verwaltungsgebühren für die Ausländerbehörden mit sich bringen.
Im Juli 1996 wurde Andrews aufgrund der Überfüllung der JVA
Vechta in den Abschiebeknast
Wolfenbüttel überführt. Am Freitag, den 13.9.1996 wurde er
dann entlassen, innerhalb von
sechs Monaten war es den Behörden nicht gelungen, ihn abzuschieben und es bestand auch
keine Aussicht darauf, so daß
nach der geltenden Erlaßlage die
Entlassung anstand.
Andrews bekam die Auflage, sich
am Montag, den 16.9 in Oldenburg zu melden. Er könne das
Wochenende in der ZASt OL
übernachten.
Reisegeld bekam er leider keines;
die Strecke Wolfenbüttel-Oldenburg beträgt über 200 km, zu
Fuß in drei Tagen ist das eventuell
zu schaffen ...
Nach knapp zwei Wochen in Ol-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
DEPORTATION
denburg wurde Andrews dem
Bundesland zugeteilt, in dem er
seinen ersten Asylantrag gestellt
hatte, Mecklenburg-Vorpommern.
Zuständig war für ihn Frau
Fleischhauer, Sachbearbeiterin
beim Landesamt für Flüchtlingsund Asylangelegenheiten in Nostorf (knapp 45 km von Hamburg
entfernt), wo Andrews in einem
Flüchtlingswohnheim untergebracht wurde.
Offiziell war er aber nur Gast
dort, denn er war in der ZASt Rostock gemeldet. Ein Umstand,
den Frau Fleischhauer permanent
für die Einschränkung der Auszahlung von Taschengeld und der
Ausstellung von Reisegenehmigungen nach Hamburg bzw. Oldenburg heranzog, was ihr natürlich entsprechenden Ärger einbrachte.
Für sie war schon nach vier Wochen klar, daß Andrews natürlich
Ghanaer ist und in Wirklichkeit
Issaka Abdulai heißt. Dies teilte
sie uns auch schriftlich mit
(25.10.96).
Alle Papiere in Nostorf wurden
trotz Protestes auf Issaka Abdulai
ausgestellt (sein Duldungspapier
war auf Issaka Abdulai ausgestellt und mit Jackson Andrews
unterschrieben). Um weiteren Ärger aus dem Weg zu gehen, verteilte Fleischhauer Andrews im
Januar 1997 nach Friedland (bei
Neubrandenburg) um; das war
weit weg, insbesondere von
Hamburg und Oldenburg.
Am 18.2.1997 kamen dann
plötzlich zwei Polizeibeamte in
das Flüchtlingswohnheim in
Friedland und fragten nach ihm.
Aber er war glücklicherweise gerade nicht im Zimmer und am
folgenden Tag natürlich auch
nicht mehr in Friedland, sondern
irgendwo anders.
Was war geschehen? Frau
Fleischhauer hatte plötzlich ein
TC für Issaka Abdulai für die Abschiebung nach Ghana bekommen (Man erinnere sich: Issaka
Abdulai wurde schon einmal
nach Ghana abgeschoben,
15.4.1995).
Die Art und Weise, wie Fleischhauer dieses TC sich organisierte,
konnte inzwischen recherchiert
werden:
Im Gegensatz zu Frau Kolbe-
Michaelsen von der Ausländerbehörde OL machte Frau Fleischhauer es sich recht einfach. Die
ganze Akte Jackson Andrews fiel
unter den Tisch, d.h. die Tatsache, daß Andrews angab, Liberianer zu sein, daß er als dieser einen zweiten Asylantrag gestellt
hatte, daß er eine Geburtsurkunde vorgelegt hatte etc. erwähnte
sie bei der TC-Beschaffung nicht.
Sie bat dabei das Auswärtige
Amt in Bonn um Unterstützung,
konkret Herrn Börner vom Referat
514.
Dieser forderte bei der ghanaischen Botschaft das TC für Issaka
Abdulai an, ohne zu wissen, daß
dieser identisch mit Andrews war,
der als Liberianer Asyl beantragt
hatte.
Gegenüber der taz (12.4.97) bestätigte er indirekt die Angaben
der Botschaft, daß seitens des
Auswärtigen Amtes Druck ausgeübt wurde. Herr Wilson, der
erste Botschaftssekretär, war über
die wahre Geschichte sehr erstaunt, als er am 27.2.97 von
dem "untergetauchten" Andrews
in Begleitung zweier MitarbeiterInnen des AK Asyl OL aufgesucht
wurde.
Er sagte, unter den tatsächlichen
Umständen wäre natürlich nie
ein TC ausgestellt worden, und
versprach, das TC zurückzuziehen
und ohne Geburtsurkunde keine
TC's mehr auszustellen. Einige Tage später erklärte er allerdings telefonisch, er werde das TC nicht
zurückziehen. Dieses Problem
müßten wir mit dem deutschen
Behörden klären. Er sagte nur zu,
nach Ablauf der Gültigkeit kein
neues auszustellen.
Frau Fleischhauer erwartete natürlich eine Dienstaufsichtsbeschwerde unsererseits, die nach
"sorgfältiger Prüfung" durch Frau
Hoffmann vom Innenministerium
in Schwerin, Referat 810, ergab,
daß Frau Fleischhauer natürlich
eine "beanstandungsfreie fachliche Entscheidung" getroffen hatte ...
Am 26.4.1997 passierte Andrews
das Mißgeschick, daß er in Hamburg von Polizisten kontrolliert
wurde und aufflog, wenige Tage
vor Ablauf des TC. Er konnte
noch Kontakt zu uns aufnehmen,
und die HamburgerInnen übergaben ihm am Flughafen seine Sachen.
Doch die Abschiebung am
9.5.1997 klappte nicht: Andrews
wehrte sich mit Händen und
Füßen, und der Pilot weigerte
sich schließlich, ihn mitzunehmen.
Knapp zehn Tage saß er dann in
Untersuchungshaft, ohne daß
ihm irgendein Kontakt zur Außenwelt erlaubt wurde; alle
dachten er wäre weg.
Schließlich schnitt er sich mit einer Glasscherbe in den Arm und
mußte einem Arzt vorgeführt
werden, den er bat, seine Anwältin zu informieren.
Der Arzt reagierte sofort und
schuf einiges an Aufregung unter
den UnterstützerInnen. Denn das
TC für die Abschiebung war
gleich nach seiner mißglückten
Abschiebung abgelaufen und die
Behörden wollten ihn scheinbar
solange isolieren, bis sie wieder
ein neues besorgt hatten. Sofort
wurde die ghanaische Botschaft
von uns informiert, die sich an
ihre alte Zusage, kein neues TC
auszustellen, sogar erinnerte! Allerdings waren sie bereit, das alte
TC zu verlängern!!
Mit von der Partie war auch wieder der Pandi-Service Bremen,
scheinbar der Notnagel der Ausländerbehörden in besonders
schwierigen Fällen. Um unsererseits den Druck zu erhöhen, fand
am 21.5.97 eine Protestaktion
vor der ghanaischen Botschaft in
Bonn statt, Motto: Nationalität
egal, Abschiebung nach Ghana
sofort möglich! Während Herr
Wilson sofort Gesprächsbereitschaft zeigte, wurden zwei Leute
des AK Asyl OL von seinem Chef,
dem Botschafter persönlich, dann
doch herausgeworfen. Am 23.5.
97 fand eine ähnliche Aktion
noch einmal in Bremen vor einem
Büro des Pandi-Service statt (vgl.
taz 24.5.97). Doch hier zeigte
sich niemand verantwortlich und
Auskunft gab es weder für Presse, noch für andere Leute.
Andrews sitzt inzwischen im Abschiebeknast Hamburg/Glasmoor.
Es gab für ihn einen Haftprüfungstermin, ein weiterer am 20.
Juni wurde angesetzt.
Es bleibt zu hoffen, daß nach all
diesen miesen Tricks der staatlichen Abschiebeverwaltung für
Andrews dann endlich Ruhe einkehrt; nachdem im Januar 1995
doch alles so harmlos begonnen
hatte...
Die Dienstaufsichtsbeschwerde
unsererseits ergab nach "sorgfältiger Prüfung", daß Frau
Fleischhauer
natürlich eine
"beanstandungsfreie fachliche
Entscheidung"
getroffen hatte ...
65
OLYMPIC-LAGER
Olymic-Staatsaffaire
Im Innenministerium flattern die Hemden Warum eigentlich?
Kommentar
von George Hartwig
A
m 19.6.97 im Niedersächsischen Landtag:
Eineinhalb Stunden “Große Anfrage” der CDU zur Olympic-Affäre: ein Minister windet sich, weiß
von nichts, sämtliche Spitzenbeamten - bis auf einen - mit blassen Gesichtern hinter ihm an der
Wand.
Die Regierungsloge überfüllt mit
mehr oder weniger beteiligten
Beamten der Bezirksregierungen.
Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt Regierungsakten, ein Untersuchungsausschuß droht.
Wenig später in der gleichen Besetzung: Die Petition des Flücht-
lingsrats für die kurdische Familie
Aka (s. Bericht über Härtefall und
Kirchenasyl in diesem Heft) wird
vor dem gleichen Landtag ohne
jede Aussprache abgelehnt.
Dies zeigt deutlich: es geht bei
Olympic auf gar keinen Fall um
den unmenschlichen Umgang
dieser Regierung mit den von ihr
abhängigen Flüchtlingen.
Es geht um eine ganz normale
Schmiere- oder Schmieren-Aufführung.
Bestechung, Begünstigung,
Amtsmißbrauch, Unterschleif,
persönliche Bereicherung - alles
brotlose Themen für die Staatsanwaltschaft; vielleicht erwischt
es den ein oder anderen Trittbrettfahrer. Ich habe vor der Presse gesagt, ich hielte es für ausgeschlossen, daß Beamte des Innenministeriums irgendwo die
Hand aufgehalten hätten. Nein wir haben es mit Überzeugungstätern zu tun, die dafür sorgen,
daß Flüchtlinge in diesem Land so
diskriminiert und schikaniert werden, wie das Gesetz es eben
wünscht.
Wenn private Betreiberfirmen
dies tun, - gut. Wenn die staatliche Sammellagerhaltung in den
ZASten dies möglich macht, vielleicht noch besser. Wenn kommunale Betreiber dies leisten,
warum sollte das Land auch noch
mit Standards und Kontrollen
stören.
Natürlich verfolge ich mit Interesse die Manöver des Staatssekretärs, die Aufregung im Regierungslager kurz vor der Landtagswahl, wo man sich mit den
Schwarzen doch so schön arrangiert glaubte, die wahltaktischselektive Neugier der Schwarzen,
die beredte Zurückhaltung der
Grünen.
Aber eines - denke ich - ist klar:
Niemand in dieser Allparteien-Koalition wird beschädigt werden,
und erst recht wird niemand das
migrationspolitische Steuer herumreißen.
Was bleibt, ist die Suche nach
dem Sündenbock:
Es wird der Flüchtlingsrat sein.
Warum also die Aufregung im Innenministerium?
„Da könnt Ihr ja in mein Auto gehen"
Bewohner klagen über Heim „Am Euzenberg"
„Eigentlich läuft
hier alles ganz
gut"
Auf dem zugigen Flur toben ein
paar Kinder, barfuß, der Fußboden besteht aus blankem Beton,
der ursprüngliche Deckbelag aus
Linoleum ist Anfang des Jahres
wegen Brandgefahr abgelassen
und noch nicht wieder ersetzt
worden. Erste Eindrücke eines
Besuchs im Flüchtlingswohnheim
Am Euzenberg im Duderstädter
Gewerbegebiet.
Duderstadt. An einem Herd in
der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoß rührt eine Afghanin
Maisbrei in einem Topf an. Ein an
die kahle Wand - weiter oben ist
sie noch nicht einmal verputzt geklebter Zettel fordert die Hausbewohner zu sparsamen Wasser-
* freier Journalist aus Göttingen, Beitrag vom13.11.96
66
verbrauch auf. Daneben hängen
Übersetzungen in Arabisch, Serbokroatisch und weitere Sprachen. In der früheren Munitionsfabrik leben rund hundert Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Iran, dem Irak,
Afghanistan, aus Sri Lanka, Sierra
Leone und Vietnam. Zwanzig
weitere sollen noch am Abend
dazukommen, weil die Betreiberfirma, die in Hannover ansässige
Olympic GmbH, eine weitere
Sammelunterkunft in Gerlingerode schließt.
„Sie dürfen hier ohne Genehmigung gar nicht schreiben", sagt
Harald Fuhrmann, noch bevor wir
überhaupt die erste Frage gestellt
haben. „und ich darf kein Wort
sagen. Aus Datenschutzgründen."
Fuhrmann ist einer von zwei Sozialarbeitern im Lager und gleichzeitig der kommissarische Heimleiter. Eine Genehmigung zum
Von Reimar Paul*
Gespräch mit ihm und den Bewohnern kann auch die Firmenzentrale am Telefon nicht ohne
weiteres erteilen, dafür sei die Bezirksregierung in Braunschweig
zuständig. Bei der Behörde, das
ergibt ein weiteres Anruf, hat
man mit der Anwesenheit von
Journalisten im Wohnheim aber
keine Probleme. Schließlich stimmen auch die Olympic-Verantwortlichen zu.
„Probleme jederzeit im Griff"
„Eigentlich läuft hier alles ganz
gut", so Fuhrmann beim nun erlaubten Gespräch in seinem Büro.
Von Unruhe oder beengten
Wohnverhältnissen, die Mitarbeiter des Flüchtlingsberatungszentrums in Göttingen beklagt hatten, sei ihm jedenfalls nichts bekannt. Klar, hin und wieder gebe
es mal kleine Beschwerden, die er
und sein Kollege im Griff hätten.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
OLYMPIC-LAGER
Hilfe bei Behördengängen und
Arztbesuchen, Hausaufgabenbetreuung der etwa 20 schulpflichtigen Kinder im heim, Freizeitprogramm im Spielzimmer: Praktisch
rund um die Uhr seien die Sozialarbeiter im Einsatz.
Davon hat die iranische Familie
Nakhjauvnpur noch nicht viel
mehr bemerkt. „Hier gibt es
nichts, was wir tun können", sagt
Vater Fararmaz, „Gemeinschaftsraum, keine Tischtennisplatte,
nichts ." Einmal pro Woche dürfte
sie Wäsche waschen, klagt Ehefrau Mitra. Und beim Kochen
„dauert es oft eine halbe Stunde,
bis die Kochplatte heißt ist",
Am schlimmsten sei die Situation
aber für ihre Kinder. Nur zweioder dreimal habe ein Sozialarbeiter in diesem Jahr das Angebot gemacht, die Hausaufgaben
zu kontrollieren. Und das Kinderspielzimmer? „Sehen Sie selbst, „
sagt Mitra Nakhjauvnpur. Der
vielleicht 20 Quadratmeter große
Raum ist mit Pritschen für die erwarteten. Neuankömmlinge vollgestellt. Die übrige Einrichtung
besteht aus einer kleinen Wandtafel, einem Teddybären, einem
Kinderfahrrad mit platten reifen.
Draußen auf dem Spielplatz sieht
es nicht besser aus. In den harten
Lehmboden sind zwei mit einer
Querstrebe verbundene Metallstangen gerammt worden: Das
Gerüst für eine Schaukel, die
selbst allerdings nicht vorhanden
ist. Der Holzrahmen der Sandkiste vermodert, frischer Sand offensichtlich seit Monaten nicht
mehr nachgefüllt worden.
Familie in nur einem Zimmer
Ein anderer Bewohner - er will
aus Angst vor Repressalien seinen
Namen nicht nennen - beklagt
sich, daß seine vierköpfige Familie künftig in einem einzigen Zimmer leben soll. „Da könnt ihr ja
in mein Auto gehen", habe ihm
ein Sozialarbeiter auf die Frage
geantwortet, wohin er sich denn
mit seiner Frau zurückziehen könne.
„Das Duderstädter Lager ist bestimmt nicht das schlimmste „,
sagt Martin Weber Becker vom
Flüchtlingsberatungszentrum.
„Aber man sieht hier gut, wohin
es führt, wenn die Unterbringung
und Versorgung von Flüchtlingen
in private Hände gegeben wird."
„Geschäftemacherei auf Kosten
der Flüchtlinge", kommentiert
dies ein Sprecher des Niedersächsischen Flüchtlingsrates. Die privaten Betreiber versuchten Kosten
einzusparen, wo immer es gehe.
Der landesweit aktive Flüchtlingsrat, in dem rund hundert Asylinitiativen, Kirchengruppe und
Gewerkschaftssgliederungen mitarbeiten, will in den kommenden
Wochen eine Kampagne zur
Schließung aller Flüchtlings-Sammelunterkunfte in Niedersachsen
starten. Auch des Heims in Duderstadt.
Nachtrag1:
Das niedersächsische Sammellager Duderstadt, betrieben von
der Firma Olympic, gehört nach
politischen Aktivitäten auf allen
Ebenen der Vergangenheit an.
Die verbleibenden Insassen/Bewohner sollen dezentral verteilt
werden; für eine Übergangszeit
von 1 Jahr wird das Haus im
städtischen Auftrag durch einen
Wohlfahrtsverband verwaltet
werden. Red.
Nachtrag 2:
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß das einzige landeseigene Flüchtlingslager im Regierungsbezirk Braunschweig ausgerechnet in einer ehemaligen KZAnlage (Außenstelle Lager Dora)
eingerichtet worden ist: die heutigen Flüchtlinge sind die unfreiwilligen Nachfolger von 700 ungarisch/jüdischen KZ-Häftlingen
auf diesem Gelände. (Red.)
Material für die
Staatsanwaltschaft
Die Recherche über das Geschäftsgebaren und die Verflechtungen der Firma Olympic ist
nicht neu. Als das Lager Euzenberg in Duderstadt von Olympic
aus- und umgebaut wurde - allem Anschein unter Einsatz von
Insassen anderer Lager und als
dort ständig Berliner Autokennzeichen auftauchten und als Namen aus der Region bekannt
wurden - haben Leute aus dem
Göttinger AK Asyl und aus dem
Flüchtlingsrat versucht, hinter
den Vorhang zu sehen. Ohne jeden greifbaren Erfolg. Das journalistische Engagement, ebenso
wie Nachfragen bei Insidern der
SPD und der Grünen schienen
gegen eine Gummiwand zu stosen. Hinter vorgehaltener Hand
wurde damals kolportiert, die betreffenden Personen seien unangreifbar, wegen der wackeligen
Einstimmen-Mehrheit in einem
Großraumverband bzw. in der
damit verbunden Verkehrsgesellschaft.
Wie auch immer, - die Zustände
in den Olympic-Lagern waren
nicht schlechter, sondern gleich
mies und diskriminierend wie in
den anderen Lagern auch, und
wir interessierten uns weniger für
die Motive der Täter als für die
Situation der Opfer.
von George Hartwig
Der Hartnäckigkeit und dem persönlichen Engagement eines Göttinger Journalisten - und Mitglied
des Flüchtlingsrats - ist es zu verdanken, daß nun doch einige der
damals wie heute beteiligten PolitikerInnen nervös geworden sind
und daß doch einige Herren dieser und anderer LagerbetreiberFirmen weiche Knie bekommen
haben, und daß das schnelle
Geld künftig anders eingesackt
werden muß.
Aber die Goldgräberzeit mit privaten Flüchtlingslagern ist eh vorbei, seitdem das Land die ZAStMassenlager betreibt.
Übrigens ist nicht der Journalist
mit seinen Recherche-Ergebnissen
an die Öffentlichkeit gegangen,
er hat das Material auch nicht wie das Innenministerium behauptet - breit im Land verteilt.
Der Journalist hatte nämlich einen Exklusiv-Vertrag mit dem
Spiegel (und der Spiegel kommt
mit seinem Material i.d.R. erst
raus, wenn es hieb- und stichfest
ist). Nein, - ganz offensichtlich
hat das Innenministerium selbst
die Flucht nach vorn angetreten,
nachdem aus einem Gespräch
mit der Spiegel-Redaktion klar
war, daß keine wesentlichen Beweise gegen das Ministerium vorlagen.
67
OLYMPIC-LAGER
Ähnlichkeiten
sind nicht beabsichtigt, weil wir
davon ausgehen,
daß am Lagergeschäft beteiligte Schafe alle
grau bis dunkelgrau sind.
Die Kampagne, die jetzt läuft, ist
die Kampagne des Innenministeriums selbst.
Ein Spitzenbeamter scheint aus
der Schußlinie gezogen, ein von
den Vorwürfen betroffener Beamter in die LKA-Kommission
versetzt, die mit der Aufklärung
zu tun hat, beiden Oppositions-
Interview
mit Ewald Hebeler,
ehemaliger
Mitarbeiter einer
Lagerbetreiber-Firma
Ich hatte drei
Stellen, Heimleiter, Sozialarbeiter und Hausmeister.
68
H.O.: Weißt Du irgend etwas
über Unterschlagungen oder Veruntreuungen von öffentlichen
Geldern bei der Firma? Wie steht
es mit dem angeblichen Einsammeln von Pfandgeldern durch Oliver Gerke zu dessen persönlichem Vorteil?
E.H.: Also, der Gerke wollte im
Wohnheim DM 20 für jeden
Schlüssel haben, die habe ich
ihm verweigert. Die Firma wollte
von den Flüchtlingen auch Pfandgelder für die Grundausstattung
haben, die habe ich als Heimleiter aber nie eingesammelt. Ist ja
rechtswidrig. Die wollten DM 20
für jeden Schlüssel und DM für
einen Satz Geschirr. Bei jüdischen
Migranten hat niemand Pfandgelder verlangt, die werden viel
besser behandelt als die Asylbewerber. Die müssen ihre Grundausstattung auch nicht zurückgeben. Ansonsten weiß ich, daß
Herr Rohne sein Privathaus ohne
besonderen Lohn von Firmenhausmeistern teilweise über deren normale Arbeitszeit hinaus
hat bauen lassen. Zu den Leistungen, die der Firma in den Tagessätzen erstattet werden, gehört
die regelmäßige Gebäudereinigung bei Gemeinschaftsräumen,
Küchen und Duschen, entweder
durch einen Reinigungsdienst
oder durch die Flüchtlinge selber
gegen Entgelt. In Wirklichkeit fin-
flügeln die Daumenschrauben
angelegt (wir sitzen doch alle in
einem Boot...) und die Staatsanwaltschaft so lange es ging herausgehalten.
Wir geben im Folgenden - anonymisiert - einiges von dem Material wider, das wohl auch der
Staatsanwaltschaft vorliegt. Die
Interviews sind authentisch, die
Namen wurden verändert, Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt,
weil wir - wie der ehemalige Minister Jürgen Trittin in seinem erhellenden Statement - davon
ausgehen, daß am Lagergeschäft
beteiligte Schafe alle grau bis
dunkelgrau sind.
det weder das eine noch das andere statt, die streichen die Gelder einfach ein und tun nichts
dafür. Entsprechend gammlig
und dreckig sieht es in den
Wohnheimen aus.
dem Heim aufgetaucht und hat
mich sofort bei der Firma angeschissen, daß ich nicht am Arbeitsplatz wäre, dabei wußte der,
was ich zu tun hatte. Als ich
dann mit einem Flüchtling auf
dem Sozialamt war, wurde ich
von ihm wieder angeschissen,
weil ich nicht im Wohnheim war.
Alles Schikane, um mich loszuwerden!
H.O.: Kannst du bestätigen, daß
im Putzmittelbereich extrem geknausert wird, Entzweischneiden
von Scotch-Britt-schwämmen
etc?
E.H.: Ja, kann ich bestätigen. Die
Putz- und Waschmittel kamen
ebenso wie Einrichtungsgegenstände erst aus Nienburg, dann
aus Wunstorf, die habe ich dort
persönlich abgeholt, im Wohnheim S.-Straße. Als die Behörden
kontrollieren wollten, wo die
Putzmittel her sind und wie die
abgerechnet wurden, hat die Zulieferfirma alle paar Wochen gewechselt. Inzwischen bringt Regionalleiter Walter Kraatz die
Putzmittel selber in den Wohnheimen vorbei.
H.O.: Was ist Kraatz für ein Typ?
Er kommt aus dem Osten?
E.H.: Der ist in der DDR Schuldirektor oder Schulamtsleiter gewesen, hat dort zuletzt in Nordhausen gelebt und seinen Job verloren, weil ihm eine Stasivergangenheit nachgewiesen werden
konnte.
H.O.: Stimmt es, daß es bei der
Firma so eine Art Seilschaft von
alten Stasi-Leuten gibt?
E.H.: Ja, kann ich bestätigen.
Kraatz, Stegemann, Bothe (Heimleiter in X.), Petersen und Hoffmann kamen alle aus dem Raum
Nordhausen/Worbis und sollen
alle Stasi-Vergangenheit haben.
Einer von denen hat mich rausgemobt, nachdem ich dort wegen
der Eßpakete Stunk gemacht habe. Ich sollte nachts ein Heim
herrichten, mußte dann zum
nächsten Job weiter, da ist er in
H.O.: Du warst Sozialarbeiter?
E.H.: Ich hatte drei Stellen, Heimleiter, Sozialarbeiter und Hausmeister. Die Firma hat für drei
Stellen abgerechnet, ich wurde
aber nur für eine bezahlt. Real
hatte ich im mobilen Dienst dreizehn Wohnheime zu betreuen,
immer abwechselnd eine Woche
24 Stunden Bereitschaft und
zehn Stunden normaler Dienst.
Überstunden wurden vielfach
nicht bezahlt oder falsch abgerechnet. Ich war mit 3800 Mark
einer der Bestverdienenden in
meinem Bereich. Hausmeister
wurden mit 1300-1700 Mark bezahlt, aber die Stellen für 3000
Mark abgerechnet. Außerdem
mußten die unbezahlte Überstunden leisten.
H.O.: Was war das für eine Geschichte mit den Essenspaketen?
E.H.: Die Firma hat den Heimleitungen die Dinger geradezu aufgedrängt, obwohl da nur Scheiße
drin war. Irgendwann habe ich
herausbekommen, daß die Herstellerfirma der Pakete eine Tochter von der Firma ist. Die haben
die Pakete in der ZASt X. von einer bayerischen Firma angeliefert
bekommen, dort umgepackt und
teurer weiterverkauft.
H.O.: Laut Aussage eines Heimleiters haben Flüchtlinge den
Kaufpreis der Freßpakete und
den Preis ihres Inhalts gegeneinander aufgerechnet und sind auf
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
OLYMPIC-LAGER
Preisunterschiede von 70-90%
gekommen.
E.H.: Das kommt etwa hin. Die
Pakete wurden im Rathaus Burgdorf ausgestellt, drin fand dann
ein „Paketbüffet" als Werbeveranstaltung für die Dinger statt Ich
hab da Motz gemacht und die
Pakete geöffnet, um den Inhalt
zu prüfen. Reihenweise war da
vergammeltes Zeug drin, die Verfallsdaten längst überschritten
und so weiter. Dann tauchten
Hörich und Co auf und behaupteten, die Dinger wären gar nicht
ausgeliefert worden und Flüchtlinge hätten sie mutwillig demoliert.
H.O.: Kannst du bestätigen, daß
die Firma von der öffentlichen
Hand Gelder für die Anschaffung
von Möbeln für die Wohnheime
bekommt, diese aber zur Einrichtung privater Ferienhäuser verwendet und in die Wohnheime
altes Gerümpel schafft?
M.R: Ich war mit Oliver Gerke in
einer alten SU-Kaserne in Ostdeutschland, da haben wir Möbel
aufgeladen, die gar nichts gekostet haben. Die Firma hat aber
Unkosten geltend gemacht. Die
haben generell Möbel aus alten
NVA-Kasernen beschafft, auch
Handtücher und solche Sachen,
mit den LKWs von Hörich. Die
haben die Sachen geschenkt ge-
kriegt und dann mit Land und
Behörden abgerechnet. Es wird
auch für neue Waschmaschinen
abkassiert, aber Geräte von Berger in X. angeschafft, der
Schrottmaschinen repariert.
H
Stadt. Das wurde von den Bediensteten wenig thematisiert, da
die Ausschreibung der Stellen
zwar bekannt gegeben wurde,
aber nicht, daß einige der höherwertige Stellen bereits intern vergeben waren.
Arnold Nitschke war damals Vorsitzender des Personalrats. der
hat auf Mewes Machenschaften
den Daumen drauf gehalten, er
war Mewes Gewährsmann und
in X-Stadt auch sein offizieller
Stellvertreter. Nach Mewes Abgang aus dem Landesdienst wurde er sein Nachfolger. Er betrieb
dann nach seinem eigenen Ausscheiden eine eigene Unterbringungsfirma, die Nitschke GmbH,
die später von der Firma geschluckt wurde. Behringer war in
X-Stadt unter anderem für Materialbeschaffung und Gepäck zuständig, logischerweise macht er
heute bei der Firma den Spediteur.
Interview
mit Bernd Lechte,
.O.: Welcher Zusammenhang
besteht zwischen der Firma
und dem Grenzdurchgangslager
X-Stadt?
B.L.: Herbert Mewes war in Personalunion Leiter von X-Stadt
und Y-Dorf. Es gab damals in
Göttingen eine Troika: Mewes,
Dohl und Karl. Michael Dohl wurde von Mewes nach Hannover
geschickt. Er hatte kurz zuvor
sein Diplom in BWL gemacht und
kurze Zeit in der Privatwirtschaft
gearbeitet. Als das Land nun eine
Stelle zu vergeben hatte, um die
Konzeption für das damals noch
nicht existierende Lager Y-Dorf zu
machen, hat Mewes gegenüber
Bänsch, der damals sein Dienstvorgesetzter war, Dohl vorgeschlagen. Der bekam die Stelle
dann auch und hat Mewes das
neue Lager auf den Leib geschneidert.
H.O.: Was heißt das?
B.L. Das Lager in Y. war in jeder
Beziehung viel besser ausgestattet. Im Prinzip fand Mewes hier
Leute und Material zur Gründung
seiner Privatfirma vor. Mewes und
Karl gingen dann zusammen
nach Y., wobei Mewes aber
gleichzeitig die Leitung des Lagers X-Stadt innebehielt. Die Personalpolitik war in diesem Zusammenhang interessant: Es
wurden in X-Stadt bewußt windige Leute für Y. abgeworben, die
für eine Seilschaftbildung und
krumme Geschäfte in Frage kamen. Die bekamen in Y. höherwertige Stellen gegenüber X-
H.O.: Was wissen sie über den
Zusammenhang mit der EXPO ?
Schon damals wurde in X-Stadt
gesagt, Bänsch wolle mit der EXPO Geld verdienen, seit bekannt
war, daß sie nach Hannover
kommt. Seine Frau betrieb schon
ein Aussiedlerwohnheim, als er
selber noch Mitarbeiter in der
Behörde war. Die Verteilung eines
großen Teils der Aussiedler wurde
zentral in Hannover vorgenommen, und zwar von Bänsch
selbst.
Seit der Firmengründung von der
Firma wurde der Einstieg in die
H.O.: Was weißt du sonst noch
über Unregelmäßigkeiten von der
Firma?
E.H.: Vor einem Jahr gab es eine
HAZ-Meldung über eine Hoteleröffnung für die EXPO. Das Personal, welches das Haus ausgebaut hat, wurde via Erstattungen
vom Land für Flüchtlingswohnheime bezahlt. Das Hotel Wartburg in Y. wurde von der Firma
angekauft, aber nie bezahlt.
ehemaliger
Mitarbeiter einer
Lagerbetreiber-Firma
EXPO von langer Hand vorbereitet, die Flüchtlingswohnheime
waren immer nur eine Interimsgeschichte.
H.O.: Was wissen sie über die Firmen MaTik und RNV?
B.L.: MaTik hat schon 1989
Freßpakete hergestellt, erst wurden die von der Firma abgekauft,
dann haben Behringer und ein
Herr Olsen die niedersächsische
Sektion des Ladens übernommen.
H.O.: Wissen sie etwas über Zusammenhänge zwischen der Bezirksregierung Z. und Mitarbeitern der Firma?
B.L.: Davon weiß ich nichts. In
diesem Zusammenhang fällt mir
aber ein, daß Nickel ursprünglich
von der Bezirksregierung Z.
kommt.
69
OLYMPIC-LAGER
H.O.: Welches sind die frühesten
ihnen bekannten Mauscheleien,
die sich vielleicht nachweisen
ließen?
B.L.: Es ging um die Ausschreibung zur Vergabe der Krankenstation im Jahr 1990 im Lager XStadt. Nach Presseberichten (August bis Oktober 90) wurde das
Angebot von Mewes zurückgezogen, da ihm die Presse scheinbar
auf die Schliche kam. Die Angebote der konkurrierenden Bewerber waren ihm offensichtlich bekannt. Sein Gebot unterschied
sich nur um wenige DM von denen der Mitbewerber. Als das
aufzufliegen drohte, zog er sein
Angebot zurück. Der für die Vergabe zuständige Dienststellenleiter war Arnold Nitschke. Ein von
Mewes als Wohnheim betriebenes ehemaliges Krankenhaus in
M-Stadt, das anfangs mit 100
Leuten belegt war, wurde vom
Personal des Lagers X-Stadt renoviert. Laut Vertrag mußte die Firma selber für Mobiliarverschleiß
aufkommen, tatsächlich wurden
zu Bruch gegangene Möbel aber
aus den Beständen des Lagers XStadt ergänzt. Außerdem scheint
die Firma von Anfang an von den
Behörden bei der Vertragsvergabe bevorzugt zu werden. So gab
es in R-Stadt einen privaten Anbieter, bei dessen Objekt es sich
um ein Hotel mit Restaurant handelte. Der war chancenlos, weil
Mewes schon da war. Mewes
und Bänsch haben auch bei die
Firma noch Mobiliar in X-Stadt
eingekauft, die haben da ja noch
immer ihre Leute sitzen. Selbst
der Liefke ist einer von Mewes
Männern, der hat ihm in Verbindung mit Nickel den Job in Z.
verschafft, damit er da den Daumen draufhält, und als Nachfolger wieder einen von seinen Adlaten eingesetzt.
H.O.: Wie würden sie diese Seilschaften kurz skizzieren?
B.L.: Also: Mewes hat für die Einstellung von Dohl bei Bänsch gesorgt, Mewes nahm Karl nach Y.
mit, Dohl ist bis heute sein Kontakt- und Gewährsmann im Ministerium, Bänsch hatte seinerseits
Mewes aufgebaut. Bänsch war
seit Ende der Sechziger im Landesdienst. Der damalige Minister
Jürgens hat Mewes nach X-Stadt
geholt. Anfang der Neunziger
Jahre haben wir wegen der Zustände in den Wohnheimen eine
Frau von den Grünen in Bewegung gesetzt, da gab es aber keine Reaktion.
Olympic oder die Farbe des Geldes
Affäre um Betreibergesellschaft von Flüchtlingswohnheimen
Am Mittwoch, dem 04. Juni, trat
Niedersachsens Innenstaatssekretär Claus Henning Schapper
mit einer erstaunlichen Bekanntmachung vor die Abgeordneten
des niedersächsischen Landtags
und die Öffentlichkeit: Gegen
mehrere Beamte des Landes Niedersachsen werde ermittelt, weil
sie im Verdacht stünden, der
Isernhagener Firma Olympic, die
Flüchtlingswohnheime betreibt,
Vorteile gewährt zu haben. Ermittelt werde wegen Bestechung,
Unterschlagung von Landesmitteln und falschen Abrechnungen.
Laut Auskunft der Staatsanwaltschaft Hannover, die am gleichen
Tag mit dem niedersächsischen
LKA eine SOKO bildete, richteten
sich die Ermittlungen gegen
„fünf bis sieben Beamte aus Landes- und Bezirksregierungen".
In Gang gekommen war die Affäre durch das Rechercheprotokoll
eines Journalisten, das ohne dessen Wissen durch eine Indiskretion ins niedersächsische Innenministerium gelangt war und von
dort aus quasi wie eine Regierungsdrucksache weitere Verbreitung gefunden hatte. Zahlreiche
Personen, die aus den in dem
Text enthaltenen Überlegungen
70
und Vermutungen, die auf eine
Korruptionsaffäre hindeuteten,
Kapital schlagen konnten, hatten
das Papier erhalten, darunter
auch die Beschuldigten selber. Als
es mit ziemlicher Verspätung
endlich auch bei der Staatsanwaltschaft Hannover eintraf, begann diese sofort mit Ermittlungen. Dies nicht zuletzt, als dort
auch noch andere Hinweise als
die in dem Papier enthaltenen
Vorwürfe vorlagen.
Offensichtlich unter Zugzwang,
ergriff das Innenministerium die
Flucht nach vorn und machte die
Vorwürfe öffentlich. Im Kern geht
es dabei um folgenden Sachverhalt:
Die beiden geschäftsführenden
Gesellschafter der Olympic-Firmengruppe kommen beide aus
dem Landesdienst. Der eine war
bis 1990 Leiter des Grenzdurchgangslagers Friedland und des
Aussiedlerauffanglagers Bramsche-Hesepe, der andere dessen
Vorgesetzter als Abteilungsleiter
„Aussiedler" im Niedersächsischen
Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten. Nachdem
der eine sich bereits 1990 mit einer privaten Betreibergesellschaft
selbständig gemacht hatte,
von Hinrich Olthoff
schied der andere am 30.06.91
ebenfalls aus dem Landesdienst
aus, um knapp zwei Jahre später
bei ersterem einzusteigen.
Es gibt Vorwürfe, es habe sich
seit jener Zeit ein enges Beziehungsgeflecht zwischen der Firmenleitung, den für die Flüchtlingsunterbringung zuständigen
Beamten der Landesregierung
und den Bezirksregierungen entwickelt. So soll ein Mitarbeiter im
Referat 42 des Innenministeriums
seine Einstellung beim Land diesen beiden ehemaligen Kollegen
zu verdanken haben. Mitarbeiter
von Olympic und der Tochterfirma FACT berichten von einer miserablen Ausstattung der Wohnheime, einem schlechten Umgang der Firmenleitung mit dem
Personal und engen Verquickungen der Firma mit der öffentlichen Verwaltung.
In der Vergangenheit ergaben
Prüfberichte bei Betreibergesellschaften von Flüchtlingswohnheimen des Öfteren grobe Mißstände. Schon 1993 wurde in Hannover bekannt, daß die JohanniterUnfallhilfe mindestens 2,5 Millionen Mark zuviel veranschlagt hatte. Einerseits gab es Minderausstattungen in den Wohnheimen,
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
OLYMPIC-LAGER
andererseits wurde für Stellen abgerechnet, die nur auf dem Papier existierten. In einem Fall bestand das gesamte Personal eines
Wohnheimes aus einem Zivildienstleistenden. Als die Aufsichtsbehörde die 16 Verträge
mit Johannitern, DRK, der Olympic-Vorgänger-Firma OlympiaDienstleistungs-GmbH und der
Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde überprüfte, kam heraus,
daß nicht ein Vertrag korrekt eingehalten wurde.
Im gleichen Jahr gelangten Einzelheiten über die Überprüfungen der niedersächsischen Landeswohnheime durch einen Mitarbeiter Trittins an die Öffentlichkeit. Dieser Mann, ein ehemaliger
Verfassungsschutzbeamter namens Glaeser, führte in zahlreichen Heimen unangemeldete
Kontrollbesuche durch. Hierzu
meldete ddp: „ In einem internen
Prüfbericht des niedersächsischen
Ministeriums für Bundes- und Europaangelegenheiten wurden im
Zeitraum zwischen Januar und
April in 27 Flüchtlingsheimen vertragliche Minderleistungen in
Höhe von knapp 730.000 Mark
festgestellt. Die Firma FACT war
in mehreren Fällen wegen Mängeln in ihren Häusern aufgefallen. In einem handschriftlichen
Vermerk eines Beamten wurde
die Streichung der Firma von der
Liste geeigneter, erstattungsfähiger Betriebe vorgeschlagen...."
Im gleichen Jahr kritisierte auch
der Landesrechnungshof Minderausstattungen der Wohnheime
und Verschwendung von Steuermitteln.
Ermöglicht werden solche Verhältnisse durch ein spezifisch niedersächsisches Modell der Kostenberechnung bei Wohnheimen: Für die Betreiber werden
pauschale Tagessätze erhoben,
die von der Grundausstattung
der Wohnheimräume bis zu den
Sozialarbeiterstellen alles einschließen, so daß besetzte Stellen
nicht gesondert abgerechnet
werden müssen, es also erstmal
gar nicht auffällt, wenn für diese
kassiert wird, ohne daß es einen
realen Beschäftigten gibt.
Zum anderen wird in den in der
ersten Hälfte der Neunziger abgeschlossenen Verträgen von einer pauschalen Belegungszahl
der Wohnheime ausgegangen, so
daß bei 40 Flüchtlingen in einem
Wohnheim für 120 abkassiert
werden kann, wenn das Heim
120 Betten hat. Einer der erhobenen Vorwürfe lautet, einer der
heutigen Gesellschafter habe als
Landesbediensteter die Vorgaben
für diese Verträge mitentwickelt
und damit sozusagen im Vorhinein „Geschäfte mit sich selber abgeschlossen".
Von Seiten des Innenministeriums
wurden derlei Vorwürfe bislang
energisch zurückgewiesen, wobei
die verantwortlichen Beamten allerdings keine sehr gute Figur
machten. So erklärte Schapper
noch am 04.06., dieser ehemalige Beamte wäre niemals für den
Bereich Asylbewerber zuständig
gewesen, um am nächsten Tag
einzuräumen, daß er neben dem
Bereich „Aussiedler" kommissarisch auch für Asylbewerber zuständig gewesen sei. In einem
dem Innenausschuß vorliegenden
Papier des Innenministeriums
(unterzeichnet Hubertus Lueder)
werden mehr neue Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Dort heißt es zu diesem Beamten: „Mit der Unterbringung von
Asylbewerbern war er nur insoweit beschäftigt, als er im Sommer 1990 wegen der Vakanz der
Referatsleiterstelle...an den vorbereitenden Arbeiten zur Unterbringungskonzeption beteiligt war.
Diese fanden ihren Abschluß mit
dem eingangs erwähnten Kabinettsbeschluß. An der anschließenden Erarbeitung eines Mustervertrags war er nicht mehr
beteiligt. Dies übernahm der neu
bestellte Referatsleiter Gutzmer."
Merkwürdig erscheint auch die
Tatsache, daß unisono von Seiten
der Landesregierung wie auch
der Firma zu hören ist, eine Bevorzugung von Olympic bei der
Vertragsvergabe sei allein deshalb
unmöglich, weil die Vertragspartner für die Wohnheime vor Ort
die Kommunen seien, - nur: die
Häuser hießen einmal „Landeswohnheime", und die Umstellung
auf kommunale Trägerschaft erfolgte erst ab Anfang 1994. Hierbei stiegen die Kommunen als
neue Partner in laufende Verträge
ein, die vorher von Bezirks- oder
Landesregierung abgeschlossen
wurden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier solle
jemand für dumm verkauft werden.
Nachdem es dem MI bislang
nicht gelungen ist, die Vorwürfe
vollständig zu entkräften und die
Opposition, CDU wie Grüne,
ebenso wie die Presse auf Schappers und Lueders Ausführungen
alles andere als zufrieden reagierten, wurde es am 18.Juni wohl
auch der Staatsanwaltschaft zu
bunt.
Die Strafverfolger wurden im Innenministerium und allen Bezirksregierungen vorstellig, um die
Akten zu dem gesamten Sachverhalt einzusammeln.
Lager Euzenberg
und kein Ende
Ein ungepflegter Flur mit nacktem Betonfußboden, kahle Wände, verdreckte Toiletten mit krustigen Ablagerungen in der
Schüssel, fast auseinanderfallende Duschkabinen, mit schwarzen
Stockflecken übersäte Decken in
den Baderäumen, mittendrin die
Bewohner, überwiegend ärmlich
gekleidet, in Zimmern, die mit
Mobiliar vom Sperrmüll oder aus
Spenden eingerichtet sind... Das
sind die ersten Eindrücke im
Flüchtlingswohnheim „Am Euzenberg" in Duderstadt, einer
südniedersächsischen Kleinstadt
im Landkreis Göttingen.
Die hier untergebrachten Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge wirken resigniert und verzweifelt. „Wir können nicht mal richtig kochen, weil es eine halbe
Stunde dauert, bis die Platte
warm ist, an allen Ecken und Enden wächst Schimmel." berichtet
Frau N. aus dem Iran.
Eine andere Heimbewohnerin
weiß von Pilzerkrankungen bei
zahlreichen Kindern.
In einem Zimmer, das auch als
Lagerraum für alte Matratzen genutzt wird, schläft ein Neugeborenes gemeinsam mit fünf Erwachsenen. Das Kinderbett wurde, wie die gesamte übrige Babyausstattung, erst nach der Geburt des Kindes angeschafft.
Duderstadt-Euzenberg ist kein
Einzelfall, ähnlich gammlig sieht
es beispielsweise im Flüchtlingswohnheim Walsrode aus.
71
OLYMPIC-LAGER
„Dieses Firmenkonglomerat
dient nur dazu,
eine Nebelwand
aufzubauen, um
die tatsächlichen
Verhältnisse zu
verschleiern."
Wesentlicher Unterschied: während das Heim in Duderstadt eine
alte Munitionsfabrik mit massiven, aber an vielen Stellen feuchten Mauern ist, handelt es sich in
Walsrode um eine Leichtbaukonstruktion aus Holz, Rigips, Spanplatten und ähnlichen Materialien.
Wesentliche Gemeinsamkeit: Beide Häuser gehören dem selben
privaten Betreiber, der OlympicGruppe mit Stammsitz in Isernhagen bei Hannover.
Ein ehemaliger Flüchtlingssozialarbeiter weiß zu berichten, daß
die Firma bei Kontrollbesuchen
der Bezirksregierung im Schnitt
angeblich zwei Tage vorher Bescheid wisse. Dann würden die
Feuerlöscheinrichtungen komplettiert und aktualisiert und Mitarbeiter aus anderen Heimen herbeigeholt, um einen ordnungsgemäßen Zustand der Heime und
eine ausreichende Personaldecke
vorzutäuschen.
Ein Kollege aus Duderstadt machte ähnliche Beobachtungen: Er
berichtet von „völlig abgenutztem Bettzeug", das „man kaum
noch gebrauchen könne", welches an die Flüchtlinge ausgegeben werde.
Solche Beobachtungen stehen in
krassem Widerspruch zu der Tatsache, daß Olympic mit Tagessätzen von mindestens Zwanzig
Mark pro Flüchtling sehr gut verdient und auch nicht gerade eine
notleidende Firma ist:
Zur Olympic-Gruppe gehören
nämlich an die zehn verschiedene
Betriebe, die in verschiedenen
Branchen als Dienstleister tätig
sind und über gute Einnahmequellen verfügen. So bewirtschaftete Olympic die Markthalle in
Hannover, betreibt Liegenschaften für die EXPO und Unterkünfte für Werksangehörige vor allem
von VW.
Zeitweise stellte Olympic sogar
die Essenspakete für die Flüchtlinge selber her und druckte Warengutscheine.
Norbert Ohnesorg, Justiziar der
ÖTV-Bezirksverwaltung Hannover,
der im Augenblick vor dem Arbeitsgericht die Olympic-Belegschaft gegen ihre Firmenleitung
72
vertritt, meint zu der verschachtelten Firmenstruktur: „Dieses Firmenkonglomerat dient nur dazu,
eine Nebelwand aufzubauen, um
die tatsächlichen Verhältnisse zu
verschleiern."
Die Firmenleitung versuchte auf
gerichtlichem Wege die Bildung
eines Betriebsrats zu verhindern,
was von dem Arbeitsrichter, Tobias Walkling, in der ersten Verhandlung aber abschlägig beschieden wurde.
Nachdem sich der Themenkomplex „Olympic" zur Affäre ausgewachsen hatte, machte die Firma
einen plump anmutenden taktischen Rückzieher: Plötzlich wurde
Carsten Thür das ihm zur Wahl
eines Betriebsrats benötigte Material, das man ihm wochenlang
vorenthalten hatte, ausgehändigt.
Die Firma versuchte über ihren
Anwalt sogar, den Arbeitsrichter
auf außergerichtlichem Wege dazu zu bewegen, von einer zweiten mündlichen Verhandlung Abstand zu nehmen, mit dem Hinweis „da ist ja die ganze Presse,
und das könnte der Firma gegenwärtig sehr schaden".
Dementsprechend war Olympic
sogar bereit, einer Betriebsratswahl pauschal zuzustimmen.
Der Richter indes bestand auf der
Durchführung einer ordentlichen
Verhandlung, welche den Betriebsrat nun auf den Weg brachte.
Die Vorwürfe
gegen Olympic
sind nicht neu,
und die inkriminierten Praktiken
beschränken sich auch nicht auf
Olympic.
Silke Stokar von der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
berichtet etwa, daß eine Überprüfung der Wohnheime im Regierungsbezirk Weser-Ems wenige Wochen, bevor die OlympicAffäre ruchbar wurde, Minderleistungen und krumme Rechnungen in allen überprüften Fällen
ergeben hätte.
Auszubaden haben dies die
Flüchtlinge, denen SozialarbeiterInnen, Kinderbetreuung, ausrei-
chendes Mobiliar und hygienische sanitäre Einrichtungen vorenthalten werden.
Bei einem Tagessatz von Zwanzig
bis Fünfunddreißig, maximal sogar fünfundfünfzig Mark pro
Flüchtling ist die Wohnheimunterbringung für die öffentliche
Hand dabei ausgesprochen teuer,
sehr viel teurer als es dezentrale
Unterbringung jemals sein könnte.
Im Falle Olympic weisen, wie
oben gesagt, sowohl Landesregierung als auch Firmenleitung
darauf hin, daß die Verträge mit
den Kommunen abgeschlossen
wurden und die Höhe der Tagessätze gar nicht vom Land bestimmt wurde.
Daß dies falsch ist, wurde oben
bereits dargelegt; außerdem
heißt es in einem an die Bezirksregierungen gerichteten Schriftstück des damaligen Bundes- und
Europaministeriums vom 16.04.
1991: ..."Tagessätze über 20 DM
(zuzüglich Mehrwertsteuer) bedürfen meiner Genehmigung"...
Im Auftrage Gutzmer".
Mit Ausnahmeregelungen wurde
hierbei sehr großzügig umgegangen. So gehören die Tagessätze
der von der Olympic- Tochter
FACT betriebenen Wohnheime
für jüdische MigrantInnen zu den
höchsten in Niedersachsen. Im
Falle des Wohnheims Wallenhorst-Rulle liegt dieser bei 42
Mark. Der Vertrag wurde mündlich abgeschlossen.
Ironischerweise liefert die Firma
Olympic den Beleg für das von
den Rechten ständig vorgetragene Argument, daß Flüchtlinge
die steuerzahlende Bevölkerung
teuer kommen.
Es sind allerdings nur die Lagerbetreiber, die daran profitieren,
daß die besondere Ghettoisierung, Entmündigung und materielle Unterversorgung der Flüchtlinge so subventioniert wird, daß
daran eine goldene Nase zu verdienen ist.
Unterm Strich erscheint mir die
private Lager-Betreiberei als eine
der besten Geschäftsideen unterhalb der Schwelle zur reinen Kriminalität.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
Soziale Diskriminierung von Flüchtlingen
Ausgrenzung von Gemeinschaftsfremden
Die auf der letzten Flüchtlingsrat-Sitzung in Salzgitter öffentlich
gemachte Ankündigung, in Salzgitter wie in anderen Orten Niedersachsens Gutscheinpools zu
gründen, um den vom Asylbewerberleistungsgesetz betroffenen Flüchtlingen Gutscheine in
Bargeld umzutauschen, hat die
CDU/FDP-Ratsfraktion in Salzgitter zu heftigen Ausfällen gegen
den Flüchtlingsrat veranlaßt:
Der Umtausch von Gutscheinen
sei, so die öffentlich und offenbar auch ernstgemeinte Kritik, ein
„skandalöses Vorhaben" und werde aufs Schärfste verurteilt.
„Wir wissen, daß gerade in diesem Bereich ein erheblicher
Mißbrauch getrieben wird, der
kaum zu kontrollieren ist.
Um so unverständlicher ist, daß
ganz offen zum Mißbrauch deutscher Steuergelder aufgefordert
wird", empörten sich die Damen
und Herren der CDU/FDP-Ratsfraktion. „Wir werden nach Lösungen suchen, um derartige
deutschfeindliche Machenschaf-
ten zu unterbinden", heißt es abschließend.
Die um die deutschen Steuergelder so besorgten Ratsmitglieder
sollten sich von ihrer Verwaltung
einmal ausrechnen lassen, wieviel
Geld die Stadt Salzgitter zusätzlich ausgibt, um Flüchtlinge
durch Gutscheine zu diskriminieren. Die von einer CDU/FDP-Koalition bestimmte Ratsmehrheit der
Stadt Hildesheim rechnete 1996,
also noch nach dem alten Asylbewerberleistungsgesetz, mit Einsparungen in Höhe von 100.000
DM durch Verzicht auf Gutscheine - und beschloß kurzerhand die
Beibehaltung der Bargeldauszahlung.
Offenbar ist in Salzgitter die Versuchung groß, das eigene
schlechte Gewissen angesichts
der praktizierten Apartheid durch
einen umgekehrter Rassismus zu
kompensieren, welcher die Einforderung von Solidarität und
Mitmenschlichkeit nur noch mit
„deutschfeindlichen Machen-
Behandlung im Krankenhaus nur noch im Ausnahmefall?
1994: Frau G. kommt als Kriegsflüchtling aus Sarajevo nach
Braunschweig, sie leidet an einer
schweren Ernährungsstörung.
1995: Nach einem Krankenhausaufenthalt bezieht sie eine eigene
Wohnung, kommt nach der anstrengenden Flucht zur Ruhe und
nimmt allmählich an Gewicht zu.
Ohne Probleme wird sie ambulant weiter behandelt.
1996: Ihr allgemeiner Gesundheitszustand verschlechtert sich
deutlich. Ihre Hausärztin betont,
daß Frau G. sehr krank sei. Die
Ursache für den extremen Kalziummangel könne ambulant nicht
gefunden werden. Im November
1996 hält sie Rücksprache mit
der Krankenhilfe im Sozialamt,
um für Frau G. eine Krankenhauseinweisung durchzusetzen.
Zeitgleich wird die Sozialhilfe
gekürzt, weil eine freiwillige
Rückkehr nach Bosnien zumutbar
wäre. Die für Frau G. unbedingt
notwendige hochwertige
Ernährung kann so nicht gewährleistet werden. Der Widerspruch
gegen die Kürzung bleibt erfolglos.
Am 13.12.96 wird die Ablehnung der Kostenübernahme für
die stationäre Behandlung bekannt. Mit einem persönlichen
Anschreiben und einem erneuten
Attest der Ärztin wird erneut die
Kostenübernahme beantragt.
Frau G. sieht sehr schlecht aus,
sie scheint um 20 Jahre vorgealtert. Sie hat häufig Schmerzen
und fühlt sich sehr schwach.
Für Mitte Februar 1997 erhält
Frau G. die Aufforderung, sich im
Gesundheitsamt Braunschweig
vorzustellen. Dort wird sie oberflächlich untersucht und festgestellt, daß „sie sich noch bewegen kann". Nach 3 Wochen wird
dem Sozialamt mitgeteilt, daß eine Krankenhausbehandlung nicht
notwendig sei.
Bargeld
statt Gutscheine
CDU/FDP in Salzgitter wollen „Deutschfeindliche Machenschaften" unterbinden
Kai Weber
schaften" zu übersetzen imstande
ist.
Zusatz der Red.:
L e tz te Wo c h e h a t a u c h d e r L a n d k re i s G ö tti n g e n d i e B a rg e l d z a h l u n g g a n z u n s p e k ta k u l ä r e i n g e fü h rt. G e g e n d i e i d e o l o g i s c h e n
H a rd l i n e r i n d e r K re i s v e rw a l tu n g ,
- d e r S o z i a l d e z e rn e n t h ä l t d i e B a r z a h l u n g i m m e r n o c h f ü r re c h ts w i d ri g -, h a t d i e B e z i rk s re g i e ru n g
Braunschweig einfach die vom
K re i sta g a b g e sti m m te H a u sh a l t seinsparung genehmigt.
von Gabriele Thiel, Braunschweig
Inzwischen sind 4 Monate seit
dem ersten Antrag verstrichen.
Frau G. sieht sehr krank aus. Ich
habe Angst um ihr Leben und
mache das wiederholt dem Sozialarbeiter in der Krankenhilfe
deutlich. Plötzlich Ende März gibt
es endlich grünes Licht. Frau G.
darf im Städtischen Krankenhaus
aufgenommen werden. Nach gut
einer Woche ist eine schwere
Darmerkrankungen diagnostiziert
(Zöliakic). Frau G. erhält eine spezielle glutenfreie Kost. Nach weiteren 14 Tagen ist sie nahezu beschwerdefrei. Bei gutem Krankheitsvorlauf werden die schweren
Mangelzustände in etwa einem
Jahr beseitigt sein und Frau G.
kann evtl. in ihre Heimat zurückkehren.
Fazit: Das jetzt gültige Asylbewerbeleistungsgesetz wird Flüchtlingen mit chronischen und doch
schwerwiegenden Erkrankungen
nicht gerecht.
73
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
Verschärftes
AsylbewerberLeistungsgesetz
Schlimmste Entgleisung im Europäischen
Jahr gegen Rassismus
PRO ASYL1
Das Ergebnis der
Absprachen zwischen Regierungsparteien
und SPD sei ein
„Parteienkonsens gegen
Flüchtlinge",der
den Geruch der
Apartheid verbreite.
Als „ bislang schlimmste Entgleisung im Europäischen Jahr gegen
Rassismus" hat PRO ASYL-Sprecher Heiko Kauffmann die von
Bundestag und Bundesrat mit
Mehrheit verabschiedete Novelle
zum Asylbewerberleistungsgesetz
bezeichnet, die am 1. Juni 1997
in Kraft tritt. Nunmehr erhalten
Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge
und geduldete Ausländer/innen
ab 1. Juni drei Jahre lang (bisher:
1 Jahr) nur noch drastisch
gekürzte Sozialleistungen. Damit
werden mehr Flüchtlinge auf
noch längere Zeit aus der existentiellen Grundsicherung ausgegrenzt.
Noch härter geht PRO ASYL mit
der in letzter Minute zwischen
Regierungsparteien und SPD verabredeten Ausdehnung der Neuregelung auf alle in Deutschland
lebenden Asylsuchenden und die
bereits länger im Lande lebenden
Flüchtlinge, Bürgerkriegsflüchtlinge und geduldeten Ausländer/innen ins Gericht. Bis zum 1. Juni
2000 gewähre der Gesetzgeber
mehreren hunderttausend Betroffenen gerade noch das blanke
physische Existenzminimum - in
der Praxis werde auch dieses
wohl häufig noch unterschritten
werden.
Kauffmann: „Die Einführung eines dauerhaft geringeren Existenzminimums für eine ganz bestimmte Gruppe hier lebender
Menschen ist staatlich organisierter Rassismus. Auch wenn das
Gesetz mit den Mitteln der
Rechtsstaatlichkeit auf den Weg
gebracht wurde, muß es als rassistisch geprägtes Sondergesetz
bezeichnet werden."
Das Ergebnis der Absprachen
zwischen Regierungsparteien und
SPD sei ein „Parteienkonsens gegen Flüchtlinge", der den verfassungsrechtlichen Vorgaben und
dem Menschenwürde-Gebot des
Grundgesetzes nicht genüge und
den Geruch der Apartheid verbreite. Die SPD-Ländervertreter
im Bundesrat seien ihren eigenen
Kolleginnen und Kollegen aus der
Bundestagsfraktion in den
Rücken gefallen, die in parlamentarischen Debatten immer wieder
darauf hingewiesen hätten, daß
eine langfristige Unterschreitung
des Sozialhilfeniveaus nicht vertretbar sei und die SPD dem sogenannten „Asylkompromiß" von
1992 nur in diesem Bewußtsein
habe zustimmen können.
Gutscheine
sind Schlechtscheine
Karl-Heinz Welder (AK Asyl Northeim) 2
E
s gibt ... nicht wenige Deutsche, vielleicht die „Lichterkettenmenschen" nach Brandanschlägen, die es nicht hinnehmen
wollen, daß durch Gutscheine eine Art von Apartheid (Zweiklassengesellschaft) an der Registrierkasse im Supermarkt entsteht.
Menschen mit „Cash", von reichlich bis sehr knapp bemessen einerseits und Menschen mit Gutscheinen, die sich beim Bezahlen
ausgegrenzt und erniedrigt
fühlen!
Spätestens in diesem Augenblick
werden Gutscheine zu Schlechtscheinen: Gutscheine haben keinen Wert in Bosnien, Vietnam
oder sonstwo. Ein hier angesparter 20-oder 50-Mark-Betrag
konnte bis Mai 1997 durch Überweisung die teils unvorstellbare
Not von Familienangehörigen im
Heimatland lindern helfen. Wir
sind zwar nicht das „Sozialamt
1Presseerklärung vom 31. Mai 1997
2Gast-Kommentar im TIP 11.06.97
74
der Welt", aber wenn sichFlüchtlinge bei uns etwas vom Munde
absparen und kleine Beträge
nach hause schicken, dann sollten wir das bewundern und als
vorbildhaft empfinden.
Das Gutscheinsystem soll angeblich auch abschreckende Wirkung
auf Flüchtlinge jenseits unserer
Grenzen ausüben, weil die Ertrunkenen in der Oder und Neiße
oder zum Beispiel die Selbstmorde und überlangen Haftzeiten in
Abschiebeknästen nicht abschreckend genug sind. Es kostet
Geld, erhöht also die Ausgaben
für den betroffenen Personenkreis. Es wird nun auch mehr labile Gutscheinmenschen geben,
die ihren zu knappen Bargeldrestbetrag durch Diebstahl vergrößern werden.
Nach der faktischen Abschaffung
des Asylrechts (siehe Drittstaatenregelung) ist auch die Rechtsweggarantie im Rechtsstaat
Deutschland für Gutscheinflüchtlinge auf kaltem Wege abgeschafft, denn mit 80 Mark monatlich können keine Anwaltsko-
sten bis zu 1.300 Mark in der ersten Instanz bezahlt werden!
Für mich sind Gutscheine also
Schlechtscheine, weil die Nachteile gegenüber Bargeldleistungen
überwiegen. Übrigens: beim gelben 10-Mark-Gutschein läßt sich
mit schnellem Scherenschnitt der
Rand sternförmig umfalten. Dieser Schein müßte dann zwar
nicht wie anno 1937 wie der Judenstern ans Jackett geheftet
werden, aber wie kann mir 1997
nur dieser Vergleich mit dem unglaublichen Judenstern kommen?
Neulich sprach er mich an, der
abgelehnte und in einer Notunterkunft völlig isoliert lebende
Ausländer: Könnten Sie mir bitte
für 100 Mark in Gutscheinen 100
Mark Bargeld eintauschen?
„Warum?", war meine erste Reaktion. Er erklärte mir, daß er seinen Bruder in Düsseldorf besuchen möchte, die Bahn keine
Gutscheine akzeptiere, und
außerdem müsse er noch monatlich 60 Mark seinem Anwalt bezahlen. - Was hätten Sie gemacht?
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
O
ffenbar um Flüchtlingen und
Asylbewerbern ihren Aufenthalt in Deutschland so schwer
wie möglich zu gestalten, ist zum
1. Juni das Asylbewerberleistungsgesetz geändert worden.
Das vermutet jedenfalls Einbecks
stellvertretende Verwaltungschefin Ursula Belker.
Sie findet das Gesetz „geschmacklos". Asylbewerber und
geduldete Flüchtlinge erhalten
nicht nur um 20 Prozent gekürzte Leistungen - ihnen wird auch
kein Bargeld mehr ausgezahlt: Sie
erhalten Wertgutscheine.
Für Ursula Belker ist die Gesetzänderung nicht nur in verwaltungstechnischer Hinsicht ein rotes Tuch: „Das ist auch aus sozialen Gründen nicht vertretbar."
Der Arbeitskreis Asyl Northeim
hält die Gutscheine für eine „diskriminierende Maßnahme".
Darüber ist er auch empört:
„Durch die Ausgabe von Gutscheinen können keine Gelder
eingespart werden, wenn der
Wert der Gutscheine zuzüglich
dem ausgezahlten Taschengeld
der bislang ausgezahlten Bargeldsumme entspricht", so KarlHeinz Welder vom Arbeitskreis.
Das Gutscheinsystem solle hauptsächlich abschreckende Wirkung
auf Flüchtlinge jenseits der deutschen Grenzen ausüben, weil die
Ertrunkenen in der Oder und Neiße oder zum Beispiel die Selbstmorde und überlangen Haftzeiten in Abschiebeknästen nicht
abschreckend genug seien.
Welder:
„Das nun erweiterte Gutscheinsystem kostet Geld und erhöht die
Ausgaben für den betroffenen
Personenkreis. Es ist Wasser auf
die Mühlen der Ausländerfeinde."
Es werde auch labile GutscheinFlüchtlinge geben, die ihren zu
knappen Bargeld-Restbetrag
durch Diebstahl vergrößern werden.
Das Gutscheinsystem polarisiere
unter vielen Deutschen menschliches Verhalten, denn es gebe andererseits genug Deutsche, die
„peinliche und diskriminierende
Szenen mit Ausländern an der
Supermarktkasse nicht hinnehmen werden".
Die Kassiererinnen in den Geschäften würden zusätzlich Streß
ausgesetzt werden, denn die
meisten ausländischen Gutscheinkunden würden von einigen oder
nicht informierten Bargeldkunden
als „Störfall" angesehen werden.
„Die Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland werden erneut ein Stück weiter ausgegrenzt", meinte zur neuen Regelung Petra Datta, Flüchtlingsbeauftragte beim Paritätischen Sozialzentrum in Northeim.
„Gesellschaftliche, wirtschaftliche
und soziale Probleme lassen sich
aber durch ein Zwei-Klassen-System nicht lösen."
Eher als Konsequenz zu erwarten
sei nach Dattas Meinung ein Anwachsen von Schwarzarbeit,
Kleinkriminalität und Entsolidarisierung. „Oder andersherum vorgestellt: Was würde wohl passieren, wenn Besitzer von Läden
und Ladenkette zusammenkämen
und befänden, daß sie zwar gern
mit den Flüchtlingen Geschäfte
machten, aber daß ihnen die
ganze Gutscheingeschichte doch
zu aufwendig würde, arg diskriminierend obendrein, und sie da
einfach nicht mehr machen wollten ?"
Die Flüchtlingsbeauftragte:
"Wie wäre es, wenn (bis zu jenem
denkwürdigen Tag) sich Verkäufer
und Kassierer gegenüber den
Wertscheinleuten beim Scheineberechnen und beim „nicht mehr
als 10% Bargeld zurückgeben
dürfen" freundlich und geduldig
verhielten, wenn die anderen
Kunden in der Schlange ebenso
freundlich und gelassen warteten, mit ihrem Frust dagegen gelegentlich zu Politikern ihres
Wahlkreises gingen?"
Datta schlägt vor: „Wie wäre es,
wenn Nachbarn und Bekannte
den Wertscheinleuten ihre Unterstützung auf mancherlei Art anböten: Mal ein Mitnehmen im
Auto, Fahrtkosten sparend, mal
ein gemeinsames Einkaufen ?"
Flüchtlingsbetreuer Thomas Freitag (Einbeck) sieht noch mehr
Frust und Resignation bei den
Empfängern der Gutscheine aufkommen: „Das ist nicht fair und
erschwert auch unsere Arbeit.
“Wasser auf die
Mühlen der
Ausländerfeinde”
Kritik über Gutscheinsystem
für Flüchtlinge und Asylbewerber
Bericht über AK Asyl Northeim*
Wir versuchen ja schon, zu vermitteln."
Hinzu kämen Einschränkungen
bei der Krankenhilfe, Wegfall der
Bekleidungspauschale. Viele
wohnten nicht mehr in Heimen,
sondern in Mietwohnungen.
Aber nehmen etwa Telekom und
Stadtwerke Gutscheine an ? Freitag wundert sich deshalb nicht,
daß versucht werde, die Gutscheine auch zu Bargeld zu machen. „Die Leute haben ja nur 80
Mark Taschengeld in der Tasche."
Für den Flüchtlingsbetreuer klingt
es deshalb zynisch, wenn Bayern
Innenminister sagt: „Das ist eine
unterstützende Maßnahme zur
freiwilligen Rückkehr..."
Anmerkung der Red.:
Da s n e u e A sy l b e w e rb e rl e i stu n g s g e s e tz i s t z w a r m a te ri e l l b ru ta l
v e rsc h ä rft, a b e r d i e E n tsc h e i d u n g
ü b e r “ G u tsc h e i n e ” o d e r B a rg e l d z a h l u n g i st fü r di e K o mmu n e n
e i n fa c h e r a l s b i s h e r g e w o rd e n ,
d a k e i n e b e so n d e re B e g rü n d u n g
m e h r n o tw e n d i g i s t. D i e B e z i rk s re g i e ru n g e n ts c h e i d e t l t. m ü n d l i c h e r A u sk u n ft a l s K o m m u n a l a u f s i c h t n u r n a c h w i rts c h a ftl i c h e n
G e s i c h tp u n k te n . E s g e n ü g t a l s o
a l s B e g rü n d u n g b e re i ts d i e d a m i t
e rz i e l te H a u s h a l ts e i n s p a ru n g .
K e i n e K o m m u n a l v e rw a l tu n g u n d
k e i n R a t o d e r K re i s ta g k a n n s i c h
m e h r u n te r H i n w e i s a u f e i n e a n gebliche Rechtslage die “Gut scheine” leisten.
E s l i e g t n u r b e i i h n e n s e l b s t.
* im TIP vom 11.06.1997
75
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
AsylbLG-Novelle
Bundesweiter Leitfaden
Georg Classen*
Zum 1. 6. 1997 ist die AsylbLGNovelle in Kraft getreten. Sie beinhaltet drei Jahre Leistungskürzungen für alle Ausländer mit
Duldung, für alle Asylbewerber,
sowie für „Kriegsflüchtlinge mit
Aufenthaltsbefugnis nach § 32
oder 32a AuslG". Der mit Hilfe
der SPD-Länder gefundene
„Kompromiß" geht noch über
den ursprünglichen Seehofer-Entwurf vom Oktober 1995 hinaus,
da er auch Kriegsflüchtlinge mit
Aufenthaltsbefugnis und mit Duldung einbezieht und ohne Rücksicht auf die bisherige Aufenthaltsdauer die nächsten drei Jahre für alle Leistungsberechtigten
gilt. Im Bundesrat dagegen gestimmt haben nur die vier rotgrün regierten Länder. Der Gesetzgeber liefert keine Begründung für diese im ursprünglichen
Gesetzesentwurf nicht vorgesehene, ohne Unterschied alle hier lebende Leistungsberechtigten für
die nächsten drei Jahre treffende
Kürzung, denn die zugrunde liegenden Verhandlungsprotokolle
des Vermittlungsausschusses werden geheimgehalten.
Völlig unabhängig von der bisherigen Aufenthaltsdauer sind für
die gekürzten Leistungen drei
Jahre Bezugsdauer - gerechnet
ab Inkrafttreten am 1. 6. 1997 vorgesehen, so daß frühestens
zum 1.6.2000 überhaupt wieder
Leistungen nach § 2 AsylbLG gewährt werden können. Bei Leistungsbeginn (z.B. durch Einreise) nach dem 1.6 1997 bzw. zwischenzeitlicher Unterbrechung
des Leistungsbezugs gilt die Kürzung entsprechend länger.
Das Sachleistungsprinzip nach §
3 AsylbLG ist deutlich gelockert
*Georg Classen ist der Spezialist für das AsylbLG. Der
Flüchtlingsrat hat mit ihm zusammen das Sonderheft zum
Ausländer-Leistungsgesetz herausgegeben
76
worden, um den Ländern bzw.
Kreisen und Kommunen künftig
den politischen und rechtlichen
Spielraum zu geben, sich anstelle
von Sachleistungen für die Gewährung gekürzter Geldleistungen zu entscheiden, ohne dabei
jedoch - von Ausnahmefällen abgesehen - den Leistungsberechtigten einen Rechtsanspruch auf
Geldleistungen zuzugestehen.
Die verwaltungsmäßig kostengünstigere und weniger diskriminierende Geldleistungsgewährung wäre daher künftig vor allem auf politischen Wege einzufordern.
Einen für die Argumentation ggf.
hilfreichen Überblick über die bisherige Praxis der Länder bei der
Gewährung von Geld- bzw. Sachleistungen nach §§ 2 und 3 AsylbLG liefert eine Untersuchung
der „Wissenschaftliche Dienste
des dt. Bundestages" vom Februar 1997: Hetzel, S. Ausarbeitung
„Asylbewerbeleistungsgesetz",
Reg. -Nr. WF III - 219/96, Tel.
0228-16-22325.Erhältlich auch
bei der ZDWF.
Die Frage der Leistungsberechtigten von Kriegsflüchtlingen mit
Aufenthaltsbefugnis hat bei den
Sozialämtern zu großer Verunsicherung geführt. Im Ergebnis ist
aber festzustellen, daß jedenfalls
derzeit nur Bosnier ggf. unter das
AsylbLG fallen können. Niedersachsen hat dies bereits im Erlaß
zur AsylbLG-Novelle entspre-
chend geregelt. In Berlin ist ein
entsprechendes Rundschreiben
an die Sozialämter in Vorbereitung, aus den anderen Ländern
liegen mir noch keine Informationen vor. Zu dieser Frage habe ich
eine ausführliche Stellungnahme
beigefügt.
Ich habe vor, im Herbst eine Neuauflage des Leitfadens zum AsylbLG „Menschenwürde mit Rabatt" für PROASYL zu erarbeiten grundsätzlich nach dem selben
Konzept wie die erste Auflage,
aber mit völlig neu bearbeitetem
Inhalt, wozu auch ein ausführlicher Dokumentationsteil gehören
soll. Ich möchte daher schon
jetzt bitten um Zusendung von
dazu hilfreichen Materialien wie
- Ländererlassen zur AsylbLG-Novelle
- Dokumentationen über Sozialamtspraktiken und über Widerstandsaktionen
- Presseberichte (da ggf. Druckvorlagen, möglichst Originale bzw. hochwertige Kopien
Ich möchte darum bitten, diese
Information in Ihrem Bundesland
bzw. an die Mitgliedsorganisationen weiterzugeben.
Herzliche Grüße!
Georg Classen
Red.: Das ist hiermit geschehen.
Wir bitten die LeserInnen des
“Flüchtlingsrat”-Rundbrief, diese
Beiträge auch an den Flüchtlingsrat zu geben.
Ausgemachte Schweinerei
unter nds. Federführung*
„Die künftige Regelung ist eine
ausgemachte Schweinerei unter
nds. Federführung*", kritisiert
Heidi Lippmann-Kasten, migrationspolitische Sprecherin der Grünen, die Gesetzesänderung.
„Über die Asylbewerber hinaus
werden jetzt alle Nichtdeutschen,
die nur einen befristeten Aufenthaltsstatus haben, in ihrer wirtschaftlichen Existenz nachhaltig
bedroht." Lippmann-Kasten befürchtet, daß die Ausweitung der
Sozialleistungskürzung unterhalb
dessen, was bisher als Existenzminimum angesehen wurde,
mittelfristig auf weitere Personen-
gruppen wie SozialhilfeempfängerInnen und Behinderte ausgedehnt wird: „Heute trifft es ‘Ausländer’, morgen alle Sozialhilfempfänger und Behinderte."
*Im Ursprungsentswurf zur Gesetzesänderung vom Herbst 1995
hatte die Bundesregierung eine
Ausweitung des Leistungszeitraums auf zwei Jahre vorgesehen, Bürgerkriegsflüchtlinge waren ausdrücklich ausgenommen.
Auf Antrag von Niedersachsen
waren letztere aufgenommen
worden. (...)
*aus der Pressemitteilung der Grünen
im nds. Landtag vom 22. Mai 1997
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
E
rstes Gesetzes zur Änderung
des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG)
Durchführung
des AsylbLG
Bezug: RdErl. v. 14.08.1995
Der Bundesrat hat am 25.04.
1997 dem vom Deutschen Bundestag durch Beschlüsse vom
08.02.1996 und 24.04.1997 verabschiedeten Ersten Gesetz zur
Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes zugestimmt. Dieses Gesetz tritt bereits zum 01.
Juni 1997 in Kraft.
Das Gesetz wird nach Auskunft
des BMG am 30.05.1997 im
BGB. 1 5. 1130 verkündet. Der
Gesetzestext ist Ihnen von hier
unmittelbar nach Bekanntwerden
in Form einer Synopse mit dem
derzeit noch geltenden Recht zugänglich gemacht worden.
Für die Durchführung auch des
geänderten Gesetzes im Lande
Niedersachsen ist bis auf weiteres
der Bezugserlaß maßgeblich, soweit neugefaßte Bestimmungen
dem nicht entgegenstehen. Zu
gegebener Zeit wird der Bezugserlaß unter Berücksichtigung der
zwischenzeitlich bei der Anwendung des geänderten Gesetzes
gewonnenen Erkenntnisse an die
neue Rechtslage angepaßt.
Das Gesetz enthält im wesentlichen folgende Neuregelungen,
um deren Beachtung ich schon
jetzt bitte:
1. Zu §1:
Der Personenkreis der Leistungsberechtigten wurde gegenüber
der bisherigen Fassung konkretisiert und erweitert.
a)In den Kreis der Leistungsberechtigten sind nach § 1 Abs. 1
Nr.3 nunmehr auch Personen einbezogen, die wegen des Krieges
in ihrem Heimatland eine Aufenthaltsbefugnis nach den §§ 32
oder 32 a AuslG besitzen. Damit
falten die in Niedersachsen aufhältigen bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge, die noch im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach §
32 AusIG sind, ab 01.06.1997
nicht mehr unter den Anwendungsbereich des BSHG. Sie erhalten künftig Leistungen nach
dem AsylbLG.
b)Nach § 1 Abs. 1 Nr.4 falten unter den Anwendungsbereich des
AsylbLG auch die Ausländerinnen
und Ausländer, die eine Duldung
nach § 55 AusIG besitzen. Hierzu
gehören Bürgerkriegsflüchtlinge,
die nicht im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis sind. Für ihre Ieistungsrechtliche Zuordnung
kommt es auf die Möglichkeit
und Zumutbarkeit der freiwilligen
Ausreise nicht mehr an.
c)Zu den Personen i.S. des § 1
Abs. 1 Nr.5 zählen sowohl Ausländerinnen und Ausländer, die
keinen Asylantrag gestellt haben
und denen keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt worden ist, so
daß sie vollziehbar zur Ausreise
verpflichtet sind, als auch solche,
die nach Ablehnung des Asylantrages noch nicht ausgereist oder
abgeschoben sind.
2. Zu §2:
Nach der Neufassung des § 2
Abs. 1 wird das BSHG auf Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG nunmehr frühestens erst
nach dreijährigem Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG entsprechend angewendet. Die 36-Monatsfrist beginnt frühestens am
01.06.1997 zu laufen. Da das
Gesetz keine Übergangsregelung
enthält, werden bisherige Leistungszeiten nicht angerechnet
AsylbewerberLeistungsgesetz
Durchführungserlaß
Niedersächsisches Innenministerium*
Auch Leistungsberechtigte, denen bisher gemäß § 2 bereits Leistungen entsprechend dem BSHG
gewährt worden sind, erhalten
ab 01.06.1997 für 36 Monate
nur noch Leistungen nach den §§
3 ff. Die Voraussetzungen für eine leistungsrechtliche Besserstellung nach § 2 Abs. 1 liegen somit frühestens zum 01.06.2000
vor.
Im Ergebnis erhalten alle Leistungsberechtigten nach dem
AsylbLG damit ab 01.06.1997 für
36 Monate nur noch Leistungen
nach den §§ 3 ff.
Erst danach ist zu prüfen, ob ihre
Ausreise nicht erfolgen kann und
aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche
oder persönliche Gründe oder
das öffentliche Interesse entgegenstehen.
3. Zu § 3:
a)Nach § 3 Abs. 1 Satz 5 erhalten
in Abschiebungshaft genommene
Personen künftig ein Taschengeld
in Höhe von 70 v.H. des Geldbetrages nach § 3 Abs. 1 Satz 4, also 56 DM. Diese Regelung ist auf
in Untersuchungshaft befindliche
*Erlaß des Niedersächsischen Innenministerium vom
28.05.1997 an die Bezirksregierungen mit Nebenabdruck an
Landkreise, kreisfreie Städte und ZASten
77
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden.
b)Bei der Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen
i.S. des § 44 AsylVfG sieht § 3
Abs. 2 wie bisher den Vorrang
von Sachleistungen vor.
Allerdings können künftig unter
erleichterten Voraussetzungen
Leistungen in Form von
- Wertgutscheinen
- anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder
- Geldleistungen
gewährt werden. War dies bisher
nur dann zulässig, „soweit es
nach den Umständen der Unterbringung oder der örtlichen Gegebenheiten erforderlich ist",
genügt es künftig, daß „es nach
den Umständen erforderlich ist".
Zudem ist die bisherige weitere
Rangfolge (Geldleistungen nur
dann, „wenn besondere Umstände der Aushändigung von Wertgutscheinen oder anderen unbaren Abrechnungen entgegenstehen") entfallen.
Soweit entsprechende Umstände
tatsächlich vorliegen und von der
Bezirksregierung anerkannt sind,
kann die zuständige Behörde anstelle von Sachleistungen den Bedarf durch geldwerte Leistungen
(Wertgutscheine oder andere vergleichbare unbare Abrechnungen, wie etwa Kundenkonten, blätter) oder Barleistungen
decken.
Die Ausgabe von Wertgutscheinen bietet unter Berücksichtigung
sowohl der unveränderten Zielsetzung des Gesetzes als auch
der Wahrung der Selbständigkeit
und Eigenverantwortlichkeit der
Leistungsberechtigten sowie unter Kostengesichtspunkten eine
vernünftige und auch zumutbare
Lösung. Diese in weiten Bereichen des Landes bereits eingeführte und in der Praxis bewährte
Leistungsform sollte - auch wegen ihrer Nähe zu den vorrangigen reinen Sachleistungen - beibehalten werden.
4. Zu § 4:
Bisher richtete sich die Vergütung
der niedergelassenen Ärzte und
Zahnärzte nach der Vergütung,
die die örtliche Ortskrankenkasse
78
für solche Leistungen bezahlt.
Durch die
Neuregelung des § 4 Abs. 3 Satz
2 und 3 wird der Leistungsbehörde nunmehr ermöglicht, eine regionale und für sie günstigere
Vereinbarung auszuwählen.
5. Zu § 6:
Nach bisher geltendem Recht
(„dürfen nur") war die Gewährung sonstiger Leistungen
nur in bestimmten, eng begrenzten Fällen vorgesehen. Die jetzt
gewählte Fassung des Gesetzestextes gibt den Leistungsbehörden ein größeres Ermessen.
Hierdurch ist es im Einzelfall
möglich, Härtefällen gerecht zu
werden, die wegen des Fehlens
einer Übergangsregelung in § 2
entstehen können. Dies dürfte
beispielsweise für Fälle gelten, in
denen bei Inkrafttreten des Gesetzes eine vor diesem Zeitpunkt
begonnene ärztliche oder
zahnärztliche Behandlung noch
nicht abgeschlossen ist, für die
nach dem bisherigen Recht in unmittelbarer oder entsprechender
Anwendung des BSHG Krankenhilfe gewährt worden ist. In diesen Fällen kann die Behandlung,
auch wenn sie über die Akutversorgung 1.5. des § 4 hinausgeht,
auf der Grundlage des § 6 auch
nach dem 01.06.1997 fortgeführt werden, solange und soweit dies im Einzelfall zur Sicherstellung des Behandlungserfolges
unerläßlich ist. Auf den RdErl.
vom 05.12.1996 - 41.3 - 12235
- 8.4.2.1 - weise ich ergänzend
hin.
6. Zu§7:
Nach der Neufassung des § 7
Abs. 1 können die Länder für die
Kosten der Unterkunft und Heizung Pauschalbeträge festsetzen
oder die zuständige Behörde dazu ermächtigen. Vorbehaltlich
näherer Regelung bleibt es
zunächst bei den bisherigen Beträgen von 300 DM für den
Haushaltsvorstand und 150 DM
für Haushaltsangehörige.
Nach § 7 Abs. 3 kann der AsylbLG-Leistungsträger Ansprüche
der Leistungsberechtigten gegen
Dritte, die nicht Leistungsträger
.5. des SGB 1 sind, entsprechend
§ 90 BSHG auf sich überleiten.
Entsprechend anwendbar sind
nach § 7 Abs. 4 auch die Vorschriften des SGB I über die Mitwirkung der Leistungsberechtigten und des SGB X über die Auskunftspflicht von Angehörigen,
Unterhaltspflichtigen oder sonstigen Personen.
7. Zu § 8:
§ 8 Abs. 1 Satz 1 regelt den
Nachrang der Leistungen nach
dem AsyIbLG gegenüber anderen
Leistungen. Diese können Leistungen, zu denen Dritte, insbesondere nach § 84 Abs. 1 Satz 1
AuslG verpflichtet sind, sowie
sonstige Sozialleistungen sein.
Leistungen nach dem AsylbLG
werden nicht gewährt, soweit
der Lebensunterhalt anderweitig
gedeckt wird.
Vorsorglich weise ich darauf hin,
daß Leistungen erst dann versagt
werden können, wenn die aus einer Haftungserklärung nach § 84
AuslG verpflichtete Person die Kosten des Lebensunterhalts
tatsächlich trägt. Anderenfalls
sind Leistungen zu gewähren
und die aufgewendeten Mittel
nach § 84 AuslG zur Erstattung
geltend zu machen.
Eine landesrechtliche Regelung
i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 besteht
nur hinsichtlich der Kostenerstattung für Bürgerkriegsflüchtlinge
aus Bosnien und Herzegowina.
Auf den RdErl. vom 10.02.1997 41.11 - 12235 - 4.0.1 - (VORIS
27100 01 00 34 005) weise ich
hin.
§ 8 Abs. 2 sieht die Möglichkeit
eines monatlichen Zuschusses an
Personen vor, die eine Verpflichtung nach § 84 Abs. 1 Satz 1
AusIG gegenüber einer in § 1
Abs. 1 genannten Person sechs
Monate oder länger erfüllt haben. Voraussetzung ist, daß
außergewöhnliche Umstände in
der Person der oder des Verpflichteten den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Der Zuschuß ist der Höhe nach auf das
Doppelte des Betrages nach § 3
Abs. 1 Satz 4 (d.h. 80 bzw. 160
DM) begrenzt.
8. Zu § 9:
Nach § 9 Abs. 3 sind nunmehr
auch die §§ 44 bis 50 SGB X
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
(Rücknahme, Widerruf und Aufhebung von Verwaltungsakten,
Erstattung zu Unrecht erbrachter
Leistungen) entsprechend anzuwenden.
Ebenfalls entsprechend anzuwenden sind nach § 9 Abs. 4 der §
117 BSHG und die auf Grund
dieser Vorschrift erlassenen
Rechtsverordnungen (BMG verfolgt das Ziel die Verordnungen
zum 01.01.1998 in Kraft zu setzen).
In diesem Zusammenhang weise
ich auf die Änderung des Art. II §
1 Nr.15 SGB 1 durch Art. 2 Nr.2
des Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.07.1996
(BGBI. 1 5. 1088) hin. Danach ist
der Regelungsgehalt des § 9 Abs.
4 in das SGB einbezogen. Es
kann somit nicht geltend gemacht werden, die entsprechende Anwendung einer BSHG-Vorschrift durch ein nicht zum SGB
zählendes Gesetz sei keine hinreichende Grundlage für die Nutzung und Übermittlung von Sozialdaten.
9. Zu § 10a:
Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit ist in ihrem Kern § 97
BSHG unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse und
des betroffenen Personenkreises
des AsylbLG nachgebildet.
§ 10a Abs. 1 regelt die allgemeine Zuständigkeit für Leistungen
außerhalb von Einrichtungen i.S.
des Abs. 2. Danach ist die Behörde örtlich zuständig, in deren Bereich die oder der Leistungsberechtigte vom Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge verteilt oder von der
zuständigen Landesbehörde zugewiesen worden ist. In den übrigen Fällen ist die Behörde zuständig, in deren Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich
aufhalten.
Nach Abs. 2 ist für Leistungen in
Einrichtungen, die der Krankenbehandlung oder anderen Maßnahmen dienen, die Behörde örtlich zuständig, in deren Bereich
die oder der Leistungsberechtigte
den gewöhnlichen Aufenthalt im
Zeitpunkt der Aufnahme hat oder
in den letzten zwei Monaten vor
der Aufnahme zuletzt gehabt
hat. Nach Satz 3 ist die Behörde,
in deren Bereich sich die oder der
Leistungsberechtigte tatsächlich
aufhält (Absatz 1 Satz 2), dann
zum unverzüglichen vorläufigen
Eintreten verpflichtet, wenn
- ein Eilfall vorliegt und die an
sich zuständige Behörde nicht sofort leistet oder leisten kann oder
- nicht spätestens innerhalb von
vier Wochen feststeht, ob und
wo der gewöhnliche Aufenthalt
der oder des Leistungsberechtigten begründet worden ist.
Der in Absatz 2 verwendete Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in Absatz 3 definiert,
dessen Rechtswirkung sich auf
die Durchführung des AsylbLG
beschränkt.
10. Zu § 10b:
Die Vorschrift über die Kostenerstattung zwischen den zuständigen Behörden ist den Regelungen der §§ 103 und 107 BSHG
nachgebildet.
Unter Zugrundelegung der Vorschrift des § 10a über die örtliche
Zuständigkeit sieht § 10b eine
Kostenerstattung in folgenden
Fällen vor:
-Zuständigkeit der Behörde bei
Leistungen in Einrichtungen im
Sinne des § 10a Abs. 2 Satz 1 in
Eilfällen oder in Fällen, in denen
der gewöhnliche Aufenthalt nicht
innerhalb von vier Wochen zu ermitteln ist; Kostenerstattungspflichtig ist die Behörde, in deren
Bereich der letzte maßgebende
gewöhnliche Aufenthalt der oder
des Leistungsberechtigten lag
(Absatz 1);
-Zuständigkeit der Behörde bei
Austritt aus einer Einrichtung:
Der eingeschränkte Kostenerstattungsanspruch richtet sich gegen
die Behörde, in deren Bereich der
gewöhnliche Aufenthalt der oder
des Leistungsberechtigten bei
Aufnahme in die Einrichtung
oder bis zu zwei Monaten vor
der Aufnahme lag (Absatz 2);
Zuständigkeit einer Behörde, in
deren Bereich eine Leistungsberechtigte oder ein Leistungsberechtigter innerhalb eines Monats
nach einem umzugsbedingten
Aufenthaltswechsel Leistungen
außerhalb einer Einrichtung bedarf; Die Kostenerstattungspflicht
richtet sich gegen die für den Ort
des bisherigen gewöhnlichen
Aufenthalts zuständige Behörde
(Absatz 3); sie endet spätestens
nach Ablauf eines Jahres seit dem
Aufenthaltswechsel.
Ergänzende Hinweise zur Rückforderung überzahlter Leistungen
und Erstattung notwendiger Kosten nach dem Aufnahmegesetz:
Soweit eine termingerechte Leistungsumstellung zum
01.06.1997 nicht möglich ist und
deswegen weiterhin die höheren
(BSHG-) Leistungen gezahlt werden, sind diese Leistungen unter
Beachtung des § 48 Abs. 1 Nr.4
SGB X zurückzufordern. Diese
höheren Leistungen sind keine
notwendigen Kosten i.S. des Aufnahmegesetzes und somit nicht
erstattungsfähig.
Im Hinblick auf das neue Aufnahmegesetz, das am 01.07.1997 in
Kraft tritt, weise ich darauf hin,
daß eine Verrechnung mit den
Ausgaben des 3. Quartals nicht
mehr wie bei der Spitzabrechnung in der bisherigen Form erfolgen kann. Ab 01.07.1997
werden den Kommunen nicht
mehr die tatsächlich geleisteten
Ausgaben erstattet, sondern die
durch die Aufnahme entstehenden Kosten pauschal abgegolten.
Für die Pauschalierung werden
die AZR-Daten als Berechnungsfaktor für den vierteljährlichen Erstattungsbetrag herangezogen.
Überzahlungen und Nachzahlungen, die den Geltungszeitraum
des bisherigen Aufnahmegesetzes bis 30.06.1997 betreffen,
müssen deshalb gesondert nachgewiesen und abgerechnet werden.
Im Auftrage ...
Anmerkung der Red.:
Auf Veranlassung des Nds.Innenministeriums waren alle Kommunen bereits vorab in einer Eilaktion veranlaßt worden, den gesamten Kreis der von der Verschärfung betroffenen Flüchtlinge
vorsorglich anzuschreiben, um
Rückforderungen von ev. noch
nicht ausreichend gekürzten Leistungen möglich zu machen.
79
SOZIALE DISKRIMINIERUNG
Arbeitsverbot
für Flüchtlinge
“...nicht mehr zu verkraften.”
Die Arbeitserlaubnis
ist daher grundsätzlich abzulehnen.
Bundesanstalt für Arbeit*
A
rbeitserlaubnisverfahren: Erteilung der Arbeitserlaubnisse
an neueinreisende ausländische
Flüchtlinge
Das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung (BMA) hat
mir mit Schreiben vom 30.05.
1997 folgendes mitgeteilt:
„Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Albanien haben eine Massenflucht bewirkt.
Eine Stabilisierung der Lage
zeichnet sich nicht ab. Nach allen
Erfahrungen der letzten Jahre
muß befürchtet werden, daß ein
nicht unerheblicher Teil dieser
Bürgerkriegsflüchtlinge nach
Deutschland zu gelangen versucht.
Die viel zu hohe Arbeitslosigkeit
in Deutschland macht es unerläßlich, die vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten solchen Arbeitnehmern zur Verfügung zu
stellen, die bereits dem inländischen Arbeitsmarkt angehören,
oder aber - wie Arbeitnehmer aus
den EU-Staaten - ein gesichertes
Zugangsrecht haben. Darüber
hinausgehende Zugänge von
Ausländern - insbesondere solche, deren Aufenthalt rechtlich
nicht auf Dauer angelegt ist sind dagegen nicht mehr zu verkraften.
Bei der Entscheidung über die Arbeitserlaubnis für die albanischen
Bürgerkriegsflüchtlinge halte ich
es angesichts der extrem hohen
Arbeitslosigkeit deshalb für ver-
tretbar, ohne Prüfung des Einzelfalles generell davon auszugehen,
daß bevorrechtigte Arbeitsuchende für eine Vermittlung zur Verfügung stehen.
Die Arbeitserlaubnis ist daher
grundsätzlich abzulehnen.
Zur Vermeidung unterschiedliche
Behandlung vergleichbarer Gruppen bitte ich, bei der arbeitsmarktabhängigen Arbeitserlaubnis für die erstmalige Beschäftigung von Asylbewerbern und geduldeten Ausländern, die nach
dem 15. Mai 1997 in die Bundesrepublik Deutschland neu eingereist sind, bis auf weiteres entsprechend zu verfahren.
Flankierend hierzu, bitte ich, die
Vermittlungsbemühungen für bevorrechtigte Arbeitsuchende unter Ausschöpfung der Förderungsmöglichkeiten nach dem
AFG nochmals zu verstärken."
Ich bitte, ab sofort entsprechend
zu verfahren.
Im Auftrag...
Blüms Erlaß programmiert Verelendung
und stärkt rassistische Positionen.
PRO ASYL
Presseerklärung vom 18.Juni 1997:
Durch die Hintertür:
Unbefristetes Arbeitsverbot
für alle neuen Asylantragsteller
Bundesarbeitsminister Blüm
nimmt Albanien-Flüchtlinge
zum Vorwand
PRO ASYL: Blüm programmiert Verelendung und stärkt
rassistische Positionen
Albanien ist
nichts als ein
Vorwand
Die bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL
kritisiert, daß Bundesarbeitsminister Blüm mit seinem Erlaß und
dieser Lagebeschreibung suggeriere, die vergleichsweise niedrigen Zugänge albanischer Flüchtlinge seien ein wesentlicher Faktor für die Arbeitslosigkeit in
Deutschland.
* Schreiben vom 06. 06. 1997
80
Die nicht vorhandene AlbanienProblematik nehme Blüm im übrigen als Vorwand für einen handstreichartigen Eingriff in das Arbeitserlaubnisrecht, PRO ASYL:
„Blüm führt durch die Hintertür
des Arbeitsamtes wieder ein, was
sich vor Jahren im Ausländerrecht
als teurer Unfug erwiesen hat:
Ein faktisches langjähriges Arbeitsverbot für Asylsuchende.
Dies treibt die Flüchtlinge in die
Abhängigkeit von Sozialhilfeersatzleistungen, die man auf ein
Niveau unterhalb des Existenzminimums gesenkt hat. Das erzwungene Nichtstun von Flüchtlingen nährt dann eben wieder
jenen Rassismus, den die Bundesregierung im Europäischen Jahr
gegen den Rassismus zu bekämpfen vorgibt. Blüms Erlaß
programmiert Verelendung und
stärkt rassistische Positionen."
PRO ASYL führt in der Anlage zur
Presse-Erklärung aus:
Im Zeitraum von Januar bis Mai
1997 stellten nach Angaben des
Bundesinnenministeriums genau
380 Personen aus Albanien einen
Asylantrag.
Damit liegt Albanien in der Statistik der Hauptherkunftsländer
weit hinten. Dies waren laut Presseinformationen des BMI vom 7.
Mai 1997:
1. Türkei
2. Irak
3. Brep. Jugoslawien
4. Sri Lanka
5. Afghanistan
6. Iran
7. Armenien
8. Zaire
9. Pakistan
10. Georgien
7.180
4.688
4.501
1.674
1.544
1.325
1.257
941
846
835
gez. Günter Burkhardt
Geschäftsführer
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KEIN MENSCH IST ILLEGAL
L e i d e r h a t u n s e i n e i g e n e s I n te r v i e w i m A n s c h l u ß a n d i e G ö tti n g e r Ve r a n s t a l t u n g m i t “ S a n s P a p i e rs ” i n d e r Ü b e rs e tz u n g n i c h t
m e h r e rre i c h t. W i r fre u e n u n s
d e s h a l b , d a ß ü b e r d a s i n te rn e t
a l s “ E rs a tz ” d a s f o l g e n d e S o Z -I n terview vorliegt:
N
irgendwo in Europa ist es ImmigrantInnen bisher gelungen, solchen Einfluß auf eine öffentliche Debatte über ihre Situation zu bekommen, wie der Bewegung der "Sans Papiers" in
Frankreich. Madijguene Cisse, eine Sprecherin der Bewegung, befand sich im Rahmen der "Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung"
auf einer Veranstaltungsrundreise
in Deutschland. Für die SoZ
sprach mit ihr Gerhard Klas über
die Motivation der Sans Papiers,
sich an den Märschen zu beteiligen und die Reaktionen linker
Parteien und Gruppen auf die
Selbstorganisierung der "ImmigrantInnen ohne gültige Aufenthaltspapiere".
SoZ: Warum unterstützt das
Flüchtlingsnetzwerk Sans Papiers
die "Europäischen Märsche gegen
Erwerbslosigkeit, ungeschützte
Beschäftigung und Ausgrenzung"?
Madijguene Cisse: Als Menschen
ohne Papiere gehören wir zu den
Ausgegrenzten in Europa. Wir
haben keine Rechte: Weder können wir in Krankenhäuser gehen,
um uns behandeln zu lassen,
noch können wir unsere Kinder
zur Schule schicken.
Selbst Menschen mit einer Aufenthaltsgenehmigung dürfen z.B.
nicht wählen, auch wenn sie arbeiten und Steuern bezahlen.
Deshalb unterstützen wir die Euromärsche.
SoZ: Wie waren die Reaktionen
der anderen Gruppen im Marschbündnis, als Sans Papiers bekundet hat, an den Märschen teilzunehmen?
M.C.: In Frankreich werden die
Märsche von Gewerkschaften
und der Erwerbsloseninitiative
AC! (Agir ensemble contre le
chomage!) unterstützt. Uns ist
aufgefallen, daß wir nicht von
Anfang an mit eingeladen wurden, die Euromärsche vorzubereiten. Wir selbst sind im französischen Koordinationsbüro der Euromärsche vorbeigegangen. Dort
haben wir gefragt, warum wir
nicht eingeladen wurden. Eine
befriedigende Antwort haben wir
darauf nicht erhalten.
SoZ: Ab wann wurdet ihr als
gleichberechtigte Partner angesehen?
M.C.: Mittlerweile werden wir
auch von der französischen Koordination eingeladen. Im März
waren wir allerdings schon auf
dem europäischen Koordinationstreffen in Brüssel. Komisch, daß
das französische Koordinationsbüro so lange gebraucht hat, obwohl wir doch in Frankreich seit
mehr als einem Jahr als Sans Papiers aktiv sind und es uns gelungen ist, mit unseren Kirchenbesetzungen die öffentliche Debatte
über einen Zeitraum von mehreren Wochen zu dominieren. Wir
konnten nicht verstehen, daß wir
als Ausgegrenzte nicht ganz
selbstverständlich zu den Vorbereitungen eingeladen wurden.
SoZ: Haben die französischen
Vertreter der Euromärsche eure
Kritik verstanden?
M.C.: Sie sagten nur, daß vielleicht niemand daran gedacht
hat, uns einzuladen. Sie waren
auch sehr geniert. Allerdings
glaube ich, daß bei einigen Gruppen auch politische Gründe im
Hinblick auf den Wahlkampf dahinterstecken.
SoZ: Welche Unterstützung hat
euer Kampf von linken Gruppen
bekommen?
M.C.: Bei vielen linken Gruppen
wußten wir nicht, warum sie uns
unterstützen. Von Anfang an unterstützten uns kleine, linksextreme Gruppen, z.B. die LCR, die
JRE, auch eine maoistische Gruppe.
Dabei hatten wir oft das Gefühl,
daß wir nur so lange für sie interessant waren, wie sie sich die
Hoffnung machen konnten, daß
wir ihre Meinung übernehmen,
auf ihre Linie einschwenken. Sie
hatten zum Teil sehr klare Vorstellungen, wie sie in bestimmten
Punkten vorgehen wollten. Wenn
wir dazu eine andere Meinung
Kein Leben
ohne Risiko
Interview mit einer
Vertreterin der Bewegung Sans Papiers
SoZ-Verlag*
hatten, sind sie zum Teil einfach
verschwunden.
SoZ: Sehr viel Unterstützung
habt ihr von den französischen
Gewerkschaften erhalten. In
Deutschland, wo du auch mehrere Jahre gelebt hast, gibt es kein
vergleichbares Engagement der
Gewerkschaften. Wie erklärst du
dir das?
M.C.: In Frankreich sind die Gewerkschaften von politischen Parteien unabhängiger. Die SUD, die
der LCR nahe steht, die CGT und
eine Abspaltung der CFDT unterstützen uns materiell, finanziell
und auch ideell. Neulich startete
die CGT eine Kampagne, die Sans
Papiers in ihre Gewerkschaft aufzunehmen und ihnen so einen
besseren Schutz gegen die Repressionsorgane des Staates zu
bieten. Viele Sans Papiers sind
daraufhin Mitglieder geworden.
SoZ: Was motiviert die Gewerkschaften, sich in dieser Art und
Weise zu engagieren?
M.C.: Das war keine spontane
Aktion. Bei unserer ersten Kirchenbesetzung im März 1996
waren die Gewerkschaften noch
nicht als Struktur vertreten, lediglich einzelne Gewerkschafter haben uns unterstützt. Erst nach
der Räumung der zweiten Kirche,
die wir besetzt haben, tauchte
der Vorsitzende der CGT auf.
*SOZ@LINK-LEV.dinoco.de vom 28.05.97
Dieser Artikel erschien in SoZ Nr.11/97
81
VERFOLGTE FRAUEN SCHÜTZEN
Leider funktionieren in fast allen anderen
Ländern Europas die Flüchtlingsgruppen
nach diesem paternalistischen
Prinzip.
SoZ: Wie verlaufen eure
Bemühungen, Migrantengruppen
international zu vernetzen?
M.C.: Das ist nicht einfach, denn
in anderen europäischen Ländern
gibt es keine autonome Organisation von Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung. Wie
früher in Frankreich, gibt es dort
fast ausschließlich Vereine, die
für die Sans Papiers arbeiten.
Als wir, die Sans Papiers, beschlossen haben, die Kirche St.Bernard zu besetzen und dies
auch taten, kamen viele Mitglieder der französischen Flüchtlingsgruppen, die uns davon abraten
wollten. Sie meinten, mit Kindern
sei eine solche Aktion zu gefährlich und wir sollten besser nach
Hause gehen. Alle Sans Papiers
lehnten diesen Vorschlag jedoch
ab. Sie wollten nicht ihr Leben,
wie es bisher war, weiterleben.
Die Unterstützer von den französischen Flüchtlingsgruppen forderten uns daraufhin auf, ruhig
zu bleiben. Sie boten uns an, mit
den Behörden zu sprechen und
Verhandlungen zu führen. Aber
auch das lehnten wir ab. Wir erklärten ihnen, daß wir diejenigen
sind, die den rassistischen Strukturen tagtäglich ausgesetzt sind.
Wir sind fähig, für uns selber zu
sprechen und zu entscheiden.
Diese Haltung ist bezeichnend für
das Vorgehen der Sans Papiers im
Unterschied zu französisch verwalteten Flüchtlingsgruppen, in
denen Franzosen für die Flüchtlinge sprechen und entscheiden.
Leider funktionieren in fast allen
anderen Ländern Europas die
Flüchtlingsgruppen nach diesem
paternalistischen Prinzip. Allerdings haben wir Kontakte zu kleinen Gruppen und Einzelpersonen
in Belgien, Großbritannien und
Deutschland, um die Selbstorganisation der Sans Papiers voranzutreiben.
SoZ: Welche Repressionen erfahren die Sans Papiers seitens des
französischen Staates?
M.C.: Die französischen Behörden
versuchen vor allem, die Sprecher
von Sans Papiers einzuschüchtern. Nach der Räumung der Kirche St.-Ambroise mußten wir uns
zu zweit den Demütigungen von
Polizisten aussetzen, die uns
anschließend brutal in einen ihrer
Busse warfen. Am nächsten Tag
hatte ich einen Gerichtstermin
und wurde zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Obwohl ich die
Strafe bisher nicht absitzen mußte -- sie wurde zur Bewährung
ausgesetzt -- schwebt die angedrohte Haftstrafe wie ein Damoklesschwert über mir. Bei vielen
Demonstrationen werde ich verhaftet. Seit August 1996 habe
ich insgesamt fünf Gerichtstermine gehabt, jedesmal mit der
zweimonatigen Haftstrafe im
Nacken. Doch immer, wenn ich
von der Polizei festgenommen
werde oder vor Gericht stehe,
gibt es eine große Demonstration
von Menschen, die mich unterstützen -- manchmal sogar in
Toulouse oder Lyon. Deshalb haben sie mich noch nicht ins Gefängnis gesteckt.
SoZ: Hast du Angst, dich jetzt
ohne Papiere in Deutschland aufzuhalten?
M.C.: Man kann nicht Kämpfen
und Angst haben. Vielleicht werde ich morgen schon in Deutschland festgenommen und eingesperrt.
Es gibt eben keinen Kampf ohne
Risiko.
Kampagne „Verfolgte Frauen schützen!"
Niedersächsisches Koordinationstreffen
Am 21. Juni 97 trafen sich in
Hannover auf Einladung des Niedersächsischen Flüchtlingsrates
die migrationspolitischen Sprecherinnen der Landtagsfraktionen
von SPD und Bündnis 90 / Die
Grünen, Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft ‘Asyl in der Kirche’,
des Caritasverbandes Hildesheim,
des Diakonischen Werkes Hannover, der iaf, des DGB-Landesbezirks Niedersachsen/Bremen und
anderer migrationspolitisch aktiver Gruppen.
Ziel dieses Informations- und Koordinationstreffens war es, die
bundesweite Kampagne „Verfolgte Frauen schützen!" in Niedersachsen bekanntzumachen.
Die Kampagne „Verfolgte Frauen
schützen!" wird – initiiert von
* Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats
Presse-Erklärung vom 23.6.97
82
PRO ASYL und dem deutschen
Frauenrat – bundesweit seit März
dieses Jahres betrieben mit Unterstützung der Wohlfahrtsverbände, des DGB, von Kirchen
und vom Verband binationaler
Familien und Partnerschaften
(iaf). Sie wird bis zum Internationalen Frauentag, dem 8. März
1998, fortgeführt.
In ihrem Einführungsreferat stellte Isabel Basterra (Migrationsreferentin im DGB-Bundesvorstand
und Vertreterin des DGB bei der
Bundesarbeitsgemeinschaft PRO
ASYL) Begründungen und Ziele
der Kampagne vor. Da in den
bundesdeutschen Asylverfahren
Frauen mit ihren spezifischen
Verfolgungsgründen, wie z.B. Arbeitsverbot, Kleidungsvorschriften, Auspeitschung, genitale Verstümmelung, Sippenhaft und die
speziell Frauen gegenüber angewandten Verfolgungsmethoden,
Jacqueline Duchat*
wie Vergewaltigung, um Aussagen über Ehemänner, Freunde
oder Verwandte zu erzwingen,
nicht berücksichtigt werden, geht
es darum, ihre geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründe als Asylgründe in der Asylgesetzgebung
der Bundesrepublik Deutschland
zu verankern. Gleichzeitig ist die
Situation von asylsuchenden
Frauen auch bei der Durchführung der Asylverfahren zu verbessern. Ein bereits am 31. Oktober
1990 einstimmig vom Bundestag
angenommener Antrag zur Verbesserung der Situation von asylsuchenden Frauen wurde bis
heute nicht einmal in Teilen umgesetzt.
Die Anwesenden berieten über
die Möglichkeiten der konkreten
Umsetzung der Kampagne in
Niedersachsen und der sie begleitenden Unterschriftensammlung
an den deutschen Bundestag.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGTE FRAUEN SCHÜTZEN
O
ffener Brief an die Innenminister und -senatoren der Bundesrepublik Deutschland
Innenministerkonferenz am 5.
und 6. Juni 1997
Hintergrundinformationen
zur Kriegstraumatisierung
Mehr als 4.000 Unterzeichner
und Unterzeichnerinnen aus dem
In- und Ausland fordern im Rahmen der Kampagne von Medica
mondiale e.V. für traumatisierte
Frauen aus Bosnien-Herzegowina
umgehend einen gesicherten
Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik Deutschland, um eine
Retraumatisierung im Zuge einer
erneuten Deportation zu verhindern. Im weiteren fordern wir einen angemessenen Zeuginnenschutz für potentielle und geladene Zeuginnen des Den Haager
Kriegsverbrechertribunals. Eine
Abschiebung zu dem derzeitigen
Zeitpunkt ist aus Sicht der Menschenrechtsorganisationen unverantwortlich. Eine Korrektur Ihrer
Beschlüsse ist erforderlich.
Sehr geehrte
Herren Innenminister,
wir bitten Sie eindringlich darum,
den extrem traumatisierten Frauen aus Bosnien-Herzegowina einen gesicherten Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik
Deutschland zu gewähren. Viele
von ihnen sind potentielle Zeuginnen für das Den Haager
Kriegsverbrechertribunal. Wir erlauben uns, Ihnen zur Entscheidungsfindung folgende Hintergrundinformationen zur Verfügung zu stellen:
- zur Traumatisierung
- zu den Auswirkungen der
zwangsweisen Rückführung
auf die traumatisierten Frauen
- zu den Forderungen von Medica mondiale e.V.
- zu unseren Vorschlägen für Ihr
weiteres Entscheidungsverfahren
- zur Unterschriftenübergabe
und
- zu Medica mondiale e.V.
Wir hoffen und erwarten, daß
diese Informationen Einfluß haben werden auf Ihre weiteren
Entscheidungen bezüglich der
anstehenden Abschiebungen
traumatisierter Frauen.
Setzen Sie sich bitte in der Sitzung der Innenministerkonferenz
dafür ein, dieses menschenverachtende Rückführungsverfahren
zu beenden.
1. Zur Traumatisierung
Was wissen Sie über die Traumatisierung? Ein Trauma bedeutet
immer eine Verletzung, eine Erschütterung der psychischen Organisation eines Menschen, ein
Verlust der Flexibilität in der
Wahrnehmung von Werten und
Realitäten. Diese Entpersönlichung und Entmenschlichung,
die sie erlebt haben, löst tiefe
Verzweiflung und ein Gefühl existentieller Sinnlosigkeit bis hin zu
Suizidalität aus. Das Trauma ist
eine Wunde, die gewissermaßen
wie ein Riß durch die Seele geht
und alle sonst üblichen Bewältigungsmechanismen außer Kraft
setzt. Die Zerstörung des Urvertrauen in sich selbst, in die Verläßlichkeit menschlicher Bindungen, in die Sinnhaftigkeit des Lebens führt - so die Psychoanalytikerin Dr. Ursula Wirtz (1995) - in
die Isolation, in Welt- und Menschenferne. Traumatische Geschehnisse entwerten und beschädigen das Selbstbild und verursachen exzessive Scham, was
die soziale Isolation verstärkt.
Diese Isolation wird durch die gesellschaftliche Tabuisierung verstärkt. Besonders für Frauen, die
sexualisierte Gewalt und Folter
erlitten haben, ist das Öffentlichmachen ihres Traumas nahezu
unmöglich, da im patriarchalen
Kontext diese Gewalt immer noch
völlig tabuisiert wird. Dies führt
dazu, daß nur wenige Frauen
sich offen über ihre erlittene Gewalt äußern können, insbesondere in offiziellen Settings wie in
den Anhörungsverfahren. Abhanden gekommen ist das Bewußtsein einer leibseelischen Einheit. Diese entstehenden Grenzstörungen - in der innerpsychischen und außenpsychischen
Struktur - forcieren den Identitätsverlust und die „Überlebensschuld", so der Psychologe David
Becker (1994). Ausgelöst wird die
Traumatisierung durch sexualisierte Gewalttaten und andere Formen physischer und psychischer
MEDICA e.V.:
KriegsTraumatisierung
Aufenthaltsstatus für traumatisierte Frauen aus Bosnien-Herzegowina
Offener Brief*
Gewalt, Folter und Verfolgung.
Fachleute, die mit Gewaltopfern
und Shoah-Überlebenden gearbeitet haben, wissen um die oft
lebenslangen psychischen und
physischen Folgen. Haben Sie
sich beispielsweise mit der Aufarbeitung des Holocaustes beschäftigt? Wissen Sie, daß Menschen,
die Ausschwitz überlebt haben,
selbst heute 50 Jahre später,
nicht darüber berichten können!
Wissen Sie, daß traumatisierte
Frauen, die Folter, Vergewaltigung, sexualisierte Gewalttaten
und Vertreibung erlebt haben,
nur überleben können, wenn sie
diese Gewalttaten verdrängen,
von sich abtrennen! Gewalttaten
werden aus dem Bewußtsein verbannt, dies ist eine normale Reaktion, eine der „Überlebensmöglichkeiten". Diese Verletzungen sind zu schrecklich, als daß
sie ausgesprochen werden können. Sie sind „unsagbar", obwohl
sie sich nicht einfach begraben
lassen. Schwere körperliche
Krankheiten sind oft die Folge.
Das Überwältigende der traumatischen Erfahrung ist nicht kommunizierbar. Es entzieht sich der
Versprachlichung (Ursula Wirtz,
1995). Erst wenn die Wahrheit
anerkannt wird - so TraumaexpertInnen, PsychologInnen und TherapeutInnen - kann die Genesung
des Opfers beginnen. Doch viel
zu sehr wird das Verschweigen auch durch unsere derzeitige
Rechtssprechung - forciert und
Eine Korrektur
Ihrer Beschlüsse
ist erforderlich.
* MEDICA@ADA.WOMAN.DE (Medica Cologne e.V.)
vom 03.06.97
83
VERFOLGTE FRAUEN SCHÜTZEN
aufrechterhalten. Diese Frauen
brauchen unsere Hilfe, medizinisch und psychotherapeutisch.
Traumatisierte Frauen brauchen
Zeit. Für diesen Heilungsprozeß
sind qualifiziert ausgebildete PsychotherapeutInnen erforderlich.
Wir fragen Sie,
können Sie die
bisherigen Entscheidungen
tatsächlich politisch, moralisch
und ethisch verantworten?
84
2. Zu den Auswirkungen der
zwangsweisen Rückführung
auf die traumatisierten Frauen
Wissen Sie, daß nach einer erfolgten Traumatisierung die sogenannte „Rückführung bzw.
Zwangsabschiebung" zu einer Retraumatisierung führen wird?
Wissen Sie, daß für traumatisierte
Frauen die Gefahr groß ist, ihren
Vergewaltiger und Peiniger zu
begegnen! Bislang werden diese
Kriegsverbrecher weder in der
Serbischen Republik, im Förderationsgebiet noch in West-Europa
wirkungsvoll verfolgt! Diese Frauen haben berechtigte Angst vor
weiteren Racheakten. Jede Frau,
die schon einmal Angst vor
Männergewalt hatte, weiß, was
ein Leben mit solchen Nachbarn
bedeutet.
Wissen Sie, daß viele Flüchtlingsfrauen in ihr Land zurückkehren
wollen? Zur Zeit ist aber eine
Rückkehr aufgrund der katastrophalen Nachkriegssituation und
der ethnischen Diskriminierungen
- auch zwischen den Binnenflüchtlingen - nicht möglich!
Auch stehen den Flüchtlingsfrauen weder Arbeit noch eigenständige Möglichkeiten zur Existenzsicherung zur Verfügung. Wovon
sollen beispielsweise verwitwete,
alleinstehende und alleinerziehende traumatisierte Frauen ihre
Existenzsicherung bestreiten?
Wissen Sie, daß aufgrund des
Duldungsstatus traumatisierte
Frauen keine Therapie beginnen
können! Einerseits fordern die
derzeitigen Bestimmungen, daß
Frauen die Traumatisierung entsprechend nachweisen müssen,
damit sie einen Aufenthaltsstatus
erhalten können. Andererseits ist
der psychotherapeutische Nachweis nicht möglich, da die Sozialhilfe diese medizinisch-psychotherapeutischen Kosten für die
Behandlung nicht übernimmt ein bislang nicht aufgelöster Widerspruch.
Eine vergleichbare Situation trifft
auf die potentiellen und geladenen Zeuginnen des Den Haa-
ger Kriegsverbrechertribunals zu,
die alle eine extreme Traumatisierung erfahren haben. Sie erhalten
auch in der Bundesrepublik
Deutschland keinen Schutz und
gefährden somit das derzeitig
stattfindende Anklageverfahren
gegen die Kriegsverbrecher. Dies
führt dazu, daß die ausführlichen
Zeuginnenaussagen zum Teil aus
Angst vor Mord- und Gewaltandrohungen zurückgezogen
werden. Bislang gibt es für diese
Frauen keinen ausreichenden
Zeuginnenschutz.
Traumatisierte Frauen nach Bosnien-Herzegowina zurückzuschicken, ist unmenschlich! Wir
fragen Sie, können Sie die bisherigen Entscheidungen tatsächlich
politisch, moralisch und ethisch
verantworten?
3. Forderungen von Medica
Medica mondiale fordert die konsequente Umsetzung der Schutzforderung des Artikels 33 „Bleiberecht aus humanitären Gründen" auf Frauen bezogen, die geschlechtsspezifische Neudefinition
des Begriffs „allgemeine Gefahrenlage" und die Neudefinition
des in allen Ländern unausgesprochenen patriarchalen Sittenkodex, der Frauen nach wie vor
in vielen Ländern diskriminiert.
Medica mondiale fordert den
Schutz vor Abschiebung der traumatisierten Frauen und ihrer Familien.
Medica mondiale fordert ein humanitäres Bleiberecht gemäß §
30 Ausländergesetz, d.h. die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis
für einen angemessenen Zeitraum. Medica mondiale fordert
kostenlose qualifizierte medizinische und psychotherapeutische
Hilfsmaßnahmen für die traumatisierten Frauen aus Bosnien-Herzegowina.
Medica mondiale fordert umgehend die länderweite Einrichtung
von Frauen-Härtefallkommissionen. Es bedarf der umgehenden
Ankennung von geschlechterspezifischen Gewalt- und Fluchterfahrungen in der deutschen Asylund Ausländergesetzgebung.
Dies beinhaltet ebenfalls Schulungen von Beamtinnen und Beamten sowie von Entscheidenden
zum Thema „Interkulturelle ge-
schlechterbezogene Handlungskompetenz".
Medica mondiale fordert eine
umgehende Realisierung des
Schutzes für die geladenen und
potentiellen Zeuginnen für das
Den Haager Kriegsverbrechertribunal, d.h. einen gesicherten
Aufenthaltsstatus in der BRD.
Die Betroffenen müssen geschützt werden, um das Anklageverfahren nicht zu gefährden.
Medica mondiale fordert eine
konsequente Verfolgung und
Auslieferung der Kriegsverbrecher
an das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.
4. Vorschläge für Ihr Entscheidungsverfahren
Für weitere Fragen stehen wir Ihnen als Beraterinnen zur Verfügung. Wir haben sowohl umfangreiche Informationen über
die Situation traumatisierter Frauen aus Bosnien-Herzegowina als
auch andere länder- und fachspezifische Kenntnisse gesammelt,
die für Sie im Rahmen der anstehenden Entscheidungen während
dieser Innenministerkonferenz relevant sind. Wir beraten Sie gerne und stellen Ihnen unsere Ergebnisse zur Verfügung. Zu nennen ist die Medica mondiale Dokumentation über fachspezifische
Stellungnahmen von Expertinnen
(Medizinerinnen, Juristinnen, Psychotherapeutinnen) zur Traumatisierung im Rahmen unserer symbolischen Frauen-Härtefallkommission, die am 14.4.1997 in der
Hessischen Landesvertretung in
Bonn stattgefunden hat.
5. Zur
Unterschriftenübergabe
Im Auftrage vieler namhafter
Frauen und Männer überreichen
wir Ihnen das beiliegende Paket
von mehr als 4.000 Unterschriften aus dem In- und Ausland.
Mit dieser Unterschrift machen
die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner ihren Protest deutlich
gegen das derzeitig stattfindende
Abschiebungsverfahren. Tagtäglich erhalten wir Hunderte von
neuen Unterschriften. Vorausgegangen ist zu Ostern 1997 unser
Aufruf in den Tageszeitungen,
der von mehr als 200 Wissen-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
VERFOLGTE FRAUEN SCHÜTZEN
schaftlerinnen, Politikerinnen,
Psycholo-ginnen, Juristinnen,
Schauspielerinnen, Fachfrauen,
Frauengruppen und Frauenorganisationen aus dem In- und Ausland als Erstunterzeichnerinnen
mitgetragen wurde.
Wir bitten Sie, unsere Forderung
nach einem gesicherten Aufenthaltsstatus für traumatisierte
Frauen aus Bosnien-Herzegowina
nicht nur zu berücksichtigen,
sondern diese Forderung im Sinne der moralischen Verantwortung unserer Demokratie zu realisieren.
6.Zu Medica mondiale e.V.
Oberflächlich betrachtet, tun sie
Vergleichbares: Sie bieten sexuelle Dienstleistungen an. Der „keine" Unterschied zwischen den
Huren, über deren rechtliche
Gleichstellung vergangene Woche der Bundestag stritt, und den
500.000 Frauen, die jährlich als
Prostituierte in die Staaten der
Europäischen Union geschleust
werden, besteht darin, daß die
einen freiwillig einem Gewerbe
nachsehen und sich als normale
Gewerbetreibende behandelt sehen wollen, und die anderen zur
gleichen Tätigkeit unter Zwang
und Gewalt erpreßt werden. Dabei befinden sich die illegalen
Prostituierten in einem aussichtslosen Kreislauf, denn ihre Angst
vor sofortiger Abschiebung hindert sie daran, die Schlepper und
Zuhälter anzuzeigen.
nur in Nordrhein-Westfalen auf
eine entsprechende Regelung pochen, und auch dort ist ihre
rechtliche Position, beispielsweise
als Nebenklägerinnen, äußerst
schwach, wenn es tatsächlich zu
einem Verfahren kommt.
Nach Deutschland gelockt und
ausgebeutet, zur Aussage
genötigt, als Zeuginnen vor Gericht „geopfert" und am Ende
doch abgeschoben? Die Skandalisierung des Frauenhandels als
„moderner Sklaverei" ist in eigenartige Begründungszusammenhänge getaucht. Die Angst vor
grenzüberschreitender „Überflutung", insbesondere auf dem
Landweg aus Osteuropa, und der
Wunsch nach „Kontrolle über
den Sklavenmarkt" (FR) prägen
sowohl den kürzlich vorgelegten
Bericht der Berliner „Fachkommission Frauenhandel", der die Lage
der ausländischen Prostituierten
in der Hauptstadt erkundet, als
auch den Ton der großen Anfrage, den die CDU-Opposition an
den Brandenburgischen Landtag
richtete. Die 252 Kilometer lange
Grenze Brandenburgs zu Polen
wird als „visumfreie Eingangsschleuse" vorgestellt, durch die
die osteuropäischen Frauen „unkontrolliert" in die Bundesrepublik
gelangten. Immerhin gehört
Brandenburg zu den wenigen
Bundesländern, die grundsätzlich
anerkennen, daß die Opfer nur
dann als stabile Zeuginnen auftreten können, wenn die Frauen
geschützt und individuell betreut
werden.
Ruft man sich ins Gedächtnis,
daß der Handel mit Frauen und
Kindern nach Angaben der UNESCO hinter dem Drogen- und
Im Mittelpunkt des „Aktionsplans
zur koordinierten Bekämpfung
des Frauenhandels", die der Ministerrat der Europäischen Union
am Wochenende in Den Haag
beschloß, steht deshalb ein
„vorübergehendes Aufenthaltsrecht", das ausländische Prostituierte auch ohne gültige Papiere
vorerst im Land duldet; zumindest solange, bis der Prozeß gegen die Täter abgewickelt ist. Das
als „holländisches Modell" bekannte und bereits Anfang der
neunziger Jahre von Ausländerinnen-Organisationen geforderte
Bleiberecht wurde allerdings auch
jetzt nur unverbindlich empfohlen und auf die rechtlichen Voraussetzungen der Mitgliedsländer
beschränkt. Außer in den Niederlanden und Belgien können die
betroffenen die Frauen bislang
Medica mondiale ist aus der Initiative der Ärztin Dr. Monika
Hauser hervorgegangen, die
während des Krieges ein medizinisches und psychosoziales Behandlungszentrum für durch Folter und Vergewaltigung betroffene, traumatisierte Frauen in Bosnien-Herzegowina - Medica Zenica - gegründet hat. Heute arbeiten mehr als 70 Frauen in diesem
Zentrum. Es ist ein Zufluchtsort
für Frauen und Mädchen, die
während des Krieges durch se-
xualisierte Gewalterlebnisse
schwer traumatisiert wurden.
Aufgrund der geleisteten Arbeit
liegen fundierte Erkenntnisse
über die Kriegstraumatierungen
von Frauen vor, die unzweifelhaft
erkennen lassen, daß eine Abschiebung traumatisierter Frauen
nicht zu verantworten ist.
Köln, den 2.6.1997
Dr. Monika Hauser
Gabi Mischkowski
Marlies Fröse
(Vorstand)
Sprung über den Armutslimes
Frauenhandel
Die Europäische Union beschließt vages
Bleiberecht für Zwangsprostituierte
Ulrike Baureithel
Waffenhandel an dritter Stelle
auf den illegalen Märkten rangiert und riesige Kapitalmassen
auf ihm umgeschlagen werden,
dann erscheint das philanthropische Interesse an der elende Lage
der Frauen, die häufig unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in
die Länder der Europäischen Union gelockt werden, unter ordnungspolitischem Aspekt. Gefragt ist ein gemeinsamer Maßnahmekatalog, der nicht nur die
Grenzen limitiert, sondern auch
die Märkte der Gemeinschaft lizensiert.
Frauenhandel ist kein Kavaliersdelikt, zumindest das hat die Ministerrunde in Den Haag deutlich
gemacht.
Doch die Kampfansage an die
Menschenhändler muß auch als
Drohung an die Frauen verstanden werden: bleibt, wo ihr seid,
lautet die unmißverständliche
Botschaft aus dem Innern der Festung. Seid ihr aber schon mal
hier, dann helft mit, den Armutslimes zu befestigen.
Gegen die, die euch folgen
wollen.
85
KAPITEL
Bundesamt:
Opfer wurde
durch Vergewaltigung
„belästigt“
von Kai Weber
Der nachfolgende Fall macht exemplarisch deutlich, in welcher
zynischen Art und Weise die
Mißhandlung von Frauen in Asylverfahren verharmlost wird.
Frau L. stellte im Juni 1995 einen
Asylantrag in der Bundesrepublik.
In ihrer Anhörung, die aufgrund
ihrer psychischen Verfassung unterbrochen werden mußte, gab
sie an, daß zunächst ihr Ehemann vom Geheimdienst entführt und ermordet wurde. Bei
einer anschließenden Hausdurchsuchung wurde sie selbst festgenommen und während der neuntägigen Haft schwer geschlagen und mehrfach vom Wachpersonal vergewaltigt.
Das Bundesamt lehnte den Asylantrag mit der Begründung ab,
es fehle an einer „asylbegründenden Eingriffsintensität“ (s. unten).
Auch Abschiebungshindernisse
vermochte das Bundesamt nicht
auszumachen. Frau L. erhielt die
Ablehnungsentscheidung zusammen mit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung. Dagegen erhob sie zwar
Klage, war aber nicht in der Lage, diese rechtzeitig zu begründen, sodaß die Klage wegen
Nichtbetreibens abgelehnt wurde.
In ihrer Not wandte sich Frau L.
an den Asyl e.V. Hildesheim. Da
alle Rechtsmittelfristen versäumt
waren, blieb nur noch die Möglichkeit einer Petition beim Petitionsausschuß des Bundestags.
Dieser kam zu dem Ergebnis, daß
Anhaltspunkte für eine offensichtliche fehlerhafte Wertung
des Bundesamtes nicht erkennbar
seien. „Der Bescheid des Bundesamtes vom 21. Juni 1995 weist
nachvollziehbare Begründungen
auf.“ (Schreiben des Petitionsaus86
schuß vom 06.03.1997)
Aufgrund akuter Suizidgefahr
wurde Frau L. schließlich dem
Amtsarzt vorgestellt, der Reiseunfähigkeit attestierte und eine
fachpsychologische Behandlung
der erlittenen Traumata empfahl.
Bis zum Abschluß der Therapie
wird Frau L. nun geduldet.
Auszug aus dem Anhörungsprotokoll von Frau L. vor dem Bundesamt am 07.06.1995
„ ...
F.: Wo lebt Ihr Mann und haben
Sie noch mehrere Familienangehörige?
A.: Mein Ehemann ist verstorben,
mein Vater lebt noch in Kinshasa.
F.: Wann ist Ihr Mann verstorben?
A.: Mein Mann ist im März d.J.
ermordet worden.
F.: Von wem?
Vermerk: Die Antragstellerin verliert bei dieser Frage die Fassung,
weint.
Die Anhörung wurde ca. 10 Minuten unterbrochen, nachdem
die Antragstellerin getrunken hat
und befragt wurde, ob sie in der
Lage ist, der Anhörung weiterhin
zu folgen, antwortet sie mit „ja“.
F.: Von wem wurde Ihr Mann ermordet?
A.: Von Soldaten.
F.: Was war für Sie der konkrete
Anlaß, Ihr Heimatland Zaire zu
verlassen und in Deutschland einen Asylantrag zu stellen?
A.: Nach der Entführung und Ermordung meines Mannes im
Frühjahr 1995 wurden ich, meine
Kinder und mein jüngerer Bruder
vom Geheimdienst „AND“ gesucht.
...
F.: Wann wurden Sie verhaftet
und warum wurden Sie verhaftet?
A.: Das war am 30. März 1995,
mein Mann ist aber schon am
28.03.1995 entführt worden.
...
F.: Wo wurden Sie nach Ihrer
Verhaftung festgehalten?
A.: Unsere Haftdauer betrug 9
Tage, wir wurden im Gefängnis
Circo im Stadtteil Lingwala inhaf-
tiert.
F.: Was hat man dort mit Ihnen
gemacht?
A.: Ich wurde von den Wärtern
mit Fäusten geschlagen, so daß
ich einen Zahn verloren habe,
und mit Füßen getreten. Außerdem wurde ich zweimal vergewaltigt.
...“
Auszug aus dem Bescheid des
Bundesamts für Frau L. vom
16.06.1995 (Gesch.-Z. B 1980641246), zugestellt am 21.06.1995
„ ... Soweit die Antragstellerin zu
1. ihre behauptete Verfolgungsfurcht darauf stützt, daß ihr
Mann Ende März 1995 von Soldaten des Geheimdienstes (AND)
entführt und ermordet worden
sei, kann sich dieses Vorbringen
schon deshalb nicht als asylbegründend auswirken, weil nur eine gegen sie selbst gerichtete
Verfolgungsmaßnahme für ihr
Asylbegehren von Bedeutung ist.
Eine gegen sie gerichtete politische Verfolgung hat die Antragstellerin jedoch nicht dargetan.
Auch das Vorbringen der Antragstellerin zu 1., nach der Entführung ihres Mannes sei auch
nach ihr gesucht und sie am
30.03.1995 verhaftet worden,
kann nicht zu einer Anerkennung
als Asylberechtigte führen.
Das durch die Antragstellerin zu
1. angeblich ausgelöste Verhalten
der zairischen Behörden hat die
Zumutbarkeitsschwelle, welche
die asylrechtlich irrelevante politische Diskriminierung von der politischen Verfolgung trennt, nicht
überschritten (so schon BVerwG,
Urteil vom 27.05.1996 - 9 C
35.86 u.a.-).
Kurzfristige Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Verhöre, Einschüchterungen und Bedrohungen durch staatliche Stellen wegen einer vermuteten Regimegegnerschaft im Zuge von Ermittlungen erreichen in der Regel
ebenfalls nicht die asylbegründende Eingriffsintensität. Daß es
bei der Antragstellerin ausnahmsweise anders sein könnte, ist
ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen.
Dies gilt auch für die Anwendung
von körperlicher Gewalt durch
das Wachpersonal während der
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
KAPITEL
9tägigen Inhaftierung im Gefängnis „CIRCO“.
Staatliche Übergriffe rechtfertigen eine Anerkennung als politisch Verfolgter jedoch nur dann,
wenn sie an asylrechtlich geschützte Merkmale des Betroffe-
nen anknüpfen und ihn nicht lediglich belästigen, sondern in eine ausweglose Notlage bringen.
Eingriffe in Leben, Gesundheit
und Freiheit sind stets asylerheblich, sofern sie schwerwiegend
und damit nicht mehr hinnehmbar sind. Eingriffe in andere
Rechtsgüter sind hingegen nur
dann asylerheblich, wenn sie die
Menschenwürde des Betroffenen
in ihrem Kern verletzen.
Dies ist im vorliegenden Fall nicht
erkennbar. ...“
Duldung für Moslems aus der Republik Srpska
E
ine ganze Reihe von Verwaltungsgerichten hat mittlerweile entschieden, daß eine Abschiebung bosnischer Flüchtlinge aus
der Republik Srpska rechtlich
nicht zulässig ist
Vor diesem Hintergrund blieb
auch der Innenministerkonferenz
kaum etwas anderes übrig, als
zumindest für bosnische Flüchtlinge aus der Republik Srpska eine Sonderregelung zu beschließen:
Erlaß des MI vom 12.06.1997
Rückführung der ehemaligen Bürgerkriegsflüchtlinge nach Bosnien
und Herzegowina
Als Anlage 1 erhalten Sie den aktuellen Bericht des Auswärtigen
Amtes vom 02. Juni 1997 zur
asyl- und abschiebungsrelevanten
Lage in Bosnien und Herzegowina. Der Lagebericht war Grundlage des Beschlusses der Innenminister und -senatoren der Länder
vom 05./06. Juni 1997 in Bonn
zur Rückführung nach Bosnien
und Herzegowina. Eine Ausfertigung des Beschlusses füge ich zu
Ihrer Information als Anlage 2
bei.
Die Möglichkeit, freiwillig nach
Bosnien und Herzegowina
zurückzukehren, ist nach wie vor
für alle bosnischen Flüchtlinge,
unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit oder ihrem Herkunftsort, gegeben.
Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (s. S.12 ff des
Lageberichts) und wegen der
derzeit noch schwierigen wirtschaftlichen Lage in Bosnien und
Herzegowina muß zur Zeit noch
davon ausgegangen werden, daß
Bürgerkriegsflüchtlinge, die aus
der Republik Srpska stammen
und zwangsweise in das Födera-
tionsgebiet zurückgeführt werden, dort von einigen Kommunen nicht registriert werden,
wenn sie keinen Wohnraum oder
sonstige Unterkunft (z.B. bei Verwandten) nachweisen können.
Eine Registrierung ist neben der
Bedürftigkeit eine Voraussetzung
für den Erhalt humanitärer Hilfe
der vor Ort tätigen internationalen Hilfsorganisationen. Gemeinschaftsunterkünfte für die Unterbringung zurückkehrender
Flüchtlinge stehen nach Informationen des Auswärtigen Amtes
zur Zeit im Föderationsgebiet
ebenfalls noch nicht zur Verfügung.
Unter Berücksichtigung der besonderen Situation in Bosnien
und Herzegowina ordne ich im
Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern gem. §
54 Satz 2 des Ausländergesetzes
(AusIG) an, die Abschiebung von
bosniakischen und kroatischen
Volkszugehörigen und in gemischtethnischer Ehe lebenden
Ehepaaren aus der Republik Srpska, die bisher zur ersten Rückführungsphase gehörten, bis zum
28. Februar 1998
auszusetzen. Ausreiseauffordemngen sind - soweit sie bisher
nicht ergangen sind, zunächst
zurückzustellen. Die Ausländerinnen und Ausländer sind gem. §
55 Abs. 2 AusIG zu dulden. Die
Duldung ist auf längstens 6 Monate zu befristen.
Auf diesen Abschiebungsstopp
können sich nicht Personen berufen, die auch bisher nicht von
den Beschlüssen der Innenministerkonferenz zur Rückführung
bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge begünstigt waren (nach dem
15.12.1995 eingereiste Flüchtlin-
ge oder Straftäter).
Die Flüchtlinge sind darauf hinzuweisen, daß sie die Zeit, in der sie
weiterhin auf Grund des vorstehenden Abschiebungsstopps geduldet werden, zur Vorbereitung
ihrer freiwilligen Rückkehr nutzen
sollten. Den Flüchtlingen können
zur Vorbereitung ihrer Rückkehr
für die Durchführung von Orientierungsreisen Rückkehrberechtigungen (Vignette) erteilt werden.
Ich behalte mir die Entscheidung
darüber vor, den Abschiebungsstopp zu einem früheren Zeitpunkt aufzuheben. Das wird insbesondere dann erfolgen, wenn
erkennbar ist, daß die von der internationalen Gebergemeinschaft
für Bosnien und Herzegowina zur
Verfügung gestellten Hilfen wirksam werden und eine Verbesserung der Situation für zurückkehrende bosnische Flüchtlinge aus
der Republik Srpska eingetreten
ist.
Rückübernahmeersuchen
Anfängliche Unklarheiten bei der
Umsetzung des Rückübemahmeabkommens mit der Republik
Bosnien und Herzegowina, insbesondere die altemative Benennung von drei bosnischen Stellen
für die Entgegennahme der
Rückübemahmeersuchen im
Durchführungsprotokoll, haben
zu einer sowohl für die bosnischen Behörden als auch für die
deutschen Ausländerbehörden
unübersichtlichen Verfahrensweise geführt. Nach Erkenntnissen
der deutschen Botschaft in Sarajewo und anderer Länder hat sich
nunmehr herausgestellt, daß es
am günstigsten ist, die Rückübernahmeersuchen an die bosnische
Botschaft in Bonn zu richten.
(...)
Im Auftrage ...
87
AUFNAHMEGESETZ
Aufnahmegesetz
Gesetz zur Aufnahme
von ausländischen Flüchtlingen*
Der Niedersächsische Landtag hat
das folgende Gesetz beschlossen:
§1 Aufgabe
(1) Die Aufnahme folgender ausländischer Flüchtlinge obliegt, soweit und solange sie nicht durch
das Land selbst erfolgt, als Aufgabe des übertragenen Wirkungskreises den Gemeinden:
1. Asylbewerberinnen und
Asylbewerber.
2 Asylbewerberinnen und Asylbewerber. die nach Ablehnung ihres
Asylantrags noch in einer Aufnahmeeinrichtung des Landes im
Sinne des § 44 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) oder in einer Gemeinschaftsunterkunft gewohnt haben, die einer Aufnahmeeinrichtung angegliedert ist.
3. Asylberechtigte,
4. im Rahmen humanitärer
Hilfsaktionen der Bundesrepublik
Deutschland oder auf Grund von
Übernahmeerklärungen des Bundesministeriums des Innern aufgenommene Personen (§ 1 des
Gesetzes über Maßnahmen für
im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980, BGBI. 1 5.
1057, zuletzt geändert durch §
43 des Gesetzes vom 2. September 1994, BGBI. I S. 2265) und
5. Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlinge auf Grund einer Aufenthaltsbefugnis nach § 32 a des
Ausländergesetzes.
*Nds. GVBI. Nr.11/1997 ausgegeben am 18.6.1997
106
(2) Den Gemeinden obliegt als
Aufgabe des übertragenen Wirkungskreises ferner die Aufnahme der Ausländerinnen und Ausländer, die sich im Land aus völkerrechtlichen oder humanitären
Gründen aufhalten und für die
die Landesregierung die Verteilung beschlossen hat.
(3) Die Aufnahme gilt als Leistung der für die Durchführung
des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) oder des Bundessozialhilfegesetzes zuständigen
Stelle.
(4) Bei der Verteilung von Personen nach den Absätzen 1 und 2
soll die Einwohnerzahl der Gemeinden berücksichtigt werden.
Gemeinden, die Standort einer
Aufnahmeeinrichtung im Sinne
des § 44 AsylVfG sind, können
von der Pflicht zur Aufnahme von
Asylbewerberinnen und Asylbewerbem ganz oder teilweise freigestellt werden.
§2 Unterbringung
(1) Die Gemeinden haben die von
ihnen aufzunehmenden Personen
unterzubringen; fiir die Personen,
die ihnen voraussichtlich zugewiesen werden, haben sie rechtzeitig ausreichende Kapazitäten
bereitzustellen.
(2) An Stelle kreisangehöriger Gemeinden kann der Landkreis Personen nach § 1 Abs. 1 und 2 in
Einrichtungen unterbringen, die
er selbst betreibt oder betreiben
läßt, wenn dies der zweckmäßigen Erfüllung der Aufnahmepflicht der Gemeinden dient.
(3) Das Land kann selbst Unterbringungseinrichtungen schaffen
und betreiben oder schaffen und
betreiben lassen.
§3
Erstattung von Aufwendungen
(1) Das Land zahlt den Landkreisen und kreisfreien Städten zur
Abgeltung aller den kommunalen
Körperschaften durch die Aufnahme entstehenden Kosten vierteljährlich eine Pauschale in Höhe
von 1900 Deutsche Mark je Person nach
1. § 1 Abs, 1 Nr.1,
2. § 1 Abs. 1 Nr. 3 für zwei Jahre
vom Zeitpunkt ihrer Anerkennung als Asylberechtigte an,
3. § 1 Abs. 1 Nr. 4 für vier Jahre
vom Zeitpunkt des Eintreffens im
Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland an.
Die Höhe der zu leistenden Zahlungen wird jeweils für ein Vierteljahr ermittelt. Dies geschieht
auf der Grundlage der durchschnittlichen Anzahl der Personen
nach Satz 1, die sich im Abrechnungszeitraum in den jeweiligen
Landkreisen und kreisfreien Städten aufgehalten haben.
(2) Bei einer Unterbringung in
Flüchtlingswohnheimen werden
abweichend von Absatz 1 für die
Dauer der laufenden Verträge
1. für diese Einrichtungen die genehmigten oder bestätigten Tagessätze für Wohnheimplätze erstattet und
2. je untergebrachter Person eine
vierteljährliche Pauschale von
1200 Deutsche Mark, bei Vollverpflegung von 675 Deutsche Mark
gezahlt.
(3) In besonders gelagerten Einzelfällen kann das Land mit Landkreisen oder kreisfreien Städten
eine von den Absätzen 1 und 2
abweichende Regelung vereinbaren.
(4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 werden
1. für ausländische Flüchtlinge.
die in Einrichtungen untergebracht sind, die das Land auf seine Kosten betreibt oder betreiben
läßt, nur insoweit Zahlungen geleistet, als die kommunalen Körperschaften zusätzliche Laistungen erbracht haben,
2. die notwendigen Kosten für
Leistungen bei Krankheit,
Schwangerschaft und Geburt sowie für Hilfe zur Pflege nach Einzelnachweis erstattet, soweit sie
den Betrag von 15 000 Deutsche
Mark je Person und Kalenderjahr
übersteigen.
(5) Das Fachministenum wird ermächtigt, im Einvernehmen mit
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
SERVICE
dem Finanzministerium die in den
Absätzen 1 und 2 genannten
Pauschalbeträge durch Verordnung entsprechend einer Neufestsetzung des Betrages nach §
3 Abs. 3 in Verbindung mit Abs.
2 Satz 2 Nr.1 AsylbLG anzupassen.
(6) In den Fällen des § 1 Abs. 1
Nrn. 2 und 5 sowie Abs. 2 sind
die den kommunalen Körperschaften entstehenden Kosten im
Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs abgegolten. Das Land
kann abweichend von Satz 1
1. Kosten für solche ausländischen Flüchtlinge erstatten, die
im Rahmen der bisherigen Soforthilfeaktionen der Bundesrepublik
Deutschland für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina aufgenommen worden sind,
und
2. Kosten der Behandlung im
Krankheitsfall für sonstige Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien.Herzegowina erstatten.
§5 Inkrafttreten, Außerkrafttreten
§4 Übergangsvorschrift
(2) Gleichzeitig tritt das Aufnahmegesetz vom 9. März 1982
(Nds. GV13I. S. 63), geändert
durch Gesetz vom 10. Januar
1994 (Nds. GVBI. S.9), außer
Kraft.
Die Landkreise und kreisfreien
Städte, in denen die durchschnittlichen, mit den Bezirksregiernngen abgestimmten Aufwendungen für außerhalb von
FIüchtlingswohnheimen untergebrachte Personen nach § 3 Abs. 1
Satz 1 im Jahr 1995 pro Person
über 7600 Deutsche Mark lagen,
erhalten zusätzlich zu der vorgesehenen Pauschale in den auf das
Inkrafttreten dieses Gesetzes folgenden drei Zeiträumen von jeweils sechs Monaten abgestuft
75 vom Hundert, 50 vom Hundert und 25 vom Hundert des
Unterschiedsbetrages zwischen
7600 Deutsche Mark und diesen
Aufwendungen.
(1) Dieses Gesetz tritt am 1. Juli
1997 in Kraft.
Hannover. den 12. Juni 1997
Der Präsident des Niedersächsischen Landtages
Horst Milde
Das vorstehende Gesetz wird
hiermit verkündet.
Der niedersächsische Ministerpräsident
Schröder
Seminare und Tagungen
Lust Last Frust. Solidarität
und ehrenamtliches Engagement. Diskussionsforum 12.
Juli 1997 in Hannover aus
Anlaß des 5-jährigen Bestehens des Bündnis gegen
Fremdenfeindlichkeit und für
interkulturelle Verständigung. Anmeldung und weitere Infos: Landesverband
der Volkshochschulen Niedersachsen, Bödeckerstr. 16,
30161 Hannover, Tel. 0511 348 41-39, Fax 348 41-42
Menschenrechte im Tschad,
19. - 21. September 1997 in
Wustrow. Anmeldung/weitere Infos: Kurve Wustrow,
Kirchstr. 14, 29462 Wustrow, Tel. 05843-507, Fax
05843-1405
Aktive Friedensarbeit und
Gewaltfreiheit in der Einen
Welt, 21. - 23. November
1997 in Wustrow. Anmeldung/weitere Infos: Kurve
Wustrow, Kirchstr. 14,
29462 Wustrow, Tel. 05843-
507, Fax 05843-1405
Pressearbeit für Migrantinnen und Migranten, 06.09. 07.09.1997 in Göttingen.
Für Migrantinnen und Migranten. Anmeldung: Landeszentrale für politische Bildung,Frau Winkler, Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover
Vierte landesweite Konferenz von Migrantinnen/Migranten und Flüchtlingen in
Niedersachsen, 26.09. 27.09.1997 in Wolfsburg.
Für Migrantinnen und Migranten. Anmeldung: Landeszentrale für politische Bildung,Frau Winkler, Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover
„Annäherungen an das
Fremde“ - Lebenssituationen
„ausländischer“ Mädchen
und Frauen im Herkunftsund im Zuwanderungsland.
04.11. - 06.11.1997 in Han-
nover. Für kommunale Frauenbeauftragte, Kommunalpolitikerinnen, Migrantinnen, Sozialarbeiterinnen.
Anmeldung: Landeszentrale
für politische Bildung,Frau
Winkler, Hohenzollernstr. 46,
30161 Hannover
Ausgewählte Aspekte aus
dem Themenbereich Migration, 13.11. - 15.11.1997 in
Königslutter. Für Lehrkräfte
im Fachbereich geschichtlich-soziale Weltkunde sowie
Lehrkräfte ausländischer
Herkunft. Anmeldung: Landeszentrale für politische Bildung,Frau Winkler, Hohenzollernstr. 46, 30161 Hannover
„Irgendwo hingehören“ - Jugendliche mit Migrationshintergrund zwischen sozialer
Integration und ethnischer
Gruppenbildung, 24.11. 26.11.1997 in Bad Nenndorf. Für Lehrkräfte an
Haupt-, Real- und Berufsbil-
denden Schulen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus
der Jugendsozialarbeit/Jugendhilfe, Migrantinnen und
Migranten. Anmeldung:
Landeszentrale für politische
Bildung,Frau Winkler, Hohenzollernstr. 46, 30161
Hannover
Videowettbewerb für Jugendliche in Niedersachsen. Unter dem Motto „Wegsehen,
hinsehen, Anders sehen“
können sich Jugendliche (bis
21 Jahre) mit kreativen
Beiträgen über die Begegnung von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen
Hintergrund an einem Videowettbewerb beteiligen.
Es sind viele Preise ausgeschrieben. Einsendeschluß
ist der 31.07.1997. Weitere
Infos: Büro der Ausländerbeauftragten, Stichwort Videowettbewerb, Am Marstall
18, 30159 Hannover, Tel.
0511 - 1207504.
107
SERVICE
Materialien und Broschüren
Schutz für Flüchtlinge und
Asylsuchende, Aktuelle
Entwicklungen des Asylrechts. Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr. 67.
Mit Beiträgen von Cornelie Sonntag-Wolgast, RA
Heinrich Freckmann, Georg Classen. zu bestellen
bei der Friedrich Ebert
Stiftung, Abt. Arbeitsund Sozialforschung, Godesberger Allee 149,
53175 Bonn (kostenlos)
Integration und Konflikt.
Kommunale Handlungsfelder der Zuwanderungspolitik. Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr. 69.
zu bestellen bei der Friedrich Ebert Stiftung, ebd.
Identitätsstabilisierend
oder konfliktfördernd?
Ethnische Orientierungen
in Jugendgruppen. Gesprächskreis Arbeit und
Soziales Nr. 72. Mit
Beiträgen von Wilhelm
Heitmeyer, Eberhard Seidel-Pielen, Dieter Schwulera u.a.. zu bestellen bei
der Friedrich Ebert Stiftung, ebd.
Bernd Tobiassen, Asylrecht für kurdische
Flüchtlinge. Praxis-Handbuch für die Flüchtlingsberatung
mit Mustertexten für Anträge und Klagen (auch
auf Diskette). Von LoeperLiteraturverlag, Kiefernweg 13, 76149 Karlsruhe, Tel. 0721 - 706755,
Fax 0721 - 788370; (Es
liegt leider kein Rezensionsexemplar vor)
108
Materialmappe zur Begleitung im Asylverfahren,
auch für
Schulungszwecke, zu bestellen bei der ZDWF,
Postfach 1110, 53701
Siegburg, Tel. 0224150001, Fax 0224150003.
Ratgeber soziale Beratung
von Asylbewerbern, auch
für Schulungszwecke, zu
bestellen bei der ZDWF,
ebd.
Leitfaden für Flüchtlinge
aus Bosnien-Herzegowina,
4. Auflage, zu bestellen
bei der ZDWF, ebd.
Flüchtlinge, Verfassungsrecht und Menschenrechte. Ergebnisse einer Fachtagung über rechtliche
und politische Rahmenbedingungen der Rückkehr und Wiederansiedlung von Flüchtlingen aus
dem ehemaligen Jugoslawien. ZDWF-Schriftenreihe Nr. 65. zu bestellen
bei der ZDWF, ebd.
Der Aspen Institute Berlin
und Carnegie Endowment for International Peace (Hg.), Der trügerische
Frieden. Bericht der Internationalen BalkanKommission, rororo aktuell, Rowohlt Verlag Hamburg, Mai 1997
„nepitani“ - Regelmäßige
Publikation für Jugendliche in Deutschland und
Bosnien-Herzegowina,, zu
beziehen über: Schüler
Helfen Leben e.V., Fritz-
Kohl-Str. 24, 55122
Mainz, Tel. 06131 385742. Die Redaktion ist
interessiert an Berichten
bosnischer Flüchtlinge in
Deutschland.
Asylrechtsprechung. ISBN
3-930747-96-0, Pro Universitate Verlag GmbH,
Am Tiefenweg 11, 76547
Sinzheim, Tel. 07221210425. 69,-- DM
Shalom 1/1997, Themenheft Flüchtlinge und Gemeinde, zu bestellen bei:
Arbeitsstelle Konziliarer
Prozeß der EKvW, Olpe
35, 44135 Dortmund,
Tel. 0231 - 5409-68, Fax
0231 - 5409-21 (kostenlos)
Till Müller-Heidelberg /
Ulrich Finck / Wolf-Dieter
Narr / Marei Pelzer (Hg.),
Grundrechte - Report. Zur
Lage der Bürger- und
Menschenrechte in
Deutschland. Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Hamburg Juni 1997
Lageberichte des Auswärtigen Amts zu Bosnien
und Herzegowina (5/97),
Mazedonien (5/97), Sri
Lanka (Ergänzung v. 13.
Mai zum Bericht v. 17.
März), Elfenbeinküste
(4/97), Liberia (4/97), Kirgisistan (4/97), Ukraine
(4/97), Belarus (3/97), Jugoslawien (3/97), Kasachstan (3/97), Tadschikistan
(3/97), Türkei (3/97 und
11/96), Zaire (2/97), Usbekistan (2/97), Gambia
(2/97), Armenien (1/97),
Somalia (1/97), Irak
(1/97); zu bestellen bei
amnesty international,
Postfach 170229, 53108
Bonn
Antwort der Landesregierung auf eine große Anfrage der CDU-Fraktion
vom 6.1.97: Menschenhandel in Niedersachsen. Drucksache
13/2854, Niedersächsischer Landtag.
Prof. Dr. G. Wießner, Gutachten zur Situation von
Jeziden in Syrien,, zu bestellen beim Flüchtlingsrat
Renate Dieregsweiler,
Krieg - Vergewaltigung Asyl.. Die Bedeutung von
Vergewaltigung im Krieg
und ihre Bewertung in
der bundesdeutschen
Das andere Gedenken /
„Ein Strich durch das Vergessen“, Doppelnummer
der „Jekh Chib Nr. 6/7“,
bundesweite Zeitschrift
zur Situation der Roma in
der BRD.. Zu bestellen
beim Rom e.V., Bobstr. 68, 50676 Köln, Tel. 0221
- 242536, Fax 0221 2401715
Literaturhinweise und
Empfehlungen der Koordinationsstelle „Nord-Süd
im Bildungsbereich“,
WUS, Goebenstr. 35,
65195 Wiesbaden, Tel.
0611-9446170, Fax
0611-446489
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44, Juli 1997
KURDEN IM KIRCHENASYL
Ök um e n i s c h e Bu n desarbeit sgem einschaft
in der K ir che
INFOBRIEF 2/97
Kurdische Flüchtlinge im Kirchenasyl
Trotz systematischer
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei
halten deutsche Politiker
an ihrer rigorosen Abschiebepolitik fest. Die
Ausländerbehörden erweisen sich als deren
willfährige Vollstrecker von Martin Rapp
Nach sieben Wochen im Kirchenasyl konnte die kurdische
Familie Atak am 1. Mai die Ev.
Kirchengemein-de Lendringsen
in Westfalen verlassen. Die Ausländerbehörde hatte zugesagt,
solange von "aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen", solange das Verwaltungsgericht bzw. das Bundesamt für die Anerkennung Ausländischer Flüchtlinge (BAFl) über
die Zulassung eines neuen Asylantrages noch nicht entschieden
hat. Dieser Zeitaufschub verschaffte der Familie nur eine
kur-ze Atempause. Knapp drei
Wochen später machte das Verwaltungsgericht Arnsberg die
Hoffnungen der Familie zunichte,
in einem erneuten Asylverfahren
ihre Gefährdung in der Türkei
geltend machen zu können. Die
Kirchengemeinde handelte
prompt und nahm die Familie
Atak erneut ins Kirchenasyl auf.
So bleibt der Schwebezustand
zwischen der Hoffnung, doch
noch in Deutschland bleiben zu
können, und der Angst vor den
drohenden Mißhandlungen im
Falle einer er-zwungenen Rück-
kehr weiterhin bestehen.
Nun stellt sich die Lendringser
Gemeinde auf einen längeren
Aufenthalt der Familie im Kirchenasyl ein. Die UnterstützerInnen der Familie wissen, daß sie
einen langen Atem brauchen, um
die Abschiebung der Familie
endgültig abzuwenden.
Weil Politiker und Behörden sich
von einem an den Menschenrechten orientierten Flüchtlingsschutz mehr und mehr verabschieden und sich immer unnachgiebiger verhalten, wird das
Kirchenasyl für Flüchtlinge und
Gemeinden oftmals zur Zerreißprobe. So dauern die meisten
derzeitigen Kirchenasyle in der
Bundesrepublik bereits länger als
ein Jahr. Hintergrund dieser Entwicklung ist die forcierte Abschiebepolitik seit der Grundgesetzänderung von 1993. Seit der
Aufhebung des Abschiebestopps
für Kurden aus der Türkei, dem
Hauptherkunftsland von Flüchtlingen in der Bundesrepublik,
durch die Innenminister der Länder im Frühjahr 1995 wurden
allein Tausende nach Istanbul
abgeschoben. Seitdem häufen
sich die Meldungen über abgeschobene Asylbewerber, die in
türkischen Gefängnissen mißhandelt und gefoltert wurden
oder die seit ihrer zwangsweisen
Rückkehr in die Türkei verschwunden sind. Die Bundestagsabgeordnete Amke DietertScheuer legte dazu kürzlich eine
erschütternde Dokumentation
vor. Auch der ehemali-ge Innenminister von NordrheinWestfalen, Herbert Schnoor, Landeskirchenrat Jörn-Erik Gutheil,
der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Arendt Hindriksen und
Heiko Kauffmann von Pro Asyl
kamen nach einer gemeinsamen
Delegationsreise in die Türkei im
April zu dem Schluß: "Wer nach
der Rückkehr aus Deutschland
im Verhör als Kur-de, als Alevit,
als politisch linksstehend identifiziert wird, sei jederzeit in Gefahr, geschlagen, mißhandelt
oder gefoltert zu werden." Die
Bundesregierung und die Innenminister müßten deshalb Konsequenzen ziehen und dürften
nicht einfach zur Tagesordnung
übergehen.
Doch die politisch Verantwortlichen halten bisher an der unerbittlichen Abschiebepraxis fest.
Als Begründung muß die von
Menschenrechtsorganisationen
vielfach widerlegte Behauptung
herhalten, wonach Flüchtlinge
aus dem Südosten der Türkei im
Westen des Landes vor staatlicher Verfolgung und Gefahr für
Leib, Leben und Freiheit sicher
seien. Anderslautende Gerichtsentscheidungen, wonach KurdInnen als Gruppe verfolgt sind,
hob das Bundesverfassungsgericht im Mai vergangenen Jahres
auf. Demnach muß ihre politische Verfolgung im Einzelfall
nachgewiesen werden.
Kein Wunder, daß abgelehnte
kurdische Asylbewerber/innen
aus Angst vor der Abschiebung
in das Folterland Türkei immer
häufiger um Zuflucht in christlichen Gemeinden bitten. Fanden
1995 insgesamt 75 Kurden
Schutz in evangelischen und
katholischen Gemeinden und
Klöstern, waren es im vergange17
KURDEN IM KIRCHENASYL
nen Jahr bereits 137. Ende Mai
diesen Jahres befanden sich
schon über 70 kurdische Flüchtlinge in der Obhut christlicher
Gemeinden. Das sind mehr als
die Hälfte aller Flüchtlinge, die
sich zur Zeit in der Bundesrepublik im Kirchenasyl befinden.
Darüber hinaus leben etwa
zwanzig kurdische Flüchtlinge im
"stillen" Kirchenasyl. In diesen
Fällen wissen die Behörden zwar,
daß sich die Asylbewerber in den
Gemeinden befinden, diese sehen ihren Verhandlungsspielraum bei einem öffentlichen
Kirchenasyl allerdings völlig
schwinden.
In den meisten Bundesländern
reagieren die politisch Verantwortlichen inzwischen mit ungewohnter Härte und Unnachgiebigkeit auf die
sich ausweitende Kirchenasylpraxis. Die lokalen Ausländerbehörden und die Gerichte erweisen sich dabei
zunehmend als willfährige Vollstrecker der politisch Verantwortlichen von Bund und Ländern.
Bereits im vergangenen Jahr
zwangen die bayerischen Behörden die kurdische Familie Demirkiran nach über anderthalb Jahren Kirchenasyl in Höchstadt zur
"freiwilligen" Rückkehr in die
Türkei. Die Familie Simsek, die in
einer Augsburger Gemeinde
Zuflucht gefunden hatte, kam
der Abschiebung in die Türkei
nur durch die Flucht in ein europäisches Nachbarland zuvor. In
Augsburg, Erlangen und im
bayerischen Weißenburg befinden sich drei kurdische Familien
bereits seit über zwei Jahren im
Kirchenasyl, ohne daß sich eine
Lösung zugunsten der Flüchtlinge abzeichnet. Eine Anwendung
der Härtefallregelung, wonach
Flüchtlinge nicht abgeschoben
werden dürfen, wenn eine Abschiebung eine unzumutbare
soziale Härte darstellt, kommt
für die bayerischen Behörden
nicht in Betracht, obwohl die
meisten Familien bereits seit
vielen Jahren in Deutschland
leben und auch die übrigen Kriterien dieser Regelung erfüllen.
Die Härtefallregelung könne auf
Flüchtlinge im Kirchenasyl nicht
angewendet werden, weil diese
sich dort länger als drei Monate
"illegal" aufhielten, lautet die
Begründung der bayerischen
18
Staatsregierung, deren Zynismus
kaum zu übertreffen ist.
In Hof und in Fischbach im
bayerischen Landkreis Kronach
befinden sich zwei Familien seit
mehr als einem Jahr im Kirchenasyl. Der ökumenische Arbeitskreis Asyl in Fischbach rechnet
mit der bevorstehenden gewaltsamen Räumung des Kirchenasyls für die Familie Karakus. Sie
fand im Mai vergangenen Jahres
im Pfarrhaus der evangelischen
Gemeinde Zuflucht, weil der
Familienvater in der Türkei aus
politischen Gründen inhaftiert
und mißhandelt worden war und
bei einer Rückkehr eine neuerliche Verhaftung befürchtet. Das
Bayerische Oberste Landesgericht lieferte dem bayerischen
Innenminister Beckstein bereits
im April die juristische Legitimation für die gewaltsame Beendigung des Kirchenasyls und ordnete Abschiebehaft, sogenannte
"Sicherungshaft" nach § 57,2
Ausländergesetz, an. Damit hob
das Gericht anderslautende Entscheidungen des Amtsgerichts
und des Landgerichts auf, die
den Haftantrag gegen die Familie
abgelehnt und die vorübergehende Flucht ins "verdeckte"
Kirchenasyl als "Flucht in die
Öffentlichkeit" gewertet hatten.
Der Asylantrag des Familienvaters war abgelehnt worden,
nachdem er nicht zur Anhörung
beim BAFl erschienen war, obwohl er die Einladung nie erhalten hatte.
Auch die niedersächsische Landesregierung sucht inzwischen
die Konfrontation mit kirchenasylgewährenden Gemeinden. So
laufen auch deren Bemühungen
um einvernehmliche Lösungen
zur Zeit ins Leere. Noch im vergangenen Jahr wurden in Elze
und Arnum zwei Familien, die
nur durch das couragierte Engagement der Kirchengemeinden
und die Aufnahme ins Kirchenasyl in letzter Minute vor der
Abschiebung nach Istanbul gerettet werden konnten, von Verwaltungsrichtern als asylberechtigt anerkannt. Anfang Mai willigte ein kurdisches Ehepaar
nach wenigen Tagen im Kirchenasyl in Nordhorn ein, unter
Begleitung einer Gemeindebetreuerin "freiwillig" in die Türkei
zurückzukehren, weil der Asylfolgeantrag chancenlos war.
Bereits Ende Februar hatte eine
kurdische Familie aus Barsinghausen der "freiwilligen" Aus-
reise zugestimmt, nachdem der
Familienvater verhaftet worden
war und die Fortsetzung des
Kirchenasyls für die übrige Familie sinnlos erschien. Die dortige
Ausländerbehörde erweist sich
auch in einem aktuellen Fall von
Kirchenasyl als besonders unerbittlich. Das Amt verweigert der
7-köpfigen kurdischen Familie,
die seit elf Jahren in Deutschland
lebt und arbeitet, das Bleiberecht
nach der sogenannten "Altfallregelung", weil die Familie angeblich einen Anspruch auf Sozialhilfe hat, obwohl diese nie einen
Pfennig vom Sozialamt bezogen
hat. Zur Zeit gewähren sieben
niedersächsische Gemeinden
kurdischen Flüchtlingen Kirchenasyl, außer in Barsinghausen
in Göttingen, Hannover, Hildesheim und Lahstedt. In Göttingen
lebt ein kurdisches Ehepaar bereits seit März 1996 in einer
Kirchengemeinde. Eine yezidische Familie ist im "stillen" Kirchenasyl.
In Baden-Württemberg bestehen
zur Zeit vier, in Thüringen und
im Saarland jeweils ein Kirchenasyl für kurdische Flüchtlinge
aus der Türkei. In NordrheinWestfalen beendete die Ausländerbehörde des Kreises Coesfeld
Ende Januar mit einem Großaufgebot der Polizei das Kirchenasyl
in Nottuln und schob die Familie
Araz nach Istanbul ab. Dort wurden sie verhaftet und erst nach
zwei Tagen wieder freigelassen.
Der Vater wurde seitdem mehrmals festgenommen und mißhandelt. Er hatte sich wie viele
andere Flüchtlinge, die Zuflucht
in Kirchengemeinden fanden,
geweigert, als "Dorfschützer" am
schmutzigen Krieg gegen die
aufständischen KurdInnen teilzunehmen und war deshalb von
türkischen Sicherheitskräften
schikaniert, verhaftet und gefoltert worden. Trotzdem sollten er
und seine Familie aus Deutschland abgeschoben werden.
Die Weigerung, "Dorfschützer"
zu werden, ist - wie Kriegsdienstverweigerung und Desertion - schließlich kein Asylgrund
in der Bundesrepublik. Auch
Folter, Vergewaltigung, Mißhandlungen und Gefängnis sichern kurdischen Flüchtlingen
keinen Aufenthalt in der Bundesrepublik. So gewähren Kirchengemeinden Flüchtlingsschutz, weil die Mängel und De-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44, Juli 1997
KURDEN IM KIRCHENASYL
fizite des Asylverfahrens offensichtlich sind. Dies bestätigt
auch die repräsentative Kirchenasylstudie "Zufluchtsort
Kirche". Demnach ist das Anhörungsverfahren insgesamt untauglich, die Rechtsmittelfristen
sind zu kurz, die Gerichtsverfahren willkürlich. Abschiebehindernisse werden in der Regel
nicht zur Kenntnis genommen.
Einen Abschiebstopp für Flüchtlinge aus der Türkei lehnen die
Innenminister von Bund und
Ländern - aus Gründen der
Staatsräson - bisher ab, vor allem aus Rücksicht auf den
NATO-Partner Türkei, den wichtigsten und verläßlichsten Wirtschaftspartner im Nahen Osten.
Ein Abschiebestopp für Flüchtlinge aus der Türkei schaffe darüber hinaus – so die Befürchtungen deutscher Politiker – einen
Präzedenzfall, schließlich werden
die Menschenrechte auch in anderen Ländern systematisch mit
Füßen getreten. Trotzdem: Nur
ein genereller Abschiebestopp
für Flüchtlinge aus der Türkei
kann verhindern, daß Abgeschobene dort nicht gefoltert werden
oder verschwinden.
19
KURDEN IM KIRCHENASYL
Den Spieß umkehren!
Es gibt kaum Absurderes als
die Begründungen deutscher
Verwaltungsrichter und Beamter, mit denen sie Abschiebungen von Menschen aus der
Türkei rechtfertigen.
Wie macht man der kleinen
kritischen Öffentlichkeit, wie
macht man sich selbst begreiflich, daß das, was man da tut,
rechtens ist, den eigenen Ansprüchen an zivilisiertes Verhalten genügend, dem Grundgesetz verträglich und vielleicht gar im Einklang mit den
eigenen, eisernen Rationen
von Ethik und Moral steht?
In der Türkei fügen Menschen
anderen Menschen Schaden
zu, daß es zum Himmel
schreit. Systematisch und willkürlich, offen und versteckt,
auf Verlangen des Staates und
ohne seinen Auftrag. Da verschwinden Leute ohne richterlichen Bescheid im Gefängnis,
da werden Zeitungen verboten
und Gewerkschaftsbüros geschlossen, Dörfer bombardiert
und Wälder verbrannt. Journalisten und Gewerkschafterinnen, Poeten, Musiker, Grafikerinnen und Lehrer, Parlamentsabgeordnete und Stadträte, viele "einfache Leute" –
verschwunden, inhaftiert, gefoltert, erschossen. Im Namen
der "nationalen Sicherheit".
Keine namhafte Menschenrechtsorganisation, die nicht
dagegen anginge. Kein
ernstzunehmendes internationales Gremium, das nicht auf’s
Schärfste mit der Türkei ins
Gericht ginge.
Was muß man erfinden, um
mit Fug zu unterschreiben,
daß sie sicher seien nach ihrer
Abschiebung: Kurden, Aleviten, Yeziden, Menschenrechtler, Oppositionelle, Menschen,
die in welcher Form auch immer ihren Willen zur Verän-
derung bekundet haben, hier
in Deutschland oder dort in
der Türkei. Wie macht man
das: Sich einzureden, eine
sieben- oder neunköpfige
kurdische Familie, seit vier
oder sechs oder acht Jahren im
deutschen Exil, könne zurückkehren, einfach so.
Es gibt Beamte, die dem politischen Druck standhalten. Sie
sind weder bereit, das Recht
zu beugen, noch ihr Gewissen
zu verbiegen. Sie erkennen an:
Asyl, Abschiebungshindernisse, Menschenrechtschutz. Eine Tür, eine Stadt, einen
Regierungsbezirk weiter: Dieselben Schicksale, dieselbe
Angst vor der latenten oder
manifesten Bedrohung, dieselben Unwägbarkeiten werden
mit Federstrichen vom Tisch
gewischt.
Seit das Land NRW den Abschiebestopp allein aufgrund
des Drucks aus Bonn aufheben
mußte, ohne daß sich die Situation auch nur einen Deut
gebessert hätte, liegt die Beweislast bei dem, der abschieben will: Er muß sich die Realität zurechtbiegen. Wann
hätten die deutschen Behörden
angesichts der unüberschaubaren Flut von Berichten, Dokumenten, Analysen und
Kommentaren je den Nachweis
erbracht dafür, daß in der Türkei ein erträgliches Leben
möglich ist für die, die einer
der Minderheiten angehören
oder sich für deren Rechte
engagieren? Wann hätten die
für die Abschiebungen Verantwortlichen je auch nur eine
sichere Adresse nennen können, an die sich Menschen
nach ihrer zwangsweisen
Rückführung wenden können,
die um ihr Leben fürchten? Ein
Anruf bei einer deutschen
Auslandsvertretung oder auch
bei der Dependance einer der
deutschen Kirchen in Istanbul
oder Ankara genügt: Wer sich
erkundigt, erhält nur eine
Antwort: NEIN! WIR HABEN
ANGST!
Noch halten sich die großen
Kirchen in der Bundesrepublik
bedeckt. Aber immer mehr
Kurden und andere Verfolgte
fliehen in die Gemeinden, weil
sie nicht haben nachweisen
können, daß sie im Fall der
Rückkehr einem tödlichen
Verdacht ausgeliefert sind, den
sie hier nicht beweisen und
dort nicht entkräften können,
der aber vom ersten Tag ihrer
Rückkehr an ihr Leben regieren wird. Sie stehen mit dem
Rücken zur Wand, und sie sind
bereit, eher auf den wenigen
Quadratmetern im Kirchenasyl
über Monate auszuharren, als
auch nur für eine Stunde dem
Verhörexperten der türkischen
Staatspolizei in die Hände zu
fallen.
Durch die wachsende Zahl
verzweifelter kurdischer Menschen in den katholischen und
evangelischen Gemeinden
erwächst den Kirchen ein
neues Mandat. Ihr Glaube verpflichtet sie, einer Praxis zu
widerstehen, die Menschen auf
dem Altar diplomatischer Interessen opfert. Sie haben das
Recht und die Pflicht, den Staat
öffentlich und unmißverständlich zur Vernunft zu rufen und
aufzuräumen mit den Behauptungen, mit denen er sich
Menschen aus der Türkei vom
Hals schafft.
Christoph Keienburg, Sprecher der BAG
Asyl in der Kirche
Hungerstreik in der Dortmunder Petrikirche
Ein Beispiel erfolgreicher Selbstorganisation von Flüchtlingen
20
Sechs Familienangehörige der
Familie Yildirim wurden von
Sonderkommandos der türkischen Sicherheitskräfte als
angebliche PKK-Aktivisten
umgebracht. Andere Familienangehörige sitzen in der
Türkei in Haft und wurden dort
teilweise gefoltert. Ein Teil der
Familie floh nach Deutschland
und beantragte Asyl. Viele
Familienmitglieder wurden als
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44, Juli 1997
KURDEN IM KIRCHENASYL
Asylberechtigte anerkannt.
Nicht jedoch Veysi Yildirim:
Sowohl das Bundesamt als
auch das Verwaltungsgericht
lehnten seinen Asylantrag mit
der formalen Begründung ab,
er hätte diesen nicht innerhalb
der ersten drei Monate nach
seiner Einreise gestellt. Von
dieser Frist wußte er allerdings
nichts. Nun droht ihm die Abschiebung in die Türkei.
Deshalb trat Yildirim am
30.1.1997 mit zehn weiteren
Personen, denen ebenfalls die
Abschiebung drohte, in einen
unbefristeten Hungerstreik. Sie
forderten die Anerkennung als
politisch Verfolgte gemäß der
Genfer Flüchtlingskonvention,
einen Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge und ein
Ende der deutschen Waffenexporte in die Türkei. Für ihre
Aktion wählten sie einen Raum
mit großem Symbolgehalt und
hoher Aufmerksamkeit in der
Öffentlichkeit: die mittelalterliche Stadtkirche St.Petri mitten
in der Dortmunder Einkaufs-
zeile. Sie suchten von Anfang
an einen breiten UnterstützerInnenkreis, die Kooperation
mit den Gremien der evangelische Kirche und betrieben mit
Erfolg eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Neben überregionalen deutschen Medien
berichteten auch die türkischen Zeitungen Özgür Politika, Demokrasi und Hürriyet
sowie der prokurdische Sender
MED-TV zum Teil mit der Namensnennung von Beteiligten
über die Aktion.
Das zog weitere von Abschiebung bedrohte Kurden an. Die
Hungerstreikenden bildeten
einen Sprecherkreis und ließen
von den mehreren hundert
Anfragen weitere 40 Personen
an der Aktion teilnehmen.
Parallel dazu fanden öffentliche Veranstaltungen statt, die
auf die Lage der Hungerstreikenden, auf die Situation in
der Türkei und das deutsche
Asylrecht aufmerksam machten. Überraschend groß war
die Zahl der Solidaritätsbekun-
dungen aus ganz Deutschland
wie auch die praktische Solidarität vieler Dortmunder.
Durch die Vermittlung eines
Landtagsabgeordneten kam es
am 20. Februar zu einem Gespräch im Düsseldorfer Innenministerium, das mit der
Zusage endete, die zuständigen Ausländerbehörden zu
bitten, vor dem Vollzug der
Abschiebung "neue bzw. ergänzende Informationen zu
den einzelnen Sachverhalten"
anzunehmen und zu beachten.
Als ihnen diese Zusage schriftlich zuging, beendeten sie den
Hungerstreik nach 28 Tagen
am 26. Februar 1997.
Bis heute ist noch keiner der
Beteiligten abgeschoben worden. Von den Verwaltungsgerichten wird allerdings die
Frage, ob der Hungerstreik
eine exilpolitische Aktivität
"niedrigen" oder "hohen" Profils gewesen ist, unterschiedlich bewertet.
Ralf Wieschhoff
Abgeschoben,
verhaftet, mißhandelt, gefoltert, verschwunden ...
Dokumentation über die Gefährdung abgeschobener Kurdischer Flüchtlinge in
der Türkei.
Aus einem Bericht der Bundestagsabgeordneten Amke Dieter-Scheuer
Nur die Spitze des Eisbergs
sind nach Meinung der Bundestagsabgeordneten Amke
Dietert-Scheuer die vorliegenden Berichte über das Schicksal in die Türkei abgeschobener und dort weiterverfolgter
kurdischer Flüchtlinge. Teilweise erfolgte die Verfolgung
der Abgeschobenen aufgrund
politischer Aktivitäten, die im
Asylverfahren nicht berücksichtigt bzw. als unglaubwürdig dargestellt wurden.
Die Familie Abdurrahman und Ayse
Tekin floh im September 1993
aus Handak bei Cizre in die
Bundesrepublik. Ihr Asylantrag
wurde abgelehnt. Am 5. Januar
1994 wurde die Familie nach
Istanbul abgeschoben, unmittelbar am Flughafen von Polizeibeamten in einer Zelle in
einen Keller eingeschlossen.
Sie bekamen nichts zu essen
und wurden am darauffolgenden Tag verhört. Herr Tekin
wurde beschuldigt, die PKK
unterstützt zu haben. Zwar
wurde die Familie am Nachmittag freigelassen, doch bereits an der Busstation wurde
Herr Tekin von drei Männern
in Zivil in ein Auto gezerrt und
mit verbundenen Augen an
einen unbekannten Ort gebracht. Dort wurde er vierzehn
Tage in Einzelhaft gehalten. Er
wurde geschlagen, beschuldigt, ein Terrorist zu sein und
sollte Namen von PKKMitgliedern nennen. Bei den
Verhören wollten die Beamten
Informationen über seine Aktivitäten in Cizre und
Deutschland erhalten. Sie
schlugen ihn mit Fäusten und
einem Schlagstock, unterzogen
ihn der "falaka" (Schläge auf
die Fußsohle) und traten ihn.
Herr Tekin wurde mit verbundenen Augen in einen Wagen
gebracht und aus dem Auto
geworfen.
Bei der Rückkehr nach Cizre
stellte die Familie fest, daß sich
ihr Haus andere Personen angeeignet hatten. Diese weigerten sich, es zu verlassen.
Bei Auseinandersetzungen mit
der eintreffenden Polizei erlitt
Frau Tekin einen Nasenbeinbruch, vermutlich durch einen
Schlag mit einem Gewehrkolben.
Herr Tekin floh in den Irak,
von wo er 1995 aufgrund innerkurdischer Auseinandersetzungen erneut fliehen mußte.
Da seine Frau inzwischen erneut in die Bundesrepublik
geflohen war, folgte er ihr
wenige Monate später.
Murat Fani (geb. in Cizre) floh
21
KURDEN IM KIRCHENASYL
1989 nach Deutschland und
beantragte politisches Asyl. Er
war kulturell aktiv, sammelte
Spenden für die ERNK und
kandidierte für das Kurdische
Nationalparlament. Im Juli
1993 wurde seine Wohnung
durchsucht. Dabei soll die
Polizei einschlägige Literatur
und Spendenquittungen sichergestellt haben. Die türkische Tageszeitung "Hürriyet"
berichtete, daß die PKKVerantwortlichen von Landau
gefaßt worden seien, erwähnte
den Namen Fanis aber nicht.
Nach Ablehnung des Asylantrags wurde er und seine Familie am 17. März 1994 nach
Istanbul abgeschoben, wo
Beamte des BGS der Flughafenpolizei die Pässe der Familie
übergaben. Dort wurde die
Familie 24 Stunden lang festgehalten. Bevor die Familie
freigelassen wurde, mußte
Herr Fani einige Papiere unterschreiben. Herr Fani telefonierte mit einem Freund in
Istanbul, der versprach, die
Familie mit dem Auto vom
Flughafen abzuholen. Murat
Fani rief Verwandte in Mersin
an und kündigte die baldige
Ankunft der Familie an.
Noch vor Ankunft des Freundes kamen zwei Zivilbeamte,
fragten nach Murat Fani,
brachten ihn in einem Auto
fort und legten ihm eine Augenbinde an. Am folgenden
Abend wurde er bei seinem
ersten Verhör nach Kontakten
in Deutschland befragt.
Schließlich wurde Herr Fani
vorgehalten, laut "Hürriyet" sei
er in Lindau von der deutschen
Polizei verhaftet worden. Weil
er den Artikel kannte, legte er
dar, daß nicht er, sondern eine
Person aus Landau gemeint
sei. Er hingegen komme aus
Lindau.
Die Beamten wußten auch von
seiner Kandidatur für das Kurdische Parlament. Als Herr Fani
leugnete, wurde er als Lügner
beschimpft. Die Beamten bestanden darauf, daß er Namen
von führenden PKK-Aktivisten
in Europa nenne. Dabei sollen
sie, so Muart Fani, keine
"schlimme Folter" angewandt
haben. Er sei an den ersten
drei Abenden lediglich geschlagen worden. Dabei wurde
ihm ein Zahn zerbrochen. Am
9. Tag wurde er mit einer Augenbinde an einen dunklen Ort
22
gebracht und freigelassen.
Riza Askin (geb. in Tilkiler) floh
1993 in die Bundesrepublik.
Nach Ablehnung seines Asylantrages wurde er am 7. Februar 1994 nach Istanbul abgeschoben. Am Flughafen
wurde er verhört und durchsucht. In seinen Koffern fanden sich Kleidungsstücke und
andere Gegenstände mit PKKEmblemen. Er wurde daraufhin
verhaftet und einen Tag lang
mit Schlägen und Stromstößen
gefoltert, was vom Auswärtigen Amt bestätigt wurde.
Herr Askin unterschrieb ein
Geständnis und gab zu, in der
Bundesrepublik die PKK unterstützt zu haben. Er widerrief
dies jedoch eine Woche später
mit der Begründung, er sei
dazu gezwungen worden. Den
Koffer habe er nicht gepackt
und die Gegenstände kenne er
nicht. Den Koffer hätten Polizeibeamten in der Asylbewerberunterkunft gepackt. Herr
Aksin wurde zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9
Monaten verurteilt. Das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge hob
die Ablehnung seines Asylantrages inzwischen in seiner
Abwesenheit auf.
Gülizar Doruk wurde am 12. April
1994 mit ihren fünf Kindern ohne den Ehemann - von Hannover nach Istanbul abgeschoben. Dort wurden sie und ihre
Kinder 11 Tage in der Haftanstalt in unmittelbarer Nähe des
Flughafens festgehalten. Es
wurde Frau Doruk nicht gestattet, mit Verwandten oder
Vertrauenspersonen Kontakt
aufzunehmen oder einen Anwalt anzurufen. Sie wurde
wiederholt verhört und nach
dem Aufenthaltsort ihres Mannes befragt. Dabei wurde sie
vor den Kindern geschlagen,
bespuckt, beleidigt und bedroht. Die älteste Tochter wurde geschubst und geohrfeigt,
nachdem sie empört fragte,
warum ihre Mutter geschlagen
werde.
Nach elf Tagen wurde die Familie ohne Begründung freigelassen, nicht ohne den Kindern zu drohen, sie bis ans
Lebensende zu verfolgen und
nach ihrem Vater zu suchen.
Familie Doruk floh erneut nach
Deutschland. Der Asylfolgean-
trag wurde am 16.1.1997 gemäß § 51 (1) Ausländergesetz
positiv entschieden. Ausschlaggebend waren die Mißhandlungen in der Haft nach
der Abschiebung.
Ayhan Bugrahan (geb. Provinz
Bingöl) floh 1989 in die Bundesrepublik und beantragte
Asyl. Nach der Ablehnung zog
er seine Klage im Frühjahr
1993 zurück. Ende 1993 wurde Herr Bugrahan unter dem
Verdacht, Falschgeld verbreitet
zu haben, festgenommen. Er
stellte einen erneuten Asylantrag. Zwischenzeitlich wurde er
des Rauschgifthandels verdächtigt und im Juni 1994
nach Ablehnung des zweiten
Asylantrags nach Istanbul abgeschoben. Am Flughafen
wurde er zur Personalienfeststellung inhaftiert. Dort erklärte er, er habe in der Bundesrepublik Asyl beantragt.
Daraufhin wurde er in die Abteilung zur Bekämpfung des
Terrorismus gebracht. Dort
wurde er mit verbundenen
Augen verhört, ins Gesicht
geschlagen, getreten, bekam
nichts zu essen und zu trinken. Während der vierzehntägigen Haft wurde er mehrfach
u.a. mit Elektroschocks gefoltert, geschlagen und getreten.
Nachdem seine ausführliche
Personalakte eintraf, mußte er
am vierten Tag des Verhörs ein
Papier unterschreiben, dessen
Inhalt ihm nur teilweise vorgelesen wurde. Am 13. Juli
1995 erließ die Staatsanwaltschaft wegen vermeintlicher
PKK-Aktivitäten in der Bundesrepublik Haftbefehl. Ein
Gericht sprach ihn am
24.10.1995 frei. Unmittelbar
danach brachten Beamte ihn
zum Erfassungsbüro für den
Militärdienst. Nach zwei Tagen
Urlaub tauchte er unter.
Die alewitische, kurdische Familie Cengiz, Erdogan und Zeliha
Dogan wurde am 6. Juni 1995
von München nach Istanbul
abgeschoben. Die Schwester
von Herrn Dogan hatte sich in
der Türkei für die PKK eingesetzt. Herr Dogan, der in Pazarcik einen Bauernhof bewirtschaftete, hatte seine Waren sowohl an die PKK als auch
an die Armee verkauft. Aus
Angst vor politischer Verfolgung floh die Familie 1990
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44, Juli 1997
KURDEN IM KIRCHENASYL
nach Deutschland. Nach ihrer
Abschiebung wurde sie bereits
am Flughafen verhaftet und als
"kurdische Hunde", "Terroristen" und "Rotköpfe"
(Schimpfwort für Alewiten)
beschimpft. Erdogan und Cenzig Dogan wurden der "falaka"
ausgesetzt, dem Sohn brennende Zigaretten auf den Armen ausgedrückt. Herr Dogan
verlor durch die Schläge drei
Zähne. Durch
Bestechung gelang es der Familie, nach dreieinhalb Tagen
freizukommen. Anschließend
hielten sie sich bis zu ihrer
erneuten Flucht nach
Deutschland in Mersin versteckt. Das Behandlungszentrum für Folteropfer in Ulm,
bestätigte Herrn Dogan und
seinem Sohn Cengiz Folterspuren. Am 31.7.1996 erkannte das BAFL die Familie
nach § 51 AuslG als Flüchtlinge an.
Der inzwischen anerkannte
Asylbewerber "Rodi" aus Bremen (Name geändert) wurde
zweimal abgeschoben. Die
zweite Abschiebung am 17.
Februar 1995 erfolgte, obwohl
"Rodi" inzwischen mit einer
deutschen Frau verheiratet
war. Ihr gelang es, mit demselben Flugzeug nach Istanbul
zu fliegen und gleichzeitig traf
sein Vater aus Bingöl ein.
Während Verhöre am folgenden Tag bei der politischen
Polizei warteten beide Angehörige in der Nähe in einem
Auto. "Rodi" wurde heftig geschlagen und u.a. mit Elektroschocks und "bastonade" gefoltert. Er sollte Fotos von Teilnehmern der Besetzung eines
Bremer Vereins identifizieren
und mußte ein Protokoll unterschreiben. Er wurde - vermutlich aufgrund der Anwesenheit seiner Ehefrau - freigelassen.
Die kurdische Familie Zöhre,
Leyla und Mustafa Salikara wurde
am 28. November 1995 abgeschoben. Allein aufgrund ihrer
"Volkszugehörigkeit" bestehe
keine Verfolgung. Die Familie
wurde nach der Ankunft von
der Flughafenpolizei in Istan-
bul festgenommen, sechs
Stunden verhört und anschließend vorübergehend freigelassen. Um den Aufenthaltsort
des Vaters zu erfahren, verfolgten und bedrohten Sicherheitskräfte die drei kontinuierlich. Zöhre Salikara und ihre
Tochter Leyla wurden verhaftet
und gefoltert, damit sie den
Aufenthaltsort von Herrn Salikara preisgeben. Nach einer
Odyssee durch die Türkei gelang ihnen erneut die Flucht in
die Bundesrepublik.
Abdussemat Alper (geb. Provinz
Mardin) wurde am 22. Oktober
1996 mit seiner Frau und drei
Kindern nach Istanbul abgeschoben. Nach der Übergabe
durch deutsche Beamte wurden sie noch am Flughafen
über politische Aktivitäten in
Deutschland befragt. Dabei
wurden sie nach Angaben der
Ehefrau beschimpft und geschlagen. Als sie und die Kinder noch am selben Tag freigelassen wurden, habe man ihr
gesagt, ihr Ehemann sei "schon
längst frei". Sie habe stundenlang vergeblich vor dem Polizeigebäude gewartet und sei,
weil sie weder Papiere noch
Gepäck zurückerhalten habe,
tagelang sei sie dann in Istanbul umhergeirrt, bis sie Kontakt zu Angehörigen fand.
Diese waren nach der Zerstörung ihres Dorfes nach Midyat
geflohen und rieten ihr davon
ab, in die Heimatregion zurückzukehren, da sie nicht für
ihre Sicherheit garantieren
könnten.
Frau Alper hält sich seitdem
mit ihren Kindern in Istanbul
versteckt. Herr Alper ist verschwunden.
Hasan Kutgan, ein politisch in
keiner Weise aktiver Kurde,
kam 1992 nach Deutschland
und wurde am 20. Dezember
1996 abgeschoben. Bei der
Flughafenpolizei in Istanbul
beschuldigte ihn ein Kommissar als "Terrorist", weil in seinem Dorf im Januar 1992 ein
Offizier getötet worden war.
Unter starken Schlägen wurde
er gezwungen, angebliche
Aktivitäten für die PKK einzu-
gestehen. Später wurde er der
"bastnade" unterworfen, seine
Hoden wurden zerquetscht
und man drohte ihm mit weiterer Folter bei der politischen
Polizei. Daraufhin gab Hasan
Kutgan eine vermeintliche
Beteiligung an zwei Demonstrationen und Newroz-Feiern
zu. Ein Staatsanwalt ordnete
am folgenden Tag jedoch seine
Freilassung an. Trotzdem wurde er zur politischen Polizei
gebracht und dort mit verbundenen Augen zu seinen Aktivitäten befragt. Er behauptete
zunächst, das Geständnis unter der Folter abgegeben zu
haben. Daraufhin wurde er
brutal geschlagen. Man drohte
ihm, daß er aufgehängt werde,
Stromstöße erhalte und daß
ihm ein Polizeiknüppel in den
After gesteckt und er unfruchtbar gemacht werde. Da
ein Zellengenosse unter der
Folter übel zugerichtet worden
war, legte er erneut ein Geständnis ab. In den fünf Tagen
bei der politischen Polizei wurde er zweimal unter Schlägen
und "bastonade" verhört.
Auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft wurde er geschlagen und bedroht, weiter gefoltert zu werden, wenn er
seine Aussagen dort nicht
bestätigen würde. Auf Anraten
"politischer Angeklagter" widerrief er sowohl beim
Staatsanwalt als auch beim
Haftricher. Das Verfahren vor
dem Staatssicherheitsgericht
sollte im April 1997 beginnen.
Am 26. Februar 1997 wurde
der Kurde Abdulhalim Sis in die
Türkei abgeschoben. Die Maschine landete um 2.12 Uhr in
Istanbul. Bei einem Zwischenstop in Ljubljana meldete er
sich telefonisch bei Verwandten. Seitdem fehlt von ihm jede
Spur. Nachfragen bei den türkischen Sicherheitskräften
blieben bisher ergebnislos.
Herr Sis mußte seine hochschwangere Frau und vier Kinder in der Bundesrepublik
zurücklassen. Vor seiner Abschiebung beteuerte er mehrfach, daß gegen ihn in der
Türkei ein Haftbefehl bestehe.
Inländische Fluchtalternative in der Türkei
23
KURDEN IM KIRCHENASYL
Jutta Graf, Kölner Flüchtlingsrat
In den allermeisten Ablehnungsbescheiden kurdischer
Asylbewerberinnen und Asylbewerber wird zwar von den
drohenden Gefahren bei Rückkehr in die Notstandsprovinzen im Südosten der Türkei
gesprochen, jedoch gleichzeitig auf eine "inländische
Fluchtalternative" in den türkischen Großstädten bzw. im
Westen der Türkei verwiesen.
Deutsche Ausländerbehörden
und Innenministerien vertreten
schon lange den Standpunkt,
daß ihre Verantwortung für
das Wohl des Abgeschobenen
am Flughafen des Herkunftslandes ende. Man schiebe ja
nicht direkt in den Südosten
der Türkei ab, sondern nach
Istanbul, Ankara oder Izmir.
Dort könnten die Abgeschobenen ja bei Verwandten und
Freunden unterkommen. In
seinem jüngsten Lagebericht
vom März 1997 beurteilt das
Auswärtige Amt die Lage für
die Menschen, die versuchen,
im Westen der Türkei Fuß zu
fassen, wie folgt: "In einigen
Großstädten der Türkei (z.B.
Adana-Mersin) haben sich
Siedlungen von Türken kurdischer Volkszugehörigkeit gebildet, die zunächst wegen des
wirtschaftlichen Gefälles, in
den letzten Jahren aber
hauptsächlich in der Folge von
PKK-Terror und staatlicher
Repression ihre Dörfer im Südosten verlassen haben. In den
Kurden-Siedlungen kommt es
überdurchschnittlich häufig zu
Polizeirazzien mit zahlreichen
vorläufigen Festnahmen. Diese
sind Teil der Suche der Sicherheitskräfte nach PKKMitgliedern und Sympathisanten und führen nach zahlreichen plausiblen Darstellungen
immer wieder zu Übergriffen
der beteiligten Sicherheitskräfte. Aus der Sicht des Auswärtigen Amtes stellen diese
Vorgänge einen Teil der menschenrechtlich bedenklichen
Praktiken türkischer Sicherheitskräfte dar. Sie erlauben
jedoch nicht den Schluß, in der
Türkei gebe es für Kurden
generell oder für Kurden aus
dem südöstlichen Kurdengebiet oder auch nur für Kurden
aus den Notstandsgebieten
keine ‚innerstaatliche
Fluchtalternative‘mehr. Diese
Maßnahmen sind nicht ethnisch motiviert oder definiert.
Daran ändert nichts, daß an
den fraglichen Orten überwiegend (wenn auch keineswegs
nur) Kurden diesem Risiko
ausgesetzt sind."
"Menschenrechtlich bedenklich" ist diese Sicht des Auswärtigen Amtes angesichts der
erdrückenden Fülle von Berichten und Falldokumentationen des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) und
von amnesty international:
"Generell kann davon ausgegangen werden, daß Kurden,
die aus ihren Dörfern in den
Notstandsgebieten geflohen
sind, auch in Gebieten außerhalb der Notstandsgebiete
nicht mehr sicher vor Menschenrechtsverletzungen sind.
In den Großstädten, wie Istanbul, Ankara und Izmir, aber
auch in Mittel- und Kleinstädten, die zunehmend Ziel der
Fluchtbewegung aus dem
Osten sind, kommt es zu
Übergriffen der Sicherheitsheitskräfte gegen Kurden.
Immer seltener ist dabei konkret ein Tatverdacht gegen die
betroffene Person ausschlaggebend. Vielfach werden von
Kurden bewohnte Stadtteile
abgeriegelt und kurdische
Versammlungen und Feste
gestört und Personen willkürlich festgenommen. Die Festgenommenen berichten danach vielfach von Mißhandlungen und Folterungen während der Polizeihaft. (...) Vielfach reicht als Grund für eine
Festnahme aus, wenn aus den
Personaldokumenten hervorgeht, daß die betreffende
Person in den kurdischen Gebieten geboren wurde", heißt
es in einem Bericht von ai an
das VG München (7/96).
Einen kleinen Lichtblick am
Horizont stellt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 24. März 1997
dar. Im Fall eines 16jährigen
Kurden aus den Notstandsgebieten der Türkei urteilt das
BVG: "Soll der Asylsuchende
bei angenommener regionaler
Gruppenverfolgung auf eine
inländische Fluchtalternative
verwiesen werden, so setzt
dies verläßliche Feststellungen
darüber voraus, daß der Betroffene dort nicht in eine
ausweglose Lage gerät" (2 BVR
1024/95).
Materialien:
Zufluchtsort Kirche - eine empirische Untersuchung von Dirk Vogelskamp und Wolf-Dieter Just
über Erfolg und Mißerfolg von Kirchenasyl.
Die Studie belegt, daß in der Vergangenheit in 70% der Kirchenasylfälle Abschiebungen verhindert
werden konnten. Die Untersu-chung zeigt, daß immerhin in 16 Fällen von Kirchenasyl den Flüchtlingen nachträglich ein Schutz als politisch Verfolgte im Sinne des Grundgesetzes oder nach der
Genfer Flücht-lingskonvention (§ 51,1 AuslG.) zuerkannt wurde. (35 Seiten,
Schutzgebühr DM 5,-)
Bestelladresse: BAG Asyl in der Kirche, Kartäusergasse 9-11, 50678 Köln
Erstinformation "Kirchenasyl" - Die Broschüre des Ökumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche in
24
NRW vermittelt in sehr anschaulicher Weise wesentliche Informationen zum Thema Kirchenasyl. Zum Inhalt: Deutschland - unfreiwilliges Einwanderungsland - Die Situation von Flüchtlingen als
Herausforderung für Gemeinden - Leitgedanken des Kirchenasyls - Zur Legitimität von Kirchenasyl
- Ist Menschenrechtsschutz Rechtsbruch? - Die Praxis des Kirchenasyls - Kirchen-asylnetzwerke FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44, Juli 1997
KURDEN IM KIRCHENASYL
Literaturhinweise. (35 Seiten, Schutzgebühr DM 3,-)
Bestelladresse: BAG Asyl in der Kirche, Kartäusergasse 9- 11, 50678 Köln
Die Bundestreffen der Kirchenasylbewegung 1994-1997
Einmal im Jahr treffen sich AktivistInnen der Kirchenasylbewegung zur Beratung in der Ev. Akademie in Mülheim/Ruhr. Von dort gingen jeweils wichtige Impulse für die Praxis der Kirchenasylbewegung aus. Das diesjährige Treffen stand unter dem Motto: "Ohne Papiere, ohne Lobby, ohne
Schutz - Neue Herausforderungen für die Kirchenasylbewegung". (Gebühr für die Dokumentationen der Bundestreffen: je DM 7,-)
Bestelladresse: Ev. Akademie Mülheim an der Ruhr, Uhlenhorstweg 29, 45479 Mülheim/Ruhr
Adressen:
"Asyl in der Kirche" in den Bundesländern
Baden-Württemberg:
- Ragini Wahl
Im Malerwinkel 3
72622 Nürtingen
Tel.: 07022/4 47 52
- Johannes Flothow
Diak. Werk Württemberg
Heilbronner Str. 180
70191 Stuttgart
Tel.: 0711/1 65 62 83
Bayern:
- Gabriele Schönhuber
Heiterwanger Str.34
81373 München
Tel.: 089/ 7 60 58 02
- Walter Steinmaier
Äußere Sulzbacher Str. 144 b
90491 Nürnberg
Tel.: 0911/9 59 80 20
Berlin:
- Jürgen Quandt
Zossenerstr. 65
10961 Berlin
Tel.: 030/6 92 95 81
Brandenburg:
- Sabine Grauel DPWV
Rosa-Luxemburg-Str. 24
15230 Frankfurt/Oder
Tel.: 0335/6 83 29 24
Bremen:
- Friedrich Scherrer
Verein f. Ausländerarbeit
Elisabethstr. 17-18
28217 Bremen
Tel.: 0421/38 14 19
Pfarrei St.-Martin
Badener Str. 23
65824 Schwalbach
Tel: 06196/ 12 20
Niedersachsen:
- Sigrid Ebritsch
Diak. Werk d. Landesk. Hannover
Ebhardtstr. 3 a
30159 Hannover
Tel.: 0511/3 60 42 44
- Hildegard Grosse
Schwalbenweg 10
30966 Hemmingen
Tel.: 05101/4758
Nordrhein-Westfalen:
- Wolf-Dieter Just
Uhlenhorstweg 29
45479 Mülheim/Ruhr
Tel.: 0208/59906678
- Christoph Keienburg
Zum Amtswald 54
58644 Iserlohn
Tel/Fax: 02374/85 00 77
- Ralf Wieschhoff
Volmarsteiner Straße 2
44137 Dortmund
Tel.: 0231/124112
Rheinland-Pfalz:
- Ingrid Rössel-Marxen
Caritasverb. Diöz. Limburg
Graupfortstr. 4-5
65549 Limburg
Tel.: 06431/99 71 79
Sachsen:
- Dieter Braun
Paul-List-Str. 19
04103 Leipzig
Tel.: 0341/99 40 625
- Marianne Kurek
Karl-Heine-Str. 110
04229 Leipzig
Tel.: 0341/4 79 12 68
Sachsen-Anhalt:
- Christina Vater
Arbeitsstelle f. kirchl. Dienste
Hegelstr. 35
39104 Magdeburg
Tel.: 0391/5311471
Thüringen:
- Kerstin Kracht
Ev. Stadtmission
Alerheiligenstr. 9-10
99084 Erfurt
Tel.: 0361/6 42 20 90
- Ines Stephanowsky
Ev. Stift
99894 Rheinardsbrunn
Tel.: 03623/3 60 86 54
Hamburg/Schleswig-Holstein:
- Bettina Clemens
Diak. Werk Nordelbische Kirche
Königstr. 54
22767 Hamburg
Tel: 040/30 62 03 42
Hessen:
- Hans-Peter Labonte
25
KURDEN IM KIRCHENASYL
Tagungshinweise:
Studientage
zum Ökumenischen Jahr der "Solidarität mit den entwurzelten Menschen"
Vom 19. bis 21. September
1997 wird in der Evangelischen Akademie Iserlohn eine
Tagung zum Ökumenischen
Jahr der Solidarität der Kirche
mit den entwurzelten Menschen 1997 stattfinden. Sie
zieht eine erste Zwischenbilanz, weitet den Blick von der
in
Europa vorherrschenden Perspektive auf Asyl und Asylrecht
auf die Problematik weltweiter
Flucht- und Migrationsbewegungen, informiert über die
Aktivitäten kirchlicher interna-
tionaler Flüchtlings- und Migrationsprogramme, erkundigt
sich nach den Aktivitäten, die
das Programm in den Kirchen
der Ökumene ausgelöst hat
und fragt nach den Konsequenzen für die Kirchen in der
Bundesrepublik.
che), VertreterInnen von Kirchenasylinitiaiven aus der ganzen Bundesrepublik, MitarbeiterInnen der Flüchtlingssozialarbeit, der Kirchenkreise,
MitarbeiterInnen aus dem Bereich Mission und Ökumene
u.a.
Als ReferentInnen und TeilnehmerInnen werden u.a. dabei sein: Herbert Leuninger
(Pro Asyl, Europäischer Flüchtlingsrat ECRE), Wolf-Dieter Just
(Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kir-
Nähere Informationen bei:
Evangelische Akademie Iserlohn,
Katharina von Bremen,
Berliner Platz 12, 58638 Iserlohn.
und Mitglieder aus Kirchengemeinden
Anmeldung:
Evangelische Akademie Mühlheim an der Ruhr, Uhlenhorstweg 29,
45457 Mülheim
Studientag "Kirchenasyl"
am 8. November 1997
von 10 bis 17 Uhr
in der Evangelischen Akademie
Mülheim an der Ruhr
Informationen zum Thema und
Erfahrungsaustausch für Kirchenvorstände/Presbyterien
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Netzwerk Asyl in der
Kirche in NRW
Schützen Sie Flüchtlinge!
Unterstützen Sie die Arbeit der
Ökumenischen
B u nd e s a r b e i t s g e m e i n s c h a f t
Werden Sie Mitglied
im Förderkreis
Schutz für Flüchtlinge
in
derKirche
Der Jahresbeitrag beträgt 120 DM, ermäßigt
60 DM. Weitere
Informationen zur Mitgliedschaft im
Förderkreis
SCHUTZ FÜR FLÜCHTLINGE erhalten Sie bei
der
ÖKUMENISCHEN
BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT ASYL IN DER
KIRCHE
Kartäusergasse 9-11, 50678 Köln
Tel. 0221-3382-281; Fax 0221-3382-103,
e-mail:
106566.2720@compuserve.com
Spendenkonto: Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche/BAG
Konto-Nr. 6462014 Stadtsparkasse Köln, BLZ 37050198
26
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
Die folgende Übersicht über die Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Hannoverschen Kirchenasyl für Nigerianer ist von Regina Andresen zusammengestellt worden. Für diese mühsame Arbeit an dieser Stelle herzlichen Dank. Der Schwerpunkt liegt auf der Rückkehrgefährdung. Diese Zusammenstellung stellt ein Handbuch und ein Arbeitsmittel dar für alle, die sich über Zusammenhänge und Abläufe informieren oder weiter
engagieren wollen. Red.
„Nigerian
Association in Niedersachsen“(NAN)
c/o Afrika-Zentrum Niedersachsen e. V., Im Moore 26, 30167 Hannover
Gründungsdatum: 30.01.1996
NAN ist eine prodemokratische Organisation der nigerianischen Opposition.
NAN ist Mitglied der internationalen Oppositionsbündnisse „Global Network of Nigerian Organisations“
(GNNO), geleitet von Prof. Julius Ihonvbere, Texas und „National Liberation Council of Nigeria“
(NALICON), geleitet von Prof. Wole Soyinka.
Seit der Gründung und aufgrund der exponierten politischen Aktivitäten hat die NAN bundes- und weltweite Anerkennung erreicht.
Im Zusammenhang mit ihren Aktivitäten wird die NAN durch den Geheimdienst nigerianischer Behörden in
Deutschland überwacht. (S. Kennzeichen D, 19.03.97)
1. Durchgeführte Aktivitäten und Mitwirkung der NAN: 1996
1.
10.05. - 12.05.1996
07.06. - 09.06.1996
„Which Way Nigeria“
Resolution
Nigeria-Tagungen unter
NAN-Mitwirkung
2.
12. 06.1996
3.
20. 06.1996
4.
28.07. - 16.08.1996
5.
14. 09.1996
Demonstration und Protestkundgebung
- anläßlich der Annullierung der
Wahl M. K. O. Abiola, 1993 und
- Protest wegen der Ermordung
von Kudirat Abiola (der Ehefrau
des Gewinners o. g. Wahlen)
Teilnahme der NAN
„Politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in Nigeria“
Gastredner: Prof. Julius Ihonvbere,
Texas/USA
NAN-Veranstaltung
„Flucht in die Kirche“
von
22 NAN-Mitgliedern
„Auswirkungen der Militär-diktatur
auf die politische Entwicklung in
Nigeria“
Gastredner: Dr. Kayode
Fayemi, London
NAN-Veranstaltung
Hannover
Volkshochschule Hannover
Überwachung durch Teilnehmer:
SSS-Chef Simon Eze, nigerianischer
Generalkonsul, Berlin
(s. Kennzeichen D, 19. 03.97 )
Bonn
- vor der Vertretung der
europ. Kommission und
- vor der nigerianischen
Botschaft, Bonn, Goldbergweg
Die Kundgebung wurde von nigerianischen Sicherheits-behörden dokumentiert.
Hannover
Universität Hannover
Hannover
Gerhard-Uhlhorn-Gemeinde,
- Solidaritätsbriefe
a) bundesweit
b) USA, Kanada, GB, Dänemark, Niederlande,
Süd-Afrika, Europaparlament
Hannover
Universität Hannover
Durchgeführte Aktivitäten und Mitwirkung der NAN: 1996
6
88
04.11. - 12.11.1996
Ken-Saro-Wiwa-Woche
Podiumsdiskussion 06.11.1996
„Nigerianische Flüchtlinge berich-
Köln
Bürgerzentrum
Universität
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
noch 04.11. - 12.11.1996
7.
10.11.1996
8.
10.12.1996
ten über ihre Situation“
Teilnahme von NAN an der Podiumsdiskussion
und weitere Teilnahme am Programm
Hannover, Hildesheimer Str.
Kundgebung und Demonstration
(Es liegen Beweise vor, daß Shell
gegen Shell
und das nigerianische Regime kollaborieren. Daher ist es nicht auszuNAN in Zusammenarbeit mit der
schließen, daß diese DemonstratioGesellschaft für bedrohte Völker,
nen registriert und an das Regime
Göttingen
weitergeleitet werden.)
s. KONKRET 1/97
s. Die Zeit vom 31.03.97
Jena
HUMAN RIGHTS DAY, Jena
- Infostände
„Free Beko- Freedom for the
- Menschenrechtsdemo
human right activists“
„Free Beko - Freedom for
organisiert von:
the human right activists“
Ausländerbeirat der Stadt Jena/Büro
der Ausländerbeauftragten, JugendAktions- und Projektwerkstatt (JAPS) Universität
- u. a. Prof. Dr. Martina Haedrich
ran e. V., DGB Jugend Thüringen,
FSU, (zu Menschenrechten)
The voice - force of the mind ...
- Nigeria nach Ken-Saro-Wiwa:
UnterstützerInnen
Wer ist Dr. Beko Kuti
Africa, Assemly, Camerun Nigeria,
Togo, Zaire Associations, Asyl e. V.
ai, Jena, Eine Welt Haus, Jena, Ev.
Jugendarbeit, Referat ausländer des
StuRa der FSU, Weißdorn e. V.
Teilnahme der NAN
2. Veröffentlichungen/Informationen der NAN: 1996/1997
1.
2.
3.
4.
5.
10.04.1996
08.05.1996
12.05.1996
08.06.1996
25.06.1996
Nigeria: Die wahre Geschichte
NIGERIA
Politisches Asyl in Niedersachsen
Update on Nigeria Nr. 1/96
Presse- und Meinungsfreiheit in Nigeria?
Info Nr. 1
Allgemeine Information
6.
7.
20.07.1996
19.08.1996
Info Nr. 3
Info Nr. 4
8.
15.01.1997
9.
21.02.1997
Nigeria update
Politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in Nigeria
Informationen/Kommentare der NAN zu
den jüngsten Ereignissen in Nigeria
Terrorismus in Nigeria zwischen Januar
1996 und Januar 1997
Information release
Info Nr. 2
Info Nr. 5
Info Nr. 6
3. Protestbriefe der NAN: 1996
1.
20.04.1996
2.
06.06.1996
3.
10.11.1996
an General Abacha
„Freilassung der Gefangenen“
an Bundeskanzler Kohl
„Ermordung von Kudirat Abiola“
an General Abacha
„Zur Situation der Ogonis“
4. Zeitungsveröffentlichungen über NAN - Ausland: 1996/1997
1.
31.07.1996
2.
00.11.1996
National Concord
Nigerianische Tageszeitung
Nigera now
London
„Germany to deport 22
Nigerian youth“
„Refuge in the Church“
The story of the Nigerian Association in Lower Saxony, Germany
89
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
3.
25.11.1996
Thisday
Nigerianische Tageszeitung
u. a.
Veröffentlichung
aller Namen der 22 Oppositionellen in der Kirche
Zusammenarbeit mit Wole Soyinka
4.
27.01.1997
Thisday,
Nigerianische Tageszeitung
u. a.
Nigerianer wieder in der
Kirche
Dadurch hat die NAN eine weltweite Öffentlichkeit erlangt.
Alle Aktivitäten (sind) werden von dem nigerianischen Regime durch die nigerianische Botschaft in Bonn
und das nigerianische Konsulat in Berlin überwacht und registriert. (S. Kennzeichen D, 19.03.1997)
5. Briefe zur Rückkehrgefährdung der NAN - Ausland: 1996/1997
1.
2.
90
05.09.1996
01.10.1996
3.
22.11.1996
4.
06.01.1997
5.
16.01.1997
CLO
Civil Liberties Organization
Lagos/Nigeria
von Abdul Oroh, Geschäftsführer CLO
- Innenministerkonferenz
- Innenminister der BRD
- alle Parlamentsfraktionen des
Deutschen Bundestages
- alle Parlamentsfraktionen der
Landtage der Bundesrepublik
- Bundesaußenminister der
Bundesrepublik Deutschland
- Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge
- Regierung der Bundesrepublik
Deutschland
- amnesty international
- Pro Asyl
- Institut für Afrikakunde
- Presse und Medien
Brief von Prof. Wole Soyinka
Betr.
In Sachen Asylbewerber
s. HAZ von 07.09.1997
„[...] Abgeschobene Asylbewerber
würden in dem westafrikanischen
Land monatelang inhaftiert, geschlagen und gefoltert.
„[...] in Hannover besuchte der Menschenrechtler die „Nigerian Assosiation in
Niedersachsen.“
„Politisches Asyl
- an das
Niedersächsische Innenministerium
Herrn Glogowski, Hannover
für 22 Nigerianer
in der Kirche“
Brief von Olisa Agbakoba
Rechtsanwalt von Ken Saro Wiwa - Mitbegründer der CLO Lagos, Nigeria
- an Herrn Peter Donatus
- an Frau Christa Nickels (MdB) und den
- Botschafter der Bundesrepublik
Deutschland
MOVEMENT FOR THE SURVIVAL OF THE
OGONI PEOPLE (MOSOP)
Lazarus Tamana,
Präsident MOSOP, London
an:
- Ministerpräsident, Herrn Gerhard Schröder
- Nieders. Innenministerium, Herrn Glogowski
- Präsident des Nieders. Landtages
- Oberbgm. Herrn Herbert Schmalstieg
- Präsident des Verwaltungsgerichts
Brief
Embassy of the United States of Amerika,
Bonn
zur
Situation der 22 nigerianischen
Aktivisten in Niedersachsen
Appell
Mitglieder der Nigerian
Association in Niedersachsen nicht
abzuschieben
u. a.
Granted an indefinate stay in
Germay pending the improvement
in the human rights an the political
situation in Nigeria
u. a.
- Verurteilung des Abacha
Regimes
- Sanktionsforderungen
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
- Einklagung der Menschenrechte in Nigeria
Alle Aktivitäten (sind) werden von dem nigerianischen Regime durch die nigerianische Botschaft in Bonn
und das nigerianische Konsulat in Berlin registriert.
- an die NAN
6.
1.
Lagebericht des Auswärtigen Amtes 19.11.1996
19.11.1996
Lagebericht
Auswärtiges Amt
„[...]
Im Einzelfall kann staatliche Verfolgung bei denjenigen nicht ausgeschlossen werden, die sich aktiv
politisch gegen das Militärregime
engagieren, insbesondere zu seinem
Umsturz aufrufen, sofern diese Aktivitäten den nigerianischen Behörden
bekannt sind oder bekannt werden.“
s. Kennzeichen D, 19.03.97
t. Seite 1 Punkt 1, Which Way
Nigeria, Simon Eze
7.
NAN-Dokumentation:
Archiv: NAN, Im Moore 26, 30167 Hannover
Pressespiegel
In- und Ausland
Fernsehen
In- und Ausland
Rundfunk
In- und Ausland
u. a. CNN, BBC,
Radio Kudirat, Nigeria
u. a. Statements
der NAN-Mitglieder
n zum Asylgesuch
n Verurteilung des AbachaRegimes
u. a. Statements
der NAN-Mitglieder
n zum Asylgesuch
n Verurteilung des AbachaRegimes
u. a. Statements
der NAN-Mitglieder
n zum Asylgesuch
n Verurteilung des AbachaRegimes
n Abdul Oroh, CLO
Zur Situation abgeschobener
Flüchtlinge in Nigeria
Daher besteht erhebliche Gefahr für Leib und Leben abgelehnter Asylbewerber,
die als Oppositionelle das Regime bekämpfen.
8.
Jüngste Entwicklung NAN: ab 1997
1.
seit dem
07.01.1997
erneutes Kirchenasyl
von 12 Mitgliedern der NAN
in 4 verschiedenen Kirchengemeinden,
Hannover
Hannover
Gerhard-Uhlhorn-Gemeinde
Bethlehem-Gemeinde
St. Nikolai-Gemeinde
St. Martin-Gemeinde
2.
17.01.1997
Offener Brief an
Nieders. Innenminister
Herrn Glogowski, Hannover
n und Presseerklärung
aus Göttingen
„Nigerianische Flüchtlinge nicht
abschieben“
u. a.
n von der Gesellschaft für
bedrohte Völker, Göttingen
(...) „Wir apellieren an Sie, sehr
geehrter Herr Minister, von einer Abschiebung der Flüchtlinge abzusehen,
da ihr Leib und Leben im Falle einer
91
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
⇒ ⇒ ⇒
3.
21.01.1997
4.
21.01.1997
5.
24.01.1997
6.
25.01. 26.01.1997
7.
30.01.1997
7.1
30.01.1997
8.
11.02.1997
9.
11.02.1997
10.
14.02.1996
11.
92
Demonstration , Hannover
UnterstützerInnenkreis, JANUN, AfrikaInitiative Hannover e. V., Afrika-Zentrum
Nds. e. V. Kirchen, Solidarität International, Freundeskreis Taambacounda
e. V, Iranische Gemeinde, Parteien,
Schulen NAN
Die Rolle der Frau in der Politik
in Afrika am Beispiel der Bundesrepublik Nigeria
Mitveranstalter: NAN
„Radio Kudirat“
Untergrund-Oppositonsradio
Seit der Einrichtung des Untergrundradios hat die UDFN zahlreiche Maßnahmen zur Aufklärung über die kritische
politische Lage in Nigeria unternommen.
Das Untergrundradio will einerseits wichtige Nachrichten über pro-demokratische
Aktivitäten den Menschen in aller Welt
übermitteln und diese unter der allgemeinen Bevölkerung in Nigeria verbreiten.
„Free-Beko-Kuti-Kampagne“
Gastredner:
Dr. Kayode Fayemi, London
NAN-Veranstaltung
Besuch von 2 Nigerianern
George Tombri und Mattew Fobora in
der nigerianischen Botschaft in Bonn
zwecks Ausstellung von Reisepässen für
die Weiterwanderung nach Kanada
- in Begleitung von Herrn Helmut Lippelt
MdB, Bünd.90/Die Grünen
- Frau Hulle Hartwig, Frau Sigrid
Leuschner, SPD, MdL Hannover,
- Peter Donatus, (UDFN) Aachen
Übergabe der NAN-Resolution durch
Peter Donatus, UDFN-International, Aachen
„Marsch für Schutz in Hannover“
initiiert von Organisationen der prodemokratischen Oppositions-bewegung Nigerias in Deutschland
CoNDiG, CD, MODEN, CLW, The
Voice/JAPS, Africa Assembly, Free-BekoKuti-Campaign, Nigeria-Aktionsbündnis,
UDFN, NAN etc.
Proteste International
13.00 Uhr (Ortszeit)
„Konzert für Freiheit“ NAN
UnterstützerInnenkreis der
nigerianischen Flüchtlinge, Hannover
17.02.1997
ai Kurzreferat
1. Nigeria Bunvon Christian Kühnel, ai,
deskongress der Bezirk Karlsruhe
„United democra- - Referat für politische Flüchtlinge tic front“ UDFN
- German Section „Schutz für Flüchtlinge aus
Nigeria“
-
Abschiebung ernsthaft gefährdet
wäre.“
Hannover
„Bleiberecht statt Folter für die
22 oppositionellen
Nigerianer“
600 TeilnehmerInnen
Hannover
Universität
Café International
in Nigeria
20 Min. Sendebeitrag
NAN - u. a. Aufruf zum Umsturz
des Regimes
u. a., Elias Dunu, Peter Donatus Pastor
Frank Peter Schulz
Ausstrahlung: täglich
Nigeria, Westeuropa, Amerika und
Australien:
täglich 20.05 - 21.05 (MEZ)
6205 KHZ (49 Meterband)
Hannover
Bildungsverein e. V., Hannover
Bonn:
Ausstellung von Reisepässen Nigerianische Botschaft
Die nigerianische Botschaft verweigert
die Ausstellung von Reisepässen
Übergabe der NAN-Resolution
- Annahme in Botschaft verweigert
Hannover, Protestmarsch
„Schutz für nigerianische
Oppositionelle“
- Übergabe eines Appells
a) Innenministerium
b) Oberbürgermeister
c) Statement Heidi LippmannKasten, Bündnis 90/Die Grünen
Proteste International
Proteste vor den diplomatischen Vertretungen
- der Bundesrepublik Deutschland,
- vor der Botschaft in London,
- Washington und vor dem
- Konsulat in Houston, Texas
Hannover
Konzert Unterstützung oppositioneller
Mitglieder der NAN
Hannover anläßlich des ersten
Nigeria Bundeskongresses der
„United democratic front“
UDFN - German Section
vom 21. - 23.02.1997
„[...] Seite 3: Denn nach übereinstimmenden Berichten der nigerianischen
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
vom 21. 23.02.1997
noch 21. 23.02.1997
n Grundlage ai-Gutachten
bezüglich der Rückkehrgefährdung nigerianischer
Flüchtlinge nach Ablehnung
ihres Asylantrages.
Verfahren 8 E 1815/96.A (3),
an VG Kassel
vom 9. Januar 1997
Index AFR 44-96.289
von ai Bonn
12.
21.02.1997
Brief vom Diakonischen Werk der ev.
Kirche, Stuttgart
von Dr. h. c. Hans-Otto Hahn
- an den Innenminister des
Landes Niedersachsen
Herrn Gerhard Glogowski
Lavesallee 6
30169 Hannover
⇒ ⇒ ⇒
Menschenrechts-organisationen im Exil
muß davon ausgegangen werden, daß
die
Exil-Oppositionellen in Europa von
den nigerianischen Botschaften beobachtet werden,
die ihre Erkenntnisse nach Nigeria weiterleiten. Diesen Berichten zufolge soll
zudem in den vergangenen Monaten
eine erhöhte „Reisetätigkeit“ in Europa
von Beamten nigerianischer Sicherheitsdienste verzeichnet worden sein.
s. Kennzeichen D, ZDF,19.03.1997
aus Stuttgart
„[...] ..ohne alle 22 Fälle der Asylsuchenden im einzelnen zu kennen
müssen wir mit großer Deutlichkeit feststellen: Wer in Nigeria im Zusammenhang mit der Erdölpolitik der
dortigen Regierung als Kritiker aufgefallen ist, der kann seines Lebens
nicht mehr sicher sein. Solange unser
Asylrecht sein vornehmstes Ziel, nämlich
bedrohtes Leben zu
schützen, noch anerkennt, dürfen solche Antragsteller nicht abgewiesen
werden.
Stellungnahme ai, Bonn bezüglich Rückkehrgefährdung der NAN-Mitglieder: 1997
13.
24.02.1997
Stellungnahme von ai, Bonn
Susanne Jesih
Referat für politische Flüchtlinge
- auf Anfrage von Rechtsanwältin
Schröder vom 06.02.1997
Betr. Rückkehrgefährdung von
Mitgliedern der „Nigerian
Association Niedersachsen“
Antwort auf die Anfrage,
a) ob eine Rückkehrgefährdung für
die sich in Hannover im
Kirchenasyl befindenden
Mitgliedern der „Nigerian
Association in Niedersachsen“
besteht?
b) ob eine Gefahr für Oppositionelle,
die sich in der Anti-RegimeBewegung im Exil organisiert
haben, die zum Umsturz des
Regimes aufruft, besteht.
von ai, Bonn u. a.
Zur Einreise mit TC nach Nigeria: „[...]
S. 2 ...durch Befragung herauszufinden,
welcher Art die im Ausland im Asylverfahren gemachten Angaben waren. Da
mit der Darstellung derartiger Gründe in
der Regel Kritik an der nigerianischen
Regierung geübt wird, können die Angaben eines Asylbewerbers durchaus
von Bedeutung sein. Von entscheidender Bedeutung für die weitere
Behandlung, z. B. eine drohende Inhaftierung, ist dabei, ob der Rückkehrer
als sog. „Sicherheits-risiko“ für die
Regierung einzu-stufen ist. Als solchen
können Rückkehrer z. B. dann angesehen werden, wenn
ihr Verhalten im Ausland geeignet
war, das Ansehen des nigerianischen Staates zu beschädigen (etwa
durch „Verunglimpfung“ der Regierung
im Rahmen exilpolitischer Tätigkeiten.)
(Seite 3) Die Mitgliedschaft und Beteiligung in einer exilpolitischen Oppositionsgruppe kann - bei deren Bekanntwerden in Nigeria - ebenfalls zur Einstufung als Sicherheitsrisiko geeignet
sein.
Vor diesem Hintergrund kann im Falle
Ihrer Mandanten, die Ihren Angaben
zufolge alle in exponierter Stellung
für die NAN und gegen das nigeria93
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
⇒
nische Regime hier in Deutschland
tätig waren, davon ausgegangen
werden, daß den nigerianischen Behörden die Aktivitäten ihrer Mandanten bekannt geworden ist. Den beigefügten Unterlagen ist zu entnehmen,
daß über die sich in Hannover im
Kirchenasyl befindenden NAN-Mitglieder in einigen nigerianischen
Zeitungen berichtet wurde.
⇒
Aufgrund der sehr großen Öffentlichkeitswirksamkeit dieser Fälle
nicht nur in den deutschen Medien
dürfte die nigerianische Regierung
ein nicht unerhebliches Interesse
daran haben, dieser Personen habhaft zu werden.
⇒
Jüngste Entwicklung NAN: ab 1997
14.
19.03.1997
15.
19.03.1997
16.
11.03.1997
Kennzeichen D, ZDF
- u. a. Kirchenasyl Hannover,
- Sanktionsbruch
- Geheimdienst Deutschland und
London
ACP-EU Joint Assembly
„Konzert für Freiheit“ NAN
UnterstützerInnenkreis der nigerianischen
Flüchtlinge, Hannover
Kurzer Prozeß
u. a. Simon Eze
s. o. Which Way Nigeria Überwachung
durch Teilnehmer: SSS-Chef Simon
Eze, nigerianischer Generalkonsul
s. parlamentarische Initiativen
Europaebene
Hannover
Konzert für oppositionelle Mitglieder der
NAN
9. Parlamentarische und sonstige Initiativen 1996/1997
9.1 - auf Landesebene
1.
18.11.1996
Brief die Mitglieder des Innenausschusses des Bundeslandes Niedersachsen
Nds. Landtag, 30044 Hannover
- von Christa Nickels
(MdB), Bonn
Betr. Drohende Abschiebung
von 16 Nigerianern
⇒
1. Schreiben des Außenministers
Dr. Klaus Kinkel vom 31.10.1996
2. Entschließung des Europäischen
Parlaments vom 13.11.1996
u. a. zur
• - zwangsweisen Vorführung bei der
nigerianischen Botschaft
• - Abschiebestopp:
Nds. Landtag hat auf seiner Sitzung vom
13.11.1996 einen Antrag auf Abschiebestopp von nig. Flüchtlingen nicht abgelehnt, sondern an den Ausschuß zurücküberwiesen.
11.11.1997 Bundestagsfraktion: ausführliches
Gespräch mit Prof. Wole Soyinka in Bonn.
„[...] für uns aufschlußreichen Unterhaltung
betonte Herr Soyinka ausdrücklich, daß aufgrund der
lebensbedrohenden Situation keine Abschiebung der 16 nach Nigeria stattfinden
darf.“
- 31.10.1996 Kinkel antwortet auf das
Schreiben von Christa Nickels vom 15.10.1996
zur Lage in Nigeria unter Beilage des „Bericht
der Bundesrepublik zur Lage in Nigeria“ vom
16.09.1996)
„[...] Im Einzelfall kann staatliche Verfolgung
bei denjenigen nicht ausgeschlossen wer-
94
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
⇒
den, die sich aktiv politisch gegen das Militärregime engagieren, insbesondere zu
seinem Umsturz aufrufen, sofern diese Aktivitäten den nigerianischen Behörden bekannt sind oder bekannt werden.“
s. Kennzeichen D, 19.03.1997
⇒
95
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
Parlamentarische und sonstige Initiativen 1996/1997
- auf Landesebene
2.
19.02.1997
Niedersächsischer Landtag
13. Wahlperiode
Ausschuß für
Innere Verwaltung
Beschlußempfehlung
(Drs. 13/2697)
Antrag der Fraktion
Bündnis90/Die Grünen
a) Abschiebestopp für
nigerianische Flüchtlinge
(Drs. 13/2144)
b) Sofortige Aussetzung von
aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen für nigerianische
Flüchtlinge (Drs. 13/2653)
Der Ausschuß für innere Verwaltung empfiehlt
dem Landtag, die Anträge in folgender Fassung anzunehmen:
„Entschließung“
[...] s. Punkt 4
Der Niedersächsische Landtag
fordert den Bundesaußenminister
Kinkel dazu auf, die
Lageberichte des auswärtigen
Amtes mit seinen politischen
Erklärungen zur Menschenrechtslage in Nigeria in
Übereinstimmung zu bringen.
Diese Lageberichte bilden die
entscheidende Grundlage für die
Prüfung und Anerkennung der
Asylanträge nigerianischer
Flüchtlinge - auch in Nieders.
... Nur auf diesem Wege können
Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus Nigeria eine rechtsstaatliche Grundlage für ihren
Aufenthalt in Niedersachsen und
in der Bundesrepublik Deutschland
erhalten.“
[...] s. Punkt 6
Der Niedersächsische Landtag
begrüßt, daß sich der Niedersächsische Innenminister auch nach
der Ablehnung eines bundesweiten
Abschiebestopps für nigerianische
Flüchtlinge sich weiterhin um die
Klärung der Menschenrechtssituation
in Nigeria gegenüber dem Bundesaußenministerium bemüht.
1. Es befinden sich 12 NAN-Mitglieder seit dem 07. Januar 1997 in 4 verschiedenen
Kirchengemeinden in Hannover im Kirchenasyl.
2. Erneuter Beweis für das brutale Vorgehen des Militärregimes:
12.03.1997 Prof. Wole Soyinka und 14 andere wegen Hochverrats angeklagt
3. HAZ vom Mittwoch,16.04.1997
Die UN-Menschenrechtskommission (15 EU Mitgliedsstaaten)
„[...] Die UN-Menschenrechtskommission in Genf hat NIGERIA wegen fortgesetzter
Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Alle politischen Gefangenen,
Gewerkschaftsführer und Menschenrechtsaktivisten müßten freigelassen werden,
heißt es in einer am Dienstag mit 28 Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen und 19
Enthaltungen angenommenen Resolution.
Der Präsident der Kommission wird aufgefordert, zur weiteren Beobachtung der
Menschenrechtssituation einen Sonderberichterstatter für Nigeria zu ernennen.“
9. Parlamentarische Initiativen 1995/1996/1997
9.1, auf Landesebene s. o.
9.2 auf Bundesebene 1995/1996
1.
96
30.11.1995
Antrag aller Fraktionen im Bundestag
(Drucksache 13/3178)
- Dr. Wolfgang Schäuble,
Michael Glos und Fraktion
- Rudolf Scharping und Fraktion
- Joseph Fischer (Frankfurt)
Kerstin Müller (Köln) und Fraktion
- Dr. Hermann-Otto Solms
und Fraktion
„Rückkehr zur Demokratie
in Nigeria“
u. a. „[...] Der Deutsche Bundestag fordert die
Bundesregierung auf:
- die politische Entwicklung in Nigeria kritisch
zu beobachten und das Parlament im März
1996 umfassend über die Bemühungen zur
Wiederherstellung der Demokratie in Nigeria zu
unterrichten.“
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
2.
26.03.1996
3.
11.04.1996
Landtag Brandenburg:
Antrag der Fraktion der SPD
(Drucksache 2/2395)
Wolfgang Birthler und Fraktion, SPD
Deutscher Bundestag
Unterrichtung durch die Bundesregierung
(Drucksache 13/4327)
4.
04.10.1996
Antwort
der Bundesregierung auf die
- Kleine Anfrage
von 44 Abgeordneten
im Bundestag
(Drucksachen
13/5518, bzw. 13/5693)
„Zur Menschenrechtslage
in Nigeria“
„Bericht über die Bemühungen zur Wiederherstellung der Demokratie in Nigeria“
„[...] Seite 3
Die Bundesregierung wird sich darum bemühen, daß es im Rahmen der VNMenschenrechtskommission zu einer Verurteilung Nigerias und zur Einsetzung eines Sonderberichterstatters kommt.
Außerdem werden die CommonwealthLänder, die Nigerias Mitgliedsschaft bei
ihrer letzten Gipfelkonferenz suspendiert
hatten im April ihre Haltung zu Nigeria überprüfen. Unser Interesse liegt darin, auch diese
Länder und darüber hinaus die afrikanischen
Staaten in eine gemeinsame internationale
Front gegen Menschenrechtsverletzungen und
zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Nigeria einzubinden.“
„Lage in Nigeria und
drohende Abschiebung
nigerianischer Flüchtlinge.“
Frage 5
„[...] Womit müssen Nigerianer nach Erkenntnissen der Bundesregierung rechnen, die das
Militärregime im Lande selbst oder im Ausland,
z. B. in Deutschland, kritisiert haben?“
Antwort auf Frage 5
„[...] Mit Verfolgung durch die staatlichen Sicherheitsorgane müssen allerdings diejenigen
Nigerianer rechnen, die im Lande selbst oder
im Ausland zum Sturz des Regimes aufrufen oder einer Organisation angehören, die
dieses Ziel propagiert.
auf Bundesebene 1996
5.
05.12.1996
Interfraktioneller
Entschließungsantrag
(Drucksache 13/6418)
der Abgeordneten
- Christa Nickels
- Gerd Poppe
- Amke Dietert-Scheuer
und der Fraktionen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
CDU, CSU, FDP und SPD
Hannover ⇒ ⇒
Aufnahme
18 Ogonis
⇒ humanitäre Gründe
6.
05.12.1996
Entschließungsantrag
„Zur drohenden Todesstrafe von 18
Ogoni in Nigeria.“
„[...] Der Deutsche Bundestag fordert
die Bundesregierung auf:
1. umgehend für die Dauer des Prozesses
einen offiziellen Prozeßbeobachter der Bundesregierung nach Port Harcourt zu entsenden,
der auch den Bundestag über den Verlauf des
Prozesses informiert.
2. die Bereitschaft der Bundesländer Sachsen,
Sachsen-Anhalt, Thüringen, SchleswigHolstein und Nordrhein-Westfalen, sowie der
Städte Hannover, Ulm und Neu-Ulm bezüglich
Aufnahme und Schutz der 18 Ogoni aufzugreifen und das Bundesministerium des Inneren mit der Prüfung der Frage zu beauftragen,
ob ihre Aufnahme in die Bundesrepublik aus
humanitären Gründen nach § 33 des AuslGesetzes möglich ist, und anschließend der
nigerianischen Regierung das Angebot zu
machen, die 18 Ogoni in Deutschland aufzunehmen.
„Zur Abgabe einer Erklärung der Bundesre97
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
noch
05.12.1996
der Fraktionen CDU/CSU/SPD
BÜNDINIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
(Drucksache 13/6417)
- Dr. Wolfgang Schäuble,
Michael Glos und Fraktion
- Rudolf Scharping und Fraktion
- Joseph Fischer (Frankfurt)
Kerstin Müller (Köln) und Fraktion
- Dr. Hermann-Otto Solms
und Fraktion
⇒ bis März 1997
gierung zur Menschenrechtspolitik in den
auswärtigen Beziehungen.“
u. a.
„[...] Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß
ein ernstzunehmender Wandel bei der nigerianischen Militärregierung derzeit nicht zu erkennen ist und fordert die Bundesregierung deswegen auf
1. weitere Initiativen zur Umsetzung
der Forderungen des Deutschen
Bundestages vom 30.11.1995 zu
ergreifen und dem Deutschen
Bundestag bis März 1997 erneut
über die Aktivitäten und Ereignisse
zu berichten.“
Hinweis:
März-Drucksache liegt mir noch
nicht vor
auf Bundesebene 1996
7.
05.12.1996
Mündliche Anfrage
„Zur Rückkehrgefährdung
der 22 Nigerianer in Hannover“
- von Dr. Helmut Lippelt
die Plenarwoche vom
09.12. - 13.12.1996
„[...] Frage:
Wie schätzt die Bundesregierung das Schicksal der 22 Nigerianer in Hannover ein, deren
Hungerstreik vom August 1996 wegen drohender Abschiebung gerade auch in Nigeria
bekannt geworden ist
(s. Presseartikel vom 30.07.1996 im „Nigerian
Concord“, auch unter namentlicher Nennung
aller 22 in Thisday vom 25.11.1996), dies vor
dem Hintergrund, daß auch ihre Zusammenarbeit mit Prof. Wole Soyinka darin benannt
wird, und stimmt die Behauptung, daß das
Regime über interne, diplomatische oder geheimdienstliche Wege die deutsche Seite
darauf hingewiesen haben, daß sie die Abschiebung dieser 22 wünsche?
Antwort
In dem Fall liegt die Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber ausreisepflichtigen Ausländern in der Zuständigkeit des Landes Niedersachsen. Der Bundesregierung sind die Einzelheiten der Entscheidungen der niedersächsischen Innenbehörden
nicht bekannt.
Die Bundesregierung nimmt zur Gefährdungssituation in Einzelfällen nur auf Anfrage von Behörden oder Gerichten im Wege der Amtshilfe Stellung. Das Auswärtige
Amt hat seine aktuellen Erkenntnisse zur asylund abschiebungsrelevanten Situation in Nigeria in dem
Lagebericht vom 19. November 1996
Anmerkung: S. Seite 5 dieser Auflistung
zusammengefaßt. Dieser Bericht wurde auch
dem Innenministerium Niedersachsen übersandt.
Der Bundesregierung sind von Seiten der nigerianischen Regierung keine Hinweise zugegangen, daß diese die Abschiebung der in der
98
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
auf Bundesebene 1996
8.
06.12.1996
Antwort des
Auswärtigen Amtes (AA)
Staatsminister Helmut Schäfer
- auf die schriftliche Anfrage
der Abgeordneten
Christa Nickels, MdB
Bündnis 90/Die Grünen
(Fragen Nr. 11/220 - 222)
⇒
⇒ Genfer Flüchtlingskonvention
„[...] Frage 2:
Kann die Bundesregierung bestätigen oder
dementieren, daß sie auf eine
Gefährdung der 22 Nigerianer bei einer
Abschiebung nach Nigeria, durch den Regimekritiker und Literaturnobel-preisträger
Wole Soyinka
(Treffen mit dem Bundesminister des Auswärtigen Amtes, Dr. Klaus Kinkel, FAZ vom
13.11.1996), sowie durch den
Executive Director der CLO, Abdul Oroh
(Schreiben an die Innenminister vom 5. Sept.
1996), der seine Haftzeit in Nigeria als Regimekritiker mit abgeschobenen Asylbewerbern
in einer Zelle verbrachte, hingewiesen wurde,
und wie schätzt sie deren Bewertung ein?
Antwort
Die Bundesregierung kann bestätigen, daß der
Regimekritiker und Literaturnobel-preisträger
Wole Soyinka gegenüber dem Bundesminister
des Auswärtigen Amtes, Dr. Klaus Kinkel die
Auffassung geäußert hat, die 22 Nigerianer
hätten im Falle einer Abschiebung mit Inhaftierung zu rechnen.
Diese Information ist in dem Lagebericht vom
19. Nov. 1996, über den der nieders. Innenminister verfügt, verwertet worden.
Frage 3
Wie bewertet die Bundesregierung die Resolution des Europäischen Parlamentes zu Nigeria
vom 14. Nov. 1996, das die Mitgliedsstaaten
ausdrücklich auffordert, nigerianische Flüchtlinge in den EU-Staaten nach der Genfer
Flüchtlingskonvention als politisch Verfolgte anzuerkennen, und wird sich die Bundesregierung für eine Umsetzung einsetzen?
Antwort
Die Bundesregierung nimmt die Entschließung
des Europäischen Parlaments vom 14. Nov.
1996 zu Nigeria zur Kenntnis, in der es unter
Ziffer 6 heißt: (Das Europäische Parlament)
„fordert die EU-Mitgliedsstaaten auf, aus ihrem
Heimatland ausgewiesene nigerianische Oppositionelle, die das Militärregime von General
Abacha bekämpfen, als Flüchtlinge gem.
dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anzuerkennen“.
Ob diese Voraussetzungen im konkreten Einzelfall vorliegen, bleibt der Prüfung durch das
Bundesamt für die Anerken-nung ausländischer Flüchtlinge gem. den Vorschriften des
Asylverfahrensgesetzes vorbehalten.“
Parlamentarische Initiativen
9.3 auf europäischer Ebene 1996/1997
1.
100
29.04.1996/
14.10.1996
An den Rat der EU:
Schriftliche Anfrage Nr. E-0959/96
von Christine Oddy (PSE)
Betrifft: „Nigeria“
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
2.
13.11.1996
Europäisches Parlament
Gemeinsamer Entschließungsantrag
zu Nigeria
3.
19.03.1997
ACP-EU JOINT ASSEMBLY
on Nigeria
Brüssel
•
Mitte
Dezember
1995
Resolution an das
Europäische Parlament
Quelle:
Rechtsanwalt Andreas Becher,
Kaiserplatz 3, 53113 Bonn
____________________________
An der Glaubwürdigkeit der nigerianischen Regierung ergeben sich jedoch erhebliche Zweifel, da der
nigerianischen Menschenrechtsorganisation
CLO der Zutritt zum Sicherheitsbereich des Flughafens von Lagos verwehrt wird,
ai Beobachtungen an diesem Flughafen aus Sicherheitsgründen einstellen mußte und das
Institut für Afrika-Kunde erklärt, daß
es das Schicksal abgeschobener und
unfreiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrter nigerianischer Asylantragsteller bzw. Flüchtlinge konkret nicht
weiterverfolgen könne, da es aufgrund
der Weigerungshaltung der nigerianischen Behörden nicht möglich sei,
eigenständige, unabhängige Informationen zu gewinnen.“
„[...] Punkt 6
Das europäische Parlament fordert
die EU-Mitgliedsstaaten auf,
aus ihrem Heimatland ausgewiesene
nigerianische Oppositionelle, die das Militärregime von General Abacha bekämpfen, als
Flüchtlinge gemäß dem Genfer Abkommen
über die Rechts-stellung der Flüchtlinge anzuerkennen.
“
„[...] 12:
Calls on the European Member States to grant
refugee status to Nigerians in exile who are
opposed to General Abachs´s military regime,
as provided for in the Geneva Convention on
Refugee Status.“
„[...] „In der britischen Presse sind Ende vergangenen Jahres zwei Fälle von Abschiebungen nach Nigeria veröffentlicht worden, bei
denen die Betroffenen angeblich auch nach
zwei Monaten noch keinen Kontakt mit ihren
Familien aufgenommen hatten und aus diesem
Grunde eine Verhaftung durch nigerianische
Sicherheitskräfte vermutet wurde. Familienmitglieder wandten sich in dieser Angelegenheit
Mitte Dez. 1995 auch in einer Resolution an
das Europäische Parlament.
Als Reaktion auf die öffentliche Diskussion
dieser Abschiebefälle veröffentlichte die nigerianische Regierung mehrere Anzeigen in britischen Tageszeitungen, in denen sie sowohl
eine Verhaftung als auch eine Festnahme nach
den Betroffenen aufgrund ihrer „behaupteten“
politischen Aktivitäten verneinte.
9.3 Fortsetzung: auf europäischer Ebene 1996/1997
4.
16.04.1997
HAZ
Hannoversche Allgemeine Zeitung
Die UN-Menschenrechtskommission (15 EU
Mitgliedsstaaten)
„[...] Die UN-Menschenrechtskommission in
Genf hat NIGERIA wegen fortgesetzter
Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Alle
politischen Gefangenen, Gewerkschaftsführer
und Menschenrechtsaktivisten müßten freigelassen werden, heißt es in einer am Dienstag
mit 28 Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen und
19 Enthaltungen angenommenen Resolution.
Der Präsident der Kommission wird aufgefordert, zur weiteren Beobachtung der Menschenrechtssituation einen Sonderberichterstatter für
Nigeria zu ernennen.“
101
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
10. Auskunft vom Auswärtigen Amt an das Verwaltungsgericht 1996
1.
08.10.1996
s. Seite 3
„Grundsätzlich anders ist die Lage in den Fällen
zu bewerten, in denen die rückkehrenden Asylbewerber oder ausgewiesenen Nigerianer in
Auskunft:
Auswärtiges Amt
(Herr Meisner)
- an das VG Münster
514-516.80/25 886
⇒
⇒
Deutschland aktiven nigerianischen Oppositionsgruppen angehören und entsprechend an
Demonstrationen gegen das Militärregime
teilgenommen haben. Da diese Demonstrationen auch von
Angehörigen der nigerianischen Botschaft
aufmerksam beobachtet
und verfolgt werden, ist es nicht auszuschließen, daß diese Asylbewerber oder ausgewiesenen Nigerianer bei ihrer
Rückkehr mit staatlicher Verfolgung rechnen müssen.
⇒
(s. Institut für Afrika-Kunde, 24.11.1995 an das
VG Sigmaringen und
ai vom 27.02.1996 an VG Sigmaringen)
11. Beschlüsse Verwaltungsgerichte 1995/1996/1997
1.
04.8.1995
VG Berlin
2.
28.12.1995
VG 33 X 222/95
VG Gießen
2 G 12185/93 A
3.
28.02.1996
VG Cottbus
3 L 74/96 A
4.
08.03.1996
VG Gera
5 E 20152/94 GE
5.
19.04.1996
VG Oldenburg
1 B 1549/96
6.
09.12.1996
VG Karlsruhe
A 6 K 13631/96
„[...] festgestellt, daß die Frage der Verfolgung
in Nigeria wegen Asylantragstellung noch nicht
geklärt sei.
„[...] stellt fest, daß nach den heute vorliegenden Erkenntnisquellen zu Nigeria nicht auszuschließen sei, daß dem Antragsteller allein
wegen seiner Asylantragstellung bei seiner
Rückkehr nach Nigeria staatlich sanktionierte
politische Verfolgung droht.
„[...] stellt fest, daß die Ablehnung eines
Asylantrages eines nigerianischen Staatsangehörigen als offensichtlich unbegründet
rechtswidrig ist, da das Nichtvorliegen der
Voraussetzungen des § 51 I AuslG nicht offensichtlich sei. Es ergeben sich Anhaltspunkte
dafür, daß der Antragsteller allein aufgrund der
Tatsache der Asylantragstellung im Falle seiner Abschiebung in sein Heimatland Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist.
„[...] „Es bestehen im Hinblick auf aktuelle die
Menschenrechtslage in Nigeria betreffende
Erkenntnisquellen ernstliche Zweifel hinsichtlich der Nichtverfolgung nigerianischer Asylantragsteller im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland.“
„[...] Daß eine Abschiebung nach Nigeria bei
drohender Haft nicht zulässig ist, da die Sicherheitskräfte und gelegentlich auch die Polizei Foltermethoden anwenden und Gefangene
in einer unmenschlichen und erniedrigenden
Weise behandeln.
„[...] Eilantrag gem. § 80 V VwGO stattgegeben, da keine widerspruchfreie Auskunftslage
zur Gefährdung wegen Asylantragstellung bei
103
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
7.
13.02.1997
VG Aachen
Nigeria vorliege.
„[...] Antrag gem. § 80 V VwGO stattgegeben.
2 L 199/97 A
12. Auskunft von ai an Verwaltungsgerichte 1996/1997
1.
17.07.1996
Antwort von ai
- an das VG Münster
(4 K 896/93)
2.
09.01.1997
Auskunft von ai
- an das VG Kassel
(ZDWF Asylmagazin 7/97
Bestell-Nr. 86-42892)
3.
27.02.1996
Auskunft von ai
- an das VG Sigmaringen
(ZDWF Asylmagazin 7/97
Bestell-Nr. 86-42892)
„Zur Rückkehrgefährdung von
abgelehnten nigerianischen
Asylantragstellern.“
Betr. „Antragstellung als Asylgrund:
Exilpolitische Bestätigung.“
„[...] ..Die Mitgliedschaft und Beteiligung in
einer exilpolitischen Oppositionsgruppe kann
- bei deren Bekanntwerden in Nigeria - ebenfalls zur Einstufung als Sicherheitsrisiko geeignet sein.“
______________________________
s. Kennzeichen D, 19.03.1997
- Nigerian Association Niedersachsen
- Statements einiger Mitglieder in der
Kirche
- Simon Eze, SSS, nig. Konsulat, Berlin
Zur Rückkehrgefährdung abgeschobener
nigerianischer Asylbewerber.
„[...] „Pater Nogyi von der nigerianischen Menschenrechtsorganisation CLO berichtete amnesty international von seiner persönlichen
Beobachtung, daß aus Italien abgeschobene
Nigerianer vom Staatssicherheitsdienst festgenommen worden seien. Uns ist jedoch nicht
bekannt, aus welchen Gründen diese Personen
festgenommen wurden. Pater Nogyi äußerte
uns gegenüber die
Befürchtung, daß abgeschobene Nigerianer
inhaftiert, gefoltert und vielleicht sogar getötet
werden, weil sie dem Ansehen Nigerias durch
ihr Verhalten Schaden zugefügt hätten.
Diese Befürchtung wird von ai angesichts der
zunehmenden Menschenrechtsverletzungen,
die durch die gegenwärtige Militärdiktatur begangen werden, sehr ernst genommen ...“
13. Auskunft Institut für Afrika-Kunde an das Verwaltungsgericht 95/96
1.
24.11.1995
Auskunft:
Institut für Afrika-Kunde
„[...] „In diesem Klima besteht eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit, daß auch bei Antragstellern (speziell in Deutschland) vom Regime
generell
- unabhängig von den tatsächlichen Fluchtgründen - Regimegegnerschaft unterstellt wird.
Die Gewaltbereitschaft des Regimes gegenüber seinen tatsächlichen und vermeintlichen
Gegnern sowie die katastrophale Situation der
Menschenrechte in Nigeria
legt den Schluß nahe, daß abgeschobene
Asylantragsteller von den Sicherheitsorganen
bei der Einreise in die Mangel genommen
werden und mit Menschenrechtsverletzungen der schweren und schwersten Kategorie
(Mißhandlung, Folter ohne Rücksicht auf Ver-
104
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
luste) auf ihre Einstellung zum Regime getestet
werden.“
2.
12.07.1996
Antwort vom Institut für
Afrika-Kunde
Neuer Jungfernstieg 21
20354 Hamburg
Dr. Peter Körner
an das VG Münster
(Anfrage 4 K 896/93.A)
„Zur Rückkehrgefährdung von abgelehnten
nigerianischen Asylantragsteller.“
„[...] Seite 5
... ist nach Auffassung des Instituts für
Afrika-Kunde im Falle Nigerias
generell von Abschiebungen
abzuraten.
Die Empfehlung ergibt sich aus mehreren eng
miteinander zusammenhängenden Gesichtspunkten:
1. Der Herrschaftssicherung und die Gewaltbereitschaft des Abacha-Regimes, die katastrophale Situation der Men-schenrechte
und die Willkürtendenzen bei den nigerianischen Staatsorganen sprechen für eine sehr
hohe Wahrscheinlichkeit, daß Verdachtsmomente gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner sehr weitläufig zu deren Ungunsten ausgelegt werden.
Zu2 12.07.1996
.
Fortsetzung
Antwort vom Institut für
Afrika-Kunde
Neuer Jungfernstieg 21
20354 Hamburg
Empfehlung des Instituts für AfrikaKunde:
„[...] S. 6
Die Empfehlung kann nur in Richtung
eines allgemeinen Abschiebestopps
gehen, wie ihn einige Bundesländer
nach der von Staats wegen vollzogenen Ermordung Saro-Wiwas und acht
anderer Ogoni verfügt haben“
2. Es gibt ernstzunehmende Anhaltspunkte
dafür, daß die übliche deutsche Abschiebepraxis Kontakte zu zuständigen Stellen
des Herkunftslandes beinhaltet, die eine reibungslose Abschiebung nach Ablehnung
von Asylgesuchen ermöglichen soll. Die zuständigen Stellen im Herkunftsland erhalten
also Kenntnis über das Faktum der Antragstellung, das bei dem Charakter des
Abacha-Regimes eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Folge hat, daß der betreffenden
Person Regimegegnerschaft unterstellt
wird. In diesem Zusammenhang liegt es auf
der Hand, daß die Organe des AbachaRegimes geneigt sein werden, den Fall mit
seinen menschenrechtswidrigen Methoden
genauer zu erkunden. Mißhandlung und
Folter zählen dabei zum gängigen Repertoire von Regimen a´la Abacha.
3. Darüber hinaus muß auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß nigerianische
Geheimdienstler, insbes. Vom „State Security Service“ (SSS), der nigerianischen „Stasi“, „Aufklärung“ gegen Regimegegner aller
Schattierungen betreiben, um die allfällige
politische Verfolgung - im Interesse der
Herrschaftssicherung - zu ermöglichen. Da
der Einreisepunkt für unfreiwillige Rückkehrer nahezu zwangsläufig der internationale
Flughafen von Lagos ist, läßt sich der Zugriff auf „verdächtige“ Personen mit
Leichtigkeit organisieren.
105
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
14. allg. Berichte von ai, Bonn, London 1996
1.
26.10.1996
ai, London
NIGERIA
AI Index: AFR 33/23/95
2.
06.11.1996
ai, Bonn
Nigeria Koordinationsgruppe
Verhöhnung der Gerechtigkeit
Geheime Hochverrats-Verfahren und andere
Bedenken
• Politische Hintergründe
• Geheime Verratsprozesse gegen mutmaßliche Umstürzler
• Bedenken ai hinsichtlich der Verratsprozesse
• weitere Bedenken hinsichtlich der Menschenrechte in Nigeria
• Empfehlungen
„Zusammenfassung der aktuellen Menschenrechtslage in Nigeria“
(s. ai, 30.12.1996) hier Seite 19
zur Rückkehrgefährdung
abgeschobener Flüchtlinge
3.
06.11.1996
ai, Bonn
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e. V., Bonn
NIGERIA
AI Index AFR 44/14/96
Mißachtung der Menschenrechte endlich
beenden
• Die Verletzung internationaler Menschenrechtsstandards durch die jetzige nigerianische Regierung
• 10-Punkte-Programm für Menschenrechtsreformen in Nigeria
• Empfehlungen für Aktionen der internationalen Gemeinschaft
4.
28.12.1996
ai, Bonn
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e. V., Bonn
Nigeria Koordinationsgruppe
Genf, 53. UN-Menschenrechtskommission
• Scheinreformen
• Einschränkung der Meinungsreiheit
• Willkürliche Inhaftierungen
• Todesstrafe und unfaire Verfahren vor
Sondergerichten
• Staatlicher Mord
• Politische Verfolgung von Angehörigen der
Ogoni
• Forderungen ai an die 53. Sitzung der UNMenschenrechtskonferenz
10-Punkte-Programm
„Zur Menschenrechtslage in
Nigeria“
„Zusammenfassung anläßlich
der 53 Sitzung der UN
Menschenkommission in
Genf“
14. (Fortsetzung) allg. Berichte von ai, Bonn
5.
30.12.1996
ai, Bonn
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e. V., Bonn
Nigeria Koordinationsgruppe
„Zur Menschenrechtslage in Nigeria“
⇒
106
s. Seite . 5:
„[...] Rückkehrgefährdung
abgeschobener Flüchtlinge
Die bisherige Praxis der für die Abschiebung
verantwortlichen Ausländerbehörden der Bundesrepublik Deutschland bietet allen Anlaß zu
der Vermutung, daß in vielen Fällen bereits
vor der Entscheidung über den Asylantrag
besonders aber im Zusammenhang mit der
Abschiebung, die nigerianische Botschaft oder
andere nigerianische Behörden von der Asylantragstellung erfahren. Diese Praxis kann
Gefahr einer politischen Verfolgung seitens
des nigerianischen Staates auslösen.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
Die Benutzung von bestimmten Dokumenten
zur einmaligen Einreise (Ersatzreisedokument travel certificates) führen in der Regel zu intensiver Befragung durch die nigerianischen Behörden im internationalen Flughafen von Lagos.
Dort sind verschiedene nigerianische Behörden
parallel tätig. Bei der Einreise nach Nigeria ist
es von außen zunächst kaum möglich festzustellen, welche Behörde einen einreisenden
Nigerianer verhört: die Einwanderungsbehörde, der Staatssicher-heitsdienst,
(State Security Services - SSS), die Drogenfahndung (Nigerian Drug Law Entforcement
Agenca - NDLEA) das Militär (Military Intelligence) oder die Polizei (Federal Investigation
and Intelligence Bureau FBI).
s. Kennzeichen D
19.03.1997
⇒
Berichten zufolge speichert die Einwanderungsbehörde im internationalen Flughafen
von Lagos die Namen der politisch aktiven
Oppositionellen im Computer. Dies würde
bedeuten, daß jeder, der als Regierungskritiker den nigerianischen Behörden bekannt ist,
bei der Einreise festgenommen werden
kann..
Nach Nigeria zurückkehrende politisch aktive Persönlichkeiten sind folglich besonders
gefährdet, inhaftiert zu werden.
15. Menschrenrechtsausschuß der Vereinten Nationen 1995/1996
Quelle: Menschenrechtsmagazin, Heft 2, Februar 1997
Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam, Heinestr. 1, 14482 Potsdam
1.
56. Sitzung
08.03. 04.04.96
New York
57 Sitzung
09. bis 26.
07.96
Genf
58. Sitzung
20.10.08.11.96
Genf
„[...] Staatenberichte
Die Staatenberichte sind das zentrale
Überwachungsinstrument des Ausschusses hinsichtlich der Paktrechte.
Der konstruktive Dialog mit den jeweiligen Staatenvertretern und die Veröffentlichung der Anmerkungen des
Ausschusses bilden eine Informationsquelle für die Situation in den
einzelnen Staaten und ihre Vereinbarkeit mit den Paktrechten. Zudem
lassen sich die Ergebnisse auf die
Beurteilung vergleichbarer Situationen
in anderen Staaten übertragen. Aufgrund dieser allgemeinen Aussagekraft sind einige Bemerkungen des
Ausschusses zu einzelnen der insgesamt 12 Staatenberichte des Jahres
1996 wiederzugeben.
Während der 56. Sitzung wurden die
Berichte Mauritius, Guatemalas, Spaniens, Sambias und NIGERIAS geprüft.“
• NIGERIA
„[...] Während der
55. Sitzung im November 1995 hatte der
Ausschuß wegen der Prozesse und Todesurteile gegen Ken Saro Wiwa und andere Mitglieder der Bewegung für das Überleben des
Ogoni Volkes die pünktliche Vorlage des Erstberichtes gefordert, der am 28. Oktober 1994
fällig war.
Nigeria kam der Forderung im
Februar 1996 nach. Wegen der aktuellen Ereignisse in Nigeria und der Verfügbarkeit der
Delegation für nur einen Tag beschloß der
Ausschuß in der 56. Sitzung, die Prüfung des
Berichts zu teilen.
Während der 57. Sitzung wurde nur
- die Einhaltung des Rechtes auf Leben
- des Folterverbots
- der Freiheit und Sicherheit der Person
- der Garantien im Zivil- u. Strafverfahren
erörtert.
Nach den Erörterungen während der 56. Sitzung wurde Nigeria aufgefordert, alle präsidentiellen Dekrete
aufzuheben,
- die Sondergerichte einsetzen
- oder verfassungsmäßige Rechte oder die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte beschränken.
• Sicherheitsdekret Nr. 2 von 1984 - Verhaftung von Personen;
Dekret der Militärregierung Nr. 12 v. 1994 -- Oberhoheit und Stärkung der Kompetenzen;
• Dekret zur öffentlichen Unruhe Nr. 2 v. 1987 - Spezialgerichte
107
RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG FÜR NIGERIANER
• Dekret über Verrat und andere Delikte Nr. 1 v. 1986 - Militärgerichtsbarkeit
Außerdem wurde die Einhaltung der Verfahrensrechte angemahnt.
In seinem Abschlußbericht der 57. Sitzung konstatiert der Ausschuß, daß die geforderten Maßnahmen
nicht umgesetzt worden seien.
Nach wie vor bestünde eine fundamentale Unvereinbarkeit zwischen den Maßnahmen der Militärregierung und den Paktrechten.
• Die Verfassung von 1979 sei durch Dekret wieder in Kraft getreten, allerdings ohne den Grundrechtskatalog.
• Die Bestimmung des geltenden Rechts sei wegen der vielen einschränkenden und aufhebenden Dekrete nicht mehr möglich.
• Die Häufigkeit der Fälle von Folterungen, Verschwindenlassen und willkürlichen Verhaftungen
sind für den Ausschuß besorgniserregend.
• Die Haftbedingungen seien nicht im Entferntesten mit den Verpflichtungen aus der Konvention oder
den Vorschriften der Vereinten Nationen über die Mindestbedingungen in der Haft vereinbar.
• Das Verbot verschiedener Zeitungen und andere Eingriffe in die Pressefreiheit seien mit der Konvention nicht vereinbar.
• Die Todesstrafe wird nach Auffassung des Ausschusses zu extensiv angewendet.
• In den Bericht wurde auch aufgenommen, daß zwei Mitarbeitern einer Nichtregierungsorganisation,
die an der Ausschußsitzung teilnehmen wollten, die Ausreise aus Nigeria verweigert wurde. Bemerkenswert ist die Begründung eines Konventionsverstoßes: Nach der Argumentation des Ausschusses
liegt nicht nur eine Beschränkung der Freizügigkeit vor. Vielmehr sei auch die Berichtspflicht verletzt,
weil diese Pflicht die öffentliche Erörterung in Anwesenheit von NGOs umfasse. Die NGOs seien zur
Teilnahme berechtigt, so daß Nigeria die Teilnahme der Vertreter nicht beschränken dürfe
16. Auszug aus Afrika-Forum 3/1995
NIGERIA
Bonn protestiert gegen Unterdrückung
Die Bundesregierung hat den politischen Kurs Nigerias scharf kritisiert.
Der Botschafter des Landes wurde im JULI ins Auswärtige Amt einbestellt, wo Staatsminister Schaefer die Verhaftung des früheren Staatspräsidenten Obasanjo sowie des Generals Yar Adua verurteilte und ihre sofortige Freilassung forderte. Bonn verlangt ferner die
Beachtung rechtsstaatlicher Mindesanforderungen beim Prozeß gegen 23 Militärs, die des
Putschversuches beschuldigt werden.
Bonn warnte, daß die fehlende Achtung vor dem Rechtsstaat nicht nur die politische Stabilität Nigerias untergraben könne, sondern auch das internationale Ansehen des Landes.
Mit dem Begriff Warnung hat das Auswärtige Amt seine Formulierung gewählt, die es in
dieser Schärfe fast nie benutzt.
- Mandela schließt sich dem Bonner Protest an.
- Papst Johannes II fordert Abacha auf, den
Verurteilten die Todesstrafe zu ersparen.
- Der frühere Bundeskanzler Schmidt und der
frühere amerikanische Präsident Carter mit handschriftlichen Schreiben an Bundeskanzler Kohl.
Warnungen von der
a) amerikanischen Regierung
b) und der Europäischen Union.
16. Auszug aus Politik, Multis und Moral/1996
•
•
•
•
108
Vorwärts Dialog 1
Shell und Nigeria
„[...] Seite 7:
Scharping: Ich finde, man sollte die Sache zunächst von einer politischen Seite her betrachten. Erstens:
In Nigeria regiert eine offenkundig korrupte Militärdiktatur.
Wer die Wahrung oder Durchsetzung der Menschenrechte, wer den Schutz der Umwelt als Elemente
globaler Sicherheit betrachtet, dem erschließt sich auch die außenpolitische Dimension der Vorgänge.
In Nigeria droht erneut ein Mord, neben den vielen Morden, die alltäglich stattfinden.
„[...] Seite 8: Bei dem Konflikt geht es nicht nur um Umweltschäden, die die Ölförderung verursacht hat.
Es geht auch darum, daß Shell, um es einmal ganz hart zu sagen, die verbrecherische Polizei eines korrupten Regimes zu Hilfe genommen hat, um seine Anlagen zu schützen. Shell hatte Anfang der 90er
Jahre darum gebeten, daß seine Anlagen von einer Polizeitruppe geschützt werden, von der jeder wußte,
daß sie alles andere als eine Polizeitruppe ist.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 44/45, Juli 1997