Narrative Methoden im Professional Wrestling

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Narrative Methoden im Professional Wrestling
Universität Bayreuth
SS 2014
Performance, Drama, Body Slams
Narrative Methoden im Professional Wrestling
Hausarbeit im Seminar: “Medienkultur - Anordnungen”
Dozent: Dr. Matthias Christen
vorgelegt von
Kevin Münchberg
am
05.10.2014
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MATRIKELNUMMER
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................................................................................ 2
2. Mittel der Sportübertragung als Figurenbildung und Legitimation ................................... 3
3. Wrestling als fiktionale Fernsehserie ................................................................................................ 6
3. Körpersprache und Performativität ................................................................................................... 9
4. Fazit: Sports Entertainment – Ein Erzählhybrid ....................................................................... 12
5. Quellenverzeichnis .................................................................................................................................. 14
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1. Einleitung
Als im September dieses Jahres die Meldung durch die deutsche Medienlandschaft
zirkulierte, dass Fußballtorwart Tim Wiese ein Angebot des amerikanischen
Wrestling-Giganten World Wrestling Entertainment1 vorliegen hätte, blieb der Spott in
den Kommentarbereichen, sozialen Netzwerken, aber auch der Berichterstattung
selbst nicht aus: So sammelte die WELT in ihrer Meldung bereits Vorschläge für einen
passenden Ringnamen (vgl. Wöckener 2014), während sich auf Twitter die
humorvollen Fotomontagen und ironischen Vorschläge der passenden Einmarschmusik im Sekundentakt häuften. Die Reaktionen zeigen, welche Reputation das
Professional Wrestling2 - besonders in Deutschland - über die Jahrzehnte hinweg
aufgebaut hat: Wrestling, das ist Klamauk zwischen Männern in „bunte[n]
Kostüme[n]“ (ebd.), die den Kampf gegeneinander nur simulieren. „Alles nur fake!“,
schimpft der Volksmund da gerne, wobei fake das entscheidende Wort dieser
Schmährufe darstellt, denn ein Sport mit abgesprochenen Ergebnissen, das sei ja
schließlich kein Sport.
Aber möglicherweise ist es ein Fehler, Professional Wrestling überhaupt als Sport
begreifen zu wollen. Vielleicht empfiehlt es sich vielmehr, eine Perspektive einzunehmen, die das Wrestling als eigenständige Erzählform versteht; schließlich bietet
die seit gut sechzig Jahren existente Unterhaltungssparte eine Vielzahl an Figuren und
Handlungen, die nicht selten auch in der internationalen Populärkultur Einzug gefunden haben. Genau dies soll der Ansatz der vorliegenden Arbeit sein, die sich konkret
mit der Frage auseinandersetzt, wie das Wrestling seine Geschichten erzählt. Wie
entstehen Figuren und Konflikte? Welche Stilmittel sind charakteristisch für die
Erzählweise? Auf diese Fragen möchte ich im Folgenden eine Antwort finden. Dazu
wird Wrestling aus drei Blickwinkeln analysiert, von denen ich behaupte, dass sie
gemeinsam das narrative Konstrukt dieser Unterhaltungsform bilden: Erstens sollen
die Merkmale einer klassischen Sporterzählung herausgestellt werden; anschließend
widmet sich die Untersuchung der Nähe zu Fernsehserie, bevor gegen Ende die
Parallelen zwischen der Wrestlingshow und dem performativen Theater der
Postmoderne aufgezeigt werden.
World Wrestling Entertainment ist das weltweit größte Wrestling-Unternehmen, das von mir
synonym zur Wrestlingindustrie allgemein verwendet wird. Wann immer gängige Praktiken der
Branche Erwähnung finden, beziehen sich diese Aussagen auf World Wrestling Entertainment (WWE).
2 „Professional Wrestling“ wird im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch gerne als Abgrenzung zum
olympischen Ringen („Wrestling“) benutzt. In dieser Arbeit bezeichnen beide Begriffe das Gleiche.
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2. Mittel der Sportübertragung als Figurenbildung und Legitimation
Allen Diskussionen über den Wettkampfcharakter seiner Kämpfe zum Trotz, darf
nicht unbeachtet bleiben, dass das Professional Wrestling in seiner heutigen Form
durchaus als nicht-fingierter, sportlicher Wettbewerb begonnen hat (vgl. Kutzelmann
2014: 51). Obwohl der ehrliche Wettkampfgedanke im Verlauf der Geschichte als
Resultat marktorientierter Promoter einer kontrollierten Ringdramaturgie weichen
musste (ebd. 52), bildet das Dispositiv Sport bis heute die Grundlage von Wrestlingshows.3 Die dementsprechende Inszenierung als klassische Sportübertragung begründet somit die erste Ebene der Narration im Wrestling. Natürlich darf an dieser
Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die mediale Aufbereitung durch die Massenmedien als Mittel der diegetischen Erweiterung formaler Spielsituationen nahezu
immer einen festen Bestandteil des Profisports darstellt (vgl. Müller/Stauff 2008: 6).
Besonders der Fußball lebt von den ihm angedichteten Mythen, die den Zuschauern
Anknüpfungspunkte liefern (vgl. Müller 2008: 165) und Identifikationsangebote
schaffen sollen (ebd. 160). Dazu gehören Underdog-Märchen genauso wie Bruderkämpfe, die Rückkehr von Legenden und der Konflikt zwischen vom Geld getriebenen
Gewinnern und armen, dafür leidenschaftlichen Verlierern.
Der Unterschied zwischen traditionellen Sportübertragungen und der medialen
Aufbereitung im Professional Wrestling besteht jedoch darin, dass letztere keinen
Mythos suchen muss, um das Sportliche zu emotionalisieren, sondern sich gezielt den
„[…] Gestus und die Dramatik des Sports zu eigen [macht] […]“ (Kutzelmann 2014:
39), um eine ausschließlich des Erzählens wegen erschaffene Geschichte zu vermitteln. Der Kontext begleitet den sportlichen Wettkampf nicht, sondern löst ihn
überhaupt erst aus. Henry Jenkins spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das
Wrestling die emotionale Erfahrung traditioneller Sportübertragungen erhöht und
somit noch konkreter die Konflikte der sozialen und moralischen Ordnung aufzeigen
kann (vgl. Jenkins 2005: 40). Die emotionale und sportliche Bedeutung der Begegnungen, die im Fußball oder Boxen eben nur in den Fällen Präsenz zeigt, in denen
sie sich tatsächlich sporthistorisch entwickelt hat, kann im Wrestling manuell
konstruiert werden. Wie andere Sportler auch, werden die Wrestler zur Projek-
Der Begriff „Sports Entertainment“, der häufig dann fällt, wenn World Wrestling Entertainment
selbstreferentiell die eigene Branche beschreibt, verweist jedoch bereits auf das Bewusstsein um die
Künstlichkeit dieser Sportinszenierung.
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tionsfläche für diverse Ideale, symbolisieren diese allerdings in einer extremen
Ausprägung.
Ein beliebtes Werkzeug dieser Erzählweise, das sich als Mittel der Individualisierung
nicht nur in der Sportübertragung bewährt hat, ist das Interview mit den Akteuren. In
teilweise zeitgleichen, teilweise voraufgezeichneten Segmenten stellen sich die
„Superstars“4 im Backstage-Bereich den Fragen einer ebenso inszenierten Reporterpersönlichkeit, die als Bindeglied zwischen Publikum und Protagonist funktioniert.
Da davon auszugehen ist, dass diese Segmente genau wie die Kämpfe in ihren
Grundzügen abgesprochen sind, zielen die Fragen dieser Interviews allerdings
weniger darauf ab, das Informationsgefälle zu verringern als vielmehr eine Bühne für
die Figuren aufzubauen. Dort demonstrieren sie ihre rhetorischen Fähigkeiten, stellen
Kostüm und Physis zur Schau und offenbaren in oft wenig subtilen Monologen die
eigenen Wertvorstellungen, Hoffnungen oder Pläne für die Zukunft. Nicht selten
gesellt sich während der Interviewsituation der jeweilige Rivale dazu, um den
direkten Kontrast zu verdeutlichen und den Konflikt zu befeuern. Neben den
Interviews existieren zwei weitere Segmentformen, die in der klassischen
Sportberichterstattung verwurzelt sind. Dazu gehört die verbale Gegenüberstellung
zweier Kontrahenten im Ring, die an die dramatischen Begegnungen vor großen Boxkämpfen erinnert, sowie eigene, von populären Superstars moderierte „Personality
Talks“, die den Ring als Fernsehstudio für die Show innerhalb der Show nutzen.5 Die
Funktion dieser Segmente bleibt immer dieselbe: Figuren etablieren und gegebenenfalls die Handlung vorantreiben. Interessant ist aber, dass all diese Formen
der fingierten Öffentlichkeitsarbeit für das Fernseh- und Livepublikum gleichermaßen stattfinden. Elemente, die sich außerhalb der Halle ereignen, werden
simultan auf einer großen Videoleinwand eingeblendet. Die Ästhetik der
Sportübertragung scheint also derart eng mit der Erzählweise im Professional
Wrestling verzahnt zu sein, dass selbst das Publikum vor Ort kurzzeitig in die Rolle
eines Fernsehrezipienten schlüpfen muss, um den vollen Umfang der von den
Autoren erwünschten Erzählung erleben zu können. Anders verhält es sich hingegen
mit den Live-Kommentatoren, welche lediglich das Fernsehpublikum zu Hause hören
kann. Ihre Aufgabe ist es, die somatisch-performative Erfahrung, die durch die
„Superstar“ ist eine gängige Bezeichnung für Wrestler von World Wrestling Entertainment.
Beispiele hierfür sind „Piper’s Pit“ in den Achtzigerjahren, „The Barber Shop“ Anfang der
Neunzigerjahre sowie die „Peep Show“ Mitte der Zweitausender.
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versetzte Rezeption am Bildschirm nicht effektiv wiedergegeben werden kann, durch
eine mitreißenden, lebendigen Wortbeitrag zu kompensieren. Genau wie im
American Football, das exemplarisch für amerikanische Sportübertragungen an sich
stehen kann, existiert im Professional Wrestling ein Kommentatoren-Duo, bestehend
aus Play-by-Play Kommentator und Color Kommentator. 6 Aufgabe des Play-by-Play
Kommentatoren ist die technisch-sportliche Analyse der Kämpfe, was wiederum
deren Authentizität verstärkt, während der Color Kommentator die Beweggründe
erläutert und bisherige Entwicklungen zusammenfasst, um die Fernsehzuschauer
emotional zu integrieren.
Ein drittes Stilmittel der Sportübertragung, das trotz oder gerade wegen seiner
Schlichtheit die Wirkung der Ausstrahlung enorm beeinflusst, ist der Einsatz der
Zeitlupe (Slow-Motion). Die Zeitlupentechnik findet in nahezu allen Sportproduktionen Anwendung und strahlt, so Margaret Morse, eine „Aura der
Wissenschaftlichkeit“ (2008: 15) aus, da sie die Möglichkeit bietet, das Geschehene
detailliert zu analysieren und zu beurteilen. Für das Wrestling ist die Zeitlupe gleich
mehrfach von Bedeutung: Als erzählerisches Mittel unterstreicht sie die Aussage der
Autoren und akzentuiert entscheidende Momente der Kampfdramaturgie, etwa wenn
der Schurke betrügt, oder der Held eine besonders anspruchsvolle Aktion vollführt.
Ebenso kann sie der Charakterisierung der Figuren dienen und Spezialmanöver, die
zu den Figuren genauso gehören wie ihr Outfit und Verhalten, als bedrohlich oder
erlösend inszenieren. Vor allem dient die Slow-Motion aber als Maßnahme, Realität
zu suggerieren. Die Wiederholung erweckt den Anschein, dass man nichts zu
verbergen habe und der Zuschauer tatsächlich einen realen Kampf verfolgt. Das
steigert die Intensität der Geschichte und somit das Interesse, an ihr teilzunehmen.
Es ist diese künstliche Authentizität, die sich durch alle erwähnten Elemente der
Sportübertragung zieht. Interview und Talkshow zeigen die Protagonisten
vermeintlich so, wie sie wirklich sind; Kommentatoren erläutern das sportlichtechnische Vorgehen im Ring und ordnen es historisch ein; Wiederholungen in
Zeitlupe unterstützen die Handlung und beseitigen Zweifel an der Echtheit des
Programms. Dass sich das Wrestling selbst dem Live-Publikum als Sportübertragung
präsentiert, zeigt, dass diese Fernsehinszenierung notwendig ist, um die Narration zu
Mittlerweile sind auch drei Kommentatoren üblich. Die Rollen können hierbei zwischen den
Sprechern wechseln, bleiben im Kern aber vorhanden.
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legitimieren. Die sportliche, kompetitive Ebene ist Grundvoraussetzung dafür, die
Figuren mit- und gegeneinander in Bewegung zu versetzen. Die Männer in
Verkleidung bekämpfen sich nicht wahllos; sie handeln nach der Logik des Sports.
3. Wrestling als fiktionale Fernsehserie
Jenseits der Rahmenhandlung einer sportlich-kompetitiven Berufswelt besteht eine
zweite Erzählebene, die das Wrestling exklusiv für sich beansprucht und endgültig
von vergleichbaren Sportarten unterscheidet. Dabei handelt es sich um die Ebene der
Fiktion, auf welcher – legitimiert durch den Sport - frei erfundene Figuren in frei
erfundenen Konflikten miteinander stehen. Jenkins bezeichnet diese Konflikte als
„complexly plotted, ongoing narratives of professional ambition, personal suffering,
friendship and alliance, betrayal and reversal of fortune” (2005: 34). Aus der
gelenkten Sportveranstaltung wird somit eine Erzählung, die nicht nur aufgrund ihres
Übertragungsweges nahe an der Fernsehserie steht.
Wie auch die fiktionalen Serien, seien es Soap Operas, Dramen oder Komödien,
verfügt das Wrestling über eine Vielzahl von Figuren, wobei jede dieser Figuren
durch ein sogenanntes Gimmick charakterisiert wird. Ein Gimmick beinhaltet
sämtliche textuellen Assoziationen einer Figur, angefangen bei der Namensgebung,
Hintergrundgeschichte und äußeren Erscheinung bis hin zur Verhaltensweise,
wiederkehrenden Sprüchen und der Einmarschmusik. Diese Einmarschmusik kann –
in Begrifflichkeiten der Film- und Fernsehanalyse gedacht – als Leitmotiv verstanden
werden, das die Figur einerseits musikalisch und textlich charakterisiert7,
andererseits eine Assoziation schafft, die noch vor Auftreten des Protagonisten eine
Erwartungshaltung der Zuschauer generiert. Es ist allerdings wichtig, zu verstehen,
dass Wrestler und Gimmick nicht untrennbar miteinander in Verbindung stehen. Es
ist durchaus vorstellbar und mitunter gängige Praxis, dass ein Wrestler sein Gimmick
während seiner Karriere mehrfach wechselt. Als extremes Beispiel dafür kann Mick
Foley in den Neunzigerjahren gelten, der drei Rollen gleichzeitig verkörpert hat und
diese teilweise mitten während des Kampfes wechselte. Diese Flexibilität ist
notwendig, denn die Figuren im Wrestling unterliegen
stärker noch als ihr
Äquivalent in Film und Fernsehen dem Zwang, sich popkulturellen Trends und
So beginnt der Refrain der Einmarschmusik der Figur Hulk Hogan mit den Worten „I am a real
American.“, wodurch Hogan direkt als Patriot charakterisiert wird (vgl. Kutzelmann 2014: 163).
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gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen zu müssen (vgl. Petten 2010: 443), um
eine möglichst große Resonanz des Publikums zu erzeugen.8 Dadurch entsteht ein
buntes Sammelsurium an Subkulturen, Nationalitäten, Ideologien und Gesellschaftsschichten, die durch die Wrestler symbolisch und stereotypisch repräsentiert
werden und verschiedene Zielgruppen zur Identifikation einladen. Semantisch stehen
diese Figuren nur selten in Bezug zueinander. Ein Pirat kann am selben Abend gegen
einen texanischen Multimillionär antreten, an dem ein Gesandter des Todes auf
lateinamerikanische Kriminelle trifft. Die Skurrilität dieses Umstandes bleibt unerwähnt; es gehört zur Normalität. Der Wrestlingkosmos erlaubt keine Zweifel an
logischen Zusammenhängen, sondern kreiert eine comicartige Welt, in der nach
festen Regeln stattfindende Kämpfe als legitime Form der Konfliktlösung dienen (vgl.
Jenkins 2005: 41). Nur in Ansätzen lässt sich dabei zischen Haupt- und Nebenfiguren
unterscheiden. Eine viel entscheidendere Differenzierung zieht der Sport stattdessen
zwischen Babyfaces, die das moralisch Gute verkörpern, und Heels, die dieses Gute
aus unterschiedlichen Gründen zu zerstören suchen (vgl. Kutzelmann 2014: 45),
wobei seit den Neunzigerjahren auch Antihelden auftreten (vgl. ebd. 169). Selbst
dann, wenn sich die Kontrahenten nicht in einer Rivalität befinden, werden die
Kämpfe fast immer so angelegt, dass ein „Babyface“ auf einen „Heel“ trifft (vgl. ebd.).
Dadurch entwickelt jeder Kampf eine eigene Dramatik, die auch ohne erzählerischen
Kontext eine Geschichte in sich aufbaut und die Sympathien des Publikums klar
verteilt.
Neben dem enormen Angebot an Figuren, entsteht der Seriencharakter weiterhin
durch den Erzählrythmus ihrer gemeinsamen Geschichten. Ein wichtiger Beitrag
hierzu entstammt Aaron J. Petten, der sich ausführlich mit der narrativen Struktur
von Wrestlingshows beschäftigt hat. Petten charakterisiert die Erzählform des
Wrestlings als episodische, serialisierte und vielförmige Narrative, die simultan sechs
bis
acht unterschiedliche Geschichten gleichzeitig
erzählt,
die sich
zwar
überschneiden können, in der Regel aber getrennt voneinander existieren (vgl. 2010:
438). Bemerkenswert ist die scheinbare Unendlichkeit dieser Erzählung. WWE
MONDAY NIGHT RAW, eine der beiden von World Wrestling Entertainment veranstalteten Showreihen, wird seit 1993 wöchentlich ausgestrahlt und stand bereits
Aktuell existiert zum Beispiel der Charakter „Rusev“, der als treuer Anhänger Vladimir Putins gegen
amerikanische Werte kämpft.
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bei der Erstausstrahlung im geschichtlichen Kontext vorheriger WWE-Produktionen9.
Der Großteil der Konflikte, auch Fehden genannt, erstreckt sich über einen Monat und
endet in einer oft besonders spektakulären Klimax während der monatlichen Großveranstaltung, dem „Pay-Per-View“, der lediglich für zahlende Kunden verfügbar ist
(vgl. ebd. 441). Dieser Monat kann als eine Art Mini-Staffel verstanden werden, denn
die Großveranstaltung als Staffelende löst bestehende Konflikte und legt den
Grundstein für die kommenden Wochen. Den roten Faden innerhalb diese Zeitspanne
bilden oft, wenngleich nicht zwingend, die Titelgürtel (vgl. Jenkins 2005: 34), die
erneut zeigen, wie das Wrestling Sportelemente nutzt, um die Handlung
voranzutreiben. Titelgürtel, die wie im Boxen als höchste Auszeichnung einer Sparte
angepriesen werden, erlauben immer wieder neue Rivalitäten, definieren ein klares
Ziel und geben in manchen Fällen bereits inhaltliche Möglichkeiten vor: Den Wettstreit um die „United States Championship“ prägt häufig ein Kampf um amerikanische
Werte; die „Tag Team Championship“ bietet Potential für Geschichten von
Freundschaft und Verrat; die „WWE World Heavyweight Championship“ krönt nur
die Allerbesten. Diesen Titelfehden übergeordnet steht das vor allem historisch
bedeutsame Wrestlingjahr, das mit der imposanten Großveranstaltung WRESTLEMANIA
die größte Zäsur in dieser endlosen Narration setzt. WRESTLEMANIA beendet den
Jahreszyklus (vgl. Kutzelmann 2014: 70) und umschließt somit alle „Mini-Staffeln“ in
einer übergeordneten Zähleinheit, welche die offizielle Staffel definiert.
Die Nähe zur Fernsehserie zeigt sich zudem in denjenigen Fernsehsegmenten, die sich
nicht als Simulation einer Sportübertragung kategorisieren lassen. Gelegentlich wird
die Live-Veranstaltung von eingespielten Videoclips unterbrochen, die in ihrer
Ästhetik an Scripted-Reality-Formate hierzulande erinnern: Eine Kamera fängt das
Geschehen entweder hinter den Kulissen oder an Schauplätzen außerhalb dokumentarisch ein, wird aber häufig von den Protagonisten ignoriert. Es entsteht eine vierte
Wand, wodurch der Zuschauer für einen kurzen Moment passiver Zeuge einer sich
von ihm unbeeinflussbaren Szene wird. Vollkommen ausgeschlossen bleibt er dabei
nicht: Die Reaktionen auf das, was sich ereignet, sind während der Übertragung zu
hören. Ein Beispiel für eine solche Szene findet sich etwa in einer der aktuellen
Ausgaben von WWE MONDAY NIGHT RAW. Nachdem sich zu Beginn der Sendung ein
Bis 2002 trug das Unternehmen den Namen World Wrestling Federation. Aufgrund eines Rechtsstreits
wurde der Name geändert. Um Verwirrungen zu vermeiden, spreche ich allerdings nur von World
Wrestling Entertainment.
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Schlagabtausch aus der Halle hinter die Kulissen verlagert hat und dort in einer
dramatischen Flucht vor den Verfolgern endete, befiehlt das Management seiner
„Exekutive“ nur wenig später, noch an diesem Abend gegen die Verfolger anzutreten
(„WWE Monday Night Raw“. World Wrestling Entertainment. Staffel 22, Episode 38
(2014): TC 00:12.17 – 00:13:08). Natürlich standen die Begegnungen schon lange vor
Produktionsbeginn fest; das Segment legitimiert sie jedoch als logisches Ereignis
innerhalb der Geschichte und sorgt für Spannung und Vorfreude beim Zuschauer.
Wrestling teilt also viele Gemeinsamkeiten mit fiktionalen Serien, besonders der
Daily Soap: Unterteilt in Episoden und Staffeln, die verschiedene Erzählstränge mit
jeweils eigenen Thematiken erzählen und in denen die Figuren aufgrund der
theoretischen Endlosigkeit der Geschichte in immer neuen Beziehungen zueinander
stehen, werden Geschichten, häufig mit popkultureller oder gesellschaftlicher Relevanz, erzählt, die aufgrund ihrer Flexibilität das Interesse des Publikums wecken.
3. Körpersprache und Performativität
Nachdem bisher Formen und Ästhetik der Sportübertragung sowie der fiktionalen
Fernsehserie als erzählerische Mittel im Professional Wrestling herausgearbeitet
wurden, soll nun die dritte und letzte Ebene der Performativität im Fokus stehen.
Aufgrund der Darbietung einer dramatischen Handlung auf einer Bühne - dem Ring vor Live-Publikum liegen Parallelen zur klassischen Theateraufführung nahe. Wie
bereits Kutzelmann bemerkt, kann dieser Ansatz der Wrestlingshow jedoch nicht
gerecht werden, da sie weder im Detail geplant ist noch ausschließlich passiv vom
Publikum rezipiert wird (vgl. 2014: 40). Stattdessen funktioniert Wrestling vielmehr
als Aufführung einer Performance (vgl. ebd. 43), wie sie auch im postmodernen
Theater seit der Jahrtausendwende aufblühen (vgl. Tecklenburg 2014: 119).
Performances entsagen sich traditionellen, vorgeschriebenen Erzählmethoden und
bevorzugen das Spiel mit „narrativen Mustern, Stoffen und Erzählmedien (Sprache,
Bild, Geste)“ (ebd. 21), wobei die Zuschauer bewusst in der Geschichte auftreten und
aktiv ihrer Entwicklung teilnehmen können (vgl. ebd 22). Dadurch entsteht ein
„offenes, dynamisches und unkalkulierbares Ereignis“ (ebd. 23), das dennoch nicht
zwingend auf dramatische Erzählsituationen verzichten muss (ebd.).
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Außerhalb der Kämpfe zeigt sich diese Performativität besonders in den bereits
erwähnten Mono- und Dialogsegmenten im Ring. Als wiederkehrendes Element
zwischen den sportlichen Auseinandersetzungen, betreten immer wieder Figuren die
Arena, um eine Ansprache an das Publikum zu halten. Grundsätzlich handelt es sich
dabei um melodramatische Momente, in denen der Charakter seine inneren Motive
und Gefühle offenbart (vgl. Jenkins 2005: 49), das aktuelle Geschehen kommentiert
oder seinen derzeitigen Rivalen denunziert, wonach dieser in der Regel ebenfalls
hinzustößt und ein verbaler Schlagabtausch entsteht. Jeder dieser Momente ist dabei
einzigartig und kann niemals reproduziert werden (vgl. Kutzelmann 2014: 48). Die
Konstellation der Beteiligten mag immer wieder ähnlich sein, ihre Anliegen die
gleichen wie bereits in der Woche zuvor, doch die jeweilige Live-Dynamik variiert.
Dadurch bieten auch die sogenannten Houseshows, die nicht im Fernsehen
ausgestrahlt werden, sondern exklusiv für ein lokales Publikum veranstaltet werden,
immer ein einzigartiges Ereignis, selbst wenn Begegnungen, seien sie verbal oder
physisch, wiederholt werden. Wie die Kämpfe, sind auch diese Segmente nur
teilweise geplant und verlangen von den Beteiligten Improvisationstalent und
rhetorisches Geschick. Dabei nimmt das Publikum eine entscheidende Funktion ein,
denn es bestimmt den Verlauf der Situation mit und sortiert Uninteressantes aus. Die
Protagonisten provozieren oder euphorisieren das Publikum, sie stellen Fragen, die
durch annehmende oder ablehnende Reaktionen beantwortet werden und sie
schweigen, um den Jubel oder den Buhrufe aus den Zuschauerreihen Gehör zu verschaffen. Ob es sich dabei um einen Helden oder Schurken handelt, spielt keine Rolle:
Ein erfolgreicher Wrestler versteht es, das Publikum in die Darbietung einzubinden
und dieses Feedback effektiv zu nutzen. Genau wie die von Tecklenburg beschriebene
Performance AND ON THE THOUSANDTH NIGHT, die einen Erzählwettstreit zwischen sechs
Protagonisten mit Beurteilung durch das Publikum inszeniert, stellt das Wrestling die
Frage, wer spontan die beste Geschichte erzählt und die Zuhörer auf Dauer begeistert
(vgl. 2014: 129). Als interessantes Beispiel dafür, wie adaptiv und improvisiert das
Wrestling ausgehend von der Publikumsresonanz erzählen kann, sei die von Steve
Williams verkörperte Figur des „Steve Austin“ erwähnt. Obwohl es der ursprüngliche
Plan der Autoren war, Austin 1996 als Heel-Charakter einzuführen, überzeugte
Williams derart durch seine rebellische, antiautoritäre Rhetorik, dass er von den
Zuschauern als Antiheld bejubelt wurde. Diese unvorhergesehene Wendung
erforderte eine dementsprechende Reaktion in der Planung weiterer Sendungen (vgl.
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Kutzelmann 2014: 188). Der Verlauf der erzählten Geschichte wurde also maßgeblich
durch die Zuschauer beeinflusst.
An dieser Stelle soll nun auch erstmals der bisher ausgesparte Kern einer Wrestlingveranstaltung - der Kampf an sich - im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Neben
der Akrobatik der Akteure, die natürlich als reale Sportleistung angesehen werden
darf, handelt es sich bei den Wrestlingkämpfen um eine spielerische Performance par
excellence. Dialoge und die Rahmenhandlung rücken in den Hintergrund und an die
Stelle der textuellen Assoziationen treten somatische Ausdrucksformen (vgl.
Kutzelmann 2014: 88). Der Körper selbst wird somit zum Instrument der Erzählung.
Durch die hohe Geschwindigkeit der Manöver auf kleiner Fläche, durch das eng
umschlungene Ringen und die Wucht von Schlägen und Stürzen, entsteht ein
Spektakel, das an eine choreographierte Tanzaufführung erinnert. Das Publikum steht
dabei niemals außen vor, sondern gibt stets den Takt vor. Schlagserien werden im
Rhythmus mit Rufen begleitet, jedes Klopfen des Ringrichters laut mitgezählt und
schmerzhafte Aktionen höhnisch mitfühlend quittiert. Wenn der Held leidet und kurz
vor der Ohnmacht ist, jubeln die Massen frenetisch; sie bringen den geschwächten
Körper, der natürlich nur auf diese Reaktion gewartet hat, zum Beben und beben
selbst angesichts der neugewonnen Hoffnung auf einen „gerechten“ Sieg (vgl.
Kutzelmann 2014: 159). Mit ihren charakteristischen Gesten versuchen die
Superstars zudem, die Stimmung in der Arena anzuheizen und in eine bestimmte
Richtung zu lenken. Die Interaktion zwischen Athleten und Publikum kann sogar
noch intensivere Formen annehmen, etwa wenn die Beobachter physisch in das
Kampfgeschehen eingreifen. Eine Spezialität von Extreme Championship Wrestling,
das in den Neunzigerjahren als Alternative zur WWE mit Schwerpunkt auf einer
härteren Gewaltdarstellung angeboten wurde, waren die sogenannten „Bring Your
Own Weapon“-Matches. Wie der Name bereits verrät, konnten die Zuschauer hierfür
eigene Gegenstände wie Haushaltsgeräte oder Werkzeuge mitbringen, die teilweise in
die Kampfperformance eingebaut wurden. Das Publikum hat den Verlauf dadurch
interaktiv mitgestaltet. Auch wenn diese Art der Auseinandersetzung heutzutage
nicht mehr veranstaltet wird, bleibt das Spiel mit dem Publikum ein wichtiger
Bestandteil im Wrestling. Als beliebtes Stilmittel der Ringdramatik verlagert sich das
Kampfgeschehen beispielsweise häufig vor den Ring, direkt an die Zuschauerbanden.
Dort werden die Protagonisten entweder durch Schulterklopfen motiviert, oder sie
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geraten in Streitereien mit den Anwesenden, was in der Dramaturgie nicht selten als
Moment der Ablenkung benutzt wird. In jedem Fall findet das Gefecht in direkter
Nähe zum Publikum statt, das auch dank mobiler Kameras und einer hellen
Innenraumbeleuchtung bewusst für die Gesamtinszenierung eingefangen wird. Soll
die Darbietung besonders interaktiv verlaufen, kann es sogar passieren, dass die
Kampfhandlung inmitten der Sitzreihen stattfindet, was dazu führt, dass die Körper
miteinander in Berührung kommen und die für eine Performance typische,
„interdependente Verschmelzung“ (Tecklenburg 2014: 52) zwischen Umgebung,
Bewegung, Körper und Narration eingehen (vgl. ebd.).
Merkmale des performativen Theaters sind im Wrestling folglich omnipräsent, sei es
in der melodramatischen, theatralischen Figurenrede oder in den Kämpfen an sich.
Ohne die permanente Resonanz der Zuschauer und die Möglichkeit, diese in das Geschehen miteinzubeziehen, ohne die Improvisation alleine oder gemeinsam mit
anderen im Ring würde dieser Form der Sportunterhaltung eine wichtige Komponente abhandenkommen, die in ihrer Art und Weise einzigartig ist. Das Publikum
ist Teil der Diegese und nimmt durchgängig am Erzählprozess Teil.
4. Fazit: Sports Entertainment – Ein Erzählhybrid
Mein Anliegen in der vorliegenden Arbeit war es, zu skizzieren, mit welchen Mitteln
das Wrestling die für seinen Erfolg so ausschlaggebenden Figuren und Geschichten
vermittelt. Dabei konnten drei verschiedene Methoden ermittelt werden, die
miteinander kombiniert die spezifische Erzählweise definieren. Den äußeren Rahmen
bildet die Ästhetik einer Sportübertragung. Interviews, Live-Kommentatoren, der
Einsatz der Zeitlupe sowie die vermeintliche Wettbewerbssituation verstärken nicht
bloß den Anschein eines realen Sportumgebung, was den ständigen Konflikt zwischen
unterschiedlichen Protagonisten auf der fiktionalen Ebene legitimiert, sondern werden gezielt zum Aufbau von Figuren eingesetzt. Wie in einer Daily Soap existiert eine
Vielfalt dieser Charaktere, die zumeist aktuelle, gesellschaftliche Entwicklungen
widerspiegeln und sich in einer endlosen Erzählung trotz fehlender semantischer
Bezüge immer wieder in neuen Konstellationen miteinander befinden. In
monatlichen Mini-Staffeln, die in Großveranstaltungen ihren Anfang und ihr Ende
finden, werden Konflikte aufgebaut, ausgebaut oder wieder gelöst. Durch fiktionale
Segmente wird die Handlung vorangetrieben und die Identifikation mit den Figuren
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zusätzlich gestärkt. Die dritte Ebene wird in ihrer Gänze nur von den anwesenden
Zuschauern erlebt, vor deren Augen sich eine Performance entfaltet, die sie je nach
Situation bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, mitgestalten und sogar verändern
können. Frei vorgetragene Texte ermöglichen das Spiel mit den Reaktionen, die
Bewegung und Körperlichkeit im Kampf sorgen für einen physischen Kontakt mit
dem Publikum. Am Ende steht eine Live-Performance, die durch das Zusammenwirken aller Beteiligten zu einem Unikat geformt wurde.
Wrestling als Sports Entertainment nutzt den Vorwand des Profisports also, um ein
ganz eigene Form der Unterhaltung anzubieten. Charakteristika der Sportübertragung, der Fernsehfiktion und des performativen Theaters treffen hier aufeinander,
um altbekannte Geschichten originell zu verpacken. Im Ring werden altbekannte
Konflikte der Menschheit sowie zeitgenössische Problemstellungen vereinfacht
aufgearbeitet und leicht zugänglich für ein breites Publikum verschiedener Gesellschafts- und Altersgruppen unterhaltsam neuinterpretiert. Tim Wiese wird
folglich nicht nur Wrestler, sondern vor allem ein Entertainer, der sich und seine
Geschichten ansprechend präsentieren muss.
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5. Quellenverzeichnis
Bibliographie
Kutzelmann Philipp (2014): Harte Männer: Professional Wrestling in der Kultur
Nordamerikas. Bielefeld: transcript Verlag
Tecklenburg, Nina (2014): Performing Stories: Erzählen in Theater und Performance.
Bielefeld: transcript Verlag
Jenkins, Henry III (2005): Never Trust a Snake: WWF as Masculine Melodrama. In:
Nicholas Sammond (Hg.). Steel Chair to the Head. Durham: Duke University Press,
33 – 66.
Petten, Aaron J. (2010): “The narrative structuring and interactive narrative logic of
televised professional wrestling.” New Review of Film and Television Studies, Jg. 8,
Nr. 4, 436 – 447.
Morse, Margaret (2008): „Sport im Fernsehen. Wiederholung und Spektakel.“
montage a/v, Jg. 17, Nr. 1, 7 – 38.
Müller, Eggo/Stauff, Markus (2008): „Zur Medienästhetik des Sports.“ montage a/v, Jg.
17, Nr. 1, 4 -6.
Müller, Eggo (2008): „Fußball, Fernsehen, Unterhaltung. Zur ästhetischen Erfahrung
des Fußballs im Stadion und am Bildschirm.“ montage a/v, Jg. 17, Nr. 1, 151 – 172.
Online
Wöckener, Lutz (2014): „Muskel-Torwart Tim Wiese soll jetzt Wrestler werden“. Axel
Springer SE, http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_sport/article132326
554/Muskel-Torwart-Tim-Wiese-soll-jetzt-Wrestler-werden.html (05.10.2014)
Filmographie
„WWE Monday Night Raw“. USA Network. World Wrestling Entertainment. (1993)*
“WWE WrestleMania” Diverse. World Wrestling Entertainment (1985)*
“Extreme Championship Wrestling”. TNN (Spike). Extreme Championship Wrestling.
(1999)
*Die Angaben beziehen sich auf die Erstausstrahlung als WWF-Produktion.
Aufführungen
“And on the Thousandth Night”. Forced Entertainment. (2000)