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Dienstag, 26. Mai 2009
DIE SEITE DREI
HF2
Süddeutsche Zeitung Nr. 119 / Seite 3
Im Labyrinth der Macht
Wer Brüssel sagt, meint das meist anklagend: Die Stadt steht für Europas Bürokratie, für sinnlose Regeln, für Geldverschwendung.
Doch jenseits der EU-Paläste entfaltet die belgische Metropole ihren eigenen, trägen Charme. Und auch das sind nur zwei Seiten von vielen
Von Cornelia Bolesch
Brüssel – Es sind nur wenige Quadratkilometer, auf denen in Brüssel Europa den
Ton angibt. Doch die reichen aus, um die
Gegend rund um den Rond Point Schuman in eine besondere Theaterbühne zu
verwandeln. Im Morgengrauen rücken die
Hauptdarsteller an: Politiker, Beamte
und Lobbyisten aus aller Herren Länder.
Wie Europas Rinder tragen auch die Europamenschen Erkennungsmarken, nicht
im Ohr natürlich, sondern als Plastikkärtchen um den Hals. Mit ihren Rollkoffern
rattern sie über das Pflaster, eilen zwischen klotzigen Gebäuden hin und her, zu
Ausschüssen und Konferenzen. Autos hupen im Stau, Demonstranten blasen in
Trillerpfeifen, Presslufthämmer knattern. Unter der Erde wird die Röhre einer
neuen Metro-Verbindung gebaut. Europa
wuchert voran in Brüssel.
Nur einige Schritte entfernt – eine andere Welt. In einem Park, zwischen dösenden Enten, absolvieren Schulklassen ihre
Turnübungen. Ein Mann in einem Kiosk
schaufelt dicke Fritten in Tüten. Menschen sitzen beim Bier. Sie scheinen alle
Zeit der Welt zu haben. Unbeeindruckt
von europäischer Hektik entfaltet die
Stadt hier ihren verschmuddelten, trägen
Charme. In diesem Brüssel nimmt man vieles nicht so ernst, vor allem nicht sich
selbst. Wer das erlebt, dem erscheint es besonders kurios, wie schnell man in der
Welt einfach „Brüssel“ sagt, wenn doch
die EU gemeint ist. Meistens klingt es
auch nicht besonders freundlich.
Erst schimpft die Bücherfrau,
dann schwärmt
sie von den Nachbarn
Ein Flickenteppich aus
19 Gemeinden, alle
führen ihr Eigenleben
Den Bürgermeister der Stadt stört das
schlechte Image von Brüssel nicht. „Überall gehen die Leute auf Distanz zu dem
Ort, in dem die Macht sitzt“, meint Freddy Thielemans. „Dieses Phänomen ist universell, unumkehrbar.“ Die Hauptstadt
Europas sei davon genauso betroffen wie
Paris oder Madrid. Manchmal, wenn er
Vorträge im Ausland hält, dann erklärt
der Bürgermeister erst einmal augenzwinkernd, dass nicht er es sei, der für den
„Brüsseler Unsinn“ verantwortlich zeichne. Thielemans hat andere Sorgen. Er hat
zwar den vielleicht schönsten Arbeitsplatz, den ein Stadtoberhaupt in Europa
nur haben kann, das elegante gotische Rathaus am Großen Markt. Doch hier, umrahmt von prächtigen barocken Zunfthäusern, zerbricht sich der joviale Sozialdemokrat zwischen vergoldetem Mobiliar
und kostbaren Skulpturen den Kopf, wie
er jungen Migranten einen Job verschafften kann.
Bereits die Hälfte der Einwohner Brüssels stammt von Immigranten ab. Im Rathaus arbeiten Dezernenten, die Faouiza
Hariche, Hamza Fassi-Fikri oder Mohamed Ouriaghli heißen. Insgesamt aber
kommt Brüssel mit der Zuwanderung
schlechter zurecht als andere Städte in
Europa. Von den jungen Migranten haben
40 Prozent keine Arbeit. Dabei zieht die
Stadt internationale Organisationen und
Unternehmen aus der ganzen Welt an.
Den EU-Gremien verdankt sie 15 Prozent
ihrer Arbeitsplätze. „Europa ist gut für
Brüssel“, sagt Bürgermeister Thielemans.
Doch die Dreifach-Metropole von
Europa, Belgien und Flandern schwächelt vor sich hin.
„Man arrangiert sich“: Die Brüsseler leben mit der Hektik der
EU-Vertreter, ohne sich von ihr
anstecken zu lassen. Die Stadt
hat ganz andere Sorgen, Arbeitslosigkeit zum Beispiel und den Autoverkehr. Foto: laif
„Brüssel ist ein phantastisches Paradox“, sagt Emmanuel van Innis, der Präsident des Unternehmerverbands. „Es ist
die produktivste Region in Belgien, aber
auch die mit der höchsten Arbeitslosigkeit.“ Schuld ist die Gemeindestruktur in
Belgien, ein undurchdringliches Labyrinth. Bürgermeister Thielemans etwa ist
gar nicht zuständig für Brüssel als Ganzes. Er regiert nur eine einzige Gemeinde,
die „Stadt Brüssel“ heißt. Es gibt 18 weitere Gemeinden, alle zusammen bilden den
Großraum Brüssel. Und alle haben sie ein
ausgeprägtes Eigenleben. Einen Großteil
ihrer Energie verwenden sie zum Beispiel
darauf, den ständig anschwellenden Autoverkehr möglichst in die Nachbargemeinde zu lenken. Über den 19 Gemeinden
thront, als eine Art Klammer, zwar seit
20 Jahren die „Hauptstadtregion“ Brüssel mit einer eigenen Regierung. Doch der
geht es wie früher einer „Chinesin, der
man die Füße einwickelt, bis sie verkrüppeln“, klagt ihr Wirtschaftsminister
Benoit Cerexhe.
Die Hauptstadtregion Brüssel mit einer
Million Einwohnern liegt mitten in Flandern. Ein organisches Wachstum in die flämische Hoheitszone hinein ist der überwiegend frankophonen belgischen Hauptstadt quasi verboten, obwohl sie auch
Hauptstadt der Flamen ist. Das Land hat
sich in feste Sprachräume eingemauert.
Vernünftige öffentliche Verkehrswege ins
Umland, eine großzügige Raumplanung –
in Brüssel alles Fehlanzeige. Die Stadt verliert zudem die Steuern der Pendler, weil
die Menschen dort besteuert werden, wo
sie wohnen. So trägt die Metropole zwar
ein Viertel zum belgischen Nationalvermögen bei, bekommt aber nur einen
Bruchteil der Mittel zurück. Immer mehr
Brüsseler fühlen sich als Opfer des erstarrten politischen Systems und wehren sich.
Seit einem Jahr versammeln sich an jedem ersten Samstag im Monat einige Dutzend Menschen auf öffentlichen Plätzen.
Über dem Grüppchen flattert ein Transparent, es trägt die Aufschrift: „Wir sind eine Million!“Hinter der surrealistisch anmutenden Aktion, die Bürgersinn mobilisieren soll, steckt Arau, eine der ältesten
Initiativen in Brüssel. Ein Anwalt, ein
Priester, ein Soziologe und ein Architekt
taten sich vor vierzig Jahren zusammen
und gründeten das „Atelier de Recherche
et d’Action Urbaine“. Es war die Zeit, als
es noch keine Regionalregierung gab und
gierige Baufirmen das politische Vakuum
in Brüssel ausnutzten. Sie zermalmten
wertvolle Jugendstil-Häuser und zogen
mittelmäßige Büroblocks hoch. Auch viele Bausünden im Europaviertel sind so entstanden. Bis heute nennt man solche städtische Barbarei „Bruxellisation“. Dann,
1969, entstand Arau. Einige Zeit später
hatte sich die Initiative einen Namen gemacht, nicht nur mit historischen Stadtführungen. Sie konnte durchsetzen, „dass
kein Bauvorhaben mehr durchgeführt
wurde, ohne die Öffentlichkeit zu beteili-
„Wir kämpfen für
weniger Büros
und mehr Wohnungen“
gen“, erzählt die heutige Direktorin, Isabelle Pauthier. „Seither kämpfen wir für
weniger Büros und mehr Wohnungen.“
Isabelle Pauthier ist Historikerin. Sie
kommt aus Frankreich und meint, Ausländer täten Brüssel gut. „Wir Franzosen
sind militanter. Das Lieblingsmotto der
Belgier ist doch: ,Man arrangiert sich‘.
Die Belgier haben gegenüber der Politik
schon resigniert.“
Mit der Ruhe in Brüssel scheint es jedoch vorbei zu sein. Am 7. Juni, gleichzeitig mit der Europawahl, finden in Belgien
Regionalwahlen statt. Zum ersten Mal in
Belgiens Geschichte tritt in Brüssel eine
zweisprachige Partei an. Eine Sensation,
obwohl die Hauptstadt selbst auch zweisprachig ist. Aber hier wählt man entweder flämische oder frankophone Kandidaten, nie beide zusammen auf einer Liste.
Die beiden Sprachen dürfen nebeneinander existieren, aber sich nicht zu nahe
kommen, das ist belgische Logik. Auch
die politischen Neulinge mussten ihr nachgeben. Sie stellen sich nun in zwei Listen
zur Wahl – aber mit einem gemeinsamen
Programm. Sie fordern mehrsprachige
Schulen, mehr Kompetenzen für Brüssel
in der Bildungs- und Kulturpolitik, das
Regionalwahlrecht für EU-Ausländer
und einen eigenen finanziellen Beitrag
der EU für die Ausgaben der Stadt. Den
Namen ihrer Partei mixten sie aus dem
französischen „Bruxelles“ und dem niederländischen „Brussel“: „ProBruxsel“.
Der junge Journalist Peter Philp ist sofort Mitglied geworden. Er sagt: „ProBruxsel ist die erste Partei, die Leute wie
mich anspricht.“ Philp ist ein EuropaMischling. Seine Mutter ist Dänin, der Vater Engländer. Er selbst ist in Luxemburg
geboren, wo die Mutter als EU-Beamtin
gearbeitet hat. Seit drei Jahren lebt er in
Brüssel. Er schreibt für das Bulletin, ein
englischsprachiges Wochenmagazin für
die EU-Ausländer in der Stadt. Philp ist
Protest mit Pop und Popularität
Der türkische Superstar Tarkan kämpft gegen den Bau des Ilisu-Staudamms, der auch mit deutscher Hilfe die Heimat von 70 000 Menschen unter Wasser setzen soll
Von Kai Strittmatter
Istanbul – Tarkan. Sänger, 36 Jahre alt.
Geboren in Deutschland, mit 13 vom Vater in die Türkei gebracht. Heute: Der
größte Popstar, den die Türkei in den letzten 20 Jahren hervorgebracht hat. Der
Einzige, der auch in Europa Erfolg hatte.
Und in Russland. Und in Mexiko. Als die
Washington Post ihn vor ein paar Jahren
ihren Lesern vorstellte, da schrieb sie:
„Stellen Sie sich Elvis vor, Elvis 1957.“
Die Jugend eines ganzen Landes verrückt
nach dem Hüftschwung eines jungen Rebellen. Die Eltern entsetzt. Die Zeitung
ging noch weiter, beschrieb die Obsession
der Türken mit Republikgründer Atatürk
und schloss: „Atatürk hat Konkurrenz
bekommen“. Zu Songs wie „Simarik“
(„Frech“) tanzten sie in deutschen Discos
ebenso wie in den Filmen Bollywoods. Im
„Sauren Wörterbuch“, der populären türkischen Online-Enzyklopädie, heißt es:
„Keiner, der Ohren hat, entkommt ihm.“
Also, aufgemerkt, Ministerpräsident
Tayyip Erdogan, aufgemerkt, Kanzlerin
Angela Merkel, Tarkan hat etwas zu sagen. „Ich bin reifer geworden, erwachsener. Früher war ich oft eine Nervensäge,
hab’ den Rockstar gespielt.“ Und heute?
Hat er ein zweites Leben. „Ich bin nun ein
Krieger für die Natur. Für Orte wie Hasankeyf.“ Und warum sollte das Premier
Erdogan und Kanzlerin Merkel scheren?
„Ich werde einen Platz wie Hasankeyf beschützen bis zum Ende meines Lebens“,
sagt Tarkan: „Und wenn es sein muss,
dann werde ich mich Präsidenten und Regierungen entgegenstellen.“
So pathetisch wie sich das hier liest,
hört es sich aus Tarkans Mund gar nicht
an. Tarkan sitzt im Tourbus hinter der
Bühne in der Nähe des Istanbuler Flughafens, auf der ein DJ die Menge gerade für
seinen Auftritt anheizt, und er klingt eher
ernst und nachdenklich. Wenn man ihn
fragt, wie in aller Welt die türkische Regierung überhaupt auf die Idee kommen kön-
ein Prototyp dieser Patchwork-Gemeinde. Von der ersten Minute an, sagt er, habe
er sich in Brüssel zu Hause gefühlt. „Diese
Stadt gehört niemandem. Und deshalb gehört sie allen.“ Seit die Redaktion des Bulletin aus Kostengründen ins flämische
Umland gezogen ist, pendelt er jeden Tag
zwischen dem Büro und seiner Wohnung.
Er lebt mit seiner südafrikanischen Freundin mitten im Zentrum.
Peter Philp gesteht, dass das Leben mit
so vielen Kulturen einem „ganz schön auf
die Nerven gehen kann“. Auch mit dem
belgischen Laissez-faire hat er Probleme.
„Da, wo ich wohne, ist die Straße sehr eng.
Da dürften überhaupt keine Autos parken. Aber ständig ist eine Seite voll zugeparkt“, klagt er. Einmal habe er zwei Polizisten, die dort vorbeistolzierten, gefragt,
warum sie nichts unternähmen. „Die meinten, das sei doch alles nicht so schlimm.
Brüssel sei halt eine große Stadt mit vielen
Autos. Außerdem hätten sie bald Mittagspause.“ Als Däne, sagt Philp, könnte er
manchmal verrückt werden in Brüssel. Andererseits: „In Dänemark könnte ich nicht
mehr leben. Alles ist so ordentlich dort.“
Eine Studie fragte kürzlich nach der
„Identität“ der Einwohner von Brüssel.
ne, einen Ort wie Hasankeyf, die Felsenstadt über dem Tigris, das Schatzkästlein
von 10 000 Jahren Menschheitsgeschichte, unter Wasser zu setzen für einen Staudamm, der gerade mal fünf Jahrzehnte arbeiten wird, dann antwortet er: „Wissen
Sie, was mich viel mehr verblüfft, ist, wie
so zivilisierte Länder wie Deutschland
oder die Schweiz darauf kommen können,
ein solches Projekt zu unterstützen. Ein
Projekt, das nicht nur Hasankeyf umbringen wird, sondern auch die Natur im Tigristal zerstört und fast 70 000 Menschen
aus ihrer Heimat vertreibt.“
Auflagen gibt es
viele, keine davon
wurde erfüllt
Die Frage ist brandaktuell. In diesen Tagen nämlich fällt die Entscheidung, ob
das Trio Deutschland, Schweiz und Österreich wirklich mitmacht beim Bau des
Ilisu-Damms. Lange sah es so aus, als sei
das beschlossene Sache: Die Türkei kann
den Damm nicht alleine bauen, sie
braucht Know-how und Finanzierung
aus dem Ausland. Nachdem die Weltbank
und ein britisches Konsortium sich zurückzogen, weil das Projekt internationalen Standards nicht genügte, sprangen
Deutsche, Schweizer und Österreicher in
die Bresche: Firmen aus den drei Ländern
sollen den Damm bauen, ihre Regierungen wollten die Finanzierung absichern
mit Exportkreditgarantien, in Deutschland also mit Hermesbürgschaften. Um
Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, schrieben die Europäer einen Katalog von mehr als 150 Auflagen zu Natur,
Kulturgütern und Menschenrecht, den
die Türkei erfüllen sollte. Eine internationale Expertenkommission reiste zweimal
in die Region, um die Einhaltung der Auflagen zu überprüfen – und kam zu einem
vernichtenden Ergebnis: Vor allem bei
der Umsiedelung der kurdischen Bauern
und beim Kulturgüterschutz habe Ankara praktisch sämtliche Auflagen ignoriert. So kam es zu Zwangsenteignungen,
und zur Rettung des alten Hasankeyf
schlug die Türkei einen historischen
„Denkmalpark“ auf einem nahegelegenen Hügel vor (was der deutsche GrünenChef Cem Özdemir mit der Verlegung des
Kölner Doms auf den Petersberg verglich). Und der Rest? Eine Broschüre des
Baukonsortiums schwärmte vom Potential des Tauchtourismus im künftigen Stausee. „Was für ein Witz“, sagt Tarkan: „Sie
sind sich für keine Ausrede zu schade.“
Nach den Expertenberichten taten die
Exportkreditagenturen etwas Einmaliges: Sie schickten Ankara einen „blauen
Brief“ und suspendierten die Verträge.
Die Dammgegner jubelten – etwas voreilig, wie sich bald herausstellte: Hinter den
Kulissen loteten die Beteiligten weiter alle Möglichkeiten aus, um bis zum Ablauf
des Ultimatums am 6. Juli doch noch zu einer Einigung zu gelangen. „Es geht um
viel Geld. Die Europäer wollen die Türkei
nicht verprellen, weil sie große Geschäfte
für die Zukunft wittern“, glaubt Güven
Eken, der Vorsitzende des türkischen Naturschutzbundes Doga Dernegi. In der
Tat gibt es kaum ein Land, das so versessen auf Dammbau ist wie die Türkei: Die
staatliche Wasserbaubehörde DSI hat angekündigt, mehr als 600 Dämme im Land
bauen zu wollen. „Praktisch, dass unser
heutiger Umweltminister der frühere
DSI-Chef und Staudammlobbyist Veysel
Eroglu ist. Hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht“, sagt Güven Eken. Er ist
dennoch zuversichtlich: Wenn die Europäer sich zurückziehen, glaubt er, habe der
Damm keine Chance mehr: „Das ist ein
Projekt der fünfziger Jahre, stellen Sie
sich vor! Wir leben heute in einer anderen
Welt. Auch in der Türkei weiß das Volk
heute seine Kultur zu schätzen.“
Es waren Güven Eken und seine Umweltschützer, die Tarkan besuchten und
„Ihr müsst uns auch ersäufen“: Der Sänger Tarkan (links) will notfalls eine Million
Demonstranten ins bedrohte Gebiet bringen.
Foto: Sedat Mehder
zum Aktivisten machten. „Er ist perfekt
für unsere Sache“, sagt Eken: „Er ist authentisch und bescheiden. Die Leute lieben ihn. Und es ist bekannt, dass er die Natur liebt.“ Tatsächlich kommt Tarkan ohne jedes Superstargehabe aus, und seinen
eigenen Kopf hatte er schon immer. Die
Kritiker der Zeitung Sabah nannten ihn
bei Erscheinen seines letzten Albums „Metamorfoz“ 2007 den „Orhan Pamuk der
Musik“: einer, der trotz aller Angriffe seinen eigenen Weg geht. Kreuzfeuer ist er
gewohnt, dafür braucht es in der konservativen Türkei nicht viel. Tarkan bekam
das zu spüren, als er 1993 antrat, den Türken erst seine nackte Brust zeigte und
kurz darauf mit einem lakonischen „Ich
muss mal pissen, Mann“ vor laufenden
Kameras die eben erst gestartete Karriere
beinahe schon wieder versenkte. Bis heute gibt es Leute, die Tarkans „Abfall von
den türkischen Sitten und Gebräuchen“
beklagen, wie Anfang Mai erst wieder die
ultrarechte Oppositionspartei MHP: Ein
MHP-Funktionär besuchte am Schwarzen Meer das Grab von Tarkans Großvater Fethi Tevetoglu, eines bekannten Nationalisten, und rief Tarkan zur Umkehr
auf: „Er soll sich besinnen und wie sein
Großvater heldenhaft für unsere Nation
kämpfen.“
Tut er ja. In der Türkei ist Tarkan der
Erste, der mit seinem Engagement dem
Beispiel von Leuten wie Bono oder Bob
Das erstaunliche Resultat: 88 Prozent der
Befragten fühlen sich als „Brüsseler“, Polen genauso wie Portugiesen, Türken genauso wie Marokkaner. Die Polen hängen
sich das Bild mit dem belgischen Königspaar an die Wand und heften daneben ein
altes Bild von ihrem Papst. Die Marokkaner nennen sich „Maroxellois“ und radebrechen den alten Stadtdialekt, der Französisch und Niederländisch heftig durcheinandermischt. Gebürtige Brüsseler bezeichnen sich stolz als „Zinnekes“, als
Mischlinge.
Francine Czwetko gehört auch dazu.
Die 76-Jährige ist Rentnerin, steht aber
immer noch an der Kasse der kleinen
Buchhandlung „Librairie de France“ im
Europaviertel. Sie hilft ihrem Sohn.
„Czwetko, das klingt nicht besonders belgisch, oder?‘, sagt sie. Wie kann das auch
sein, wenn der Vater Ungar, die Mutter
Holländerin ist. Die Tochter jedenfalls
sieht sich als „echte Brüsselerin“. Wie
man das wird? „Wenn man in Brüssel geboren ist und Brüssel liebt“, sagt sie. Doch
bei aller Schwärmerei schimpft die alte
Frau auch gehörig auf die Stadt. Sie finde
sich in Brüssel nicht mehr zurecht, sagt
sie. Es gebe zu viele Fremde und alle lebten sie auf Kosten der Belgier. „Je größer
Europa wird, umso weniger kriegen wir.“
Tritt man aus dem Buchladen, sieht
man das Europaparlament wie ein gestrandetes Schiff zwischen den Häusern
liegen. Vom alten Bahnhof Gare du Luxembourg ist nur die historische Fassade
übriggeblieben. Auf die Europaabgeordneten ist Francine Czwetko nicht gut zu
sprechen. Die leisteten sich in ihrem Parlament doch glatt einen eigenen Buchladen.
„Wer kauft dann noch bei uns?“ Außerdem gibt es im Parlament auch eine eigene Post. Im Viertel dagegen wurde die
Poststelle zugemacht. Als kürzlich Tag
der Offenen Tür war, hat sie das Parlament, den ungeliebten Nachbarn, aber
doch besucht. Sie wollte Vorträge über
die EU hören und sagt, „ich bin zu 200 Prozent für Europa“.
Menschen wie Francine Czwetko sind
es, die aus Europas Hauptstadt ein Biotop
aus Temperamenten, Sprachen und Kulturen machen. Einer der Aktivisten der neuen Partei „ProBruxsel“ sagt: „Wenn wir
schon Belgien vermasselt haben, sollte
uns wenigstens Brüssel gelingen.“
Zwei weitere Reportagen zur
Europawahl folgen.
Geldof nacheifert. Außerdem fotografiert
er leidenschaftlich: Natur, Landschaften.
„Das hilft mir gegen all die negative Energie“, sagt er, „das Fotografieren. Und die
Musik. Und der Sex.“ Er macht eine Pause, grinst: „Umweltverträglicher Sex“.
Die Brauchtumsträger von der MHP werden ihn wohl nicht mehr lieben lernen.
Aber Tarkan hat Einfluss. Als der Sänger
unlängst beim Kulturminister war, um
ihn für den Erhalt Hasankeyfs zu gewinnen, legte sein Erscheinen zeitweise das
Ministerium lahm. „Ich glaube, dass er eine neue Ära hier einläutet“, sagt Naturbundchef Güven Eken. „Die Regierung
hat es nun nicht mehr so einfach, alle Gegner des Damms als Terroristen abzustempeln – was die Leute eingeschüchtert
hat.“ Tarkan hat für Ekens Verein ein
Lied aufgenommen. Es heißt „Uyan“, Erwache. Orhan Gencebey, die Legende der
Arabeskmusik, Idol einer älteren Generation, spielt darin die Saz, die anatolische
Laute. „Allein dieses Lied und Video haben eine Menge geändert“, glaubt Güven
Eken: „Bislang dachten die Türken: Solange wir Bäume pflanzen, ist alles in Ordnung. Seit ,Uyan’ reden wir über uns
selbst, unseren Lebensstil.“
Tarkan fährt zwar Porsche, aber er
sagt, er trenne seinen Müll. Und rede
Freunden zu, beim Zähneputzen den Wasserhahn abzustellen. „Klar“, sagt er:
„Deutschland hat mich beeinflusst in dieser Hinsicht. Wir sollten ein Land werden
wie Deutschland.“ Umso mehr schmerze
es ihn zu sehen, mit welcher „Doppelmoral“ seine alte Heimat handle: „Ein Projekt wie Ilisu dürften sie in Europa nie
bauen“, sagt er. „Aber hier tun sie es.
Deutschland und die Schweiz sollten da
nicht mitmachen. Es sind zivilisierte Länder. Sie sollten sich nicht an der Zerstörung von Geschichte und Kultur beteiligen. Es ist nicht fair. Das alles wegen
Macht, Geld und Gier?“ Tarkan fliegt am
Donnerstag nach Berlin. Er wird eine Rede halten. Und eine Petition an die Kanzlerin mitbringen: Hasankeyf soll Weltkulturerbe werden. Und wenn sie sich taub
stellen, die Ohren ganz oben? „Dann bringe ich eine Million Leute nach Hasankeyf.
Wir werden auf der Erde knien und sagen:
Ihr müsst uns auch ersäufen.“