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Dienstag, 26. Mai 2009 DIE SEITE DREI HF2 Süddeutsche Zeitung Nr. 119 / Seite 3 Im Labyrinth der Macht Wer Brüssel sagt, meint das meist anklagend: Die Stadt steht für Europas Bürokratie, für sinnlose Regeln, für Geldverschwendung. Doch jenseits der EU-Paläste entfaltet die belgische Metropole ihren eigenen, trägen Charme. Und auch das sind nur zwei Seiten von vielen Von Cornelia Bolesch Brüssel – Es sind nur wenige Quadratkilometer, auf denen in Brüssel Europa den Ton angibt. Doch die reichen aus, um die Gegend rund um den Rond Point Schuman in eine besondere Theaterbühne zu verwandeln. Im Morgengrauen rücken die Hauptdarsteller an: Politiker, Beamte und Lobbyisten aus aller Herren Länder. Wie Europas Rinder tragen auch die Europamenschen Erkennungsmarken, nicht im Ohr natürlich, sondern als Plastikkärtchen um den Hals. Mit ihren Rollkoffern rattern sie über das Pflaster, eilen zwischen klotzigen Gebäuden hin und her, zu Ausschüssen und Konferenzen. Autos hupen im Stau, Demonstranten blasen in Trillerpfeifen, Presslufthämmer knattern. Unter der Erde wird die Röhre einer neuen Metro-Verbindung gebaut. Europa wuchert voran in Brüssel. Nur einige Schritte entfernt – eine andere Welt. In einem Park, zwischen dösenden Enten, absolvieren Schulklassen ihre Turnübungen. Ein Mann in einem Kiosk schaufelt dicke Fritten in Tüten. Menschen sitzen beim Bier. Sie scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Unbeeindruckt von europäischer Hektik entfaltet die Stadt hier ihren verschmuddelten, trägen Charme. In diesem Brüssel nimmt man vieles nicht so ernst, vor allem nicht sich selbst. Wer das erlebt, dem erscheint es besonders kurios, wie schnell man in der Welt einfach „Brüssel“ sagt, wenn doch die EU gemeint ist. Meistens klingt es auch nicht besonders freundlich. Erst schimpft die Bücherfrau, dann schwärmt sie von den Nachbarn Ein Flickenteppich aus 19 Gemeinden, alle führen ihr Eigenleben Den Bürgermeister der Stadt stört das schlechte Image von Brüssel nicht. „Überall gehen die Leute auf Distanz zu dem Ort, in dem die Macht sitzt“, meint Freddy Thielemans. „Dieses Phänomen ist universell, unumkehrbar.“ Die Hauptstadt Europas sei davon genauso betroffen wie Paris oder Madrid. Manchmal, wenn er Vorträge im Ausland hält, dann erklärt der Bürgermeister erst einmal augenzwinkernd, dass nicht er es sei, der für den „Brüsseler Unsinn“ verantwortlich zeichne. Thielemans hat andere Sorgen. Er hat zwar den vielleicht schönsten Arbeitsplatz, den ein Stadtoberhaupt in Europa nur haben kann, das elegante gotische Rathaus am Großen Markt. Doch hier, umrahmt von prächtigen barocken Zunfthäusern, zerbricht sich der joviale Sozialdemokrat zwischen vergoldetem Mobiliar und kostbaren Skulpturen den Kopf, wie er jungen Migranten einen Job verschafften kann. Bereits die Hälfte der Einwohner Brüssels stammt von Immigranten ab. Im Rathaus arbeiten Dezernenten, die Faouiza Hariche, Hamza Fassi-Fikri oder Mohamed Ouriaghli heißen. Insgesamt aber kommt Brüssel mit der Zuwanderung schlechter zurecht als andere Städte in Europa. Von den jungen Migranten haben 40 Prozent keine Arbeit. Dabei zieht die Stadt internationale Organisationen und Unternehmen aus der ganzen Welt an. Den EU-Gremien verdankt sie 15 Prozent ihrer Arbeitsplätze. „Europa ist gut für Brüssel“, sagt Bürgermeister Thielemans. Doch die Dreifach-Metropole von Europa, Belgien und Flandern schwächelt vor sich hin. „Man arrangiert sich“: Die Brüsseler leben mit der Hektik der EU-Vertreter, ohne sich von ihr anstecken zu lassen. Die Stadt hat ganz andere Sorgen, Arbeitslosigkeit zum Beispiel und den Autoverkehr. Foto: laif „Brüssel ist ein phantastisches Paradox“, sagt Emmanuel van Innis, der Präsident des Unternehmerverbands. „Es ist die produktivste Region in Belgien, aber auch die mit der höchsten Arbeitslosigkeit.“ Schuld ist die Gemeindestruktur in Belgien, ein undurchdringliches Labyrinth. Bürgermeister Thielemans etwa ist gar nicht zuständig für Brüssel als Ganzes. Er regiert nur eine einzige Gemeinde, die „Stadt Brüssel“ heißt. Es gibt 18 weitere Gemeinden, alle zusammen bilden den Großraum Brüssel. Und alle haben sie ein ausgeprägtes Eigenleben. Einen Großteil ihrer Energie verwenden sie zum Beispiel darauf, den ständig anschwellenden Autoverkehr möglichst in die Nachbargemeinde zu lenken. Über den 19 Gemeinden thront, als eine Art Klammer, zwar seit 20 Jahren die „Hauptstadtregion“ Brüssel mit einer eigenen Regierung. Doch der geht es wie früher einer „Chinesin, der man die Füße einwickelt, bis sie verkrüppeln“, klagt ihr Wirtschaftsminister Benoit Cerexhe. Die Hauptstadtregion Brüssel mit einer Million Einwohnern liegt mitten in Flandern. Ein organisches Wachstum in die flämische Hoheitszone hinein ist der überwiegend frankophonen belgischen Hauptstadt quasi verboten, obwohl sie auch Hauptstadt der Flamen ist. Das Land hat sich in feste Sprachräume eingemauert. Vernünftige öffentliche Verkehrswege ins Umland, eine großzügige Raumplanung – in Brüssel alles Fehlanzeige. Die Stadt verliert zudem die Steuern der Pendler, weil die Menschen dort besteuert werden, wo sie wohnen. So trägt die Metropole zwar ein Viertel zum belgischen Nationalvermögen bei, bekommt aber nur einen Bruchteil der Mittel zurück. Immer mehr Brüsseler fühlen sich als Opfer des erstarrten politischen Systems und wehren sich. Seit einem Jahr versammeln sich an jedem ersten Samstag im Monat einige Dutzend Menschen auf öffentlichen Plätzen. Über dem Grüppchen flattert ein Transparent, es trägt die Aufschrift: „Wir sind eine Million!“Hinter der surrealistisch anmutenden Aktion, die Bürgersinn mobilisieren soll, steckt Arau, eine der ältesten Initiativen in Brüssel. Ein Anwalt, ein Priester, ein Soziologe und ein Architekt taten sich vor vierzig Jahren zusammen und gründeten das „Atelier de Recherche et d’Action Urbaine“. Es war die Zeit, als es noch keine Regionalregierung gab und gierige Baufirmen das politische Vakuum in Brüssel ausnutzten. Sie zermalmten wertvolle Jugendstil-Häuser und zogen mittelmäßige Büroblocks hoch. Auch viele Bausünden im Europaviertel sind so entstanden. Bis heute nennt man solche städtische Barbarei „Bruxellisation“. Dann, 1969, entstand Arau. Einige Zeit später hatte sich die Initiative einen Namen gemacht, nicht nur mit historischen Stadtführungen. Sie konnte durchsetzen, „dass kein Bauvorhaben mehr durchgeführt wurde, ohne die Öffentlichkeit zu beteili- „Wir kämpfen für weniger Büros und mehr Wohnungen“ gen“, erzählt die heutige Direktorin, Isabelle Pauthier. „Seither kämpfen wir für weniger Büros und mehr Wohnungen.“ Isabelle Pauthier ist Historikerin. Sie kommt aus Frankreich und meint, Ausländer täten Brüssel gut. „Wir Franzosen sind militanter. Das Lieblingsmotto der Belgier ist doch: ,Man arrangiert sich‘. Die Belgier haben gegenüber der Politik schon resigniert.“ Mit der Ruhe in Brüssel scheint es jedoch vorbei zu sein. Am 7. Juni, gleichzeitig mit der Europawahl, finden in Belgien Regionalwahlen statt. Zum ersten Mal in Belgiens Geschichte tritt in Brüssel eine zweisprachige Partei an. Eine Sensation, obwohl die Hauptstadt selbst auch zweisprachig ist. Aber hier wählt man entweder flämische oder frankophone Kandidaten, nie beide zusammen auf einer Liste. Die beiden Sprachen dürfen nebeneinander existieren, aber sich nicht zu nahe kommen, das ist belgische Logik. Auch die politischen Neulinge mussten ihr nachgeben. Sie stellen sich nun in zwei Listen zur Wahl – aber mit einem gemeinsamen Programm. Sie fordern mehrsprachige Schulen, mehr Kompetenzen für Brüssel in der Bildungs- und Kulturpolitik, das Regionalwahlrecht für EU-Ausländer und einen eigenen finanziellen Beitrag der EU für die Ausgaben der Stadt. Den Namen ihrer Partei mixten sie aus dem französischen „Bruxelles“ und dem niederländischen „Brussel“: „ProBruxsel“. Der junge Journalist Peter Philp ist sofort Mitglied geworden. Er sagt: „ProBruxsel ist die erste Partei, die Leute wie mich anspricht.“ Philp ist ein EuropaMischling. Seine Mutter ist Dänin, der Vater Engländer. Er selbst ist in Luxemburg geboren, wo die Mutter als EU-Beamtin gearbeitet hat. Seit drei Jahren lebt er in Brüssel. Er schreibt für das Bulletin, ein englischsprachiges Wochenmagazin für die EU-Ausländer in der Stadt. Philp ist Protest mit Pop und Popularität Der türkische Superstar Tarkan kämpft gegen den Bau des Ilisu-Staudamms, der auch mit deutscher Hilfe die Heimat von 70 000 Menschen unter Wasser setzen soll Von Kai Strittmatter Istanbul – Tarkan. Sänger, 36 Jahre alt. Geboren in Deutschland, mit 13 vom Vater in die Türkei gebracht. Heute: Der größte Popstar, den die Türkei in den letzten 20 Jahren hervorgebracht hat. Der Einzige, der auch in Europa Erfolg hatte. Und in Russland. Und in Mexiko. Als die Washington Post ihn vor ein paar Jahren ihren Lesern vorstellte, da schrieb sie: „Stellen Sie sich Elvis vor, Elvis 1957.“ Die Jugend eines ganzen Landes verrückt nach dem Hüftschwung eines jungen Rebellen. Die Eltern entsetzt. Die Zeitung ging noch weiter, beschrieb die Obsession der Türken mit Republikgründer Atatürk und schloss: „Atatürk hat Konkurrenz bekommen“. Zu Songs wie „Simarik“ („Frech“) tanzten sie in deutschen Discos ebenso wie in den Filmen Bollywoods. Im „Sauren Wörterbuch“, der populären türkischen Online-Enzyklopädie, heißt es: „Keiner, der Ohren hat, entkommt ihm.“ Also, aufgemerkt, Ministerpräsident Tayyip Erdogan, aufgemerkt, Kanzlerin Angela Merkel, Tarkan hat etwas zu sagen. „Ich bin reifer geworden, erwachsener. Früher war ich oft eine Nervensäge, hab’ den Rockstar gespielt.“ Und heute? Hat er ein zweites Leben. „Ich bin nun ein Krieger für die Natur. Für Orte wie Hasankeyf.“ Und warum sollte das Premier Erdogan und Kanzlerin Merkel scheren? „Ich werde einen Platz wie Hasankeyf beschützen bis zum Ende meines Lebens“, sagt Tarkan: „Und wenn es sein muss, dann werde ich mich Präsidenten und Regierungen entgegenstellen.“ So pathetisch wie sich das hier liest, hört es sich aus Tarkans Mund gar nicht an. Tarkan sitzt im Tourbus hinter der Bühne in der Nähe des Istanbuler Flughafens, auf der ein DJ die Menge gerade für seinen Auftritt anheizt, und er klingt eher ernst und nachdenklich. Wenn man ihn fragt, wie in aller Welt die türkische Regierung überhaupt auf die Idee kommen kön- ein Prototyp dieser Patchwork-Gemeinde. Von der ersten Minute an, sagt er, habe er sich in Brüssel zu Hause gefühlt. „Diese Stadt gehört niemandem. Und deshalb gehört sie allen.“ Seit die Redaktion des Bulletin aus Kostengründen ins flämische Umland gezogen ist, pendelt er jeden Tag zwischen dem Büro und seiner Wohnung. Er lebt mit seiner südafrikanischen Freundin mitten im Zentrum. Peter Philp gesteht, dass das Leben mit so vielen Kulturen einem „ganz schön auf die Nerven gehen kann“. Auch mit dem belgischen Laissez-faire hat er Probleme. „Da, wo ich wohne, ist die Straße sehr eng. Da dürften überhaupt keine Autos parken. Aber ständig ist eine Seite voll zugeparkt“, klagt er. Einmal habe er zwei Polizisten, die dort vorbeistolzierten, gefragt, warum sie nichts unternähmen. „Die meinten, das sei doch alles nicht so schlimm. Brüssel sei halt eine große Stadt mit vielen Autos. Außerdem hätten sie bald Mittagspause.“ Als Däne, sagt Philp, könnte er manchmal verrückt werden in Brüssel. Andererseits: „In Dänemark könnte ich nicht mehr leben. Alles ist so ordentlich dort.“ Eine Studie fragte kürzlich nach der „Identität“ der Einwohner von Brüssel. ne, einen Ort wie Hasankeyf, die Felsenstadt über dem Tigris, das Schatzkästlein von 10 000 Jahren Menschheitsgeschichte, unter Wasser zu setzen für einen Staudamm, der gerade mal fünf Jahrzehnte arbeiten wird, dann antwortet er: „Wissen Sie, was mich viel mehr verblüfft, ist, wie so zivilisierte Länder wie Deutschland oder die Schweiz darauf kommen können, ein solches Projekt zu unterstützen. Ein Projekt, das nicht nur Hasankeyf umbringen wird, sondern auch die Natur im Tigristal zerstört und fast 70 000 Menschen aus ihrer Heimat vertreibt.“ Auflagen gibt es viele, keine davon wurde erfüllt Die Frage ist brandaktuell. In diesen Tagen nämlich fällt die Entscheidung, ob das Trio Deutschland, Schweiz und Österreich wirklich mitmacht beim Bau des Ilisu-Damms. Lange sah es so aus, als sei das beschlossene Sache: Die Türkei kann den Damm nicht alleine bauen, sie braucht Know-how und Finanzierung aus dem Ausland. Nachdem die Weltbank und ein britisches Konsortium sich zurückzogen, weil das Projekt internationalen Standards nicht genügte, sprangen Deutsche, Schweizer und Österreicher in die Bresche: Firmen aus den drei Ländern sollen den Damm bauen, ihre Regierungen wollten die Finanzierung absichern mit Exportkreditgarantien, in Deutschland also mit Hermesbürgschaften. Um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, schrieben die Europäer einen Katalog von mehr als 150 Auflagen zu Natur, Kulturgütern und Menschenrecht, den die Türkei erfüllen sollte. Eine internationale Expertenkommission reiste zweimal in die Region, um die Einhaltung der Auflagen zu überprüfen – und kam zu einem vernichtenden Ergebnis: Vor allem bei der Umsiedelung der kurdischen Bauern und beim Kulturgüterschutz habe Ankara praktisch sämtliche Auflagen ignoriert. So kam es zu Zwangsenteignungen, und zur Rettung des alten Hasankeyf schlug die Türkei einen historischen „Denkmalpark“ auf einem nahegelegenen Hügel vor (was der deutsche GrünenChef Cem Özdemir mit der Verlegung des Kölner Doms auf den Petersberg verglich). Und der Rest? Eine Broschüre des Baukonsortiums schwärmte vom Potential des Tauchtourismus im künftigen Stausee. „Was für ein Witz“, sagt Tarkan: „Sie sind sich für keine Ausrede zu schade.“ Nach den Expertenberichten taten die Exportkreditagenturen etwas Einmaliges: Sie schickten Ankara einen „blauen Brief“ und suspendierten die Verträge. Die Dammgegner jubelten – etwas voreilig, wie sich bald herausstellte: Hinter den Kulissen loteten die Beteiligten weiter alle Möglichkeiten aus, um bis zum Ablauf des Ultimatums am 6. Juli doch noch zu einer Einigung zu gelangen. „Es geht um viel Geld. Die Europäer wollen die Türkei nicht verprellen, weil sie große Geschäfte für die Zukunft wittern“, glaubt Güven Eken, der Vorsitzende des türkischen Naturschutzbundes Doga Dernegi. In der Tat gibt es kaum ein Land, das so versessen auf Dammbau ist wie die Türkei: Die staatliche Wasserbaubehörde DSI hat angekündigt, mehr als 600 Dämme im Land bauen zu wollen. „Praktisch, dass unser heutiger Umweltminister der frühere DSI-Chef und Staudammlobbyist Veysel Eroglu ist. Hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht“, sagt Güven Eken. Er ist dennoch zuversichtlich: Wenn die Europäer sich zurückziehen, glaubt er, habe der Damm keine Chance mehr: „Das ist ein Projekt der fünfziger Jahre, stellen Sie sich vor! Wir leben heute in einer anderen Welt. Auch in der Türkei weiß das Volk heute seine Kultur zu schätzen.“ Es waren Güven Eken und seine Umweltschützer, die Tarkan besuchten und „Ihr müsst uns auch ersäufen“: Der Sänger Tarkan (links) will notfalls eine Million Demonstranten ins bedrohte Gebiet bringen. Foto: Sedat Mehder zum Aktivisten machten. „Er ist perfekt für unsere Sache“, sagt Eken: „Er ist authentisch und bescheiden. Die Leute lieben ihn. Und es ist bekannt, dass er die Natur liebt.“ Tatsächlich kommt Tarkan ohne jedes Superstargehabe aus, und seinen eigenen Kopf hatte er schon immer. Die Kritiker der Zeitung Sabah nannten ihn bei Erscheinen seines letzten Albums „Metamorfoz“ 2007 den „Orhan Pamuk der Musik“: einer, der trotz aller Angriffe seinen eigenen Weg geht. Kreuzfeuer ist er gewohnt, dafür braucht es in der konservativen Türkei nicht viel. Tarkan bekam das zu spüren, als er 1993 antrat, den Türken erst seine nackte Brust zeigte und kurz darauf mit einem lakonischen „Ich muss mal pissen, Mann“ vor laufenden Kameras die eben erst gestartete Karriere beinahe schon wieder versenkte. Bis heute gibt es Leute, die Tarkans „Abfall von den türkischen Sitten und Gebräuchen“ beklagen, wie Anfang Mai erst wieder die ultrarechte Oppositionspartei MHP: Ein MHP-Funktionär besuchte am Schwarzen Meer das Grab von Tarkans Großvater Fethi Tevetoglu, eines bekannten Nationalisten, und rief Tarkan zur Umkehr auf: „Er soll sich besinnen und wie sein Großvater heldenhaft für unsere Nation kämpfen.“ Tut er ja. In der Türkei ist Tarkan der Erste, der mit seinem Engagement dem Beispiel von Leuten wie Bono oder Bob Das erstaunliche Resultat: 88 Prozent der Befragten fühlen sich als „Brüsseler“, Polen genauso wie Portugiesen, Türken genauso wie Marokkaner. Die Polen hängen sich das Bild mit dem belgischen Königspaar an die Wand und heften daneben ein altes Bild von ihrem Papst. Die Marokkaner nennen sich „Maroxellois“ und radebrechen den alten Stadtdialekt, der Französisch und Niederländisch heftig durcheinandermischt. Gebürtige Brüsseler bezeichnen sich stolz als „Zinnekes“, als Mischlinge. Francine Czwetko gehört auch dazu. Die 76-Jährige ist Rentnerin, steht aber immer noch an der Kasse der kleinen Buchhandlung „Librairie de France“ im Europaviertel. Sie hilft ihrem Sohn. „Czwetko, das klingt nicht besonders belgisch, oder?‘, sagt sie. Wie kann das auch sein, wenn der Vater Ungar, die Mutter Holländerin ist. Die Tochter jedenfalls sieht sich als „echte Brüsselerin“. Wie man das wird? „Wenn man in Brüssel geboren ist und Brüssel liebt“, sagt sie. Doch bei aller Schwärmerei schimpft die alte Frau auch gehörig auf die Stadt. Sie finde sich in Brüssel nicht mehr zurecht, sagt sie. Es gebe zu viele Fremde und alle lebten sie auf Kosten der Belgier. „Je größer Europa wird, umso weniger kriegen wir.“ Tritt man aus dem Buchladen, sieht man das Europaparlament wie ein gestrandetes Schiff zwischen den Häusern liegen. Vom alten Bahnhof Gare du Luxembourg ist nur die historische Fassade übriggeblieben. Auf die Europaabgeordneten ist Francine Czwetko nicht gut zu sprechen. Die leisteten sich in ihrem Parlament doch glatt einen eigenen Buchladen. „Wer kauft dann noch bei uns?“ Außerdem gibt es im Parlament auch eine eigene Post. Im Viertel dagegen wurde die Poststelle zugemacht. Als kürzlich Tag der Offenen Tür war, hat sie das Parlament, den ungeliebten Nachbarn, aber doch besucht. Sie wollte Vorträge über die EU hören und sagt, „ich bin zu 200 Prozent für Europa“. Menschen wie Francine Czwetko sind es, die aus Europas Hauptstadt ein Biotop aus Temperamenten, Sprachen und Kulturen machen. Einer der Aktivisten der neuen Partei „ProBruxsel“ sagt: „Wenn wir schon Belgien vermasselt haben, sollte uns wenigstens Brüssel gelingen.“ Zwei weitere Reportagen zur Europawahl folgen. Geldof nacheifert. Außerdem fotografiert er leidenschaftlich: Natur, Landschaften. „Das hilft mir gegen all die negative Energie“, sagt er, „das Fotografieren. Und die Musik. Und der Sex.“ Er macht eine Pause, grinst: „Umweltverträglicher Sex“. Die Brauchtumsträger von der MHP werden ihn wohl nicht mehr lieben lernen. Aber Tarkan hat Einfluss. Als der Sänger unlängst beim Kulturminister war, um ihn für den Erhalt Hasankeyfs zu gewinnen, legte sein Erscheinen zeitweise das Ministerium lahm. „Ich glaube, dass er eine neue Ära hier einläutet“, sagt Naturbundchef Güven Eken. „Die Regierung hat es nun nicht mehr so einfach, alle Gegner des Damms als Terroristen abzustempeln – was die Leute eingeschüchtert hat.“ Tarkan hat für Ekens Verein ein Lied aufgenommen. Es heißt „Uyan“, Erwache. Orhan Gencebey, die Legende der Arabeskmusik, Idol einer älteren Generation, spielt darin die Saz, die anatolische Laute. „Allein dieses Lied und Video haben eine Menge geändert“, glaubt Güven Eken: „Bislang dachten die Türken: Solange wir Bäume pflanzen, ist alles in Ordnung. Seit ,Uyan’ reden wir über uns selbst, unseren Lebensstil.“ Tarkan fährt zwar Porsche, aber er sagt, er trenne seinen Müll. Und rede Freunden zu, beim Zähneputzen den Wasserhahn abzustellen. „Klar“, sagt er: „Deutschland hat mich beeinflusst in dieser Hinsicht. Wir sollten ein Land werden wie Deutschland.“ Umso mehr schmerze es ihn zu sehen, mit welcher „Doppelmoral“ seine alte Heimat handle: „Ein Projekt wie Ilisu dürften sie in Europa nie bauen“, sagt er. „Aber hier tun sie es. Deutschland und die Schweiz sollten da nicht mitmachen. Es sind zivilisierte Länder. Sie sollten sich nicht an der Zerstörung von Geschichte und Kultur beteiligen. Es ist nicht fair. Das alles wegen Macht, Geld und Gier?“ Tarkan fliegt am Donnerstag nach Berlin. Er wird eine Rede halten. Und eine Petition an die Kanzlerin mitbringen: Hasankeyf soll Weltkulturerbe werden. Und wenn sie sich taub stellen, die Ohren ganz oben? „Dann bringe ich eine Million Leute nach Hasankeyf. Wir werden auf der Erde knien und sagen: Ihr müsst uns auch ersäufen.“