Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl

Transcription

Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl
Nr. 1 | 29. Januar 2012
Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über
Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld |
Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer UnoDiplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton,
Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Lesetipp
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Inhalt
Der Ruf der
Aufklärung ist
nicht verhallt
Der Kampf um Gedankenfreiheit ist ein aufregendes, ja gefährliches
Unterfangen. John Locke musste ins Exil fliehen, um seine «Discourses
Concerning Government» fertig zu stellen. Voltaires Schriften wurden
verboten, Diderots Werke verbrannt, die «Encyclopédie» auf den Index
gesetzt. Im 18. Jahrhundert wurden Philosophen oft gejagt, geächtet,
inhaftiert. Auch heute erfordert der Ausbruch aus der Unmündigkeit
Courage, wie Manfred Geier in seinem neuen Buch «Aufklärung – Das
europäische Projekt» beschreibt (Seite 18). Vom turbulenten Leben des
Genfer Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, dem wichtigen Wegbereiter
der Französischen Revolution, und seiner pädagogisch-erotischen
Lehrmeisterin Madame de Warens erzählt anderseits Karl-Heinz Ott in
seinem grandiosen Roman «Wintzenried» (S. 7).
Einer, der Toleranz hochhielt und verfolgten Autoren Asyl gewährte,
war Preussenkönig Friedrich der Grosse. Das historische Urteil über
ihn fällt heute, im Jahr seines 300. Geburtstages, differenzierter aus, so
zeigt unsere Rezension der neusten Publikationen (S. 16).
Botschafter Paul Widmer bespricht das «gescheite und mutige Buch»
seines Kollegen Johannes B. Kunz: ein Plädoyer gegen den drohenden
Souveränitätsverlust und eine kritische Bilanz humanitärer UnoEinsätze (S. 20). Dies und auch Leichteres finden Sie, liebe Leserinnen
und Leser, auf den folgenden Seiten. Urs Rauber
Nr. 1 | 29. Januar 2012
Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über
Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld |
Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer UnoDiplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton,
Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
CharlesDickens
(Seite12).
Illustrationvon
AndréCarrilho
18 ManfredGeier:Aufklärung–Daseuropäische
Projekt
Von Katja Gentinetta
19 PeterMichaelKeller:CabaretCornichon
Belletristik
4 AharonAppelfeld:DerMann,dernicht
aufhörtezuschlafen
Von Christoph Plate
6 EdithWharton:EinaltesHausamHudson
River
Von Pia Horlacher
FrançoisVillon:DasKleineunddasGrosse
Testament
7 Karl-HeinzOtt:Wintzenried
Von Martin Zingg
8 YoussefZiedan:Azazel
Von Paul Widmer
AmyStewart:GemeineGewächse
Von André Behr
21 WolfgangRuge:GelobtesLand
Von Urs Rauber
Von Susanne Schanda
22 EgonBahr,PeterEnsikat:Gedächtnislücken
9 «JedeFreundschaftmitmiristverderblich».
JosephRothundStefanZweig.Briefwechsel
1927–1938
MalikAmbarausSudan(1550–1626).
AusMichaelMann:Sahibs,Sklaven
undSoldaten(S.24).
Von Arnaldo Benini
MarkusBrüderlin:DieKunstder
Entschleunigung
Von Gerd Kolbe
IanKershaw:DasEnde
Von Markus Schär
23 HeinerBoehncke,HansSarkowicz:
Grimmelshausen
Von Manfred Koch
Von Gerhard Mack
Kolumne
24 MichaelMann:Sahibs,SklavenundSoldaten
Von Sieglinde Geisel
15 CharlesLewinsky
10 A.F.Th.vanderHeijden:Tonio
11 StewartO’Nan:Emily,allein
BerndBrunner:DerMond
Von Thomas Köster
20 JohannesB.Kunz:DerletzteSouveränund
dasEndederFreiheit
Von Stefana Sabin
Von Urs Bitterli
Von Simone von Büren
KurzkritikenBelletristik
11 KatharinaHacker:EineDorfgeschichte
Von Regula Freuler
IrenBaumann:NochwährenddiePendler
heimfahren
Von Manfred Papst
FriedrichAchleitner:Iwahaubbt
Von Manfred Papst
NancyMitford:LandpartiemitdreiDamen
Von Regula Freuler
Essay
12 CharlesDickens,Schriftsteller
Verliebt in die Romane eines 200-Jährigen
Von Andreas Isenschmid
Das Zitat von Ludwig Börne
KurzkritikenSachbuch
15 EstherGirsberger:EvelineWidmer-Schlumpf
Von Urs Rauber
OttoStich:Ichbliebeinfacheinfach
Von Urs Rauber
PhilippBlom:AngeloSoliman
Von Geneviève Lüscher
DanielaKuhn:ZwischenStallundHotel
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
16 ChristianvonKrockow:FriedrichderGrosse
UteFrevert:Gefühlspolitik
JohannesBronisch:DerKampfumKronprinz
Friedrich
Von Kathrin Meier-Rust
Von Geneviève Lüscher
EmanuelAmmon:70er
Von Kathrin Meier-Rust
25 ThomasBuomberger,PeterPfrunder:
Schönerleben,mehrhaben
Von Martin Walder
26 KlausTöpfer,RangaYogeshwar:Unsere
Zukunft
Von Patrick Imhasly
DasamerikanischeBuch
DerekChollet,SamanthaPower:TheQuiet
American.RichardHolbrookeintheWorld
Von Andreas Mink
Agenda
27 OliviaHarrison:GeorgeHarrison
Von Manfred Papst
BestsellerJanuar2012
Belletristik und Sachbuch
AgendaFebruar2012
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
VerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Zum 80. Geburtstag Aharon Appelfelds erscheint sein neues autobiografisches
Buch. Darin beschwört er die jüdische Vergangenheit und Israels Gegenwart
Neue Melodien in
einer alten Sprache
Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht
aufhörte zu schlafen. Aus dem
Hebräischen von Mirijam Pressler.
Rowohlt, Berlin 2012. 285 Seiten, Fr. 28.50.
Von Christoph Plate
Als Hebräisch zu seiner neuen Muttersprache wurde, wäre er fast verstummt.
Weil er immer noch auf Deutsch und
Jiddisch dachte und weil sie ihn zwangen, die neue Sprache zu benutzen.
Heute, 66 Jahre nach seiner Ankunft in
diesem Land, mag er Hebräisch. Die
Sprache ist alt, voller Bilder, und sie lebt,
auch wenn geschwiegen wird.
Es ist laut. Wir sitzen im Restaurant
des Tichu-House, einer Galerie im Zentrum Jerusalems. Die jungen Frauen am
Nachbartisch, leicht übergewichtig und
etwas zu stark geschminkt, sind so lärmig, dass Aharon Appelfeld immer wieder einmal sanft strafend hinüberschaut.
Dann essen wir weiter, schauen uns an,
reden, bis die Frauen nebenan wieder
laut werden. Vor über 50 Jahren war der
heute 80-Jährige zum ersten Mal hier.
Der Philosoph Martin Buber brachte ihn
ins Haus von Anna Tichu, der malenden
Frau eines Wiener Augenarztes. «Freitags gab es Apfelstrudel mit Sahne und
Kaffee, zwei Dutzend Intellektuelle
waren da, ich war zu schüchtern, um
auch nur etwas zu sagen», erklärt Appelfeld. Er zeigt die breiten Ledersessel,
in denen sie damals sassen.
Kandidat für den Nobelpreis
Heute gehört das Haus der Museumsgesellschaft, Appelfeld kommt gern
hierher, plaudert mit den Sicherheitsleuten am Eingang, und die Serviertöchter begegnen ihm mit einer Ehrfurcht,
als wüssten sie, dass dieser Mann mit
der blauen Schiebermütze auf dem kahlen Schädel immer wieder ein Kandidat
für den Literaturnobelpreis ist.
Sein neues, bei Rowohlt auf Deutsch
erschienenes Buch «Der Mann, der
nicht aufhörte zu schlafen» ist eine
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
Eloge auf das Leben, eine Danksagung
an seine Eltern und ein Zeugnis davon,
wie jemand sich eine neue Sprache erkämpfen muss. Zuhause in Czernowitz
sprach man in der assimilierten jüdischen Familie Deutsch. Paul Celan
wohnte in der gleichen Strasse. Damals
war Czernowitz Schnittstelle zwischen
Ost und West, heute liegt es vergessen
im Südwesten der Ukraine, nahe der
Grenze zu Rumänien.
Träumt Appelfeld von seinen Eltern
– die Mutter wurde von rumänischen
Faschisten erschossen, der Vater überlebte den Holocaust und emigrierte
nach Jahren in der Sowjetunion nach Israel –, dann spricht er das Deutsch eines
8-Jährigen. Im Traum ist Aharon aber
schon erwachsen, und der Vater macht
sich lustig über dessen Kinderdeutsch.
Zur Mutter sagt er: «Mama, ich habe
eine neue Sprache.» Appelfeld teilt sein
Aharon Appelfeld
Geboren wurde Aharon Appelfeld am
16.2.1932 in der Nähe von Czernowitz
(damals Rumänien, heute Ukraine). Er
wuchs in einem gut bürgerlichen Haushalt auf. Damals hiess er noch Erwin. Erst
der Holocaust habe ihn zum Juden gemacht, sagt er. Er musste den Mord an
seiner Mutter miterleben, wurde mit dem
Vater zusammen ins Ghetto gesperrt und
schlug sich später alleine bis nach Italien
durch. Von dort gelang er 1946 nach Palästina. Diese traumatischen Erlebnisse
sind die Triebfeder seines Schaffens.
Seine Muttersprache war Deutsch, heute
ist die für ihn wichtigste Sprache Hebräisch. Er arbeitete von 1975 bis 2001 als
Literaturprofessor an der Ben Gurion
Universität in Beerscheba. Zu seinen
grossen Romanen gehören: «Blumen der
Finsternis», «Bis der Tag anbricht» und
«Elternland». Für «Der eiserne Pfad»
wurde er 1999 mit dem National Jewish
Book Award ausgezeichnet.
Croissant und strahlt zufrieden. Er
trinkt koffeinfreien Kaffee, der aus
einem altmodischen Tassenfilter tröpfelt. Dann bestellt er eine Gemüsesuppe,
Osteuropäer liebten doch Suppen, obwohl diese hier längst nicht so gut sei,
wie die im Café Sprüngli am Paradeplatz
in Zürich.
In «Der Mann, der nicht aufhörte zu
schlafen» geht es um vieles. Um die
Suche nach einer Melodie in der Sprache, um das Bewusstsein für die eigene
Geschichte und die Bedeutung des SichErinnerns, um die eigene Position in der
Gegenwart zu bestimmen. Seit einigen
Jahren bekommt Appelfeld Briefe von
israelischen Lesern, die schreiben, sie
hätten ihre Eltern oder Grosseltern nie
nach dem jüdischen Leben in Osteuropa
und nach dem Holocaust gefragt.
«Meine Bücher würden ihnen diese untergegangene Welt des Judentums, ihre
Gerüche und Schönheit nahe bringen.»
Liest er diese Briefe, zittert er manchmal
vor Aufregung und Last. Ihm wird da
eine Rolle zugedacht, die er gar nicht
annehmen mag. Lange wurde Appelfeld
vom literarischen Establishment gescholten, weil er keinen Agitprop
schrieb, sondern die Geschichte jener
erzählte, die nach dem Holocaust aus
Europa nach Palästina gekommen
waren. Das passte nicht nach Israel.
Appelfeld hat damals festgestellt, dass
«man als assimilierter Jude Weltbürger
ist, während man als Israeli schnell provinziell wird».
«Der Mann, der nicht aufhörte zu
schlafen» ist ein autobiografischer
Roman, wobei jedes seiner Bücher auch
den Aharon Appelfeld zu enthalten
scheint, der früher Erwin hiess. Aharon
wurde in Czernowitz als Erwin geboren, als er mit ukrainischen Banditen
umherzog, nannte er sich Janosch.
Appelfeld ist überzeugt, dass jede Art
von Äusserung eine Verstellung sei, die
Literatur aber eine der am wenigsten
verstellten Äusserungen. Es sind dies
Erinnerungen, wie sie einige auch schon
in seinem Buch «Die Geschichte eines
MICHA BAR AM / MAGNUM
Lebens» vorkommen, nur sind sie jetzt
vielfältiger, reflektierter, stärker ausgearbeitet. Der Ich-Erzähler schreibt von
der Kindheit, vom Holocaust, von der
Flucht, von der beschützenden Wärme
einer Hure am Strand von Neapel. Appelfeld durchläuft noch einmal seine
Versuche, sich nach der Ankunft in Palästina und der Verwundung im Krieg
gegen die Araber seine Identität zu erhalten. Es ist dies die Persönlichkeit
eines Mannes, der Kleist und Stifter
liest, um den Eltern nahe zu sein, die
Bibel, um sich an seine religiösen Grosseltern zu erinnern, und Karl Marx, um
auch seine kommunistischen Onkel zu
würdigen.
Vielleicht braucht es ein Leben als
Philosoph, um scheinbar einfach zu
schreiben, so wie er es tut. Ob er immer
noch seine Manuskripte einige Jahre in
die Schublade lege, um sie danach wieder zu bearbeiten, zu streichen und erst
dann an den Verlag zu übergeben? «Ja,
fünf Jahre müssen sie liegen», sagt er.
Das mache er bis heute, «oder haben Sie
etwa den Eindruck, ich hätte dafür keine
Zeit?», fragt der bald 80-Jährige und
lacht. Dann gehen wir hinauf in den ehemaligen Salon von Frau Tichu, in dem
Aharon Appelfeld in die Intellektuellenszene von Jerusalem eingeführt worden
war. «Diese Leute haben mich auf eine
Art gerettet», sagt er und scheint sie alle
dort sitzen zu sehen in den schweren
Ledersesseln. Irgendwann hat er sich
dann auch getraut mitzureden. Mit Hannah Ahrendt hat er gestritten, weil ihre
Theorie von der Banalität des Bösen
nicht zuträfe. Banal sei das Gute, das
Böse dagegen sei ungemein kreativ. Er
sei eigentlich immer ein Rebell gewesen, einer, der sich gegen Vereinnahmung gewehrt habe.
Fiktion ist Wahrheit
Appelfelds nur mit ein paar Strichen
gezeichnete Charaktere haben oft noch
Erde unter den Fingernägeln, sie sind
einfache Leute, eine Prostituierte, ein
Dorfschullehrer, eine Bäuerin, die alle
auf ihre Art fähig sind, über den Rand
der engen Dorfwelt hinauszuschauen.
Appelfeld beschreibt den Verrat einiger
Juden und Nichtjuden und erzählt von
der Menschlichkeit der anderen.
Vielleicht ist es auch dieser Lebenswille, der den Mann, der nicht aufhörte
zu schlafen, irgendwann aufwachen
liess. Der Mann, der ein Junge war,
wurde von den Überlebenden in Europa
auf ihrer Wanderung nach Palästina
immer weitergetragen, so wie Appelfelds Vater den Sohn auf einem der
Todesmärsche getragen und geschoben
hatte. Als der Junge Erwin dann in Palästina ist, begegnet er zum Glück auch
solchen, die ihn so lassen, wie er ist, die
nicht den neuen Juden schaffen wollen,
der blond und blauäugig ist und sich nie
mehr wird demütigen lassen müssen.
Der Ich-Erzähler trifft auf Menschen,
die sich an seinen Vater erinnern und an
dessen literarische Ambitionen, auch an
dessen Schock, als der das erste Mal
Kafka las.
Wenn ihm heute die Kinder und Enkel
der Holocaust-Überlebenden schreiben,
dann ist das natürlich nicht nur Last. Es
ist auch späte Genugtuung für die harte
Zeit, als der literarische Betrieb ihn zwar
ehrte, aber nie ganz akzeptierte, weil der
Rebell sich weigerte, seine Vergangenheit abzustreifen, so wie die anderen
ihre Lagerkleidung abgelegt hatten.
Appelfeld lächelt, während es an den
Tischen noch lebhafter wird. Da kommen viele, auch orthodoxe Juden, sie
essen Salat mit viel Knoblauch, Käsekuchen und Gemüsesuppe. Das Handy
klingelt, die Frau des Autors ist dran. Die
drei Kinder der Appelfelds sind Anwalt,
Literaturwissenschafter und Maler geworden. Die Enkel, Teenager noch, lesen
die Bücher des Grossvaters. Sie fragen,
was Fiktion sei, ob er all das erlebt habe,
ob er von einer Hure vor den Nazis versteckt wurde oder wie das war, den Cousin zu finden, dessen Vater konvertierte
und der seine Mitte verlor. Und was
antwortet er den Enkelinnen? «Dass die
Fiktion die Wahrheit ist.» l
Der neue Roman von
Aharon Appelfeld ist
eine Danksagung an
seine Eltern. Hier ein
Bild aus dem Jahr
2004 in Israel.
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Klassiker Edith Whartons Porträt einer verhinderten
Künstlerin liegt in der deutschen Erstübersetzung vor
Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson
River. Aus dem Amerikanischen von
Andrea Ott. Manesse, München 2011.
624 Seiten, Fr. 36.90.
Von Pia Horlacher
Jane Austen, Henry James, Edith Wharton – hätte man vor der Jahrtausendwende eine Prophezeiung gewagt, welche Art von Literaturverfilmungen auf
das 21. Jahrhundert einstimmen würden,
so wäre man wohl zuletzt auf diese
Namen gestossen. Doch Zufall war es
nicht. Nachdem Martin Scorsese 1993
Whartons «The Age of Innocence», dieses Sittengemälde aus dem Goldenen
Zeitalter New Yorks, zu einem Meisterwerk der Leinwand adaptiert hatte,
ahnte man es: Scheinbar altmodische Literatur kann aktuelle Zeitfragen schärfer
ausleuchten als vieles, was von Zeitgenossen produziert wird. Die Geschichte
von der kapitalistischen Gier und deren
Verheerungen wiederholt sich.
Die Neuengländerin aus bestem Haus
mit dem unbestechlichen ethnologischen Blick auf ihre eigene Gesellschaft,
begann erst mit vierzig zu schreiben –
aus einer unglücklichen Ehe heraus, die
sie oft auf Reisen trieb. Vor allem nach
Europa; in Frankreich liess sie sich nach
ihrer Scheidung nieder, dort liegt sie begraben. Beides, ihr Unglück und ihre
Weltläufigkeit, sollte ihr viel Stoff bieten
für Romane, die das Ersticken in der
Enge und den Selbstverlust in der Flucht
thematisieren. Vor allem aber den Untergang einer Gesellschaft, die zwischen
müder Dekadenz und rasender Gier dahinsiecht und schliesslich in der grossen
Depression von Börsen und Individuen
zerfallen wird.
So auch in ihrem Spätwerk aus dem
Jahr 1929. Im alten Haus am Fluss, das
unbewohnt, aber voller Geister der Erinnerung vor sich hinmodert, treffen
sich zwei Sprösslinge, die aus parallelen
Welten flüchten. Vance Weston, empfindsamer Sohn eines erfolgreichen Immobilienhändlers aus dem Mittleren
Westen, und Halo Spear, intelligente
Tochter einer verarmenden Bildungsbürgerfamilie aus der Oberschicht New
Yorks. Im alten Haus, im Schatten reich
bestückter Bücherwände und einer untergehenden Kultur des Geistes entfaltet
sich eine Seelenverwandschaft und eine
noch unerkannte Liebe, die selbst literarische Früchte tragen wird.
Inspiriert von dieser exotischen Lebenswelt mausern sich Vances vage
künstlerische Ambitionen zur ernsten
Schriftstellerei; gleich sein erster Roman
wird zum Überraschungserfolg. Halo,
seine Türöffnerin in die literarische Gesellschaft der Ostküste, seine Muse,
seine Lektorin und der eigentliche kreative Motor, muss es ihrem Geschlecht
gemäss bei der Inspiration und der Arbeit im Hintergrund bewenden lassen.
Der finanzielle Niedergang ihrer Familie drängt sie zum Opfer einer Heirat
mit einem reichen Verehrer, in der sie
zunehmend an Lebenskraft verliert.
Das Unglück der beiden nimmt seinen Lauf. Am Ende dieser «Zeit der Unschuld» schwinden Vances Illusionen
dahin im jahrelangen Lavieren zwischen
Überheblichkeit und Opportunismus,
zwischen «unmoralisch» in der Werbung verdientem Geld und bitterer
Armut, während Halos Jugend und Ta-
LEBRECHT MUSIC & ARTS
Zeiten der Unschuld
Die amerikanische
Erzählerin Edith
Wharton erhielt 1921
den Pulitzer-Preis.
lent in der Düsternis einer traditionellen Ehe zusehends verblüht. So etwas
wie ein «unhappy Happyend» zeichnet
sich ab – 1932, wird Wharton die Fortsetzung der Geschichte präsentieren.
Vordergründig ist das ein klassisches
«portrait of the artist as a young man»,
hintergründig das rare Porträt einer jungen Frau als verhinderte Künstlerin.
Eingebettet in ein Tableau von Figuren,
die sich zu einer zeitlosen Satire auf die
Moden und Heucheleien des Kulturund Literaturbetriebes versammeln, repräsentieren die beiden jungen Menschen eine Epoche der Verschiebungen
zwischen alten und neuen Welten, wie
sie uns, eine Jahrhundertwende später,
durchaus vertraut scheinen. ●
Ballade François Villons Vermächtnis in einer frechen und geschmeidigen Neufassung
Ein Vorbild der derben Sozialkritik
François Villon: Das Kleine und das Grosse
Testament. Aus dem Französischen,
mit einem Nachwort von Frank-Rutger
Hausmann. Reclam, Leipzig 2011.
145 Seiten, Fr. 11.90.
Von Stefana Sabin
Spätestens durch Brechts Refrain zu
«Nannas Lied» (1939) ist die Frage «Wo
ist der Schnee vom vergangenen Jahr?»
sprichwörtlich geworden. Diese Frage
hatte sich Brecht bei dem bedeutendsten Dichter des französischen Spätmittelalters geliehen, nämlich bei François
Villon, dem Meister des parodistischsozialkritischen Gedichts.
Villons Identität ist – wie diejenige
Shakespeares – unklar. Er soll 1431 in
Paris geboren und Anfang 1463, nach
einem abenteuerlichen Leben, ver6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
schwunden sein. Lange hat man seine
Gedichte autobiografisch gedeutet, aber
inzwischen hat sich die These durchgesetzt, dass ein Pariser Jurist sich den
Namen des Gauners François Villon zu
eigen machte, um Justiz- und Institutionenschelte scharfzüngig zu versifizieren. Wer auch immer Villon war – seine
Frechheit und sein Sprachwitz wurden
traditionsbildend. Die französischen
Symbolisten sahen in ihm den «poète
truand» als Vorläufer des «poète maudit», und für die deutschen Expressionisten wurde die derbe Sozialkritik vorbildlich.
Als Villons Hauptwerk gelten die beiden «Testamente»: Es sind Gedichtzyklen, in denen das lyrische Ich ein Vagabund ist, der sein Leben am Rande der
Gesellschaft beschreibt, über die Pariser
Honoratioren herzieht und die Unmöglichkeit der reinen Liebe beklagt. «Das
kleine Testament» verbindet Parodien
höfischer Liebeslyrik mit satirischen Legaten an Amts- und Würdeträger. Nicht
zuletzt die Politikerschelte, die darin
steckt, macht die Verse bis heute aktuell.
«Das grosse Testament» enthält selbstreflexive, elegische und satirische Verse,
in die ausgeformte Balladen eingestreut
sind – darunter die «Ballade der Frauen
von einst», deren Refrain Brecht für
«Nannas Lied» benutzte.
Villons «Testamente» sind voller
Anspielungen auf damalige Ereignisse
und Figuren und in höchstem Mass
sprachspielerisch, so dass Übersetzungen zum philologisch-ästhetischen
Abenteuer werden. Darauf hat sich
der Freiburger Romanist Frank-Rutger
Hausmann eingelassen und eine rhythmisierte deutsche Fassung geschaffen,
die die Frechheit und die Geschmeidigkeit des Originals erhält. ●
Roman Der deutsche Schriftsteller Karl-Heinz Ott zeichnet das Leben Rousseaus fulminant nach
Er stürzte sich in die Wirren
seiner Epoche
Karl-Heinz Ott: Wintzenried. Hoffmann
und Campe, Hamburg 2011. 207 Seiten,
Fr. 30.50.
Von Martin Zingg
Ohne ihn wäre alles anders gekommen.
Ohne Wintzenried hätte der junge JeanJacques Rousseau seinen Platz im Herzen und im Bett von «Mama» nicht verloren: Es wäre ihm erspart geblieben, in
die weite Welt hinaus zu ziehen und sich
in Unternehmungen zu stürzen, deren
Ende nicht abzusehen war.
«Mama» ist Madame de Warens. Bei
ihr, der dreizehn Jahre Älteren, kommt
der junge Jean-Jacques im Alter von
sechzehn Jahren unter. Hinter ihm liegen schwierige Zeiten. Seine Mutter ist
im Kindbett gestorben: «Ich kostete
meiner Mutter das Leben, und meine
Geburt war mein erstes Unglück»,
schreibt er später. Sein Vater hat sich
wieder verheiratet, die Lehrzeit in Genf
war freudlos. Bei «Mama» wird er, von
einigen Reisen unterbrochen, lange
Jahre des Glücks verbringen. Allerdings
verlangt «Mama» gleich zu Beginn, dass
er, der calvinistisch aufgewachsen ist,
zum Katholizismus übertritt Ω Madame
de Warens bekommt für ihre Bemühungen Geld von der katholischen Kirche.
Ihr junger Zögling und Geliebter, das
muss sie bald erkennen, ist anstrengend,
empfindlich, oft krank und scheut jede
Anstrengung. Als er von einem Kuraufenthalt in Montpellier zurückkehrt, hat
«Mama» einen neuen Geliebten: Wintzenried, von Beruf Perückenmacher.
Jean-Jacques muss den Haushalt verlassen. Eine Kränkung für immer.
geplante Aufstieg will nicht gelingen Ω
bis er realisiert, dass er Zugang finden
muss zu einem der Pariser Salons, die
von resoluten und einflussreichen
Damen geführt werden.
Eine dieser Damen verschafft ihm Arbeit. In Venedig wird er Sekretär des
französischen Botschafters, nun glaubt
er sich auf dem Weg zur Diplomatenkarriere. Es kommt anders. Zwar scheint er
gute Briefe schreiben zu können, aber er
ist überheblich, aufbrausend und korrupt. Und er hat ein Talent, die Gunst
des Augenblicks zu versäumen und sich
hinterher darüber zu ärgern.
Kritiker des Fortschritts
Karl-Heinz Ott lenkt seinen Rousseau
sehr geschickt und immer unterhaltsam
durch die biografisch verbürgten Stationen, aber er präsentiert keine Biografie,
nennt keine Jahreszahlen und hält kein
Philosophieseminar. Er zeigt seinen
Jean-Jacques gleichsam von hinten, als
den oft Verzweifelten, Suchenden, von
Grössenwahn und Verfolgungsängsten
Geplagten. Als Erotomanen, der sich
ständig in Frauen verliebt und sich
durch Onanieren vor deren Nähe
schützt. Als einen, den viele Zufälle voranbringen und Vorbehalte bremsen.
Als Rousseau in Paris vom Preisausschreiben einer Akademie erfährt, beschliesst er, daran teilzunehmen. Es geht
um die Frage, ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste unsere Sitten
Jean-Jacques
Rousseau (1712–1778)
mit «Mama», seiner
ersten Geliebten,
Madame de Warens,
in Annecy.
verfeinert oder verdorben habe. Als er
Diderot davon erzählt, rät ihm dieser,
den Fortschritt nicht zu rühmen: Loben
sei bloss langweilig. Kritik am Fortschritt hingegen werde auffallen. Diderot, der das als Spiel auffasst und selber
kein Wort davon glaubt, diktiert ihm
auch gleich die ersten paar Sätze. Rousseau muss sich anfänglich überwinden,
den Faden weiterzuspinnen.
Mit seiner furiosen Kritik an den Folgen des Fortschritts wird Rousseau den
ersten Preis gewinnen, und damit hat er
auch sein lebenslängliches Thema. Er
wird ein einfaches, aber ziemlich turbulentes Leben führen, zusammen mit seiner Geliebten Thérèse, und er wird sich
konsequenterweise mit den führenden
Aufklärern verkrachen. Viele Adlige
wiederum suchen bei ihm, der alle seine
fünf Kinder im Waisenhaus abgeliefert
hat, Rat in Fragen der Erziehung.
In seinem grandiosen Roman zeichnet Ott eine höchst interessante, von
Widersprüchen geprägte Figur. Dass sie
von belegbaren Daten gestützt wird, ist
hier zweitrangig. Interessanter ist das
Bild eines Menschen, der sich buchstäblich ins Gewühl seiner Epoche stürzt
und seine tragische Zerrissenheit auf
skandalöse Weise auslebt Ω und in vielem aus dem Rahmen eben dieser Epoche fällt. Otts Roman erzählt damit, indirekt und mit leichter Hand, auch von
den Bedingungen, unter denen das Neue
entsteht. Es sind oft krumme Wege.●
Von Ehrgeiz getrieben
SCALA ARCHIVES
In «Wintzenried» erzählt Karl-Heinz
Ott die Geschichte von Jean-Jacques
Rousseau, die Geschichte eines Mannes,
der zunächst unschlüssig durchs Leben
dümpelt. Eine Ausbildung hat er nicht,
von vielem bloss ungefähre Vorstellungen, eigentlich kann er noch nichts. In
seinen Phantasien jedoch könnte er
alles werden: Komponist, Pfarrer, Diplomat. Einen Versuch als Komponist wagt
er in Lausanne, wo er sich sehr kokett
als Musiker präsentiert und den Auftrag
bekommt, ein Menuett zu komponieren.
Dessen öffentliche Aufführung wird zur
Blamage. Und weil er mit dem Notensystem nicht zurechtkommt, beschliesst
er kurzerhand, ein neues zu erfinden,
eines, das nur mit Zahlen operiert. Das
wird dann die nächste Blamage.
Mit seiner Erfindung im Gepäck
macht er sich auf nach Paris. Er will anerkannt, berühmt werden. Er lernt Diderot kennen, der gerade ein grosses Projekt wälzt, die «Encyclopédie», aber der
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Das preisgekrönte Werk von Youssef Ziedan
erzählt vom bewegten Leben eines Geistlichen aus dem
fünften Jahrhundert
Stachel im Fleisch
eines christlichen
Mönchs
Arabischen von Larissa Bender.
Luchterhand, München 2011. 448 Seiten,
Fr. 32.90.
Von Susanne Schanda
Schon der Titel ist für die religiöse Leserschaft eine Provokation: «Azazel»
heisst im Alten Testament wie im Koran
Satan, gefallener Engel oder auch Sündenbock. Er spielt die treibende Rolle in
Youssef Ziedans preisgekröntem Roman
und ist zugleich der Stachel im Fleisch
des ägyptischen Mönchs Hypa. Ketzerisch fragt Azazel den von Glaubenszweifeln gepeinigten Mönch: «Hat Gott
den Menschen erschaffen oder umgekehrt?»
Der Autor Youssef Ziedan beschäftigt
sich als Philosoph, Sufismus-Forscher
und Direktor der Handschriftenabteilung der Bibliothek von Alexandria seit
Jahrzehnten mit alten Schriften. Nach
etlichen wissenschaftlichen Büchern
hat er für seinen zweiten Roman «Azazel» 2009 den Arabischen Bookerpreis
erhalten. In Ägypten löste der Roman
einen Sturm der Entrüstung aus und
wurde zum Bestseller. Mehrere Bischöfe
der Koptisch-Orthodoxen Kirche warfen Ziedan vor, den christlichen Glauben zu verunglimpfen, sprachen ihm als
Muslim das Recht ab, über das Christentum zu schreiben, und forderten ein
Verbot des Buches – erfolglos.
Löste Kontroverse aus
Auch muslimische Geistliche ereiferten
sich über den Roman, in dem ein junger
Mönch zwischen der asketischen Hingabe an den Glauben und seinen körperlichen Begierden hin und her gerissen
wird. Zwar hat die Kontroverse dem
Buch zusätzliche Popularität verschafft.
Dennoch bedauert der Autor im Gespräch die Angriffe: «Es ist absurd, mir
vorzuwerfen, dass ich das Christentum
schlecht mache. Mein Roman richtet
sich gegen keine Kirche, sondern gegen
die Haltung, im Namen der Religion
Gewalt auszuüben. Er thematisiert das
Menschsein in seiner Vielfalt von Fühlen, Denken, Glauben, Zweifeln und
Sehnen.»
Youssef Ziedan hat seine Geschichte
in der frühchristlichen Zeit in Ägypten,
Palästina und Syrien angesiedelt, als die
Kirche von theologischen Kontroversen
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
und Machtkämpfen erschüttert wurde.
Erzähler ist der Mönch Hypa, angetrieben von Azazel, einer schillernden, lockenden sowie irritierenden Figur, die
er zuerst entrüstet zum Schweigen bringen will, schliesslich aber als innere
Stimme erkennt. Auf 30 Pergamentrollen schreibt er seine Erinnerungen nieder, gequält von Schuldgefühlen und um
seinen Glauben ringend. Hypa stammt
aus einem Dorf im südlichen Ägypten,
wo an der Schwelle zum fünften Jahrhundert noch der Glaube an die alten
ägyptischen Götter herrscht. Als junger
christlicher Mönch studiert er Medizin
und bricht dann auf gegen Norden. Im
kosmopolitischen und intriganten Alexandria lässt er sich von der schönen Oktavia zur Lust verführen und beinahe um
den Verstand bringen. Als mindestens
so sündhaft gelten der Kirche allerdings
die Vorträge der heidnischen Philosophin, Astronomin und Mathematikerin
Hypatia, denen er fasziniert lauscht.
Entsetzt und machtlos muss er mit ansehen, wie die Gelehrte von einem christlichen Mob angegriffen und zu Tode
geschleift wird.
ANDREA PISTOLESI / TIPS / BILDAGENTUR ONLINE
Youssef Ziedan: Azazel. Aus dem
Brennend aktuell
Der Schock dieser Gewalttat im Namen
des Christentums wird zum Wendepunkt, vertreibt ihn aus Alexandria, vorerst nach Jerusalem und von dort weiter
in ein abgelegenes Kloster auf einem
Hügel nördlich von Aleppo. Hier will er
sich nach seiner abenteuerlichen Wanderschaft mit nur 33 Jahren der Welt entziehen, sich dem Studium und seinem
Kräutergarten widmen und als Arzt den
notleidenden Menschen helfen. Doch es
kommt anders.
Der Roman erzählt die Ereignisse
nicht chronologisch, sondern folgt den
Erinnerungssprüngen des Mönches. Gerade dessen innere Auseinandersetzung
lässt uns als Lesende mitfiebern und
atemlos weiterblättern, als würde sich
das Geschehen hier und jetzt vor unseren Augen abspielen. Youssef Ziedan
erzählt auf der Folie der Geschichte
einen modernen Entwicklungsroman
von brennender Aktualität. Ein Vergleich mit dem amerikanischen Thriller
«Da Vinci Code» bietet sich an, greift
aber zu kurz. «Azazel» ist keine leichte
Kost, sondern ein philosophischer
Roman, der sich mit arabischer Theologie, Moral und der Selbstverantwortung
des Einzelnen auseinandersetzt. Er ist
Youssef Ziedan sucht
in seinem Roman nach
dem Licht im Dunkeln.
Koptischer Mönch
im Kloster von Wadi
Natrun in Ägypten.
«mit Blut, Schweiss und Tränen geschrieben», wie der Autor sagt. Umso
mehr freut es ihn, dass der Roman gerade bei jungen Lesern so gut ankommt. In
Ägypten hat inzwischen sein jüngster
historischer Roman das Buch «Azazel»
von der Spitze der Bestsellerlisten verdrängt. Der Autor wird bei seiner Arbeit
von einem aufklärerischen Impuls getrieben: «Ich habe bereits 55 Bücher geschrieben, und immer mit dem Anspruch, Licht ins Dunkel zu bringen,
Verständnis für unser kulturelles Erbe
zu wecken.» Sein Arbeitsplatz, die geschichtsträchtige Bibliothek von Alexandria, wurde einst von Cäsar angezündet und vor rund zehn Jahren in Zusammenarbeit mit der Unesco wieder errichtet, mit Blick aufs Mittelmeer.
«Wozu haben wir die Bibliothek wieder
aufgebaut, wenn nicht, um aufzuklären?» fragt Youssef Ziedan. ●
Briefwechsel Die beiden österreichischen Autoren Joseph Roth und Stefan Zweig tauschten sich
über persönliche Probleme und Schriftstellerkollegen aus
«Roosevelt ist ein Schwindler»
«Jede Freundschaft mit mir ist
verderblich». Joseph Roth und Stefan
Zweig. Briefwechsel 1927–1938. Hrsg.
Madeleine Rietra. Wallstein,
Göttingen 2011. 623 Seiten, Fr. 53.90.
Von Arnaldo Benini
Ein Briefwechsel mit eher wenigen Briefen legt selten Zeugnis für eine Existenz
ab. Genau dies jedoch ist der Fall bei Joseph Roth und seiner elfjährigen Korrespondenz mit Stefan Zweig. Der Band
enthält 219 Briefe von Roth, 49 Antworten Zweigs, einige Briefe zwischen Roth
und Zweigs Ehefrau Friderike, Ausschnitte von 58 Briefen mit Bezug auf
Roth, fast alle von Stefan und Friderike
Zweig an Bekannte gerichtet, sowie
Zweigs Nachruf auf den 1939 verstorbenen Freund. Ein Kommentar und ein
historisch-biografisches Nachwort vervollständigen das hervorragend edierte
Werk. Allerdings ist nur ein Bruchteil
des Briefwechsels der Jahre 1927 bis 1938
erhalten, die Roth und Zweig teilweise
im Exil verbrachten. Im Exil Verfasstes
geht leicht verloren, weil die Geflohenen nur das Nötigste mitnehmen – und
Roth reiste pausenlos «nur mit drei Koffern» durch ganz Europa.
«Ich bin entsetzt» schreibt er im Juli
1933 an Zweig, «ich habe kein einziges
meiner Bücher.» Roth richtet seine Briefe an den «sehr verehrten und sehr lieben Stefan Zweig», ohne den 13 Jahre
Älteren und viel Bekannteren je zu
duzen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, greifen die beiden Autoren kaum
politische und kulturelle Themen auf.
Roths Briefe an den geduldigen und
grosszügigen Zweig sind eine Litanei an
Klagen über familiäres Unglück und
über «unsägliche Peinlichkeiten», verursacht meist durch den Alkohol, der
das erzählerische Talent bedroht und
die Honorare hinwegspült. Der Ton ist
jeweils ultimativ: Zweig muss sofort antworten, er muss «Geld telegraphisch
anweisen», weil Roth sonst verhungern
oder der Lynchjustiz der Gläubiger anheimfallen würde, er muss sich bei
einem Verleger sofort für ein Buch einsetzen, das Roth, wie sich später herausstellt, bereits einem anderen abgetreten
hat. Roth ist für die erbrachten Dienste
zwar dankbar, aber wenn Zweig nicht
reagiert, überschüttet er ihn mit Verachtung oder schreibt ihm, um ihn zu verletzen. Er ist sich bewusst, dass er die
Beziehung missbraucht: «Jede Freundschaft mit mir ist verderblich.»
Die Geduld des Wiener Aristokraten
Zweig jedoch ist unendlich. 1934 schreibt
er einer Freundin, es sei «furchtbar
schwer» mit Roth. Er sehe «keinen Ausweg mehr», weil ihn «der Alkohol ganz
unterhöhlt». Die Freundschaft dauerte
bis zu Roths Tod 1939. Dessen Urteile
über Kollegen sind von Ressentiments
geprägt und meist masslos: Thomas
Mann «ist einfach naiv und dem eigenen
Talent geistig nicht gewachsen». «Die
Geschichten Jaakobs» haben ihn «direct
angewidert. Es ist eine Schande, eine
Schamlosigkeit». Am 31. August 1933 ist
er sicher, dass der «Usurpator der Objektivität» Thomas Mann imstande sei,
sich «mit Hitler auszusöhnen». Bei
René Schickele liegt «Feigheit» vor,
beim «Krakehler» (sic) Döblin «irritierender Infantilismus», und Romain Rolland ist «ein falscher Prophet».
Beide Briefpartner sind überzeugte
antizionistische Juden. Roth schreibt
1935 an Zweig: «Die Zionisten stehen
den Nazis sehr nahe.» Roosevelt ist für
ihn «ein Schwindler, ein grosser Gauner,
ein Gangster». Das sind Beispiele einer
innerhalb der deutschen Emigration
häufigen Aggressivität, oft in der meisterhaften Sprache verfasst, die man aus
Roths Romanen und Erzählungen kennt.
Anders als Zweig hatte Roth bereits kurz
nach Hitlers Machtergreifung keine
Zweifel, dass ein Krieg bevorstehe. Gemeinsam mit Thomas Mann gehörte er
zu den wenigen, die zu jener Zeit über
ein sicheres Gefühl für die Realität verfügten. Zweig dagegen ist auffällig zurückhaltend und beschränkt sich auf
Trost und Empfehlungen: Sein Freund
solle dem Alkohol abschwören, so wie
Zweig auf seine täglich 20 Zigarren verzichtet hat, und nicht überreizt gegen
alles und alle schwadronieren. Vergeblich – die gut gemeinten Ratschläge vermögen gegen die Verzweiflung des
Freundes nichts auszurichten. Zweig
stand Roth sehr nahe und hat ihn aufrichtig bemitleidet. Es fehlte ihm aber
die Überzeugungskraft, dem Freund
entscheidend zu helfen. Der Briefwechsel zwischen Roth und Zweig widerspiegelt die Tragödie von Roths Leben – mit
Intermezzi einer opera buffa. ●
Entschleunigung Die Kehrseite der Moderne
Dass unser Leben immer hektischer wird, erfahren
wir täglich. Dass wir gerne mehr Ruhe hätten, ohne
auf Schnelligkeit verzichten zu müssen, wissen wir
auch. Hussein Chalayan zeigt uns, wie das Paradox
aussehen könnte. In einer Videoinstallation lässt der
1970 auf Zypern geborene Künstler eine Frau mit
Hochgeschwindigkeit von London nach Istanbul
reisen. Ganz entspannt sitzt sie in einer Kapsel, isst
gelegentlich etwas oder lässt Badewasser einlaufen.
Die Landschaft saust an ihr vorbei. Ausser hin und
wieder einem Atomkraftwerk ist nichts zu erkennen.
Im Moment äusserster Ruhe wird das Aussen zur
Staffage. Die Zeitreise gehört seit Jules Verne zur
Moderne, Hollywood hat das Thema ausgeschlachtet.
Spätestens seit 1776 James Watt die erste
Dampfmaschine installiert hat, gilt Geschwindigkeit
als Inbegriff von Fortschritt und Zukunft. Die Futuristen haben sie vor dem Ersten Weltkrieg gefeiert,
Skeptiker wie Jean Tinguely haben sie ein paar
Jahrzehnte später mit sanfter Ironie hinterfragt.
Seine Maschinen laufen leer und machen einen
Höllenlärm. Das Widerspiel von Ruhebedürfnis und
Beschleunigungssehnsucht wird in dem Band, der
eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg
begleitet (bis 9. 4.), in seinen vielen Kapiteln von der
Romantik an ausdrucksstark aufgefächert. Die
Kunstgeschichte lässt sich auch unter diesem Aspekt
betrachten. Aus dem Dilemma unserer Wünsche
werden wir allerdings nicht entlassen. Gerhard Mack
Markus Brüderlin (Hrsg.): Die Kunst der
Entschleunigung. Hatje Cantz, Ostfildern 2011.
260 Seiten, 402 Abbildungen, Fr. 66.50.
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Autobiografischer Roman Ein niederländischer Autor setzt seinem Sohn ein Denkmal
Wenn Literatur
zur Trösterin wird
A. F. Th. van der Heijden: Tonio.
Ein Requiemroman. Aus dem
Niederländischen von Helga von
Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2011.
671 Seiten, Fr. 26.90.
Von Sieglinde Geisel
ROBERT RIZZO / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
Von der Trauer um einen geliebten
Menschen bleibt niemand verschont,
auch nicht die Schriftsteller. Mit
«Tonio» hat der niederländische Autor
A. F. Th. van der Heijden seinem Sohn
ein Denkmal gesetzt: Am frühen Morgen des 23. Mai 2010 verunfallte Tonio in
Amsterdam mit dem Velo, am gleichen
Tag starb er, noch nicht 22-jährig. «Solange die Literatur den Tod nicht zu
überwinden vermag, hat sie nach meiner Auffassung die Rolle (Funktion)
einer Trösterin bei allen Todesängsten.»
Diese Zeilen von 1981 stammen aus
einem Band mit Notizen aus dem Alltag.
Nun stellt van der Heijdens «Requiemroman» die Rolle der Literatur als Trösterin auf die Probe.
Diffuse Lichtgestalt
«Wenn ich es (…) jetzt schreibe, schon
in diesem Sommer, wird es ein Bericht
von innen (…), direkt aus der Gefühlsverwirrung heraus … Das Schreiben
wird dann zu einem Teil des Ringens,
und umgekehrt.» Ende Mai, eine Woche
nach Tonios Tod, hat van der Heijden
mit dem Buch begonnen, so erfährt man
gegen Ende der 671 Seiten. Er habe seinem Gedächtnis freien Lauf gelassen
und dieses Material dann «in einer
Struktur untergebracht, die in etwa der
eines Romans gleicht» – mit dem Ziel,
seinen Sohn «in Prosa lebendig zu erhalten». Die strenge äussere Form, in der
die Aufzeichnungen komponiert sind,
erweckt den Eindruck, das Chaos der
Gefühlsverwirrung lasse sich in eine
Ordnung bannen – als wäre das eigene
Leben, der eigene Schmerz ein Romanstoff, über den der Autor verfügen könnte, der am «Schwarzen Pfingstsonntag»
aus seiner Ruhe gerissen wurde. Zwei
Polizisten melden, Tonio liege «in kritischem Zustand» im Operationssaal. Der
Bericht über die folgenden quälenden
Stunden wird nun mit weiteren Zeitebenen verflochten: mit Erinnerungen an
das Kind Tonio, Gesprächen mit seinen
Freunden über den letzten Tag, Versuchen, den Unfall zu rekonstruieren, Reflexionen über Schuldgefühle.
Stolz signiert der achtjährige Tonio
bei Lesungen die Bücher seines Vaters.
Später macht er sich über dessen Arbeitswut lustig: «Bist du schon bei zehn
Seiten pro Tag?» – «Fünf sind das Minimum (…). Sechs, sieben sind machbar.
Acht ist ein Supertag», so die Antwort.
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
A. F. Th. van der
Heijden verarbeitet
seine Trauernotizen
über den bei
einem Velounfall
verstorbenen Sohn zu
einem Requiem.
Zum Streit kam es nie, auch später nicht.
Tonio erscheint als eine Lichtgestalt, die
undeutlich bleibt, ebenso wie seine
Mutter Mirjam.
Wie privat ist dieser Requiemroman?
Bisweilen blättert man in einem literarischen Familienalbum, das einen nichts
anzugehen scheint, doch in der nächsten Szene ist man unmittelbar berührt.
Mit den Eltern stehen wir am Spitalbett
des sterbenden Sohns. «Er schlief nicht,
und er war auch noch nicht aus dem
Traum erwacht, der das Leben war.»
Wenn van der Heijden nicht nur seinen
eigenen Schmerz erforscht, sondern das
Wesen der Trauer überhaupt, ist nichts
mehr privat. «Ich lief umher wie ein bis
ins Mark betrogener Liebhaber, in dem
die Liebe immer noch wächst und
wächst.» «Wir liessen den Nerv frei liegen und erzwangen so den Schmerz, der
uns mit Tonio verband.»
Neben solchen Sätzen begegnet man
in diesem offenbar schnell geschriebenen Buch allerdings auch Phrasen aus
dem Allgemeinwortschatz des Trauerns. «In Tonios Tod kann ich keinerlei
Ziel, keinerlei Sinn entdecken.» Auch
Mirjam findet keine eigenen Worte für
den Schmerz: «So schrecklich … so
schrecklich, dass ich ihn nie mehr sehen
werde.» Das sind Sätze, wie sie jeder
sagen könnte, und deshalb bleiben sie in
der Literatur ohne Wirkung. Der sprachliche Übermut wiederum, der in den
ausgreifenden Romanzyklen van der
Heijdens so kraftvoll daherkommt, erzeugt hier, wo es um sein eigenes Leid
geht, grell verunglückte Sätze. «Der gestorbene Tonio ruht unausweichlich
schwer und reglos in der wimmernden
Hängematte meiner Aufmerksamkeit.»
Berührend ehrlich
Welchen Massstab soll man an diese
Tagebuch-Notizen in Romanform anlegen? Man ist berührt von der Ehrlichkeit, mit der van der Heijden seine Trauer mitteilt – umso mehr jedoch schmerzen die vielen Sätze, die dem Floskelhaften, Alltäglichen verhaftet sind. «Diese
Notizen haben KEINEN LITERARISCHEN ANSPRUCH, die jetzigen nicht
und auch nicht die zurückliegenden», so
hiess es in der Notiz-Sammlung «Engelsdreck». Auch «Tonio» besteht aus
Alltagsnotizen, allerdings aus einem
Alltag im Ausnahmezustand. Es sei ihm
nicht gelungen, zum Kern dessen vorzudringen, was wirklich passiert sei, notiert van der Heijden nach einem Besuch
bei seinem Bruder. Diesen Eindruck hat
man auch nach der Lektüre: Der Plauderton, der über weite Strecken herrscht,
nimmt den Ereignissen ihr Gewicht.
Man hat dieses dicke Buch nicht nur
überraschend schnell gelesen, man hat
es auch «gern» gelesen. Doch dies ist
das falsche Kompliment. Was fehlt, ist
jener Trost, den Literatur zu geben vermag, wenn sie den Schmerz durch Sprache verwandelt. ●
Roman Unspektakulärer Alltag,
klischeehaft geschildert
Eine alte Dame
gerät in Wut
Kurzkritiken Belletristik
Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte.
S. Fischer, Frankfurt 2011. 127 Seiten,
Fr. 25.90.
Iren Baumann: Noch während die Pendler
heimfahren. Gedichte. Waldgut, Frauenfeld
2011. 80 Seiten, Fr. 20.10.
Über der bürgerlichen Kindheit liegt die
Trägheit der Sonntagnachmittage und
der Sommer auf dem Land. Bei der
44-jährigen Katharina Hacker, deutsche
Buchpreisträgerin («Die Habenichtse»,
2006), sind es die Sommer, welche die
gebürtige Frankfurterin mit ihrer Familie in einem Odenwalder Dorf zubrachte. In ihrem schmalen Buch gibt sie weniger eine titelgebende «Geschichte»
wieder als atmosphärische Erinnerungspassagen: Arier-Dokumente im Estrich,
Hitze, Gewitter, die wilde Fantasie der
drei Geschwister, Dorfdeppen, die verehrte Grossmutter. Die Autorin erzählt
aus der Gegenwart heraus, das Autobiografische kryptisch verneinend. Wozu?
Das verschleiernd Märchenhafte im
Ton, in der Syntax bleibt und damit die
Stimmung, die einen einhüllt wie ein
samtenes Futteral. Oder wie die Langeweile eines Sommers auf dem Land.
Regula Freuler
Die Lyrikerin Iren Baumann gehört zu
den originellsten Stimmen der Zürcher
Literaturszene. Das Werk der 1939 geborenen Dichterin ist schmal, aber bedeutsam. Fünf Gedichtbände umfasst es
mittlerweile. Die reimlosen, in freien
Rhythmen gehaltenen Zeilen widerspiegeln oft Alltagsbeobachtungen und
kommen ohne prätentiöses Vokabular
aus, sind aber doch hintersinnige Wortgespinste. Zärtlichkeit und Genauigkeit
verbinden sich in ihnen mit einer koboldhaften Heiterkeit. Iren Baumann
sieht in die Menschen hinein und durch
sie hindurch, scheinbar simple Dinge
schimmern bei ihr in einem gebrochenen Licht und offenbaren so eine ungeahnte Schönheit. Die aber steht niemals
still: Denn Kobolde haben einen sicheren Instinkt, der sie alle Feierlichkeit
vermeiden und stets neue Volten schlagen lässt.
Manfred Papst
Friedrich Achleitner: Iwahaubbt. Gedichte
im Dialekt. Zsolnay, Wien 2011. 208 Seiten,
Fr. 25.90.
Nancy Mitford: Landpartie mit drei
Damen. Satirischer Roman. Graf, München
2011. 247 Seiten, Fr. 24.50.
Der 1930 im oberösterreichischen Schalchen geborene Friedrich Achleitner ist
Schriftsteller, Architekt und emeritierter Professor für angewandte Kunst. 1955
stiess er zur Wiener Gruppe um Bayer,
Artmann und Rühm. Er publizierte
Dialektgedichte sowie Konkrete Poesie
und Montagetexte. Berühmt wurde sein
experimenteller «Quadratroman» von
1973. In den letzten Jahren hat er mehrere Sammlungen von kurzen Texten publiziert, in denen sich Beobachtungsgabe,
kauziger Humor und Sprachmusikalität
verbinden. Nun legt er unter dem Titel
«Iwahaubbt» seine gesammelten, im
Dialekt des Innviertels verfassten Gedichte vor. Sie sind im Lauf eines halben
Jahrhunderts entstanden und von vielfältigem Zauber. Übermütig spielen sie
mit Formen wie der Stanze und Litanei.
Nicht immer sind sie auf Anhieb zu entziffern. Für neugierige Sprachspieler
aber sind sie ein unerschöpflicher Quell
des Vergnügens.
Manfred Papst
Herausfordernd und doch mit jener Gelassenheit der Selbstbewussten schaut
sie einen an auf der Umschlagfoto. Der
Eindruck täuscht nicht: Nancy Mitford
(1904–1973), Tochter eines britischen
Barons, scheute keine Konflikte, weder
im Privaten noch im Schreiben Ω bei
letzterem mit Erfolg. Auch im Roman
«Wigs on the Green», der nun zum
zweiten Mal auf Deutsch übertragen
wurde, seit er 1935 im Original erschienen ist, nimmt ihr bekannter Witz keine
Rücksicht auf die Nächsten. Die da
waren: sechs Geschwister, darunter
zwei glühende Hitler-Verehrerinnen
(die eine, Guinness-Erben-Gattin, liess
sich scheiden, um den Faschistenführer
Sir Oswald Mosley zu ehelichen). In
Porträts von beissendem Spott lässt die
Autorin Nancy Mitford die Verwandtschaft auftreten. Eine Neuauflage verhinderte sie 1951: Zu viel Grausames sei
im Krieg geschehen. Aus heutiger Sicht:
Eine grossartige Groteske!
Regula Freuler
Stewart O'Nan: Emily, allein. Aus dem
Amerikanischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt, Hamburg 2011. 352 Seiten,
Fr. 30.50.
PETER PEITSCH
Von Simone von Büren
Betagte Protagonisten, gebrechlich, vergesslich und kompliziert, gibt es in der
Literatur wenige. Bei Stewart O’Nan, der
Thriller schreibt und sich gerne mit dramatischen Stoffen befasst, erwartet man
sie schon gar nicht. Doch nun hat der
Amerikaner mit «Emily, allein» einen
Roman über eine alte Frau geschrieben,
deren «Leben keine dringende oder notwendige Angelegenheit mehr» ist.
Emily ist über achtzig und seit Jahren
verwitwet, eine pflichtbewusste Dame,
die viel erwartet und leicht enttäuscht
wird – etwa wenn Kinder und Enkel zu
früh abreisen und keine Dankesbriefe
schreiben. Ihr Leben besteht aus langen
Hundespaziergängen, Frühgottesdiensten und dem Ausschneiden von Rabattgutscheinen.
O’Nan beschreibt Emilys unspektakulären Alltag gewissenhaft und in nüchternem Stil. Das Irritierende dabei ist,
dass er Dinge behauptet, anstatt sie
sichtbar zu machen: Der Drittpersonerzähler beschreibt eine Frau, die zu
Hause gerne klassische Musik hört und
in Fotoalben blättert, sagt dann aber,
dass sie sich in ihrem Haus «klaustrophobischen Gedanken ausgeliefert»
fühlt. Er zeigt uns eine unscheinbare
Dame, höflich und angepasst, sagt aber,
sie habe schlimme Wutanfälle. Und statt
ihre Empfindungen zu beschreiben, legt
er ihr Sentenzen in den Mund: Angesichts des Todes «in Hysterie zu verfallen hatte keinen Sinn».
Was der 50-jährige Autor vorlegt, ist
ein Klischee von Alter. Auf den 350 Seiten kommt alles vor, was man mit dem
Alltag einer betagten Frau assoziiert:
Vergesslichkeit, Angst vor Stürzen
«beim Auffüllen des Vogelhäuschens»,
das Wählen der republikanischen Partei
auch nach Bush, Schlaflosigkeit, Abhängigkeit von Nachbarn, Fixiertsein auf
ein Haustier, Hang zu Paranoia, Arztbesuche, Testamentschreiben, Beerdigungen, verklärte Erinnerungen.
Es fehlen die unerwarteten Einzigartigkeiten, die eine Figur lebendig
machen. Nur Ansätze dazu
sind zu erkennen: Etwa
wenn Emily merkt, dass
man ihr in ihren geliebten viktorianischen Filmen die Nebenrolle
der schrulligen Alten
geben würde, während sie sich selber
immer noch in der
Hauptrolle sieht. ●
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Charles Dickens (1812–1870) mutet seinen Leserinnen und Lesern ganz
viel Kitsch zu, schreibt aber so unvergesslich wie kein zweiter Autor.
Andreas Isenschmid hat mit dessen Werk einige Lesewochen verbracht
Verliebt in
die Romane eines
200-Jährigen
Alle, soweit sie Klassiker lesen, halten es mit
Stendhal, Flaubert und, etwas seltener vielleicht, mit Balzac. Alle lesen Jane Austen und
George Eliot. Aber Charles Dickens? Er ist eher
eine Angelegenheit des gehobenen (und gekürzten) Jugendbuches, ferner ein englischer
Nationalsport. Aber wirklich gelesen wird er,
einer repräsentativen Langzeitbeobachtung
meines Lesefreundeskreises zufolge, kaum.
«Mit Dickens hatte ich immer Mühe» – keinen
Satz habe ich in den zurückliegenden Wochen
meiner Dickens-Lektüre häufiger gehört.
Dabei ist es kinderleicht, sich in den alten Dickens zu verlieben. Meine todsichere DickensVerführungsanthologie besteht aus den ersten
dreissig Seiten seiner drei besten Romane. Wer
die Anfangskapitel von «Bleakhaus», von «Grosse Erwartungen» und von «Unser gemeinsamer
Freund» liest, um den ist es geschehen. Es wer-
Charles Dickens
Vor 200 Jahren, am 7. Februar 1812, kam
Charles Dickens zur Welt, am 9. Juni 1870 ist er
gestorben. Wer sein produktives Leben verfolgen
will, findet in Hans-Dieter Gelferts Biografie
einen verlässlichen Begleiter, der auch die
wichtigsten Werke vorstellt (C. H. Beck, 380
Seiten, Fr. 40.90). Hinreissend geschrieben ist
Claire Tomalins englischsprachige Biografie mit
fabelhaften Bildern (Penguin, 530 S., Fr. 29.50).
Wie der Jüngling Dickens sich über Nacht in
einen Literaturstar verwandelte, zeigt Robert
Douglas-Fairhurst in «Becoming Dickens»
(Harvard University Press, 390 S., Fr. 39.90).
Die feinsten Neuübersetzungen stammen von
Melanie Walz: Sie hat den späten Roman
«Grosse Erwartungen» herausgegeben (Hanser,
830 S., Fr. 46.90) und die teils erstmals
übersetzten Reportagen «Reisender ohne
Gewerbe» (C. H. Beck, 128 S., Fr. 21.90).
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
den in seinem imaginären Lesermuseum einige
Szenen, Figuren und Stimmungen auf ewig mit
einer Kraft strahlen, wie sie bei den oben genannten Klassikern eher selten vorkommt.
Nehmen wir die Ouvertüre der «Grossen Erwartungen», die Hanser in einer fabelhaft kommentierten Übersetzung neu herausgebracht
hat. Dickens war 48 Jahre alt, als er das Buch
begann, neben «David Copperfield» sein einziger durchgängig in der ersten Person erzählter
Roman. Und wie «Copperfield» und «Oliver
Twist» beginnt er in der Welt eines Kindes.
Pip, wie der Held heisst, mag sechs, sieben
Jahre alt sein, als er am Tag vor Weihnachten,
«an einem denkwürdigen nasskalten Nachmittag, der sich zum Abend neigte», seine «erste
und eindringliche Vorstellung von der wahren
Beschaffenheit der Dinge» erhält. Erst begreift
er auf dem Friedhof vor den Grabsteinen seiner
Eltern und Geschwister aufs mal, was er und
seine Welt sind: dass er ein Waise ist, dass das
feuchte, von Gräben und Schleusen durchzogene Marschland seine Heimatgegend ist und
«dass das kleine Espenlaubbündel, das sich vor
alledem zu fürchten und zu weinen begann, Pip
war». Im gleichen Augenblick begreift er auch,
wie diese Welt ist: finster und brutal. Ein
schrecklich aussehender Mann mit einem grossen Eisen am Bein, ein Sträfling, wie sich zeigen
wird, springt zwischen den Gräbern hervor,
herrscht ihn an, hält ihn an den Füssen in die
Luft und fordert ihn unter brutalsten Todesandrohungen auf, ihm am andern Morgen Esswaren und eine Feile zu bringen.
Es liesse sich nun lange weiter resümieren,
wie Pip nach Hause geht, unter Qualen stiehlt,
sich im Frühnebel rausschleicht und wie
schliesslich mitten im Weihnachtsmahl, gerade
als sein Diebstahl aufzufliegen droht, Soldaten
auf der Suche nach entflohenen Sträflingen ins
Haus dringen. Zum Schluss ist Pip auf dem Rücken seines Pflegevaters in einfallender Nacht
und im eisigen Graupelschauer dabei, als die
Sträflinge wie in einer BBC-News-Sendung von
heute unter Geschrei, Schüssen, Fackellicht
blutend aus einem Schlammgraben gezogen
und in Handschellen gelegt werden.
Aber Literatur lässt sich nicht zusammenfassen, und Dickens am wenigsten. Man muss sein
erzählerisches Grossgenie haben, um auf dreissig, vierzig Seiten eine so dichte, tiefe, stim-
Es ist bekannt, dass Dickens
aus dem Schicksal von
Kindern in seelischem und
körperlichem Elend
literweise sentimentalen
Kitsch-Sirup gepresst hat.
mungsstarke und komplexe Welt zu erzeugen,
wie sie uns in den Eröffnungen von seinen grossen Romanen begegnet. Im Vergleich zu diesem
Vollkorn sind nicht wenige andere Klassiker
bleiches Toastbrot. Kommt dazu, dass in Dickens dichter Ouvertüre der «Grossen Erwartungen» zugleich der ganze Dickens-Kosmos
symbolisch drinsteckt.
Lebenstrauma des Autors
Welches sind die Elemente des Dickens-Kosmos? Zuallererst sind es Kinder in seelischem
und körperlichem Elend. Zur Arbeit gezwungene Kinder wie Oliver Twist. Geschlagene Kinder wie Pip, Waisen- und Heimkinder, Kinder
mit einer tiefen Sehnsucht nach Wärme, Familie, Aufgehobenheit. Dass Dickens aus dem
Schicksal dieser Kinder literweise sentimentalen Kitsch-Sirup gepresst hat, ist bekannt. Man
«müsse ein Herz aus Stein haben, um bei Little
Nells Tod nicht in Lachen auszubrechen», geht
ein böses Wort Oscar Wildes zur Heldin des
Romans «Der Raritätenladen»; Dickens hat es
sich redlich verdient. Aber die Menge, die im
BRIDGEMANART
Charles Dickens (1812–1870) mit zwei seiner Töchter, der Schriftstellerin Mary Dickens und der Malerin Kate Dickens, um 1865.
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
noch die geringsten unter seinen Menschenbrüdern, aber den Adel und die herrschenden
politischen Eliten übergiesst er mit ätzendem
Spott. Selten merkt man das stärker als am Anfang von «Unser gemeinsamer Freund», beim
Wechsel von der teilnehmenden, dunkel leuchtenden Schilderung der Leichenfischer in
der Themse zur kalten und ganz und gar modernen Satire auf ein Diner bei den neureichen
Veneerings. Das hätte Tom Wolfe nicht besser
gekonnt. Doch all das wird übertroffen von der
Schilderung des Kanzleigerichts am Anfang
von «Bleakhaus». Der amerikanische Starkritiker Harold Bloom, der Dickens über Tolstoi
und neben Shakespeare stellt, hat das feine Argument formuliert, erst Kafka habe uns geholfen, diesen Anfang richtig zu sehen: als Darstellung einer Rechtskrake, die alle Menschen so
unentrinnbar bannt und vernichtet wie das System in Kafkas «Prozess».
DDP IMAGES
Verwandlung ins Märchenhafte
Szene aus dem Film «Great Expectations» (1974), einer amerikanischen Verfilmung des Dickens-Romans.
Hafen von New York dem Schiff, das die letzte
Fortsetzung des «Raritätenladens» nach Amerika brachte, voller Angst entgegenrief «Ist Little Nell tot?», war auch nicht blöd. In Dickens
Kindern steckt ein Leiden und Sehnen, das
allen Kitsch übersteigt.
Das alles hat natürlich mit Dickens' Lebenstrauma zu tun: als er zwölf Jahre alt war, haben
ihn seine Eltern wegen finanzieller Nöte für ein
Jahr zur Arbeit in eine Schuhwichsfabrik weggesperrt, bald darauf kam sein Vater für kurze
Zeit ins Gefängnis. Diese Erfahrung war für Dickens so traumatisierend, dass er sie sein Leben
lang nur einem einzigen Menschen erzählt hat,
sie aber doch lebenslänglich hinausschrie,
indem er sie in all seine Bücher hineinschrieb.
Ein nach seinem Tod publiziertes autobiografisches Fragment über diese Erfahrung wirkt bis
in zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen
hinein – wie ein Brühwürfel all seiner Werke.
Romantechnischer Grossmeister
Doch dieses Trauma wäre keiner Erwähnung
wert, wenn Dickens es nicht so meisterlich umgesetzt hätte. Einzigartig in der Weltliteratur ist
seine feine Darstellung des kindlichen Seelenlebens. Hinreissend ist aber auch, wie er das
kindliche Sehnen ins Grosse, in die Handlungen und Baupläne seiner Romane übersetzt.
Dickens ist der romantechnische Grossmeister
der Familienzusammenführung.
Familienkonstruktion ist oft geradezu der
Handlungsmotor seiner Bücher. Allenthalben
finden Elende und Reiche, Adlige und Depravierte in abenteuerlichen Handlungsverschlingungen als Eltern und deren verlorene, vergessene, totgeglaubte Kinder zueinander. Der Sträfling, der Pip am Anfang des Romans bedroht,
wird als sein verkannter Wohltäter ihm den sozialen Aufstieg zu verschaffen versuchen, den
seine Eltern ihm schuldig bleiben mussten. Zugleich wird dieser Sträfling sich als der Vater
der von Pip lebenslang angebeteten kalten
Schönheit Estella herausstellen. Auch für Estellas einst ganz elende Mutter hat Dickens ein
warmes Romanplätzchen arrangiert.
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
Interessanter als dieses Plätzchen ist aber die
Herkunft der Mutter. Bevor sie Haushälterin
(und Geliebte?) eines der abertausend Rechtsanwälte wurde, die Dickens Werk bevölkern,
war sie eine gewalttätige Landstreicherin, Herumtreiberin, Mörderin. Sie ist eine der zahllosen Figuren, die Dickens Bücher – zweites Element des Dickens-Kosmos – zu einer sozialgeschichtlichen Enzyklopädie der armen Klassen
machen. In Dickens Büchern ist die Lebenswirklichkeit der einfachen und armen Menschen so umfassend und so leuchtend dargestellt wie in keinem anderen Werk der Weltliteratur. Gewiss kannte auch Cervantes die einfachen Leute, Flaubert hat die Geschichte einer
Dickens Blick auf das
schmutzstarrende, dunkle,
elende London, auf die
einstürzenden Häuser der
Armen ist grossartig und
unvergleichlich.
Magd geschrieben, Tolstoi wandte sich den
Knechten zu, und Zola zeigte, was es bei Dickens noch nicht gibt, Arbeiter im modernen
Sinn. Aber Dickens Blick auf das schmutzstarrende, dunkle London, auf die alle Augenblicke
einstürzenden Häuser der Armen, auf den elenden «Streifen vorstädtischer Sahara» ist grossartig und unvergleichlich. Bei Dickens und nur
bei ihm bekommen die Halbwahnsinnigen, um
die wir im städtischen Alltag einen grossen
Bogen machen, ihren ausführlichen Auftritt.
Jede Gesellschaft wendet vor ihren elendesten
Realitäten den Blick weg – Dickens zwang die
seine hinzusehen. Das ist der bis heute unendlich bewegende christliche Teil in ihm.
Schliesslich kombiniert sich, nächstes Element seines Kosmos, sein sozialer Blick mit
einem kritischen politischen Urteil. Er liebt
In der Beschreibung des Kanzleigerichts enthüllt sich schliesslich das letzte Element des
Dickens-Kosmos. Man kann es das mythische
Element nennen. Dickens hat für seine Beschreibung des Kanzleigerichts zwar ausführlich recherchiert, aber zugleich gibt er dem Gericht durch die Art seiner Beschreibung eine
mythische Qualität. Er verwandelt eine wohlbekannte Londoner Institution, indem er sie in
Düsternis, Nebel und Russ hüllt in einen dunkel
drohenden Höllenschlund. Diese Verwandlung
reporterhaft realistischer Beschreibungen – Dickens begann als Reporter – in etwas Überwirkliches ereignet sich in vielen seiner Romane.
Ausser in mythische Dimensionen kann sie
auch ins Märchenhafte, in die Legende, in die
Romanze zielen. Immer wieder wehen jedenfalls anderweltliche Schleier und Vorhänge
durch Dickens' Hardcore-Realismus. Und oft
haben diese Stellen, an denen einem ganz anders wird, mit den kühn überraschenden Identitätsumschwüngen des Autors zu tun: der im
finstersten Loch verstorbene Drogensüchtige
entpuppt sich als der Liebhaber der schönsten
aller schönen und unerreichbaren Ladys – und
schon wird die so undurchdringliche Realität
auf etwas ganz anderes durchsichtig.
Aber: so viele Gründe es gibt, sich in Dickens
zu verlieben, reichen sie auch für die Verwandlung der Verliebtheit in Liebe? Zahllose ausschweifende Dickensleser haben genau das bezweifelt. Kafka stiess sich an den «Stellen grauenhafter Kraftlosigkeit, wo er müde nur das
bereits Erreichte durcheinanderrührt. Barbarisch der Eindruck des unsinnigen Ganzen».
Arno Schmidt: «Der frühe und mittlere Dickens
liefert das peinliche Schauspiel eines Schriftstellers, der sein Handwerk liederlich betreibt
– ein ‹Meister der Fehlkonstruktion›». Am härtesten ist George Orwells Dickens-Essay, eine
aus Liebe geschriebene, unendlich kluge Vernichtung. Niemand erreiche Dickens «im Vermögen, bildliche Vorstellungen zu evozieren.
Wenn Dickens etwas einmal beschrieben hat,
sieht man es für den Rest seines Lebens». Nur
sei Dickens leider ein Autor, «bei dem die Teile
wichtiger sind als das Ganze. Er besteht ganz
aus Fragmenten, ganz aus Details – scheussliche Architektur, aber wunderbare Wasserspeier.» Freilich muss man auch die Wasserspeier
oft quälend lange suchen. Denn Dickens quält
seine Leser nicht selten mit endlosen, völlig
überflüssigen, komplett statischen Beschreibungen, er martert sie mit Handlungen, die absurd verwinkelt, vollkommen unwahrscheinlich und kaum zu behalten sind. Doch gerade
wenn man es mit einem seiner Bücher wieder
mal aufgeben will, läuft man in eine dieser unvergesslichen Stellen, und es geht mit der Verliebtheit wieder los. l
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Wer in der wirklichen
Welt arbeiten und in der
idealen leben kann, der
hat das Höchste erreicht.
Charles Lewinsky ist
Schriftsteller und
arbeitet in den
verschiedensten
Sparten. Sein letzter
Roman «Gerron» ist
2011 bei Nagel &
Kimche erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Esther Girsberger: Eveline WidmerSchlumpf. Die Unbeirrbare. Orell Füssli,
Zürich 2012. 208 Seiten, Fr. 29.90.
Otto Stich: Ich blieb einfach einfach.
Autobiografie mit Texten von I. Bachmann.
Schwabe, Basel 2011. 144 Seiten, Fr. 28.–.
Im Geheimen vorbereitet, wurde das
Buch exakt am Tag der Wiederwahl von
Eveline Widmer-Schlumpf am 14. Dezember angekündigt. In neun Gesprächen zwischen Herbst 2010 und Juli 2011
befragte Esther Girsberger die BDPBundesrätin über Familienpolitik, Zuwanderung, Bankgeheimnis und andere
Themen. Viele Ansichten der «unbeirrbaren» EWS sind bekannt. Aufschlussreich sind ihre Antworten über den Tod
ihrer Schwester, ihr Verhältnis zur
Macht, oder wenn sie eingesteht, dass
sie bei der Kinder-Betreuungsverordnung «einen Bock geschossen» habe.
Deutlich wird auch, wie früh die Differenzen zu Christoph Blocher aufgebrochen sind: beim Zwist um die EWR-Abstimmung 1992 und die «MesserstecherInserate» 1993. Der Studienkollege und
frühere Preisüberwacher Werner Marti
umschreibt EWS’ Charakter treffend mit
einem Kletter-Begriff: «Free Solo».
Urs Rauber
Der gerade 85 gewordene Otto Stich ist
der Prototyp eines schweizerischen
Dorfpolitikers: bodenständig, bieder,
pragmatisch und bauernschlau. Mit 30
wird der Arbeitersohn erster (und bisher einziger) sozialdemokratischer Gemeindepräsident von Dornach (SO).
Mit 36 rückt er in den Nationalrat nach,
bleibt dort aber ein Hinterbänkler. Bis er
1983 gegen den Willen seiner Partei von
den Bürgerlichen zum Bundesrat gewählt wird. Die Bankiervereinigung
würdigte den ebenso sozialen wie eigensinnigen Politiker nach seinem Rücktritt
1995 als «hervorragenden Finanzminister». Nun plaudert Stich frank und frei
über Internas aus dem Bundesrat, stichelt gegen Adolf Ogi und zieht über die
legendäre «SP-Viererbande» (Gerwig,
Hubacher, Uchtenhagen und Renschler)
her. Der «hartgrindige Schwarzbube»
bleibt sich selber auch in seiner schmalbrüstigen Autobiografie treu.
Urs Rauber
Philipp Blom (Hrsg.): Angelo Soliman.
Ein Afrikaner in Wien. Ausstellungskatalog.
Brandstätter, Wien 2011. 248 S., Fr. 40.90.
Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel.
15 Geschichten aus Sils im Engadin. Limmat,
Zürich 2012. 180 Seiten, Fr. 34.–.
Das Umschlagporträt des schönen
Schwarzen mit Turban, gekleidet in ein
fürstliches Gewand des europäischen 18.
Jahrhunderts, weckt Neugier. In Wien
ist Angelo Soliman (1721–1796) eine
stadtbekannte Grösse, über deren Ende
man aber nicht gerne spricht. Soliman
wurde nach seinem Tod gehäutet, wie
ein Tier ausgestopft und im kaiserlichen
Naturalienkabinett als halbnackter Wilder zur Schau gestellt. Das rassistische
Bild des Mohren hatte im letzten Augenblick Überhand gewonnen. Soliman,
einst Sklave aus der Sahelzone, hatte
sich emporgearbeitet, war hochgebildet,
Freimaurer, Lehrer von Fürstensprösslingen und Gesprächspartner von Kaiser Joseph II. Alles in allem das geglückte Leben eines Migranten, ein Erfolg der
Aufklärung. Mit der Schändung seines
Leichnams verwies die Gesellschaft Soliman aber wieder in die alte Ecke.
Geneviève Lüscher
Christina Godley führt die Stüva Marchetta, ihre Schwester Maria die Pensiun. Bis heute arbeiten sie sieben lange
Tage in der Woche, wie es schon ihre
Mutter tat, in Küche, Gaststube und
Garten. Sils, darin sind sie sich einig, ist
zu gross geworden: «Früher war man
überall zu Hause – heute vermögen es
die Hiesigen kaum mehr, hier zu wohnen.» Die Schwestern sind zwei von 17
«echten» Silsern und Silserinnen, die
die Journalistin Daniela Kuhn aus ihrem
Leben erzählen lässt. Sie haben in Gastgewerbe und Landwirtschaft, als Schreiner, Kutscher oder Skilehrer gearbeitet.
Sie erinnern sich an illustre Gäste – General Guisan! –, an Zeiten, als die Touristen vor allem im Sommer kamen und
noch jeder im Dorf einen Stall hatte. Sie
lassen ein altes Sils aufleben, das schon
heute von der Luxus-Tourismus-Fassade
verdeckt, bald ganz verschwinden wird.
Kathrin Meier-Rust
Ludwig Börne
Ist es Ihnen auch aufgefallen? Seit einiger Zeit stehen hinter dem Autorenvermerk von Artikeln immer häufiger die
Worte: «Lebt und arbeitet in . . .»
Sprachschludernde Redakteure hauen
den Satz unterdessen so automatisch in
die Tastatur, wie Werbeleute über ein
hunderttausendfach verbreitetes Flugblatt die Lüge setzen: «Ihr ganz persönliches Angebot».
Was müssen das für Autoren sein,
frage ich mich, die darauf bestehen, der
Öffentlichkeit mitzuteilen, dass sie in
London, New York oder Bümpliz nicht
etwa nur leben, sondern – welche
Überraschung! – auch arbeiten? Oder
verstehe ich den Satz falsch, und die eigentliche Botschaft lautet: «Ich arbeite
nicht nur, sondern – wer hätte das gedacht? – ich lebe auch»?
Seit wann, frage ich mich weiter, sind
Leben und Arbeiten zwei so ganz und
gar verschiedene Dinge, dass man sie in
einer biografischen Notiz separat anführen muss? Stellen diese Autoren ihr
Leben ein, während sie am Computer
sitzen? Sagen sie ihrer Frau am Telefon:
«Ich schreibe nur noch diesen Artikel
zu Ende, Schatz, aber pünktlich um
halb sieben fange ich wieder an zu
leben»?
Oder, wenn wir schon mal am Ausdeuten sind, finden sie vielleicht vor
allem mitteilenswert, dass sie diese beiden so ungeheuer verschiedenen Tätigkeiten aus irgendeiner Marotte heraus
tatsächlich in der gleichen Stadt ausüben? Soll der Leser darüber staunen,
dass sie nicht etwa in Melbourne leben
und gleichzeitig ihrer beruflichen
Tätigkeit in Stockholm nachgehen?
(«Wissen Sie, ich komme auf den täglich dreissig Stunden Flug so schön
zum Lesen.»)
Oder steckt hinter der verquasten
Formulierung überhaupt keine inhaltliche Bedeutung? Macht im Kindergarten
des Journalismus jeder den gleichen
Sprachpurzelbaum, nur weil ihn der andere auch gemacht hat? Ist das Ganze
nur – um eines der schönsten Sprachbilder von Karl Kraus seinem ursprünglichen Kontext zu entfremden – der
Versuch, auf einer Glatze Locken zu
drehen?
Ich weiss es nicht. Ich beobachte nur,
dass sich diese Formulierungsseuche
immer weiter ausbreitet und dass
immer noch – Wo bleibt die chemische
Industrie, wenn man sie wirklich
braucht? – niemand ein wirksames Mittel dagegen entwickelt hat.
Ich kann Ihnen lediglich versichern:
Während ich diese paar
Zeilen zu Computer
brachte, habe ich sowohl
gearbeitet als auch
gelebt.
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Geschichte Lange schwankte das historische Urteil über den
preussischen König Friedrich II. zwischen Verehrung und
Verdammung. Heute steht seine Ambivalenz im Vordergrund
Friedrich
der Grosse
Christian Graf von Krockow: Friedrich der
Grosse. Ein Lebensbild. Lübbe, Köln 2012
(Neuauflage). 224 Seiten, Fr. 31.50.
Ute Frevert: Gefühlspolitik. Friedrich II.
als Herrscher über die Herzen?
Wallstein, Göttingen 2012. 159 S., Fr. 24.50.
Johannes Bronisch: Der Kampf um
Kronprinz Friedrich. Wolff gegen Voltaire.
Landt, Berlin 2011. 125 Seiten, Fr. 28.50.
Von Kathrin Meier-Rust
Philosophenkönig mit Flöte oder zynischer Machtpolitiker, der Adolf Hitler
zum Präventivkrieg inspirierte – lange
schwankte das Urteil über Friedrich den
Grossen zwischen kultischer Verehrung
und absoluter Verdammung. Noch Helmut Schmidt liess als frischgekürter
Verteidigungsminister die Büste Friedrichs aus seinem Büro entfernen. Doch
mit den grossen preussischen Jubiläumsjahren – zum 200-jährigen Todestag
des Königs 1986, zum 300-jährigen Jubiläum des preussischen Königtums 2001
Friedrich der Grosse
Friedrich II. wird am 24. Januar 1712 als
ältester Sohn des preussischen Königs
Friedrich Wilhelm I. und seiner Gattin
Sophie Dorothea in Berlin geboren.
1736 bezieht der Kronprinz das Schloss
Rheinsberg und widmet sich dem
Studium der Philosophie, Geschichte
und Poesie. 1740 wird er zum König von
Preussen gekrönt.
Friedrich II., auch Friedrich der Grosse
genannt, gilt als Repräsentant des aufgeklärten Absolutismus. Er führt zahlreiche Reformen in Justiz und Verwaltung
durch und versteht sich als «Erster
Diener des Staates». Unter seiner
Herrschaft etabliert sich Preussen als
europäische Grossmacht. Am 17. August
1786 stirbt Friedrich in Potsdam.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
und nun zum 300-jährigen Geburtstag
des Königs am 24. Januar 2012 – ist das
Urteil der Historiker ausgewogener geworden, steht die abgründige Ambivalenz dieser Figur im Vordergrund.
Geblieben ist die Faszination des Königs und seines an Drama so reichen Lebens. Rund zwei Dutzend Neuerscheinungen sollen es sein in diesem Winter:
nebst mehreren Biografien etwa die
Erstpublikation der Vortragsnotizen des
grossen Basler Historikers Jacob Burckhardt zu seiner Vorlesung über «Das
Zeitalter Friedrichs des Grossen» (C. H.
Beck), neue Darstellungen des VaterSohn-Konfliktes (Pieper) oder von
Friedrich als Musiker (C. H Beck) bis
hin zum Friedrich-der-Grosse-Gedächtnisspiel. Wo also anfangen?
Empfehlenswerter Klassiker
Wer einen ersten Zugang sucht greift
mit Gewinn zu einem preussischen
Klassiker, wie ihn nebst Sebastian Haffner («Preussen ohne Legende») oder
Marion Gräfin Dönhoff («Preussen –
Mass und Masslosigkeit») auch Christian Graf von Krockow verfasst hat (1986,
Neuauflage Lübbe 2012). Der aus pommerschem Adel stammende Historiker
lehrte an verschiedenen deutschen Universitäten. In seinem «Lebensbild»
Friedrichs II. versteht er es auf glänzende Weise, das biografische Drama dieses
Königs mit seiner überragenden Bedeutung für die europäische Geschichte
immer neu zu verflechten.
Hier findet sich alles: Die Kindheit
und Jugend im Zeichen des gewalttätigen «Soldatenkönigs» Friedrich Wilhelm I., dem sein intellektuell und musisch begabter Sohn geradezu physisch
zuwider ist; nach dem Fluchtversuch
des 18-Jährigen lässt er diesen in den
Kerker werfen und die Hinrichtung des
Freundes Katte mit ansehen. Die weitgehend autodidaktische Bildung des Kronprinzen zum schöngeistigen Aufklärer,
der in den ersten Tagen seiner Regierung Folter und Zensur abschafft (nicht
für lange allerdings) und in Preussen
Religionstoleranz verkündet, nach dem
berühmten Motto «Ein jeder muss nach
seiner Façon selig werden». Und der
dann wenige Monate später mit der
Armee, die sein Vater geschaffen hatte,
das österreichische Schlesien überfällt.
Der diesen Raub durch drei Kriege hindurch gegen eine Übermacht der europäischen Grossmächte verteidigt und
doch den Siebenjährigen Krieg nur dank
einem Wunder übersteht: dem «Mirakel
des Hauses Brandenburg», das darin besteht, dass die Zarin Elisabeth rechtzeitig stirbt.
Es findet sich die Freundschaft des
Königs mit Voltaire, die mit der Flucht
des Spötters ein bitteres Ende nimmt.
Sein tiefgründiger Hass auf Frauen,
nicht nur weil mit Maria Theresia in Österreich, Elisabeth in Russland und Madame Pompadour in Frankreich Preussens Erzfeinde sozusagen ein weibliches
cherlich nicht empfand, und nahm, trotz
seiner Abneigung gegen das Zeremoniell, die althergebrachten Huldigungen
entgegen. Ein eigenes Kapitel widmet
Frevert dem huldvollen Lüpfen des
Hutes, das der berittene König zu praktizieren pflegte: Gegen 200 Mal, berichtet ein Augenzeuge, habe er es auf einem
einzigen Ritt durch Berlin getan. Doch
um Liebe zum Volk ging es bei alledem
kaum: Zu selbstverständlich, zu unüberwindlich war die Distanz eines Monarchen zu seinen Untertanen.
FINE ART IMAGES
Keine echte Zuneigung
Gesicht hatten. Der männerbündische
Geist, der Preussens Geschichte prägt,
und die zynische Menschenverachtung,
die den alternden König verbittern und
vereinsamen liess. Der historische
Ruhm, den er fand, weil er aus dem Flickenteppich der mausarmen «Sandbüchse» am Rande Europas einen modern verwalteten Militärstaat machte,
und der Abscheu, weil er dafür kaltherzig eine Million Tote und die Verheerung seines Landes in Kauf nahm.
Einen neuen Zugang sucht die renommierte Historikerin Ute Frevert: Als
Vertreterin der «emotionalen Wende»
in der Kulturwissenschaft fragt sie nach
der «Gefühlspolitik» Friedrich des
Grossen. Damit meint sie nicht etwa die
wahren Gefühle des Königs, die schlicht
nicht zu ergründen seien. Vielmehr geht
es ihr um Gefühle als Werkzeuge des politischen Handelns, wie sie in der Politik
längst selbstverständlich sind, man
denke etwa an den Kniefall Willy
Brandts im Warschauer Ghetto. Es geht
darum, wie der König Gefühle einsetzte,
in Propaganda, Rhetorik und Selbstdarstellung, um die Zustimmung, ja gar die
Liebe seiner Untertanen zu wecken.
Denn just dies hatte der junge Kronprinz in seinem berühmten Traktat vom
«Antimacchiavell» verlangt: dass ein
Fürst als «erster Diener seines Staates»
nicht Furcht, sondern Liebe wecke in
seinen Untertanen und «Herr über die
Herzen» werde.
Gelang es Friedrich in seinen 46 Regierungsjahren Herr der Herzen zu sein?
Ute Frevert vermag die Frage nicht
wirklich zu beantworten. Zwar zog der
König alle richtigen Register: Er warf
sich persönlich ins Schlachtgetümmel,
er trauerte am Grabe seiner Soldaten
und Generale. Er ermunterte Bitt- und
Klageschriften, die er selbst kaum las,
demonstrierte Frömmigkeit, die er si-
Friedrich der Grosse
spielte auch Flöte.
Hauskonzert in
Sanssouci. Ölbild
von Adolph Friedrich
Menzel, 1850–52.
Noch unklarer bleibt der Unterschied
zwischen echtem Gefühl und handfestem Interesse auf Seiten dieser Untertanen. Zwar sangen die Soldaten auf ihren
langen Märschen unaufhörlich Kirchenund Königslieder, zwar zirkulierten Königsoden und Devotionalien aller Art,
doch auch sie beweisen kaum echte Zuneigung. Zudem bot Friedrich weder
Mätressen und Skandale noch eine eigene königliche Familie, an der sich die
Neugierde der Untertanen hätte «abarbeiten» können. Und selbst wenn ihn
die Zeitgenossen als «Mensch», als mitfühlenden und empfindsamen König anriefen, sieht die Historikerin hierin vor
allem eine Projektion von Wünschen.
Insgesamt lässt die offenbar nicht zu beantwortende Frage den Titel ihres Buches trotz dem interessanten Material
etwas gar theoretisch bleiben.
Einen Zugang ganz anderer Art bietet
ein schmales Bändchen des Berliner
Historikers Johannes Bronisch. Hier
geht es um eine Episode im Jahr 1736, als
Kronprinz Friedrich 24 Jahre alt war und
das Schloss Rheinsberg bezog, wo er
sich vier Jahre lang seiner Bildung, der
Musik und dem Tischgespräch mit
geistreichen Freunden widmen wird.
Der in sächsischen Diensten ergraute
Diplomat Ernst Christoph von Manteuffel buhlt, wie viele andere, um die Gunst
des Thronfolgers. Mit Hilfe der gut
christlichen Lehren des deutschen Aufklärers Christian Wolff will er ihn zum
wahrhaft aufgeklärten Herrscher bilden.
Er wird seine Sache schnell und gründlich verlieren – an den atheistischen
Spötter Voltaire nämlich.
Wie sich die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele mit politischen Intrigen und einem rätselhaften Pseudonym
verbindet, wie gegensätzliche Strömungen der Aufklärung mit Machtinteressen zusammenspielen, insbesondere mit
jenen eines französischen Gesandten,
der mit 100 000 (!) Flaschen französischen Weins und Voltaires Schriften in
Berlin eintrifft, wie schliesslich Friedrich auf den weltberühmten Namen
«Sanssouci» kam – all dies wird hier,
reich mit Quellen unterfüttert, erzählt
wie ein Krimi. Anspruchsvoll in seiner
Dichte, ist das Buch doch immer klar
formuliert und zudem wunderschön illustriert. Wie es uns durch den Sehschlitz einer kleinen Nebenepisode tief
in die unendliche Vielfalt der historischen Landschaft des 18. Jahrhunderts
blicken lässt – das ist meisterhafte Geschichtsschreibung. l
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Aufklärung Gedankenfreiheit und Mündigkeit sind nicht
allein europäische, sondern universelle Werte
Manfred Geier: Aufklärung – Das
europäische Projekt. Rowohlt,
Reinbek 2012. 352 Seiten, Fr. 35.50.
Von Katja Gentinetta
Der Sprach- und Literaturwissenschafter Manfred Geier legt eine umfangreiche und wohldokumentierte Geschichte
der Aufklärung vor. Mit der Charakterisierung der Aufklärung als «europäisches Projekt» fragt er gleich zu Beginn:
Ist die Aufklärung abgeschlossen? Und:
ist sie universell? Der Ausflug in die Geschichte lohnt sich.
Anhand der zentralen Figuren John
Locke und dem Third Earl of Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper war ein Philosoph des frühen 18. Jahrhunderts),
Voltaire und Jean-Jacques Rousseau,
Moses Mendelssohn, Olympe de
Gouges, Wilhelm von Humboldt und natürlich Immanuel Kant, zeichnet der
Autor die philosophische Dynamik des
18. Jahrhunderts nach und füllt die Aufklärung mit Leben.
Die Geschichte beginnt in England,
und sie beginnt mit einem Abenteuer:
mit Lockes umfangreichen Schriften,
die er bei seiner Rückkehr aus dem holländischen Exil nach England verpackt
und verschifft hatte – ohne freilich eine
Kopie derselben zu haben. Die Texte
kamen heil an, und mit seinem Plädoyer
für «life, liberty and estate» – der These,
dass sich die Menschen «zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens» zusammengeschlossen hätten – wird Locke zum
Philosophen der «Glorious Revolution», jenes friedlichen Übergangs zur
konstitutionellen Monarchie.
Unter Einsatz des Lebens
Überhaupt ruft das Buch von Manfred
Geier in Erinnerung, dass die Gedanken
der Aufklärung nicht einfach in häuslicher Abgeschiedenheit entwickelt wurden, um dann ihren natürlichen und ungehinderten Weg an die Öffentlichkeit
zu finden. Im Gegenteil: Unter teilweisem Einsatz ihres Lebens entschlossen
sich die Aufklärer, ihre provozierenden
Erkenntnisse zu publizieren. So flüchtet
Locke 1683 ins holländische Exil, um
seine «Discourses Concerning Government» fertig zu stellen. Voltaires «Lettres philosophiques», ein Loblied auf die
politische, wirtschaftliche und geistige
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
Freiheit Englands, werden 1734 in Frankreich verurteilt, und gegen ihn ergeht
ein Haftbefehl. Diderots «Pensées philosophiques» werden verbrannt, er
selbst 1749 ins Gefängnis von Vincennes
gesteckt. Weil er seine Autorschaft gesteht, und weil die Verleger der Enzyklopädie intervenieren, werden ihm
schliesslich Schriftverkehr und Besuche
doch erlaubt.
Die «Encyclopédie» wird später nicht
nur in Frankreich verboten, sondern
auch vom Papst auf den Index gesetzt;
katholischen Besitzern droht die Exkommunikation. Die Einschätzung dieses 28 Bände umfassenden, in 25 Jahren
von mehreren hundert Autoren verfassten Werks durch die Obrigkeit hätte unmissverständlicher nicht sein können:
«Die Vorteile eines solchen Werks für
Künste und Wissenschaften können den
irreparablen Schaden für Glauben und
Sittlichkeit niemals aufwiegen.»
Gleichberechtigung für alle
Welche Rolle der Glaube und die Religionszugehörigkeit – immerhin 150 Jahre
nach der Reformation – noch spielten,
beschreibt Manfred Geier anhand des
Schicksals von Moses Mendelssohn.
Dieser Unternehmer und Philosoph, der
in Berlin vom «sans papier» zum angesehenen Bürger aufstieg, musste sich,
aufgefordert vom Zürcher Theologen
Johann Caspar Lavater, öffentlich zu seinem Judentum bekennen, ohne freilich
das Christentum angreifen zu dürfen.
Lavaters Fehdehandschuh war nichts
weniger als die Rückkehr hinter die von
John Locke postulierte Gewissensfreiheit in Glaubensangelegenheiten. Für
diesen war zwar eine Moral ohne Gott
nicht vorstellbar, wohl aber eine ohne
kirchliche Unterweisung, womit er die
Autorität der Institution Kirche untergrub.
Dass die Gedankenfreiheit auch für
Frauen galt, war beileibe keine Selbstverständlichkeit. So liessen die Enzyklopädisten keine Frauen als Autoren zu,
und für Rousseau war, wie für Sophie in
seinem Roman «Emile», jede Frau «dazu
geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen». Geier illustriert diese ungleiche Aufklärung mit einem «Requiem auf eine mutige Frau», nämlich
Olympe de Gouges, die 1793 in Paris
guillotiniert wurde. Nur Kant hegte
diesbezüglich keine Zweifel: Selbst
wenn er die Frauen dem «schönen Ge-
BERTHOLD STEINHILBER / LAIF
Locke, Voltaire,
Kant und andere
Provokateure
«Die Freiheit für das
Volk»: Besucher
vor dem bekannten
Gemälde von Eugène
Delacroix (1830) im
Louvre in Paris.
schlecht» zuordnete und die Männer
dem «erhabenen»: Er ging von der
Gleichberechtigung der Geschlechter
aus. Den Schritt in die Mündigkeit sah er
genauso für das «ganze schöne Geschlecht».
Dem grossen Aufklärer Kant nähert
sich Geier aus der Gegenwart, genauer,
dem 11. September 2001 und der folgenden Auseinandersetzung, die sich um
die Frage drehte, ob die europäische
Aufklärung gescheitert sei. Jenseits des
Atlantiks beschuldigte Robert Kagan die
Europäer des falschen Glaubens an ein
posthistorisches Paradies. Unter Bezugnahme auf Kants kurze Abhandlung
«Vom ewigen Frieden» hielten Derrida,
Habermas und Sloterdijk dagegen.
Ralph Dahrendorf und Timothy Garton
Ash versuchten zu vermitteln, indem sie
Kant von Rousseau abgrenzten. Ein
wahrer Philosophenstreit, der noch weitere Kreise zog – und mit dem Geier zuletzt illustriert, wie alltagsnah und notwendig Philosophie sein kann.
Die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen liefert das Buch explizit und
implizit: Die historische Aufklärung war
eine europäische; das Streben nach
Mündigkeit aber ist universell und immerwährend. Gerade heute wieder erstreckt sich der Ruf der Aufklärung über
den Globus. Und er verlangt, wie damals, Klarheit und vor allem Mut. ●
Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte
der Hochschule St. Gallen und
Gesprächsleiterin «Sternstunde
Philosophie» am Schweizer Fernsehen.
Theater Die Programme des Cabaret Cornichon liefern einen Spiegel der gesellschaftlichen
Verhältnisse in der Schweiz von 1934 bis 1951
Das ätzende Gegengift
Geschichte einer nationalen Bühne.
Chronos, Zürich 2011. 428 Seiten, Fr. 78.–.
Von Urs Bitterli
Am 1. Mai 1934 fand im Hotel Hirschen
im Zürcher Niederdorf die erste Vorführung des Cabaret Cornichon statt. Im
Vorjahr hatten der Schweizer Walter
Lesch und der Deutsche Otto Weissert
den Entschluss gefasst, ein Kabarett ins
Leben zu rufen. Man fand, wie dies später das Ensemble-Mitglied Max Werner
Lenz euphemistisch formulierte, das
Leben in der Schweiz sei «einfach zu
süss» und «eine kleine, ätzende Gegensäure» sei nötig, «um das glückvolle Dasein in der Schweiz» nicht in den Himmel wachsen zu lassen. Lesch übernahm
die künstlerische und Weissert die administrative Leitung.
Das Cabaret Cornichon arbeitete
viele Jahre sehr erfolgreich; man ging
auf Tournee, trat an der Weltausstellung
in Paris und an der Landesaustellung auf
und spielte in Truppenunterkünften.
Manche der Autoren und Schauspieler
des Cornichon waren zusätzlich bei
Presse, Radio oder Film tätig. EnsembleMitglieder wie Elsie Attenhofer, Heinrich Gretler, Zarlie Carigiet und Emil
Hegetschweiler wurden zu herausragenden Repräsentanten der Schweizer
Theatergeschichte.
Während siebzehn Jahren trat das
Cornichon beinahe wöchentlich auf. Es
verfolgte die politischen Entwicklungen
im In- und Ausland, reagierte spontan
auf Tagesereignisse und thematisierte
die Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung. In der Zeit des Kalten Krieges
gelang es dem Cornichon nicht mehr,
sich publikumswirksam zu positionieren. Eines der letzten erfolgreichen Programme ging 1947 über die Bühne und
stand, aktuell genug, unter dem Motto
«Zwüschet Whisky und Wodka». Vier
Jahre danach war Schluss.
Zur Geschichte des Cabaret Cornichon liegt seit kurzem eine sorgfältig
erarbeitete, gut lesbare Dissertation vor.
Der Verfasser, Peter Michael Keller, sah
sich mit einer äusserst komplexen Quellenlage konfrontiert. Die Nummerntexte liegen in der Regel nicht gedruckt vor;
die Tondokumente sind lückenhaft und
Filmaufnahmen fehlen ganz. Keller
musste in zahlreichen privaten Nachlässen und Archiven nach den Textgrund-
«Zwüschet Whisky
und Wodka» (1947):
Programm des
Cabaret Cornichon.
WILLI EIDENBENZ / CABARET ARCHIV
Peter Michael Keller: Cabaret Cornichon.
lagen der Nummern suchen, diese den
einzelnen Programmen zuordnen und in
eine plausible chronologische Ordnung
bringen.
In der kollektiven Erinnerung erscheint das Cabaret Cornichon als Inbegriff des intellektuellen Widerstandes
gegen Nationalsozialismus und Faschismus. Mitglieder des Ensembles betonten diesen Aspekt in ihren Erinnerungen, und Historiker übernahmen diese
Sicht, die zwar nicht falsch ist, der Themenvielfalt der Cornichon-Programme
aber zu wenig Rechnung trägt. Es ist das
grosse Verdienst von Kellers Darstellung, dass sie das Cornichon als Spiegel
gesellschaftlicher Verhältnisse und als
Ausdruck der mentalen Verfassung unseres Landes begreift. Die Geistige Landesverteidigung, zu der sich das Cornichon bekannte, war ja nicht nur, wie zuweilen in polemischer Verkürzung behauptet wird, eine Art Anti-Ideologie
zum Nationalsozialismus. Das Cornichon verstand sich auch nicht als Propaganda-Instrument; aber es ermöglichte in schwieriger Zeit eine nationale
Selbstdarstellung, in der Scherz, Satire,
Ironie und tiefere Bedeutung sich nuancenreich verbanden. Der Verfasser führt
zahlreiche Nummerntexte in vollem
Wortlaut vor, kommentiert sie kenntnisreich und fügt vorzügliche Szenenfotos
bei. Das Cornichon hat keinen Tucholsky oder Kästner hervorgebracht; aber
manche Verse haben ihre Frische und
ihren Biss nicht verloren.
Kellers Buch darf als die abschliessende Darstellung zu diesem Thema bezeichnet werden; es stellt einen gewichtigen Beitrag zur Geistesgeschichte unseres Landes dar. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
neuere Geschichte der Universität Zürich.
Astronomie Der blaue Planet hat die Gedankenwelt der Erdbewohner schon immer beeinflusst
Mensch und Mond
Bernd Brunner: Der Mond.
Die Geschichte einer Faszination.
Antje Kunstmann, München 2011.
320 Seiten, Fr. 28.50.
Von Thomas Köster
Im späten 16. Jahrhundert formulierte
der italienische Naturforscher und Dramatiker Giambattista della Porta den
Gedanken vom Mond als InformationsBildschirm. «Ein Parabolspiegel grosser
Brennweite sollte Buchstaben auf die
Oberfläche projizieren, die dann von
den Menschen auf der Erde zu lesen gewesen wären», beschreibt Bernd Brunner die Idee. Auch wenn aus dieser Vision bekanntlich nichts wurde, umreisst
sie bildhaft das, was das Buch Brunners
liefert: Zeigt es doch eindringlich auf,
wie stark die Menschheit ihre Wünsche,
Sehnsüchte und Ängste seit jeher über
die Kulturgrenzen hinweg auf die unwirtliche Kugel zu projizieren wusste.
Überaus kenntnisreich und anschaulich erzählt Brunner von der Entstehung
und physischen Beschaffenheit des
Mondes, und von der Geschichte unserer Mondwahrnehmung. Dabei wird offenbar, wie sehr die Betrachtung des
Erdtrabanten unsere Gedankenwelt beeinflusst hat – und wie stark sich die Bilder von ihm in Malerei, Dichtung, Religion, Philosophie, Trivial- und Hochkultur durch technische Innovationen wie
das Fernrohr gewandelt haben – oder
eben durch die Raumfahrt, die nicht nur
erstmals die dunkle Seite des Mondes
beleuchtete, sondern durch den Blick
vom Mond auf die Erde auch unsere
Vorstellung vom blauen Planeten prägte. Dass das Bild, das der Autor dabei
präsentiert, bei der Fülle an historischem Material von eigenen Vorlieben
geprägt ist, tut dem positiven Gesamteindruck dabei keinen Abbruch.
«Ohne unseren Mond wäre die Erde
ein völlig anderer Ort», schreibt Brunner gleich zu Beginn seines Buchs: Zu
Ebbe und Flut leistet er ebenso seinen
Beitrag wie zum Wechsel der Jahreszeiten oder zu einem moderaten Klima,
ohne das das Leben in seiner jetzigen
Form wohl gar nicht entstanden wäre.
Wie lebendig und vielfältig der Mond
nicht nur unser Leben, sondern auch
unser Denken beeinflusst hat, wird man
als Leser am Ende der Lektüre mit Sicherheit besser begreifen. ●
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Globalisierung Botschafter Johannes B. Kunz warnt vor Verlust der Souveränität
Schweizer Uno-Diplomat rechnet mit
internationaler Gemeinschaft ab
Johannes B. Kunz: Der letzte Souverän
und das Ende der Freiheit. Internationale
Politik und bürgerliche Rechte.
NZZ Libro, Zürich 2012. 400 Seiten,
Fr. 58.–.
Johannes B. Kunz hat ein gescheites und
mutiges Buch geschrieben. Gescheit,
weil er mit einem beeindruckenden
Wissen und viel Scharfsinn die These
verteidigt, dass Souveränität die Freiheit
und das Wohlbefinden eines Volkes
auch im Zeitalter der Globalisierung erhöht. Derlei liegt zurzeit nicht im Mainstream. Vielmehr vernimmt man täglich, jeder Staat müsse Souveränität abgeben, um sich in einer globalisierten
Welt richtig zu positionieren. Ob das
auch stimmt, wird kaum hinterfragt.
Kunz bürstet gegen den Strich. Es bereitet ihm offensichtlich Vergnügen, die
landläufige Meinung in ihrer konventionellen Bequemlichkeit als falsch zu entlarven. Das gilt derzeit als politisch unkorrekt. Man will nicht wissen, wie die
einzelnen Akteure der sogenannten internationalen Gemeinschaft oft zusammenspannen, um die Souveränität von
Staaten und die Freiheit der Bürger zu
beschränken.
Unter anderem zeigt er am Beispiel
des, wie er es nennt, «humanitär-interventionistischen Komplexes», wie fragwürdig gerade auch humanitäre Interventionen, die in bester Absicht eingeleitet werden, enden können. Nicht selten erreichen sie das Gegenteil von dem,
was sie bezwecken. Oft ist die Lage nach
SUNDAY ALAMBA / AP
Von Paul Widmer
Johannes B. Kunz
setzt ein Fragezeichen
hinter humanitäre
Interventionen: UnoTruppen in Abidjan,
Januar 2011.
einer Intervention desolater als vorher.
Man denke an Somalia, Afghanistan
oder den Irak.
Der Autor sieht die Souveränität, wie
sie sich seit dem Westfälischen Frieden
(1648) durchgesetzt hat, von vielen Seiten her gefährdet: vom Uno-Sicherheitsrat, von einer extensiven Auslegung der
Menschenrechte, von internationalen
Organisationen, die ihre eigenen Interessen verfolgen, und natürlich auch von
einer EU, die ihre Kompetenzen ständig
zu erweitern versucht und allmählich
Formen eines mittelalterlichen Reiches
annimmt. Diese Entwicklung wird kräftig von einer international gut vernetzten politischen Elite gefördert. Im Allgemeinen verneint Kunz die Existenzberechtigung von internationalen Institu-
tionen nicht, aber er kritisiert deren
Auswuchern. Damit sich die internationalen Organisationen wieder auf das
Wesentliche beschränken, gibt es seiner
Meinung nach nur einen Weg: ihnen die
finanziellen Mittel kürzen.
Kunz verfügt über ein stupendes Wissen. Das breitet er grosszügig aus. Es
reicht von afrikanischen Stammesgesellschaften über die chinesische Kultur bis zu Machiavelli, von begriffsgeschichtlichen Erörterungen bis zu ethnografischen Exkursen. Die Vorteile des
Buches sind freilich auch dessen Nachteile. Mit seinen Vergleichen will er
hieb- und stichfest eine an sich schlichte
These beweisen, nämlich dass ohne
staatliche Souveränität nirgends auf der
Welt Freiheit, Recht und Wohlstand auf
die Dauer gedeihen können. Vielleicht
hätte er seine These wirkungsvoller mit
einem konzisen Essay von weniger als
hundert Seiten verfochten.
Dennoch: In einer Zeit, in der die Internationalisierung ständig als Wert an
sich angepriesen wird, tut es gut, wenn
jemand mit neuem Elan an den Sinn von
staatlicher Souveränität erinnert. Selbst
wenn einige Gedankengänge des Autors
diskussionswürdig sind wie etwa sein
Begriff von Souveränität, den er mit legitimer Herrschaft gleichsetzt, ist es
verdienstvoll, neue subkutane Machtstrukturen aufzuzeigen – dies umso
mehr als das Buch von einem Schweizer
Diplomaten stammt, also von jemandem, der sich selbst in den kritisierten
Sphären bewegt. Kunz ist Berater bei
der Uno-Mission in New York. ●
Paul Widmer ist Autor von «Schweizer
Aussenpolitik und Diplomatie» (2003).
Botanik Pflanzen sind nicht immer harmlos. Sie können auch morden und verstümmeln
Von Blumen, die töten
Amy Stewart: Gemeine Gewächse.
Radierungen von Briony MorrowCribbs. Berliner Taschenbuch,
Berlin 2011. 299 Seiten, Fr. 18.90.
Von André Behr
Ohne Chemie wären weder das Leben,
noch die Materialen und technischen
Geräte denkbar, die uns den Alltag erleichtern. Dennoch hat die Chemie
einen schlechten Ruf, weil «chemisch»
mit «künstlich» und oft auch «giftig»
assoziiert wird. Dabei wird vergessen,
dass die für den Menschen gefährlichsten Stoffe von der Natur synthetisiert
werden. Zum Beispiel von Quallen, oder
in stattlicher Anzahl auch von Pflanzen.
Aus Krimis bestens bekannt ist etwa
das Strychnin, das aus dem Samen des
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
zu den Brechnussgewächsen zählenden
Strychninbaums stammt. Der in ganz
Europa und den USA verbreitete Wasserschierling wiederum produziert in
seinen lecker süsslich schmeckenden
Wurzeln Cicutoxin, das bereits in geringen Mengen ein Kind töten kann. Selbst
Gras ist nicht immer harmlos, wie Amy
Stewart in ihrem Buch über «gemeine
Gewächse» am Fall des japanischen
Blutgrases zeigt, dessen Blätter gefährlich wie eine Säge sind und das leicht
entflammbar ist, damit es sich durch Abbrennen der Konkurrenten einen Standortvorteil verschaffen kann.
In über 60 Kapiteln, bebildert mit filigranen Radierungen, erzählt die in Kalifornien lebende Autorin Geschichten
über Pflanzen, die morden, verstümmeln, berauschen oder uns anderweitig
ärgern können. Dabei verwebt sie ge-
schickt botanisches Wissen mit Kulturgeschichte,
Symptombeschreibungen
oder Garten- und Verhaltenstipps.
Auf der Reise quer durch alle Kontinente erfährt man so einiges über Pfeilgifte oder Drogen, aber auch über unschöne Eigenschaften schöner Topfpflanzen in der eigenen Stube. Haben
Sie etwa gewusst, dass Giftzentralen in
den USA 2006 über 1600 Anrufe wegen
Philodendronvergiftungen
entgegennehmen mussten? Oder der Oleander zu
den Hundsgiftgewächsen gehört?
Stewart, die auch Wanderausstellungen organisiert und viele Vorträge hält,
kostet rund um die «gemeinen» Strategien von Pflanzen mögliche Horrorszenarien so genüsslich aus, dass nach
der Lektüre kein empfindsamer Leser
mehr unbedarft durch Wälder, Wiesen,
Gärten oder Wohnungen streift. ●
Stalinismus Erst Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt im Gulag hat DDR-Historiker Wolfgang Ruge
seine Erinnerungen niedergeschrieben. Nun gibt sein Sohn die Memoiren neu heraus
Ein deutscher Iwan Denissowitsch
«Arbeitsmobilisierten» in einem Lager
bei Soswa im Nordural.
Präzise und anschaulich zeichnet der
deutsche Häftling den Alltag im Gulag,
die Lagerhierarchie, die Brutalität des
Wachpersonals, aber auch von kriminellen Elementen unter den Häftlingen. Besonders ausgeprägt empfand er den
Hass der im gleichen Lager einsitzenden
Kulaken (Mittel- und Grossbauern), die
ihr Essen nicht mit den «Fritzen», den
Deutschen, teilen wollten. Erfüllten die
Gefangenen das Plansoll nicht, wurde
ihnen die ohnehin kärgliche Brotration
gekürzt. Nässe, Schnee und Kälte waren
ständige Begleiter. Immer wieder starben Leute an Krankheit und Entkräftung, auch der Autor war mehr als einmal kurz vor dem Ende.
Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine
Jahre in Stalins Sowjetunion. Rowohlt,
Reinbek 2012. 489 Seiten, Fr. 35.50.
Von Urs Rauber
Letzten Herbst erhielt Eugen Ruge für
seinen Roman «In Zeiten des abnehmenden Lichts» den Deutschen Buchpreis. Der 57-jährige Dokumentarfilmer
und Drehbuchautor legte eine autobiografisch geprägte Familiensaga vor, die
in der DDR, Mexiko und der Sowjetunion spielt. «Das Buch erzählt von der
Utopie des Sozialismus, dem Preis, den
sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem
allmählichen Verlöschen», begründete
die Jury ihren Entscheid.
Den gleichen Satz könnte man den
Memoiren von Ruges Vater, des späteren DDR-Historikers Wolfgang Ruge
(1917–2006), voranstellen, die zwischen
1984 und 1999 entstanden und 2003 in
einer unzulänglichen Fassung (Ruge litt
damals an beginnender Demenz) publiziert wurden. Sohn Eugen entschloss
sich deshalb zu einer gründlichen Überarbeitung, die er mit seinem Nachwort
versehen jetzt neu herausgibt. Wolfgang
Ruge wurde von seinen Eltern kommunistisch erzogen, wanderte als 16-Jähriger mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Walter im Sommer 1933 von Berlin
nach Russland aus. Im «gelobten Land»,
erhielt er eine Ausbildung als Zeichner,
wurde freischaffender Kartograf an der
Universität Moskau und erwarb die sowjetische Staatsbürgerschaft.
Traumatische Erfahrung
Wolfgang Ruge (Mitte,
Zweiter von rechts)
verbrachte fast fünf
Jahre im Gulag und
zehn Jahre in der
Verbannung im Ural
(Foto Frühjahr 1951).
Im Lager arbeitete Ruge als Holzfäller,
Bastschuhflechter und Gleisbauer; als es
ihm besser ging, als Barackenwart, Sauna-Heizer, Pilzsucher und Zeichner.
Nach Kriegsende im Januar 1946 wurde
die Lagerhaft in Verbannung umgewandelt: auf dem Papier erhielten die Häftlinge alle Rechte zurück, durften aber
den Ort nicht verlassen. Auf die 4½
Jahre Gulag folgten über 10 Jahre Verbannung, bis Ruge 1956 nach Chruschtschows Geheimrede frei kam und mit
seiner dritten russischen Frau in die
DDR ausreisen konnte.
Ruges umfangreicher Erlebnisbericht
ist ein Zeugnis von ungewöhnlicher
Qualität. Packend sind nicht nur die
Schilderungen des Augenzeugen, der
seine traumatischen Erfahrungen jahrzehntelang mit sich trug, bevor er sie
mit einem verblüffenden Erinnerungsvermögen niederschrieb. Ruge porträtiert Dutzende von Mithäftlingen, auch
Wärter und Vorgesetzte, die im umfangreichen Personenregister namentlich
aufgeführt sind, und setzt ihnen so ein
Denkmal. Er gibt seinen Gefühlen allerdings mehr Raum als seiner politischen
Desillusionierung. Grossartig sind die
Passagen, in denen aufkeimende Hoffnungen sichtbar werden. Als am 4. März
1953 die Nachricht von Stalins Tod
durchsickerte, riefen sich die Leute verschwörerisch «SSSR» zu. Was diesmal
nicht die russische Abkürzung für
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bedeutete, sondern: «Smert Stalina
spasjot Rossiju» – Stalins Tod rettet
Russland!
Für Eugen Ruge ist es bis heute ein
Rätsel, warum sein Vater die traumatischen Erfahrungen zu DDR-Zeiten nicht
öffentlich machen wollte. Es brauchte
offenbar den Mauerfall, damit der «verletzbare und verletzte Mensch» die vor
den Angehörigen verheimlichten Aufzeichnungen 1998 wieder hervor holte.
Abgesehen vom literarischen Rang darf
man Wolfgang Ruges Gulag-Report
wohl mit Solschenizyns Roman «Ein
Tag im Leben des Iwan Denissowitsch»
(1962) und Schalamows «Erzählungen
aus Kolyma» (1971) vergleichen. ●
Vom Paradies in den Gulag
Mit Begeisterung stürzte sich der Jungkommunist in die Entdeckung der neuen
Welt. Er verspürte «ein unbeschreibliches Gefühl – wie es ein religiöser
Mensch beim Anblick der Jungfrau
Maria empfinden mag». Walter Ruge
zeichnet Personen und Milieu atmosphärisch dicht, teilweise fast poetisch.
Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja, die
ihm eine Lehrstelle vermittelte, beschreibt er als «steinalte und unendlich
müde» Frau, die einwandfrei Deutsch
gesprochen habe. In Moskau begegnete
Ruge der späteren DDR-Elite um Walter
Ulbricht, Johannes R. Becher, Markus
Wolf und anderen.
Bald wich die Hoffnung jedoch der
Ernüchterung und dem Erschrecken:
über die Armut, das Elend, die allmächtige Partei und das Spitzelwesen. Ruge
erlebte die Jahre des politischen Terrors
ab 1936. Lähmendes Entsetzen packte
ihn, als er zuhause auf die Geheimdienst-Agenten wartete, die Nacht für
Nacht irgendwo Leute abholten. Nach
dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 traf es auch ihn: Der «deutsche Spion» wurde in die kasachische
Steppe nach Karaganda deportiert. Später landete er mit anderen deutschen
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Nachkriegsgeschichte Ein Politiker und ein Kabarettist enthüllen unbekannte Fakten
Wie der West-Ost-Dialog wirklich war
Egon Bahr, Peter Ensikat: Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich.
Aufbau, Berlin 2012. 204 Seiten, Fr. 24.50.
Von Gerd Kolbe
Es ist wie eine Modeerscheinung über
die Verlagsbranche, Abteilung Sachbuch, gekommen und ökonomisch
obendrein. Zwei setzen sich in ein Studio, plaudern über dies und das, und fertig ist das Buch. Doch Egon Bahr, der
geistige Vater und Stratege der Ost- und
Deutschland-Politik Willy Brandts, und
der – um im Sprachgebrauch der Zeit zu
bleiben, von der die Rede ist – Autor und
Chef des Ostberliner Kabaretts «Die
Distel», Peter Ensikat, machen die erwähnenswerte Ausnahme. Im Dialog
lassen sie 50 Jahre Nachkriegspolitik
Revue passieren. Es wird nie langweilig.
Der Leser erfährt, wo Westdeutsche und
Ostdeutsche einer Meinung sind oder
auch nicht.
Da ist zum Beispiel das bis auf den
heutigen Tag umstrittene Kapitel der
Aufarbeitung der Stasi-Akten, also der
über Karrieren und Lebensläufe entscheidenden Dossiers des DDR-Geheimdienstes. Ensikat hält die Öffnung
der Stasi-Akten im Grunde für richtig;
schliesslich waren es die DDR-Bürger-
rechtler, welche die Einrichtung einer
eigens dafür geschaffenen Behörde noch
vor der Wiedervereinigung durchsetzten. Bahr, der Mann aus dem Westen,
hält es ausnahmsweise mit Helmut Kohl.
Hätte der Altkanzler gewusst, was mit
den Akten geschieht, hätte er dazu geraten, alles zu verbrennen, zu vergraben
und in den Keller zu stecken. Ensikat bezweifelt heute, dass die Aktenöffnung
der Geschichtsaufarbeitung dient. Es
geschehe dies doch nur «aus rein tagespolitischen Interessen». Bahr wird überdeutlich. Er nennt es eine Schweinerei,
«wenn die Menschen aus dem Osten
härter und unnachsichtiger behandelt
werden als die Nazis».
Das Buch gewährt dank Bahr bislang
nur unzulänglich bekannte Einblicke in
die Verhandlungen, die zur Entspannung zwischen Ost und West führten.
Nie wäre das Berliner Vier-Mächte-Abkommen zustande gekommen, hätte es
zwischen Bonn und Moskau nicht nach
amerikanischem Muster einen «BackChannel» gegeben. Der stellvertretende
Chefredakteur der «Literaturnaja Gaseta» und ein KGB-General führten im
Auftrag des damaligen Moskauer Parteichefs Juri Andropow Gespräche am offiziellen Apparat vorbei. Der damalige
Sowjet-Botschafter in der DDR, Abrassimow, war ahnungslos. Franzosen und
Briten durften die Ergebnisse abnicken.
Es verhandelten der Amerikaner Ken
Rush, Bahr und der Russe Valentin Falin.
Es war dies bei weitem nicht der einzige Fall, in dem nach aussen der Schein
gewahrt wurde. Jedermann dachte, als
John F. Kennedy 1963 nach Berlin kam
und im Schöneberger Rathaus mit Adenauer und Brandt zusammentraf, jetzt
werde Weltpolitik gemacht. Bahr erzählt, wie es wirklich war. Kennedy memorierte mit seinem Dolmetscher einen
seiner berühmtesten Sätze, der da lautet: «Ich bin ein Berliner.» Adenauer las
– wer hätte das gedacht – das SED-Zentralorgan «Neues Deutschland».
Auch sonst mangelt es nicht an Anekdotischem. Ensikat berichtet, wie die
Zensur der Kabaretts in Berlin, Leipzig
und Dresden funktionierte. Eine institutionelle Zensur gab es nicht. Wohl aber
reichte der Einspruch eines hohen Funktionärs, um ein Programm abzusetzen.
Und das Komischste war, dass die Kabaretts in der DDR vom Staat finanziert
wurden. Auch nach Verboten wurden
die Akteure – Ensikat nennt sie «Satirebeamte» – weiter bezahlt. Wie noch in
jeder Diktatur ersetzten Witze das offene Wort. Zum Beispiel dieser: «Der Kapitalismus steht am Abgrund, der Sozialismus ist schon einen Schritt weiter.»
Viel Spass bei der Lektüre. ●
Zweiter Weltkrieg Warum die Deutschen auch nicht aufgaben, als die Niederlage sicher war
Bis zum bitteren Ende
Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den
Untergang. NS-Deutschland 1944/45.
DVA, München 2011. 702 Seiten,
Fr. 40.90.
Von Markus Schär
Es war «ein Ende mit Schrecken, wie es
die Geschichte noch nie gesehen hatte»,
schreibt Ian Kershaw: «Das Ausmass, in
dem sich Deutschland in den letzten
Monaten des Dritten Reichs in ein riesiges Leichenhaus verwandelt hat, lässt
sich kaum vorstellen.» Die Deutschen
kämpften, bis sich Adolf Hitler am
30. April 1945 erschoss. Sie folgten ihm
scheinbar willig in den Untergang, wagten keinen Aufstand, quälten weiter
Juden und Zwangsarbeiter und brachten
um, wer an Kapitulation dachte. Warum?
Ein wissenschaftliches Werk, das die
Mentalitäten im letzten Kriegsjahr untersuche, sei ihm zu seiner Verwunderung nicht eingefallen, stellt Kershaw
fest. Der emeritierte Professor der Universität Sheffield, der mit seinen gewichtigen Arbeiten zur Historiografie
des NS-Staates (1985) und zu Hitler
(1998/2000) zu den führenden Experten
für das Dritte Reich zählt, verfasste deshalb selber «eine integrierte Geschichte
einer Desintegration». Mit dem Zusam22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
menfassen von zahllosen Detailstudien
und dem Auswerten von Briefen, Tagebüchern und Spitzelberichten bis hin zu
Abhörprotokollen von Wehrmachtsoffizieren in britischer Kriegsgefangenschaft wollte er die Fragen beantworten:
Warum wurden Hitlers selbstzerstörerische Befehle immer noch befolgt? Welche Herrschaftsmechanismen befähigten ihn dazu, das Schicksal Deutschlands zu bestimmen, wenn es für jeden
offenkundig war, dass der Krieg verloren war und das Land jetzt ganz und gar
verwüstet wurde?
Die Darstellung setzt am 20. Juli 1944
ein, als die Verschwörer um Graf von
Stauffenberg mit ihrem Bombenanschlag auf Hitler scheiterten. Dass der
Führer das Attentat schicksalhaft überlebte, stärkte seine Herrschaft wieder,
führte zur Mobilisierung des leidenden
Volkes und stachelte die Nazis zu verschärftem Terror an. «Wer mir von Frieden ohne Sieg spricht, verliert seinen
Kopf», drohte Hitler. Danach fährt
Kershaw getreu der Chronologie fort bis
am 8. Mai 1945, als Grossadmiral Karl
Dönitz, der vom Führer eingesetzte
Nachfolger, die Kapitulation unterschrieb. Er erzählt von der Ardennenoffensive im Dezember 1944, die nochmals Hoffnung aufkeimen liess, vom
Vorrücken der Roten Armee im Osten,
von den Flüchtlingsströmen und den
Todesmärschen der KZ-Häftlinge wie in
einer konventionellen Geschichte des
Dritten Reiches über Dutzende von Seiten hinweg – über viel zu viele Seiten.
Dabei vergisst Kershaw sein Problem
oder begnügt sich, wo er doch einmal
auf seine Fragestellung zurückkommt,
mit Relativierungen: «Allgemeine Aussagen über die Haltung von Soldaten zu
treffen ist riskant.» Oder: «Derartige
Mosaiksteine lassen sich nie zu einem
vollständigen Bild zusammenfassen.»
Die Fakten zu durchdringen und die Impressionen zu verdichten, also generelle
Aussagen zu wagen, ist aber gerade die
Aufgabe des problemorientiert arbeitenden Historikers.
Eine Antwort gibt Kershaw erst im
Schlusskapitel: Die «charismatische
Herrschaft» von Hitler, der zuletzt in
seinem Berliner Bunker hockte, führte
für ihn dazu, dass die Wehrmacht bis zur
Zerstörung des Dritten Reichs kämpfte
und die Bevölkerung dem Führer in den
Untergang folgte. Sein Buch beginnt
Kershaw allerdings mit Jagdszenen aus
dem bayerischen Ansbach, wo am
18. April 1945 ein Student, der mit Flugblättern für die kampflose Übergabe des
Barockstädtchens geworben hatte, am
Strick endete. Ob der Terror der Nazis
allein solche Gräuel erklärt? ●
Literatur Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622 bis 1676), Autor des Schelmenromans
«Simplicissimus», in einer neuen Biografie
Angesichts der Kriegsgräuel
flüchtete er sich ins Lachen
weise einen Lichtstrahl versenden –
vielleicht ein Reflex auf die Beleuchtungskunst des Nachtpoeten.
Eine Grimmelshausen-Biografie zu
verfassen, ist ein tapferes Unternehmen.
Zum einen gibt es für seine Jugend- und
frühen Mannesjahre keine erhaltenen
Dokumente. Auch die kargen Angaben
zur Gelnhausener Kindheit und seinen
Schicksalen im Krieg sind deshalb
durchgängig mit einem «vermutlich»
oder bestenfalls «höchstwahrscheinlich» zu versehen. Zum andern hat
Grimmelshausen, als er mit über 40 Jahren endlich zu publizieren begann, seine
Autorschaft systematisch versteckt. Er
war ein Liebhaber des Anagramms, ein
leidenschaftlicher Buchstabenverdreher, und so erwuchsen aus seinem Eigennamen all die «Samuel Greifnson
von Hirschfeld», «German Schleifheim
von Sulsfort», «Simon Leugfried von
Hartenfels» usw., die als Verfasser seiner Bücher firmierten. Am Ende wusste
niemand, wer eigentlich für den überaus
erfolgreichen «Simplicissimus» verantwortlich war; erst 1834 wurde Grimmelshausen von den Pionieren der Germanistik als Autor identifiziert. Am
Literaturbetrieb des Barockzeitalters
nahm der Aussenseiter nicht teil, deshalb fehlen auch aus diesem Bereich Dokumente, die Aufschluss über seine Person geben könnten.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz:
Grimmelshausen. Leben und Schreiben.
Vom Musketier zum Weltautor.
Eichborn, Frankfurt a. M. 2011.
499 Seiten, Fr. 45.90.
Von Manfred Koch
1634, im siebzehnten Jahr des Dreissigjährigen Kriegs, wird die lutherische
Reichsstadt Gelnhausen von kaiserlichen Truppen eingenommen und geplündert. Viele Einwohner fliehen in die
nahegelegene protestantische Festung
Hanau, unter ihnen auch ein Junge von
zwölf, dreizehn Jahren: Hans Jacob
Christoffel
von
Grimmelshausen,
Sprössling einer Bäcker- und Schankwirtfamilie, der nach dem frühen Tod
seines Vaters im Haus der Grosseltern
aufgewachsen war.
«Wollustbarliches» Weltbuch
Fiktive Autobiografie
ALMIDI
Mit der Verwüstung Gelnhausens ist
seine kurze Schulzeit beendet, von nun
an geht es für ihn nur noch um das Überleben im Krieg. Hans Jacob wird 1635
von kroatischen Soldaten aus Hanau
verschleppt, dann wieder von hessischen Truppen gefangengenommen.
Nach mehrmaligem Seitenwechsel landet er schliesslich in kaiserlich-katholischen Diensten, wo er es vom einfachen
Musketier zum Regimentsschreiber
bringt. 1649, ein Jahr nach Kriegsende,
heiratet er und verdient fortan den bescheidenen Lebensunterhalt für seine
vielköpfige Familie als Verwalter adliger
Güter und Gastwirt. Zuletzt ist er
«Schultheiss» im badischen Renchen,
wo er erneut in Kriegswirren (ausgelöst
durch die Feldzüge Ludwigs XIV.) gerät
und 1676 stirbt.
Dieser Mann, der fast die Hälfte seines Lebens an einen entsetzlichen Krieg
verlor, nie eine akademische Ausbildung
erhielt und später im Berufsalltag zeitraubende administrative Arbeit zu leisten hatte, war gleichwohl ein ungemein
produktiver Schriftsteller. Grimmelshausen ist unbestritten der bedeutendste Prosa-Autor der deutschen Barockliteratur, Schöpfer des einzigen Romans
aus dieser Zeit, der auch heute noch unmittelbar packen, begeistern, ja, in einen
Leserausch versetzen kann: «Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch» von
1668 (datiert auf 1669).
Es handelt sich – barock gesprochen
– um eine «historia voller safft» über
das Leben eines gewissen Melchior
Sternfels von Fuchshaim, der in IchForm von seinen Widerfahrnissen in
Zeiten der Kriegspest erzählt. Ein derb
lustiges, immer wieder auch erschre-
ckendes Panorama von Schlachten,
Schlägereien, Sauf- und Fressgelagen,
abgefeimten Betrügereien, Liebeshändeln und – Momenten religiöser Besinnung. Kurz: ein «wollustbarliches» satirisches Weltbuch.
Wie Grimmelshausens umfangreiches Gesamtwerk zustande kam, ist ein
Rätsel. Auch seine jüngsten Biografen
verneigen sich am Ende «staunend» vor
einem Mann, der, «was ihm an Zeit,
Ruhe, vielleicht auch Arbeitsraum fehlte, durch ein Übermass an Gaben, Eigenschaften und Fertigkeiten wettgemacht
haben muss». Geschrieben haben kann
er nur in Kriegs- bzw. Arbeitspausen,
vornehmlich nachts. Sein Held Simplicius zieht sich im letzten Buch des Romans in eine stockfinstere Höhle zurück. Er erhellt sie mit Hilfe von
«schwarzen Käfern», die wunderbarer-
Saftige Geschichte:
Titelblatt zu «Der
Abenteuerliche
Simplicissimus
Teutsch», Kupferstich
von 1669.
Was bleibt den Biografen also anderes
übrig, als sich an die Lebensgeschichte
des Romanhelden zu halten, in die gewiss Erfahrungen seines Autors eingegangen sind? Aber «Simplicius Simplicissimus» ist eben eine höchst fiktive
Autobiografie: ein Schelmenroman, der
– durchaus in christlicher Absicht – die
Verderbtheit der Welt anprangert, zur
Freude des Lesers aber die Laster und
Torheiten der sündigen Menschen so
opulent beschreibt und satirisch übertreibt, dass man ständig laut auflachen
möchte.
Souverän meistern Boehncke und
Sarkowicz die Gratwanderung, aus diesem Feuerwerk an Witz und Fabulierlust
die wenigen verlässlichen Daten herauszufiltern, die – im Verbund mit akribisch
recherchiertem Archivmaterial zur Geschichte seiner Familie und seiner Wirkungsstätten – immerhin die Umrisse
eines biografischen Porträts ermöglichen. Vor allem aber machen sie verständlich, woher das komische Genie
dieses Autors rührt. Seine Romane
waren das «epische Rettungswerk»
eines Kriegstraumatisierten, der sich
angesichts der Gräuel seiner Zeit ins
entlarvende Lachen flüchtete. ●
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Menschenhandel Ausbeutung und Knechtschaft begleiten die Kulturgeschichte seit jeher. Dass sie
auch rund um den Indischen Ozean im grossen Stil stattfanden, belegt eine neue Studie
Besiegt, versklavt, verkauft
Michael Mann: Sahibs, Sklaven und
Soldaten. Geschichte des
Menschenhandels rund um den
Indischen Ozean. Zabern, Darmstadt
2012. 254 Seiten, Fr. 40.90.
Von Geneviève Lüscher
Das erste Bild, das beim Wort «Sklaverei» vor dem inneren Auge auftaucht,
sind die im Schweisse ihres Angesichts
schuftenden Schwarzen in den Zuckerrohr- oder Baumwollplantagen, angetrieben von peitschenschwingenden
Weissen auf dem hohem Ross. Dieses
Bild ziehe eine ganze Reihe von Klischees nach sich, so der Indologe Michael Mann von der Humboldt-Universität in Berlin, beispielsweise das der
Rechtlosigkeit. Aber «zu keiner Zeit und
an keinem Ort der Welt waren Sklaven
ausschliesslich rechtlose Subjekte»,
schreibt der Fachmann, ohne die Grausamkeit des Phänomens in Abrede zu
stellen. Sklaverei gibt es in zahllosen
Formen, und bis anhin existiere keine
befriedigende Definition dieser seit
Jahrtausenden – und bis heute – gesellschaftlich akzeptierten Erscheinung.
Michael Mann selber definiert in seinem Buch «Sahibs, Sklaven und Soldaten» als Sklaven einen Menschen, der in
das persönliche Eigentum eines anderen
Menschen übergegangen ist, jederzeit
veräussert werden kann und zur Arbeit
gezwungen ist. Konzeptionell basiere
die Institution Sklaverei «auf dem Ersatz für einen nicht erlittenen Tod»,
meist im Kriegsfall. Das habe nichts mit
Gnade oder Nächstenliebe zu tun, sondern diente einzig zur Rekrutierung von
Arbeitskräften.
In einer kurzen Einleitung schreibt
Mann über Entstehung und Ausbreitung
der Sklaverei, die schon in Mesopotamien im 2. Jahrtausend vor Christus das
Los der meisten Kriegsgefangenen war.
Sklaverei war auch unter den Juden des
Alten Testaments üblich, und ohne
Heerscharen von Sklaven wären Griechen und Römer nicht in der Lage gewesen zu erreichen, was sie erreicht haben.
Während aber der Sklavenanteil in der
Antike «nur» 20 Prozent betrug – die
«kritische Masse» um in den Augen des
Autors als Sklavengesellschaft bezeichnet zu werden –, erreichte er in den Südstaaten der USA bis 70 Prozent der Gesamtbevölkerung!
In den folgenden Kapiteln wird klar,
dass auch in Südasien solche Sklavengesellschaften normal waren. Gemäss neueren Forschungen versorgte das subsaharische Afrika nicht nur die Gebiete
rund um das Mittelmeer, die Karibik,
Nordafrika und die beiden Amerikas mit
Menschenmaterial, sondern eben auch
die Anrainerstaaten rund um den Indischen Ozean. Bereits vorhandene Strukturen der Sklaverei und des Sklavenhandels sind laut Mann durch die europäische Kolonialherrschaft seit dem 16.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
Jahrhundert aggressiv ausgeweitet und
in das transatlantische Handelssystem
eingebunden worden – eine frühe Form
der globalen Vernetzung. Die Abschaffung des Menschenhandels 1807 und der
Sklaverei 1834 im Britischen Imperium
hatte einen massiven Aufschwung beider Phänomene in den anderen Kolonialgebieten zur Folge, besonders in
Mosambik, Madagaskar und Sansibar. In
Ostafrika und auf der arabischen Halbinsel dauerte der Sklavenhandel an, zum
Teil sogar mit britischer Unterstützung.
Aufschlussreich sind die Ausführungen zur Forschungssituation. Sklaverei
und Sklavenhandel sind ausgesprochen
junge Untersuchungsfelder. Umfassende Gesamtdarstellungen zur Situation
an der afrikanischen Ostküste und in
den arabischen Ländern erschienen erst
in den 1970er Jahren. Weil die britische
Geschichtsschreibung die Sklaverei
rund um den Indischen Ozean als etwas
ganz Anderes betrachtete als diejenige
in Amerika, die entsprechende Bezeichnung tunlichst vermied und so die Sklaverei in den Kolonialgebieten überhaupt
in Abrede stellte, fehlten grundlegende
wissenschaftliche Aufarbeitungen bis in
die 80er Jahre. Eine erste monografische
Studie erschien gar erst 1999.
Neuste Forschungen zeigen, dass
Sklaverei und Sklavenhandel keine lokalen oder regionalen Phänomene waren,
die getrennt voneinander existierten,
sondern als weltweiter «dynamischer
Bestandteil eines sich (...) in globalen
Bezügen vernetzenden und zunehmend
kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftssystems» zu betrachten sind. ●
Pressefotografie Als die Welt noch schwarzweiss war
Eine Spur von Elvis in der Haartolle, gewagte Jackets
und ein mürrisch-scheuer Blick auf die maskierte
Schöne. Auf dem Maskenball im «Kreuz» in
Schüpfheim ist 1977 die Welt noch in guter Ordnung.
Emanuel Ammons Fotoband «70er» bringt eine Zeit
zurück, als Fotos schwarzweiss waren und Röcke
kurz, als man noch ohne Helm aufs Töffli sass und die
Kinderwagen aussahen wie auf der Bühne bei Emil.
Auch der junge Emil selbst fehlt nicht in dieser
Rückschau des Luzerner Fotografen, ebenso wenig
wie der alte Hans Erni, die 13-jährige Anne Sophie
Mutter oder Guru Maharishi, mit Rolls Royce in
Weggis. Von 1975 an arbeitete Ammon als Pressefotograf für das «Luzerner Tagblatt», was ihn nicht
nur an die Musikfestspiele und in den Zirkus, sondern
auch zu Schwingfesten, Verkehrsunfällen und
Bränden führte. Verdienstvoll erklärt der Fotograf in
eigenen Bildlegenden, wer da auftrat beim
Punkkonzert in Adligenswil, und wie es kam, dass er
die Rockband Krokus mitten auf der Bühne zwischen
den Musikern stehend ablichten konnte.
Kathrin Meier-Rust
Emanuel Ammon: 70er. Pressefotografie. Aura
Fotobuchverlag, Luzern 2011. 256 Seiten, Fr. 86.–.
Konsum Die Schweiz der 50er Jahre – eine Epoche voller Widersprüche
Kühlschrank und Kalter Krieg
Thomas Buomberger, Peter Pfrunder
(Hrsg.): Schöner leben, mehr haben. Die
50er Jahre in der Schweiz im Geiste des
Konsums. Limmat, Zürich 2012.
267 Seiten, Fr. 54.-.
Von Martin Walder
Sie haben keinen guten Ruf: «die langen
Fünfziger», die «falschen Fufziger», die
«bleierne Zeit». Erstickend seien sie
gewesen in ihrer Kultur der Verbote und
des Mittelmasses, bieder im Brötchenduft der Bäckerei Zürrer, restaurativ,
konformitätssüchtig; erst «68» brachte
die Erlösung eines breiten politischen,
sozialen und mentalen Aufbruchs.
Wer gleich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist, kann das von heutiger
Warte aus so sehen und liegt nicht gar
daneben. Interessant nur, dass die eigenen Erinnerungen an damals dem Befund teilweise widersprechen und ihn
immer wieder lebhaft unterspülen.
Kribbelnde Ängste
War da nicht auch ein unbesorgt ansteckendes Gefühl des Aufbruchs, ein
geschenktes Versprechen von Zukunft,
eine naiv blühende technische Fortschrittsgläubigkeit, dass alles machbar
und erreichbar sein würde? Ihr gegenüber existierte zwar die Angst im Kalten
Krieg vor der totalen atomaren Vernichtung, sie wurde von uns Jugendlichen
aber eher kribbelnd-abstrakt und später
dann (mit Weizsäcker & Co.) auch moralisch herausfordernd erlebt. Kurz gesagt: In den Fünfzigern schien die Welt
für einen Heranwachsenden noch eroberbar.
Wie wenig ein pauschales «FiftiesBashing» taugt und gerechtfertigt ist,
zeigt anschaulich dieser Bild- und Textband zu jener Zeit, die sich im Übrigen
nicht strikte ins Korsett einer geraden
Dekade zwängen lässt. Die Fünfziger
fingen bald nach dem Krieg an und
reichten bis in die Hälfte der 60er Jahre
hinein – in der Schweiz vielleicht mit
dem Kulminationspunkt der «Expo 64»
in Lausanne, die nach vorne schaute und
gleichzeitig im Armee-Pavillon die alte
Schweiz nochmals wehrhaft einigelte.
Frauen ohne Stimmrecht
In neun lesenswerten Essays fächert der
Band ein Panorama jener Jahre auf: Eine
glänzende kulturgeschichtliche Analyse
des Phänomens Kühlschrank respektive
moderner Häuslichkeit von Beatrice
Schumacher fehlt darin so wenig wie
jene des damals überbordenden Mythos
Auto und des Strassenbaus durch Thomas Buomberger. Die eklatanten Widersprüche zwischen weiblichen und
männlichen Rollenbildern und RollenRealität (Stimmrecht!) werden von Elisabeth Joris blossgelegt, die erwachende
Macht der Unterhaltungsindustrie zwischen Patriotismus und Weltläufigkeit
von Edzard Schade und Samuel Mu-
menthaler geschildert, der Einbruch des
«Fremden» aus dem südlichen Nachbarland von Gianni D’Amato untersucht.
Bereits Georg Kohlers EinleitungsEssay macht unter dem Titel «Konsumglück, Kalter Krieg und Zweite Moderne» jenes Phänomen namhaft, von dem
die Epoche, wie sich in den Beiträgen
stets von neuem zeigt, politisch, kommerziell und kulturell durchsetzt war:
der Kalte Krieg mit seinem auch das
Selbstverständnis der neutralen Schweiz
stabilisierenden
Antikommunismus.
Dieser nahm die Idee der Geistigen Landesverteidigung der Nazizeit ins erste
Nachkriegsjahrzehnt in Variation herüber. Der Antikommunismus «als Klammer, welche die Schweiz zusammenhielt: Er war Ideologie und Methode»,
Die Werbung in
den 1950er Jahren
pries das Glück des
Besitzes von neuen
elektrischen Geräten.
schreibt Benedikt Loderer in seinem
Beitrag
zum
«Armeereformhaus»
Schweiz und erinnert an die Frage von
Frischs Stiller: «Was ist, wenn ihnen die
Russen erspart bleiben, ihr eigenes
Ziel?» Ja, was war das eigene Ziel?
Im Befund des «Fortbestands tradierter Ordnung unter neuen Vorzeichen»
(Beatrice Schumacher) wird einiges von
der Widersprüchlichkeit der Fünfziger
fassbar. Nicht zuletzt spiegelt sich in
dem schön gemachten Buch die bei aller
Kontinuität «unterschwellige Dynamik»
der Schweizer Fotografie damals auch
im reichen Bildteil, den Peter Pfrunder,
Direktor der Fotostiftung Schweiz, zusammengestellt hat. Da sind die Fünfziger gleich wieder zum Riechen und zum
Schmecken nahe. ●
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Umweltschutz Zwei Experten diskutieren über die Zukunft
Nicht weniger als die Energiewende
Klaus Töpfer, Ranga Yogeshwar: Unsere
Zukunft. Ein Gespräch über die Welt
nach Fukushima. C. H. Beck, München
2011. 234 Seiten, Fr. 28.50.
Von Patrick Imhasly
Als es vor bald einem Jahr im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zur nuklearen Katastrophe kam, wurde die japanische Gesellschaft in ihrem grenzenlosen
Vertrauen in die Technik erschüttert.
Energiepolitische Konsequenzen aus
diesem Unglück zogen dann aber nicht
etwa die Japaner, sondern die Deutschen
und die Schweizer. Deutschland und die
Schweiz beschlossen, definitiv aus der
Kernenergie auszusteigen und stattdessen vermehrt auf alternative Energiequellen wie Sonne oder Wind zu setzen.
Das tönt gut, doch wie müssen die
Menschen ihr alltägliches Verhalten ändern, um die Energiewende möglich zu
machen? Und wie wird die Welt nach
Fukushima aussehen? In einem Interviewbuch diskutieren Klaus Töpfer und
Ranga Yogeshwar über Fragen, die viele
von uns beschäftigen. Der CDU-Politiker Klaus Töpfer hat langjährige Erfahrung in Umwelt- und Energiethemen:
als Minister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit unter Helmut
Kohl, später als Exekutivdirektor des
Umweltprogramms der Vereinten Nationen und schliesslich als Co-Vorsitzender der deutschen Ethikkommission
für eine sichere Energieversorgung, die
Angela Merkel nach Fukushima einsetzte. Der indischstämmige Ranga Yogeshwar seinerseits war als Nuklearphysiker
tätig, bevor er Wissenschaftsjournalist
wurde und sich einen Namen als Entwickler und Moderator diverser Formate im deutschen Fernsehen machte.
Bescheidenere Autos fahren, seltener
fliegen, den persönlichen Energieverbrauch reduzieren, Solaranlagen auf
dem Hausdach und weg vom grenzenlosen Konsum: Das sind nur ein paar der
Rezepte, welche die Autoren für eine
neue Gesellschaft propagieren. Denn
diese muss den Strom kompensieren,
der durch den Ausfall der Kernenergie
wegfällt. Ob das klappen kann? «Ich bin
da keineswegs resignativ», sagt Töpfer,
es sei «eine grossartige Chance, die
Energiewende erfolgreich umzusetzen.»
«Wir müssen die Dinge grundsätzlicher
angehen», erklärt demgegenüber Yogeshwar: «Mit etwas Glück werden wir
in dreissig, vierzig Jahren zur Neujahrzeit keine Reden mehr hören, in denen
Vokabeln wie ‹Wachstum› vorkommen.
Vielmehr wird es in ihnen um Glück,
Wahlmöglichkeiten, kulturelle Vielfalt
und Freiheit gehen.»
Was Töpfer und Yogeshwar uns erzählen, ist alles richtig, sympathisch und
muss vielleicht so sein. Schade nur,
klopfen sich die beiden allzu oft gegenseitig auf die Schultern. Dabei hätten sie
besser kontrovers erörtert, warum die
Energiewende eben doch nicht so einfach zu schaffen sein wird. ●
Das amerikanische Buch Richard Holbrooke, Gestalter der US-Aussenpolitik
Wie die Herausgeber Derek Chollet und
Samantha Power in ihrem Vorwort er-
klären, entstand die Idee zu «The Quiet
American» in den Wochen nach
Holbrookes Tod am 13. Dezember 2010.
Zwei Tage zuvor hatte er Hillary Clinton im US-Aussenministerium über
seine Arbeit als Sonderbeauftragter für
Afghanistan und Pakistan berichtet.
Der 69-Jährige erlitt dabei einen massiven Herzinfarkt, dem er schliesslich erlegen ist. Vor seinem Krankenzimmer
und auf der Beisetzung trösteten
Holbrookes Freunde und Kollegen einander mit Erinnerungen, die nach einem dauerhaften Gefäss riefen, so die
Herausgeber. Laut Power zählten sie
und Chollet zu den vielen Talenten, die
in Holbrooke einen liebevollen, aber
kritischen Mentor fanden. Power lernte
den Diplomaten als junge Journalistin
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012
etwas bittet, ist es am besten, Ja zu sagen. Denn sonst wird der Weg von einem Nein zum Ja höchst peinsam.
Absagen akzeptiert er nicht.»
MOHAMMAD SAJJAD / AP
Selten war Trauerarbeit für eine breitere Öffentlichkeit so fruchtbar wie der
Sammelband The Quiet American.
Richard Holbrooke in the World (Public
Affairs, 383 Seiten), der die Karriere
dieses bedeutenden Diplomaten mit
Beiträgen von Weggefährten und anhand eigener Texte darstellt. Das Buch
macht nicht nur die Verdienste
Holbrookes lebendig, sondern illustriert auch die Grenzen und Möglichkeiten der amerikanische Aussenpolitik
seit dem Beginn des Vietnam-Krieges
unter John F. Kennedy. Der Demokrat
Holbrooke war an deren Gestaltung
direkt beteiligt, wenn seine Partei das
Weisse Haus kontrollierte. Republikanische Regierungen hat er als scharfsinniger Publizist begleitet, während
er als Banker unter anderem bei der
Credit Suisse tätig war.
Richard Holbrooke
spricht mit einem
Flüchtling im
pakistanischen Lager
von Chota Lahore.
Autorin Samantha
Power (unten).
während der Balkankriege kennen. Sie
ist nun zur Menschenrechtsbeauftragten von Barack Obama aufgestiegen.
Chollet war Holbrookes Assistent während dessen Zeit als UN-Botschafter der
USA Ende der 1990er Jahre.
Trotz der persönlichen Nähe der Autoren zu ihm bleibt «The Quiet American» dem Charakter Holbrookes
verpflichtet, der sich durch seinen Ehrgeiz und seine unverblümte Art in Washington auch Feinde geschaffen hat.
Wie der ehemalige Staatssekretär
Strobe Talbott schreibt, blieb Holbrooke
deshalb der heiss ersehnte Aufstieg zum
Aussenminister versagt. Auch die Autoren nehmen kein Blatt vor den Mund
und schildern Holbrookes Eigensinn in
anschaulichen Anekdoten. Dafür mag
das Zitat von Henry Kissinger genügen,
der diese vitale Persönlichkeit so beschrieben hat: «Wenn Richard dich um
Philosophisch stand Holbrooke dem
Aussenminister republikanischer Präsidenten durchaus nahe. Wie Kissinger
– allerdings nur von der Mutter her –
ein Nachkomme jüdischer Naziflüchtlinge aus Deutschland, war er ein
hochintelligenter Pragmatiker und
überzeugt von der globalen Mission
Amerikas als Ordnungsmacht. Und wie
Kissinger hat Holbrooke fest geglaubt,
Geschichte werde letztlich von grossen
Männern gemacht. Talbott lässt keinen
Zweifel daran, dass sein Freund
Richard sich für eine dieser Persönlichkeiten gehalten hat. Sein grösster Erfolg, die Beilegung des Balkankonfliktes
in Dayton Ende 1995, hat Holbrooke in
dieser Überzeugung bestätigt.
Wie die «New York Times» in einer ansonsten lobenden Besprechung anmerkt, hat der Erfolg amerikanischer
Bombenangriffe auf Serbien Holbrooke
jedoch zu der Illusion verleitet, diese
würden auch im Irak Saddam Husseins
rasch die Ziele Washingtons durchsetzen. Dabei hat Holbrooke als Co-Autor
der «Pentagon Papers» bereits während des Vietnamkrieges verstanden,
dass Wunschträume und konfuse Entscheidungsabläufe auch das mächtige
Amerika in eine Katastrophe führen
können. So haben ihn während seiner
letzten, unvollendeten – und letztlich
wohl unmöglichen – Mission in
Afghanistan ständig Erinnerungen an
Vietnam gequält. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Der jüngste Beatle Naturschützer und Rennsport-Fan
Agenda Februar 2012
Dienstag, 7. Februar, 19 Uhr
Barbara Honigmann:
Bilder von A. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus,
Barfüssergasse 3,
Tel. o61 261 29 50.
MICHA BAR AM / MAGNUM
Basel
Donnerstag, 9. Februar, 19 Uhr
Sandra Hughes: Zimmer 307. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Donnerstag, 23. Februar, 19 Uhr
CLIVE ARROWSMITH / UMLAUT CORPORATION
Heiko Haumann: Hermann Diamanski –
Überleben in der Katastrophe. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
Donnerstag, 2. Februar, 19 Uhr
Werner Wüthrich: Frauen Land Frauen.
Lesung, Eintritt frei, inkl. Apéro. HauptBuchhandlung, Falkenplatz 14,
Tel. 031 309 09 09.
Freitag, 17. Februar, 19.30 Uhr
George Harrison (1943–2001) war nicht nur der
jüngste und sympathischste Beatle: Er war auch als
Solokünstler ein vorzüglicher Musiker – und eine
vielfältige Persönlichkeit. Umweltschützer,
leidenschaftlicher Gärtner und zugleich Formel-1Fan, Sinnsucher und Filmproduzent für die schräge
Truppe Monty Python. In sich gekehrter Philosoph
und wilder Rock ’n’ Roller. Er tat Entscheidendes für
die Popularität des Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, mit
dem er hier posiert, und musizierte mit einem Who Is
Who der Musikszene von Eric Clapton bis Bob Dylan.
Olivia Harrison, die seit 1978 mit George verheiratet
war, hat ihrem Mann einen umfassenden Text-BildBand gewidmet, der mit zahlreichen überraschenden
Fotos und Dokumenten aufwartet. Manfred Papst
Olivia Harrison: George Harrison. Living In The
Material World. Knesebeck, München 2011.
399 Seiten, Fr. 53.90.
Pedro Lenz: Dr Goalie bin ig. Lesung,
Fr. 20.–. Forum Altenberg, Altenbergstr. 40, Tel. 031 332 77 60.
Mittwoch, 22. Februar, 20 Uhr
Milena Moser: Montagsmenschen.
Lesung, Fr. 15.–. Thalia im Loeb,
Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40.
Zürich
Donnerstag, 2. Februar, 20 Uhr
Endo Anaconda: Walterfahren. Lesung,
Fr. 18.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1,
Tel. 044 225 33 77.
Bestseller Januar 2012
Belletristik
Sachbuch
1
C. H. Beck. 402 Seiten, Fr. 25.90.
2 Ullstein. 381 Seiten, Fr. 26.90.
3 Hanser. 519 Seiten, Fr. 32.90.
4 Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90.
5 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.
6 Hanser. 314 Seiten, Fr. 24.90.
7 Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 34.90.
8 Krüger. 447 Seiten, Fr. 19.50.
9 dtv. 588 Seiten, Fr. 19.90.
10 Nydegg. 400 Seiten, Fr. 39.-.
1 Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.50.
2 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 35.90.
3 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.
4 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.
5 Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.
6
Orell Füssli. 208 Seiten, Fr. 29.90.
7 Wörterseh. 205 Seiten, Fr. 39.90.
8
Goldmann. 200 Seiten, Fr. 34.50.
9 Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90.
10 Faro. 172 Seiten, Fr. 34.90.
Catalin D. Florescu: Jacob beschliesst zu
lieben.
Michael Theurillat: Rütlischwur.
Umberto Eco: Der Friedhof in Prag.
Paulo Coelho: Aleph.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Alex Capus: Léon und Louise.
Charles Lewinsky: Gerron.
Cecelia Ahern: Ein Moment fürs Leben.
Jussi Adler-Olsen: Erlösung.
Paul Wittwer: Widerwasser.
Walter Isaacson: Steve Jobs.
Guinness World Records 2012.
Barney Stinson: Das Playbook.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
Esther Girsberger: Eveline WidmerSchlumpf.
Lisa Marti: Mutanfall.
Richard D. Precht: Warum gibt es alles und
nicht nichts.
Remo H. Largo: Jugendjahre.
Martin Ott: Kühe verstehen.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 1. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Arno Camenisch:
Ustrinkata. Lesung,
Fr. 18.– . Literaturhaus,
Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Donnerstag, 9. Februar, 20 Uhr
Asli Erdogan. Die türkische Autorin in
Residence im Gespräch. Fr. 18.– inkl.
Apéro. Literaturhaus (s. oben).
Freitag, 10. Februar, 16 Uhr
Albert der Storch. Kinderlesung
mit Claudia Engeler. Für Kinder
von 4 bis 8 Jahren. Pestalozzi-Bibliothek,
Zürich-Affoltern, Bodenacker 25.
Info: www.pbz.ch.
Mittwoch, 22. Februar, 20 Uhr
Helen FitzGerald: Tod sei Dank. Lesung,
Fr. 15.–. Kaufleuten (s. oben).
Donnerstag, 23. Februar, 20 Uhr
Sarah Kuttner: Wachstumsschmerz.
Lesung, Fr. 25.–. Komplex 457,
Hohlstrasse 457, Tel. 044 500 00 60.
Bücher am Sonntag Nr. 2
erscheint am 26. 2. 2012
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
YVONNE BÖHLER
Dienstag, 7. Februar, 20 Uhr
Freiheit, Recht und Reichtum sind eine direkte Folge staatlicher
Souveränität. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je weniger
Souveränität, desto weniger Reichtum, Recht und Freiheit. Dennoch
wird heute in internationalen Gremien viel über Souveränitätsverzicht
als Mittel zur Mehrung von Frieden und Wohlstand diskutiert.
Johannes B. Kunz geht in seinem Buch diesem Widerspruch auf den
Grund und erläutert den Zusammenhang zwischen Souveränität und
Freiheit bzw. Demokratie.
Die staatliche Souveränität sieht er durch die Machtpolitik, die internationalen Organisationen, den heutigen humanitären Interventionismus und die Europäische Union gefährdet. Er setzt die Souveränität
in Bezug zur Globalisierung und zeigt Wege auf, wie sie gewahrt
werden kann.
2011. 400 Seiten, 5 Grafiken.
Fr. 58.– / € 50.–
DIE NEUE POLIS
Georg Kreis · Das «Helvetische Malaise»
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Das «Helvetische Malaise»
Max Imbodens historischer Zuruf
und seine überzeitliche Bedeutung
Georg Kreis
Max Imbodens Buch «Helvetisches Malaise» hat 1964 für heftige
Diskussionen gesorgt. Es diagnostizierte der schweizerischen Politik
«Helvetisches Malaise» von 1964 gehört zu
den in seiner Zeit am häufigsten zitierten
Schriften. Ihr Ruhm hallt bis heute nach.
Der an der Universität Basel lehrende und
als Freisinniger politisierende Professor
für Staats- und Verwaltungsrecht Max
Imboden setzt sich darin kritisch mit den
Schwächen des politischen Systems der
Schweiz auseinander. Schon damals merkte
er an, dass die Schweiz nicht als autarke Insel
im europäischen Staatengefüge existieren
kann. In der Neuedition dieser historischen
Intervention wird der Text mithilfe erstmals
zugänglicher Tagebuchaufzeichnungen in
den zeitgenössischen Kontext eingeordnet,
im Detail kommentiert und im Lichte der
weiteren Entwicklung bewertet.
[164 Seiten zeitgenössische Politik]
DIE NEUE POLIS
Verlag Neue Zürcher Zeitung
2011. 164 Seiten, 7 s/w Abbildungen.
Fr. 24.– / € 21.–
www.nzz-libro.ch
u. a. Isolationismus, Sloganisierung und Verdrossenheit beim Wahlund Stimmvolk. In Intellektuellenvoten fällt das Schlagwort
«helvetisches Malaise» seither regelmässig, obwohl zu vermuten ist,
dass nicht alle den wegweisenden Text noch präsent haben.
Jetzt kann Abhilfe geschaffen werden. Georg Kreis hat Imbodens
Text mit Kommentaren und Hinweisen zur Wirkungsgeschichte neu
herausgegeben.