Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl
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Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl
Nr. 1 | 29. Januar 2012 Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld | Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer UnoDiplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton, Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Lesetipp <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTEyNQQATFw5ng8AAAA=</wm> <wm>10CFWMIQ7DMBRDT5TIduI03YdTWVUwjYdUxbs_Wjo2YODnJ-97OOOX53a8t1cQqE50lRlenbW06FJGXQJkF6gH4epJyp-fwLUVlHE7syT2QSRr7kPWoO6HySy1_DmvL18AnUKAAAAA</wm> Inhalt Der Ruf der Aufklärung ist nicht verhallt Der Kampf um Gedankenfreiheit ist ein aufregendes, ja gefährliches Unterfangen. John Locke musste ins Exil fliehen, um seine «Discourses Concerning Government» fertig zu stellen. Voltaires Schriften wurden verboten, Diderots Werke verbrannt, die «Encyclopédie» auf den Index gesetzt. Im 18. Jahrhundert wurden Philosophen oft gejagt, geächtet, inhaftiert. Auch heute erfordert der Ausbruch aus der Unmündigkeit Courage, wie Manfred Geier in seinem neuen Buch «Aufklärung – Das europäische Projekt» beschreibt (Seite 18). Vom turbulenten Leben des Genfer Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, dem wichtigen Wegbereiter der Französischen Revolution, und seiner pädagogisch-erotischen Lehrmeisterin Madame de Warens erzählt anderseits Karl-Heinz Ott in seinem grandiosen Roman «Wintzenried» (S. 7). Einer, der Toleranz hochhielt und verfolgten Autoren Asyl gewährte, war Preussenkönig Friedrich der Grosse. Das historische Urteil über ihn fällt heute, im Jahr seines 300. Geburtstages, differenzierter aus, so zeigt unsere Rezension der neusten Publikationen (S. 16). Botschafter Paul Widmer bespricht das «gescheite und mutige Buch» seines Kollegen Johannes B. Kunz: ein Plädoyer gegen den drohenden Souveränitätsverlust und eine kritische Bilanz humanitärer UnoEinsätze (S. 20). Dies und auch Leichteres finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf den folgenden Seiten. Urs Rauber Nr. 1 | 29. Januar 2012 Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld | Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer UnoDiplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton, Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese CharlesDickens (Seite12). Illustrationvon AndréCarrilho 18 ManfredGeier:Aufklärung–Daseuropäische Projekt Von Katja Gentinetta 19 PeterMichaelKeller:CabaretCornichon Belletristik 4 AharonAppelfeld:DerMann,dernicht aufhörtezuschlafen Von Christoph Plate 6 EdithWharton:EinaltesHausamHudson River Von Pia Horlacher FrançoisVillon:DasKleineunddasGrosse Testament 7 Karl-HeinzOtt:Wintzenried Von Martin Zingg 8 YoussefZiedan:Azazel Von Paul Widmer AmyStewart:GemeineGewächse Von André Behr 21 WolfgangRuge:GelobtesLand Von Urs Rauber Von Susanne Schanda 22 EgonBahr,PeterEnsikat:Gedächtnislücken 9 «JedeFreundschaftmitmiristverderblich». JosephRothundStefanZweig.Briefwechsel 1927–1938 MalikAmbarausSudan(1550–1626). AusMichaelMann:Sahibs,Sklaven undSoldaten(S.24). Von Arnaldo Benini MarkusBrüderlin:DieKunstder Entschleunigung Von Gerd Kolbe IanKershaw:DasEnde Von Markus Schär 23 HeinerBoehncke,HansSarkowicz: Grimmelshausen Von Manfred Koch Von Gerhard Mack Kolumne 24 MichaelMann:Sahibs,SklavenundSoldaten Von Sieglinde Geisel 15 CharlesLewinsky 10 A.F.Th.vanderHeijden:Tonio 11 StewartO’Nan:Emily,allein BerndBrunner:DerMond Von Thomas Köster 20 JohannesB.Kunz:DerletzteSouveränund dasEndederFreiheit Von Stefana Sabin Von Urs Bitterli Von Simone von Büren KurzkritikenBelletristik 11 KatharinaHacker:EineDorfgeschichte Von Regula Freuler IrenBaumann:NochwährenddiePendler heimfahren Von Manfred Papst FriedrichAchleitner:Iwahaubbt Von Manfred Papst NancyMitford:LandpartiemitdreiDamen Von Regula Freuler Essay 12 CharlesDickens,Schriftsteller Verliebt in die Romane eines 200-Jährigen Von Andreas Isenschmid Das Zitat von Ludwig Börne KurzkritikenSachbuch 15 EstherGirsberger:EvelineWidmer-Schlumpf Von Urs Rauber OttoStich:Ichbliebeinfacheinfach Von Urs Rauber PhilippBlom:AngeloSoliman Von Geneviève Lüscher DanielaKuhn:ZwischenStallundHotel Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 16 ChristianvonKrockow:FriedrichderGrosse UteFrevert:Gefühlspolitik JohannesBronisch:DerKampfumKronprinz Friedrich Von Kathrin Meier-Rust Von Geneviève Lüscher EmanuelAmmon:70er Von Kathrin Meier-Rust 25 ThomasBuomberger,PeterPfrunder: Schönerleben,mehrhaben Von Martin Walder 26 KlausTöpfer,RangaYogeshwar:Unsere Zukunft Von Patrick Imhasly DasamerikanischeBuch DerekChollet,SamanthaPower:TheQuiet American.RichardHolbrookeintheWorld Von Andreas Mink Agenda 27 OliviaHarrison:GeorgeHarrison Von Manfred Papst BestsellerJanuar2012 Belletristik und Sachbuch AgendaFebruar2012 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG VerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Zum 80. Geburtstag Aharon Appelfelds erscheint sein neues autobiografisches Buch. Darin beschwört er die jüdische Vergangenheit und Israels Gegenwart Neue Melodien in einer alten Sprache Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Aus dem Hebräischen von Mirijam Pressler. Rowohlt, Berlin 2012. 285 Seiten, Fr. 28.50. Von Christoph Plate Als Hebräisch zu seiner neuen Muttersprache wurde, wäre er fast verstummt. Weil er immer noch auf Deutsch und Jiddisch dachte und weil sie ihn zwangen, die neue Sprache zu benutzen. Heute, 66 Jahre nach seiner Ankunft in diesem Land, mag er Hebräisch. Die Sprache ist alt, voller Bilder, und sie lebt, auch wenn geschwiegen wird. Es ist laut. Wir sitzen im Restaurant des Tichu-House, einer Galerie im Zentrum Jerusalems. Die jungen Frauen am Nachbartisch, leicht übergewichtig und etwas zu stark geschminkt, sind so lärmig, dass Aharon Appelfeld immer wieder einmal sanft strafend hinüberschaut. Dann essen wir weiter, schauen uns an, reden, bis die Frauen nebenan wieder laut werden. Vor über 50 Jahren war der heute 80-Jährige zum ersten Mal hier. Der Philosoph Martin Buber brachte ihn ins Haus von Anna Tichu, der malenden Frau eines Wiener Augenarztes. «Freitags gab es Apfelstrudel mit Sahne und Kaffee, zwei Dutzend Intellektuelle waren da, ich war zu schüchtern, um auch nur etwas zu sagen», erklärt Appelfeld. Er zeigt die breiten Ledersessel, in denen sie damals sassen. Kandidat für den Nobelpreis Heute gehört das Haus der Museumsgesellschaft, Appelfeld kommt gern hierher, plaudert mit den Sicherheitsleuten am Eingang, und die Serviertöchter begegnen ihm mit einer Ehrfurcht, als wüssten sie, dass dieser Mann mit der blauen Schiebermütze auf dem kahlen Schädel immer wieder ein Kandidat für den Literaturnobelpreis ist. Sein neues, bei Rowohlt auf Deutsch erschienenes Buch «Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen» ist eine 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 Eloge auf das Leben, eine Danksagung an seine Eltern und ein Zeugnis davon, wie jemand sich eine neue Sprache erkämpfen muss. Zuhause in Czernowitz sprach man in der assimilierten jüdischen Familie Deutsch. Paul Celan wohnte in der gleichen Strasse. Damals war Czernowitz Schnittstelle zwischen Ost und West, heute liegt es vergessen im Südwesten der Ukraine, nahe der Grenze zu Rumänien. Träumt Appelfeld von seinen Eltern – die Mutter wurde von rumänischen Faschisten erschossen, der Vater überlebte den Holocaust und emigrierte nach Jahren in der Sowjetunion nach Israel –, dann spricht er das Deutsch eines 8-Jährigen. Im Traum ist Aharon aber schon erwachsen, und der Vater macht sich lustig über dessen Kinderdeutsch. Zur Mutter sagt er: «Mama, ich habe eine neue Sprache.» Appelfeld teilt sein Aharon Appelfeld Geboren wurde Aharon Appelfeld am 16.2.1932 in der Nähe von Czernowitz (damals Rumänien, heute Ukraine). Er wuchs in einem gut bürgerlichen Haushalt auf. Damals hiess er noch Erwin. Erst der Holocaust habe ihn zum Juden gemacht, sagt er. Er musste den Mord an seiner Mutter miterleben, wurde mit dem Vater zusammen ins Ghetto gesperrt und schlug sich später alleine bis nach Italien durch. Von dort gelang er 1946 nach Palästina. Diese traumatischen Erlebnisse sind die Triebfeder seines Schaffens. Seine Muttersprache war Deutsch, heute ist die für ihn wichtigste Sprache Hebräisch. Er arbeitete von 1975 bis 2001 als Literaturprofessor an der Ben Gurion Universität in Beerscheba. Zu seinen grossen Romanen gehören: «Blumen der Finsternis», «Bis der Tag anbricht» und «Elternland». Für «Der eiserne Pfad» wurde er 1999 mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Croissant und strahlt zufrieden. Er trinkt koffeinfreien Kaffee, der aus einem altmodischen Tassenfilter tröpfelt. Dann bestellt er eine Gemüsesuppe, Osteuropäer liebten doch Suppen, obwohl diese hier längst nicht so gut sei, wie die im Café Sprüngli am Paradeplatz in Zürich. In «Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen» geht es um vieles. Um die Suche nach einer Melodie in der Sprache, um das Bewusstsein für die eigene Geschichte und die Bedeutung des SichErinnerns, um die eigene Position in der Gegenwart zu bestimmen. Seit einigen Jahren bekommt Appelfeld Briefe von israelischen Lesern, die schreiben, sie hätten ihre Eltern oder Grosseltern nie nach dem jüdischen Leben in Osteuropa und nach dem Holocaust gefragt. «Meine Bücher würden ihnen diese untergegangene Welt des Judentums, ihre Gerüche und Schönheit nahe bringen.» Liest er diese Briefe, zittert er manchmal vor Aufregung und Last. Ihm wird da eine Rolle zugedacht, die er gar nicht annehmen mag. Lange wurde Appelfeld vom literarischen Establishment gescholten, weil er keinen Agitprop schrieb, sondern die Geschichte jener erzählte, die nach dem Holocaust aus Europa nach Palästina gekommen waren. Das passte nicht nach Israel. Appelfeld hat damals festgestellt, dass «man als assimilierter Jude Weltbürger ist, während man als Israeli schnell provinziell wird». «Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen» ist ein autobiografischer Roman, wobei jedes seiner Bücher auch den Aharon Appelfeld zu enthalten scheint, der früher Erwin hiess. Aharon wurde in Czernowitz als Erwin geboren, als er mit ukrainischen Banditen umherzog, nannte er sich Janosch. Appelfeld ist überzeugt, dass jede Art von Äusserung eine Verstellung sei, die Literatur aber eine der am wenigsten verstellten Äusserungen. Es sind dies Erinnerungen, wie sie einige auch schon in seinem Buch «Die Geschichte eines MICHA BAR AM / MAGNUM Lebens» vorkommen, nur sind sie jetzt vielfältiger, reflektierter, stärker ausgearbeitet. Der Ich-Erzähler schreibt von der Kindheit, vom Holocaust, von der Flucht, von der beschützenden Wärme einer Hure am Strand von Neapel. Appelfeld durchläuft noch einmal seine Versuche, sich nach der Ankunft in Palästina und der Verwundung im Krieg gegen die Araber seine Identität zu erhalten. Es ist dies die Persönlichkeit eines Mannes, der Kleist und Stifter liest, um den Eltern nahe zu sein, die Bibel, um sich an seine religiösen Grosseltern zu erinnern, und Karl Marx, um auch seine kommunistischen Onkel zu würdigen. Vielleicht braucht es ein Leben als Philosoph, um scheinbar einfach zu schreiben, so wie er es tut. Ob er immer noch seine Manuskripte einige Jahre in die Schublade lege, um sie danach wieder zu bearbeiten, zu streichen und erst dann an den Verlag zu übergeben? «Ja, fünf Jahre müssen sie liegen», sagt er. Das mache er bis heute, «oder haben Sie etwa den Eindruck, ich hätte dafür keine Zeit?», fragt der bald 80-Jährige und lacht. Dann gehen wir hinauf in den ehemaligen Salon von Frau Tichu, in dem Aharon Appelfeld in die Intellektuellenszene von Jerusalem eingeführt worden war. «Diese Leute haben mich auf eine Art gerettet», sagt er und scheint sie alle dort sitzen zu sehen in den schweren Ledersesseln. Irgendwann hat er sich dann auch getraut mitzureden. Mit Hannah Ahrendt hat er gestritten, weil ihre Theorie von der Banalität des Bösen nicht zuträfe. Banal sei das Gute, das Böse dagegen sei ungemein kreativ. Er sei eigentlich immer ein Rebell gewesen, einer, der sich gegen Vereinnahmung gewehrt habe. Fiktion ist Wahrheit Appelfelds nur mit ein paar Strichen gezeichnete Charaktere haben oft noch Erde unter den Fingernägeln, sie sind einfache Leute, eine Prostituierte, ein Dorfschullehrer, eine Bäuerin, die alle auf ihre Art fähig sind, über den Rand der engen Dorfwelt hinauszuschauen. Appelfeld beschreibt den Verrat einiger Juden und Nichtjuden und erzählt von der Menschlichkeit der anderen. Vielleicht ist es auch dieser Lebenswille, der den Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, irgendwann aufwachen liess. Der Mann, der ein Junge war, wurde von den Überlebenden in Europa auf ihrer Wanderung nach Palästina immer weitergetragen, so wie Appelfelds Vater den Sohn auf einem der Todesmärsche getragen und geschoben hatte. Als der Junge Erwin dann in Palästina ist, begegnet er zum Glück auch solchen, die ihn so lassen, wie er ist, die nicht den neuen Juden schaffen wollen, der blond und blauäugig ist und sich nie mehr wird demütigen lassen müssen. Der Ich-Erzähler trifft auf Menschen, die sich an seinen Vater erinnern und an dessen literarische Ambitionen, auch an dessen Schock, als der das erste Mal Kafka las. Wenn ihm heute die Kinder und Enkel der Holocaust-Überlebenden schreiben, dann ist das natürlich nicht nur Last. Es ist auch späte Genugtuung für die harte Zeit, als der literarische Betrieb ihn zwar ehrte, aber nie ganz akzeptierte, weil der Rebell sich weigerte, seine Vergangenheit abzustreifen, so wie die anderen ihre Lagerkleidung abgelegt hatten. Appelfeld lächelt, während es an den Tischen noch lebhafter wird. Da kommen viele, auch orthodoxe Juden, sie essen Salat mit viel Knoblauch, Käsekuchen und Gemüsesuppe. Das Handy klingelt, die Frau des Autors ist dran. Die drei Kinder der Appelfelds sind Anwalt, Literaturwissenschafter und Maler geworden. Die Enkel, Teenager noch, lesen die Bücher des Grossvaters. Sie fragen, was Fiktion sei, ob er all das erlebt habe, ob er von einer Hure vor den Nazis versteckt wurde oder wie das war, den Cousin zu finden, dessen Vater konvertierte und der seine Mitte verlor. Und was antwortet er den Enkelinnen? «Dass die Fiktion die Wahrheit ist.» l Der neue Roman von Aharon Appelfeld ist eine Danksagung an seine Eltern. Hier ein Bild aus dem Jahr 2004 in Israel. 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Klassiker Edith Whartons Porträt einer verhinderten Künstlerin liegt in der deutschen Erstübersetzung vor Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River. Aus dem Amerikanischen von Andrea Ott. Manesse, München 2011. 624 Seiten, Fr. 36.90. Von Pia Horlacher Jane Austen, Henry James, Edith Wharton – hätte man vor der Jahrtausendwende eine Prophezeiung gewagt, welche Art von Literaturverfilmungen auf das 21. Jahrhundert einstimmen würden, so wäre man wohl zuletzt auf diese Namen gestossen. Doch Zufall war es nicht. Nachdem Martin Scorsese 1993 Whartons «The Age of Innocence», dieses Sittengemälde aus dem Goldenen Zeitalter New Yorks, zu einem Meisterwerk der Leinwand adaptiert hatte, ahnte man es: Scheinbar altmodische Literatur kann aktuelle Zeitfragen schärfer ausleuchten als vieles, was von Zeitgenossen produziert wird. Die Geschichte von der kapitalistischen Gier und deren Verheerungen wiederholt sich. Die Neuengländerin aus bestem Haus mit dem unbestechlichen ethnologischen Blick auf ihre eigene Gesellschaft, begann erst mit vierzig zu schreiben – aus einer unglücklichen Ehe heraus, die sie oft auf Reisen trieb. Vor allem nach Europa; in Frankreich liess sie sich nach ihrer Scheidung nieder, dort liegt sie begraben. Beides, ihr Unglück und ihre Weltläufigkeit, sollte ihr viel Stoff bieten für Romane, die das Ersticken in der Enge und den Selbstverlust in der Flucht thematisieren. Vor allem aber den Untergang einer Gesellschaft, die zwischen müder Dekadenz und rasender Gier dahinsiecht und schliesslich in der grossen Depression von Börsen und Individuen zerfallen wird. So auch in ihrem Spätwerk aus dem Jahr 1929. Im alten Haus am Fluss, das unbewohnt, aber voller Geister der Erinnerung vor sich hinmodert, treffen sich zwei Sprösslinge, die aus parallelen Welten flüchten. Vance Weston, empfindsamer Sohn eines erfolgreichen Immobilienhändlers aus dem Mittleren Westen, und Halo Spear, intelligente Tochter einer verarmenden Bildungsbürgerfamilie aus der Oberschicht New Yorks. Im alten Haus, im Schatten reich bestückter Bücherwände und einer untergehenden Kultur des Geistes entfaltet sich eine Seelenverwandschaft und eine noch unerkannte Liebe, die selbst literarische Früchte tragen wird. Inspiriert von dieser exotischen Lebenswelt mausern sich Vances vage künstlerische Ambitionen zur ernsten Schriftstellerei; gleich sein erster Roman wird zum Überraschungserfolg. Halo, seine Türöffnerin in die literarische Gesellschaft der Ostküste, seine Muse, seine Lektorin und der eigentliche kreative Motor, muss es ihrem Geschlecht gemäss bei der Inspiration und der Arbeit im Hintergrund bewenden lassen. Der finanzielle Niedergang ihrer Familie drängt sie zum Opfer einer Heirat mit einem reichen Verehrer, in der sie zunehmend an Lebenskraft verliert. Das Unglück der beiden nimmt seinen Lauf. Am Ende dieser «Zeit der Unschuld» schwinden Vances Illusionen dahin im jahrelangen Lavieren zwischen Überheblichkeit und Opportunismus, zwischen «unmoralisch» in der Werbung verdientem Geld und bitterer Armut, während Halos Jugend und Ta- LEBRECHT MUSIC & ARTS Zeiten der Unschuld Die amerikanische Erzählerin Edith Wharton erhielt 1921 den Pulitzer-Preis. lent in der Düsternis einer traditionellen Ehe zusehends verblüht. So etwas wie ein «unhappy Happyend» zeichnet sich ab – 1932, wird Wharton die Fortsetzung der Geschichte präsentieren. Vordergründig ist das ein klassisches «portrait of the artist as a young man», hintergründig das rare Porträt einer jungen Frau als verhinderte Künstlerin. Eingebettet in ein Tableau von Figuren, die sich zu einer zeitlosen Satire auf die Moden und Heucheleien des Kulturund Literaturbetriebes versammeln, repräsentieren die beiden jungen Menschen eine Epoche der Verschiebungen zwischen alten und neuen Welten, wie sie uns, eine Jahrhundertwende später, durchaus vertraut scheinen. ● Ballade François Villons Vermächtnis in einer frechen und geschmeidigen Neufassung Ein Vorbild der derben Sozialkritik François Villon: Das Kleine und das Grosse Testament. Aus dem Französischen, mit einem Nachwort von Frank-Rutger Hausmann. Reclam, Leipzig 2011. 145 Seiten, Fr. 11.90. Von Stefana Sabin Spätestens durch Brechts Refrain zu «Nannas Lied» (1939) ist die Frage «Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?» sprichwörtlich geworden. Diese Frage hatte sich Brecht bei dem bedeutendsten Dichter des französischen Spätmittelalters geliehen, nämlich bei François Villon, dem Meister des parodistischsozialkritischen Gedichts. Villons Identität ist – wie diejenige Shakespeares – unklar. Er soll 1431 in Paris geboren und Anfang 1463, nach einem abenteuerlichen Leben, ver6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 schwunden sein. Lange hat man seine Gedichte autobiografisch gedeutet, aber inzwischen hat sich die These durchgesetzt, dass ein Pariser Jurist sich den Namen des Gauners François Villon zu eigen machte, um Justiz- und Institutionenschelte scharfzüngig zu versifizieren. Wer auch immer Villon war – seine Frechheit und sein Sprachwitz wurden traditionsbildend. Die französischen Symbolisten sahen in ihm den «poète truand» als Vorläufer des «poète maudit», und für die deutschen Expressionisten wurde die derbe Sozialkritik vorbildlich. Als Villons Hauptwerk gelten die beiden «Testamente»: Es sind Gedichtzyklen, in denen das lyrische Ich ein Vagabund ist, der sein Leben am Rande der Gesellschaft beschreibt, über die Pariser Honoratioren herzieht und die Unmöglichkeit der reinen Liebe beklagt. «Das kleine Testament» verbindet Parodien höfischer Liebeslyrik mit satirischen Legaten an Amts- und Würdeträger. Nicht zuletzt die Politikerschelte, die darin steckt, macht die Verse bis heute aktuell. «Das grosse Testament» enthält selbstreflexive, elegische und satirische Verse, in die ausgeformte Balladen eingestreut sind – darunter die «Ballade der Frauen von einst», deren Refrain Brecht für «Nannas Lied» benutzte. Villons «Testamente» sind voller Anspielungen auf damalige Ereignisse und Figuren und in höchstem Mass sprachspielerisch, so dass Übersetzungen zum philologisch-ästhetischen Abenteuer werden. Darauf hat sich der Freiburger Romanist Frank-Rutger Hausmann eingelassen und eine rhythmisierte deutsche Fassung geschaffen, die die Frechheit und die Geschmeidigkeit des Originals erhält. ● Roman Der deutsche Schriftsteller Karl-Heinz Ott zeichnet das Leben Rousseaus fulminant nach Er stürzte sich in die Wirren seiner Epoche Karl-Heinz Ott: Wintzenried. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 207 Seiten, Fr. 30.50. Von Martin Zingg Ohne ihn wäre alles anders gekommen. Ohne Wintzenried hätte der junge JeanJacques Rousseau seinen Platz im Herzen und im Bett von «Mama» nicht verloren: Es wäre ihm erspart geblieben, in die weite Welt hinaus zu ziehen und sich in Unternehmungen zu stürzen, deren Ende nicht abzusehen war. «Mama» ist Madame de Warens. Bei ihr, der dreizehn Jahre Älteren, kommt der junge Jean-Jacques im Alter von sechzehn Jahren unter. Hinter ihm liegen schwierige Zeiten. Seine Mutter ist im Kindbett gestorben: «Ich kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück», schreibt er später. Sein Vater hat sich wieder verheiratet, die Lehrzeit in Genf war freudlos. Bei «Mama» wird er, von einigen Reisen unterbrochen, lange Jahre des Glücks verbringen. Allerdings verlangt «Mama» gleich zu Beginn, dass er, der calvinistisch aufgewachsen ist, zum Katholizismus übertritt Ω Madame de Warens bekommt für ihre Bemühungen Geld von der katholischen Kirche. Ihr junger Zögling und Geliebter, das muss sie bald erkennen, ist anstrengend, empfindlich, oft krank und scheut jede Anstrengung. Als er von einem Kuraufenthalt in Montpellier zurückkehrt, hat «Mama» einen neuen Geliebten: Wintzenried, von Beruf Perückenmacher. Jean-Jacques muss den Haushalt verlassen. Eine Kränkung für immer. geplante Aufstieg will nicht gelingen Ω bis er realisiert, dass er Zugang finden muss zu einem der Pariser Salons, die von resoluten und einflussreichen Damen geführt werden. Eine dieser Damen verschafft ihm Arbeit. In Venedig wird er Sekretär des französischen Botschafters, nun glaubt er sich auf dem Weg zur Diplomatenkarriere. Es kommt anders. Zwar scheint er gute Briefe schreiben zu können, aber er ist überheblich, aufbrausend und korrupt. Und er hat ein Talent, die Gunst des Augenblicks zu versäumen und sich hinterher darüber zu ärgern. Kritiker des Fortschritts Karl-Heinz Ott lenkt seinen Rousseau sehr geschickt und immer unterhaltsam durch die biografisch verbürgten Stationen, aber er präsentiert keine Biografie, nennt keine Jahreszahlen und hält kein Philosophieseminar. Er zeigt seinen Jean-Jacques gleichsam von hinten, als den oft Verzweifelten, Suchenden, von Grössenwahn und Verfolgungsängsten Geplagten. Als Erotomanen, der sich ständig in Frauen verliebt und sich durch Onanieren vor deren Nähe schützt. Als einen, den viele Zufälle voranbringen und Vorbehalte bremsen. Als Rousseau in Paris vom Preisausschreiben einer Akademie erfährt, beschliesst er, daran teilzunehmen. Es geht um die Frage, ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste unsere Sitten Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) mit «Mama», seiner ersten Geliebten, Madame de Warens, in Annecy. verfeinert oder verdorben habe. Als er Diderot davon erzählt, rät ihm dieser, den Fortschritt nicht zu rühmen: Loben sei bloss langweilig. Kritik am Fortschritt hingegen werde auffallen. Diderot, der das als Spiel auffasst und selber kein Wort davon glaubt, diktiert ihm auch gleich die ersten paar Sätze. Rousseau muss sich anfänglich überwinden, den Faden weiterzuspinnen. Mit seiner furiosen Kritik an den Folgen des Fortschritts wird Rousseau den ersten Preis gewinnen, und damit hat er auch sein lebenslängliches Thema. Er wird ein einfaches, aber ziemlich turbulentes Leben führen, zusammen mit seiner Geliebten Thérèse, und er wird sich konsequenterweise mit den führenden Aufklärern verkrachen. Viele Adlige wiederum suchen bei ihm, der alle seine fünf Kinder im Waisenhaus abgeliefert hat, Rat in Fragen der Erziehung. In seinem grandiosen Roman zeichnet Ott eine höchst interessante, von Widersprüchen geprägte Figur. Dass sie von belegbaren Daten gestützt wird, ist hier zweitrangig. Interessanter ist das Bild eines Menschen, der sich buchstäblich ins Gewühl seiner Epoche stürzt und seine tragische Zerrissenheit auf skandalöse Weise auslebt Ω und in vielem aus dem Rahmen eben dieser Epoche fällt. Otts Roman erzählt damit, indirekt und mit leichter Hand, auch von den Bedingungen, unter denen das Neue entsteht. Es sind oft krumme Wege.● Von Ehrgeiz getrieben SCALA ARCHIVES In «Wintzenried» erzählt Karl-Heinz Ott die Geschichte von Jean-Jacques Rousseau, die Geschichte eines Mannes, der zunächst unschlüssig durchs Leben dümpelt. Eine Ausbildung hat er nicht, von vielem bloss ungefähre Vorstellungen, eigentlich kann er noch nichts. In seinen Phantasien jedoch könnte er alles werden: Komponist, Pfarrer, Diplomat. Einen Versuch als Komponist wagt er in Lausanne, wo er sich sehr kokett als Musiker präsentiert und den Auftrag bekommt, ein Menuett zu komponieren. Dessen öffentliche Aufführung wird zur Blamage. Und weil er mit dem Notensystem nicht zurechtkommt, beschliesst er kurzerhand, ein neues zu erfinden, eines, das nur mit Zahlen operiert. Das wird dann die nächste Blamage. Mit seiner Erfindung im Gepäck macht er sich auf nach Paris. Er will anerkannt, berühmt werden. Er lernt Diderot kennen, der gerade ein grosses Projekt wälzt, die «Encyclopédie», aber der 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Das preisgekrönte Werk von Youssef Ziedan erzählt vom bewegten Leben eines Geistlichen aus dem fünften Jahrhundert Stachel im Fleisch eines christlichen Mönchs Arabischen von Larissa Bender. Luchterhand, München 2011. 448 Seiten, Fr. 32.90. Von Susanne Schanda Schon der Titel ist für die religiöse Leserschaft eine Provokation: «Azazel» heisst im Alten Testament wie im Koran Satan, gefallener Engel oder auch Sündenbock. Er spielt die treibende Rolle in Youssef Ziedans preisgekröntem Roman und ist zugleich der Stachel im Fleisch des ägyptischen Mönchs Hypa. Ketzerisch fragt Azazel den von Glaubenszweifeln gepeinigten Mönch: «Hat Gott den Menschen erschaffen oder umgekehrt?» Der Autor Youssef Ziedan beschäftigt sich als Philosoph, Sufismus-Forscher und Direktor der Handschriftenabteilung der Bibliothek von Alexandria seit Jahrzehnten mit alten Schriften. Nach etlichen wissenschaftlichen Büchern hat er für seinen zweiten Roman «Azazel» 2009 den Arabischen Bookerpreis erhalten. In Ägypten löste der Roman einen Sturm der Entrüstung aus und wurde zum Bestseller. Mehrere Bischöfe der Koptisch-Orthodoxen Kirche warfen Ziedan vor, den christlichen Glauben zu verunglimpfen, sprachen ihm als Muslim das Recht ab, über das Christentum zu schreiben, und forderten ein Verbot des Buches – erfolglos. Löste Kontroverse aus Auch muslimische Geistliche ereiferten sich über den Roman, in dem ein junger Mönch zwischen der asketischen Hingabe an den Glauben und seinen körperlichen Begierden hin und her gerissen wird. Zwar hat die Kontroverse dem Buch zusätzliche Popularität verschafft. Dennoch bedauert der Autor im Gespräch die Angriffe: «Es ist absurd, mir vorzuwerfen, dass ich das Christentum schlecht mache. Mein Roman richtet sich gegen keine Kirche, sondern gegen die Haltung, im Namen der Religion Gewalt auszuüben. Er thematisiert das Menschsein in seiner Vielfalt von Fühlen, Denken, Glauben, Zweifeln und Sehnen.» Youssef Ziedan hat seine Geschichte in der frühchristlichen Zeit in Ägypten, Palästina und Syrien angesiedelt, als die Kirche von theologischen Kontroversen 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 und Machtkämpfen erschüttert wurde. Erzähler ist der Mönch Hypa, angetrieben von Azazel, einer schillernden, lockenden sowie irritierenden Figur, die er zuerst entrüstet zum Schweigen bringen will, schliesslich aber als innere Stimme erkennt. Auf 30 Pergamentrollen schreibt er seine Erinnerungen nieder, gequält von Schuldgefühlen und um seinen Glauben ringend. Hypa stammt aus einem Dorf im südlichen Ägypten, wo an der Schwelle zum fünften Jahrhundert noch der Glaube an die alten ägyptischen Götter herrscht. Als junger christlicher Mönch studiert er Medizin und bricht dann auf gegen Norden. Im kosmopolitischen und intriganten Alexandria lässt er sich von der schönen Oktavia zur Lust verführen und beinahe um den Verstand bringen. Als mindestens so sündhaft gelten der Kirche allerdings die Vorträge der heidnischen Philosophin, Astronomin und Mathematikerin Hypatia, denen er fasziniert lauscht. Entsetzt und machtlos muss er mit ansehen, wie die Gelehrte von einem christlichen Mob angegriffen und zu Tode geschleift wird. ANDREA PISTOLESI / TIPS / BILDAGENTUR ONLINE Youssef Ziedan: Azazel. Aus dem Brennend aktuell Der Schock dieser Gewalttat im Namen des Christentums wird zum Wendepunkt, vertreibt ihn aus Alexandria, vorerst nach Jerusalem und von dort weiter in ein abgelegenes Kloster auf einem Hügel nördlich von Aleppo. Hier will er sich nach seiner abenteuerlichen Wanderschaft mit nur 33 Jahren der Welt entziehen, sich dem Studium und seinem Kräutergarten widmen und als Arzt den notleidenden Menschen helfen. Doch es kommt anders. Der Roman erzählt die Ereignisse nicht chronologisch, sondern folgt den Erinnerungssprüngen des Mönches. Gerade dessen innere Auseinandersetzung lässt uns als Lesende mitfiebern und atemlos weiterblättern, als würde sich das Geschehen hier und jetzt vor unseren Augen abspielen. Youssef Ziedan erzählt auf der Folie der Geschichte einen modernen Entwicklungsroman von brennender Aktualität. Ein Vergleich mit dem amerikanischen Thriller «Da Vinci Code» bietet sich an, greift aber zu kurz. «Azazel» ist keine leichte Kost, sondern ein philosophischer Roman, der sich mit arabischer Theologie, Moral und der Selbstverantwortung des Einzelnen auseinandersetzt. Er ist Youssef Ziedan sucht in seinem Roman nach dem Licht im Dunkeln. Koptischer Mönch im Kloster von Wadi Natrun in Ägypten. «mit Blut, Schweiss und Tränen geschrieben», wie der Autor sagt. Umso mehr freut es ihn, dass der Roman gerade bei jungen Lesern so gut ankommt. In Ägypten hat inzwischen sein jüngster historischer Roman das Buch «Azazel» von der Spitze der Bestsellerlisten verdrängt. Der Autor wird bei seiner Arbeit von einem aufklärerischen Impuls getrieben: «Ich habe bereits 55 Bücher geschrieben, und immer mit dem Anspruch, Licht ins Dunkel zu bringen, Verständnis für unser kulturelles Erbe zu wecken.» Sein Arbeitsplatz, die geschichtsträchtige Bibliothek von Alexandria, wurde einst von Cäsar angezündet und vor rund zehn Jahren in Zusammenarbeit mit der Unesco wieder errichtet, mit Blick aufs Mittelmeer. «Wozu haben wir die Bibliothek wieder aufgebaut, wenn nicht, um aufzuklären?» fragt Youssef Ziedan. ● Briefwechsel Die beiden österreichischen Autoren Joseph Roth und Stefan Zweig tauschten sich über persönliche Probleme und Schriftstellerkollegen aus «Roosevelt ist ein Schwindler» «Jede Freundschaft mit mir ist verderblich». Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927–1938. Hrsg. Madeleine Rietra. Wallstein, Göttingen 2011. 623 Seiten, Fr. 53.90. Von Arnaldo Benini Ein Briefwechsel mit eher wenigen Briefen legt selten Zeugnis für eine Existenz ab. Genau dies jedoch ist der Fall bei Joseph Roth und seiner elfjährigen Korrespondenz mit Stefan Zweig. Der Band enthält 219 Briefe von Roth, 49 Antworten Zweigs, einige Briefe zwischen Roth und Zweigs Ehefrau Friderike, Ausschnitte von 58 Briefen mit Bezug auf Roth, fast alle von Stefan und Friderike Zweig an Bekannte gerichtet, sowie Zweigs Nachruf auf den 1939 verstorbenen Freund. Ein Kommentar und ein historisch-biografisches Nachwort vervollständigen das hervorragend edierte Werk. Allerdings ist nur ein Bruchteil des Briefwechsels der Jahre 1927 bis 1938 erhalten, die Roth und Zweig teilweise im Exil verbrachten. Im Exil Verfasstes geht leicht verloren, weil die Geflohenen nur das Nötigste mitnehmen – und Roth reiste pausenlos «nur mit drei Koffern» durch ganz Europa. «Ich bin entsetzt» schreibt er im Juli 1933 an Zweig, «ich habe kein einziges meiner Bücher.» Roth richtet seine Briefe an den «sehr verehrten und sehr lieben Stefan Zweig», ohne den 13 Jahre Älteren und viel Bekannteren je zu duzen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, greifen die beiden Autoren kaum politische und kulturelle Themen auf. Roths Briefe an den geduldigen und grosszügigen Zweig sind eine Litanei an Klagen über familiäres Unglück und über «unsägliche Peinlichkeiten», verursacht meist durch den Alkohol, der das erzählerische Talent bedroht und die Honorare hinwegspült. Der Ton ist jeweils ultimativ: Zweig muss sofort antworten, er muss «Geld telegraphisch anweisen», weil Roth sonst verhungern oder der Lynchjustiz der Gläubiger anheimfallen würde, er muss sich bei einem Verleger sofort für ein Buch einsetzen, das Roth, wie sich später herausstellt, bereits einem anderen abgetreten hat. Roth ist für die erbrachten Dienste zwar dankbar, aber wenn Zweig nicht reagiert, überschüttet er ihn mit Verachtung oder schreibt ihm, um ihn zu verletzen. Er ist sich bewusst, dass er die Beziehung missbraucht: «Jede Freundschaft mit mir ist verderblich.» Die Geduld des Wiener Aristokraten Zweig jedoch ist unendlich. 1934 schreibt er einer Freundin, es sei «furchtbar schwer» mit Roth. Er sehe «keinen Ausweg mehr», weil ihn «der Alkohol ganz unterhöhlt». Die Freundschaft dauerte bis zu Roths Tod 1939. Dessen Urteile über Kollegen sind von Ressentiments geprägt und meist masslos: Thomas Mann «ist einfach naiv und dem eigenen Talent geistig nicht gewachsen». «Die Geschichten Jaakobs» haben ihn «direct angewidert. Es ist eine Schande, eine Schamlosigkeit». Am 31. August 1933 ist er sicher, dass der «Usurpator der Objektivität» Thomas Mann imstande sei, sich «mit Hitler auszusöhnen». Bei René Schickele liegt «Feigheit» vor, beim «Krakehler» (sic) Döblin «irritierender Infantilismus», und Romain Rolland ist «ein falscher Prophet». Beide Briefpartner sind überzeugte antizionistische Juden. Roth schreibt 1935 an Zweig: «Die Zionisten stehen den Nazis sehr nahe.» Roosevelt ist für ihn «ein Schwindler, ein grosser Gauner, ein Gangster». Das sind Beispiele einer innerhalb der deutschen Emigration häufigen Aggressivität, oft in der meisterhaften Sprache verfasst, die man aus Roths Romanen und Erzählungen kennt. Anders als Zweig hatte Roth bereits kurz nach Hitlers Machtergreifung keine Zweifel, dass ein Krieg bevorstehe. Gemeinsam mit Thomas Mann gehörte er zu den wenigen, die zu jener Zeit über ein sicheres Gefühl für die Realität verfügten. Zweig dagegen ist auffällig zurückhaltend und beschränkt sich auf Trost und Empfehlungen: Sein Freund solle dem Alkohol abschwören, so wie Zweig auf seine täglich 20 Zigarren verzichtet hat, und nicht überreizt gegen alles und alle schwadronieren. Vergeblich – die gut gemeinten Ratschläge vermögen gegen die Verzweiflung des Freundes nichts auszurichten. Zweig stand Roth sehr nahe und hat ihn aufrichtig bemitleidet. Es fehlte ihm aber die Überzeugungskraft, dem Freund entscheidend zu helfen. Der Briefwechsel zwischen Roth und Zweig widerspiegelt die Tragödie von Roths Leben – mit Intermezzi einer opera buffa. ● Entschleunigung Die Kehrseite der Moderne Dass unser Leben immer hektischer wird, erfahren wir täglich. Dass wir gerne mehr Ruhe hätten, ohne auf Schnelligkeit verzichten zu müssen, wissen wir auch. Hussein Chalayan zeigt uns, wie das Paradox aussehen könnte. In einer Videoinstallation lässt der 1970 auf Zypern geborene Künstler eine Frau mit Hochgeschwindigkeit von London nach Istanbul reisen. Ganz entspannt sitzt sie in einer Kapsel, isst gelegentlich etwas oder lässt Badewasser einlaufen. Die Landschaft saust an ihr vorbei. Ausser hin und wieder einem Atomkraftwerk ist nichts zu erkennen. Im Moment äusserster Ruhe wird das Aussen zur Staffage. Die Zeitreise gehört seit Jules Verne zur Moderne, Hollywood hat das Thema ausgeschlachtet. Spätestens seit 1776 James Watt die erste Dampfmaschine installiert hat, gilt Geschwindigkeit als Inbegriff von Fortschritt und Zukunft. Die Futuristen haben sie vor dem Ersten Weltkrieg gefeiert, Skeptiker wie Jean Tinguely haben sie ein paar Jahrzehnte später mit sanfter Ironie hinterfragt. Seine Maschinen laufen leer und machen einen Höllenlärm. Das Widerspiel von Ruhebedürfnis und Beschleunigungssehnsucht wird in dem Band, der eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg begleitet (bis 9. 4.), in seinen vielen Kapiteln von der Romantik an ausdrucksstark aufgefächert. Die Kunstgeschichte lässt sich auch unter diesem Aspekt betrachten. Aus dem Dilemma unserer Wünsche werden wir allerdings nicht entlassen. Gerhard Mack Markus Brüderlin (Hrsg.): Die Kunst der Entschleunigung. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 260 Seiten, 402 Abbildungen, Fr. 66.50. 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Autobiografischer Roman Ein niederländischer Autor setzt seinem Sohn ein Denkmal Wenn Literatur zur Trösterin wird A. F. Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2011. 671 Seiten, Fr. 26.90. Von Sieglinde Geisel ROBERT RIZZO / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF Von der Trauer um einen geliebten Menschen bleibt niemand verschont, auch nicht die Schriftsteller. Mit «Tonio» hat der niederländische Autor A. F. Th. van der Heijden seinem Sohn ein Denkmal gesetzt: Am frühen Morgen des 23. Mai 2010 verunfallte Tonio in Amsterdam mit dem Velo, am gleichen Tag starb er, noch nicht 22-jährig. «Solange die Literatur den Tod nicht zu überwinden vermag, hat sie nach meiner Auffassung die Rolle (Funktion) einer Trösterin bei allen Todesängsten.» Diese Zeilen von 1981 stammen aus einem Band mit Notizen aus dem Alltag. Nun stellt van der Heijdens «Requiemroman» die Rolle der Literatur als Trösterin auf die Probe. Diffuse Lichtgestalt «Wenn ich es (…) jetzt schreibe, schon in diesem Sommer, wird es ein Bericht von innen (…), direkt aus der Gefühlsverwirrung heraus … Das Schreiben wird dann zu einem Teil des Ringens, und umgekehrt.» Ende Mai, eine Woche nach Tonios Tod, hat van der Heijden mit dem Buch begonnen, so erfährt man gegen Ende der 671 Seiten. Er habe seinem Gedächtnis freien Lauf gelassen und dieses Material dann «in einer Struktur untergebracht, die in etwa der eines Romans gleicht» – mit dem Ziel, seinen Sohn «in Prosa lebendig zu erhalten». Die strenge äussere Form, in der die Aufzeichnungen komponiert sind, erweckt den Eindruck, das Chaos der Gefühlsverwirrung lasse sich in eine Ordnung bannen – als wäre das eigene Leben, der eigene Schmerz ein Romanstoff, über den der Autor verfügen könnte, der am «Schwarzen Pfingstsonntag» aus seiner Ruhe gerissen wurde. Zwei Polizisten melden, Tonio liege «in kritischem Zustand» im Operationssaal. Der Bericht über die folgenden quälenden Stunden wird nun mit weiteren Zeitebenen verflochten: mit Erinnerungen an das Kind Tonio, Gesprächen mit seinen Freunden über den letzten Tag, Versuchen, den Unfall zu rekonstruieren, Reflexionen über Schuldgefühle. Stolz signiert der achtjährige Tonio bei Lesungen die Bücher seines Vaters. Später macht er sich über dessen Arbeitswut lustig: «Bist du schon bei zehn Seiten pro Tag?» – «Fünf sind das Minimum (…). Sechs, sieben sind machbar. Acht ist ein Supertag», so die Antwort. 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 A. F. Th. van der Heijden verarbeitet seine Trauernotizen über den bei einem Velounfall verstorbenen Sohn zu einem Requiem. Zum Streit kam es nie, auch später nicht. Tonio erscheint als eine Lichtgestalt, die undeutlich bleibt, ebenso wie seine Mutter Mirjam. Wie privat ist dieser Requiemroman? Bisweilen blättert man in einem literarischen Familienalbum, das einen nichts anzugehen scheint, doch in der nächsten Szene ist man unmittelbar berührt. Mit den Eltern stehen wir am Spitalbett des sterbenden Sohns. «Er schlief nicht, und er war auch noch nicht aus dem Traum erwacht, der das Leben war.» Wenn van der Heijden nicht nur seinen eigenen Schmerz erforscht, sondern das Wesen der Trauer überhaupt, ist nichts mehr privat. «Ich lief umher wie ein bis ins Mark betrogener Liebhaber, in dem die Liebe immer noch wächst und wächst.» «Wir liessen den Nerv frei liegen und erzwangen so den Schmerz, der uns mit Tonio verband.» Neben solchen Sätzen begegnet man in diesem offenbar schnell geschriebenen Buch allerdings auch Phrasen aus dem Allgemeinwortschatz des Trauerns. «In Tonios Tod kann ich keinerlei Ziel, keinerlei Sinn entdecken.» Auch Mirjam findet keine eigenen Worte für den Schmerz: «So schrecklich … so schrecklich, dass ich ihn nie mehr sehen werde.» Das sind Sätze, wie sie jeder sagen könnte, und deshalb bleiben sie in der Literatur ohne Wirkung. Der sprachliche Übermut wiederum, der in den ausgreifenden Romanzyklen van der Heijdens so kraftvoll daherkommt, erzeugt hier, wo es um sein eigenes Leid geht, grell verunglückte Sätze. «Der gestorbene Tonio ruht unausweichlich schwer und reglos in der wimmernden Hängematte meiner Aufmerksamkeit.» Berührend ehrlich Welchen Massstab soll man an diese Tagebuch-Notizen in Romanform anlegen? Man ist berührt von der Ehrlichkeit, mit der van der Heijden seine Trauer mitteilt – umso mehr jedoch schmerzen die vielen Sätze, die dem Floskelhaften, Alltäglichen verhaftet sind. «Diese Notizen haben KEINEN LITERARISCHEN ANSPRUCH, die jetzigen nicht und auch nicht die zurückliegenden», so hiess es in der Notiz-Sammlung «Engelsdreck». Auch «Tonio» besteht aus Alltagsnotizen, allerdings aus einem Alltag im Ausnahmezustand. Es sei ihm nicht gelungen, zum Kern dessen vorzudringen, was wirklich passiert sei, notiert van der Heijden nach einem Besuch bei seinem Bruder. Diesen Eindruck hat man auch nach der Lektüre: Der Plauderton, der über weite Strecken herrscht, nimmt den Ereignissen ihr Gewicht. Man hat dieses dicke Buch nicht nur überraschend schnell gelesen, man hat es auch «gern» gelesen. Doch dies ist das falsche Kompliment. Was fehlt, ist jener Trost, den Literatur zu geben vermag, wenn sie den Schmerz durch Sprache verwandelt. ● Roman Unspektakulärer Alltag, klischeehaft geschildert Eine alte Dame gerät in Wut Kurzkritiken Belletristik Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. S. Fischer, Frankfurt 2011. 127 Seiten, Fr. 25.90. Iren Baumann: Noch während die Pendler heimfahren. Gedichte. Waldgut, Frauenfeld 2011. 80 Seiten, Fr. 20.10. Über der bürgerlichen Kindheit liegt die Trägheit der Sonntagnachmittage und der Sommer auf dem Land. Bei der 44-jährigen Katharina Hacker, deutsche Buchpreisträgerin («Die Habenichtse», 2006), sind es die Sommer, welche die gebürtige Frankfurterin mit ihrer Familie in einem Odenwalder Dorf zubrachte. In ihrem schmalen Buch gibt sie weniger eine titelgebende «Geschichte» wieder als atmosphärische Erinnerungspassagen: Arier-Dokumente im Estrich, Hitze, Gewitter, die wilde Fantasie der drei Geschwister, Dorfdeppen, die verehrte Grossmutter. Die Autorin erzählt aus der Gegenwart heraus, das Autobiografische kryptisch verneinend. Wozu? Das verschleiernd Märchenhafte im Ton, in der Syntax bleibt und damit die Stimmung, die einen einhüllt wie ein samtenes Futteral. Oder wie die Langeweile eines Sommers auf dem Land. Regula Freuler Die Lyrikerin Iren Baumann gehört zu den originellsten Stimmen der Zürcher Literaturszene. Das Werk der 1939 geborenen Dichterin ist schmal, aber bedeutsam. Fünf Gedichtbände umfasst es mittlerweile. Die reimlosen, in freien Rhythmen gehaltenen Zeilen widerspiegeln oft Alltagsbeobachtungen und kommen ohne prätentiöses Vokabular aus, sind aber doch hintersinnige Wortgespinste. Zärtlichkeit und Genauigkeit verbinden sich in ihnen mit einer koboldhaften Heiterkeit. Iren Baumann sieht in die Menschen hinein und durch sie hindurch, scheinbar simple Dinge schimmern bei ihr in einem gebrochenen Licht und offenbaren so eine ungeahnte Schönheit. Die aber steht niemals still: Denn Kobolde haben einen sicheren Instinkt, der sie alle Feierlichkeit vermeiden und stets neue Volten schlagen lässt. Manfred Papst Friedrich Achleitner: Iwahaubbt. Gedichte im Dialekt. Zsolnay, Wien 2011. 208 Seiten, Fr. 25.90. Nancy Mitford: Landpartie mit drei Damen. Satirischer Roman. Graf, München 2011. 247 Seiten, Fr. 24.50. Der 1930 im oberösterreichischen Schalchen geborene Friedrich Achleitner ist Schriftsteller, Architekt und emeritierter Professor für angewandte Kunst. 1955 stiess er zur Wiener Gruppe um Bayer, Artmann und Rühm. Er publizierte Dialektgedichte sowie Konkrete Poesie und Montagetexte. Berühmt wurde sein experimenteller «Quadratroman» von 1973. In den letzten Jahren hat er mehrere Sammlungen von kurzen Texten publiziert, in denen sich Beobachtungsgabe, kauziger Humor und Sprachmusikalität verbinden. Nun legt er unter dem Titel «Iwahaubbt» seine gesammelten, im Dialekt des Innviertels verfassten Gedichte vor. Sie sind im Lauf eines halben Jahrhunderts entstanden und von vielfältigem Zauber. Übermütig spielen sie mit Formen wie der Stanze und Litanei. Nicht immer sind sie auf Anhieb zu entziffern. Für neugierige Sprachspieler aber sind sie ein unerschöpflicher Quell des Vergnügens. Manfred Papst Herausfordernd und doch mit jener Gelassenheit der Selbstbewussten schaut sie einen an auf der Umschlagfoto. Der Eindruck täuscht nicht: Nancy Mitford (1904–1973), Tochter eines britischen Barons, scheute keine Konflikte, weder im Privaten noch im Schreiben Ω bei letzterem mit Erfolg. Auch im Roman «Wigs on the Green», der nun zum zweiten Mal auf Deutsch übertragen wurde, seit er 1935 im Original erschienen ist, nimmt ihr bekannter Witz keine Rücksicht auf die Nächsten. Die da waren: sechs Geschwister, darunter zwei glühende Hitler-Verehrerinnen (die eine, Guinness-Erben-Gattin, liess sich scheiden, um den Faschistenführer Sir Oswald Mosley zu ehelichen). In Porträts von beissendem Spott lässt die Autorin Nancy Mitford die Verwandtschaft auftreten. Eine Neuauflage verhinderte sie 1951: Zu viel Grausames sei im Krieg geschehen. Aus heutiger Sicht: Eine grossartige Groteske! Regula Freuler Stewart O'Nan: Emily, allein. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt, Hamburg 2011. 352 Seiten, Fr. 30.50. PETER PEITSCH Von Simone von Büren Betagte Protagonisten, gebrechlich, vergesslich und kompliziert, gibt es in der Literatur wenige. Bei Stewart O’Nan, der Thriller schreibt und sich gerne mit dramatischen Stoffen befasst, erwartet man sie schon gar nicht. Doch nun hat der Amerikaner mit «Emily, allein» einen Roman über eine alte Frau geschrieben, deren «Leben keine dringende oder notwendige Angelegenheit mehr» ist. Emily ist über achtzig und seit Jahren verwitwet, eine pflichtbewusste Dame, die viel erwartet und leicht enttäuscht wird – etwa wenn Kinder und Enkel zu früh abreisen und keine Dankesbriefe schreiben. Ihr Leben besteht aus langen Hundespaziergängen, Frühgottesdiensten und dem Ausschneiden von Rabattgutscheinen. O’Nan beschreibt Emilys unspektakulären Alltag gewissenhaft und in nüchternem Stil. Das Irritierende dabei ist, dass er Dinge behauptet, anstatt sie sichtbar zu machen: Der Drittpersonerzähler beschreibt eine Frau, die zu Hause gerne klassische Musik hört und in Fotoalben blättert, sagt dann aber, dass sie sich in ihrem Haus «klaustrophobischen Gedanken ausgeliefert» fühlt. Er zeigt uns eine unscheinbare Dame, höflich und angepasst, sagt aber, sie habe schlimme Wutanfälle. Und statt ihre Empfindungen zu beschreiben, legt er ihr Sentenzen in den Mund: Angesichts des Todes «in Hysterie zu verfallen hatte keinen Sinn». Was der 50-jährige Autor vorlegt, ist ein Klischee von Alter. Auf den 350 Seiten kommt alles vor, was man mit dem Alltag einer betagten Frau assoziiert: Vergesslichkeit, Angst vor Stürzen «beim Auffüllen des Vogelhäuschens», das Wählen der republikanischen Partei auch nach Bush, Schlaflosigkeit, Abhängigkeit von Nachbarn, Fixiertsein auf ein Haustier, Hang zu Paranoia, Arztbesuche, Testamentschreiben, Beerdigungen, verklärte Erinnerungen. Es fehlen die unerwarteten Einzigartigkeiten, die eine Figur lebendig machen. Nur Ansätze dazu sind zu erkennen: Etwa wenn Emily merkt, dass man ihr in ihren geliebten viktorianischen Filmen die Nebenrolle der schrulligen Alten geben würde, während sie sich selber immer noch in der Hauptrolle sieht. ● 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Charles Dickens (1812–1870) mutet seinen Leserinnen und Lesern ganz viel Kitsch zu, schreibt aber so unvergesslich wie kein zweiter Autor. Andreas Isenschmid hat mit dessen Werk einige Lesewochen verbracht Verliebt in die Romane eines 200-Jährigen Alle, soweit sie Klassiker lesen, halten es mit Stendhal, Flaubert und, etwas seltener vielleicht, mit Balzac. Alle lesen Jane Austen und George Eliot. Aber Charles Dickens? Er ist eher eine Angelegenheit des gehobenen (und gekürzten) Jugendbuches, ferner ein englischer Nationalsport. Aber wirklich gelesen wird er, einer repräsentativen Langzeitbeobachtung meines Lesefreundeskreises zufolge, kaum. «Mit Dickens hatte ich immer Mühe» – keinen Satz habe ich in den zurückliegenden Wochen meiner Dickens-Lektüre häufiger gehört. Dabei ist es kinderleicht, sich in den alten Dickens zu verlieben. Meine todsichere DickensVerführungsanthologie besteht aus den ersten dreissig Seiten seiner drei besten Romane. Wer die Anfangskapitel von «Bleakhaus», von «Grosse Erwartungen» und von «Unser gemeinsamer Freund» liest, um den ist es geschehen. Es wer- Charles Dickens Vor 200 Jahren, am 7. Februar 1812, kam Charles Dickens zur Welt, am 9. Juni 1870 ist er gestorben. Wer sein produktives Leben verfolgen will, findet in Hans-Dieter Gelferts Biografie einen verlässlichen Begleiter, der auch die wichtigsten Werke vorstellt (C. H. Beck, 380 Seiten, Fr. 40.90). Hinreissend geschrieben ist Claire Tomalins englischsprachige Biografie mit fabelhaften Bildern (Penguin, 530 S., Fr. 29.50). Wie der Jüngling Dickens sich über Nacht in einen Literaturstar verwandelte, zeigt Robert Douglas-Fairhurst in «Becoming Dickens» (Harvard University Press, 390 S., Fr. 39.90). Die feinsten Neuübersetzungen stammen von Melanie Walz: Sie hat den späten Roman «Grosse Erwartungen» herausgegeben (Hanser, 830 S., Fr. 46.90) und die teils erstmals übersetzten Reportagen «Reisender ohne Gewerbe» (C. H. Beck, 128 S., Fr. 21.90). 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 den in seinem imaginären Lesermuseum einige Szenen, Figuren und Stimmungen auf ewig mit einer Kraft strahlen, wie sie bei den oben genannten Klassikern eher selten vorkommt. Nehmen wir die Ouvertüre der «Grossen Erwartungen», die Hanser in einer fabelhaft kommentierten Übersetzung neu herausgebracht hat. Dickens war 48 Jahre alt, als er das Buch begann, neben «David Copperfield» sein einziger durchgängig in der ersten Person erzählter Roman. Und wie «Copperfield» und «Oliver Twist» beginnt er in der Welt eines Kindes. Pip, wie der Held heisst, mag sechs, sieben Jahre alt sein, als er am Tag vor Weihnachten, «an einem denkwürdigen nasskalten Nachmittag, der sich zum Abend neigte», seine «erste und eindringliche Vorstellung von der wahren Beschaffenheit der Dinge» erhält. Erst begreift er auf dem Friedhof vor den Grabsteinen seiner Eltern und Geschwister aufs mal, was er und seine Welt sind: dass er ein Waise ist, dass das feuchte, von Gräben und Schleusen durchzogene Marschland seine Heimatgegend ist und «dass das kleine Espenlaubbündel, das sich vor alledem zu fürchten und zu weinen begann, Pip war». Im gleichen Augenblick begreift er auch, wie diese Welt ist: finster und brutal. Ein schrecklich aussehender Mann mit einem grossen Eisen am Bein, ein Sträfling, wie sich zeigen wird, springt zwischen den Gräbern hervor, herrscht ihn an, hält ihn an den Füssen in die Luft und fordert ihn unter brutalsten Todesandrohungen auf, ihm am andern Morgen Esswaren und eine Feile zu bringen. Es liesse sich nun lange weiter resümieren, wie Pip nach Hause geht, unter Qualen stiehlt, sich im Frühnebel rausschleicht und wie schliesslich mitten im Weihnachtsmahl, gerade als sein Diebstahl aufzufliegen droht, Soldaten auf der Suche nach entflohenen Sträflingen ins Haus dringen. Zum Schluss ist Pip auf dem Rücken seines Pflegevaters in einfallender Nacht und im eisigen Graupelschauer dabei, als die Sträflinge wie in einer BBC-News-Sendung von heute unter Geschrei, Schüssen, Fackellicht blutend aus einem Schlammgraben gezogen und in Handschellen gelegt werden. Aber Literatur lässt sich nicht zusammenfassen, und Dickens am wenigsten. Man muss sein erzählerisches Grossgenie haben, um auf dreissig, vierzig Seiten eine so dichte, tiefe, stim- Es ist bekannt, dass Dickens aus dem Schicksal von Kindern in seelischem und körperlichem Elend literweise sentimentalen Kitsch-Sirup gepresst hat. mungsstarke und komplexe Welt zu erzeugen, wie sie uns in den Eröffnungen von seinen grossen Romanen begegnet. Im Vergleich zu diesem Vollkorn sind nicht wenige andere Klassiker bleiches Toastbrot. Kommt dazu, dass in Dickens dichter Ouvertüre der «Grossen Erwartungen» zugleich der ganze Dickens-Kosmos symbolisch drinsteckt. Lebenstrauma des Autors Welches sind die Elemente des Dickens-Kosmos? Zuallererst sind es Kinder in seelischem und körperlichem Elend. Zur Arbeit gezwungene Kinder wie Oliver Twist. Geschlagene Kinder wie Pip, Waisen- und Heimkinder, Kinder mit einer tiefen Sehnsucht nach Wärme, Familie, Aufgehobenheit. Dass Dickens aus dem Schicksal dieser Kinder literweise sentimentalen Kitsch-Sirup gepresst hat, ist bekannt. Man «müsse ein Herz aus Stein haben, um bei Little Nells Tod nicht in Lachen auszubrechen», geht ein böses Wort Oscar Wildes zur Heldin des Romans «Der Raritätenladen»; Dickens hat es sich redlich verdient. Aber die Menge, die im BRIDGEMANART Charles Dickens (1812–1870) mit zwei seiner Töchter, der Schriftstellerin Mary Dickens und der Malerin Kate Dickens, um 1865. 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay noch die geringsten unter seinen Menschenbrüdern, aber den Adel und die herrschenden politischen Eliten übergiesst er mit ätzendem Spott. Selten merkt man das stärker als am Anfang von «Unser gemeinsamer Freund», beim Wechsel von der teilnehmenden, dunkel leuchtenden Schilderung der Leichenfischer in der Themse zur kalten und ganz und gar modernen Satire auf ein Diner bei den neureichen Veneerings. Das hätte Tom Wolfe nicht besser gekonnt. Doch all das wird übertroffen von der Schilderung des Kanzleigerichts am Anfang von «Bleakhaus». Der amerikanische Starkritiker Harold Bloom, der Dickens über Tolstoi und neben Shakespeare stellt, hat das feine Argument formuliert, erst Kafka habe uns geholfen, diesen Anfang richtig zu sehen: als Darstellung einer Rechtskrake, die alle Menschen so unentrinnbar bannt und vernichtet wie das System in Kafkas «Prozess». DDP IMAGES Verwandlung ins Märchenhafte Szene aus dem Film «Great Expectations» (1974), einer amerikanischen Verfilmung des Dickens-Romans. Hafen von New York dem Schiff, das die letzte Fortsetzung des «Raritätenladens» nach Amerika brachte, voller Angst entgegenrief «Ist Little Nell tot?», war auch nicht blöd. In Dickens Kindern steckt ein Leiden und Sehnen, das allen Kitsch übersteigt. Das alles hat natürlich mit Dickens' Lebenstrauma zu tun: als er zwölf Jahre alt war, haben ihn seine Eltern wegen finanzieller Nöte für ein Jahr zur Arbeit in eine Schuhwichsfabrik weggesperrt, bald darauf kam sein Vater für kurze Zeit ins Gefängnis. Diese Erfahrung war für Dickens so traumatisierend, dass er sie sein Leben lang nur einem einzigen Menschen erzählt hat, sie aber doch lebenslänglich hinausschrie, indem er sie in all seine Bücher hineinschrieb. Ein nach seinem Tod publiziertes autobiografisches Fragment über diese Erfahrung wirkt bis in zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen hinein – wie ein Brühwürfel all seiner Werke. Romantechnischer Grossmeister Doch dieses Trauma wäre keiner Erwähnung wert, wenn Dickens es nicht so meisterlich umgesetzt hätte. Einzigartig in der Weltliteratur ist seine feine Darstellung des kindlichen Seelenlebens. Hinreissend ist aber auch, wie er das kindliche Sehnen ins Grosse, in die Handlungen und Baupläne seiner Romane übersetzt. Dickens ist der romantechnische Grossmeister der Familienzusammenführung. Familienkonstruktion ist oft geradezu der Handlungsmotor seiner Bücher. Allenthalben finden Elende und Reiche, Adlige und Depravierte in abenteuerlichen Handlungsverschlingungen als Eltern und deren verlorene, vergessene, totgeglaubte Kinder zueinander. Der Sträfling, der Pip am Anfang des Romans bedroht, wird als sein verkannter Wohltäter ihm den sozialen Aufstieg zu verschaffen versuchen, den seine Eltern ihm schuldig bleiben mussten. Zugleich wird dieser Sträfling sich als der Vater der von Pip lebenslang angebeteten kalten Schönheit Estella herausstellen. Auch für Estellas einst ganz elende Mutter hat Dickens ein warmes Romanplätzchen arrangiert. 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 Interessanter als dieses Plätzchen ist aber die Herkunft der Mutter. Bevor sie Haushälterin (und Geliebte?) eines der abertausend Rechtsanwälte wurde, die Dickens Werk bevölkern, war sie eine gewalttätige Landstreicherin, Herumtreiberin, Mörderin. Sie ist eine der zahllosen Figuren, die Dickens Bücher – zweites Element des Dickens-Kosmos – zu einer sozialgeschichtlichen Enzyklopädie der armen Klassen machen. In Dickens Büchern ist die Lebenswirklichkeit der einfachen und armen Menschen so umfassend und so leuchtend dargestellt wie in keinem anderen Werk der Weltliteratur. Gewiss kannte auch Cervantes die einfachen Leute, Flaubert hat die Geschichte einer Dickens Blick auf das schmutzstarrende, dunkle, elende London, auf die einstürzenden Häuser der Armen ist grossartig und unvergleichlich. Magd geschrieben, Tolstoi wandte sich den Knechten zu, und Zola zeigte, was es bei Dickens noch nicht gibt, Arbeiter im modernen Sinn. Aber Dickens Blick auf das schmutzstarrende, dunkle London, auf die alle Augenblicke einstürzenden Häuser der Armen, auf den elenden «Streifen vorstädtischer Sahara» ist grossartig und unvergleichlich. Bei Dickens und nur bei ihm bekommen die Halbwahnsinnigen, um die wir im städtischen Alltag einen grossen Bogen machen, ihren ausführlichen Auftritt. Jede Gesellschaft wendet vor ihren elendesten Realitäten den Blick weg – Dickens zwang die seine hinzusehen. Das ist der bis heute unendlich bewegende christliche Teil in ihm. Schliesslich kombiniert sich, nächstes Element seines Kosmos, sein sozialer Blick mit einem kritischen politischen Urteil. Er liebt In der Beschreibung des Kanzleigerichts enthüllt sich schliesslich das letzte Element des Dickens-Kosmos. Man kann es das mythische Element nennen. Dickens hat für seine Beschreibung des Kanzleigerichts zwar ausführlich recherchiert, aber zugleich gibt er dem Gericht durch die Art seiner Beschreibung eine mythische Qualität. Er verwandelt eine wohlbekannte Londoner Institution, indem er sie in Düsternis, Nebel und Russ hüllt in einen dunkel drohenden Höllenschlund. Diese Verwandlung reporterhaft realistischer Beschreibungen – Dickens begann als Reporter – in etwas Überwirkliches ereignet sich in vielen seiner Romane. Ausser in mythische Dimensionen kann sie auch ins Märchenhafte, in die Legende, in die Romanze zielen. Immer wieder wehen jedenfalls anderweltliche Schleier und Vorhänge durch Dickens' Hardcore-Realismus. Und oft haben diese Stellen, an denen einem ganz anders wird, mit den kühn überraschenden Identitätsumschwüngen des Autors zu tun: der im finstersten Loch verstorbene Drogensüchtige entpuppt sich als der Liebhaber der schönsten aller schönen und unerreichbaren Ladys – und schon wird die so undurchdringliche Realität auf etwas ganz anderes durchsichtig. Aber: so viele Gründe es gibt, sich in Dickens zu verlieben, reichen sie auch für die Verwandlung der Verliebtheit in Liebe? Zahllose ausschweifende Dickensleser haben genau das bezweifelt. Kafka stiess sich an den «Stellen grauenhafter Kraftlosigkeit, wo er müde nur das bereits Erreichte durcheinanderrührt. Barbarisch der Eindruck des unsinnigen Ganzen». Arno Schmidt: «Der frühe und mittlere Dickens liefert das peinliche Schauspiel eines Schriftstellers, der sein Handwerk liederlich betreibt – ein ‹Meister der Fehlkonstruktion›». Am härtesten ist George Orwells Dickens-Essay, eine aus Liebe geschriebene, unendlich kluge Vernichtung. Niemand erreiche Dickens «im Vermögen, bildliche Vorstellungen zu evozieren. Wenn Dickens etwas einmal beschrieben hat, sieht man es für den Rest seines Lebens». Nur sei Dickens leider ein Autor, «bei dem die Teile wichtiger sind als das Ganze. Er besteht ganz aus Fragmenten, ganz aus Details – scheussliche Architektur, aber wunderbare Wasserspeier.» Freilich muss man auch die Wasserspeier oft quälend lange suchen. Denn Dickens quält seine Leser nicht selten mit endlosen, völlig überflüssigen, komplett statischen Beschreibungen, er martert sie mit Handlungen, die absurd verwinkelt, vollkommen unwahrscheinlich und kaum zu behalten sind. Doch gerade wenn man es mit einem seiner Bücher wieder mal aufgeben will, läuft man in eine dieser unvergesslichen Stellen, und es geht mit der Verliebtheit wieder los. l Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Wer in der wirklichen Welt arbeiten und in der idealen leben kann, der hat das Höchste erreicht. Charles Lewinsky ist Schriftsteller und arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Gerron» ist 2011 bei Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Esther Girsberger: Eveline WidmerSchlumpf. Die Unbeirrbare. Orell Füssli, Zürich 2012. 208 Seiten, Fr. 29.90. Otto Stich: Ich blieb einfach einfach. Autobiografie mit Texten von I. Bachmann. Schwabe, Basel 2011. 144 Seiten, Fr. 28.–. Im Geheimen vorbereitet, wurde das Buch exakt am Tag der Wiederwahl von Eveline Widmer-Schlumpf am 14. Dezember angekündigt. In neun Gesprächen zwischen Herbst 2010 und Juli 2011 befragte Esther Girsberger die BDPBundesrätin über Familienpolitik, Zuwanderung, Bankgeheimnis und andere Themen. Viele Ansichten der «unbeirrbaren» EWS sind bekannt. Aufschlussreich sind ihre Antworten über den Tod ihrer Schwester, ihr Verhältnis zur Macht, oder wenn sie eingesteht, dass sie bei der Kinder-Betreuungsverordnung «einen Bock geschossen» habe. Deutlich wird auch, wie früh die Differenzen zu Christoph Blocher aufgebrochen sind: beim Zwist um die EWR-Abstimmung 1992 und die «MesserstecherInserate» 1993. Der Studienkollege und frühere Preisüberwacher Werner Marti umschreibt EWS’ Charakter treffend mit einem Kletter-Begriff: «Free Solo». Urs Rauber Der gerade 85 gewordene Otto Stich ist der Prototyp eines schweizerischen Dorfpolitikers: bodenständig, bieder, pragmatisch und bauernschlau. Mit 30 wird der Arbeitersohn erster (und bisher einziger) sozialdemokratischer Gemeindepräsident von Dornach (SO). Mit 36 rückt er in den Nationalrat nach, bleibt dort aber ein Hinterbänkler. Bis er 1983 gegen den Willen seiner Partei von den Bürgerlichen zum Bundesrat gewählt wird. Die Bankiervereinigung würdigte den ebenso sozialen wie eigensinnigen Politiker nach seinem Rücktritt 1995 als «hervorragenden Finanzminister». Nun plaudert Stich frank und frei über Internas aus dem Bundesrat, stichelt gegen Adolf Ogi und zieht über die legendäre «SP-Viererbande» (Gerwig, Hubacher, Uchtenhagen und Renschler) her. Der «hartgrindige Schwarzbube» bleibt sich selber auch in seiner schmalbrüstigen Autobiografie treu. Urs Rauber Philipp Blom (Hrsg.): Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien. Ausstellungskatalog. Brandstätter, Wien 2011. 248 S., Fr. 40.90. Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel. 15 Geschichten aus Sils im Engadin. Limmat, Zürich 2012. 180 Seiten, Fr. 34.–. Das Umschlagporträt des schönen Schwarzen mit Turban, gekleidet in ein fürstliches Gewand des europäischen 18. Jahrhunderts, weckt Neugier. In Wien ist Angelo Soliman (1721–1796) eine stadtbekannte Grösse, über deren Ende man aber nicht gerne spricht. Soliman wurde nach seinem Tod gehäutet, wie ein Tier ausgestopft und im kaiserlichen Naturalienkabinett als halbnackter Wilder zur Schau gestellt. Das rassistische Bild des Mohren hatte im letzten Augenblick Überhand gewonnen. Soliman, einst Sklave aus der Sahelzone, hatte sich emporgearbeitet, war hochgebildet, Freimaurer, Lehrer von Fürstensprösslingen und Gesprächspartner von Kaiser Joseph II. Alles in allem das geglückte Leben eines Migranten, ein Erfolg der Aufklärung. Mit der Schändung seines Leichnams verwies die Gesellschaft Soliman aber wieder in die alte Ecke. Geneviève Lüscher Christina Godley führt die Stüva Marchetta, ihre Schwester Maria die Pensiun. Bis heute arbeiten sie sieben lange Tage in der Woche, wie es schon ihre Mutter tat, in Küche, Gaststube und Garten. Sils, darin sind sie sich einig, ist zu gross geworden: «Früher war man überall zu Hause – heute vermögen es die Hiesigen kaum mehr, hier zu wohnen.» Die Schwestern sind zwei von 17 «echten» Silsern und Silserinnen, die die Journalistin Daniela Kuhn aus ihrem Leben erzählen lässt. Sie haben in Gastgewerbe und Landwirtschaft, als Schreiner, Kutscher oder Skilehrer gearbeitet. Sie erinnern sich an illustre Gäste – General Guisan! –, an Zeiten, als die Touristen vor allem im Sommer kamen und noch jeder im Dorf einen Stall hatte. Sie lassen ein altes Sils aufleben, das schon heute von der Luxus-Tourismus-Fassade verdeckt, bald ganz verschwinden wird. Kathrin Meier-Rust Ludwig Börne Ist es Ihnen auch aufgefallen? Seit einiger Zeit stehen hinter dem Autorenvermerk von Artikeln immer häufiger die Worte: «Lebt und arbeitet in . . .» Sprachschludernde Redakteure hauen den Satz unterdessen so automatisch in die Tastatur, wie Werbeleute über ein hunderttausendfach verbreitetes Flugblatt die Lüge setzen: «Ihr ganz persönliches Angebot». Was müssen das für Autoren sein, frage ich mich, die darauf bestehen, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass sie in London, New York oder Bümpliz nicht etwa nur leben, sondern – welche Überraschung! – auch arbeiten? Oder verstehe ich den Satz falsch, und die eigentliche Botschaft lautet: «Ich arbeite nicht nur, sondern – wer hätte das gedacht? – ich lebe auch»? Seit wann, frage ich mich weiter, sind Leben und Arbeiten zwei so ganz und gar verschiedene Dinge, dass man sie in einer biografischen Notiz separat anführen muss? Stellen diese Autoren ihr Leben ein, während sie am Computer sitzen? Sagen sie ihrer Frau am Telefon: «Ich schreibe nur noch diesen Artikel zu Ende, Schatz, aber pünktlich um halb sieben fange ich wieder an zu leben»? Oder, wenn wir schon mal am Ausdeuten sind, finden sie vielleicht vor allem mitteilenswert, dass sie diese beiden so ungeheuer verschiedenen Tätigkeiten aus irgendeiner Marotte heraus tatsächlich in der gleichen Stadt ausüben? Soll der Leser darüber staunen, dass sie nicht etwa in Melbourne leben und gleichzeitig ihrer beruflichen Tätigkeit in Stockholm nachgehen? («Wissen Sie, ich komme auf den täglich dreissig Stunden Flug so schön zum Lesen.») Oder steckt hinter der verquasten Formulierung überhaupt keine inhaltliche Bedeutung? Macht im Kindergarten des Journalismus jeder den gleichen Sprachpurzelbaum, nur weil ihn der andere auch gemacht hat? Ist das Ganze nur – um eines der schönsten Sprachbilder von Karl Kraus seinem ursprünglichen Kontext zu entfremden – der Versuch, auf einer Glatze Locken zu drehen? Ich weiss es nicht. Ich beobachte nur, dass sich diese Formulierungsseuche immer weiter ausbreitet und dass immer noch – Wo bleibt die chemische Industrie, wenn man sie wirklich braucht? – niemand ein wirksames Mittel dagegen entwickelt hat. Ich kann Ihnen lediglich versichern: Während ich diese paar Zeilen zu Computer brachte, habe ich sowohl gearbeitet als auch gelebt. 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Geschichte Lange schwankte das historische Urteil über den preussischen König Friedrich II. zwischen Verehrung und Verdammung. Heute steht seine Ambivalenz im Vordergrund Friedrich der Grosse Christian Graf von Krockow: Friedrich der Grosse. Ein Lebensbild. Lübbe, Köln 2012 (Neuauflage). 224 Seiten, Fr. 31.50. Ute Frevert: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herrscher über die Herzen? Wallstein, Göttingen 2012. 159 S., Fr. 24.50. Johannes Bronisch: Der Kampf um Kronprinz Friedrich. Wolff gegen Voltaire. Landt, Berlin 2011. 125 Seiten, Fr. 28.50. Von Kathrin Meier-Rust Philosophenkönig mit Flöte oder zynischer Machtpolitiker, der Adolf Hitler zum Präventivkrieg inspirierte – lange schwankte das Urteil über Friedrich den Grossen zwischen kultischer Verehrung und absoluter Verdammung. Noch Helmut Schmidt liess als frischgekürter Verteidigungsminister die Büste Friedrichs aus seinem Büro entfernen. Doch mit den grossen preussischen Jubiläumsjahren – zum 200-jährigen Todestag des Königs 1986, zum 300-jährigen Jubiläum des preussischen Königtums 2001 Friedrich der Grosse Friedrich II. wird am 24. Januar 1712 als ältester Sohn des preussischen Königs Friedrich Wilhelm I. und seiner Gattin Sophie Dorothea in Berlin geboren. 1736 bezieht der Kronprinz das Schloss Rheinsberg und widmet sich dem Studium der Philosophie, Geschichte und Poesie. 1740 wird er zum König von Preussen gekrönt. Friedrich II., auch Friedrich der Grosse genannt, gilt als Repräsentant des aufgeklärten Absolutismus. Er führt zahlreiche Reformen in Justiz und Verwaltung durch und versteht sich als «Erster Diener des Staates». Unter seiner Herrschaft etabliert sich Preussen als europäische Grossmacht. Am 17. August 1786 stirbt Friedrich in Potsdam. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 und nun zum 300-jährigen Geburtstag des Königs am 24. Januar 2012 – ist das Urteil der Historiker ausgewogener geworden, steht die abgründige Ambivalenz dieser Figur im Vordergrund. Geblieben ist die Faszination des Königs und seines an Drama so reichen Lebens. Rund zwei Dutzend Neuerscheinungen sollen es sein in diesem Winter: nebst mehreren Biografien etwa die Erstpublikation der Vortragsnotizen des grossen Basler Historikers Jacob Burckhardt zu seiner Vorlesung über «Das Zeitalter Friedrichs des Grossen» (C. H. Beck), neue Darstellungen des VaterSohn-Konfliktes (Pieper) oder von Friedrich als Musiker (C. H Beck) bis hin zum Friedrich-der-Grosse-Gedächtnisspiel. Wo also anfangen? Empfehlenswerter Klassiker Wer einen ersten Zugang sucht greift mit Gewinn zu einem preussischen Klassiker, wie ihn nebst Sebastian Haffner («Preussen ohne Legende») oder Marion Gräfin Dönhoff («Preussen – Mass und Masslosigkeit») auch Christian Graf von Krockow verfasst hat (1986, Neuauflage Lübbe 2012). Der aus pommerschem Adel stammende Historiker lehrte an verschiedenen deutschen Universitäten. In seinem «Lebensbild» Friedrichs II. versteht er es auf glänzende Weise, das biografische Drama dieses Königs mit seiner überragenden Bedeutung für die europäische Geschichte immer neu zu verflechten. Hier findet sich alles: Die Kindheit und Jugend im Zeichen des gewalttätigen «Soldatenkönigs» Friedrich Wilhelm I., dem sein intellektuell und musisch begabter Sohn geradezu physisch zuwider ist; nach dem Fluchtversuch des 18-Jährigen lässt er diesen in den Kerker werfen und die Hinrichtung des Freundes Katte mit ansehen. Die weitgehend autodidaktische Bildung des Kronprinzen zum schöngeistigen Aufklärer, der in den ersten Tagen seiner Regierung Folter und Zensur abschafft (nicht für lange allerdings) und in Preussen Religionstoleranz verkündet, nach dem berühmten Motto «Ein jeder muss nach seiner Façon selig werden». Und der dann wenige Monate später mit der Armee, die sein Vater geschaffen hatte, das österreichische Schlesien überfällt. Der diesen Raub durch drei Kriege hindurch gegen eine Übermacht der europäischen Grossmächte verteidigt und doch den Siebenjährigen Krieg nur dank einem Wunder übersteht: dem «Mirakel des Hauses Brandenburg», das darin besteht, dass die Zarin Elisabeth rechtzeitig stirbt. Es findet sich die Freundschaft des Königs mit Voltaire, die mit der Flucht des Spötters ein bitteres Ende nimmt. Sein tiefgründiger Hass auf Frauen, nicht nur weil mit Maria Theresia in Österreich, Elisabeth in Russland und Madame Pompadour in Frankreich Preussens Erzfeinde sozusagen ein weibliches cherlich nicht empfand, und nahm, trotz seiner Abneigung gegen das Zeremoniell, die althergebrachten Huldigungen entgegen. Ein eigenes Kapitel widmet Frevert dem huldvollen Lüpfen des Hutes, das der berittene König zu praktizieren pflegte: Gegen 200 Mal, berichtet ein Augenzeuge, habe er es auf einem einzigen Ritt durch Berlin getan. Doch um Liebe zum Volk ging es bei alledem kaum: Zu selbstverständlich, zu unüberwindlich war die Distanz eines Monarchen zu seinen Untertanen. FINE ART IMAGES Keine echte Zuneigung Gesicht hatten. Der männerbündische Geist, der Preussens Geschichte prägt, und die zynische Menschenverachtung, die den alternden König verbittern und vereinsamen liess. Der historische Ruhm, den er fand, weil er aus dem Flickenteppich der mausarmen «Sandbüchse» am Rande Europas einen modern verwalteten Militärstaat machte, und der Abscheu, weil er dafür kaltherzig eine Million Tote und die Verheerung seines Landes in Kauf nahm. Einen neuen Zugang sucht die renommierte Historikerin Ute Frevert: Als Vertreterin der «emotionalen Wende» in der Kulturwissenschaft fragt sie nach der «Gefühlspolitik» Friedrich des Grossen. Damit meint sie nicht etwa die wahren Gefühle des Königs, die schlicht nicht zu ergründen seien. Vielmehr geht es ihr um Gefühle als Werkzeuge des politischen Handelns, wie sie in der Politik längst selbstverständlich sind, man denke etwa an den Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto. Es geht darum, wie der König Gefühle einsetzte, in Propaganda, Rhetorik und Selbstdarstellung, um die Zustimmung, ja gar die Liebe seiner Untertanen zu wecken. Denn just dies hatte der junge Kronprinz in seinem berühmten Traktat vom «Antimacchiavell» verlangt: dass ein Fürst als «erster Diener seines Staates» nicht Furcht, sondern Liebe wecke in seinen Untertanen und «Herr über die Herzen» werde. Gelang es Friedrich in seinen 46 Regierungsjahren Herr der Herzen zu sein? Ute Frevert vermag die Frage nicht wirklich zu beantworten. Zwar zog der König alle richtigen Register: Er warf sich persönlich ins Schlachtgetümmel, er trauerte am Grabe seiner Soldaten und Generale. Er ermunterte Bitt- und Klageschriften, die er selbst kaum las, demonstrierte Frömmigkeit, die er si- Friedrich der Grosse spielte auch Flöte. Hauskonzert in Sanssouci. Ölbild von Adolph Friedrich Menzel, 1850–52. Noch unklarer bleibt der Unterschied zwischen echtem Gefühl und handfestem Interesse auf Seiten dieser Untertanen. Zwar sangen die Soldaten auf ihren langen Märschen unaufhörlich Kirchenund Königslieder, zwar zirkulierten Königsoden und Devotionalien aller Art, doch auch sie beweisen kaum echte Zuneigung. Zudem bot Friedrich weder Mätressen und Skandale noch eine eigene königliche Familie, an der sich die Neugierde der Untertanen hätte «abarbeiten» können. Und selbst wenn ihn die Zeitgenossen als «Mensch», als mitfühlenden und empfindsamen König anriefen, sieht die Historikerin hierin vor allem eine Projektion von Wünschen. Insgesamt lässt die offenbar nicht zu beantwortende Frage den Titel ihres Buches trotz dem interessanten Material etwas gar theoretisch bleiben. Einen Zugang ganz anderer Art bietet ein schmales Bändchen des Berliner Historikers Johannes Bronisch. Hier geht es um eine Episode im Jahr 1736, als Kronprinz Friedrich 24 Jahre alt war und das Schloss Rheinsberg bezog, wo er sich vier Jahre lang seiner Bildung, der Musik und dem Tischgespräch mit geistreichen Freunden widmen wird. Der in sächsischen Diensten ergraute Diplomat Ernst Christoph von Manteuffel buhlt, wie viele andere, um die Gunst des Thronfolgers. Mit Hilfe der gut christlichen Lehren des deutschen Aufklärers Christian Wolff will er ihn zum wahrhaft aufgeklärten Herrscher bilden. Er wird seine Sache schnell und gründlich verlieren – an den atheistischen Spötter Voltaire nämlich. Wie sich die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele mit politischen Intrigen und einem rätselhaften Pseudonym verbindet, wie gegensätzliche Strömungen der Aufklärung mit Machtinteressen zusammenspielen, insbesondere mit jenen eines französischen Gesandten, der mit 100 000 (!) Flaschen französischen Weins und Voltaires Schriften in Berlin eintrifft, wie schliesslich Friedrich auf den weltberühmten Namen «Sanssouci» kam – all dies wird hier, reich mit Quellen unterfüttert, erzählt wie ein Krimi. Anspruchsvoll in seiner Dichte, ist das Buch doch immer klar formuliert und zudem wunderschön illustriert. Wie es uns durch den Sehschlitz einer kleinen Nebenepisode tief in die unendliche Vielfalt der historischen Landschaft des 18. Jahrhunderts blicken lässt – das ist meisterhafte Geschichtsschreibung. l 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Aufklärung Gedankenfreiheit und Mündigkeit sind nicht allein europäische, sondern universelle Werte Manfred Geier: Aufklärung – Das europäische Projekt. Rowohlt, Reinbek 2012. 352 Seiten, Fr. 35.50. Von Katja Gentinetta Der Sprach- und Literaturwissenschafter Manfred Geier legt eine umfangreiche und wohldokumentierte Geschichte der Aufklärung vor. Mit der Charakterisierung der Aufklärung als «europäisches Projekt» fragt er gleich zu Beginn: Ist die Aufklärung abgeschlossen? Und: ist sie universell? Der Ausflug in die Geschichte lohnt sich. Anhand der zentralen Figuren John Locke und dem Third Earl of Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper war ein Philosoph des frühen 18. Jahrhunderts), Voltaire und Jean-Jacques Rousseau, Moses Mendelssohn, Olympe de Gouges, Wilhelm von Humboldt und natürlich Immanuel Kant, zeichnet der Autor die philosophische Dynamik des 18. Jahrhunderts nach und füllt die Aufklärung mit Leben. Die Geschichte beginnt in England, und sie beginnt mit einem Abenteuer: mit Lockes umfangreichen Schriften, die er bei seiner Rückkehr aus dem holländischen Exil nach England verpackt und verschifft hatte – ohne freilich eine Kopie derselben zu haben. Die Texte kamen heil an, und mit seinem Plädoyer für «life, liberty and estate» – der These, dass sich die Menschen «zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens» zusammengeschlossen hätten – wird Locke zum Philosophen der «Glorious Revolution», jenes friedlichen Übergangs zur konstitutionellen Monarchie. Unter Einsatz des Lebens Überhaupt ruft das Buch von Manfred Geier in Erinnerung, dass die Gedanken der Aufklärung nicht einfach in häuslicher Abgeschiedenheit entwickelt wurden, um dann ihren natürlichen und ungehinderten Weg an die Öffentlichkeit zu finden. Im Gegenteil: Unter teilweisem Einsatz ihres Lebens entschlossen sich die Aufklärer, ihre provozierenden Erkenntnisse zu publizieren. So flüchtet Locke 1683 ins holländische Exil, um seine «Discourses Concerning Government» fertig zu stellen. Voltaires «Lettres philosophiques», ein Loblied auf die politische, wirtschaftliche und geistige 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 Freiheit Englands, werden 1734 in Frankreich verurteilt, und gegen ihn ergeht ein Haftbefehl. Diderots «Pensées philosophiques» werden verbrannt, er selbst 1749 ins Gefängnis von Vincennes gesteckt. Weil er seine Autorschaft gesteht, und weil die Verleger der Enzyklopädie intervenieren, werden ihm schliesslich Schriftverkehr und Besuche doch erlaubt. Die «Encyclopédie» wird später nicht nur in Frankreich verboten, sondern auch vom Papst auf den Index gesetzt; katholischen Besitzern droht die Exkommunikation. Die Einschätzung dieses 28 Bände umfassenden, in 25 Jahren von mehreren hundert Autoren verfassten Werks durch die Obrigkeit hätte unmissverständlicher nicht sein können: «Die Vorteile eines solchen Werks für Künste und Wissenschaften können den irreparablen Schaden für Glauben und Sittlichkeit niemals aufwiegen.» Gleichberechtigung für alle Welche Rolle der Glaube und die Religionszugehörigkeit – immerhin 150 Jahre nach der Reformation – noch spielten, beschreibt Manfred Geier anhand des Schicksals von Moses Mendelssohn. Dieser Unternehmer und Philosoph, der in Berlin vom «sans papier» zum angesehenen Bürger aufstieg, musste sich, aufgefordert vom Zürcher Theologen Johann Caspar Lavater, öffentlich zu seinem Judentum bekennen, ohne freilich das Christentum angreifen zu dürfen. Lavaters Fehdehandschuh war nichts weniger als die Rückkehr hinter die von John Locke postulierte Gewissensfreiheit in Glaubensangelegenheiten. Für diesen war zwar eine Moral ohne Gott nicht vorstellbar, wohl aber eine ohne kirchliche Unterweisung, womit er die Autorität der Institution Kirche untergrub. Dass die Gedankenfreiheit auch für Frauen galt, war beileibe keine Selbstverständlichkeit. So liessen die Enzyklopädisten keine Frauen als Autoren zu, und für Rousseau war, wie für Sophie in seinem Roman «Emile», jede Frau «dazu geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen». Geier illustriert diese ungleiche Aufklärung mit einem «Requiem auf eine mutige Frau», nämlich Olympe de Gouges, die 1793 in Paris guillotiniert wurde. Nur Kant hegte diesbezüglich keine Zweifel: Selbst wenn er die Frauen dem «schönen Ge- BERTHOLD STEINHILBER / LAIF Locke, Voltaire, Kant und andere Provokateure «Die Freiheit für das Volk»: Besucher vor dem bekannten Gemälde von Eugène Delacroix (1830) im Louvre in Paris. schlecht» zuordnete und die Männer dem «erhabenen»: Er ging von der Gleichberechtigung der Geschlechter aus. Den Schritt in die Mündigkeit sah er genauso für das «ganze schöne Geschlecht». Dem grossen Aufklärer Kant nähert sich Geier aus der Gegenwart, genauer, dem 11. September 2001 und der folgenden Auseinandersetzung, die sich um die Frage drehte, ob die europäische Aufklärung gescheitert sei. Jenseits des Atlantiks beschuldigte Robert Kagan die Europäer des falschen Glaubens an ein posthistorisches Paradies. Unter Bezugnahme auf Kants kurze Abhandlung «Vom ewigen Frieden» hielten Derrida, Habermas und Sloterdijk dagegen. Ralph Dahrendorf und Timothy Garton Ash versuchten zu vermitteln, indem sie Kant von Rousseau abgrenzten. Ein wahrer Philosophenstreit, der noch weitere Kreise zog – und mit dem Geier zuletzt illustriert, wie alltagsnah und notwendig Philosophie sein kann. Die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen liefert das Buch explizit und implizit: Die historische Aufklärung war eine europäische; das Streben nach Mündigkeit aber ist universell und immerwährend. Gerade heute wieder erstreckt sich der Ruf der Aufklärung über den Globus. Und er verlangt, wie damals, Klarheit und vor allem Mut. ● Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte der Hochschule St. Gallen und Gesprächsleiterin «Sternstunde Philosophie» am Schweizer Fernsehen. Theater Die Programme des Cabaret Cornichon liefern einen Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz von 1934 bis 1951 Das ätzende Gegengift Geschichte einer nationalen Bühne. Chronos, Zürich 2011. 428 Seiten, Fr. 78.–. Von Urs Bitterli Am 1. Mai 1934 fand im Hotel Hirschen im Zürcher Niederdorf die erste Vorführung des Cabaret Cornichon statt. Im Vorjahr hatten der Schweizer Walter Lesch und der Deutsche Otto Weissert den Entschluss gefasst, ein Kabarett ins Leben zu rufen. Man fand, wie dies später das Ensemble-Mitglied Max Werner Lenz euphemistisch formulierte, das Leben in der Schweiz sei «einfach zu süss» und «eine kleine, ätzende Gegensäure» sei nötig, «um das glückvolle Dasein in der Schweiz» nicht in den Himmel wachsen zu lassen. Lesch übernahm die künstlerische und Weissert die administrative Leitung. Das Cabaret Cornichon arbeitete viele Jahre sehr erfolgreich; man ging auf Tournee, trat an der Weltausstellung in Paris und an der Landesaustellung auf und spielte in Truppenunterkünften. Manche der Autoren und Schauspieler des Cornichon waren zusätzlich bei Presse, Radio oder Film tätig. EnsembleMitglieder wie Elsie Attenhofer, Heinrich Gretler, Zarlie Carigiet und Emil Hegetschweiler wurden zu herausragenden Repräsentanten der Schweizer Theatergeschichte. Während siebzehn Jahren trat das Cornichon beinahe wöchentlich auf. Es verfolgte die politischen Entwicklungen im In- und Ausland, reagierte spontan auf Tagesereignisse und thematisierte die Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung. In der Zeit des Kalten Krieges gelang es dem Cornichon nicht mehr, sich publikumswirksam zu positionieren. Eines der letzten erfolgreichen Programme ging 1947 über die Bühne und stand, aktuell genug, unter dem Motto «Zwüschet Whisky und Wodka». Vier Jahre danach war Schluss. Zur Geschichte des Cabaret Cornichon liegt seit kurzem eine sorgfältig erarbeitete, gut lesbare Dissertation vor. Der Verfasser, Peter Michael Keller, sah sich mit einer äusserst komplexen Quellenlage konfrontiert. Die Nummerntexte liegen in der Regel nicht gedruckt vor; die Tondokumente sind lückenhaft und Filmaufnahmen fehlen ganz. Keller musste in zahlreichen privaten Nachlässen und Archiven nach den Textgrund- «Zwüschet Whisky und Wodka» (1947): Programm des Cabaret Cornichon. WILLI EIDENBENZ / CABARET ARCHIV Peter Michael Keller: Cabaret Cornichon. lagen der Nummern suchen, diese den einzelnen Programmen zuordnen und in eine plausible chronologische Ordnung bringen. In der kollektiven Erinnerung erscheint das Cabaret Cornichon als Inbegriff des intellektuellen Widerstandes gegen Nationalsozialismus und Faschismus. Mitglieder des Ensembles betonten diesen Aspekt in ihren Erinnerungen, und Historiker übernahmen diese Sicht, die zwar nicht falsch ist, der Themenvielfalt der Cornichon-Programme aber zu wenig Rechnung trägt. Es ist das grosse Verdienst von Kellers Darstellung, dass sie das Cornichon als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und als Ausdruck der mentalen Verfassung unseres Landes begreift. Die Geistige Landesverteidigung, zu der sich das Cornichon bekannte, war ja nicht nur, wie zuweilen in polemischer Verkürzung behauptet wird, eine Art Anti-Ideologie zum Nationalsozialismus. Das Cornichon verstand sich auch nicht als Propaganda-Instrument; aber es ermöglichte in schwieriger Zeit eine nationale Selbstdarstellung, in der Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung sich nuancenreich verbanden. Der Verfasser führt zahlreiche Nummerntexte in vollem Wortlaut vor, kommentiert sie kenntnisreich und fügt vorzügliche Szenenfotos bei. Das Cornichon hat keinen Tucholsky oder Kästner hervorgebracht; aber manche Verse haben ihre Frische und ihren Biss nicht verloren. Kellers Buch darf als die abschliessende Darstellung zu diesem Thema bezeichnet werden; es stellt einen gewichtigen Beitrag zur Geistesgeschichte unseres Landes dar. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte der Universität Zürich. Astronomie Der blaue Planet hat die Gedankenwelt der Erdbewohner schon immer beeinflusst Mensch und Mond Bernd Brunner: Der Mond. Die Geschichte einer Faszination. Antje Kunstmann, München 2011. 320 Seiten, Fr. 28.50. Von Thomas Köster Im späten 16. Jahrhundert formulierte der italienische Naturforscher und Dramatiker Giambattista della Porta den Gedanken vom Mond als InformationsBildschirm. «Ein Parabolspiegel grosser Brennweite sollte Buchstaben auf die Oberfläche projizieren, die dann von den Menschen auf der Erde zu lesen gewesen wären», beschreibt Bernd Brunner die Idee. Auch wenn aus dieser Vision bekanntlich nichts wurde, umreisst sie bildhaft das, was das Buch Brunners liefert: Zeigt es doch eindringlich auf, wie stark die Menschheit ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ängste seit jeher über die Kulturgrenzen hinweg auf die unwirtliche Kugel zu projizieren wusste. Überaus kenntnisreich und anschaulich erzählt Brunner von der Entstehung und physischen Beschaffenheit des Mondes, und von der Geschichte unserer Mondwahrnehmung. Dabei wird offenbar, wie sehr die Betrachtung des Erdtrabanten unsere Gedankenwelt beeinflusst hat – und wie stark sich die Bilder von ihm in Malerei, Dichtung, Religion, Philosophie, Trivial- und Hochkultur durch technische Innovationen wie das Fernrohr gewandelt haben – oder eben durch die Raumfahrt, die nicht nur erstmals die dunkle Seite des Mondes beleuchtete, sondern durch den Blick vom Mond auf die Erde auch unsere Vorstellung vom blauen Planeten prägte. Dass das Bild, das der Autor dabei präsentiert, bei der Fülle an historischem Material von eigenen Vorlieben geprägt ist, tut dem positiven Gesamteindruck dabei keinen Abbruch. «Ohne unseren Mond wäre die Erde ein völlig anderer Ort», schreibt Brunner gleich zu Beginn seines Buchs: Zu Ebbe und Flut leistet er ebenso seinen Beitrag wie zum Wechsel der Jahreszeiten oder zu einem moderaten Klima, ohne das das Leben in seiner jetzigen Form wohl gar nicht entstanden wäre. Wie lebendig und vielfältig der Mond nicht nur unser Leben, sondern auch unser Denken beeinflusst hat, wird man als Leser am Ende der Lektüre mit Sicherheit besser begreifen. ● 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Globalisierung Botschafter Johannes B. Kunz warnt vor Verlust der Souveränität Schweizer Uno-Diplomat rechnet mit internationaler Gemeinschaft ab Johannes B. Kunz: Der letzte Souverän und das Ende der Freiheit. Internationale Politik und bürgerliche Rechte. NZZ Libro, Zürich 2012. 400 Seiten, Fr. 58.–. Johannes B. Kunz hat ein gescheites und mutiges Buch geschrieben. Gescheit, weil er mit einem beeindruckenden Wissen und viel Scharfsinn die These verteidigt, dass Souveränität die Freiheit und das Wohlbefinden eines Volkes auch im Zeitalter der Globalisierung erhöht. Derlei liegt zurzeit nicht im Mainstream. Vielmehr vernimmt man täglich, jeder Staat müsse Souveränität abgeben, um sich in einer globalisierten Welt richtig zu positionieren. Ob das auch stimmt, wird kaum hinterfragt. Kunz bürstet gegen den Strich. Es bereitet ihm offensichtlich Vergnügen, die landläufige Meinung in ihrer konventionellen Bequemlichkeit als falsch zu entlarven. Das gilt derzeit als politisch unkorrekt. Man will nicht wissen, wie die einzelnen Akteure der sogenannten internationalen Gemeinschaft oft zusammenspannen, um die Souveränität von Staaten und die Freiheit der Bürger zu beschränken. Unter anderem zeigt er am Beispiel des, wie er es nennt, «humanitär-interventionistischen Komplexes», wie fragwürdig gerade auch humanitäre Interventionen, die in bester Absicht eingeleitet werden, enden können. Nicht selten erreichen sie das Gegenteil von dem, was sie bezwecken. Oft ist die Lage nach SUNDAY ALAMBA / AP Von Paul Widmer Johannes B. Kunz setzt ein Fragezeichen hinter humanitäre Interventionen: UnoTruppen in Abidjan, Januar 2011. einer Intervention desolater als vorher. Man denke an Somalia, Afghanistan oder den Irak. Der Autor sieht die Souveränität, wie sie sich seit dem Westfälischen Frieden (1648) durchgesetzt hat, von vielen Seiten her gefährdet: vom Uno-Sicherheitsrat, von einer extensiven Auslegung der Menschenrechte, von internationalen Organisationen, die ihre eigenen Interessen verfolgen, und natürlich auch von einer EU, die ihre Kompetenzen ständig zu erweitern versucht und allmählich Formen eines mittelalterlichen Reiches annimmt. Diese Entwicklung wird kräftig von einer international gut vernetzten politischen Elite gefördert. Im Allgemeinen verneint Kunz die Existenzberechtigung von internationalen Institu- tionen nicht, aber er kritisiert deren Auswuchern. Damit sich die internationalen Organisationen wieder auf das Wesentliche beschränken, gibt es seiner Meinung nach nur einen Weg: ihnen die finanziellen Mittel kürzen. Kunz verfügt über ein stupendes Wissen. Das breitet er grosszügig aus. Es reicht von afrikanischen Stammesgesellschaften über die chinesische Kultur bis zu Machiavelli, von begriffsgeschichtlichen Erörterungen bis zu ethnografischen Exkursen. Die Vorteile des Buches sind freilich auch dessen Nachteile. Mit seinen Vergleichen will er hieb- und stichfest eine an sich schlichte These beweisen, nämlich dass ohne staatliche Souveränität nirgends auf der Welt Freiheit, Recht und Wohlstand auf die Dauer gedeihen können. Vielleicht hätte er seine These wirkungsvoller mit einem konzisen Essay von weniger als hundert Seiten verfochten. Dennoch: In einer Zeit, in der die Internationalisierung ständig als Wert an sich angepriesen wird, tut es gut, wenn jemand mit neuem Elan an den Sinn von staatlicher Souveränität erinnert. Selbst wenn einige Gedankengänge des Autors diskussionswürdig sind wie etwa sein Begriff von Souveränität, den er mit legitimer Herrschaft gleichsetzt, ist es verdienstvoll, neue subkutane Machtstrukturen aufzuzeigen – dies umso mehr als das Buch von einem Schweizer Diplomaten stammt, also von jemandem, der sich selbst in den kritisierten Sphären bewegt. Kunz ist Berater bei der Uno-Mission in New York. ● Paul Widmer ist Autor von «Schweizer Aussenpolitik und Diplomatie» (2003). Botanik Pflanzen sind nicht immer harmlos. Sie können auch morden und verstümmeln Von Blumen, die töten Amy Stewart: Gemeine Gewächse. Radierungen von Briony MorrowCribbs. Berliner Taschenbuch, Berlin 2011. 299 Seiten, Fr. 18.90. Von André Behr Ohne Chemie wären weder das Leben, noch die Materialen und technischen Geräte denkbar, die uns den Alltag erleichtern. Dennoch hat die Chemie einen schlechten Ruf, weil «chemisch» mit «künstlich» und oft auch «giftig» assoziiert wird. Dabei wird vergessen, dass die für den Menschen gefährlichsten Stoffe von der Natur synthetisiert werden. Zum Beispiel von Quallen, oder in stattlicher Anzahl auch von Pflanzen. Aus Krimis bestens bekannt ist etwa das Strychnin, das aus dem Samen des 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 zu den Brechnussgewächsen zählenden Strychninbaums stammt. Der in ganz Europa und den USA verbreitete Wasserschierling wiederum produziert in seinen lecker süsslich schmeckenden Wurzeln Cicutoxin, das bereits in geringen Mengen ein Kind töten kann. Selbst Gras ist nicht immer harmlos, wie Amy Stewart in ihrem Buch über «gemeine Gewächse» am Fall des japanischen Blutgrases zeigt, dessen Blätter gefährlich wie eine Säge sind und das leicht entflammbar ist, damit es sich durch Abbrennen der Konkurrenten einen Standortvorteil verschaffen kann. In über 60 Kapiteln, bebildert mit filigranen Radierungen, erzählt die in Kalifornien lebende Autorin Geschichten über Pflanzen, die morden, verstümmeln, berauschen oder uns anderweitig ärgern können. Dabei verwebt sie ge- schickt botanisches Wissen mit Kulturgeschichte, Symptombeschreibungen oder Garten- und Verhaltenstipps. Auf der Reise quer durch alle Kontinente erfährt man so einiges über Pfeilgifte oder Drogen, aber auch über unschöne Eigenschaften schöner Topfpflanzen in der eigenen Stube. Haben Sie etwa gewusst, dass Giftzentralen in den USA 2006 über 1600 Anrufe wegen Philodendronvergiftungen entgegennehmen mussten? Oder der Oleander zu den Hundsgiftgewächsen gehört? Stewart, die auch Wanderausstellungen organisiert und viele Vorträge hält, kostet rund um die «gemeinen» Strategien von Pflanzen mögliche Horrorszenarien so genüsslich aus, dass nach der Lektüre kein empfindsamer Leser mehr unbedarft durch Wälder, Wiesen, Gärten oder Wohnungen streift. ● Stalinismus Erst Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt im Gulag hat DDR-Historiker Wolfgang Ruge seine Erinnerungen niedergeschrieben. Nun gibt sein Sohn die Memoiren neu heraus Ein deutscher Iwan Denissowitsch «Arbeitsmobilisierten» in einem Lager bei Soswa im Nordural. Präzise und anschaulich zeichnet der deutsche Häftling den Alltag im Gulag, die Lagerhierarchie, die Brutalität des Wachpersonals, aber auch von kriminellen Elementen unter den Häftlingen. Besonders ausgeprägt empfand er den Hass der im gleichen Lager einsitzenden Kulaken (Mittel- und Grossbauern), die ihr Essen nicht mit den «Fritzen», den Deutschen, teilen wollten. Erfüllten die Gefangenen das Plansoll nicht, wurde ihnen die ohnehin kärgliche Brotration gekürzt. Nässe, Schnee und Kälte waren ständige Begleiter. Immer wieder starben Leute an Krankheit und Entkräftung, auch der Autor war mehr als einmal kurz vor dem Ende. Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Rowohlt, Reinbek 2012. 489 Seiten, Fr. 35.50. Von Urs Rauber Letzten Herbst erhielt Eugen Ruge für seinen Roman «In Zeiten des abnehmenden Lichts» den Deutschen Buchpreis. Der 57-jährige Dokumentarfilmer und Drehbuchautor legte eine autobiografisch geprägte Familiensaga vor, die in der DDR, Mexiko und der Sowjetunion spielt. «Das Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen», begründete die Jury ihren Entscheid. Den gleichen Satz könnte man den Memoiren von Ruges Vater, des späteren DDR-Historikers Wolfgang Ruge (1917–2006), voranstellen, die zwischen 1984 und 1999 entstanden und 2003 in einer unzulänglichen Fassung (Ruge litt damals an beginnender Demenz) publiziert wurden. Sohn Eugen entschloss sich deshalb zu einer gründlichen Überarbeitung, die er mit seinem Nachwort versehen jetzt neu herausgibt. Wolfgang Ruge wurde von seinen Eltern kommunistisch erzogen, wanderte als 16-Jähriger mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Walter im Sommer 1933 von Berlin nach Russland aus. Im «gelobten Land», erhielt er eine Ausbildung als Zeichner, wurde freischaffender Kartograf an der Universität Moskau und erwarb die sowjetische Staatsbürgerschaft. Traumatische Erfahrung Wolfgang Ruge (Mitte, Zweiter von rechts) verbrachte fast fünf Jahre im Gulag und zehn Jahre in der Verbannung im Ural (Foto Frühjahr 1951). Im Lager arbeitete Ruge als Holzfäller, Bastschuhflechter und Gleisbauer; als es ihm besser ging, als Barackenwart, Sauna-Heizer, Pilzsucher und Zeichner. Nach Kriegsende im Januar 1946 wurde die Lagerhaft in Verbannung umgewandelt: auf dem Papier erhielten die Häftlinge alle Rechte zurück, durften aber den Ort nicht verlassen. Auf die 4½ Jahre Gulag folgten über 10 Jahre Verbannung, bis Ruge 1956 nach Chruschtschows Geheimrede frei kam und mit seiner dritten russischen Frau in die DDR ausreisen konnte. Ruges umfangreicher Erlebnisbericht ist ein Zeugnis von ungewöhnlicher Qualität. Packend sind nicht nur die Schilderungen des Augenzeugen, der seine traumatischen Erfahrungen jahrzehntelang mit sich trug, bevor er sie mit einem verblüffenden Erinnerungsvermögen niederschrieb. Ruge porträtiert Dutzende von Mithäftlingen, auch Wärter und Vorgesetzte, die im umfangreichen Personenregister namentlich aufgeführt sind, und setzt ihnen so ein Denkmal. Er gibt seinen Gefühlen allerdings mehr Raum als seiner politischen Desillusionierung. Grossartig sind die Passagen, in denen aufkeimende Hoffnungen sichtbar werden. Als am 4. März 1953 die Nachricht von Stalins Tod durchsickerte, riefen sich die Leute verschwörerisch «SSSR» zu. Was diesmal nicht die russische Abkürzung für Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bedeutete, sondern: «Smert Stalina spasjot Rossiju» – Stalins Tod rettet Russland! Für Eugen Ruge ist es bis heute ein Rätsel, warum sein Vater die traumatischen Erfahrungen zu DDR-Zeiten nicht öffentlich machen wollte. Es brauchte offenbar den Mauerfall, damit der «verletzbare und verletzte Mensch» die vor den Angehörigen verheimlichten Aufzeichnungen 1998 wieder hervor holte. Abgesehen vom literarischen Rang darf man Wolfgang Ruges Gulag-Report wohl mit Solschenizyns Roman «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» (1962) und Schalamows «Erzählungen aus Kolyma» (1971) vergleichen. ● Vom Paradies in den Gulag Mit Begeisterung stürzte sich der Jungkommunist in die Entdeckung der neuen Welt. Er verspürte «ein unbeschreibliches Gefühl – wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag». Walter Ruge zeichnet Personen und Milieu atmosphärisch dicht, teilweise fast poetisch. Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja, die ihm eine Lehrstelle vermittelte, beschreibt er als «steinalte und unendlich müde» Frau, die einwandfrei Deutsch gesprochen habe. In Moskau begegnete Ruge der späteren DDR-Elite um Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Markus Wolf und anderen. Bald wich die Hoffnung jedoch der Ernüchterung und dem Erschrecken: über die Armut, das Elend, die allmächtige Partei und das Spitzelwesen. Ruge erlebte die Jahre des politischen Terrors ab 1936. Lähmendes Entsetzen packte ihn, als er zuhause auf die Geheimdienst-Agenten wartete, die Nacht für Nacht irgendwo Leute abholten. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 traf es auch ihn: Der «deutsche Spion» wurde in die kasachische Steppe nach Karaganda deportiert. Später landete er mit anderen deutschen 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Nachkriegsgeschichte Ein Politiker und ein Kabarettist enthüllen unbekannte Fakten Wie der West-Ost-Dialog wirklich war Egon Bahr, Peter Ensikat: Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich. Aufbau, Berlin 2012. 204 Seiten, Fr. 24.50. Von Gerd Kolbe Es ist wie eine Modeerscheinung über die Verlagsbranche, Abteilung Sachbuch, gekommen und ökonomisch obendrein. Zwei setzen sich in ein Studio, plaudern über dies und das, und fertig ist das Buch. Doch Egon Bahr, der geistige Vater und Stratege der Ost- und Deutschland-Politik Willy Brandts, und der – um im Sprachgebrauch der Zeit zu bleiben, von der die Rede ist – Autor und Chef des Ostberliner Kabaretts «Die Distel», Peter Ensikat, machen die erwähnenswerte Ausnahme. Im Dialog lassen sie 50 Jahre Nachkriegspolitik Revue passieren. Es wird nie langweilig. Der Leser erfährt, wo Westdeutsche und Ostdeutsche einer Meinung sind oder auch nicht. Da ist zum Beispiel das bis auf den heutigen Tag umstrittene Kapitel der Aufarbeitung der Stasi-Akten, also der über Karrieren und Lebensläufe entscheidenden Dossiers des DDR-Geheimdienstes. Ensikat hält die Öffnung der Stasi-Akten im Grunde für richtig; schliesslich waren es die DDR-Bürger- rechtler, welche die Einrichtung einer eigens dafür geschaffenen Behörde noch vor der Wiedervereinigung durchsetzten. Bahr, der Mann aus dem Westen, hält es ausnahmsweise mit Helmut Kohl. Hätte der Altkanzler gewusst, was mit den Akten geschieht, hätte er dazu geraten, alles zu verbrennen, zu vergraben und in den Keller zu stecken. Ensikat bezweifelt heute, dass die Aktenöffnung der Geschichtsaufarbeitung dient. Es geschehe dies doch nur «aus rein tagespolitischen Interessen». Bahr wird überdeutlich. Er nennt es eine Schweinerei, «wenn die Menschen aus dem Osten härter und unnachsichtiger behandelt werden als die Nazis». Das Buch gewährt dank Bahr bislang nur unzulänglich bekannte Einblicke in die Verhandlungen, die zur Entspannung zwischen Ost und West führten. Nie wäre das Berliner Vier-Mächte-Abkommen zustande gekommen, hätte es zwischen Bonn und Moskau nicht nach amerikanischem Muster einen «BackChannel» gegeben. Der stellvertretende Chefredakteur der «Literaturnaja Gaseta» und ein KGB-General führten im Auftrag des damaligen Moskauer Parteichefs Juri Andropow Gespräche am offiziellen Apparat vorbei. Der damalige Sowjet-Botschafter in der DDR, Abrassimow, war ahnungslos. Franzosen und Briten durften die Ergebnisse abnicken. Es verhandelten der Amerikaner Ken Rush, Bahr und der Russe Valentin Falin. Es war dies bei weitem nicht der einzige Fall, in dem nach aussen der Schein gewahrt wurde. Jedermann dachte, als John F. Kennedy 1963 nach Berlin kam und im Schöneberger Rathaus mit Adenauer und Brandt zusammentraf, jetzt werde Weltpolitik gemacht. Bahr erzählt, wie es wirklich war. Kennedy memorierte mit seinem Dolmetscher einen seiner berühmtesten Sätze, der da lautet: «Ich bin ein Berliner.» Adenauer las – wer hätte das gedacht – das SED-Zentralorgan «Neues Deutschland». Auch sonst mangelt es nicht an Anekdotischem. Ensikat berichtet, wie die Zensur der Kabaretts in Berlin, Leipzig und Dresden funktionierte. Eine institutionelle Zensur gab es nicht. Wohl aber reichte der Einspruch eines hohen Funktionärs, um ein Programm abzusetzen. Und das Komischste war, dass die Kabaretts in der DDR vom Staat finanziert wurden. Auch nach Verboten wurden die Akteure – Ensikat nennt sie «Satirebeamte» – weiter bezahlt. Wie noch in jeder Diktatur ersetzten Witze das offene Wort. Zum Beispiel dieser: «Der Kapitalismus steht am Abgrund, der Sozialismus ist schon einen Schritt weiter.» Viel Spass bei der Lektüre. ● Zweiter Weltkrieg Warum die Deutschen auch nicht aufgaben, als die Niederlage sicher war Bis zum bitteren Ende Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. DVA, München 2011. 702 Seiten, Fr. 40.90. Von Markus Schär Es war «ein Ende mit Schrecken, wie es die Geschichte noch nie gesehen hatte», schreibt Ian Kershaw: «Das Ausmass, in dem sich Deutschland in den letzten Monaten des Dritten Reichs in ein riesiges Leichenhaus verwandelt hat, lässt sich kaum vorstellen.» Die Deutschen kämpften, bis sich Adolf Hitler am 30. April 1945 erschoss. Sie folgten ihm scheinbar willig in den Untergang, wagten keinen Aufstand, quälten weiter Juden und Zwangsarbeiter und brachten um, wer an Kapitulation dachte. Warum? Ein wissenschaftliches Werk, das die Mentalitäten im letzten Kriegsjahr untersuche, sei ihm zu seiner Verwunderung nicht eingefallen, stellt Kershaw fest. Der emeritierte Professor der Universität Sheffield, der mit seinen gewichtigen Arbeiten zur Historiografie des NS-Staates (1985) und zu Hitler (1998/2000) zu den führenden Experten für das Dritte Reich zählt, verfasste deshalb selber «eine integrierte Geschichte einer Desintegration». Mit dem Zusam22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 menfassen von zahllosen Detailstudien und dem Auswerten von Briefen, Tagebüchern und Spitzelberichten bis hin zu Abhörprotokollen von Wehrmachtsoffizieren in britischer Kriegsgefangenschaft wollte er die Fragen beantworten: Warum wurden Hitlers selbstzerstörerische Befehle immer noch befolgt? Welche Herrschaftsmechanismen befähigten ihn dazu, das Schicksal Deutschlands zu bestimmen, wenn es für jeden offenkundig war, dass der Krieg verloren war und das Land jetzt ganz und gar verwüstet wurde? Die Darstellung setzt am 20. Juli 1944 ein, als die Verschwörer um Graf von Stauffenberg mit ihrem Bombenanschlag auf Hitler scheiterten. Dass der Führer das Attentat schicksalhaft überlebte, stärkte seine Herrschaft wieder, führte zur Mobilisierung des leidenden Volkes und stachelte die Nazis zu verschärftem Terror an. «Wer mir von Frieden ohne Sieg spricht, verliert seinen Kopf», drohte Hitler. Danach fährt Kershaw getreu der Chronologie fort bis am 8. Mai 1945, als Grossadmiral Karl Dönitz, der vom Führer eingesetzte Nachfolger, die Kapitulation unterschrieb. Er erzählt von der Ardennenoffensive im Dezember 1944, die nochmals Hoffnung aufkeimen liess, vom Vorrücken der Roten Armee im Osten, von den Flüchtlingsströmen und den Todesmärschen der KZ-Häftlinge wie in einer konventionellen Geschichte des Dritten Reiches über Dutzende von Seiten hinweg – über viel zu viele Seiten. Dabei vergisst Kershaw sein Problem oder begnügt sich, wo er doch einmal auf seine Fragestellung zurückkommt, mit Relativierungen: «Allgemeine Aussagen über die Haltung von Soldaten zu treffen ist riskant.» Oder: «Derartige Mosaiksteine lassen sich nie zu einem vollständigen Bild zusammenfassen.» Die Fakten zu durchdringen und die Impressionen zu verdichten, also generelle Aussagen zu wagen, ist aber gerade die Aufgabe des problemorientiert arbeitenden Historikers. Eine Antwort gibt Kershaw erst im Schlusskapitel: Die «charismatische Herrschaft» von Hitler, der zuletzt in seinem Berliner Bunker hockte, führte für ihn dazu, dass die Wehrmacht bis zur Zerstörung des Dritten Reichs kämpfte und die Bevölkerung dem Führer in den Untergang folgte. Sein Buch beginnt Kershaw allerdings mit Jagdszenen aus dem bayerischen Ansbach, wo am 18. April 1945 ein Student, der mit Flugblättern für die kampflose Übergabe des Barockstädtchens geworben hatte, am Strick endete. Ob der Terror der Nazis allein solche Gräuel erklärt? ● Literatur Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622 bis 1676), Autor des Schelmenromans «Simplicissimus», in einer neuen Biografie Angesichts der Kriegsgräuel flüchtete er sich ins Lachen weise einen Lichtstrahl versenden – vielleicht ein Reflex auf die Beleuchtungskunst des Nachtpoeten. Eine Grimmelshausen-Biografie zu verfassen, ist ein tapferes Unternehmen. Zum einen gibt es für seine Jugend- und frühen Mannesjahre keine erhaltenen Dokumente. Auch die kargen Angaben zur Gelnhausener Kindheit und seinen Schicksalen im Krieg sind deshalb durchgängig mit einem «vermutlich» oder bestenfalls «höchstwahrscheinlich» zu versehen. Zum andern hat Grimmelshausen, als er mit über 40 Jahren endlich zu publizieren begann, seine Autorschaft systematisch versteckt. Er war ein Liebhaber des Anagramms, ein leidenschaftlicher Buchstabenverdreher, und so erwuchsen aus seinem Eigennamen all die «Samuel Greifnson von Hirschfeld», «German Schleifheim von Sulsfort», «Simon Leugfried von Hartenfels» usw., die als Verfasser seiner Bücher firmierten. Am Ende wusste niemand, wer eigentlich für den überaus erfolgreichen «Simplicissimus» verantwortlich war; erst 1834 wurde Grimmelshausen von den Pionieren der Germanistik als Autor identifiziert. Am Literaturbetrieb des Barockzeitalters nahm der Aussenseiter nicht teil, deshalb fehlen auch aus diesem Bereich Dokumente, die Aufschluss über seine Person geben könnten. Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Grimmelshausen. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor. Eichborn, Frankfurt a. M. 2011. 499 Seiten, Fr. 45.90. Von Manfred Koch 1634, im siebzehnten Jahr des Dreissigjährigen Kriegs, wird die lutherische Reichsstadt Gelnhausen von kaiserlichen Truppen eingenommen und geplündert. Viele Einwohner fliehen in die nahegelegene protestantische Festung Hanau, unter ihnen auch ein Junge von zwölf, dreizehn Jahren: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Sprössling einer Bäcker- und Schankwirtfamilie, der nach dem frühen Tod seines Vaters im Haus der Grosseltern aufgewachsen war. «Wollustbarliches» Weltbuch Fiktive Autobiografie ALMIDI Mit der Verwüstung Gelnhausens ist seine kurze Schulzeit beendet, von nun an geht es für ihn nur noch um das Überleben im Krieg. Hans Jacob wird 1635 von kroatischen Soldaten aus Hanau verschleppt, dann wieder von hessischen Truppen gefangengenommen. Nach mehrmaligem Seitenwechsel landet er schliesslich in kaiserlich-katholischen Diensten, wo er es vom einfachen Musketier zum Regimentsschreiber bringt. 1649, ein Jahr nach Kriegsende, heiratet er und verdient fortan den bescheidenen Lebensunterhalt für seine vielköpfige Familie als Verwalter adliger Güter und Gastwirt. Zuletzt ist er «Schultheiss» im badischen Renchen, wo er erneut in Kriegswirren (ausgelöst durch die Feldzüge Ludwigs XIV.) gerät und 1676 stirbt. Dieser Mann, der fast die Hälfte seines Lebens an einen entsetzlichen Krieg verlor, nie eine akademische Ausbildung erhielt und später im Berufsalltag zeitraubende administrative Arbeit zu leisten hatte, war gleichwohl ein ungemein produktiver Schriftsteller. Grimmelshausen ist unbestritten der bedeutendste Prosa-Autor der deutschen Barockliteratur, Schöpfer des einzigen Romans aus dieser Zeit, der auch heute noch unmittelbar packen, begeistern, ja, in einen Leserausch versetzen kann: «Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch» von 1668 (datiert auf 1669). Es handelt sich – barock gesprochen – um eine «historia voller safft» über das Leben eines gewissen Melchior Sternfels von Fuchshaim, der in IchForm von seinen Widerfahrnissen in Zeiten der Kriegspest erzählt. Ein derb lustiges, immer wieder auch erschre- ckendes Panorama von Schlachten, Schlägereien, Sauf- und Fressgelagen, abgefeimten Betrügereien, Liebeshändeln und – Momenten religiöser Besinnung. Kurz: ein «wollustbarliches» satirisches Weltbuch. Wie Grimmelshausens umfangreiches Gesamtwerk zustande kam, ist ein Rätsel. Auch seine jüngsten Biografen verneigen sich am Ende «staunend» vor einem Mann, der, «was ihm an Zeit, Ruhe, vielleicht auch Arbeitsraum fehlte, durch ein Übermass an Gaben, Eigenschaften und Fertigkeiten wettgemacht haben muss». Geschrieben haben kann er nur in Kriegs- bzw. Arbeitspausen, vornehmlich nachts. Sein Held Simplicius zieht sich im letzten Buch des Romans in eine stockfinstere Höhle zurück. Er erhellt sie mit Hilfe von «schwarzen Käfern», die wunderbarer- Saftige Geschichte: Titelblatt zu «Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch», Kupferstich von 1669. Was bleibt den Biografen also anderes übrig, als sich an die Lebensgeschichte des Romanhelden zu halten, in die gewiss Erfahrungen seines Autors eingegangen sind? Aber «Simplicius Simplicissimus» ist eben eine höchst fiktive Autobiografie: ein Schelmenroman, der – durchaus in christlicher Absicht – die Verderbtheit der Welt anprangert, zur Freude des Lesers aber die Laster und Torheiten der sündigen Menschen so opulent beschreibt und satirisch übertreibt, dass man ständig laut auflachen möchte. Souverän meistern Boehncke und Sarkowicz die Gratwanderung, aus diesem Feuerwerk an Witz und Fabulierlust die wenigen verlässlichen Daten herauszufiltern, die – im Verbund mit akribisch recherchiertem Archivmaterial zur Geschichte seiner Familie und seiner Wirkungsstätten – immerhin die Umrisse eines biografischen Porträts ermöglichen. Vor allem aber machen sie verständlich, woher das komische Genie dieses Autors rührt. Seine Romane waren das «epische Rettungswerk» eines Kriegstraumatisierten, der sich angesichts der Gräuel seiner Zeit ins entlarvende Lachen flüchtete. ● 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Menschenhandel Ausbeutung und Knechtschaft begleiten die Kulturgeschichte seit jeher. Dass sie auch rund um den Indischen Ozean im grossen Stil stattfanden, belegt eine neue Studie Besiegt, versklavt, verkauft Michael Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean. Zabern, Darmstadt 2012. 254 Seiten, Fr. 40.90. Von Geneviève Lüscher Das erste Bild, das beim Wort «Sklaverei» vor dem inneren Auge auftaucht, sind die im Schweisse ihres Angesichts schuftenden Schwarzen in den Zuckerrohr- oder Baumwollplantagen, angetrieben von peitschenschwingenden Weissen auf dem hohem Ross. Dieses Bild ziehe eine ganze Reihe von Klischees nach sich, so der Indologe Michael Mann von der Humboldt-Universität in Berlin, beispielsweise das der Rechtlosigkeit. Aber «zu keiner Zeit und an keinem Ort der Welt waren Sklaven ausschliesslich rechtlose Subjekte», schreibt der Fachmann, ohne die Grausamkeit des Phänomens in Abrede zu stellen. Sklaverei gibt es in zahllosen Formen, und bis anhin existiere keine befriedigende Definition dieser seit Jahrtausenden – und bis heute – gesellschaftlich akzeptierten Erscheinung. Michael Mann selber definiert in seinem Buch «Sahibs, Sklaven und Soldaten» als Sklaven einen Menschen, der in das persönliche Eigentum eines anderen Menschen übergegangen ist, jederzeit veräussert werden kann und zur Arbeit gezwungen ist. Konzeptionell basiere die Institution Sklaverei «auf dem Ersatz für einen nicht erlittenen Tod», meist im Kriegsfall. Das habe nichts mit Gnade oder Nächstenliebe zu tun, sondern diente einzig zur Rekrutierung von Arbeitskräften. In einer kurzen Einleitung schreibt Mann über Entstehung und Ausbreitung der Sklaverei, die schon in Mesopotamien im 2. Jahrtausend vor Christus das Los der meisten Kriegsgefangenen war. Sklaverei war auch unter den Juden des Alten Testaments üblich, und ohne Heerscharen von Sklaven wären Griechen und Römer nicht in der Lage gewesen zu erreichen, was sie erreicht haben. Während aber der Sklavenanteil in der Antike «nur» 20 Prozent betrug – die «kritische Masse» um in den Augen des Autors als Sklavengesellschaft bezeichnet zu werden –, erreichte er in den Südstaaten der USA bis 70 Prozent der Gesamtbevölkerung! In den folgenden Kapiteln wird klar, dass auch in Südasien solche Sklavengesellschaften normal waren. Gemäss neueren Forschungen versorgte das subsaharische Afrika nicht nur die Gebiete rund um das Mittelmeer, die Karibik, Nordafrika und die beiden Amerikas mit Menschenmaterial, sondern eben auch die Anrainerstaaten rund um den Indischen Ozean. Bereits vorhandene Strukturen der Sklaverei und des Sklavenhandels sind laut Mann durch die europäische Kolonialherrschaft seit dem 16. 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 Jahrhundert aggressiv ausgeweitet und in das transatlantische Handelssystem eingebunden worden – eine frühe Form der globalen Vernetzung. Die Abschaffung des Menschenhandels 1807 und der Sklaverei 1834 im Britischen Imperium hatte einen massiven Aufschwung beider Phänomene in den anderen Kolonialgebieten zur Folge, besonders in Mosambik, Madagaskar und Sansibar. In Ostafrika und auf der arabischen Halbinsel dauerte der Sklavenhandel an, zum Teil sogar mit britischer Unterstützung. Aufschlussreich sind die Ausführungen zur Forschungssituation. Sklaverei und Sklavenhandel sind ausgesprochen junge Untersuchungsfelder. Umfassende Gesamtdarstellungen zur Situation an der afrikanischen Ostküste und in den arabischen Ländern erschienen erst in den 1970er Jahren. Weil die britische Geschichtsschreibung die Sklaverei rund um den Indischen Ozean als etwas ganz Anderes betrachtete als diejenige in Amerika, die entsprechende Bezeichnung tunlichst vermied und so die Sklaverei in den Kolonialgebieten überhaupt in Abrede stellte, fehlten grundlegende wissenschaftliche Aufarbeitungen bis in die 80er Jahre. Eine erste monografische Studie erschien gar erst 1999. Neuste Forschungen zeigen, dass Sklaverei und Sklavenhandel keine lokalen oder regionalen Phänomene waren, die getrennt voneinander existierten, sondern als weltweiter «dynamischer Bestandteil eines sich (...) in globalen Bezügen vernetzenden und zunehmend kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftssystems» zu betrachten sind. ● Pressefotografie Als die Welt noch schwarzweiss war Eine Spur von Elvis in der Haartolle, gewagte Jackets und ein mürrisch-scheuer Blick auf die maskierte Schöne. Auf dem Maskenball im «Kreuz» in Schüpfheim ist 1977 die Welt noch in guter Ordnung. Emanuel Ammons Fotoband «70er» bringt eine Zeit zurück, als Fotos schwarzweiss waren und Röcke kurz, als man noch ohne Helm aufs Töffli sass und die Kinderwagen aussahen wie auf der Bühne bei Emil. Auch der junge Emil selbst fehlt nicht in dieser Rückschau des Luzerner Fotografen, ebenso wenig wie der alte Hans Erni, die 13-jährige Anne Sophie Mutter oder Guru Maharishi, mit Rolls Royce in Weggis. Von 1975 an arbeitete Ammon als Pressefotograf für das «Luzerner Tagblatt», was ihn nicht nur an die Musikfestspiele und in den Zirkus, sondern auch zu Schwingfesten, Verkehrsunfällen und Bränden führte. Verdienstvoll erklärt der Fotograf in eigenen Bildlegenden, wer da auftrat beim Punkkonzert in Adligenswil, und wie es kam, dass er die Rockband Krokus mitten auf der Bühne zwischen den Musikern stehend ablichten konnte. Kathrin Meier-Rust Emanuel Ammon: 70er. Pressefotografie. Aura Fotobuchverlag, Luzern 2011. 256 Seiten, Fr. 86.–. Konsum Die Schweiz der 50er Jahre – eine Epoche voller Widersprüche Kühlschrank und Kalter Krieg Thomas Buomberger, Peter Pfrunder (Hrsg.): Schöner leben, mehr haben. Die 50er Jahre in der Schweiz im Geiste des Konsums. Limmat, Zürich 2012. 267 Seiten, Fr. 54.-. Von Martin Walder Sie haben keinen guten Ruf: «die langen Fünfziger», die «falschen Fufziger», die «bleierne Zeit». Erstickend seien sie gewesen in ihrer Kultur der Verbote und des Mittelmasses, bieder im Brötchenduft der Bäckerei Zürrer, restaurativ, konformitätssüchtig; erst «68» brachte die Erlösung eines breiten politischen, sozialen und mentalen Aufbruchs. Wer gleich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist, kann das von heutiger Warte aus so sehen und liegt nicht gar daneben. Interessant nur, dass die eigenen Erinnerungen an damals dem Befund teilweise widersprechen und ihn immer wieder lebhaft unterspülen. Kribbelnde Ängste War da nicht auch ein unbesorgt ansteckendes Gefühl des Aufbruchs, ein geschenktes Versprechen von Zukunft, eine naiv blühende technische Fortschrittsgläubigkeit, dass alles machbar und erreichbar sein würde? Ihr gegenüber existierte zwar die Angst im Kalten Krieg vor der totalen atomaren Vernichtung, sie wurde von uns Jugendlichen aber eher kribbelnd-abstrakt und später dann (mit Weizsäcker & Co.) auch moralisch herausfordernd erlebt. Kurz gesagt: In den Fünfzigern schien die Welt für einen Heranwachsenden noch eroberbar. Wie wenig ein pauschales «FiftiesBashing» taugt und gerechtfertigt ist, zeigt anschaulich dieser Bild- und Textband zu jener Zeit, die sich im Übrigen nicht strikte ins Korsett einer geraden Dekade zwängen lässt. Die Fünfziger fingen bald nach dem Krieg an und reichten bis in die Hälfte der 60er Jahre hinein – in der Schweiz vielleicht mit dem Kulminationspunkt der «Expo 64» in Lausanne, die nach vorne schaute und gleichzeitig im Armee-Pavillon die alte Schweiz nochmals wehrhaft einigelte. Frauen ohne Stimmrecht In neun lesenswerten Essays fächert der Band ein Panorama jener Jahre auf: Eine glänzende kulturgeschichtliche Analyse des Phänomens Kühlschrank respektive moderner Häuslichkeit von Beatrice Schumacher fehlt darin so wenig wie jene des damals überbordenden Mythos Auto und des Strassenbaus durch Thomas Buomberger. Die eklatanten Widersprüche zwischen weiblichen und männlichen Rollenbildern und RollenRealität (Stimmrecht!) werden von Elisabeth Joris blossgelegt, die erwachende Macht der Unterhaltungsindustrie zwischen Patriotismus und Weltläufigkeit von Edzard Schade und Samuel Mu- menthaler geschildert, der Einbruch des «Fremden» aus dem südlichen Nachbarland von Gianni D’Amato untersucht. Bereits Georg Kohlers EinleitungsEssay macht unter dem Titel «Konsumglück, Kalter Krieg und Zweite Moderne» jenes Phänomen namhaft, von dem die Epoche, wie sich in den Beiträgen stets von neuem zeigt, politisch, kommerziell und kulturell durchsetzt war: der Kalte Krieg mit seinem auch das Selbstverständnis der neutralen Schweiz stabilisierenden Antikommunismus. Dieser nahm die Idee der Geistigen Landesverteidigung der Nazizeit ins erste Nachkriegsjahrzehnt in Variation herüber. Der Antikommunismus «als Klammer, welche die Schweiz zusammenhielt: Er war Ideologie und Methode», Die Werbung in den 1950er Jahren pries das Glück des Besitzes von neuen elektrischen Geräten. schreibt Benedikt Loderer in seinem Beitrag zum «Armeereformhaus» Schweiz und erinnert an die Frage von Frischs Stiller: «Was ist, wenn ihnen die Russen erspart bleiben, ihr eigenes Ziel?» Ja, was war das eigene Ziel? Im Befund des «Fortbestands tradierter Ordnung unter neuen Vorzeichen» (Beatrice Schumacher) wird einiges von der Widersprüchlichkeit der Fünfziger fassbar. Nicht zuletzt spiegelt sich in dem schön gemachten Buch die bei aller Kontinuität «unterschwellige Dynamik» der Schweizer Fotografie damals auch im reichen Bildteil, den Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, zusammengestellt hat. Da sind die Fünfziger gleich wieder zum Riechen und zum Schmecken nahe. ● 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Umweltschutz Zwei Experten diskutieren über die Zukunft Nicht weniger als die Energiewende Klaus Töpfer, Ranga Yogeshwar: Unsere Zukunft. Ein Gespräch über die Welt nach Fukushima. C. H. Beck, München 2011. 234 Seiten, Fr. 28.50. Von Patrick Imhasly Als es vor bald einem Jahr im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zur nuklearen Katastrophe kam, wurde die japanische Gesellschaft in ihrem grenzenlosen Vertrauen in die Technik erschüttert. Energiepolitische Konsequenzen aus diesem Unglück zogen dann aber nicht etwa die Japaner, sondern die Deutschen und die Schweizer. Deutschland und die Schweiz beschlossen, definitiv aus der Kernenergie auszusteigen und stattdessen vermehrt auf alternative Energiequellen wie Sonne oder Wind zu setzen. Das tönt gut, doch wie müssen die Menschen ihr alltägliches Verhalten ändern, um die Energiewende möglich zu machen? Und wie wird die Welt nach Fukushima aussehen? In einem Interviewbuch diskutieren Klaus Töpfer und Ranga Yogeshwar über Fragen, die viele von uns beschäftigen. Der CDU-Politiker Klaus Töpfer hat langjährige Erfahrung in Umwelt- und Energiethemen: als Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter Helmut Kohl, später als Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen und schliesslich als Co-Vorsitzender der deutschen Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, die Angela Merkel nach Fukushima einsetzte. Der indischstämmige Ranga Yogeshwar seinerseits war als Nuklearphysiker tätig, bevor er Wissenschaftsjournalist wurde und sich einen Namen als Entwickler und Moderator diverser Formate im deutschen Fernsehen machte. Bescheidenere Autos fahren, seltener fliegen, den persönlichen Energieverbrauch reduzieren, Solaranlagen auf dem Hausdach und weg vom grenzenlosen Konsum: Das sind nur ein paar der Rezepte, welche die Autoren für eine neue Gesellschaft propagieren. Denn diese muss den Strom kompensieren, der durch den Ausfall der Kernenergie wegfällt. Ob das klappen kann? «Ich bin da keineswegs resignativ», sagt Töpfer, es sei «eine grossartige Chance, die Energiewende erfolgreich umzusetzen.» «Wir müssen die Dinge grundsätzlicher angehen», erklärt demgegenüber Yogeshwar: «Mit etwas Glück werden wir in dreissig, vierzig Jahren zur Neujahrzeit keine Reden mehr hören, in denen Vokabeln wie ‹Wachstum› vorkommen. Vielmehr wird es in ihnen um Glück, Wahlmöglichkeiten, kulturelle Vielfalt und Freiheit gehen.» Was Töpfer und Yogeshwar uns erzählen, ist alles richtig, sympathisch und muss vielleicht so sein. Schade nur, klopfen sich die beiden allzu oft gegenseitig auf die Schultern. Dabei hätten sie besser kontrovers erörtert, warum die Energiewende eben doch nicht so einfach zu schaffen sein wird. ● Das amerikanische Buch Richard Holbrooke, Gestalter der US-Aussenpolitik Wie die Herausgeber Derek Chollet und Samantha Power in ihrem Vorwort er- klären, entstand die Idee zu «The Quiet American» in den Wochen nach Holbrookes Tod am 13. Dezember 2010. Zwei Tage zuvor hatte er Hillary Clinton im US-Aussenministerium über seine Arbeit als Sonderbeauftragter für Afghanistan und Pakistan berichtet. Der 69-Jährige erlitt dabei einen massiven Herzinfarkt, dem er schliesslich erlegen ist. Vor seinem Krankenzimmer und auf der Beisetzung trösteten Holbrookes Freunde und Kollegen einander mit Erinnerungen, die nach einem dauerhaften Gefäss riefen, so die Herausgeber. Laut Power zählten sie und Chollet zu den vielen Talenten, die in Holbrooke einen liebevollen, aber kritischen Mentor fanden. Power lernte den Diplomaten als junge Journalistin 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. Januar 2012 etwas bittet, ist es am besten, Ja zu sagen. Denn sonst wird der Weg von einem Nein zum Ja höchst peinsam. Absagen akzeptiert er nicht.» MOHAMMAD SAJJAD / AP Selten war Trauerarbeit für eine breitere Öffentlichkeit so fruchtbar wie der Sammelband The Quiet American. Richard Holbrooke in the World (Public Affairs, 383 Seiten), der die Karriere dieses bedeutenden Diplomaten mit Beiträgen von Weggefährten und anhand eigener Texte darstellt. Das Buch macht nicht nur die Verdienste Holbrookes lebendig, sondern illustriert auch die Grenzen und Möglichkeiten der amerikanische Aussenpolitik seit dem Beginn des Vietnam-Krieges unter John F. Kennedy. Der Demokrat Holbrooke war an deren Gestaltung direkt beteiligt, wenn seine Partei das Weisse Haus kontrollierte. Republikanische Regierungen hat er als scharfsinniger Publizist begleitet, während er als Banker unter anderem bei der Credit Suisse tätig war. Richard Holbrooke spricht mit einem Flüchtling im pakistanischen Lager von Chota Lahore. Autorin Samantha Power (unten). während der Balkankriege kennen. Sie ist nun zur Menschenrechtsbeauftragten von Barack Obama aufgestiegen. Chollet war Holbrookes Assistent während dessen Zeit als UN-Botschafter der USA Ende der 1990er Jahre. Trotz der persönlichen Nähe der Autoren zu ihm bleibt «The Quiet American» dem Charakter Holbrookes verpflichtet, der sich durch seinen Ehrgeiz und seine unverblümte Art in Washington auch Feinde geschaffen hat. Wie der ehemalige Staatssekretär Strobe Talbott schreibt, blieb Holbrooke deshalb der heiss ersehnte Aufstieg zum Aussenminister versagt. Auch die Autoren nehmen kein Blatt vor den Mund und schildern Holbrookes Eigensinn in anschaulichen Anekdoten. Dafür mag das Zitat von Henry Kissinger genügen, der diese vitale Persönlichkeit so beschrieben hat: «Wenn Richard dich um Philosophisch stand Holbrooke dem Aussenminister republikanischer Präsidenten durchaus nahe. Wie Kissinger – allerdings nur von der Mutter her – ein Nachkomme jüdischer Naziflüchtlinge aus Deutschland, war er ein hochintelligenter Pragmatiker und überzeugt von der globalen Mission Amerikas als Ordnungsmacht. Und wie Kissinger hat Holbrooke fest geglaubt, Geschichte werde letztlich von grossen Männern gemacht. Talbott lässt keinen Zweifel daran, dass sein Freund Richard sich für eine dieser Persönlichkeiten gehalten hat. Sein grösster Erfolg, die Beilegung des Balkankonfliktes in Dayton Ende 1995, hat Holbrooke in dieser Überzeugung bestätigt. Wie die «New York Times» in einer ansonsten lobenden Besprechung anmerkt, hat der Erfolg amerikanischer Bombenangriffe auf Serbien Holbrooke jedoch zu der Illusion verleitet, diese würden auch im Irak Saddam Husseins rasch die Ziele Washingtons durchsetzen. Dabei hat Holbrooke als Co-Autor der «Pentagon Papers» bereits während des Vietnamkrieges verstanden, dass Wunschträume und konfuse Entscheidungsabläufe auch das mächtige Amerika in eine Katastrophe führen können. So haben ihn während seiner letzten, unvollendeten – und letztlich wohl unmöglichen – Mission in Afghanistan ständig Erinnerungen an Vietnam gequält. ● Von Andreas Mink Agenda Der jüngste Beatle Naturschützer und Rennsport-Fan Agenda Februar 2012 Dienstag, 7. Februar, 19 Uhr Barbara Honigmann: Bilder von A. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. MICHA BAR AM / MAGNUM Basel Donnerstag, 9. Februar, 19 Uhr Sandra Hughes: Zimmer 307. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Donnerstag, 23. Februar, 19 Uhr CLIVE ARROWSMITH / UMLAUT CORPORATION Heiko Haumann: Hermann Diamanski – Überleben in der Katastrophe. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Donnerstag, 2. Februar, 19 Uhr Werner Wüthrich: Frauen Land Frauen. Lesung, Eintritt frei, inkl. Apéro. HauptBuchhandlung, Falkenplatz 14, Tel. 031 309 09 09. Freitag, 17. Februar, 19.30 Uhr George Harrison (1943–2001) war nicht nur der jüngste und sympathischste Beatle: Er war auch als Solokünstler ein vorzüglicher Musiker – und eine vielfältige Persönlichkeit. Umweltschützer, leidenschaftlicher Gärtner und zugleich Formel-1Fan, Sinnsucher und Filmproduzent für die schräge Truppe Monty Python. In sich gekehrter Philosoph und wilder Rock ’n’ Roller. Er tat Entscheidendes für die Popularität des Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, mit dem er hier posiert, und musizierte mit einem Who Is Who der Musikszene von Eric Clapton bis Bob Dylan. Olivia Harrison, die seit 1978 mit George verheiratet war, hat ihrem Mann einen umfassenden Text-BildBand gewidmet, der mit zahlreichen überraschenden Fotos und Dokumenten aufwartet. Manfred Papst Olivia Harrison: George Harrison. Living In The Material World. Knesebeck, München 2011. 399 Seiten, Fr. 53.90. Pedro Lenz: Dr Goalie bin ig. Lesung, Fr. 20.–. Forum Altenberg, Altenbergstr. 40, Tel. 031 332 77 60. Mittwoch, 22. Februar, 20 Uhr Milena Moser: Montagsmenschen. Lesung, Fr. 15.–. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40. Zürich Donnerstag, 2. Februar, 20 Uhr Endo Anaconda: Walterfahren. Lesung, Fr. 18.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Bestseller Januar 2012 Belletristik Sachbuch 1 C. H. Beck. 402 Seiten, Fr. 25.90. 2 Ullstein. 381 Seiten, Fr. 26.90. 3 Hanser. 519 Seiten, Fr. 32.90. 4 Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90. 5 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90. 6 Hanser. 314 Seiten, Fr. 24.90. 7 Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 34.90. 8 Krüger. 447 Seiten, Fr. 19.50. 9 dtv. 588 Seiten, Fr. 19.90. 10 Nydegg. 400 Seiten, Fr. 39.-. 1 Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.50. 2 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 35.90. 3 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90. 4 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90. 5 Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90. 6 Orell Füssli. 208 Seiten, Fr. 29.90. 7 Wörterseh. 205 Seiten, Fr. 39.90. 8 Goldmann. 200 Seiten, Fr. 34.50. 9 Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90. 10 Faro. 172 Seiten, Fr. 34.90. Catalin D. Florescu: Jacob beschliesst zu lieben. Michael Theurillat: Rütlischwur. Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Paulo Coelho: Aleph. Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Alex Capus: Léon und Louise. Charles Lewinsky: Gerron. Cecelia Ahern: Ein Moment fürs Leben. Jussi Adler-Olsen: Erlösung. Paul Wittwer: Widerwasser. Walter Isaacson: Steve Jobs. Guinness World Records 2012. Barney Stinson: Das Playbook. Barney Stinson: Der Bro Code. Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. Esther Girsberger: Eveline WidmerSchlumpf. Lisa Marti: Mutanfall. Richard D. Precht: Warum gibt es alles und nicht nichts. Remo H. Largo: Jugendjahre. Martin Ott: Kühe verstehen. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 1. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Arno Camenisch: Ustrinkata. Lesung, Fr. 18.– . Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Donnerstag, 9. Februar, 20 Uhr Asli Erdogan. Die türkische Autorin in Residence im Gespräch. Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Freitag, 10. Februar, 16 Uhr Albert der Storch. Kinderlesung mit Claudia Engeler. Für Kinder von 4 bis 8 Jahren. Pestalozzi-Bibliothek, Zürich-Affoltern, Bodenacker 25. Info: www.pbz.ch. Mittwoch, 22. Februar, 20 Uhr Helen FitzGerald: Tod sei Dank. Lesung, Fr. 15.–. Kaufleuten (s. oben). Donnerstag, 23. Februar, 20 Uhr Sarah Kuttner: Wachstumsschmerz. Lesung, Fr. 25.–. Komplex 457, Hohlstrasse 457, Tel. 044 500 00 60. Bücher am Sonntag Nr. 2 erscheint am 26. 2. 2012 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 29. Januar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 YVONNE BÖHLER Dienstag, 7. Februar, 20 Uhr Freiheit, Recht und Reichtum sind eine direkte Folge staatlicher Souveränität. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je weniger Souveränität, desto weniger Reichtum, Recht und Freiheit. Dennoch wird heute in internationalen Gremien viel über Souveränitätsverzicht als Mittel zur Mehrung von Frieden und Wohlstand diskutiert. Johannes B. Kunz geht in seinem Buch diesem Widerspruch auf den Grund und erläutert den Zusammenhang zwischen Souveränität und Freiheit bzw. Demokratie. Die staatliche Souveränität sieht er durch die Machtpolitik, die internationalen Organisationen, den heutigen humanitären Interventionismus und die Europäische Union gefährdet. Er setzt die Souveränität in Bezug zur Globalisierung und zeigt Wege auf, wie sie gewahrt werden kann. 2011. 400 Seiten, 5 Grafiken. Fr. 58.– / € 50.– DIE NEUE POLIS Georg Kreis · Das «Helvetische Malaise» <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tTQ0NgIA9MxGoQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMMQ6DMBAEX3TW7tpnuFyJ6BAFoncTpc7_q0A6ii1mNNptSy_4b1n3cz2SQHOjB6vSw4umnrNU0OYEKYF6IQTJux69gdEr6ribC4waCGNY7UMNg7ofLsfQVL7vzw9_1Lk_gAAAAA==</wm> Das «Helvetische Malaise» Max Imbodens historischer Zuruf und seine überzeitliche Bedeutung Georg Kreis Max Imbodens Buch «Helvetisches Malaise» hat 1964 für heftige Diskussionen gesorgt. Es diagnostizierte der schweizerischen Politik «Helvetisches Malaise» von 1964 gehört zu den in seiner Zeit am häufigsten zitierten Schriften. Ihr Ruhm hallt bis heute nach. Der an der Universität Basel lehrende und als Freisinniger politisierende Professor für Staats- und Verwaltungsrecht Max Imboden setzt sich darin kritisch mit den Schwächen des politischen Systems der Schweiz auseinander. Schon damals merkte er an, dass die Schweiz nicht als autarke Insel im europäischen Staatengefüge existieren kann. In der Neuedition dieser historischen Intervention wird der Text mithilfe erstmals zugänglicher Tagebuchaufzeichnungen in den zeitgenössischen Kontext eingeordnet, im Detail kommentiert und im Lichte der weiteren Entwicklung bewertet. [164 Seiten zeitgenössische Politik] DIE NEUE POLIS Verlag Neue Zürcher Zeitung 2011. 164 Seiten, 7 s/w Abbildungen. Fr. 24.– / € 21.– www.nzz-libro.ch u. a. Isolationismus, Sloganisierung und Verdrossenheit beim Wahlund Stimmvolk. In Intellektuellenvoten fällt das Schlagwort «helvetisches Malaise» seither regelmässig, obwohl zu vermuten ist, dass nicht alle den wegweisenden Text noch präsent haben. Jetzt kann Abhilfe geschaffen werden. Georg Kreis hat Imbodens Text mit Kommentaren und Hinweisen zur Wirkungsgeschichte neu herausgegeben.