Ratingagentur Fitch warnt Türkei: Lira verliert an Wert
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Ratingagentur Fitch warnt Türkei: Lira verliert an Wert
Ausgabe | 38 02. Dezember 2011 Interview: Werner Felten über Neonazis und Migranten in Deutschland Wirtschaft Ratingagentur Fitch warnt Türkei: Lira verliert an Wert Fitch hat den Ausblick auf die künftige Bewertung der türkischen Kreditwürdigkeit von „positiv” auf „stabil” herabgestuft. N achdem die Ratingagentur Fitch die Türkei am Mittwoch vor eineinhalb Wochen vor wachsenden Risiken für die wirtschaftliche Stabilität des Landes gewarnt hat und die türkische Kreditwürdigkeit von „positiv” auf „stabil” herabgestuft hat, ist die türkische Lira gegenüber dem Dollar um ein Prozent auf 1,8706 je Dollar gefallen. Darüber hinaus setzte die türkische Zentralbank am 23. November überraschend ihre Fremdwährungsauktion aus, mit der die Währungshüter bereits seit dem 5. August versuchen, den Abwärtstrend der Lira zu stoppen. Das Rating selbst bleibt zwar bei „BB+”, doch Fitch fordert, die Türkei müsse ihr Leistungsbilanzdefizit ins Lot bringen und die Inflation bekämpfen. Das fordert auch die Ratingagentur Frust an der Istanbuler Börse. Die türkische Lira hat wegen eines Warnschusses der Ratingagentur Fitch deutlich nachgegeben. Foto: ddp images/AP Moody‘s. Allerdings kündigte diese an, die Türkei habe Chancen auf ein Upgrade, sollte die Regierung das Defizit ausgleichen können. Wenige Tage zuvor hatte der türkische Staatsminister Ali Babacan bereits angekündigt: „Wir schalten auf den vierten Gang herunter.“ Nach einer langen Boomphase gelte es, die türkische Wirtschaft zu bremsen, nachdem die Türkei in der ersten Hälfte 2011 mit 10,2 Prozent unter den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt lag. Bereits im Sommer schwächelte die Lira massiv. Gegen den Euro befand sich die Währung in einem langfristigen Abwärtstrend. Am 3. Juni lag der Wechselkurs mit 2,3053 Lira je Euro auf dem höchsten Stand seit Einführung des Euro. Gastkommentar Rechtsextremismus schafft Deutschland ab In Deutschland sind Neonazis und ihre Helfer jahrelang scheinbar unerkannt und mordend durch die Republik gezogen. Die harmlose Bezeichnung der Bluttaten als „Dönermorde“ lässt nichts Gutes erahnen. Dass in diesem Land eine ernste Gefahr von Nazis ausgeht, soll lange Zeit für Politik, Sicherheitsbehörden und Justiz ein Tabu gewesen sein. Zahlreiche Studien verweisen darauf, dass rechtsextreme Einstellungen in allen Schichten der Gesellschaft und immer mehr in der Mitte vertreten sind. Neben den Nachwirkungen des 11. September 2001, Sarrazin oder die plumpe Äußerung des Innenministers Friedrich (CSU), der Islam gehöre nicht zu Deutschland, war besonders verantwortungslos, dass Bundeskanzlerin Merkel und ihr Kollege Seehofer im vorigen Jahr den Multikulturalismus in Deutschland für „absolut gescheitert“ und „tot“ erklärten. Seit Jahren werden Aufklärungsprogramme, Mittel für zivilgesellschaftliche Organisationen und die Jugendarbeit im Kampf gegen Rechtsradikalismus gekürzt, so auch für 2012. Diese Politik muss revidiert werden. 2010 gab es in Deutschland im Schnitt täglich drei Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund. Die Zahl der Todesopfer durch rechtsextreme und rassistische Gewalt in den letzten 20 Jahren wird laut der Amadeu-Antonio-Stiftung mit 182 angegeben. Die Regierung dagegen zählte lediglich 47 Opfer. Da stellt sich die Frage, wie Politik, staatliche Behörden, Staatsanwaltschaft und Polizei mit rechtsextremer Gewalt umgehen. Das Vertrauen gegenüber dem Rechtsstaat hat durch die jüngste „Staatsaffäre“ Schaden genommen. Es muss aufgeklärt werden, unter welchen Umständen die beiden Terroristen „Selbstmord“ begangen. Interessant ist auch die Frage, ob und wenn ja, welche Gemeinsamkeiten es bei den türkischen Opfern gab. Kann man von einer systematischen Ermordung ausgehen oder wurden die Opfer „willkürlich“ ausgesucht? Die Ermittlungen können eine Staatskrise zur Folge haben – zumal dann, wenn sich ergibt, dass es gegen Rechtsextremisten eine heimliche Linie der Schonung und Nachsicht gegeben haben sollte. Wir benötigen, wie zahlreiche kritische Politiker fordern, eine Veränderung der Sicherheitsarchitektur Deutschlands, die noch in der Zeit des Kalten Krieges festzustecken scheint. Beschämend ist, dass niemand, weder aus der Politik noch von den Behörden, daran denkt, die Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten. Falls keine Lehren aus dieser „Affäre“ gezogen werden, befinden sich unser Rechtsstaat und damit unsere freiheitliche demokratische Grundordnung in Gefahr. Doch: Im Moment ist nicht die Zeit für eine Diskussion über ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD. Dies sollte mit kühlem Kopf, wohlüberlegt und mit zeitlichem Abstand zu dieser „Geheimdienstaffäre“ stattfinden. Ansonsten macht man sich erneut verdächtig, von eigenen Fehlern und dem eigentlichen Skandal abzulenken. Der Autor Yasin Baş ist Politologe am Kölner forege-Forschungszentrum für Religion und Gesellschaft in Köln. 1 Ausgabe | 38 Vor allem die Urlauber freute das: Für ihre Euros bekamen sie im August 25 Prozent mehr türkische Lira als noch im Winter. Dem Rekordtief des Sommers begegnete die Türkische Zentralbank mit weiteren Stärkungsmaßnahmen der eigenen Währung. Durch Dollarverkäufe sollte die Abwertung der Lira gestoppt werden. Doch spätestens im Herbst, als die Lira ein 02. Dezember 2011 erneutes Rekordtief erreichte, warnten die internationalen Ökonomen, die Strategie sei zu kurzfristig gedacht. Zudem zogen sich immer mehr Investoren aus den türkischen Werten zurück. Doch statt zurückzurudern, kündigte die Zentralbank an, 1,35 Milliarden US-Dollar zu veräußern – weitaus mehr als das im Durchschnitt bisher der Fall war – und lockerte außerdem die Regelungen für Wechselkursreserven. Der „Anatolische Tiger“, so die Meinung von Börsenexperte Benjamin Feingold, sei dennoch attraktiv: „Der ISE National 30, Leitindex der Istanbul Stock Exchange (ISE), gab seit Jahresbeginn um ein Fünftel nach. Für Anleger kann dies indes eine Einstiegschance in die türkische Wachstumsstory sein“, so Feingold. Frauenrechte Türkei: Vorstoß gegen häusliche Gewalt Noch immer erleiden Frauen in der Türkei häusliche Gewalt. Mit neuen Gesetzen soll in Zukunft dagegen hart vorgegangen werden. Z wangsehen, Genitalverstümmelung, physische und psychologische Gewalt, Stalking und sexuelle Gewalt gegen Frauen – dem soll nun endlich ein Ende bereitet werden. An der Umsetzung solcher Gesetze haperte es in der Türkei schon lange. Eine unabhängige Experten-Gruppe wird deren Verwirklichung künftig kontrollieren. Am Freitag entschied das Parlament Familienministerin Fatma Sahin (zweite v. rechts) protestiert mit anderen Frauen in Istanbul gegen häusliche Gewalt. Foto: DTN über eine Reihe neuer Gesetze. 13 Mitgliedsstaaten des Europarats hatten im Mai eine EU-Konvention gegen häusliche Gewalt in Istanbul unterzeichnet. Die Türkei ist das erste Land, das die EU-Bestimmungen des sogenannten Istanbul-Abkommens gesetzlich verankert. Gleichheit von Mann und Frau in Verfassung und Rechtssystem, Abschaffung diskriminierender Vorschriften, Thematisierung der häuslichen Gewalt im Schulunterricht, Verbesserung der Hilfsangebote für Betroffene, Verhinderung von Zwangsehen – zu diesen und noch vielen anderen neuen Regelungen hat sich die Türkei in der vergangenen Woche verpflichtet. Alle im türkischen Parlament vertretenen Parteien sprachen sich für die neuen Gesetze aus. Nur ein Abgeordneter enthielt sich. Am Freitag wurde dieser Vorstoß in der Istanbuler Bahcesehir Universität mit Ver- tretern der UN und zahlreichen Politikern verkündet. Familienministerin Fatma Sahin erklärte: „Ich habe in der vergangenen Nacht sehr gut geschlafen. Das Parlament dieses Landes hat gezeigt, dass es gemeinsam Lösungen für Probleme finden kann.” Die Türkei verzeichnet trotz verschärfter Gesetze weiterhin viele Fälle häuslicher Gewalt. Die Umsetzung der Regelungen soll nun durch eine unabhängige Experten-Gruppe kontrolliert werden. Zudem werden die Gesetze ergänzt. Auch Stalking und psychologische Gewalt werden in Zukunft strafbar sein. Vuslat Doğan Sabancı, Vorstandsvorsitzende der Zeitung „Hürriyet”, sagte bei der Konferenz in Istanbul: „In den vergangenen Jahren haben mehr Frauen ihr Leben durch häusliche Gewalt verloren als Menschen bei dem Van-Erdbeben gestorben sind. Das ist unsere Schuld. Wir sind hier, um das zu stoppen.” Drohung Iran: Wir können die Türkei angreifen! Der iranische General Hadschisadeh hat in einer Rede vor der iranischen Revolutionsgarde der Türkei massiv gedroht. V or 10.000 Mitgliedern der iranischen Revolutionsgarde verkündete General Amir Ali Hadschisadeh, die Türkei sei das erste Ziel eines Angriffs, sollte es zu einer Bedrohung kommen. Grund dafür sei das Raketenabwehrsystem der NATO in Malatya. „Wir sind bereit, den NATO-Raketenschild in der Türkei anzugreifen, wenn wir einer Bedrohung ausgesetzt sind, und dann werden wir anderen Zielen nachgehen“, erklärte Amir Ali Hadschisadeh laut „Hürriyet“ bei einer Rede vor 10.000 Mitglie- dern der iranischen Revolutionsgarde. Die Zeitung beruft sich dabei auf die türkische Seite der iranischen Nachrichtenagentur „Mehr“. Hadschisadeh ist Leiter der Abteilung für Luft- und Raumfahrt der Revolutionsgarde. Schon als im September das Raketenabwehrsystem in der Provinz Malatya stationiert wurde, hatte der Iran sich bedenklich geäußert. So klar für einen Angriff allerdings hatte sich die iranische Spitze jedoch noch nicht ausgesprochen. Die iranische Revolutionsgarde (im Bild) hält sich in Bereitschaft. General Hadschisadeh hat in einer Rede eine ernstzunehmende Drohung in Richtung Türkei ausgesprochen. Foto: DTN 2 Ausgabe | 38 „Keine Bedrohung wird vom Iran unbeantwortet bleiben“, betonte Hadschisadeh weiter. Das Raketenabwehrsystem sei eine solche Bedrohung. Um das Land zu schützen, sei man zu allem bereit. Die Türkei werde von Israel und den USA für ihre eigenen 02. Dezember 2011 Interessen benutzt. Er erklärte: „Wir sind uns sicher, die USA tun das für das zionistische Regime Israels. Doch um die Menschen hinters Licht zu führen, insbesondere die Türken, sagen sie, die NATO tue das.“ Die USA hätten vor, den Iran einzu- kreisen und so die Kontrolle zu gewinnen. Der nächste Schritt werde ein Radarsystem in den südlichen Nachbarländern sein, meint er. Das türkische Volk werde diesen Komplott allerdings nicht zulassen, so Hadschisadeh. Rechte Gewalt Zwei Türken bei Neonazi-Attacke in Dortmund schwer verletzt Am vergangenen späten Samstagabend sind in Dortmund zwei Türken bei einem Angriff durch Neonazis schwer verletzt worden. D ie in Dortmund aufgewachsenen Türken im Alter von 16 und 17 Jahren seien an der Reinoldikirche in Dortmund mit Fausthieben und Tritten gegen den Kopf traktiert worden, nachdem einer von ihnen kurz zu einem der Schläger Blickkontakt gehabt habe, berichten die „Ruhr Nachrichten“. Daraufhin habe er ihm zuerst den Satz: „Was guckst du, du Bastard“ zugerufen und ihn dann auch sofort körperlich angegriffen. Der andere der beiden Türken habe, als er seinem Freund helfen wollte, mit einer Flasche einen Schlag gegen den Hinterkopf bekommen und sei gestürzt. Dann habe er nach eigener Aussage „nur noch Springerstiefel gesehen“. Er sei von mehreren Personen ins Gesicht und gegen den Kopf getreten worden und habe dabei auch den Satz „Scheiß Aus- In der Nähe dieser Kirche fand in Dortmund der Angriff auf die beiden Türken durch die rechtsextremen Neonazis statt. Foto: flickr/t.bo79 länder“ vernommen. Beide Opfer erlitten Kiefer-Prellungen, Verletzungen an der Nase, Platzwunden, Blutergüsse und Gehirnerschütterungen. Drei der sechs Täter wurden festgenommen. Einer von ihnen soll der bekannte Neonazi Sven K. (24) sein, der 2005 mit einem Messer in einer Dortmunder U-Bahn-Haltestelle (Kampstraße) den Punker Thomas „Schmuddel“ Schulz erstochen hatte. Sven K. erhielt damals dafür eine siebenjährige Jugendhaftstrafe, war jedoch im September 2010 vorzeitig aus dieser entlassen worden. Nun sitzt er wieder im Gefängnis. Die anderen fünf Täter sollen aus der Skinhead-Front Dorstfeld stammen. Kurden-Konflikt Berlin: Demonstration gegen Rechtsextremismus eskaliert Bei einer Protestaktion gegen rechte Gewalt gerieten Kurden und Türken aneinander. 71 Personen wurden festgenommen. A m vergangenen Samstag haben etwa 2000 Menschen in Berlin gegen Rechtsextremismus demonstriert. Eine ebenfalls auf Samstag angesetzte De- Polizisten führen am Samstag (26.11.11) in Berlin bei einer Demonstration gegen Rechtsradikalismus einen Demonstranten (3.v.r.) ab. Foto: ddpimages/dapd monstration von Kurden war am Freitag zuvor verboten worden. Die kurdischen Gruppen schlossen deshalb dem Protest gegen Rechtsextremismus an. Obwohl sie auf Ausschreitungen vorbereitet waren, konnten die rund 2000 Polizisten eine Eskalation nicht verhindern. 86 Verletzte und 71 Festnahmen – Die Bilanz einer Demonstration gegen Rechts in Berlin-Kreuzberg. Linke und antifaschistische Gruppen hatten am Samstag zum Protest unter dem Motto „Staat und Nazis Hand in Hand? Gegen Faschismus und Polizeistaat!“ aufgerufen. Etwa 2000 Menschen marschierten vom Bezirk Kreuzberg in Richtung Mitte. Die Polizei rückte mit fast ebenso vielen Beamten an. Auch kurdische Vereine hatten sich dem Protestzug angeschlossen, denn ihre ebenfalls am Samstag angesetzte Demonstration war am Freitag zuvor verboten worden. Das Oberverwaltungsgericht hatte als Begründung genannt, die von der YEK-KOM e.V. („Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V.“) angemeldete Demo könnte für PKK-Propaganda genutzt werden. Einige der Kurden, die sich der Demonstration anschlossen, hatten dann auch Symbole und Fahnen der verbotenen Terrororganisation PKK bei sich. Mit gewaltbereiten Teilnehmern habe man gerechnet, hieß es von Seiten der Polizei. Aus der Erfahrung mit früheren Demonstrationen kurdischer Gruppen, bei denen Feuer entfacht wurde, hätten die Beamten Feuerlöscher dabei gehabt und seien auf Ausschreitungen vorbereitet gewesen, meldete der „Tages- 3 Ausgabe | 38 spiegel”. Der Protest gegen rechtsextremistische Gewalt geriet schnell in den Hintergrund. Bei dem Aufmarsch durch Kreuzberg begannen einige der rund 2000 Teilnehmer mit Steinen, Flaschen und anderen Geschossen zu werfen. Teilweise wurden Polizisten angegriffen, in dem 02. Dezember 2011 Versuch, sich gegen Festnahmen zu wehren. Die Polizei versuchte, das mit Pfefferspray zu unterbinden. Über 80 Beamte wurden verletzt und 71 Demonstranten festgenommen. 46 Verfahren wegen Landfriedensbruch und Körperverletzung wurden eingeleitet. Untereinander lieferten sich Kurden und Türken in Kreuzberg zum Teil Massenschlägereien. Ein Mann wurde niedergestochen und schwer verletzt in eine Klinik eingeliefert. Die Demonstration gegen Rechtsextremismus wurde vom Veranstalter vorzeitig beendet. Es könne nicht mehr die Sicherheit der Teilnehmer garantiert werden, erklärten diese. Gesetzentwurf Türkische Männer können sich bald vom Wehrdienst freikaufen Männer über 29 sollen sich gegen eine Zahlung von 30.000 türkischen Lira oder ca. 12.000 Euro vom Wehrdienst befreien können. M inisterpräsident Erdoğan, der die Details des lange erwarteten Gesetzentwurfs vorstellte, sagte, man verfolge mit dem neuen Gesetzentwurf zwei konkrete Hauptziele: Das erste sei die Verringerung der Zahl der zurückgestellten Wehrpflichtigen sowie die Zahl derjeniger, die ihren Wehrdienst etwa wegen eines Studiums aufschieben. Zweitens solle das durch diese Maßnahme eingenommene Geld sozialen Programmen in der Türkei zugute kommen – so etwa auch den Angehörigen gefallener Soldaten, Veteranen oder Kriegsversehrten. Erdoğan unterließ es in seiner Rede nicht, zu betonen, dass durch die Anordnung der Eine militärische Ehrengarde gibt einem von 24 von der PKK an der Grenze zum Irak getöteten türkischen Kampf gegen den Terrorismus Soldaten das letzte Geleit. Mütter und Väter schicken ihre Söhne nur ungern zum Militär. nicht geschwächt werde. Ab Foto: ddp images/AP dem Datum, wo die neue Regelung in Kraft tritt, können demnach neuen Gesetz werden sie komplett vom entbinde diejenigen, die Geld haben, alle Männer über 29 entweder den vollen Wehrdienst befreit, wenn sie – unabhän- vom Militärdienst, während die Armen Betrag von 30.000 türkischen Lira auf gig von ihrem Alter – im Gegenzug eine keine Chance hätten. Bei Gefechten mit der terroristischen Anhieb bezahlen oder aber zunächst die Zahlung von 10.000 Euro leisten. Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender PKK im Südosten der Türkei sterben imHälfte der Summe und den Rest inner- halb von sechs Monaten überweisen. der größten Oppositionspartei CHP, mer wieder zahlreiche Soldaten. Klar, Das Gesetz vereinfacht auch die forderte die türkische Regierung auf, dass die Eltern ihre Söhne ungern zum Wehrpflicht für türkische Staatsangehö- über den geplanten Gesetzesentwurf Militär schicken. Doch die Befreiung rige im Ausland. Vorausgesetzt, dass sie in einem Volksentscheid bestimmen zu vom Wehrdienst können sich nur die mindestens drei Jahre im Ausland ver- lassen, wenn dieser im Parlament ge- wenigsten leisten. 30.000 türkische Lira bracht haben, mussten türkische Bürger billigt wird. Er kritisierte die geplante bzw. 12.000 Euro sind in der Türkei sehr bislang je nach ihrem Alter zwischen Regelung, da sie vor allem die Reichen viel Geld. Der Durchschnittsverdienst 5.000 und 7.500 Euro bezahlen und dann begünstige, während sie die finanziell eines Türken liegt zwischen 500 und in der Türkei eine 21-tägige militärische schlechter gestellten Bürger der Türkei 800 Euro. Einen Zivildienst gibt es in der Grundausbildung absolvieren. Mit dem benachteilige. Er sagte, der Vorschlag Türkei nicht. 4 Ausgabe | 38 02. Dezember 2011 Interview Deutsche und Türken: „Schon der Name Soko ‚Bosporus‘ sagt alles“ Werner Felten, Gründer des ersten türkischsprachigen Radiosenders in Deutschland, Metropol FM, spricht im Interview über seine Empörung angesichts des Begriffs „Dönermorde“, den „Trauertag“ zum 50-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei sowie die seiner Meinung nach in Deutschland existierende „Integrationsindustrie“. Deutsch Türkische Nachrichten: Die Neonazi-Morde haben Deutschland erschüttert. Wie haben Sie die Berichterstattung wahrgenommen zu dem Thema? Werner Felten: Also ob diese Morde wirklich Deutschland erschüttert haben, wage ich zu bezweifeln, also bestimmt nicht ganz Deutschland. Schon die Titulierung der Soko „Bosporus“ sagt eigentlich schon alles, wie Deutsche, die aus der Türkei stammen, angesehen werden. Und dann auch der Begriff „Dönermord“ – eine Schande für den deutschen Journalismus! Menschen mit Döner gleichzusetzten geht gar nicht. Stellen Sie sich mal vor, es würden acht deutsche Metzger ermordet und man würde von „Wurstmord“ sprechen. Wird sich nun wirklich etwas ändern in der Betrachtungsweise des Rechtsterrorismus und seiner Gefahren? Nein, denn die stillen Sympathisanten sind in großer Zahl in allen gesellschaftlichen Schichten und damit auch in Behörden, Schulen und Wirtschaft vorhanden. seren Integrationsleistung beharrt. Können Sie das nachvollziehen? Werner Felten Foto: Random House überhaupt begehen will – ein 50-jähriges Problem oder den Leuten nach 50 Jahren einmal Dankeschön zu sagen? Man sollte einmal ausrechnen, welches Bruttosozialprodukt die türkischen Menschen in 50 Jahren erwirtschaftet haben für die Deutschen. Das wäre einmal eine angemessene Form des Dankeschöns gewesen. Sie wurden aufgrund Ihres Buches „Allein unter Türken“ (*) in den Medien als der Anti-Sarrazin betitelt. Schmeichelt Ihnen das? Frau Merkel hat kritisiert, dass die Türken sich mehr integrieren sollten. Bis heute hat kein Mensch den Türken gesagt, was Integration eigentlich ist. Wenn man in einem anderen Land lebt, muss man die Sprache können, doch damit ist auch schon Schluss. Alles andere regelt das Grundgesetz und das Bürgerliche Gesetzbuch. Was man auf dem Kopf tragen darf oder was nicht oder welche Religion man ausübt, das entscheidet der Mensch allein. Mehr kann man von anderen Menschen – und zwar nicht nur den Türken – nicht verlangen. Das Problem ist, glaube ich, ein ganz anderes. Es gibt in Deutschland – ich nenne es etwas spöttisch – eine Integrationsindustrie. Es gibt wirklich viele Menschen, die von diesem Problem ihr berufliches Auskommen haben, dass die Türken nicht integriert sind. Sie wollen das Problem auch gar nicht lösen, denn damit würden sie ihren eigenen Arbeitsplatz abschaffen. Das klingt nach Verschwörungstheorie… Wurde überhaupt gemeinsam ein deutsch-türkischer Feiertag zelebriert oder wurde nicht viel mehr die ganze Zeit nur debattiert? Im Zusammenhang mit diesem Namen möchte ich eigentlich nicht so gern genannt werden. Warum ich das Buch geschrieben habe, hatte mehrere Gründe. Erstens habe ich die Türken anders erlebt damals als sie in den Medien dargestellt wurden. Andererseits haben mich Deutsche gefragt: Warum gehst du zu Türken arbeiten? Und die Türken haben sich innerlich gefragt: Warum kommt ein Deutscher zu uns? Ich bin dann quasi in die türkische Community eingewandert und wollte über die Befindlichkeit auch sprechen. Wenn man bedenkt, was sowohl der türkische Premier Erdogan als auch die Kanzlerin geäußert haben, würde ich sagen: Es war kein Feiertag. Es war eher ein Trauertag. In der Form hätte man es auch sein lassen können. Man hätte sich vorher einmal klar machen müssen, was man da Nicht wenige Türken, die bereits fest etabliert sind in Deutschland und hier seit Generationen leben, sind frustriert ob der Tatsache, dass sie von führenden Politikern immer noch als die Türken angesehen werden, die vor 50 Jahren nach Deutschland kamen, dass Frau Merkel immer wieder auf einer zu wünschenden bes- Ein Satz in ihrem Buch lautet: „Die Fixierung vieler Türken auf die eigene Familie führt für viele zu einer Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft.“ Das ist ja ein Problem, was eigentlich nicht so einfach zu lösen ist, oder? Kürzlich jährte sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum 50. Mal. Wie haben Sie den Tag erlebt? Ich fand das Ganze schon sehr merkwürdig, weil man nicht wusste, was das eigentlich war: Soll das jetzt eine Feier sein? Oder eine Feststellung? Oder was sonst? Nein, ich habe das in meinem Buch unter dem Kapitel „Berufstürken“ beschrieben. Menschen, die tagtäglich wieder ein Problem aus dem Hut zaubern, damit sie es dann lösen können. Wenn man Integration so auffasst, wie ich es eingangs gesagt habe, dann müsste man viele Dinge gar nicht problematisieren. Ich möchte aber nicht in Abrede stellen, dass es im Bereich Erziehung und im Bereich der Schule noch erheblichen Bedarf an Integration gibt. Nein, das ist das große Problem. Der hohe 5 Ausgabe | 38 Stellenwert der Familie in der türkischen Kultur und der Nicht-Stellenwert der Familie in der deutschen Kultur. Da gibt es zwar immer diese Umfragen, wenn die Deutschen befragt werden, was sie denn am wichtigsten empfinden. Dann sagen sie immer „die Familie“, wobei sie wahrscheinlich ihre eigenen Eltern oder Geschwister meinen. Ihre eigenen Kinder können sie nicht meinen, denn die haben sie mehrheitlich nicht. Und da ist die große Diskrepanz. Unsere Gesellschaft ist familienfeindlich aufgebaut. Das Wertesystem kennt den Wert der Familie eigentlich gar nicht mehr. Eine aktuelle Studie, die mittels einer Umfrage über Facebook gemacht wurde zeigt, dass die extrem rechten Ansichten auch unter Jugendlichen immer mehr in ganz Europa zunehmen, so auch die Vorurteile gegenüber Muslimen. Macht ihnen das Angst? Ja, das kann einem schon Angst machen, weil man ja aus bestimmten Geschichten weiß, wohin das führen kann. Auch in meiner Zeit beim Radio konnte ich das sehr gut beobachten. Am Anfang war das ein türkisches Radio. Ab dem 11. September 2001 war es auf einmal ein muslimisches Radio, nicht in meinen Augen, aber in denen der Außenstehenden. Wenn es Nationen gut geht, dann behandeln sie ihre Minderheiten neutral, manchmal haben sie sie sogar lieb. Wenn es ihnen aber schlecht geht, dann mucken sie dagegen auf. Dann kommt es vor, wenn es den Menschen in diesen Ländern vielleicht einmal wirtschaftlich richtig schlecht gehen sollte, dass es dort verstärkt Islamgegner gibt. Das ist dann schon sehr bedenklich. 02. Dezember 2011 bevor steht, weiß ich gar nicht, ob es überhaupt noch Spaß macht, in die EU einzutreten. cher unserer Politiker übrigens spricht. Nicht Türkisch zu können, entwurzelt die Menschen, glaube ich, doch sehr stark. Spielt der Kurdenkonflikt in Deutschland eine Rolle? Nicht wenige behaupten, nun beginne ein Kampf um die gut ausgebildeten türkischen Arbeitskräfte zwischen der Türkei und Deutschland. Sehen Sie das auch so? Ja, er spielt eine große Rolle. Vergessen sie nicht die kurdische Besetzung der RTLRäume vor ein paar Monaten. Das ist das größte Problem, was die Türkei hat. Dass das auch einen Einfluss auf einen Eintritt in die EU hat, glaube ich nicht. Aber man darf nicht vergessen: In Deutschland sind sehr sehr viele Menschen kurdischer Herkunft. Allein in Berlin sind es fast die Hälfte der Türken. Wie nehmen Sie die Sprachdebatte wahr – sollen Türken erst Deutsch lernen, dann Türkisch oder andersrum? Diese Debatte kann man relativ leicht auf einen Punkt bringen. Die Sprache heißt bei uns ja Muttersprache – das heißt, das Kind lernt die Sprache von der Mutter. Wenn die Mutter Türkisch spricht, dann muss das Kind Türkisch lernen und es sollte auch als erstes Türkisch lernen, weil es sonst von seiner Kultur entwurzelt wird. Es sollte Türkisch lernen und dann gut Deutsch lernen, besseres Deutsch als man- Wenn das wirklich so wäre, dann müsste man ja Frau Merkel unterstellen, dass sie glaubt, dass alle Türken gut ausgebildet sind. Dann könnte sie ja den ganzen Integrationsplan ad acta legen und die Integrationsindustrie entlassen. Es geht hier vielleicht um einen Bruchteil von türkischen Menschen, die umworben werden. Aber die entscheiden letztlich nicht nur nach finanziellen Gesichtspunkten, sondern auch danach, wo sie zuhause sind. Und da gehe ich davon aus, dass wahrscheinlich nicht wenige Türken, die hier in Deutschland seit 30 oder 35 Jahren leben und deren Kinder hier sozialisiert sind, gar nicht mehr mit der türkischen Mentalität zurechtkommen würden. (*)Allein unter Türken: Mitten drin statt von oben herab (Südwest Verlag, 2010) Interview: Felix Kubach, Mitarbeit: Nicole Oppelt Gehört die Türkei in die EU? Nein. Weil die Türkei ein muslimisches Land ist und Europa ist ein christliches Gebiet. Die latente Spannung, die zwischen Christentum und Islam in Deutschland herrscht, würde sich dann auf ganz Europa ausdehnen. Das heißt, die Anstrengungen in die EU zu kommen, sollte Erdogan sein lassen? Mittlerweile sage ich immer: Angesichts der Griechenland-Krise, was in Italien Werner Felten:„Stellen Sie sich mal vor, es würden acht deutsche Metzger ermordet und man würde von ‚Wurstmord‘ sprechen.“ Foto: krossbow/flickr 6 Ausgabe | 38 02. Dezember 2011 Meldungen Dersim-Massaker: Krieg der Worte entbrannt Die Entschuldigung Erdogans für das Dersim-Massaker in den 1930er Jahren im Namen des türkischen Staates ist für Oppositionsführer Kilicdaroglu (CHP) nicht befriedigend. Während der türkische Ministerpräsident Erdogan (AKP) eine Entschuldigung von Oppositionsführer Kilicdaroglu fordert, will dieser die Staatssarchive zu dem Verbrechen öffnen und sagt, eine bloße Entschuldigung sei nicht ausreichend. Devlet Bahceli, Oppositionsführer der MHP sagte dagegen, der Vorfall von Dersim sei kein „Massaker”, wie von Ministerpräsident Erdogan dargestellt, sondern „eine Rebellion” gewesen. Erdogan solle „seine Entschuldigung [für Dersim] zurückziehen und sich stattdes- sen für seine Verleumdungen bezüglich eines Massakers entschuldigen“. Bei dem Massaker von Dersim wurden Tausende von Aleviten durch das Militär im Jahr 1937 getötet. auf die Klangähnlichkeit zwischen den Wörtern „vinç” (dt. Kran) und Leonardos Nachnamen „Vinci“ an. So wurde Bagis am Montag zum weltweit viertgrößten Trend auf Twitter. Türkischer EU-Minister wird TwitterTrend! Davutoglu: Türkei bereit für „jedes Szenario“ in Syrien Der EU-Minister der Türkei, Egemen Bagis, hat es geschafft, eine kleine Twitter-Sensation zu werden. Während eines Meetings zum „Leonardo-da-Vinci-Programm“, das die berufliche Ausbildung fördern soll, machte er einen Kalauer, der anschließend seinen Weg zur Mikroblogging-Seite twitter.com fand. „Geçen gün kamyon sürdüm, Leonardo da vinci“ (dt. Ich steuerte letztens einen LKW und Leonardo bediente den Kran), sagte er und spielte damit Zwar schließt die Türkei eine militärische Option im Nachbarland Syrien aus, aber sie ist bereit für jedes Szenario, so der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu. „Wenn die Unterdrückung weiter geht, ist die Türkei für jedes Szenario bereit. Wir hoffen, dass ein militärisches Eingreifen nie notwendig wird. Das syrische Regime muss einen Weg finden, Frieden mit der eigenen Bevölkerung zu schließen“, sagte er. Ein Regime, welches die eigenen Leute bekämpft, habe keine Chance zu überleben. Schröder wegen „Zwangsehen“ unter Druck Ibrahim Tatlises nimmt sein 43. Album auf: Ibrahim Tatlises ist zurück! Der im März bei einem Mordanschlag schwer verletzte türkisch-kurdische Sänger arbeitet an einem neuen Album. Ibos neues Album wird den bedeutungsvollen Namen „Das Wunder“ (trk. Mucize) tragen. Er feierte den Beginn der Aufnahmen mit seiner Crew und seiner Frau Aysegül Yildiz, die er erst vor kurzem im Krankenhaus in Istanbul heiratete. Ibo erklärte: „Ich kann es nicht erwarten, mit meinen Fans das Wunder zu teilen, das Gott mich hat erleben lassen.“ Das Album werde aus zwölf Liedern bestehen, so sein Produzent Polat Yağcı. Es wird das 43. Album von Ibrahim Tatlises sein. Foto: DTN Familienministerin Kristina Schröder (CDU) hat nach Ansicht des wissenschaftlichen Beirats des Schröder-Ministeriums in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” die Ergebnisse einer Studie zu Zwangsehen völlig falsch ausgelegt und damit anti-muslimische Ressentiments geschürt. In einer schriftlichen Stellungnahme bemängelt der wissenschaftliche Beirat des Familienministeriums etwa die Tatsache, dass Schröder von „3443 Fällen von Zwangsverheiratungen” spricht, welche die Beratungsstellen in Deutschland für das Jahr 2008 registriert haben. Der genaue Wortlaut der Studie hatte gelautet, es seien „3443 Personen im Jahr 2008 in insgesamt 830 Beratungsstellen erfasst” worden. Davon seien „60 Prozent angedrohte und 40 Prozent vollzogene Zwangsverheiratungen”. Impressum Herausgeber: Dr. Michael Maier, Ercan Karakoyun. Chef vom Dienst: Felix Kubach. Chef vom Dienst-Assistenz: Nicole Oppelt. Redaktion: Merve Durmus, Ceyda Nurtsch, Serpil Tirhis-Efe. Layout: Elke Baumann. Copyright: Blogform Social Media GmbH, Lietzenburger Str. 77, D-10719 Berlin. HR B 105467 B. Telefon: +49 (0) 30 / 81016030, Fax +49 (0) 30 / 81016033. Email: info@blogformgroup.com. Erscheinungsweise wöchentliches Summary: 52 mal pro Jahr. Bezug: abo@blogformgroup.com. Mediadaten: media@blogformgroup.com. www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de 7