vollständige PDF Ausgabe - Deutsche Gesellschaft für

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vollständige PDF Ausgabe - Deutsche Gesellschaft für
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Bernd Reuschenbach et al.
Methodennutzung, -präferenz und
-fortbildungsbedarfe in der deutschsprachigen Pflegewissenschaft –
Ergebnisse einer Online-Befragung1
Use, preference and educational needs of research methods in nursing
science in german speaking countries – results of an online sur vey
Between September 2009 and Februar y 2010 127 nurse researchers from Germany,
Austria and Switzerland took par t in an online-sur vey assessing their methodological
competencies and the research methods they teach. In addition, they were asked about
their individual needs concerning research methodological training, as well as about
their decision-making strategy when choosing and using research methods.
The results show, that most par ticipants have competencies in qualitative and quantitative research methods. Almost 70% of the par ticipants are well schooled in both fields.
The research methods most commonly used and taught were descriptive and correlative
methods, as well as content-analysis, and a grounded theor y approach.
A comparison between the individual methodological competencies and the needs expressed by the par ticipants concerning their methodological training revealed the necessity to improve communication within the scientific community.
The results indicate that a general debate on the specific research methods used in nursing research versus the appropriate methods for the nursing field, is due for discussion.
The study highlights some impor tant issues regarding future methodological developments in nursing science. The results also provide a useful basis for comparisons with
other scientific disciplines.
Keywords
research methods, methodological competencies, methodological training, decision
making in research
Im Rahmen einer Online-Erhebung wurden zwischen September 2009 und Februar 2010
insgesamt 127 Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler aus Deutsch-
1 Die Studie wurde durch eine finanzielle Forschungsförderung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft
unterstützt. Für hilfreiche Kommentare und Unterstützung bei der Konzeption der Studie danken wir Katrin
Koch, Inge Eberl, Gisela Kleinwechter, Regina Sauer und Andreas Lauterbach.
eingereicht 06.09.2011
akzeptiert 28.02.2012 (nach Überarbeitung)
197
Beiträge
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land, Österreich und der Schweiz zu ihren gelehr ten und genutzten Forschungsmethoden
befragt. Ergänzend wurden mittels offener Fragen For tbildungswünsche und Entscheidungsgründe für den Einsatz von Forschungsmethoden erhoben.
Die Ergebnisse zeigen, dass unter den Befragten ein großes Reper toire an qualitativen
und quantitativen Methoden vorgehalten wird. Knapp 70% der Befragten kennen sich auf
beiden Terrains aus. Neben deskriptiven und korrelativen Ver fahren zählen die Inhaltsanalyse und die Grounded Theor y zu den am häufigsten genutzten und gelehr ten Methoden. Ein Vergleich der Methodenkompetenzen und der For tbildungswünsche verdeutlicht, dass der kollegiale Austausch zukünftig geförder t werden sollte. Ebenso wird eine
grundsätzliche Diskussion über fachspezifische Methoden und die Angemessenheit der
Methoden vor dem Hintergrund des spezifischen pflegerischen Gegenstandes von den
Befragten geforder t. Die Ergebnisse können Anhaltspunkte für die methodische Weiterentwicklung der Pflegewissenschaft geben und stellen eine Grundlage für den Vergleich
mit anderen Wissenschaftsdisziplinen dar.
Schlüsselwörter
Forschungsmethoden, Gegenstandsangemessenheit, Curriculum, Methodologie, Erhebungsmethoden, Auswer tungsmethoden
Forschungsmethoden sind konstituierendes Element einer wissenschaftlichen Disziplin und deren Weiterentwicklung ist Kennzeichen einer fortschrittsfähigen Wissenschaft (Popper 1979). Während Einigkeit darin besteht, dass es in der Pflegewissenschaft, analog zu den anderen Wissenschaften, des Einsatzes von Forschungsmethoden
bedarf, herrscht Unklarheit darüber, ob es einen fachspezifischen Methodenkanon gibt
und wenn ja, ob dieser angemessen zur Anwendung kommt (Barrett 1998). Vor allem
die Frage, ob Pflegeforschung genuine Methoden anwendet (vgl. Bartholomeyczik
2000) oder anwenden sollte, wird kritisch diskutiert und benötigt darüber hinaus eine
methodologische Diskussion.
Die durch Hallberg (2006) angestoßene Debatte über notwendige Forschungsdesigns in der Pflegewissenschaft und ihre Positionierung zugunsten von Studien mit hoher externer Validität sowie die Repliken auf diesen Beitrag (Galvon et al. 2008; Borglin/Richards 2010) zeigen, wie schwierig es ist, Empfehlungen für die methodische
Weiterentwicklung einer Wissenschaftsdisziplin aufzustellen, weil sie das wissenschaftliche Selbstverständnis und die individuellen Methodenkompetenzen
berühren.2
Um dieses konstituierende Merkmal einer Wissenschaft hinsichtlich der Angemessenheit zu bewerten, bedarf es zunächst einer deskriptiven Analyse der genutzten und
gelehrten Methoden. Daraus lassen sich dann vor dem Hintergrund der Reflexion des
originären pflegerischen/pflegewissenschaftlichen Gegenstandes und des beruflichen
Selbstverständnisses Forderungen für die methodische Weiterentwicklung ableiten.
Darüber hinaus ermöglicht die Erfassung des Status quo der Methodennutzung, (1)
die besonderen Eigenheiten des Fachgebietes zu benennen, (2) einen Vergleich mit
2 Wie fruchtbar ein selbstkritischer Zugang ist, der zunächst die Dominanz einzelner Forschungsmethoden aufdeckt und diese mit dem Anspruch der Disziplin vergleicht, zeigt der Beitrag von Baumeister et al. (2007).
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Beiträge
existierenden internationalen Studien zur Methodennutzung (Polit/Beck 2009) und
(3) in der längsschnittlichen Betrachtung die Aufdeckung von Entwicklungstendenzen innerhalb der Pflegewissenschaft.
1. Problemstellung
Als relativ junge Disziplin besitzt die Pflegewissenschaft in Deutschland einen Querschnittscharakter und greift verfügbares Wissen der Nachbardisziplinen und Bezugswissenschaften auf. Darüber hinaus muss sie aber auch originäre pflegerische Belange
und Probleme bestimmen (Remmers 1999). Die Aufgabe der Pflegewissenschaft besteht daher in der Sammlung, Ordnung, Überprüfung und Generierung pflegerischen
Wissens. Als Methode zur Bewältigung dieser Aufgabe wird die Pflegeforschung genutzt. Pflegeforschung dient damit der methodischen Wissensvermehrung in der Pflege und bearbeitet hierfür Fragestellungen zum Gegenstandsbereich der Pflege. Da der
breit gefächerte Gegenstand „Pflege“ zusätzlich unterschiedlich definiert wird, führt
dies zu einer Vielzahl an unterschiedlichen Forschungsfragen (Panfil 2007). Angesichts
der Mehrdimensionalität von Pflege bedarf es auch eines Pluralismus auf der methodischen Ebene (Stemmer 2001). Daher ist mittlerweile die Pflegeforschungsszene in
Deutschland, wie auch in anderen Ländern, so groß, dass sie nicht im Einzelnen beschrieben werden kann (Schaeffer 2003: 321-322). Klare Konturierungen der „Pflegewissenschaft“ wie auch berufliche Eingrenzungen der Akteure (Wer gilt als Pflegewissenschaftlerin/Pflegewissenschaftler?) sind dadurch erschwert.
Wenn über Forschungsmethoden gesprochen wird, muss immer auch die Frage
nach dem zu Grunde liegenden Wissenschaftsverständnis, einem naturwissenschaftlichen oder einem sozialwissenschaftlichen Paradigma, beantwortet werden. Für die
Weiterentwicklung und Professionalisierungsbestrebungen der Pflegewissenschaft wäre eine alleinige Orientierung am naturwissenschaftlichen Paradigma nicht sinnvoll.
Dies würde die Vernachlässigung der individuellen Patientenperspektive bedeuten,
denn pflegebedürftige Menschen haben nicht nur körperliche, sondern auch leibliche
Bedürfnisse in existentiell belastenden Lebenssituationen (Friesacher 2008), die es für
den Pflegebedarf interaktionistisch auszuhandeln gilt. Gerade die wissenschaftstheoretisch formulierte doppelte Handlungslogik der Pflegepraxis (Remmers 1999) zeigt auf,
dass das Verstehen des individuellen Patientenproblems eine Verschränkung unterschiedlicher Wissensarten erfordert (Oevermann 1981, 1996). Nicht nur professionstheoretische Fragen, sondern auch die Anwendung der bestimmten Methoden zur Datenerhebung und -auswertung sind mit wissenschaftstheoretischen Positionen verbunden (Schaeffer 2002).
Daher wird für die Pflegewissenschaft eine Integration qualitativer und quantitativer Ansätze, welche auch vor allem bei komplexen Fragestellungen im Sinne einer Triangulation gewinnbringend sind, gefordert (Bartholomeyczik 2004).
Grundsätzlich sind Forschungsmethoden Werkzeuge, die aus unterschiedlichen
wissenschaftlichen Positionen zur Anwendung kommen können. Methoden sind in
199
Beiträge
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diesem Sinne ein spezielles System von (Handlungs-)Regeln, um an neue Erkenntnisse
zu gelangen. Sie sind auf einen Prozess und ein bestimmtes Ziel, wie z. B. eine systematische Problemlösung, hin ausgerichtet und sind daher zielgerichtet auszuwählen
(Brandenburg 2007). Diese zielgerichtete und auch zielführende Passung in der Auswahl von Methoden wird mit dem Begriff der „Gegenstandsangemessenheit“ beschrieben.
Trotz der bemerkenswerten Entwicklung der Pflegeforschung machen sich Defizite
für die Weiterentwicklung von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung bemerkbar. Eines der Defizite gründet sich in der Methodenwahl und -anwendung, denn es entsteht
der Eindruck bevorzugter Themenschwerpunkte (Hasseler 2005). Etablierte Methoden zur Erfassung des Stellenwertes einzelner Methoden bedienten sich bisher bibliometrischer Analysen (Hausner 2006; Traynor 2001; Polit/Beck 2009; Scholes 2010).
Die Ergebnisse solcher Studien sind ein Spiegelbild des (pflege)wissenschaftlichen
Mainstreams und damit auch systematischen Verzerrungen unterworfen. So kann beispielsweise das Peer-Reviewing zu einer Unterordnung in einen etablierten Methodenkanon zwingen, oder bestimmte, nicht den aktuellen Trends entsprechende Arbeiten,
werden gar nicht erst zur Publikation eingereicht. Auch die Analyse von Bildungsangeboten (z. B. anhand von Modulhandbüchern) oder Lehrbüchern ist diesen Verzerrungen unterworfen. Sie decken nicht den aktuellen Stand der Forschungsanwendung und
möglicher Bedarfe auf, sondern beschreiben etablierte Angebote und die als langfristig
relevant erachteten Methoden.
Eine systematische Erfassung der angewendeten und gelehrten Forschungsmethoden aus Sicht der Anwender liegt im deutsprachigen Raum nicht vor. Eine Recherche
in der Zeitschrift „Pflege“ der Jahre 1992-2001 ergibt eingeschränkte Hinweise. Die
dort veröffentlichten Forschungsarbeiten weisen im Gegensatz zu anderen Ländern,
die einen Überhang an qualitativen Methoden aufwiesen, auf eine steigende Bedeutung quantitativer Methoden hin. Triangulationen wurden selten verwendet und bestimmte Forschungsbereiche, wie die Methoden der historische Forschung, eher vernachlässigt (Bartholomeyczik 2004).
Eine direkte Befragung der Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler
ermöglicht unmittelbarere Hinweise auf die Methodenpräferenz und Lehrinhalte. Mit
diesem Ziel wurde die Erhebung in der vorliegenden Studie als Online-Befragung
durchgeführt. Ergänzend wurden zur Erfassung der perspektivischen Entwicklungsbedarfe die individuellen Fort- und Weiterbildungswünsche erfragt. Diese sind ein Spiegelbild der persönlichen Entwicklungsbedarfe, aber auch der disziplinspezifischen
Entwicklungsperspektiven.
Vier Fragestellungen stehen damit im Mittelpunkt der vorliegenden Studie:
- Welche Forschungsmethoden werden von Lehrenden und Forschenden, die sich
selbst der Pflegewissenschaft zuordnen, genutzt?
- Welche Forschungsmethoden werden im deutschsprachigen Raum gelehrt?
200
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Beiträge
- Welche Fort- und Weiterbildungswünsche werden bezüglich der Forschungsmethoden geäußert?
- Was sind Entscheidungsgrundlagen für die Methodenwahl und Entwicklungsbedarfe?
2. Methode
2.1 Design und Teilnehmerinnen/Teilnehmer
Die Erhebung wurde als Online-Befragung realisiert. Diese lief von September 2009
bis Februar 2010.
Wie oben dargestellt ist die Pflegewissenschaft eine junge Disziplin mit Bezügen zu
verschiedenen Disziplinen. In Anlehnung an die Aufgaben der Pflegewissenschaft sind
daher aus unserer Sicht als Pflegewissenschaftlerinnen/Pflegewissenschaftler all diejenigen zu fassen, welche zur methodischen Wissensvermehrung der Pflege, sei es in Empirie oder Theorie, beitragen und sich selbst daher als Pflegewissenschaftlerin/ Pflegewissenschaftler definieren. Die Eingrenzung der Stichprobe ergibt sich durch den Zugang:
Die Erhebung war über die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) zu erreichen. Um möglichst viele deutschsprachige Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für die Teilnahme an der Online-Befragung zu gewinnen, wurde der Email-Verteiler der DGP genutzt. Ergänzend wurden mittels einer
Internetrecherche wissenschaftliche Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und Lehrstuhlinhaber/Lehrstuhlinhaberinnen pflegebezogener Studiengänge an Universitäten und
Fachhochschulen sowie pflegewissenschaftliche Forschungsinstitute in Deutschland,
Österreich und der Schweiz ermittelt3.
Diese wurden via Mail mit einem integrierten nicht personalisierten Link eingeladen, an der Befragung teilzunehmen. Insgesamt wurden 323 Personen per Mail kontaktiert, 127 Personen haben sich an der Befragung beteiligt.
Inhalte und Form des Online-Fragebogens wurden innerhalb der Sektion Forschungsmethoden der DGP erarbeitet und konsentiert. Im Rahmen eines Pretests wurden mit jeweils zehn Personen zwei verschiedene Papierversionen und zwei verschiedene Onlineversionen hinsichtlich Bearbeitungsdauer, Verständlichkeit und technischer
Umsetzung bewertet. Auf dieser Grundlage wurde der finale Fragebogen entwickelt.
Die Datenerhebung erfolgte anonym. Es wurden keine Rechneradressen (IP-Adressen)
gespeichert. Der Abbruch der Befragung führte zum Löschen des jeweiligen Datensatzes. Freiwillig konnten Namen und Email-Adresse angegeben werden, um einen Pool
3 Auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft wurde zusätzlich ein Link zur Befragung
platziert, der auch Personen erreichen sollte, die nicht per Mail angeschrieben wurden, sich aber als
Pflegewissenschaftlerinnen/Pflegewissenschaftler verstehen. Eine genaue Bestimmung des Rücklaufs ist durch die
Form der Ansprache nicht möglich.
201
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
an Expertinnen und Experten für Fortbildungsangebote zu generieren. Ein positives
Votum der Ethik-Kommission der DGP lag vor Beginn der Studie vor.
2.2 Instrumente
Die Befragung gliederte sich in vier Teile
1.
2.
3.
4.
Genutzte und gelehrte Forschungsmethoden, Fortbildungswünsche
Entscheidungsgründe und Entwicklungsbedarfe
Berufsbiografische Fragen
Freiwillige Angaben der Kontaktadresse
Zur Erhebung der genutzten und gelehrten Forschungsmethoden wurde eine Auswahl
gängiger Forschungsdesigns, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, wie sie in den
meisten Methodenlehrbüchern zu finden sind, vorgegeben. Hierzu konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann angeben, ob diese von ihnen gelehrt, angewendet
oder als Fortbildungsthemen gewünscht werden. Bei den qualitativen Zugängen wurden auch Methodologien (Grounded Theory, Phänomenologie etc.) in die Befragung
aufgenommen. Weitere Methoden konnten als Freitext ergänzt werden.
Nach der Bestandsaufnahme im ersten Teil wurden im zweiten Teil die Entscheidungsoptionen für die Methodenwahl und die Entwicklungsbedarfe mittels folgender
aufgeführter offener Fragen erhoben:
1. Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie die Forschungsmethoden, die Sie anwenden wollen, aus?
2. Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf auf dem Gebiet der Forschungsmethoden für die
Pflegeforschung?
Die Befragten wurden im dritten Teil gebeten, Angaben zu ihren Forschungsschwerpunkten, Tätigkeitsfeldern und zur ihrer Berufsbiographie zu machen. Auf freiwilliger
Basis konnten am Ende persönliche Angaben (Name, Adresse, Email) hinterlassen werden.
2.3 Analyse
Die Antworten der standardisierten Fragen wurden mittels deskriptiver Statistik ausgewertet. Die Analyse erfolgte mit PASW Statistics 18 (SPSS Inc. 2009). Die Antworten zu den zwei offenen Fragen (Entscheidung für eine Methode, Entwicklungsbedarfe) wurden mit Hilfe von Atlas.ti 5.7.1 (Atlas.ti GmbH, 2011) kodiert, thematisch geclustert und anschließend anhand der entstandenen Kategorien quantifiziert.
202
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
3. Ergebnisse
Im Zeitraum von September 2009 bis Februar 2010 füllten 127 Personen den Fragebogen aus. Aufgrund der Angaben im dritten Teil des Fragebogens ergeben sich folgende
Stichprobencharakteristika: Mehrheitlich nahmen Frauen (66%) an der Befragung
teil. Von den 127 Personen, die Angaben machten, arbeiteten 45% zum Zeitpunkt der
Befragung an einer Universität, 35% an einer Fachhochschule, 16% in einem Krankenhaus und 10% in einer Fort- und Weiterbildungseinrichtung (Mehrfachantworten
waren möglich). Siebzehn Personen ergänzten zur Frage nach dem derzeitigen Arbeitsplatz freie Antworten. In vier dieser Fälle wurden Forschungsinstitute benannt. Die
meisten der teilnehmenden Personen haben ein Diplom (55%), eine Promotion (41%)
und/oder einen Masterabschluss (29%). Hinsichtlich der Art des Hochschulabschlusses dominiert ein Abschluss in Pflegewissenschaft (43%), gefolgt von Gesundheitswissenschaften (20%), Pädagogik/Erziehungswissenschaften (13%), Soziologie/Sozialwissenschaften (12%) und Pflege (10%). Weitere Angaben bezogen sich auf Pflegemanagement (9%), Pflege als grundständigen Studiengang (10%), Psychologie (6%),
Gerontologie (3%) und Medizin (1%). Hierbei waren Mehrfachantworten möglich.
Von den teilnehmenden Personen absolvierten 78,8% eine Ausbildung in einem Pflegefachberuf.
Die weitere Darstellung der Ergebnisse gliedert sich 3.1) in die Auswertung zu den
gelehrten, genutzten und bevorzugten Methoden sowie 3.2) die Auswertung der offenen Fragen zu den Entscheidungsgrundlagen und Entwicklungsbedarfen.
3.1 Gelehrte, genutzte und für Fortbildungen präferierte Methoden
In der Onlineerhebung wurden die persönlichen Einschätzungen zu Lehrinhalten,
Nutzung und Fortbildungswünschen getrennt für Studiendesigns, Erhebungsmethoden, Auswertungsmethoden und qualitative Methoden/Methodologie erfragt.
3.1.1 Studiendesigns
Bei der Abfrage zu den in der Lehre vermittelten Studiendesigns dominieren qualitative Designs, die von knapp der Hälfte der Befragten (49%) gelehrt werden (siehe Tabelle 1). Auf Platz zwei der am häufigsten genannten Lehrinhalte stehen Querschnittsstudien (36%) und auf Platz drei Längsschnittstudien (35%). Weniger häufig werden Validierungsstudien (16%) und epidemiologische Studien (17%) gelehrt. Ein ähnliches
Bild zeigt sich bei der Nutzung der Methoden: Auch hier dominieren qualitative Designs, die von 78% der Befragten als Teil ihres Methodenrepertoires genannt werden,
gefolgt von Querschnittsstudien (50%) und Reviews (50%). Zu den Methoden, die
weniger oft angewendet werden, gehören Metaanalysen (13%) und epidemiologische
Studien (14%). Knapp ein Drittel der Befragten nennen Metaanalysen als für sie relevantes Fortbildungsthema (32%), gefolgt von randomisiert kontrollierten Studien
(RCT) (26%) und Validierungsstudien (21%).
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Beiträge
Methode
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Ich lehre …
Ich habe folgende Me- Ich wünsche mir Fortthoden in meiner For- bildungen zu folgenschung angewendet … den Themen …
%
Rang
%
Rang
%
Rang
Qualitative Designs
48,8
1
78,0
1
12,6
8
Querschnittsstudien
36,2
2
49,6
2
11,0
9
Längsschnittstudien
35,4
3
27,6
5
12,6
8
Reviews
33,9
4
49,6
2
15,0
7
RCTs
29,1
5
20,5
7
26,0
2
Quasi-Experiment
28,3
6
26,8
6
18,9
6
Analyse von Datenbeständen 28,3
6
39,4
4
19,7
4
Metaanalysen
26,0
8
13,4
10
31,5
1
Epidemiologische Studien
17,3
9
14,2
9
19,7
4
Validierungsstudien
15,7
10
15,0
8
21,3
3
Tab. 1: Gelehrte und angewandte Studiendesigns der Befragten sowie deren
Fortbildungswünsche (N = 127)
Bei den freien Antworten zu den Fortbildungswünschen wurden genannt: Aktionsforschung (n=2), Metaanalysen (n=2), Metaethnographien (n=1), Mixed Methods (n=1)
und phänomenologische Designs (n=1).
3.1.2 Daten-Erhebungsmethoden
Bei etwa der Hälfte der Befragten zählen Interviews zu den Lehrinhalten (51%), gefolgt
von Fragebogenmethoden (43%), Beobachtungsmethoden (39%), Dokumentenanalysen (39%) und Fokusgruppen (26%). Eine ähnliche Rangreihe ergibt sich im Hinblick auf die Methodennutzung: Interviews (84%), Fragebogen (80%), Dokumentenanalyse (58%), Beobachtung (54%) und Fokusgruppen (38%). Weniger als 15% der
Befragten wünschen sich Fortbildungen zu speziellen Erhebungsmethoden. Eine Ausnahme bilden Fokusgruppeninterviews, die von 22% der Befragten als Fortbildungsthema gewünscht werden.
3.1.3 Auswer tungsmethoden
Quantitative Auswertungsmethoden werden insgesamt seltener gelehrt als quantitative Erhebungsmethoden, Studiendesigns oder qualitative Methoden. Ein Viertel der
Befragten lehrt deskriptive Statistik (25%), gefolgt von varianzanalytischen Verfahren
(19%), korrelativen Verfahren (16%) und multivariaten Verfahren (10%). Dennoch
kommen diese Methoden häufig in der eigenen Forschung zur Anwendung: Deskriptive Statistik wird von 69% als Teil des Methodenrepertoires angegeben, varianzanalytische Verfahren von 57%, korrelative Verfahren von 47% und multivariate Verfahren
von 32% (siehe Tabelle 2). In den freien Antwortmöglichkeiten wurden folgende spe204
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
zielle Auswertungsmethoden zur Nutzung genannt: Mehrebenenmodelle (n=5), Dimensionsreduktionen (n=1), Ereigniszeitanalysen (n=1), Bayesianische Statistik (n=1)
und Propensity Scores (n=1).
Methode
Ich lehre …
Ich habe folgende
Methoden in meiner
Forschung angewendet
…
Ich wünsche mir Fortbildungen zu folgenden
Themen …
%
Rang
%
Rang
%
Rang
Deskriptive Statistik
25,2
1
69,3
1
12,6
4
Varianzanalysen und
Mittelwertvergleiche
18,9
2
56,7
2
15,0
3
Korrelations- und
Regressionsanalysen
15,7
3
47,2
3
18,1
2
Multivariate Verfahren
10,2
4
31,5
4
26,0
1
Tab 2: Gelehrte und angewandte Auswertungsmethoden der Befragten sowie deren
Fortbildungswünsche (N=127)
Fortbildungswünsche zu den Auswertungsmethoden werden weniger häufig genannt
(< 18% der Befragten). Eine Ausnahme bilden multivariate Verfahren, die von 26% der
Antwortenden als Thema gewünscht werden.
3.1.4 Qualitative Methoden/Methodologien
Unter den Lehrinhalten wird der Grounded Theory-Ansatz von 34% der Befragten am
häufigsten genannt, gefolgt von der Inhaltsanalyse (32%) und den Fallstudien (28%).
Dies sind auch die drei methodischen Zugänge, die am häufigsten in der eigenen Forschung genutzt werden (siehe Tabelle 3).
Von den 127 Befragten wünschen sich 21% Fortbildungen zur Aktionsforschung.
An zweiter Stelle folgen phänomenologische Analysen (17%). Selten werden Fortbildungen zur Grounded Theory (11%) und zur Inhaltsanalyse (10%) gewünscht.
3.1.5 Verhältnis zwischen qualitativen und quantitativen Methoden
Über die einzelnen Forschungsmethoden hinweg wurde eine gesonderte Analyse im
Hinblick auf die Präferenz für eher quantitative vs. qualitative Methoden vorgenommen4. Hierzu wurden 11 Auswahloptionen eher den quantitativen Methoden zugeordnet (RCT, Quasi-Experiment, Längsschnittstudien, Querschnittstudien, epidemiologische Studien, Validierungsstudien, Analyse von Datenbeständen, deskriptive Statis4 Die Unterscheidung quantitativ vs. qualitativ ist auf der methodischen Ebene schwieriger als auf der methodologischen oder epistemologischen Ebene (Haas 1994). Dennoch wird diese Unterscheidung hier gewählt, da sie tradiert ist und eine hilfreichen Systematisierung für die Ergebnisse darstellt.
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Beiträge
Methode/
Methodologien
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Ich lehre …
Ich habe folgende
Methoden in meiner
Forschung angewendet
…
Ich wünsche mir Fortbildungen zu folgenden
Themen …
%
Rang
%
Rang
%
Rang
Grounded Theory
33,9
1
37,8
2
11,0
9
Inhaltsanalyse
32,3
2
60,6
1
10,2
10
Fallstudien
28,3
3
35,4
3
12,6
6
Hermeneutische
Analysen
Phänomenologische
Analysen
Ethnographische
Lebensweltanalyse
Biografieforschung
25,2
4
22,8
4
15,0
4
17,3
5
18,1
6
17,3
2
16,5
6
10,2
9
15,0
4
15,0
7
11,8
8
16,5
3
Aktionsforschung
15,0
7
18,9
5
21,3
1
Narrationsforschung
12,6
9
12,6
7
11,8
8
10
10,2
9
12,6
6
Historische Forschung 9,4
Tab. 3: Gelehrte und angewandte qualitativen Methoden und Methodologien (N = 127)
tik, Varianzanalyse, Korrelations- und Regressionsanalyse, multivariate Verfahren)
und 11 Auswahloptionen den qualitativen Methoden zugeordnet (qualitative Designs,
Grounded Theory, hermeneutische Analysen, Inhaltsanalyse, phänomenologische
Analysen, ethnografische Lebensweltanalyse, historische Forschung, Biografieforschung, Narrationsforschung, Aktionsforschung, Fallstudie). Durch die Anzahl der
Nennungen in den beiden Kategorien lassen sich so für die Lehrinhalte, die Forschungsanwendung und die Fortbildungswünsche die Präferenzen vergleichen.
Für die Lehrinhalte stellt sich folgendes Ergebnis dar: Im Schnitt werden 2,6 quantitative Themen pro befragter Person gewählt (SD = 3,4) und 2,5 qualitative Themen
(SD = 3,0). Für die Nutzung einzelner Methoden zeigt sich, dass im Durchschnitt 3,9
quantitative Methoden (SD = 3,0) und 3,1 qualitative Methoden ausgewählt werden
(SD = 2,3). Die überwiegende Mehrheit der Befragten nutzt für die eigene Forschung
qualitative und quantitative Methoden (70%). Hinsichtlich der Fortbildungswünsche
ergibt sich, dass die 127 Personen im Durchschnitt 1,5 (SD = 2,6) qualitative Themen
wählen, während es von den 11 quantitativen Fortbildungsthemen durchschnittlich
2,0 (SD = 2,8) Themen sind.
Im Sinne einer explorativen Datenanalyse wurden verschiedene mögliche Korrelate
für die Präferenz qualitative und quantitativer Methoden untersucht. Dargestellt wird
hier die Methodenpräferenz und Lehrinhalte in Fachhochschulen/Hochschulen und
Universitäten (Tabelle 4).
206
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Nutzung von Forschungsmethoden
Methodeninhalte in der Lehre
Qualitative
Methoden
Quantitative
Methoden
Qualitative
Methoden
Quantitative
Methoden
2,7 (1,9)
4,7 (3,1)
1,8 (2,2)
2,8 (3,7)
Hochschulen/
3,4 (2,3)
Fachhochschulen (45)
3,6 (2,8)
4,2 (3,3)
3,4 (3,3)
Universität (57)
Tab. 4: Nutzung und Lehrinhalte unter den Befragten aus Universitäten (N= 57) und Fachhochschulen/Hochschulen (N=45). Dargestellt als Mittelwerte (und Standardabweichung)
der Anzahl der ausgewählten qualitativen bzw. quantitativen Methoden aus den jeweils
11 Auswahloptionen
Hinsichtlich der Nutzung von Methoden ist in Hochschulen/Fachhochschulen eine
Gleichverteilung festzustellen, während bei den Mitarbeitenden der Universität die
Anwendung quantitativer Methoden überwiegt. In der Lehre hingegen dominieren bei
den Mitarbeitenden der Hochschulen/Fachhochschulen qualitative Methoden.
3.2 Entscheidungsgrundlagen und Entwicklungsbedarfe
Die Entscheidungsgrundlagen und Entwicklungsbedarfe wurden mittels der folgenden Fragen erhoben:
1. Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie die Forschungsmethoden aus, die Sie
anwenden wollen? (3.2.1)
2. Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf auf dem Gebiet der Forschungsmethoden für die
Pflegeforschung? (3.2.2)
3.2.1 Auswahl von Forschungsmethoden
Insgesamt haben von den 127 Befragten 114 Personen die Möglichkeit zu einer Freitexteingabe genutzt. Die Antworten konnten in 17 Kategorien zusammengefasst werden (siehe Tabelle 5).
Die am häufigsten genannten Antworten waren „nach der Forschungsfrage/ nach
der Fragestellung“ (N=83) und „nach der Gegenstandsangemessenheit/ nach dem
Gegenstandsbezug“ (N=21). Weitere Entscheidungskriterien sind die eigene Kompetenz und Methodenerfahrung („Bei Gleichrangigkeit hinsichtlich der Angemessenheit: jene, die ich besser beherrsche“ (1385); „Ich unterrichte die Forschungsmethoden,
die ich beherrsche“ (154) und die Realisierbarkeit, was auch als Einschränkung wahrgenommen wird („leider auch pragmatisch“, 136).
Ein weiterer Einflussfaktor auf die Methodenwahl sind die vorhandenen finanziellen (N=8) und zeitlichen (N=6) Ressourcen, aber auch die Erreichbarkeit der Zielgruppe (N=6).
5 Quellenangaben: Datensatz-ID
207
Beiträge
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Kategorie
Anzahl
nach der Fragestellung
83
nach dem Gegenstandsbezug
21
Ressourcen – eigene Kenntnisse mit der Methode/ Erfahrungen
11
Praktikabilität
10
ökonomische Aspekte – Geld
8
ökonomische Aspekte (Zeit) / Ressourcen – Erreichbarkeit der Zielgruppe
jeweils 6
passend zum Design
5
Ergebnisorientierung / vorhandene Ressourcen / Lehrziele im Studium
jeweils 4
persönliches Interesse / Ressourcen – Erfahrungen im Team
jeweils 3
Theoretischer Bezugsrahmen / Aussagekraft/ Evidenz
jeweils 2
Entwicklungsstand der zur Verfügung stehenden Methoden / ethische Vertretbarkeit
jeweils 1
Tab. 5: Kategorien für die Auswahl von Forschungsmethoden nach Häufigkeit (N = 114 Angaben)
Einige Befragte gaben an, die Forschungsmethode anhand der Zielgruppe der Studierenden und den damit verbundenen Lernzielen und Modulplänen (N=4) auszuwählen. Auch persönliche Interessenschwerpunkte (N=3) werden als Entscheidungskriterium genannt.
3.2.2 Entwicklungsbedar f auf dem Gebiet der Forschungsmethoden
für die Pflegeforschung
Zu dieser Frage haben 91 der 127 Befragten einen Kurztext formuliert. Das daraus gebildete Kategoriensystem zeigt die Tabelle 6.
Die meisten Angaben beziehen sich auf konkrete Forschungsmethoden. So wird ein
Entwicklungsbedarf in statistischen und quantitativen Verfahren (N=18) und im Methodenmix/Triangulation (N=14) formuliert. Generell lässt sich feststellen, dass die
Antworten auf diese Frage das ganze Spektrum der quantitativen und qualitativen Verfahren abdecken, z. B. werden deskriptive und analytische Statistik ebenso genannt wie
die Überprüfung etablierter Methoden und qualitative Ansätze. Eine weitere übergeordnete Kategorie sind Fragen der Methodendiskussion und -entwicklung. Sechs Personen thematisieren hier, dass ein methodologischer Diskurs in der Pflegewissenschaft
notwendig ist. Dazu gehören die kritische Reflexion von EBN als „nur ein Baustein“
(57), die „kritische nüchterne Diskussion über Nutzen und Grenzen von RCTs“ (61)
und die Einschätzung, dass sich viele Fragen in der Pflegewissenschaft nur qualitativ
angemessen untersuchen lassen (50).
208
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Kategorie
Anzahl
Entwicklungsbedarf in methodischen Verfahren
Quantitative Verfahren und Statistik
18
Methodenmix/Triangulation
14
Interventionsforschung
5
Metasynthese, -ethnografie, -analyse
4
Aktionsforschung
3
epidemiologische Verfahren / experimentelle Forschung / qualitative Designs / hermeneuti- jeweils 2
sche und phänomenologische Zugänge / Interaktionsforschung / klinische Forschung /
Lebensweltforschung
Objektive Hermeneutik / Beobachtung / Teilnehmende Beobachtung / Evaluationsjeweils 1
forschung / narrative Methode / Sekundärforschung / Methoden, die über den Gegensatz
von quantitativ vs. qualitativ hinausgehen
Methodologie, Methodendiskussion
Methodendiskussion und -entwicklung in der Pflegewissenschaft ist kaum ausgebildet,
Beginn eines methodologischen Diskurses
6
Kritische Beleuchtung von Evidence Based Nursing
Methodologie/Qualitative Forschung und Ethik / unideologische Methodenwahl
4
jeweils 3
Verfahren der Bewertung qualitativer Studien, Überprüfung etablierter Methoden für Pfle- jeweils 2
gewissenschaft
Entscheidungsfindung innerhalb von Methodenanwendungen systematisieren, Entscheijeweils 1
dungsschwierigkeiten bei fehlenden Methoden, Erhebungsmethoden/-instrumente speziell
für geriatrische Patienten bzw. spezifische klinische Gruppen, Ethik, stärkere Einbindung
qualitativer Verfahren
Forschungsfelder
Entwicklungsbedarf für neue Forschungsfelder
Erforschung der leibkörperbezogenen Interaktion
Praktische Fragen
6
2
Ausbau der Strukturen für Lehre / Theorie-Praxis-Transfer
jeweils 4
Finanzierung
3
Praktische Probleme im Forschungsfeld
2
Nutzen für die Pflege
1
Tab. 6: Antworthäufigkeiten der Kategorien zur Frage der Einschätzung des methodischen
Entwicklungsbedarfs (N = 91 Angaben)
4. Diskussion
Zentrales Ziel der Studie war es, die Methoden-Nutzung und entsprechende Lehrinhalte in der deutschsprachigen Pflegewissenschaft zu analysieren, dabei methodische
Schwerpunktsetzungen zu identifizieren und persönliche Weiterentwicklungsbedarfe
in der Selbstreflexion der Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler aufzudecken.
209
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass Personen, die sich selbst als Pflegewissenschaftlerinnen/Pflegewissenschaftler verstehen, ein großes Spektrum an wissenschaftlichen Methoden lehren und nutzen. Knapp 70% der Befragten kennen sich sowohl im
Feld der qualitativen also auch der quantitativen Forschung aus. Innerhalb der qualitativen Methoden sind die Inhaltsanalyse und Grounded Theory die am häufigsten
angewendeten Methoden. Die Daten zu den quantitativen Auswertungsmethoden
verdeutlichen, dass von mehr als der Hälfte der Personen der Kanon von deskriptiven,
korrelativen und varianzanalytischen Verfahren genutzt wird. In den knapp 40 Freitextantworten zu den genutzten Forschungsmethoden zeigt sich eine große Spannbreite an Methoden, die in der deutschsprachigen Pflegewissenschaft angewendet werden.
Hier werden insbesondere auch für die Pflegewissenschaft neuere Methodenentwicklungen, wie z. B. Mehrebenenmodelle oder andere regressionsanalytische Verfahren
genannt.
In der Untersuchung überwiegen tendenziell quantitative Forschungsdesigns. Ein
Vergleich der Methodennutzung zwischen Hochschulen/Fachhochschulen und Universitäten legt dabei nahe, dass im universitären Kontext quantitative Methoden häufiger zum Einsatz kommen. Personen an Fachhochschulen nutzen gleichberechtigt beide Methoden. Lediglich in der Lehre ist eine besondere Dominanz qualitativer Methoden an Fachhochschulen festzustellen. Wie lassen sich diese Unterschiede trotz
gleichem Gegenstandsbereich erklären? Ein Erklärungsmodell ist die stärkere Beteiligung von Universitäten an hochdotierten Forschungsprojekten, die eher in Bereichen
zu finden sind, in denen Quantifizierungen gefordert sind. Eine Verortung pflegewissenschaftlicher Abteilungen in medizinischen Fakultäten oder Universitätsklinika
kann diesen Quantifizierungsdruck noch verstärken. Ebenso kann der Publikationsdruck in „high-impact“-Journals die Tendenz zur Nutzung quantitativer Forschung
verstärken. Wenn dieses Erklärungsmodell zutrifft, dann sind also offensichtlich auch
strategische Faktoren für die Methodenpräferenz entscheidend und nicht zwingend
nur die Gegenstandsangemessenheit.
Vor dem Hintergrund der hohen Relevanz von RCTs in der Versorgungsforschung
und der Heranziehung entsprechender Studien für Standards, Leitlinien und Richtlinien im Gesundheitswesen (Hallberg 2006) ist aufgrund der Ergebnisse festzustellen,
dass dieser Bedarf über Hochschultypen hinweg nicht gedeckt werden kann: Nur jede/r fünfte Befragte gibt an, solche Studiendesigns selbst einzusetzen. Offen bleibt dabei, warum diese Studiendesigns so selten genutzt werden. Die Erklärung einer mangelnden Nutzung aufgrund fehlenden Know-Hows scheint wenig plausibel, da nur
knapp ein Viertel der Befragten etwa RCTs als wünschenswertes Fortbildungsthema
auswählen. Als möglicher Grund könnte eine unzureichende Mittelausstattung für
entsprechende Studien angeführt werden, denn international vergleichende Studien
zeigen, dass mit steigenden Drittmitteln die Anzahl an patientenzentrierten Interventionsforschungsarbeiten steigt (Polit/Beck 2009). Außerdem ist die Durchführung solcher Studien in der Pflege auch mit besonderen forschungsethischen Probleme behaftet (Edwards et al. 1998).
210
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Gleichzeitig werden bei der Abfrage der Entwicklungsbedarfe ebenfalls viele wünschenswerte Methodenkompetenzen genannt. Die Antworten reichen von deskriptiver und analytischer Statistik und multivariaten Analyseverfahren, Experimenten,
Interventionsstudien und epidemiologischen Studiendesigns, narrativen Methoden,
der Nutzung literaturwissenschaftlicher Methoden und komplexen Verfahren wie
Kommunikations- und Interaktionsforschung bis hin zu Methodentriangulation, Reviews und Metaanalysen. Auch bei der Abfrage der Fortbildungswünsche im ersten Teil
der Befragung zeigt sich ein Bedarf, besonders hinsichtlich der Methoden, die nur selten Lehr- und Forschungsinhalte sind. So werden häufig Fortbildungsbedarfe zur
Metaanalyse, Fokusgruppen-Interviews, zur Aktionsforschung und zu phänomenologischen Analysen genannt.
Aus den dargestellten Bedarfen lassen sich erste Anhaltspunkte für die Entwicklung
von Methodenworkshops ableiten, die durch die Sektion Forschungsmethoden in der
DGP nun auch realisiert werden sollen. Aus der Tatsache, dass 45 Personen ihre Bereitschaft bekundet haben, sich an Diskussionen zur Methodenentwicklung zu beteiligen
und sich 17 Personen als Referentinnen oder Referenten für entsprechende Fortbildungen angeboten haben, wird deutlich, welche Ressourcen hier genutzt werden können.
Die zentrale Frage, ob es eines erweiterten oder veränderten Methodeninventars bedarf, wird in den Antworten zu den Entscheidungsgrundlagen für die Methodenwahl
diskutiert. So heißt es dort beispielsweise, der Fokus habe bisher zu sehr auf qualitativen Methoden gelegen (202), in einem anderen Datensatz wird dagegen die „zu starke
Orientierung an quantitativen Verfahren“ (116) hervorgehoben. Zu den RCTs heißt
es: „Solange RCT´s als die einzig wahre Methode in Puncto Glaubwürdigkeit und Aussagekraft zu sein scheinen, beraubt sich die Wissenschaft (nicht nur die Pflegewissenschaft) vieler spannender Ergebnisse, welche im weiteren Verlauf möglicherweise
durch „höherwertige“ Methoden weiterentwickelt werden. Lobbyarbeit wäre also das
Thema.“ (111) Das offensichtlich noch existente Akzeptanzproblem qualitativer Forschung klingt auch in einem weiteren Beitrag an: „Sehe keinen Sinn darin, mit medizinischer, psychologischer, sozialwissenschaftlicher Forschung zu konkurrieren, sondern
kontextspezifische „kleine“ Methoden zu entwickeln, eher anwendungsorientiert“
(167). Andererseits wird auch ein „Austausch mit Fachrichtungen wie Statistik,
Psychologie“ vorgeschlagen (184) und sehr pragmatisch empfohlen, einen „unideologischen gegenstandsangemessenen Zugang zu wählen und nicht in Kästchendenken zu
verhaften“ (47). Zu dieser Forderung passt, dass relativ häufig auch Entwicklungsbedarfe im Bereich der Triangulation/mixed methods genannt werden, was auch Bartholomeyczik (2004) fordert. Von mehreren Befragten wird auf das Fehlen eines entsprechenden methodologischen Diskurses in der Pflegewissenschaft hingewiesen. Dies
entspricht der Beobachtung von Moers und Schaeffer (2011), welche darauf hinweisen, dass eine vertiefende Fundierung pflegerischen Wissens in Form von Theoriebildung in den deutschsprachigen Ländern zurzeit noch ausbleibt. Auch bedingt durch
die pflegewissenschaftliche Praxisnähe, könnte dies auf einen Mangel innerhalb der
Disziplin hinweisen und dadurch Überformungsversuchen anderer Wissenschaftsdis211
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
ziplinen entgegenkommen (Moers/Schaeffer 2011). Dahinter steckt die Forderung,
dass ein Theoriediskurs dringend angeregt werden sollte, da Forschung und Theoriebildung eng miteinander verwoben sind. Dies könnte der Forderung einiger Studienteilnehmer entsprechen, die eine kritische Auswahl in der Anwendung der Methode
fordern.
4.1 Limitationen
Die Frage der Methodenangemessenheit ist auch für die Online-Befragung selbst zu
diskutieren. Die Entscheidung für eine Online-Befragung begründet sich aus dem
Ziel, viele Pflegewissenschaftlerinnen/-wissenschaftler mit geringem Aufwand zu erreichen. Dafür wurden methodenimmanente Limitation in Kauf genommen, die die
Generalisierbarkeit und die Validität der Daten betreffen.
4.1.1 Generalisierbarkeit
Den Angaben zufolge handelt es sich meist um diplomierte und/oder promovierte Personen, die sich selbst als Pflegewissenschaftler verstehen, aber nicht zwingend ein pflegewissenschaftliches Studium absolviert haben. Die Fokussierung auf diese Berufsgruppe wurde durch die Ansprache über den Email-Verteiler der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft und entsprechende Hinweis auf pflegewissenschaftlichen
Konferenzen erreicht. Dies engt den Kreis der Personen ein. Dennoch ist der Begriff
der „Pflegewissenschaftler“ unscharf konturiert und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch fachverwandte Personen den Bogen ausgefüllt haben. Dass nahezu 80%
über eine Ausbildung im Pflegebereich verfügen zeigt auf, dass die meisten Pflegewissenschaftler von der Praxis in die Wissenschaft wechselten. Die Heterogenität der universitären Abschlüsse, die nur zu 43% innerhalb pflegewissenschaftlicher Studiengänge absolviert wurden, zeigt eine Nähe zu den Bezugswissenschaften.
Eine mögliche Einschränkung der Generalisierbarkeit ergibt sich durch den besonderen Zugang zur Befragung. So ist es möglich, dass Personen ausgeschlossen wurden,
die durch einen fehlenden Internetzugang keine Informationen über die Befragung erhalten haben oder aber nicht in der Lage waren, aufgrund technischer Probleme den
Fragebogen einzusehen („Coverage-Effekt“). Gelegentlich gibt es „Nonrespondents“,
die auf die Bitte zur Teilnahme nicht reagieren, weil sie dieser Form der Befragung skeptisch gegenüber stehen oder die Anonymität bedroht sehen (Jackob et al. 2008). Diese
Verzerrungsmöglichkeiten müssen bei der Generalisierung der Ergebnisse berücksichtigt werden.
Durch die Anonymität der Befragung, die Versendung eines nicht-personalisierten
Links und die fehlende IP-Kontrollen kann nicht ausgeschlossen werden, dass Personen mehrfach an der Befragung teilgenommen haben. Gleichwohl wäre aber nach den
Motiven zu fragen, wieso jemand an der knapp zehnminütigen Befragung mehrfach
mitwirken sollte. Die Vielzahl der Freitextantworten (114 Bögen mit Freitextantwor212
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
ten bei insgesamt 127 vollständigen Datensätzen) und der Inhalt zeigen, dass die Personen reflektiert die Fragen beantwortet haben und ein hohes Interesse an der Weiterentwicklung der Forschungsmethodik in der Pflegewissenschaft bekundet wird.
4.1.2 Validität
Aus Studien zum Vergleich von Paper-Pencil-Tests und Online-Tests ist bekannt, dass
Verzerrungen durch Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit bei solchen Befragungen reduziert sind. Durch die größere Anonymität werden also verlässlichere Angaben als bei anderen Formen der schriftlichen Befragung oder einem Vis-avis-Interview gemacht. So wundert es nicht, dass bei den offenen Fragen auch selbstkritische Stellungnahmen formuliert wurden, zum Beispiel, dass oft allein Zeitnot und
fehlendes Fachwissen die Methodenwahl bestimmen.
Bei offenen Fragen in Online-Befragungen besteht die Gefahr, dass Informationen
semantisch verkürzt formuliert werden, die dann bei der Zuordnung in Kategorien einen Deutungsspielraum lassen. Nachfragen sind bei dieser Form der Abfrage nicht
möglich und Verständnisschwierigkeiten lassen sich nicht angemessen klären. Daher
wurden die Antworten hier nur im Sinne einer quantifizierenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Der Vergleich der Ergebnisse, bei denen Auswahloptionen vorgegeben wurden
und denen der freien Texte zeigt eine hohe Übereinstimmung, z. B. hinsichtlich der
Fortbildungswünsche, so dass dies als Hinweis auf die Validität der Befragung gewertet
werden kann.
Im Gegensatz zu den häufig genutzten bibliometrischen Studien zur Methodennutzung beziehen sich die Abfragen unmittelbar auf die Einstellungen und Nutzungen der
Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler und nicht auf deren Publikationsleistung. Damit ist eine personen-, zeit- und verhaltensnahe Einschätzung der
Präferenz in Forschung und Lehre gelungen. Die durchgeführte deskriptive Befragung
ist aber nicht geeignet, die Gegenstandsangemessenheit der genutzten oder gelehrten
Methoden zu bewerten. Die Abfrage der Entwicklungsbedarfe wurde meist im Sinne
einer persönlichen Entwicklung statt einer disziplinbezogenen Entwicklung interpretiert und müsste durch andere Studien dahingehend ergänzt werden.
Die Ergebnisse der Studie zeigen Parallelen zwischen Bibliometrie und dieser Online-Studie. Beide Zugänge bestätigen, dass Methoden für Interventionsstudien (z. B.
RCTs, multivariate Verfahren) eher selten zur Anwendung kommen, während qualitative oder mixed-method-Studien häufiger zu finden sind (Polit/Beck 2009). Auch der
Anteil an Personen, die laut Online Befragung Validierungsstudien durchführen, entspricht in etwa dem internationalen Trend von 12% (Polit/Beck 2009).
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen also trotz der beschriebenen Limitationen aktuelle Trends in der Methodennutzung und der Lehre. Im Längsschnittvergleich wird
es spannend sein zu sehen, welche Veränderungen sich in den deutschsprachigen Ländern ergeben werden. Ob die genutzten und gelehrten Methoden für den Gegenstand
angemessen sind, muss nun vor dem Hintergrund der Anforderungen diskutiert wer213
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
den. Entsprechende Diskurse zu entfalten ist auch eine wichtige Forderung der Studienteilnehmer – ebenso wie die Aufforderung, durch das Miteinander von Forschenden verschiedener Forschungsrichtungen die eigene Methodenkompetenz zu stärken.
Die Online-Befragung selbst, die in der Zusammenarbeit von Pflegewissenschaftlern
aus unterschiedlichen Methodenfeldern entstanden ist, ist ein Beleg für die fruchtbare
interdisziplinäre und multimethodale Zusammenarbeit.
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Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
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Review 58, 26-27
Prof. Dr. Bernd Reuschenbach
Katholische Stiftungsfachhochschule München, Preysingstr. 83, D-81667 München,
reuschenbach@pflegewissenschaft.org
Dr. Anne-Kathrin Cassier-Woidasky
SRH Klinikum Karlsbad- Langensteinbach GmbH, Guttmannstr. 1, 76307 Karlsbad
Dr. Cornelia Mahler
Universitätsklinikum Heidelberg/University Hospital Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Voßstraße 2, 69115 Heidelberg
Prof. Dr. Herbert Mayer
Mathias Hochschule Rheine, Frankenburgstraße 31, 48431 Rheine
Miriam Tabea Richter
Universität Bremen, Institut für Public Health und Pflegeforschung IPP, Grazer Straße 4,
28359 Bremen
Charlotte Berendonk
Netzwerk AlternsfoRschung, Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
Matthias Hoben
Netzwerk AlternsfoRschung, Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg
Dr. Martin Müller
Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Marchioninistr. 17, 81377 München
Christa Flerchinger
Stabstelle Pflegeentwicklung am Klinikum und Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Theodor Stern Kai 7, 60590 Frankfurt am Main
Prof. Dr. Matthias Zündel
Evangelische Hochschule Berlin (EHB), Teltower Damm 118–122, 14167 Berlin
Prof. Dr. Andrea Schiff
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Wörthstraße 10, 50668 Köln
215
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Ingrid Darmann-Finck
Wirkungen einer akademischen
Erstausbildung von professionell Pflegenden
im Spiegel internationaler Studien
Effects of a basic academic training for nurses in the light of international
studies
The ar ticle investigates whether benefits can be expected from nurses taking a Bachelor`s degree and receiving basic academic training. The findings are based on literature
research in two internationally relevant data bases. No studies were found that indicate
any causal relationships. The literature does provide convincing evidence that there is a
significant positive association between the number of nursing staff possessing a Bachelor degree and the patient outcome. However the findings are ambiguous with regard
to the development of nursing competences. In the following the methodical limitations
of the studies reviewed and the conclusions to be drawn when designing programs of study are pointed out.
Keywords
Bachelor Degree in Nursing, Patient Outcome, Nursing Competence
Der Ar tikel geht auf der Basis einer Literaturrecherche in zwei internationalen Fachdatenbanken der Frage nach, welche Zugewinne von einer Erstausbildung von Pflegenden
auf Bachelorniveau für die Kompetenzen von Pflegenden einerseits und das Patientenoutcome andererseits zu er war ten sind. Auch wenn die gefundenen Studien nicht geeignet sind, kausale Zusammenhänge festzustellen, kann aber als gesicher t gelten, dass
ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen dem Anteil von Pflegenden mit einer
Bachelorqualifikation und dem Patientenoutcome besteht. Bezogen auf die Kompetenz
bzw. Per formanz der Bachelorpflegenden ist die Studienlage nicht eindeutig. In der Diskussion wird auf methodische Limitierungen ebenso hingewiesen wie auf Konsequenzen
für die Konzeption von primärqualifizierenden Studiengängen.
Schlüsselwörter
Erstausbildung auf Bachelorniveau, Patientenoutcome, Pflegekompetenz
1. Hintergrund
2010 wurden in Deutschland 22 grundständige, überwiegend duale pflegeausbildende
Bachelorstudiengänge angeboten (Stöcker et al. 2010).1 Weitere Studiengänge an verschiedenen Standorten sind inzwischen an den Start gegangen bzw. befinden sich in
Planung. Der deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe sieht mit der Etablierung dieser
1 Vier davon sind nicht mit einer Berufszulassung verknüpft.
eingereicht 28.10.2011
akzeptiert 24.02.2012 (nach Überarbeitung)
216
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Studiengänge „eine Entwicklung hin zu europäischer Normalität“ realisiert (Stöcker et
al. 2006: 839), was insofern zutrifft, als in den meisten europäischen Ländern zumindest ein Teil der professionell Pflegenden akademisch qualifiziert wird. Von der Akademisierung der Pflegeerstausbildung werden Impulse für die Professionalisierung der
deutschen Pflege erwartet. Zum einen wird mit der akademischen Ausbildung ein Professionsmerkmal erfüllt, zum anderen sollten Pflegende dadurch eher in der Lage sein,
den Oevermannschen Ansprüchen, sich „auf eine methodisch kontrollierte und nach
expliziten Geltungskriterien bewährte erfahrungswissenschaftliche Wissensbasis (zu)
berufen“ und dieses Wissen im Arbeitsbündnis mit dem Klienten anzuwenden, näher
zu kommen (Oevermann 1997: 124). Aus diesem Kompetenzzuwachs lässt sich wiederum eine Anhebung der Pflegequalität ableiten. In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft fassen Stemmer et al. (2007) zusammen, dass
Bachelorabsolventen beispielsweise über ein kritisches Verständnis der wichtigsten
pflegewissenschaftlichen und pflegerelevanten Theorien, Prinzipien und Methoden,
über die Kompetenz zur Analyse pflegerelevanter Situationen und Ableitung wissenschaftlich fundierter Urteile, die Fähigkeit zur Interpretation von wissenschaftlichem
Regelwissen im Kontext von hermeneutischem Fallverstehen, zur Unterstützung anderer an der Pflege Beteiligter in ihrer Reflexionsfähigkeit und zur Erarbeitung und
Weiterentwicklung von Problemlösungsstrategien verfügen (sollten).
Nur selten werden in der deutschen Diskussion empirische Belege für diese theoretisch formulierten Erwartungen angeführt. Dielmann (2003), der der Akademisierung
der Pflegeerstausbildung kritisch gegenüber steht, beruft sich in seiner Argumentation
gegen eine Akademisierung der Erstausbildung auf eine internationale Vergleichsstudie des Picker Instituts der Universität Oxford (Coulter et al. 2001), in der die Patient/innenzufriedenheit mit der gesundheitlichen Versorgung durch Pflegende und
Ärzt/innen im Krankenhaus in fünf verschiedenen Ländern (Großbritannien, USA,
Deutschland, Schweiz und Schweden) untersucht wurde. Die deutschen Pflegenden
rangieren dem Urteil der Patient/innen zufolge fast durchgängig an zweiter Stelle hinter der Schweiz. Das Verhalten der Pflegenden in Schweden, im Vereinigten Königreich und in den USA wird weitaus schlechter beurteilt, – und das, obwohl in diesen
Ländern die Akademisierung des Pflegepersonals schon wesentlich weiter vorangeschritten ist als in Deutschland. Von Dielmann nicht erwähnt, für die Interpretation
aber zentral, ist allerdings die Feststellung von Coulter et al. (2001), dass im Befragungszeitraum im Vereinigten Königreich und in Schweden ein erheblicher Mangel an
Pflegepersonal bestand, was sich in den Einschätzungen der Patient/innen hinsichtlich
der „Verfügbarkeit von Pflegenden“ niederschlägt. Stemmer (2003) zieht eine Studie
von Sinclair (1991, Erstveröffentlichung 1987 in der Zeitschrift Nurse Education Today) heran, um den Nutzen einer Ausbildung auf Bachelorniveau zu begründen. Den
in dieser Studie erhobenen Selbsteinschätzungen von Bachelorabsolventen zufolge verfügen sie über vergleichsweise höhere Kompetenzen in den Bereichen Problemlösung,
Nutzung der Ergebnisse wissenschaftlicher Studien und Kommunikation. Nicht nur
wegen der mangelnden Aktualität, auch aufgrund der verwendeten Forschungsdesigns
und Methoden können die zitierten Studien jedoch kaum als ernstzunehmende Argu217
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
mentationsgrundlage dienen. Beide Studien beruhen nämlich auf subjektiven Fremd(Coulter 2001) bzw. Selbsteinschätzungen (Sinclair 1987), die Studie von Sinclair
stützt sich darüber hinaus nur auf eine kleine Anzahl von Proband/innen. Vor diesem
Hintergrund ist es das Ziel des vorliegenden Beitrags, eine Übersicht über die Studienlage zum Nutzen bzw. zum Zugewinn durch eine Akademisierung der Erstausbildung
von Pflegenden zu geben. Dabei liegen Ergebnisse nur aus den Ländern vor, in denen
Bachelorstudiengänge schon länger etabliert sind als in Deutschland, allen voran den
USA und Großbritannien. In beiden Ländern besteht ein gestuftes Ausbildungssystem. In den USA sind dem Status der registrierten Pflegefachkraft (Registered Nurse/RN) neben Pflegenden mit einem Bachelor of Science Degree in Nursing (BSN)
außerdem Pflegende mit einem Associate Degree in Nursing (ADN) und Pflegende
mit einem Diploma in Nursing zuzuordnen, wobei nur der Bachelorabschluss eine akademische Qualifikation darstellt (HRSA 2010). Unterhalb des Status der registrierten
Pflegenden sind die Licensed Practical Nurses (LPN) bzw. Licensed Vocational Nurses
(LVN) sowie Nurse Assistants anzusiedeln (ebd.). Pflegende mit einem Bachelorabschluss machen gegenwärtig ca. ein Drittel der registrierten Pflegenden aus. In Großbritannien existieren zwei Abschlüsse, die beide den Zugang zur Registrierung erlauben, nämlich erstens das Diploma in Higher Education und zweitens der Bachelor of
Science in Nursing, wobei das Diploma einen vor-akademischen Grad darstellt und an
Colleges erworben wird (Filkins et al. 2005: 87 ff.). In der direkten Pflege werden die
registrierten Pflegenden von Nursing Aides bzw. Healthcare Assistants unterstützt
(National Nursing Research Unit 2009).
Methoden
Grundlage des folgenden Beitrags ist eine Literaturrecherche in den Datenbanken
Pubmed und Cinahl anhand der Begriffe educational level, Bachelor, Baccalaureate,
graduate AND nurse in Kombination mit den Begriffen competency, competence, patient outcome, effect und benefit. Weitere Literatur wurde mittels Durchsicht der Literaturverzeichnisse gefundener Publikationen gewonnen. Berücksichtigt wurden Studien, die in englischsprachigen Pflegezeitschriften der letzten 10 Jahre (zum Zeitpunkt
der Recherche ab dem Jahr 2000) veröffentlicht wurden (Ausnahme ein Review aus
dem Jahr 1999). Bei der folgenden Durchsicht der Abstracts wurden solche Studien
ausgeschlossen, die thematisch nicht relevant waren, die sich zwar auf unterschiedliche
Ausbildungsniveaus, nicht aber speziell auf den Bachelorabschluss beziehen und die
nicht aus dem westlichen Kulturraum stammen. Auf der Grundlage der Vollversionen
wurden alle gefundenen Studien anhand ihrer Fragestellung geordnet und einer methodischen Beurteilung unterzogen. Geprüft wurden das Forschungsdesign, die Erhebungsmethoden, die Zusammensetzung des Samples und die Auswertungsverfahren.
Auswahl und Qualitätsbeurteilung der Studien erfolgten lediglich durch die Autorin,
so dass auch keine Interrater-Reliabilität ausgewiesen werden kann.
218
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
2. Ergebnisse
Die fünfzehn gefundenen Studien und Reviews lassen sich dahingehend differenzieren, welche Ergebnisparameter sie untersuchen, nämlich Kompetenz (1 Review, 2 Studien) bzw. Performanz (4 Studien) der professionell Pflegenden oder das Patientenoutcome (8 Studien).
Kompetenz bzw. Performanz als Ergebnisparameter
Im deutschsprachigen Raum wird unter Kompetenz das Potenzial eines Subjekts verstanden, in immer neuen Situationen adäquate Handlungen hervorzubringen (Erpenbeck et al. 2003: XI). Mit dem Begriff Performanz wird dagegen auf die tatsächlich erbrachten und beobachtbaren Leistungen abgehoben. International werden diese beiden Ansätze nicht so strikt voneinander getrennt, vielmehr wird mit dem Begriff
Kompetenz sowohl Kompetenz als Disposition als auch Kompetenz als Performanz bezeichnet (Darmann-Finck et al. 2011). Die im Folgenden präsentierten Ergebnisse beziehen sich folglich auch auf beide Aspekte.
Die meisten Studien, die sich mit dem Einfluss des Ausbildungsniveaus auf die
Kompetenzen der Pflegenden beschäftigen, fokussieren die Fähigkeit des „Critical
Thinking“. Critical Thinking gilt seit Ende der 1980er Jahre als spezifisches Qualitätsmerkmal grundständiger und konsekutiver Pflegestudiengänge und wird seitdem etwa
in den USA im Rahmen von Akkreditierungsverfahren an vielen Hochschulen systematisch erfasst (Walsh et al. 2005). Critical Thinking beschreibt eine höhere kognitive
Fähigkeit, die bei komplexen Problemen, für die keine standardisierten Problemlösungen zur Verfügung stehen, zur Anwendung kommt (Adams 1999). Studien, in denen
der Zugewinn bezogen auf Critical Thinking durch eine akademische im Vergleich zu
einer Erstausbildung auf Collegeniveau untersucht wird, reichen bis in die 1970er Jahre zurück.
Gefunden wurden ein Review und zwei weitere Studien (Tabelle 1). Das US-amerikanische Review von Adams aus dem Jahr 1999, in dem die Ergebnisse von 20 Studien
einfließen, die zwischen 1977 und 1995 durchgeführt wurden, präsentiert in erster Linie eine Synthese der Studienergebnisse, keine Bewertung der Studiendesigns und Methoden. Aus der Aufstellung geht aber hervor, dass die Studien auf sehr unterschiedlichen Designs basierten (Längsschnitt-, Querschnitts-, Vergleichs- und Korrelationsstudien, z.T. deskriptive Studiendesigns). Bei der Studie von Girot (2000) handelt es
sich um eine quasi-experimentelle Untersuchung, bei der Studie von Fero et al. (2009)
um die retrospektive Analyse von im Rahmen eines Assessments gewonnenen Daten,
d.h. die Daten wurden ursprünglich für einen anderen Zweck generiert. Bezogen auf
die Messinstrumente lässt sich feststellen, dass in 18 der in dem Review von Adams
(1999) berücksichtigten Studien sowie in der Studie von Girot (2000) das WatsonGlaser Critical Thinking Appraisal (WGCTA) (http://www.talentlens.com/
en/watson/) herangezogen wurde. Dabei handelt es sich um ein paper and pencil assessment, das allgemeine Fähigkeiten der klassischen Logik überprüft. Die spezifischen
219
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Herausforderungen des Handlungsfeldes der professionellen Pflege und die domänenspezifischen Fähigkeiten der klinischen Problemlösung und Entscheidungsfindung
(Hülsken-Giesler 2008; Remmers 2000) kann das Instrument nur zum Teil erfassen.
Fero et al. (2009) verwenden einen Test, bestehend aus 10 auf Video aufgezeichneten
Fallvignetten mit geläufigen klinischen Patient/innenproblemen, zu denen die Probanden Aufgaben bearbeiten mussten (Ermittlung von Pflegeproblemen und Identifikation von geeigneten Interventionen). Die Videovignetten ermöglichen zwar einen
engeren Bezug zur Berufswirklichkeit, da es sich aber um Simulationen handelt, ist unklar, ob sie tatsächlich die Berufswirklichkeit abbilden. Sowohl beim WGCTA als auch
bei den Videovignetten ist folglich die Validität fraglich. Dadurch, dass die Daten in
der Studie von Fero et al. (2009) im Rahmen eines Assessments für ein Universitätsklinikum gewonnen wurden, ist das Sample möglicherweise nicht typisch für die Grundgesamtheit der Pflegenden.
Adams (1999) kommt in ihrem Review nicht zu eindeutigen Ergebnissen. In zehn
der einbezogenen Studien konnten signifikante Zusammenhänge zwischen einer Qualifikation auf Bachelorniveau und der Fähigkeit kritischen Denkens nachgewiesen
werden, bei sechs Studien war kein Zusammenhang erkennbar und vier Studien kamen
zu gemischten Ergebnissen. Ähnlich uneinheitlich sind auch die Ergebnisse neuerer
Studien zum Zusammenhang von kritischem Denken und Ausbildungsniveau. So
stellt Girot diesbezüglich keinen signifikanten Unterschied zwischen englischen Pflegenden mit und ohne Bachelorabschluss fest, wohl aber verfügen Pflegende mit Bachelorabschluss über bessere Fähigkeiten zum „decision making in practice“ (Girot 2000).
Fero et al. (2009) kommen zu dem Schluss, dass bezogen auf die Gesamtheit der Pflegenden keine Kompetenzunterschiede zu ermitteln waren, die Bachelorpflegenden
und die ADN-Pflegenden aber mit zunehmender Berufserfahrung ein höheres Kompetenzniveau erreichten als die Pflegenden mit einem Diploma in Nursing.
Stärker auf Performanz zielen Studien, in denen anhand von Selbsteinschätzungen
beruflich Pflegender oder Fremdeinschätzungen durch z. B. leitende Pflegekräfte die
Häufigkeit von bestimmten Tätigkeiten erhoben wird (Tabelle 2). In die vorliegende
Darstellung wurden nur Studien einbezogen, in denen nicht eine einzelne Tätigkeit (z.
B. korrekte Händedesinfektion oder Mundpflege bei Krebspatient/innen), sondern
ein größeres Spektrum an Performanzen überprüft wurde. In diese Rubrik fallen zwei
englische Studien, in denen Unterschiede zwischen Pflegenden mit Bachelorabschluss
und Pflegenden mit einem Diploma in Nursing untersucht werden sollten. Mit der
Umsetzung des Projekts 2000 ist die Pflegeausbildung in Großbritannien zwar ausschließlich an Universitäten angesiedelt, nach wie vor verfügten 2005 aber lediglich ca.
20% der Pflegenden über einen akademischen Abschluss, 80% erwarben auf der Basis
eines Undergraduate-Studiums ein Diplom. Im Unterschied zur Diplomausbildung
zielt die Bachelorausbildung stärker auf eine forschungs- und wissensbasierte Praxis,
auf Veränderung und Innovation (Clinton et al. 2005), die Studien verfolgen daher die
Fragestellung, ob sich diese Unterschiede auf die Performanz der Absolvent/innen auswirken.
220
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Autoren
(Jahr)
Forschungsdesign
Adams
(1999)
Review auf der Basis von 20
Das Sample bewegt sich zwiStudien, darunter Längsschen 14 und 429
schnittstudien, Querschnittsstudien, komparative Studien
und Korrelationsstudien
Messinstrument: in 18 Studien das WGCTA
Keine eindeutigen Ergebnisse
hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Ausbildungsniveau und critical thinking
Girot
(2000)
Quasi-experimentelle Studie
Messinstrument: WGCTA
Keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des kritischen Denkens zwischen den
Gruppen
Fero et al. Retrospektive Analyse eines
(2009)
Assessments
Messinstrument: Videovignetten und problembasierte
Aufgabenstellungen
Sample
82 Pflegekräfte verteilt auf 4
Gruppen mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus
und unterschiedlicher
Berufserfahrung
2144 Pflegekräfte einer Universitätsklinik, davon 31%
Diploma in Nursing, 41%
ADN und 28% BSN
Ergebnisse
Keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Kompetenz bezogen auf die Gesamtheit der Pflegenden, bei
BSN-Pflegenden und ADNPflegenden steigt das Kompetenzniveau signifikant mit der
Berufserfahrung, bei Pflegenden mit einem Diploma in
Nursing nicht
Tab. 1: Studien zum Zusammenhang zwischen Qualifikation auf Bachelorniveau und Kompetenz
Bartlett et al. (2000) vergleichen die Performanz von Pflegenden mit einem Bachelorabschluss und mit einem Diploma in Nursing mittels einer Längsschnittstudie zum
Zeitpunkt des Berufsabschlusses, 6 Monate und 12 Monate danach anhand von Selbsteinschätzungen der Pflegenden und Fremdeinschätzungen durch Mentor/innen auf
der Basis eines Messinstruments mit neun Verhaltensdimensionen und jeweils 6-21
Items. Clinton et al. (2005) haben mittels einer Querschnittsstudie die Selbsteinschätzungen der Pflegenden und Fremdeinschätzungen durch Pflegemanager anhand des
Nursing Competencies Questionaire bezogen auf verschiedene Ausbildungsniveaus
(Pflegende mit Bachelorabschluss und Diplom) und Berufserfahrung, nämlich ein,
zwei und drei Jahre nach Abschluss der Qualifizierung, erfasst. Das Nursing Competencies Questionaire enthält zehn Konstrukte (Führung, Professionelle Entwicklung,
Assessment, Pflegeplanung, Intervention, Kognitive Fähigkeiten, soziale Teilhabe,
Selbstbewusstsein, Research awareness, policy awareness) mit jeweils 6-21 Items, wobei jedes Item eine Pflegeaktivität oder -aufgabe beschreibt und die Proband/innen anhand von vier Antwortalternativen angeben müssen, wie häufig sie jede Aufgabe innerhalb des letzten halben Jahres praktiziert haben.
In der US-amerikanischen Studie Smith (2002) wird anhand von standardisierten
Befragungen Pflegender mit unterschiedlichem Ausbildungsniveau verglichen, wie oft
sie bestimmte (189) Pflegetätigkeiten durchführen. Häufig zitiert wird die ebenfalls
221
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
US-amerikanische Studie von Goode et al. (2001), in der leitende Pflegende (Chief
Nursing Officers) von 44 Kliniken, die Mitglied des University HealthSystem Consortiums sind, dahingehend befragt wurden, ob sie in der Pflegepraxis Unterschiede zwischen Pflegenden mit und ohne Bachelorabschluss (associate degree Nurses oder diploma-prepared Nurses) wahrnehmen.
Unter den gefundenen Studien ist eine Längsschnittstudie, außerdem liegen eine
Querschnittsstudie und zwei Umfragen vor. In den Studien kommen verschiedene
Messinstrumente zur Selbst- und zur Fremdeinschätzung zum Einsatz. Einer Studie
von Norman et al. (2002) zufolge hat das Nurse Competencies Questionaire eine gute
interne Konsistenz, bildet aber, wie andere Instrumente auch, nur einen Teilbereich
klinischer Kompetenz ab. Außerdem ist es nur bedingt in der Lage, tatsächlich zwischen kompetent und inkompetent zu differenzieren. Aus ihren Studienergebnissen
schließen die Autor/innen, dass kein einzelnes Instrument in der Lage ist, klinische
Kompetenz umfassend zu erheben. An den Studien, die Pflegende mit und ohne Bachelorabschluss einige Zeit nach Erwerb des beruflichen Abschlusses vergleichen, ist
eine Verzerrung im Sample in Rechnung zu stellen, weil nämlich insbesondere leistungsstarke Pflegende mit einem Bachelorabschluss ein Masterstudium anschließen
und daher nicht mehr in die Befragung integriert sind.
Zum Zeitpunkt des Berufsabschlusses identifizierten Bartlett et al. (2000) keine signifikanten Unterschiede mit Ausnahme der Führungskompetenz, die bei den Pflegenden mit einem Diploma in Nursing besser ausgeprägt war, was sich aber in den Folgemonaten relativierte. Nach einem halben Jahr wiesen die Bachelorpflegenden signifikant höhere Werte in den Dimensionen professionelle Entwicklung, Assessment und
Selbstbewusstsein (ego strength), nach 12 Monaten nur noch in der Dimension professionelle Entwicklung auf.
Clinton et al. (2005) können in der Gesamtkompetenz (overall competence) wie
auch bei den spezifischen Kompetenzen keine signifikanten Unterschiede zwischen
den beiden Ausbildungsstufen feststellen, sondern konstatieren hohe Kompetenz bei
beiden Gruppen. Zum Teil schätzen die Pflegenden mit einem Diploma in Nursing ihre spezifischen Kompetenzen nicht-signifikant höher ein als die Bachelorabsolventen,
was die Autor/innen zu der Vermutung veranlasst, dass letztere möglicherweise selbstkritischer sind.
Ein Unterschied von Pflegenden mit und ohne Bachelorabschluss wird auch in der
Befragung von Smith (2002) nicht festgestellt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis,
dass Pflegende ein halbes Jahr nach Beendigung ihrer Ausbildung unabhängig von deren Niveau die meiste Zeit mit Routinetätigkeiten verbringen und eher selten komplexe bzw. anspruchsvollere Tätigkeiten durchführen, wie beispielsweise Anleitung und
Schulung von Patient/innen. Eine Aussage über die Qualität der Durchführung kann
auf der Basis der Studie freilich nicht getroffen werden.
In der Studie von Goode et al. (2001) geben 71% der Befragten an, bei den Pflegenden mit Bachelorabschluss höhere Kompetenzen beobachten zu können. An erster
222
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Autoren
(Jahr)
Forschungsdesign
Sample
Ergebnisse
Bartlett et al. Längsschnittstudie zu
(2000)
drei Zeitpunkten:
Berufsabschluss sowie 6
und 12 Monate später
Messinstrument: zwei
vorhandene Messinstrumente werden zusammengeführt
52 BSN und 28
Diploma in Nursing
Unmittelbar nach dem Berufsabschluss signifikant bessere Werte in
Bezug auf die Führungskompetenz
bei den Pflegenden mit Diploma in
Nusing, nach einem Jahr signifikant
bessere Werte in der professionellen
Entwicklung bei Bachelorpflegenden
Clinton et al. Querschnittstudie
(2005)
Messinstrument: Nurses
competenencies
Questionaire
166 BSN und 188
Keine signifikanten Unterschiede
Diploma in Nursing mit
unterschiedlicher Berufserfahrung (ein, zwei
und drei Jahre nach Berufsabschluss)
Smith
(2002)
Sekundäranalyse eines
Surveys
1776 neu lizensierte
Keine Unterschiede bei Pflegenden
Pflegekräfte mit und
mit und ohne Bachelorabschluss
ohne Bachelorabschluss
Goode et al.
(2001)
Survey
44 Führungskräfte von
academic health center
hospitals
Höhere Kompetenzen bei Bachelorabsolventen
Tab. 2: Studien zum Zusammenhang zwischen Qualifikation auf Bachelorniveau und Performanz
Stelle werden bessere Fähigkeiten in „critical thinking“ genannt, gefolgt von einer geringeren Aufgabenorientierung, höherer Professionalität, besseren Führungsqualitäten, einem stärkeren Fokus auf Pflegeergebnissen, einer vermehrten Beachtung von
psychosozialen Komponenten, besseren Kommunikationsfähigkeiten und einem größerem Fokus auf Anleitung und Schulung von Patient/innen.
Resümierend kann festgehalten werden, dass die gefundenen Studien zum Zusammenhang zwischen einer Qualifikation von Pflegenden auf Bachelorniveau und ihrer Kompetenz bzw. Performanz bislang zu uneinheitlichen Ergebnissen kommen.
Derzeit gibt es keinen empirischen Beleg für die Annahme, dass Bachelorpflegende
über ein höheres Kompetenz- bzw. Performanzniveau verfügen. Dieses Ergebnis sollte
aber nicht vorschnell auf mangelnde Kompetenz- bzw. Performanzunterschiede zurückgeführt werden, denn die Studien weisen einige methodische Schwächen auf.
Patientenoutcome als Ergebnisparameter
International existiert eine Vielzahl an Studien, anhand derer Strukturvariablen auf
Seiten der Pflegenden in Beziehung zum Patientenoutcome und zur Arbeitszufriedenheit der Pflegenden gesetzt werden. Untersucht wurde bislang vor allem die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der Personalbesetzung und Patient/innenergebnissen
bestehen. Die Studien stimmen in ihren Resultaten dahingehend überein, dass der Personalschlüssel in der Pflege einen erheblichen Einfluss auf das Patientenoutcome (z. B.
223
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Autoren
(Jahr)
Forschungs- Sample
design
Untersuchte
Outcomes
Ergebnis
Aiken et al.
(2003)
Quer232.342 Chirurgische
schnittstudie Patient/innen 9989 Pflegende 168 Krankenhäuser in Pennsylvania
Tod nach erlittener
Komplikation
(Failure-to-rescue)
30 Tage-Mortalität
Signifikant negative Zusammenhänge mit Tod
nach Komplikation und 30
Tage-Mortalität
Estabrooks Quer18.142 Patient/innen mit 30 Tage-Mortalität Signifikant negative Zuet al. (2005) schnittstudie unterschiedlichen intersammenhänge mit 30 Tanistischen Erkrankungen
ge-Mortalität
(Herzinfarkt, Pneumonie, COPD, häufiges
Herzversagen) und Patient/innen nach Schlaganfall
6526 Pflegende
49 Krankenhäuser in
Alberta
Friese et al.
(2008)
Sekundäranalyse der
o.g. Querschnittstudie
von Aiken et
al. (2003)
25.957 Chirurgische Onkologische Patient/innen
9.989 Pflegende
168 Krankenhäuser in
Pennsylvania
Tod nach erlittener
Komplikation
30 Tage-Mortalität
Komplikationen
Signifikant negative Zusammenhänge mit Tod
nach erlittener Komplikation und 30 Tage-Mortalität, allerdings nicht bei
der Anzahl der Komplikationen
Kutney-Lee Sekundäret al. (2008) analyse der
o.g. Querschnittstudie
von Aiken et
al. (2003)
228.433 Chirurgische
Patient/innen, davon
10.666 Patient/innen mit
ernsthafter psychischer
Erkrankung
9989 Pflegende
157 Krankenhäuser in
Pennsylvania
Tod nach erlittener
Komplikation
(Failure-to-rescue
rate)
30 Tage-Mortalität
Aufenthaltsdauer
im Krankenhaus
Keine signifikanten Zusammenhänge mit Tod
nach erlittener Komplikation und Mortalität, aber
positiver Zusammenhang
mit Verkürzung der Aufenthaltsdauer
Tourangeau Queret al. (2006) schnittstudie
Getestet
wurden 16
Hypothesen
46.993 Patient/innen mit 30 Tage-Mortalität
akuten internistischen
Erkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Pneumonie, Sepsis)
5.980 Pflegende
75 Krankenhäuser in Ontario
Van den
Heede et al
(2009b)
224
Quer9054 Patient/innen nach Mortalität im
schnittstudie einer Herzoperation
Krankenhaus
28 belgische Herzzentren
mit 58 Intensiv- und 75
peripheren Stationen
Signifikant negative Zusammenhänge (45% der
Varianz in der 30-Tage
Mortalität konnten anhand von 8 Prädiktoren erklärt werden)
Signifikante negative Zusammenhänge auf peripheren Stationen mit Mortalität in der Klinik, nicht
aber auf Intensivstationen
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Autoren
(Jahr)
Forschungs- Sample
design
Blegen et al. Sekundära(2001)
nalyse einer
Querschnittstudie
Van den
Heede et al.
(2009a)
Untersuchte
Outcomes
Patient/innen in AkutSturzrate
krankenhäusern
MedikamentenInsgesamt 81 Stationen fehler
in insgesamt 12 Krankenhäusern, keine Angaben
zur Anzahl der
Patient/innen und Pflegenden
Quer260.923 Chirurgische,
schnittstudie internistische und Intensivpatient/innen
115 belgische Akutkrankenhäuser,
1403 Stationen, einschl.
Intensivstationen
Ergebnis
Keine signifikanten Zusammenhänge mit der
Sturzrate und den Medikamentenfehlern
10 Patientenout- Keine signifikanten Zucomes (Dekubitus, sammenhänge
tiefe Venenthrombose, Schock, postoperativer Atemstillstand, postoperative Komplikationen und Infektionen, Infektionen des Harntrakts, Krankenhauspneumonie,
Pneumonie nach
Beatmung, Krankenhausbedingte
Sepsis, Mortalität
im Krankenhaus
und Tod nach erlittener Komplikation)
Tab. 3: Studien zum Zusammenhang zwischen dem Anteil von Pflegenden mit einem
Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und dem Patientenoutcome
die Mortalitätsrate und die Zahl der Todesfälle nach erlittener Komplikation) und die
Berufszufriedenheit der Pflegenden hat (z. B. Aiken et al. 2002; Needleman et al. 2002
und Rafferty et al. 2007). Erst jüngere und bislang auch vergleichsweise wenige Studien
(Tabelle 3) widmen sich dem Zusammenhang zwischen dem Anteil von Pflegenden
mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und dem Patientenoutcome.
Bei den acht gefundenen Studien handelt es sich ausschließlich um Querschnittsstudien. Das Patientenoutcome wird bislang in den meisten Studien anhand der 30 TageMortalitätsrate und der Anzahl der Todesfälle nach erlittener Komplikation (Failureto-rescue) untersucht. Als Datengrundlage werden im Wesentlichen standardisierte
Befragungen von professionell Pflegenden etwa hinsichtlich ihrer Qualifikation, des
Arbeitsaufkommens auf ihrer Station und der Anzahl ihrer Berufsjahre sowie administrative Daten, die über Patient/innenereignisse und Krankenhausmerkmale Auskunft
geben, herangezogen.
225
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Die Studie der Arbeitsgruppe um Aiken (Aiken et al. 2003), die mehrfach sekundär
ausgewertet wurde, besticht durch eine hohe methodische Qualität, die sich auf die
jahrzehntelange Erfahrung der Arbeitsgruppe in der Outcomeorientierten Forschung
zurückführen lässt. Zu den Qualitätsmerkmalen zählen große, repräsentative Samples,
multivariate Analysen und umfangreiche Risikoadjustierungen (z. B. hinsichtlich der
Komorbidität von Patient/innen oder der Merkmale von Krankenhäusern). Eine ähnlich hohe Qualität weisen auch die Studien von Estabrooks et al. (2005), Tourangeau et
al. (2006), van den Heede et al. (2009a) und van den Heede et al. (2009b) auf. In den
Studien von van den Heede et al. (2009b) und Blegen et al. (2001) werden die Pflegenden- und Patient/innendaten auf Stationsebene aggregiert, in den anderen Studien auf
Krankenhausebene. In der Studie von Blegen et al. (2001) erfolgt eine Kontrolle von
Confoundern in vergleichsweise geringem Maße, außerdem wird die Zusammensetzung des Samples nur zum Teil beschrieben.
In ihrer bahnbrechenden Studie weist das US-amerikanische Forscherteam Aiken et
al. (2003) erstmalig nach, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Anteils von Pflegenden mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und einem Rückgang der Mortalitätsraten chirurgischer Patient/innen vorhanden
ist. Die Wahrscheinlichkeit der 30 Tage-Mortalität sowie der Todesfälle nach erlittenen
Komplikationen ist den hypothetischen Berechnungen der Studie zufolge in Krankenhäusern, in denen der Anteil von Bachelorpflegenden am Gesamtpflegepersonal mehr
als 60% beträgt, um 19% niedriger als in Krankenhäusern, in denen der Anteil unter
20% liegt. Steigt der Anteil von Bachelorpflegenden um 10%, sinkt die Todesrate nach
erlittener Komplikation um 5%.
Anhand von Sekundäranalysen der in der Studie von Aiken et al. (2003) erhobenen
Daten werden Ergebnisse bezogen auf spezielle Patient/innengruppen, nämlich onkologische chirurgische Patient/innen (Friese et al. 2008) und chirurgische Patient/innen, die an einer ernsthaften („serious“) psychischen Erkrankung leiden (Kutney-Lee et al. 2008), errechnet. In der Studie von Friese et al. (2008) wurden darüber
hinaus noch Zusammenhänge zwischen Patientenoutcome und einer Vielzahl weiterer
Aspekte untersucht, die die Autor/innen als „Nurse Practice Environment“ bezeichnen, wie beispielsweise die Beziehung der Pflegenden zur Managementebene und zu
den Mediziner/innen oder der Status, den die Pflegenden in der Krankenhaushierarchie inne haben. Hinsichtlich des Qualifikationsniveaus kommen die Autor/innen zu
dem Ergebnis, dass signifikant negative Zusammenhänge zwischen einem höheren Anteil an Bachelorpflegenden und sowohl der Mortalitätsrate als auch der Rate der Todesfälle nach erlittenen Komplikationen nachzuweisen sind, nicht aber mit der Komplikationsrate. Bei Patient/innen, die neben dem Anlass für die Operation noch eine ernsthafte psychische Erkrankung als Komorbidität aufweisen und als besonders vulnerable
Zielgruppe bezeichnet werden können, sind Zusammenhänge zwischen einer höheren
Quote an Bachelorpflegenden und der Verkürzung nur bezüglich der Aufenthaltsdauer
signifikant, nicht aber hinsichtlich der Mortalität (Kutney-Lee et al. 2008).
226
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Auch die kanadischen Studien von Estabrooks et al. (2005) sowie Tourangeau et al.
(2006) kommen zu dem Ergebnis, dass signifikant negative Zusammenhänge zwischen
einem höheren Anteil an Pflegenden mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und der 30 Tage-Mortalitätsrate hier bei Patient/innen mit internistischen Erkrankungen bestehen. Mittlerweile existiert auch eine europäische Studie aus Belgien,
in der signifikant negative Zusammenhänge mit der Mortalität im Krankenhaus bei
frisch herzoperierten Patient/innen auf peripheren Stationen, nicht aber auch Intensivstationen festgestellt wurden (van der Heede et al. 2009b).
Die beiden anderen identifizierten Studien können keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem Anteil von Bachelorpflegenden am Gesamtpflegepersonal und
dem Patientenoutcome nachweisen. In einer US-amerikanischen, bereits 2001 veröffentlichten Studie wird kein Zusammenhang mit der Sturzrate von Patient/innen und
der Anzahl der Medikamentenfehler von Pflegenden festgestellt (Blegen et al. 2001).
Auch eine belgische Studie von van den Heede et al. (2009a) kann keinen Zusammenhang zwischen dem Anteil von Bachelorpflegenden und 10 Patientenoutcomes (Dekubitus, tiefe Venenthrombose, Schock, postoperativer Atemstillstand, postoperative
Komplikationen und Infektionen, Infektionen des Harntrakts, Krankenhauspneumonie, Pneumonie nach Beatmung, Krankenhausbedingte Sepsis, Mortalität im Krankenhaus und Tod nach erlittener Komplikation) finden.
Durch eine Reihe von qualitativ hochwertigen Querschnittstudien, insbesondere
der Arbeitsgruppe um Aiken, kann inzwischen ein positiver Zusammenhang zwischen
einer Ausbildung auf Bachelorniveau und dem Patientenoutcome als bewiesen angesehen werden. Auch die Autor/innen der Studien, die keine signifikanten Zusammenhänge finden konnten, betonen gleichermaßen, dass ihre Ergebnisse nicht so zu interpretieren sind, dass ein solcher Zusammenhang nicht besteht.
3. Bewertung und Ausblick
Bei den gefundenen Studien handelt es sich überwiegend um Querschnittstudien. Keines der verwendeten Studiendesigns ist geeignet, kausale Zusammenhänge festzustellen. Insofern kann gegenwärtig – wenn überhaupt – lediglich vom Vorliegen signifikanter Zusammenhänge gesprochen werden.
Die verwendeten Messinstrumente können vielfach nur eingeschränkt die testtheoretischen Gütekriterien erfüllen. Bei der Kompetenz- und Performanzdiagnostik ist
u.a. die Validität der Instrumente in Zweifel zu ziehen. Bei den Studien, die das Patientenoutcome als Vergleichsparameter untersuchen, ist zu beanstanden, dass sie sich auf
gut erfasste negative Patient/innenereignisse beziehen, wie die 30 Tage-Mortalität und
den Tod nach erlittenen Komplikationen. Auch wenn unbestritten ist, dass Pflegende
durch die kontinuierliche Begleitung von Patient/innen viel dazu beitragen, diese Ereignisse zu reduzieren, so bilden sie aber dennoch das pflegespezifische Leistungsspektrum nur partiell ab. Dies gilt letztlich auch beispielsweise für die Rate an Dekubiti
oder nosokomialen Harnwegsinfektionen, beides Outcomeindikatoren, die stärker
227
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
pflegeassoziiert sind. Positive Patientenoutcomes, wie der Zuwachs an Selbstpflegefähigkeiten, werden überhaupt nicht erfasst.
Ein weiteres forschungsmethodisches Problem, das die Outcomestudien betrifft,
besteht in dem Rückgriff auf administrative Daten, beispielsweise zum Patientenoutcome. Da diese Daten häufig auch für ein Benchmarking veröffentlicht werden, ist ihre
Qualität möglicherweise zweifelhaft (Estabrooks et al. 2005). Um zukünftig zu methodisch belastbaren Aussagen über die Wirkungen einer akademischen Erstausbildung
von Pflegenden zu gelangen, sind Fortschritte in der Entwicklung valider Testinstrumente für die Messung von Pflegekompetenz (Darmann-Finck et al. 2011) sowie pflegesensitiver Instrumente zur Erfassung des Patientenoutcomes (Stemmer 2003) erforderlich. Aber selbst noch so gute Instrumente werden vermutlich die Ergebnisse von
Pflege- und Pflegebildungsprozessen jeweils nur zum Teil und nicht in ihrer Komplexität abbilden können, so dass der Zugewinn durch eine Qualifikation auf Bachelorniveau auch zukünftig nicht vollständig messbar sein wird.
In Deutschland gibt es gegenwärtig noch keine empirische Forschung zu der Fragestellung, welcher Zugewinn durch eine Akademisierung der Pflegeerstausbildung zu
erwarten ist. Hier besteht dringender Nachholbedarf. Mit Blick auf die internationale
Forschungslage fordern Aiken et al. (2003) Längsschnittstudien, da einige Studien
Hinweise darauf liefern, dass sich die Effekte einer Bachelorqualifikation mit zunehmender Berufserfahrung verstärken, sowie Untersuchungen mit größeren Samples
bzw. länderübergreifende Studien (Aiken et al. 2003). Letztere Forderung wird mit
dem Projekt RN4CAST realisiert, einer internationalen Multicenter-Studie, an der elf
europäische (darunter auch Deutschland und die Schweiz) und drei außereuropäische
Länder beteiligt sind (Sermeus et al. 2011).
Die Limitierungen der vorliegenden Literaturübersicht bestehen darin, dass möglicherweise aufgrund der Beschränkung auf zwei Datenbanken nicht alle relevanten Studien gefunden wurden, keine zweite Meinung zur Bewertung der gefundenen Studien
herangezogen wurde und die Literaturrecherche sich auf die letzten 10 Jahre beschränkte.
Auf der Basis der recherchierten Literatur lässt sich bislang zwar keine sichere Aussage hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen einer akademische Erstausbildung und
der Kompetenz bzw. Performanz von Pflegenden treffen, ein positiver Zusammenhang
mit dem Patientenoutcome kann aber mittlerweile als gesichert angesehen werden und
somit ist durchaus eine empirische Grundlage für eine Argumentation zugunsten der
Akademisierung der Pflegeerstausbildung in Deutschland gegeben.
Dass bezogen auf die Kompetenz/Performanz nicht durchgängig eindeutige Ergebnisse verfügbar sind, hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Kompetenz als
Ergebnis von Pflegebildungsangeboten eine Zielgröße darstellt, die aus einem äußerst
komplexen Geschehen resultiert, auf das zahlreiche Einflussfaktoren auf der Makro-,
Meso- und Mikroebene einwirken. Primär werden die Effekte der Ausbildung von der
Qualität des Angebots einerseits und der Qualität der Nutzung des Angebots anderer228
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
seits hervorgerufen, welche u.a. von den Persönlichkeiten der Akteure geprägt werden,
aber natürlich auch in Wechselbeziehung zu Faktoren auf der Meso- und Makroebene
stehen (Kiel 2009).
Neben der Personalbesetzung und der Qualifikation von Pflegenden hat Studien
zufolge insbesondere die Organisationsstruktur von Krankenhäusern, worunter z. B.
die Bereitstellung unterstützender Dienste, die Qualität der Zusammenarbeit mit
Ärzt/innen oder die Unterstützung der Pflege durch das Management fallen, einen erheblichen Einfluss auf das Pflegeergebnis. Vor dem Hintergrund dieser empirischen
Evidenzen wurde in den USA das Konzept der sog. Magnetkrankenhäuser entwickelt
und implementiert. Per Definition handelt es sich bei den Magnetkrankenhäusern um
Kliniken, denen es aufgrund ihrer Organisationsstruktur gelungen ist, über Jahre hinweg Pflegekräfte erfolgreich an sich zu binden (Cheung et al. 2008). Das Konzept wurde inzwischen auch in einigen europäischen Ländern implementiert und führte dort zu
Verbesserungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals und des Patientenoutcomes (Cheung et al. 2008).
Bei der Rezeption der Befunde aus dem angloamerikanischen Raum ist in Rechnung zu stellen, dass sie nur bedingt auf das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem
übertragen werden können. Beispielsweise handelt es sich bei einem Großteil der erstauszubildenden Bachelorstudiengänge in Deutschland um duale Studiengänge, d.h.
die Absolventen erlangen nicht nur einen Bachelorabschluss, sondern auch ein staatliches Pflegeexamen und müssen für letzteres die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie
andere Pflegeauszubildende, dies gilt insbesondere für die vergleichsweise hohen Praxisanteile. Auch haben die Pflegenden in den unterschiedlichen Systemen zum Teil andere Aufgaben. Aufgrund dieser Unterschiede in den Gesundheitssystemen der Länder
muss der Nutzen einer Akademisierung der Erstausbildung für die Versorgung der Patient/innen spezifisch für das deutsche Versorgungssystem überprüft werden.
Letztlich wird auch zukünftig der Nutzen einer akademischen Ausbildung nicht
vollständig empirisch nachweisbar sein, so dass ungeachtet der Notwendigkeit, in
Deutschland hier zu empirischen Ergebnissen zu kommen, zukünftig die Energie vor
allem in die Konzeption von hochwertigen akademischen Bildungsangeboten fließen
sollte. Für die Entwicklung von pflegeausbildenden Studiengängen hierzulande ist aus
der Studienlage der Schluss zu ziehen, dass zunächst definiert werden müsste, für welche Aufgaben Pflegende mit einem Bachelorabschluss zuständig sein und welche Kompetenzen durch das Studium angestrebt werden sollen. Hierfür einen kompromissfähigen Rahmen zu entwickeln, ist Aufgabe der Berufsverbände und der pflegewissenschaftlichen Fachgesellschaft. Bei der Konstruktion von Kerncurricula2 und
Fachqualifikationsrahmen müssten diese Kompetenzen berücksichtigt und anhand
von pflegewissenschaftlichen und fachdidaktischen, bildungstheoretisch fundierten
Kriterien weiterentwickelt werden. Pflegepädagogen (und damit auch Pflegewissenschaftler/innen) dürfen sich nicht damit begnügen, Lerneffekte zu überprüfen, son2 Einen Vorschlag für ein Kerncurriculum für pflegewissenschaftliche Studiengänge entwickeln Hülsken-Giesler et
al. (2010).
229
Beiträge
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dern sind gehalten, den Lernenden im Rahmen intergenerationeller Interaktion Möglichkeitsräume zu eröffnen, ihr Selbst- und Weltverständnis zu erweitern oder bewusst
beizubehalten.
Literatur
Adams, B. L. (1999): Nursing education for critical thinking: an integrative review. In: Journal of Nursing Education 38, 3, 111-9
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Education 45, 6, 212-219
Prof. Dr. Ingrid Darmann-Finck
Universität Bremen, Fachbereich 11, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP)
Abt. 4 Qualifikations- und Curriculumforschung, Grazer Straße 4, 28359 Bremen,
darmann@uni-bremen.de
Mar tin Moers, Ute Schöniger, Marlies Böggemann
Duale Studiengänge – Chancen und Risiken
für die Professionalisierung der Pflegeberufe
und die Entwicklung der Pflegewissenschaft
Dual study programs – chances and risks regarding professional nursing and
the development of nursing science
The number of dual study programs which combine apprenticeship and academic education is growing in Germany. The ar ticle gives an over view about the different forms of these programs and discusses the consequences for professional nursing and the development of nursing science
Keywords
Dual study programs, professional nursing, development of nursing science
Die Zahl dualer Studienprogramme, die Ausbildung und Studium kombinieren wächst in
Deutschland. Der Ar tikel gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen dieser Programme und diskutier t die Konsequenzen für die Pflegeberufe und die Entwicklung der
Pflegewissenschaft.
eingereicht 19.3.2012
akzeptiert 08.06.2012 (nach Überarbeitung)
232
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Schlüsselwörter
Duale Studienprogramme, Professionalisierung der Pflegeberufe, Entwicklung der Pflegewissenschaft
1. Einleitung
Kombinationen von Erstausbildung und Studiengang bilden in der deutschen Pflegelandschaft seit einiger Zeit eine stärker werdende Strömung. Gemeint sind Programme, in denen verbunden mit der traditionellen Ausbildung an Gesundheits- und Kranken- bzw. Kinderkrankenpflegeschulen oder Berufsfachschulen für Altenpflege (im
Weiteren allesamt als Berufsfachschulen zusammengefasst) ein Bachelorstudium absolviert wird. Dabei ist jedoch eine große konzeptionelle Bandbreite zu verzeichnen.
Das nehmen wir zum Anlass, verschiedene Kombinationsmodelle von Ausbildung und
Studium zu diskutieren und dabei auch die Konzeption des dualen Studienprogramms
an der Hochschule Osnabrück vorzustellen.
In die Konzeptionen dieser Studiengänge sind vielfältige Erwägungen eingeflossen,
in denen sich die aktuellen Diskussionsstränge der Pflege abbilden: Professionstheoretische Überlegungen, professionspraktische Erfordernisse, Bedarf an fachlicher Expertise in der Praxis sowie Angleichung an das europäische Niveau – weitere wären zu nennen. Diese Bildungsoffensive trifft jedoch auf ein Praxisfeld, in dem zum Teil auch Deprofessionalisierungstendenzen (Aufgabenverlagerungen, Personalabbau, vermehrter
Einsatz von Hilfskräften usw.) zu verzeichnen sind, was für die neuen Programme die
Gefahr von Verwerfungen mit sich bringt. Auch für die Entwicklung der Pflegewissenschaft sind die arbeitsintensiven Erstausbildungsstudiengänge nicht ohne Folgen.
Auch dies wollen wir schlaglichtartig beleuchten.
2. Die Ausgangslage
Beginnen wir mit einem kurzen Überblick über den Stand der Professionalisierungsbemühungen.1 Betrachtet man die Entwicklung der Pflegewissenschaft insgesamt lässt
sich konstatieren, dass nach dem im internationalen Vergleich verspäteten Beginn in
den 80er und verstärkt den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine weitgehende Institutionalisierung gelungen ist, so dass man inzwischen von einer normalen Wissenschaftsdisziplin sprechen kann. Hervorzuheben ist die intensive Forschungstätigkeit auch an Fachhochschulen sowie die gelungene Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses, der inzwischen beginnt, die GründerInnengeneration abzulösen.
Schwachpunkte der Disziplin sind die mangelnde Verankerung an Universitäten, die
geringe Zahl habilitierter PflegewissenschaftlerInnen und insgesamt die Einordnung
der Lehrstühle, Professuren und Studiengänge an größtenteils fachfremden Fachberei1 Wir stützen uns aus Gründen der Übersichtlichkeit auf den merkmalstheoretischen Ansatz mit den Elementen
Zentralwertbezug, eigenständige Wissensbasis und berufliche Autonomie, wobei die Frage der eigenständigen
Wissensbasis im Mittelpunkt unserer Betrachtungen steht. Für die Pflege vgl. dazu Schaeffer (2004).
233
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
chen. Die Mitte der 90er Jahre beginnende dynamische Studiengangsentwicklung hat
für eigene Fachbereiche, vergleichbar den „Schools of Nursing“ in den USA, bislang
meist nicht gereicht. Zu den Folgen der Normalisierung gehört aber auch die zunehmende Einbindung der PflegewissenschaftlerInnen in Aufgaben des Studiengangsmanagements, wie zum Beispiel in das florierende Geschäft der Akkreditierungen und Reakkreditierungen, das sich bisweilen als Minenfeld der Modernisierungsbürokratie erweist (vgl. Moers et al. 2011).
Schauen wir auf die Studiengangsentwicklung, so wurde in den 1990er Jahren auf
breiter Front mit Studienprogrammen für Lehre und Leitung begonnen. Studiengänge
für PflegeexpertInnen, die direkt die Entwicklung der Pflegepraxis fördern sollen, waren in der ersten Gründungswelle in der Minderheit. Sie entstanden zunächst an den
Fachhochschulen in Osnabrück, Frankfurt, Darmstadt und Fulda sowie an den universitären Standorten Witten/Herdecke und Halle. Für alle Studiengänge – mit Ausnahme der hessischen – war eine abgeschlossene Pflegeausbildung eine Zugangsvoraussetzung. Die grundständigen hessischen Studiengänge wiederum führten lediglich zum
Hochschulabschluss, jedoch nicht zur Anerkennung als Pflegefachkraft im Sinne der
Berufsgesetze. Die Tragfähigkeit dieser Modelle nahm spätestens Mitte der 2000er Jahre rapide ab, seit mit der Einführung der gestuften Abschlüsse gemäß dem Bolognaprozess die europaweit gültige Konzeption des Bachelor als erster berufsqualifizierender
Abschluss auf Deutschland übertragen und damit das Manko der deutschen Entwicklung in der Pflegebildung unübersehbar wurde. Die qualifizierte Pflegeerstausbildung
findet in der Europäischen Union (EU) weitgehend auf Bachelorniveau statt und ist
damit im tertiären Sektor angesiedelt. Als Ergebnis eines dreijährigen Studiums zusätzlich zur dreijährigen Ausbildung gab es hierzulande lediglich einen Bachelor, den es in
der EU bereits für die qualifizierte Ausbildung nach drei bis vier Jahren gibt. Erneuten
Zündstoff bekommt diese Diskussion durch die aktuellen Pläne für eine Berufsanerkennungsrichtlinie der EU, nach der ein erfolgreicher Abschluss von 12 Schulklassen
(mithin das neue deutsche Abitur oder ein vergleichbarer Abschluss) die Voraussetzung
für eine qualifizierte Pflegeausbildung sein soll. Bei allen zu erwartenden Umsetzungsschwierigkeiten für eine solche Richtlinie muss darauf hingewiesen werden, dass es sich
lediglich um eine in 25 von 27 EU-Staaten bereits umgesetzte Zugangsvoraussetzung
handelt, es für Deutschland im europäischen Maßstab also um eine längst fällige Angleichung an das europäische Niveau ginge.
Im Bolognaprozess verankerte vermehrte Anerkennungsmöglichkeiten für außerhochschulisch erworbene Leistungen (Ausbildungen, Fachweiterbildungen usw.) sowie die seit einigen Jahren vom Gesetzgeber widerstrebend eingeräumten Modellmöglichkeiten für hochschulbasierte Pflegeausbildungen führten zu einem rasch zunehmenden Angebot an dualen Studiengängen unterschiedlicher Konzeption. Neben der
Orientierung am internationalen Standard spielt die zur Zeit wieder einmal sinkende
Attraktivität der Pflegeberufe bei demografiebedingt wachsendem Bedarf eine entscheidende Rolle für die – allerdings immer noch zögerliche – Akzeptanz des Bedarfs an
wissenschaftlich qualifizierten klinisch orientierten Pflegefachkräften durch Einrichtungsträger und Politik.
234
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
3. Modelle der Kombination von pflegerischer
Erstausbildung und Studium
Als Folge dezentraler Bildungsplanung erleben wir eine große Bandbreite unterschiedlicher Modelle der Kombination von Pflegeerstausbildung und -studium, die einen Bachelorabschluss und ein staatlich anerkanntes Examen in der Pflege zum Ziel haben und
allesamt mit dem Begriff „duale Studiengänge“ versehen werden, aber durchaus unterschiedliches meinen. Diese Unterschiede werden oft mit den Begriffen additiv oder integrativ gekennzeichnet. Dies hilft nicht wirklich weiter, da je nach Handlungslogik
unterschiedliche Dimensionen gemeint sind. Mal ist es die Addition von Berufszweigen
(auch Generalistik genannt), mal die zeitliche Aufeinanderfolge von Ausbildung und
Studium. Mit Integration ist bisweilen ebenfalls die Zusammenfügung der Berufszweige gemeint oder aber die Verbindung von Berufsfachschulunterricht mit der Hochschullehre, bisweilen auch die enge Kooperation der Partner einschließlich der Pflegepraxis. Wir konzentrieren uns in unserer Analyse auf Zeitpunkte, Verteilung und Orte
der Ausbildungs- und Studienanteile und haben unsere Begrifflichkeit neu sortiert.
3.1 Anerkennungsmodell
Eine Pflegeausbildung wird vorausgesetzt, die allerdings auch länger zurückliegen kann.
Darauf aufbauend schließt sich ein verkürztes Studium durch Anerkennung von bis zu
50% der Ausbildungszeit an. Dieser Studiengangstyp kann, aufbauend auf dem in Aus-,
Fort- und Weiterbildung erlernten Wissen und den erworbenen Kompetenzen, vor allem wissenschaftsgestützte Vertiefungen des Erlernten und lediglich Ansätze einer Spezialisierung bieten (z.B. in Beratung oder Qualitätsentwicklung), da für neue berufliche
Funktionen (z.B. Management) die curricularen Möglichkeiten nicht ausreichen. Dieses
Modell bietet im Wesentlichen eine Nachqualifizierung und bleibt bei einer der Erstausbildung entsprechenden klinischen Ausrichtung. Daher zählen wir es trotz z.T. großen
zeitlichen Abstandes von Ausbildung und Studium zu den Kombinationsmodellen.
Vorteil des Anerkennungsmodells ist eine kürzere Gesamtqualifizierungszeit, da in
der Regel nur noch drei Hochschulsemester zu absolvieren sind. Nachteilig ist dabei
die kurze Zeit der Hochschulsozialisation, die nicht nur erhebliches Engagement der
Studierenden verlangt, um das angestrebte Bachelorniveau zu erreichen, sondern häufig auch zu kurz ist, um ein eigenständigeres, auf wissenschaftlichem Denken und erhöhter Reflexionsfähigkeit fußendes berufliches Selbstverständnis als Grundlage einen
professionellen Habitus zu erzeugen.
3.2 Ergänzungsmodell
Begonnen wird mit der traditionellen Ausbildung, deren erfolgreicher Abschluss auch
Voraussetzung für den Abschluss des Studiums ist. Allerdings kann die Entscheidung
für ein Studium bereits während der Ausbildung fallen, und es besteht die Möglichkeit,
einzelne Hochschulmodule in dieser Zeit zu absolvieren. Nach der Ausbildung erfolgt
235
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
eine unterschiedlich lange Hochschulphase (drei bis vier Semester), je nach dem, ob
weitere Ausbildungsanteile anerkannt werden (s.o.) und ob das Studium in Vollzeit
oder berufsbegleitend angeboten wird.
Auch hier ist eine deutliche Verkürzung gegenüber der Summe von regelhafter Ausbildung und Studium bei einer kurzen eigentlichen Hochschulphase festzustellen. Die
Hochschulphase wird durch die Ausbildung begleitende Module gegenüber dem reinen Anerkennungsmodell verstärkt, was für die Hochschulsozialisation von Vorteil ist.
Hier ist jedoch eine erhebliche Abbruchquote nach erfolgreicher Ausbildung festzustellen, da häufig – durch den neuerlichen Fachkräftemangel verstärkt – ein Vollzeitarbeitsplatz mit entsprechender Vergütung lockt und die Hochschulphase des Studiums
trotz bereits absolvierter Module dann doch nicht aufgenommen wird.
3.3 Ersetzungsmodell
Der theoretische Teil der Ausbildung wird vollständig an der Hochschule absolviert,
die nach dem Modellparagraphen des Gesundheits- und Kranken- sowie Altenpflegegesetzes an die Stelle der Berufsfachschulen tritt. Die Ausbildung wird damit an die
Hochschule transferiert und auf Hochschulniveau gelehrt. Die Gesundheitseinrichtungen fungieren in diesem Modell als Kooperationspartner für die praktische Ausbildung. Hinzu kommen weitere theoretische Anteile, um den Anforderungen an einen
Bachelor zu genügen. Die Gesamtlänge von Studium und Ausbildung beträgt z.B. im
Modell der Gesundheitshochschule Bochum vier Jahre oder 8 Semester. Professionstheoretisch ist dies das weitestgehende Modell wissenschaftsgestützter Ausbildung, da
die Gesamtverantwortung für Studium und staatlich anerkannte Ausbildung bei der
Hochschule liegt. Das neben der Bachelorprüfung weiterhin gesondert abzulegende
Examen, für die Berechtigung die Berufsbezeichnung zu führen, ist auch international
üblich. So ist es in Großbritannien und den USA die Voraussetzung dafür, die Berufsbezeichnung „Registered Nurse“ (R.N.) verwenden zu können. Das bereits erwähnte
hessische Modell hat hier seinen Schwachpunkt, da es bislang lediglich zum Hochschulabschluss, nicht jedoch zur Berufsanerkennung führt. Diese muss mit nachgewiesenen zusätzlichen Praxiszeiten, die den gesetzlichen Anforderungen Genüge leisten,
und einer externen Prüfung nachgeholt werden.
Ein Vorteil des Ersetzungsmodells ist die mit anderen studierten Berufen vergleichbare Dauer der Erstqualifizierung sowie die eindeutige Sozialisation an der Hochschule. Allerdings gelten die Vorgaben der Ausbildungsgesetze weiterhin, so dass das erreichbare pflegewissenschaftliche Niveau angesichts der Stofffülle in den natur- und
sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen und der vielen Pflichtstunden in Grundlagenfächern nicht allzu hoch angesetzt werden sollte. Hinzu kommen die immensen
verpflichtend zu absolvierenden praktischen Einsatzzeiten während des Studiums, die
eben nicht nur Praktika mit Anleitung sind, sondern auch Arbeitscharakter mit
Schichtdienst und Mitarbeit aufweisen. Die Studienbedingungen sind also gegenüber
anderen studierten Berufen, wie etwa den Ingenieuren oder der sozialen Arbeit, durch
vermehrte Anforderungen der Praxis gekennzeichnet.
236
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Ein Problem, das mit der in die Hochschule transferierten Ausbildung entsteht, ist
die Konkurrenzsituation zu den Berufsfachschulen. Anders als in der internationalen
Entwicklung, bei der die Fachschulen meist sukzessive – bisweilen auch „par ordre
mufti“ wie in Italien oder Portugal – an die Hochschulen verlagert oder zu Hochschulen aufgewertet wurden und sich die PflegelehrerInnen entsprechend nachqualifizieren mussten, gibt es in Deutschland ein Nebeneinander beider Systeme, geteilt in Pflegeausbildung mit PflegepädagogInnen und Pflegestudium mit PflegewissenschaftlerInnen, die jeweils anderen Ministerien zugeteilt sind. Das kann für die Hochschulen
zu Problemen führen, da sie das Personal mit den pflegefachlichen und pflegepädagogischen Kompetenzen für die Ausbildungen nicht besitzen und zusätzlich zu neuen pflegewissenschaftlichen Professuren eine hohe Zahl an Lehrkräften für besondere Aufgaben (Klinischer Unterricht, Praxisbegleitung, Lehre in Grundlagenfächern, Ausbildungsplanung usw.) einstellen müssten. Dies würde – selbst wenn diese aufwändige
Umstrukturierung gelänge – zu einem personellen Ausbluten und einer Abwertung der
Berufsfachschulen führen. Das hätte auch Auswirkungen auf Fachweiterbildungen wie
beispielsweise Anästhesie- und Intensivpflege, in der Psychiatrie oder Geriatrie, die ohne qualifizierte und erfahrene PflegepädagogInnen nicht durchführbar sind. Der Zeitpunkt, an dem die Hochschulen diese vielfältigen Qualifikationen in den benötigten
Größenordnungen anbieten könnten, ist sicher noch weit oder sehr weit entfernt.
3.4 Verschränkungsmodell
Das Verschränkungsmodell stellt das eigentlich duale Modell dar, denn hier werden
von Anfang an theoretische und praktische Ausbildung sowie Studium gleichberechtigt, parallel, koordiniert und kooperativ gestaltet. Aufgrund der Besonderheiten der
Ausbildungsgesetze bedeutet ein duales Modell in der Pflege eigentlich eine Triangulation, denn drei Partner müssen zusammen kommen: die Hochschule, die Berufsfachschule und die Fachpraxis, die ihre Lernangebote aufeinander abstimmen müssen. Das
unterscheidet duale Studiengänge der Pflege von denen anderer Berufe, die seit langem
praktiziert werden, etwa im betriebswirtschaftlichen oder Ingenieurbereichen. Dort
werden die Berufsschulanteile in der Regel von den Berufsakademien oder Hochschulen übernommen, einziger Kooperationspartner der Hochschule ist die betriebliche
Praxis. Somit gehören sie zu den Ersetzungsmodellen.
Vorteile eines dualen Modells sind die mit anderen studierten Berufen vergleichbare
Länge der Erstausbildung und der Einsatz ausbildungserfahrener PflegepädagogInnen. Die Herausforderungen einer solchen Triangulation liegen vor allem in den curricularen Abstimmungen und Kooperationsvereinbarungen der Partner und in den immensen, teilweise auch divergierenden Anforderungen an die Studierenden. Professionspolitisch ergibt sich die Chance, langfristig Berufsfachschulen mit hoher Qualität
in den tertiären Bereich zu überführen. Dabei entsteht zwangsläufig ein Nachqualifizierungsbedarf der PflegepädagogInnen, wobei dies im Kern eine konsequente Weiterführung der Entwicklung der letzten 20 Jahre wäre, in denen massiv in die akademische
Qualifizierung eben dieser PflegepädagogInnen investiert wurde.
237
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Die Vor- und Nachteile oder, allgemeiner gesagt, die Merkmale der verschiedenen
Modelle der Kombination von Erstausbildung und Studium stellen sich in einer Synopse wie folgt dar, s. Tabelle 1.
Modelle der Kombination von Pflegeerstausbildung und -studium
Modellart
Merkmale
Beginn des
Studiums
Anerkennungsmodell
nach Abschluss der
Ausbildung
Ergänzungsmodell
1. Teil mit, 2. Teil
nach Ausbildung
Ersetzungsmodell
Mit Ausbildungsbeginn
Verschränkungsmodell
Mit Ausbildungsbeginn
Gesamtdauer von
Ausbildung und
Studium
4,5 Jahre
4,5 – 5 Jahre
3,5 - 4 Jahre
4 Jahre
Hochschulzeit
3 - 4 Semester
Erste Module plus 7 - 8 Semester
3 - 4 Semester
Curriculare
Vernetzung und
Abstimmung
Kenntnisse der
Punktuelle VernetBerufsausbildungen zungen, Abstimwerden vorausgemung notwendig
setzt, Abstimmungen nicht notwendig
Status AuszubilStudierende
dende/Studierende
Eigenständiges
Curriculum,
Abstimmung nicht
notwendig
1. Teil AuszubilStudierende
dende und Studierende, 2. Teil Studierende
Kooperationspart- Praxiseinrichtungen Berufsfachschulen Praxiseinner der Hochnur für Praktika
richtungen
schulen
8 Semester
Weitgehende Vernetzungen, Rahmencurriculum
und laufende
Abstimmungen
erforderlich
Studierende und
Auszubildende
Berufsfachschulen
und Praxiseinrichtungen
Tab. 1: Modelle der Kombination von Pflegeerstausbildung und -studium (Moers, Schöniger,
Böggemann 2012)
Diese Modelle finden sich in unterschiedlichen Realisierungsformen, deren Ausprägung im Wesentlichen von den regionalen Bedingungen abhängt. Als Beispiele
seien in Tabelle 2 folgende Modelle synoptisch zusammengefasst:
Synopse dualer Studienprogramme Pflege
Merkmale
Hochschule
Studienprogramm
Bachelorabschluss
Pflegeexamen
Modellbeschreibung
Anerkennungsmodelle
Universität
Witten/Herdecke
Innovative
Pflegepraxis
B.A.
Wird vorNach 2 Jahren ausgesetzt
www.uni-wh.de/gesundheit/pfle
gewissenschaft/bachelorstudien
gang-innovative-pflegepraxis/
Hochschule
Hannover
Pflege
B.A.
Wird vorNach 2 Jahren ausgesetzt
Oelke & Maier 2005
www.fakultaet5.fh-hannover.de/
studium/bachelor-studiengaenge/
pflege-berufsbegleitend/index.html
238
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Merkmale
Hochschule
Studienprogramm
Bachelorabschluss
Pflegeexamen Modellbeschreibung
Hochschule für
angewandte
Wissenschaften
München
Kath. StiftungsFH München
Pflege
seit WS
08/09
B.Sc.
Nach 4,5
Jahren
GKP, oder
GKKP Nach
3 Jahren
Pflege dual
Evang. FH
Nürnberg
Pflege dual
B.Sc.
Nach 4,5
Jahren
B.Sc.
Nach 4 Jahren
Hochschule
Regensburg
Pflege
Ergänzungsmodell
Hochschule
Pflege Seit
Ravensberg Wein- WS 11/12
garten
KFH Freiburg
Pflege
KFH Mainz
Hochschule
Ludwigshafen
a.R.
Universität Halle
Wittenberg
www.hm.edu/fk11
GKP oder AP Lüftl & Kerres 2010a, 2010b
Nach 3 Jahren www.ksfh.de/studiengaenge/bachelo
rstudiengaenge/pflege-dual
GKP oder
www.evhn.de/fb_pm_sg_bpd.html
GKKP Nach
3 Jahren
B.Sc. Nach
GKP Nach 3 www.hs-regensburg.de/fakultaeten/
4,5 Jahren
Jahren
sozialwissenschaften/studiengaenge/
pflege-dual.html
B.A. Nach 4,5 GKP Nach 3 www.hs-weingarten.de/web/bachelor
Jahren
Jahren
studiengang-pflege/startseite
B.A. Nach 4,5 GKP, GKiKP,
Jahren
oder AP Nach
3 Jahren
Gesundheit B.Sc. Nach
GKP, GKiKP,
& Pflege Seit 4,5 Jahren
oder AP Nach
SoSe 08
3 Jahren
Pflege
B.A. Nach 4,5 GKP, GKiKP,
Jahren
oder AP Nach
3 Jahren
Gesundheits- B.Sc. Nach 4 GKP, GKiKP,
und Pflege- Jahren
AP und weitewissenschafre Nach 3
ten
Jahren
Hochschule Fulda Pflege
B.Sc. Nach 3
Jahren
GKP Nach 4
Jahren
FH Frankfurt
Allgemeine
Pflege
B.Sc. Nach 3
Jahren
GKP Nach 4
Jahren
KFH Köln
Pflege
FH Bielefeld
Gesundheits- B.Sc. Nach 4
und KranJahren
kenpflege
www.kh-freiburg.de/studium/
studiengaenge/bachelor
studiengaenge/pflege/
www.kfh-mainz.de/fachbereiche/
FB_GP/ba/gp_ba.htm
web.fh-ludwigshafen.de/fb4/home.
nsf/de/dualerbachelor
www.studienangebot.uni-halle.de/
de/www/detail/?id=53&name=Gesu
ndheits- und Pflegewissenschaften&
www.fh-fulda.de/index.php?id=1792
www.fh-frankfurt.de/de/fachbereiche/fb4/studien
gaenge/allgemeine_pflege_bsc
B.Sc. Nach 4 GKP, GKiKP, www.katho-nrw.de/katho-nrw/
Jahren, Beoder AP Nach studium-lehre/studienangebot/
ginn im 2.
3 Jahren
bachelorstudiengaenge/dualer-stuAusbildungsdiengang-pflege-bsc/
jahr
GKP Nach
3,5 Jahren
www.fh-bielefeld.de/fb5/bereichpflege-und-gesundheit/studium/
studienangebot/dualer-bachelorpflege
239
Beiträge
Merkmale
Hochschule
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Studienprogramm
Bachelorabschluss
Pflegeexamen Modellbeschreibung
Ergänzungsmodell
FH der Diakonie
Bielefeld
Pflegewissen- B.Sc. Nach
schaft
4,5 Jahren
GKP, GKiKP, www.fh-diakonie.de/.cms/Studien
oder AP Nach angebote/Pflegewissenschaft/220
3 Jahren
Hochschule
Hannover
Pflege
B.A. Nach 5
Jahren
GKP, GKiKP, Oelke & Maier 2005
oder AP Nach www.fakultaet5.fh-hannover.de/
3 Jahren
studium/bachelor-studiengaenge/
pflege-berufsbegleitend/index.html
Ostfalia
Wolfsburg
Pflege im
Praxisverbund
B.Sc. Nach 5
Jahren
GKP, GKiKP, ww.ostfalia.de/cms/de/studienberatu
oder AP Nach ng/grundstaendige-studiengaen3 Jahren
ge/kurz_und_knapp_grund/pflege_i
p_fg.html
Fernhochschule
Hamburg
Health Care
Studies
B.Sc. Nach 4 GKP oder
Jahren, Beginn GKKP Nach
im 2. Ausbil- 3 Jahren
dungsjahr
www.hamburger-fh.de/
studienangebot/hcs/index.php
Ev. FH Berlin
(EFB)
Bachelor of
Nursing
B.Sc. Nach 4
Jahren
GKP Nach 4
Jahren
Reinhart 2003, Köber & Ruck 2007
eh-berlin.de/studienangebot/
bachelor-of-nursing/uebersicht.html
Hochschule für
Gesundheit
Bochum
Pflege
B.Sc. Nach 4
Jahren
GKP, GKiKP, www.hs-gesundoder AP Nach heit.de/de/bereich/pflege/
4 Jahren
Ersetzungsmodelle
Verschränkungsmodelle
Hochschule
Osnabrück
Pflege Seit
WS 11/12
B.Sc. Nach 4
Jahren
GKP, GKiKP, www.wiso.hs-osnabrueck.de/pflegeoder AP Nach bsc.html
4 Jahren
Fliedner Fachhochschule
Düsseldorf
Pflege und
Gesundheit
Seit WS
11/12
B.A. Nach 4
Jahren
GKP oder
www.kaiserswerther-diakonie.de/
GKiKP Nach Fliedner_FH/Studiengaenge/Pfle
4 Jahren
ge_Gesundheit/Bachelor_Pflege_
Gesundheit.html
Mathias Hochschule Rheine
Pflege
B.Sc. Nach 4
Jahren
GKP Nach 4
Jahren
Hochschule
Dualer StuNeubrandenburg diengang
Pflegewissenschaft/Pflege
management
B.Sc. (NurGKP oder AP;
sing & Admi- Nach 4,5
nistration)
Jahren
Nach 4,5
Jahren
HAW Hamburg
B.A. Nach 4
Jahren
Pflege
www.mhrheine.de/index.php?option
=com_content&view=article&id=90
&Itemid=84
Teetz & Hergert 2005; Richter et al.
2008 www.hs-nb.de/fachbereichgpm/bei-uns-studieren/dualer-bcpw/
GKP Nach 4 www.haw-hamburg.de/studium/
Jahren
studiengaenge/ws/bachelor/pflegedualer-studiengang.html
Tab. 2: Synopse dualer Studienprogramme Pflege in Deutschland (Moers, Schöniger,
Böggemann 2012)
240
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Modelle Lösungsversuche des Problems
darstellen, die EU-weiten Vorstellungen im Bolognaprozess zum Bachelor als qualifizierter beruflich orientierter Erstausbildung mit den hiesigen gesetzlichen Regulierungen zusammen zu führen. Dass es dabei zu heimwerkerähnlich anmutenden curricularen Säge- und Schraubaktionen kommt, ist nicht den Modellen vorzuwerfen, sondern
der im EU-Vergleich veralteten deutschen Gesetzgebung geschuldet. Alle Modelle erreichen eine deutliche Verkürzung der Gesamtzeit von Ausbildung und Studium. Sie
unterscheiden sich vor allem in der Länge der echten Hochschulzeit, der Einbeziehung
der beruflichen Fachrichtungen sowie den Kooperationskonstruktionen.
Der Vorteil der langen Hochschulzeit geht im Ersetzungsmodell mit dem Verzicht
auf die Expertise der Berufsfachschulen einher. Die Einbindung derselben im Verschränkungsmodell stellt höhere Anforderungen an die Kooperationspartner und
bringt den Studierenden den Doppelstatus auch als Auszubildende, dazu die Berufsfachschule als dritten Lehr- und Lernort, und damit einerseits eine Ausbildungsvergütung und besser betreute Einbindung in die Gesundheitseinrichtungen, andererseits
aber auch erhöhte Anforderungen durch den dritten Lernort. Im Folgenden stellen wir
dar, wie wir in Osnabrück mit diesen Anforderungen umgehen.
4. Osnabrücker Modell eines dualen Pflegestudiums
Die Leitidee des Osnabrücker Konzepts ist die möglichst weitgehende Verschränkung
von Ausbildung und Studium. Dabei soll es bei der vorgesehenen Triangulation von
Hochschule, Berufsfachschulen und Fachpraxis nicht nur gelingen, die zahlreichen
Kooperationspartner erfolgreich zu vernetzen, sondern auch die Studierenden/Auszubildenden vor Überforderung zu schützen und engmaschig zu begleiten, damit sie sich an den verschiedenen Lernorten zurecht finden und integrieren können.
4.1 Curriculare und strukturelle Bedingungen
Die Partner Hochschule und Berufsfachschule bleiben für ihren Part in der Gesamtqualifikation jeweils vollständig verantwortlich: Die Hochschule für das Bachelorstudium, die Berufsfachschule für den fachspezifischen theoretischen und den praktischen Anteil der Ausbildung. Von Seiten der Hochschulen werden alle Module im Bachelorstudium selbst gelehrt. Von Seiten der Berufsfachschulen werden alle
fachspezifischen und fachpraktischen Module nach Maßgabe der Ausbildungsverordnungen unterrichtet. Um einerseits den Akkreditierungs- und andererseits den Ausbildungsgesetzesanforderungen nachzukommen, werden zahlreiche Praxisstunden als
Selbstlernzeit im Rahmen des Studiums konzipiert und umgekehrt der dozentengebundene Teil einer Reihe von Modulen der Hochschule als erteilter Unterricht im Sinne der Ausbildungsgesetze gewertet und anerkannt. Von der Anerkennung theoretischer Inhalte der Berufsfachschulen für die Hochschullehre wird abgesehen, um die
241
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Sozialisation an der Hochschule so weitgehend wie möglich zu gestalten und aufwändige Qualitätsprüfungen des Berufsfachschulunterrichts zu vermeiden.
Auf diese Weise gelingt es, den Gesamtaufwand für zwei Abschlüsse auf 4 Jahre zu
begrenzen, gleichwohl aber das geforderte Niveau für beide Abschlüssen zu erreichen.
Um Freiräume für das Studium zu schaffen und zeitgleiche Abschluss- und Bachelorprüfungen im achten Semester zu ermöglichen, wird die Ausbildung als Teilzeitmodell
auf vier Jahre verlängert angeboten. Curricular wird damit deutlich gemacht, dass die
Abschlüsse zum Bachelor in Pflege und zur Pflegefachkraft andersartig, aber gleichwertig sind. Die zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen für die Auszubildenden/Studierenden sind dabei erheblich. Sollten sich die Belastungen für einzelne Studierende im Verlaufe des Studiums als zu hoch erweisen, bieten die Berufsfachschulen
als Auffangmöglichkeit einen Wechsel in die traditionelle dreijährige Ausbildung an.
Um für möglichst viele Berufsfachschulen der Region ein Kooperationsangebot machen zu können, sind Verbünde geschaffen worden. Das bedeutet, die Hochschule ist
mit zwei verbundleitenden Schulen eine Kooperation eingegangen, die je einen generalistisch ausgelegten Kurs mit 20 Auszubildenden mit Hochschulzugangsberechtigung eingerichtet haben. Die Auszubildenden werden in einer Studiengruppe à 40 Studierende an der Hochschule zusammengefasst. Die verbundleitenden Schulen kooperieren ihrerseits mit weiteren Berufsfachschulen, die Auszubildende/Studierende und
auch Dozenten für den theoretischen Unterricht entsenden sowie die Praxiseinsätze in
ihren Einrichtungen koordinieren und betreuen. Damit bleibt der Koordinationsaufwand für die Hochschule leistbar. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die kooperierenden Berufsfachschulen dieses Angebot gut annehmen und die Kooperation zur Weiterentwicklung nutzen.
Für die Studierenden/Auszubildenden sind in diesem Modell drei Lernorte zu bewältigen: die Hoch- und Berufsfachschule sowie die Fachpraxis. Für die Akteure der
Lernorte ergeben sich hohe Anforderungen der Abstimmung und Konsensbildung.
Um diesen gelegentlich auch divergierenden Anforderungen genügen zu können, wurde gemeinsam mit den Kooperationspartnern ein Rahmencurriculum entwickelt, das
den Erwerb der angestrebten Kompetenzen mit gemeinsamen klinischem Schwerpunkt in Ausbildung und Studium sicherstellen soll. Zur Strukturierung wurde eine
pflegerische Perspektive gewählt, die von störungsfreien Lebensvollzügen in allen Lebensphasen ausgeht („Gesund Sein“) und in einem zweiten Schritt Pflegebedarf bei zunehmenden Einschränkungen der Selbstständigkeit und damit steigendem Pflegeund Hilfebedarf identifiziert und bearbeitet („Profession sein“). Die entsprechenden
Seinszustände des Menschen reichen von „Behindert Sein“ über „Chronisch krank Sein“
bis zu „Abhängig Sein“, letzteres meint intensiven Pflegerbedarf in unterschiedlichen
Settings von der klassischen Intensivstation bis zur Hospizbetreuung. Diese Seinszustände bilden keine Blöcke, die nacheinander abgearbeitet werden, vielmehr werden Lernsituationen entwickelt, die Kompetenzanforderungen (modifiziert nach Benner 1994) in
den unterschiedlichen Seinszuständen abbilden und exemplarisch von einfachen zu
komplexen Situationen, Wissensbeständen und Kompetenzen fortschreiten.
242
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Aus dem Rahmencurriculum wurden die Teilcurricula für Hochschule, Berufsfachschule und Praxis abgeleitet. Die Inhalte von Fachschulunterricht und Hochschullehre
werden zeitlich möglichst koordiniert angeboten. So stehen Fragen der Professionalisierung und der Organisation des Pflegehandelns in beiden Lernorten relativ am Anfang von Ausbildung und Studium, wobei sich nicht die Themen, sondern die Perspektive der Bearbeitung unterscheiden. Während von den PflegepädagogInnen beispielsweise alle naturwissenschaftlichen Grundlagen der Anatomie, Physiologie und
Krankheitslehre unterrichtet werden, werden an der Hochschule neben methodischen
verstärkt handlungstheoretische Kompetenzen vermittelt, wie beispielsweise Fragen zu
Bewältigungsstrategien chronisch Kranker.
Ein eigenständiges Praxiscurriculum besitzt hohe Bedeutung für die notwendige Integration von Ausbildung und Studium, da Hoch- und Berufsfachschule auf die praktischen Erfahrungen der Studierenden/Auszubildenden rekurrieren. Das Praxiscurriculum bietet Strukturierungen für die gezielte Entwicklung und den Aufbau der pflegerischen Handlungskompetenzen in Situationen der Praxis und eine Verzahnung mit den
theoretischen Wissensbeständen der Studierenden. Als Strukturierungs- und Steuerungshilfe dienen sogenannte Kompetenzcluster, die alle relevanten curricularen Elemente (Handlungskompetenzen, Handlungsbereich, Lernfeld, Entwicklungsstufe,
Praxiseinsatzort, Praxisphase) zusammen führen.
Die Berufsfachschulen organisieren und begleiten die praktische Ausbildung, wozu
gemeinsam mit der Hochschule ein Praxishandbuch mit Lernaufgaben entwickelt
wurde. Auch die Hochschule engagiert sich mit eigenen Modulen zum Praxislernen, in
denen Praxisaufgaben gestellt werden und Praxiserfahrungen in die Lehre einbezogen
werden. Damit soll auch den seit langem beklagten Anleitungslücken in der Praxisausbildung entgegengearbeitet werden. Ein wesentlicher Vorteil dieses gemeinsamen, klinisch orientierten Curriculums besteht darin, dass die Studierenden/Auszubildenden
an den drei Lernorten nicht mit unterschiedlichen Zielen, Denklogiken und Handlungsmustern konfrontiert werden, sondern eine Art roten Faden vorfinden, der sich
durch Ausbildung, Studium und Praxiseinsätze zieht.
Im Osnabrücker Modell ist es darüber hinaus gelungen, das Rahmencurriculum für
alle drei Pflegefachberufe (Gesundheits- und Kranken- sowie Kinderkrankenpflege
und Altenpflege) gemeinsam zu konzipieren. An der Hochschule wird der Bachelor of
Science in Pflege einheitlich für alle drei Pflegefachberufe angeboten. In den Kursen
der verbundleitenden Schulen sind ebenfalls im generalistischen Ansatz alle drei Abschlüsse vertreten, wobei einige spezifische Inhalte getrennt unterrichtet werden müssen. Die Auszubildenden/Studierenden müssen sich allerdings bereits zu Beginn für eine berufliche Richtung entscheiden; nur so können die Ausbildungsgesetze eingehalten werden. Sollte der Gesetzgeber endlich seine Pläne für eine generalistische
Pflegeausbildung umsetzen, wäre das Modell darauf vorbereitet. Sollte auch diese Reform noch einen langen und steinigen Weg durch die Ausschussmühlen zu überstehen
haben, bietet dieses Modell eine gute Plattform für den Austausch zwischen den drei
Pflegefachberufen und deren Zusammenhalt.
243
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
4.2 Folgen des Verschränkungsmodells für die Studierenden
Die Studierenden/Auszubildenden werden in diesem Modell mit drei Lernorten konfrontiert, die je eigene Strukturlogiken aufweisen und deren komplexe Anforderungen
zu bewältigen sind. Neben dem Lernen an Hoch- und Berufsfachschule stellt insbesondere der Kompetenzerwerb in der Praxis eine Herausforderung dar. Mit dem in den verbundleitenden Schulen gebildeten „Abiturientenkursen“ haben die Studierenden/Auszubildenden, die ja eine neue „Sorte“ in den Berufsfachschulen und in der Praxis darstellen und auch mit Widerständen rechnen müssen, einen gewissen Schutz
durch ihre „peer group“. Möglich sind Abwehr von Seiten der Praxis und Konkurrenzängste von Seiten der rein fachschulisch Auszubildenden. Daraus können Identitätsprobleme, Inkompetenzgefühle wegen zu hoher Eigen- und Fremderwartungen und
im schlechten Fall aus all dem folgend Abgrenzungsbedürfnisse bei den Studierenden/Auszubildenden entstehen. Daher muss Raum zur Bearbeitung und Reflexion
eventueller Konflikte und von Störgefühlen gegeben werden, wofür neben der Berufsfachschule sich auch die Hochschule mit ihrem diskursiven, reflexionsorientierten Stil
anbietet. Die ersten Erfahrungen lassen jedoch auf eine gedeihliche Zusammenarbeit
hoffen, da der Zeitpunkt der Einführung offenbar günstig ist: In der Praxis werden
qualifizierte Kräfte gebraucht und die Studierenden/Auszubildenden zeigen Respekt
vor den Leistungen der Praktiker und entwickeln auch die Motivation, sich in die Praxis einzubringen. Festzustellen ist gleichwohl eine gewisse Verunsicherung der Studierenden/Auszubildenden, da sie nach den ersten Einsätzen gegenüber den dreijährig
Auszubildenden weniger Praxiseinsatzzeiten und auch weniger Zeit an der auf die Praxis gezielt vorbereitende Berufsfachschule aufzuweisen haben, woraus eine geringere
praktische Handlungskompetenz resultiert. Dies wird sich erwartbar im Laufe von
Studium & Ausbildung – insbesondere im zusätzlichen 4. Jahr – regulieren.
4.3 Strukturelle Stützsysteme im Verschränkungsmodell
Um einer Überforderung beim Bewältigen der drei Lernorte vorzubeugen, ist im Verschränkungsmodell für die Studierenden/Auszubildenden gerade in der praktischen
Ausbildung ein engmaschiges Betreuungsnetz erforderlich. Die Praxis als eigentlicher
Ort beruflichen Pflegehandelns stellt sich für die Sozialisation der Anfänger als sehr
wirkmächtig dar, da die realen Probleme und deren Bewältigung für die Praktiker Vorrang vor den theoretischen Erkenntnissen haben und es das nachvollziehbare Bestreben der Auszubildenden/Studierenden ist, in den Teams ihrer zukünftigen Arbeitgeber
Anerkennung zu finden. Daher gehört es – wie bereits ausgeführt – zum Konzept, an allen Orten mit möglichst gleichen curricularen Vorstellungen zu arbeiten. Zu diesem
Zweck wird verstärkt darauf geachtet, dass die Auszubildenden/Studierenden das ihnen gesetzlich zustehende Maß an Praxisanleitung und -begleitung auch erhalten. Im
Gegenzug bietet die Hochschule in Kooperation mit den Berufsfachschulen zwei Tage
pro Semester Fortbildung für die PraxisanleiterInnen an, die das klinische Qualifikationsprofil und die Anforderungen an höhere Eigenständigkeit der neuen akademischen Pflegefachkräfte vermitteln helfen. Diese Fortbildungen werden stark nachge244
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
fragt. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die Kompetenzerweiterung der PraxisanleiterInnen auch den traditionell dreijährig Auszubildenden zugute kommt. Ebenso
gibt es einen regelmäßigen Austausch zwischen den verantwortlichen HochschuldozentInnen des Studiengangs und den BegleitdozentInnen der Berufsfachschulen. Zur
Koordination aller drei Lehr- und Lernorte ist ein Beirat eingerichtet, der sich mit allen
Fragen der Kooperation beschäftigt. Die enge Verbindung der Berufsfachschulen mit
der Hochschule wird auch dadurch bestärkt, dass DozentInnen der Berufsfachschulen
für einzelne Module Lehraufträge an der Hochschule übernehmen. Damit werden erste Schritte zur institutionellen Verknüpfung bei gleichberechtigter Kooperation eingeleitet (vgl. zur generalistischen Ausbildung Müller 2009; Dielmann 2010a, 2010b;
Reiche 2010; Schmitt et al. 2010).
5. Das Berufsprofil der AbsolventInnen dualer Studiengänge
Allen vorgestellten Kombinationsmodellen ist gemeinsam, dass sie grundsätzlich eine
klinische Orientierung verfolgen, also für patienten-/bewohnernahe Aufgaben qualifizieren sollen. Sie können nur erste Schritte spezialisierter Expertise vermitteln, beispielsweise in den Feldern Beratung und Qualitätsentwicklung. Die Ausbildungsanteile richten sich vollständig und die Studienanteile zumindest überwiegend auf die direkte Praxis der Betreuung von PatientInnen und BewohnerInnen sowie deren
Angehörigen. Salopp formuliert wird damit der „Bachelor am Bett“ möglich, wenn von
den Einrichtungen die dafür notwendigen, für komplexere Aufgaben in der Praxis ausgewiesenen und entsprechend dotierten Stellen geschaffen werden. Das Aufgabenprofil dieser Stellen beinhaltet die Verantwortungsübernahme für den gesamten Pflegeprozess der Patienten/Bewohner in einem dafür geeigneten Bezugspflegesystem wie
dem Primary Nursing. Dazu gehört die Planung und Durchführung der Pflege zusammen mit Assistenzkräften sowie deren Anleitung und Supervision, die umfassende Gestaltung der patienten-/bewohnernahen Versorgungsprozesse einschließlich der dazu
gehörigen Kommunikation und Kooperation mit den an diesen Prozessen beteiligten
Berufsgruppen, sowie Anleitung, Schulung und Beratung von PatientInnen, BewohnerInnen und Angehörigen.
Das ist in vielen Einrichtungen sicher noch Zukunftsmusik, es ist aus zwingenden
Gründen jedoch erforderlich, diesen Weg zu gehen. Die demografische Entwicklung
mit dem Fachkräftemangel im Gefolge hat in der Pflege bereits eingesetzt, zumal die
Attraktivität des Berufes in den letzten Jahren durch Erhöhung des Arbeitsdrucks bei
gleichzeitiger Senkung der Vergütung erheblich gelitten hat. Für den Pflegebereich
kann man von einer Schere zwischen Bedarf und Angebot sprechen, die sich weiter öffnen wird, denn parallel zu kleiner werdenden Kohorten potenziellen Pflegenachwuchses steigen die Zahlen der Pflegebedürftigen merklich. Von Anwerbeaktionen aus dem
Ausland kann nur geringe Wirkung erwartet werden, da die im Hinblick auf Sprachund Fachkompetenz in Frage kommenden Regionen meist mit ähnlichen Problemen
zu kämpfen haben. Auch Reaktivierungsversuchen ausgeschiedener Pflegefachkräfte
sind erfahrungsgemäß enge Grenzen gesetzt. Das bedeutet, dass der Anteil von Assis245
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
tenzkräften in der Pflege zwangsläufig steigen wird. Damit wird eine Gruppe höher
qualifizierter und zu selbstständiger Arbeitsorganisation befähigter Fachkräfte unumgänglich. Sollten – nebenbei bemerkt – die gesundheitspolitischen Pläne zur Übertragung medizinischer Aufgaben auf entsprechend qualifizierte Pflegefachkräfte in größerem Umfang umgesetzt werden, wie es die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses nahelegen, würde das den Fachkräftemangel in der Pflege zunächst
verschärfen. Eine positive Auswirkung auf das Image mit folgendem Bewerberanstieg
wäre aber durchaus denkbar. Erwartbar ist, dass der Bedarf an wissenschaftlich qualifizierten Pflegefachkräften, die für Anleitung und Supervision von Assistenzkräften zur
Verfügung stehen, weit über die Kapazitäten der klinisch orientierten Studiengänge
hinaus gehen, auch wenn diese noch erweitert werden. Das wird den Druck auf die Bildungs- und Gesundheitspolitik erhöhen, umfassende Reformen der Pflegeausbildung
mit bundesweiter Planung und unter Einbeziehung aller bislang erzielten Modellerfahrungen anzugehen.
6. Konsequenzen für die Professionalisierung
der Pflegeberufe und für die Pflegewissenschaft
Was bedeutet die hier prognostizierte Entwicklung für die Professionalisierung der
Pflegeberufe und für die Pflegewissenschaft? Die Antwort fällt scheinbar paradox aus:
Die Professionalisierung der Pflege wird mit einer breiten Etablierung jeder Variante
der hier angesprochenen Kombinationsmodelle von Ausbildung und Studium einen
großen Schritt voran tun, die Entwicklung der Pflegewissenschaft würde erheblich gebremst werden. Mit dem Fokus auf den Beruf würde die Pflege den Normalvorstellungen einer Profession als studierter Beruf mit gesellschaftlichem Auftrag und besonderen Rechten erheblich näher kommen. Die Entwicklung der vertikalen Aufspaltung
des Berufes in Fach- und Assistenzkräfte ist aufgrund der demografischen Entwicklung
ohnehin nicht aufzuhalten und findet sich auch in professionspolitisch weiter fortgeschrittenen Ländern wie den USA, Großbritannien oder auch den Niederlanden.
Mit Blick auf die Pflegewissenschaft sieht es anders aus. Zunächst einmal sind mit
für den wissenschaftlichen Nachwuchs die angesprochenen Kombinationsmodelle einer wissenschaftlichen Sozialisation nicht wirklich zuträglich. Alle Modelle arbeiten in
unterschiedlichem Ausmaß mit verdichtetem Programm, verkürzten Anwesenheitszeiten an der Hochschule und Mehrfachanforderungen von theoretischer und praktischer Ausbildung und Studium. Die für die wissenschaftliche Entwicklung notwendigen Freiräume sind damit nur begrenzt gegeben. Wie auch international zu verzeichnen, verlagern sich die Hoffnungen auf wissenschaftlichen Nachwuchs im eigentlichen
Sinne auf den Promotionsbereich, sogar auf Post-Doc-Programme. Wie viele der primär für den Beruf qualifizierten und sozialisierten studierten Pflegefachkräfte den
auch finanziell immer schwieriger werdenden Weg weiterer akademischer Qualifikation gehen werden, bleibt abzuwarten. Bereits die aktuellen Erfahrungen mit den Masterprogrammen sind nicht unbedingt ermutigend.
246
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Auf Seiten der sich jetzt im System befindlichen PflegewissenschaftlerInnen ist eine
ähnliche Ambivalenz festzustellen. Einerseits haben sie viel Energie in die Durchsetzung der Pflegewissenschaft als Disziplin gesteckt und waren dabei mittels ausgeprägter Forschungs- und Entwicklungstätigkeit durchaus erfolgreich. Andererseits sehen
sie den Bedarf an primär qualifizierenden Studienprogrammen für die Praxis. Nur: je
mehr sie sich dieser Aufgabe stellen – und dies tun sie aller Orten –, desto umfassender
werden sie von den Aufgaben der Studiengangsentwicklung, Akkreditierung, Kooperationen mit der Praxis, aufwändigerer Betreuung der Studierenden usw. absorbiert.
Ihre weiteren Rollen als ForscherInnen, WissenschaftsentwicklerInnen, aktiven Mitgliedern der Scientific Community in Fachgesellschaften, Beiräten usw. und ernstzunehmenden Akteuren im Hochschulmanagement müssen sie notgedrungen dafür zurückstellen. Je erfolgreicher die dualen Studiengänge als nächster Professionalisierungsschritt sein werden, desto weniger Freiräume haben sie für komplexe Forschungsund Entwicklungsaufgaben, in die sie die dual Studierenden/Auszubildenden aufgrund der Dichte deren Lernprogramms auch nur ganz begrenzt einbeziehen können.
Von einer Förderung der Promotionsprogramme in der Pflege, die sowohl den Forschungsaktivitäten als auch der Qualifizierung wissenschaftlichen Nachwuchses dient,
ist bildungs- und gesundheitspolitisch zur Zeit nur in ganz kleinen Modellversuchen
die Rede, die sich, wie eine aktuelle Kooperation der Hochschule Osnabrück mit der
Universität Witten/Herdecke, darüber hinaus programmatisch auf die gleichberechtigte Kooperation von Hochschulen und Universitäten in Promotionsprogrammen
richten und dies nur nebenbei am Thema der Pflege und des Hebammenwesens konkretisieren. Es wird ein langer Weg für alle Beteiligten.
Literatur
Benner, P. (1994): Stufen zur Pflegekompetenz. From Novice to Expert. Huber: Bern
Dielmann, G. (2010a): Pflegeausbildung neu gedacht? – Zum Ausbildungsmodell einer Zukunftswerkstatt der Robert Bosch Stiftung. Pflege und Gesellschaft, 15. Jg., Nr. 3, S. 87-93
Dielmann, G. (2010b): Achtung Baustelle. Ausbildungsreformen in den Gesundheitsberufen. Dr. med
Mabuse, Nr. 187, S. 24-27
Lüftl, K./Kerres, A. (2010a): Einführung des ausbildungsintegrierenden Bachelorstudiengangs Pflege
Dual an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München in Kooperation mit fünf Berufsfachschulen – Erste Ergebnisse aus der Begleitforschung. Pflegewissenschaft PrInterNet, Nr. 11, S. 581588
Lüftl, K./Kerres, A. (2010b): Erste Ergebnisse der Evaluationsstudie zu „Pflege Dual“. Die Schwester /
Der Pfleger, 49. Jg., Nr. 12, S. 1234-1237
Köber, H./Ruck, B. (2007): Bachelor of nursing: Examen bestanden. Heilberufe, Nr.11, S. 63-64
Moers, M./Schaeffer, D./Schnepp, W. (2011): Too busy to think? Essay über die spärliche Theoriebildung der deutschen Pflegewissenschaft. Pflege, 24. Jg., Nr. 6, S. 349-360
Müller, K. (2009): Trends in der Pflegebildung: Ergebnisse deutscher Modellprojekte. Pflegewissenschaft
PrInterNet, Nr. 04, S. 197-200
Oelke, U./Maier, K. (2005): Pflegeausbildung & Pflegestudium kombinieren. Ein neuer dualer Studiengang mit dem Abschluss „Bachelor of Arts (Nursing)“. PrInterNet, Nr. 01, S. 19-24
Reiche, R. (2010): Generalistische Ausbildung. Prüfungen im Modellvorhaben „Pflegeausbildung in Bewegung“. Padua, Nr. 2, S. 45-51
247
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Reinhart, M. (2003): Der berufsintegrierte pflegeerstausbildende Studiengang „Bachelor of Nursing“ an
der Evangelischen Fachhochschule Berlin. Pflege & Gesellschaft, 8. Jg., Nr.3, S. 105-111
Schaeffer, D. (2004): Zur Professionalisierbarkeit von Public Health und Pflege. In: Schaeffer, D./Moers,
M./Rosenbrock, R. (Hrsg.): Public Health und Pflege. Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen. 2. Auflage. Berlin: edition sigma, S. 103 - 126
Schmitt, S/Bomball, J. (2010): Kompetenzerfassung im Rahmen der Evaluation des Berliner Modellversuches „generalistische Pflegeausbildung“. PrInterNet, Nr. 12, S. 681-696
Teetz, I./Hergert, A. (2005): Dualer Studiengang „Gesundheits- und Krankenpflege und Nursing and
Administration. Ein Kooperationsprojekt zwischen dem Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Neubrandenburg und der Fachhochschule Neubrandenburg. PrInterNet, Nr. 1. S. 50-54
Prof. Dr. Martin Moers
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft,
Postfach 1940, 49009 Osnabrück; Moers@wi.hs-osnabrueck.de
(Korrespondenzadresse)
Dipl. Soz. Päd. Ute Schöniger
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft,
Postfach 1940, 49009 Osnabrück
Dipl. Pflege-Päd. Marlies Böggemann
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft,
Postfach 1940, 49009 Osnabrück
Michael Schilder, Susann Florian
Die Entlastung pflegender Angehöriger von
Menschen mit Demenz durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen aus der Sicht
der Nutzer und der Anbieter
The reliefs of caregivers of people with dementia through low-threshold care
groups from the caregivers and the professional’s points of views
Informal caregivers of people affected by dementia experience a lot of care centered
strain with possible implications for fur ther health impairments in the future. But nevertheless they do not make use of low-threshold care groups in time. Hence this research
examines the satisfaction with relief of informal carers using low-threshold care groups,
which are offered by 13 out-patient care ser vices in a district in Hesse. The informal carers (N = 56; response rate: 66%) are examined with a questionnaire and the nursing managers (N = 11) and nurses / social workers (N = 13) involved directly in the low-threshold
care groups are inter viewed with guided inter views. The results show a high need for fur ther respite for the informal carers especially in the daily suppor t und super vision of the
eingereicht 23.09.2011
akzeptiert 22.12.2011 (nach Überarbeitung)
248
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
people with dementia in the home care setting. Repressive and promotional factors for
using these low-threshold care groups are identified as well. They demonstrate the requirement of more specific strategies in the ser vice of the low-threshold care groups. There
have to be more effor ts to reach the target group in combination with the enlargement
and flexibility of time in the low-threshold care groups.
Keywords
relief, dementia caregiver’s, low-threshold care groups
Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz sind vielfältigen pflegebedingten Belastungen mit möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Doch nehmen sie Entlastungsangebote zu wenig oder zu spät in Anspruch. Dieses Forschungsprojekt untersucht daher die Deckung des Entlastungsbedar fs der Zielgruppe durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen, die von 13 ambulanten Pflegediensten in einem
hessischen Landkreis angeboten werden. Mit strukturier ten Fragebögen sind die pflegenden Angehörigen dieser Betreuungsgäste (N = 56; Rücklaufquote: 66%) und die Pflegedienstleitungen (N = 11) sowie auch die in den Betreuungsgruppen selbst aktiven
Fachpersonen (N = 13) mittels qualitativer Leitfadeninter views befragt worden. Die Ergebnisse zeigen einen hohen ungedeckten Entlastungsbedar f der Zielgruppe im Bereich
der Betreuung und der Beaufsichtigung der Menschen mit Demenz im häuslichen Bereich. Zudem wurden hemmende und fördernde Faktoren der Inanspruchnahme des Angebots identifizier t, die offenbaren, dass die Entlastungsangebote zielgruppenspezifischer ausgerichtet sein sollten. Weitere Initiativen sind zur Erreichung der Zielgruppe erforderlich, die von einer zeitlichen Er weiterung und Flexibilisierung des Angebots
flankier t werden sollten.
Schlüsselwörter
Entlastung, Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz, niedrigschwellige Betreuungsgruppe
1. Einleitung und Hintergrund der Studie
In Deutschland leben zurzeit 1,3 Millionen Menschen mit Demenz1. Neuesten Schätzungen zufolge wird sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 verdoppeln (Sütterlin et al.
2011: 6). Knapp zwei Drittel von ihnen wird ambulant versorgt und davon werden
80% zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt (Dietl et al. 2010: 99). Somit ist die Angehörigenpflege die häufigste Versorgungsform in der ambulanten Langzeitversorgung
(Schneekloth 2006: 406). Doch stellen pflegende Angehörige nicht nur eine personelle, sondern auch eine finanzielle Ressource für das deutsche Pflegesystem dar, weil die
Pflege von Menschen mit Demenz teurer als die Diagnostik und pharmakologische Behandlung ist (Hallauer et al. 2000: 78). Diesen Bedarf nach Angehörigenpflege decken
überwiegend Mitglieder des engeren Familienkreises, wie Ehepartnerinnen, Kinder
und Enkelkinder sowie Schwiegerkinder (Heinemann-Knoch et al. 2006: 415; Kofahl
et al. 2005: 490; Schäufele et al. 2005: 120-121; Winkler et al. 2006: 19).
1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit darauf verzichtet, bei der Bezeichnung von Personen
sowohl die weibliche als auch die männliche Form zu verwenden. Selbstverständlich sind immer beide
Geschlechter gemeint.
249
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Doch bringt die häusliche Pflege eines Menschen mit Demenz eine Vielzahl an Anforderungen mit sich, denen die pflegenden Angehörigen meist nicht gewachsen sind.
So stellen sich Belastungen in körperlicher, emotionaler, sozialer, ethisch-moralischer,
zeitlicher und finanzieller Hinsicht ein (Beyrodt et al. 2007: 46; Schacke et al. 1998:
356; Schäufele et al. 2005: 122; Schneekloth et al. 2005: 405; Winkler et al. 2006: 20;
Sütterling et al. 2011: 31). Dies wiederum kann sich nachteilig auf ihre gesundheitliche Situation auswirken: von psychosomatischen Beschwerden, Depressionen, einer
höheren Erkrankungswahrscheinlichkeit an Demenz, bis hin zu einer möglichen höheren Sterbewahrscheinlichkeit. Neben der Veränderung des Pflegestils droht auch der
Zusammenbruch des häuslichen Pflegearrangements (BMFSJ 2002: 201; Gräßel
2001: 2; Jünemann et al. 2004: 233; Gloor 2006: 29; Schäufele et al. 2005: 123; Auer
et al. 2007: 170; Schulz et al. 1999: 2217; Isfort et al. 2008: 816; Sütterling et al. 2011:
31). Zur Aufhebung, Verringerung oder Verhinderung von pflegebedingten Belastungen sind in Deutschland mit Einführung des Pflege-Ergänzungsgesetzes 2002 Entlastungsangebote initiiert worden (§§ 45 ff. SGB XI). Entlastungsangebote beziehen sich
neben u.a. den ambulanten Pflegediensten, der Tages-, Kurzzeit- und Verhinderungspflege auch auf die sogenannten niedrigschwelligen Betreuungsangebote. Dies sind
„Betreuungsangebote, in denen Helfer und Helferinnen unter pflegefachlicher Leitung die Betreuung von Pflegebedürftigen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung in Gruppen oder im häuslichen Bereich übernehmen sowie pflegende Angehörige entlasten und beratend unterstützen“ (45 c Absatz 3 SGB
XI). Getragen werden diese Angebote häufig von ambulanten Pflegediensten (Sauer
1997). Ihre Anzahl hat seit der Installation im Pflegeversicherungsgesetz zugenommen
(Kurz 2010: 29-30).
Entscheidend für Entlastung ist aber, ob diese Art Entlastungsangebot von der Zielgruppe genutzt und als entlastend wahrgenommen wird. Forschungsbefunde weisen
jedoch darauf hin, dass Entlastungsangebote von pflegenden Angehörigen kaum genutzt werden (Kofahl et al. 2005: 491; Winkler et al. 2006: 23).
Anlass der Studie ist ein drei jähriges Modellprojekt (2008-2011) zur Einführung
der Beratungs- und Koordinierungsstelle Demenzservicezentrum (DSZ), das vom
Land Hessen gefördert wird. Die Initiative dazu ging vom Diakonischen Werk Darmstadt-Dieburg und der Interessengemeinschaft Demenzbetreuung (IGDB), einem Zusammenschluss von ambulanten Pflegediensten als Träger der zu untersuchenden niedrigschwelligen Entlastungsangebote, aus. Dieses Forschungsprojekt richtet sich auf
die Untersuchung der Deckung des Entlastungsbedarfs pflegender Angehöriger von
Menschen mit Demenz durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen der IGDB, die
vom DSZ koordiniert werden.
Zur Vorbereitung dieser Studie ist im Rahmen einer Literaturstudie geklärt worden,
was die Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten seitens pflegender Angehöriger
beeinflusst und welche Effekte durch deren Nutzung bei ihnen auszumachen sind.
250
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
2. Literaturstudie zur Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten und zu deren Entlastungseffekten
Im Zeitraum von Februar 2009 bis August 2011 sind Literaturrecherchen zur Inanspruchnahme und zur Effektivität von Entlastungsangeboten für pflegende Angehörige in den Datenbanken Medline (PubMed) und Carelit mit folgenden Schlagwörtern
durchgeführt worden: „dementia, caregiver, respite care, intervention, support intervention, care groups, low-threshold care groups, ambulatory care groups, burden, disstress, effective“ und „Belastung, Entlastung, niedrigschwellige Betreuungsgruppe,
pflegende Angehörige und Demenz“. Vorab wurden diese Schlagwörter in den Thesauri der einzelnen Datenbanken (MeSH-Terms) bezüglich der Indexierung überprüft.
Die Literaturrecherche wurde durch eine Handsuche in den Bibliotheken der Evangelischen Hochschule Darmstadt und der Fachhochschule Frankfurt am Main ergänzt,
in denen die letzten fünf Jahrgänge der folgenden einschlägigen Fachzeitschriften ausgewertet wurden: Pflege, Pflege & Gesellschaft, Pflegezeitschrift, Die Schwester / Der
Pfleger, Altenpflege, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie und Journal of Advanced Nursing. Um Aufschluss über die Deckung des Entlastungsbedarfs durch niedrigschwellige Entlastungsangebote zu erhalten, war zuerst zu erheben, was die Inanspruchnahme beeinflusst, da diese die zentrale Voraussetzung für die Entlastung durch
das Entlastungsangebot darstellt. Zudem stellt sich der Literatur zufolge gerade die
nicht rechtzeitige Inanspruchnahme als das zentrale Problem effektiver Entlastung
heraus. Außerdem sollte mit der Literaturrecherche eruiert werden, welche entlastenden Effekte von den Entlastungsangeboten ausgehen.
Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten
Die geringe Nutzung von Entlastungsangeboten wird einerseits auf Wissensdefizite
der pflegenden Angehörigen und andererseits auf hinderliche strukturelle Rahmenbedingungen zurückgeführt (Kofahl et al. 2005: 492; Winkler et al. 2006: 23). Auf Seiten
der pflegenden Angehörigen können Vorurteile gegenüber den Leistungserbringern,
wie fehlende fachliche Kompetenz und geringe Empathie, sowie die Angst vor Stigmatisierung aufgrund der Inanspruchnahme, von einer Nutzung abhalten (Beyrodt et al.
2007: 51; Brodaty et al. 2005: 544). Werden die Angehörigen hingegen über die Entlastungsangebote von einer ihnen bekannten und kundigen Person informiert und beraten, fördert dies deren Inanspruchnahme (Brodaty et al. 2005: 542; Laag et al. 2010:
184). Der direkte Kontakt zu den Angehörigen ist die beste Möglichkeit, um Hemmschwellen der Inanspruchnahme zu minimieren sowie Bedarfe und Ressourcen frühzeitig zu erkennen (Brodaty et al. 2005: 542; Dörpinghaus et al. 2006: 28; Schneekloth, 2006: 411). Auf der Seite der Entlastungsangebote kann deren Zugänglichkeit
durch weite Wege, fehlende Beförderungsmöglichkeiten, lange Wartezeiten und unflexible Öffnungszeiten erschwert sein (Breidert 2001: 65; Beyrodt et al. 2007: 50; Gräßel
1998: 55). Noch dazu können unflexible Zugangsweisen und unzureichende Öffentlichkeitsarbeit das Auffinden von Entlastungsangeboten erschweren und bei der Zielgruppe das Gefühl hinterlassen, zu spät über die Entlastungsangebote informiert wor251
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
den zu sein (Meyer et al. 2008: 45; Weimer 2008: 30; Kofahl et al. 2005: 492). Neben
einer bedürfnisorientierten Verfügbarkeit von Entlastungsangeboten (Weimer 2008:
31) wird vor allem in internationalen Studien darauf hingewiesen, dass Fahrdienste die
Nutzung der Angebote erleichtern können (Biegel et al. 1993: 433; Kosloski et al.
1993: 411; Toseland et al. 2002: 1261). Darüber hinaus wurde in einer Studie festgestellt, dass die Qualität der Pflege und somit die Kompetenzen der Betreuer das Inanspruchnahmeverhalten positiv beeinflussen können (Kosloski et al. 1993: 411). Doch
welche entlastenden Effekte durch die in Anspruch genommenen Entlastungangebote
sind für die pflegenden Angehörigen in der Literatur nachweisbar?
Entlastung durch niedrigschwellige Entlastungsangebote
Der Studienlage zufolge fördern Entlastungsangebote die Gesundheit und die Selbstpflege der Angehörigen, indem sie deren Allgemeinzustand verbessern, zu einer höheren Lebensqualität und einem subjektiv höheren Wohlbefinden führen können (Brodaty et al. 1989: 1387; Knauf 2004: 127; Hinchliffe et al. 1995: 845; Vetter et al. 1997:
182). Auch eine psychische Entlastung kann sich durch die Initiierung sozialer Kontakte einstellen (Dörpinghaus et al. 2006: 27; Gloor 2006: 31; Kern 2007: 147;
Schänzle-Geiger 2006: 33). Weitere mögliche Effekte liegen in Form einer verminderten Mortalitätsrate und einer verbesserten Selbstpflegekompetenz der Angehörigen
vor (Kuzuya et al. 2006: 1368; Laag et al. 2010: 184).
Neben den gesundheitsfördernden Effekten kann auch die Angehörigenpflege positiv
beeinflusst werden, wie etwa in Form eines optimierten Kommunikationsverhaltens, der
Abnahme intrapersonaler Rollenbelastungen und der Steigerung der Motivation zur Angehörigenpflege (Haupt et al. 2000: 503; Laag et al. 2010: 184; Jost et al. 2006: 147).
Auch der längere Verbleib des Menschen mit Demenz in seiner häuslichen Umgebung ist
als positiver Effekt hervorzuheben (Eloniemi-Sulkava et al. 2004: 39; Vetter et al. 1997:
182). Am effektivsten ist die Wirkung von Entlastungsangeboten, wenn sie sowohl auf
der Verhaltens- als auch auf der Verhältnisebene des Familiensystems ansetzen, was allerdings multimodale Angebote erfordert (Pinquart et al. 2002: 94-95; Mantovan et al.
2010: 224). Im Rahmen der Literaturrecherche konnten zwar Studien zur Deckung des
Entlastungsbedarfs durch Entlastungsangebote allgemeiner Art und deren Verbesserungsmöglichkeiten in Bezug auf die Inanspruchnahme identifiziert werden. Jedoch
sind die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf die niedrigschwelligen Betreuungsgruppen
in Deutschland übertragbar, da die Untersuchungen in anderen Kulturkreisen und Gesundheitssystemen stattfanden oder sich auf andere Entlastungsangebote bezogen (Pinquart et al. 2002: 94). In Deutschland haben neuere Studien die Entlastung durch verschiedene Entlastungsangebote (Laag et al. 2010: 182; Isfort et al. 2011: 133) und auch
durch Betreuungsgruppen untersucht (Gräßel et al. 2009: 394). Die Einschätzung eines
spezifischen Betreuungsangebots durch deren Nutzerinnen und Anbieter ist bislang jedoch nicht erforscht worden. Diese Wissenslücke im Hinblick auf die Deckung des Entlastungsbedarfs durch ein spezifisches niedrigschwelliges Betreuungsangebot aus der
Sicht der Nutzerinnen und der Anbieter soll in dieser Studie geschlossen werden.
252
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
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3. Der Entlastungsbedarf im Kontext Orems SelbstpflegedefizitTheorie und Beckers Anforderungs- und Ressourcenmodell
Der Begriff der Entlastung wird unter Bezugnahme auf Orems SelbstpflegedefizitTheorie (SPDT) und Beckers Anforderungs-Ressourcen-Modell geklärt. Im Rahmen
der SPDT ist die Angehörigenpflege als Dependenzpflege konzeptualisiert, die das
Handeln der Dependenzpflegehandelnden zur Erfüllung der Selbstpflegeerfordernisse
des von ihm abhängigen Menschen umfasst (Orem 1997: 9; Dennis 2001: 30, 112).
Die Aufrechterhaltung dieses Dependenzpflegesystems erfordert Selbstpflege der pflegenden Angehörigen. Dependenz- und Selbstpflege bedürfen wiederum Kompetenzen, die die Einschätzungs-, Beurteilungs- und Ausführungsfähigkeit umfassen.
Kommt es zu einer Einschränkung auf diesen Kompetenzebenen, kann sich bei Nichterfüllung der Selbstpflegeerfordernisse ein Selbst- und/ oder ein Dependenzpflegedefizit ergeben (Dennis 2001: 115, 117). Da das Dependenzpflegesystem auch durch umgebungsbezogene Faktoren beeinflusst wird, wird weiter Beckers Anforderungs- und
Ressourcen-Modell einbezogen, welches auf einer Gleichgewichtsvorstellung zwischen innerhalb (intern) und außerhalb (extern) der Dependenzpflege-Handelnden
liegenden Anforderungen und Ressourcen basiert (Becker 2006: 111; Höhmann et al.
2010: 112). In dieser Studie wird unter Entlastung der Aufbau interner Ressourcen der
pflegenden Angehörigen, wie z.B. Wissen über die Krankheit und deren Verlauf, und
externer Ressourcen, wie die Mobilisierung des sozialen Netzwerkes, sowie der Abbau
interner Anforderungen, wie eine zu geringe Selbstaufmerksamkeit, und externer Anforderungen, wie das Fehlen adäquater Entlastungsangebote, verstanden. Der Entlastungsbedarf pflegender Angehörigen von Menschen mit Demenz begründet sich aus dem Ungleichgewicht der die Ressourcen übersteigenden Anforderungen, die sowohl den Verhältnissen und als auch dem Verhalten geschuldet sein können (Becker 2006: 111).
4. Methodik der Untersuchung
Das Ziel dieser Studie ist herauszufinden, inwieweit der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz durch die Inanspruchnahme von Betreuungsgruppen der IGDB gedeckt wird. Um Aufschluss über die Perspektiven der Nutzer
wie auch der Anbieter zu erhalten, sind beide Personengruppen einbezogen worden.
Zur Erforschung der Sichtweise der das Angebot nutzenden pflegenden Angehörigen
dienen die folgenden Forschungsfragen:
- Worin besteht der Entlastungsbedarf pflegender Angehöriger von Menschen mit
Demenz, die eine niedrigschwellige Betreuungsgruppe der IGDB nutzen?
- Was hindert und was fördert aus der Sicht der Nutzer deren Inanspruchnahme?
- Inwiefern wird der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen durch die niedrigschwellige Betreuungsgruppe der IGDB gedeckt?
Zur Beantwortung der ersten Frage nach dem Entlastungsbedarf ist ein strukturierter
Fragebogen mit offenen Ergänzungsfragen in Anlehnung an das BIZA-D, die HPS253
Beiträge
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Skala und das Trajekt-Modell entwickelt worden (Gräßel 2002; Zank et al. 2006: 297,
Corbin et al. 2010). Der Fragebogen eignet sich zur Bewältigung der besonderen Zugangsproblematik zu einer vulnerablen Probandengruppe, da er von aus der Betreuungsgruppe vertrauten Fachpersonen an sie verteilt, anonym ausgefüllt und in einem
verschlossenen Umschlag wieder an die Fachpersonen zurückgegeben werden konnte.
Auch in zeitlicher Hinsicht erschien ein Fragebogen niedrigschwelliger als ein Interview, da die Probanden selbst über dessen Beantwortung entscheiden konnten. In einem Anschreiben wurden die freiwillige Teilnahme, die Möglichkeit des Widerrufs sowie die Einhaltung von Anonymität zugesichert. In dieser Hinsicht sind etwaige mit
der Teilnahme an der Studie verbundene Schäden für die Teilnehmer vermieden bzw.
vermindert worden. Auch aus methodischen Gründen bot sich ein Fragebogen an, um
möglichst viele Nutzerinnen der Entlastungsangebote einbeziehen zu können. Nicht
zuletzt ist im Rahmen der Literaturstudie eine tragfähige Wissensbasis zur Strukturierung des Fragebogens identifiziert worden. Kriterien für die Auswahl des BIZA-D und
der HPS-Skala waren deren nachgewiesene Eignung zur Erfassung der Belastungssituation pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz (Zank et al. 2006). Aus diesen
Skalen sind Items zur Erfassung des Entlastungsbedarfs im Hinblick auf die Kategorien
Haushaltsführung, Pflege und Betreuung übernommen worden. Diese sind um weitere
selbst konstruierte Items in der Kategorie Entlastung für sich selbst aus dem Traject-Modell ergänzt worden, um auch die auf die eigene Person bezogenen Bewältigungsarbeiten
mit berücksichtigen zu können. Die Items innerhalb dieser vier Kategorien sind jeweils
um eine offene Frage Sonstiges ergänzt worden, um den Probanden über die Antwortvorgaben hinausgehende Auskünfte zu ermöglichen. Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage nach den die Inanspruchnahme beeinflussenden Faktoren wurden Items literaturbasiert formuliert. Die Probanden konnten ihre Zustimmung oder Ablehnung zu
diesen Items auf einer dichotomisierten Skala mit den Ausprägungen ja / nein angeben.
Auch hier konnten die Probanden mittels einer offenen Frage weitere Angaben zu ihrem
Inanspruchnahmeverhalten machen. Die dritte Forschungsfrage im Hinblick auf die
Deckung des Entlastungsbedarfs durch die niedrigschwellige Betreuungsgruppe wurde
auf der Basis selbst konstruierter Items mittels einer Likert-Skala mit den Ausprägungen
vollständig, teilweise, wenig und nicht operationalisiert. Daneben wurden auch der ambulante Pflegedienst und die häusliche Einzelbetreuung einbezogen, weil Entlastungsangebote mitunter auch in Kombination genutzt werden. In einer offenen Anschlussfrage konnte auch hier die Begründung für die Einschätzung frei ergänzt werden. Der Fragebogen enthielt schließlich soziodemografische Fragen über die Probanden.
Der Zugang zu den Probanden wurde über die Pflegedienstleitungen und die Fachpersonen in den Betreuungsgruppen der 13 ambulanten Pflegedienste der IGDB hergestellt. Die Datenerhebung erfolgte nach einem Pretest im Juli 2009 von Mitte August
2009 - Januar 2010. Mit 56 von 84 versendeten Fragebögen wurde eine Rücklaufquote
von 66% erzielt. Die Datenauswertung erfolgte im Rahmen einer deskriptiven Statistik mittels EXCEL und SPSS. Die offenen Anschlussfragen wurden mittels der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet. Die aus den
254
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Antworten der Befragten induktiv gebildeten Kategorien wurden schließlich im Anschluss ebenfalls deskriptiv statistisch ausgewertet.
Als Anbieter des Entlastungsangebots sind 11 Pflegedienstleitungen (PDLs)2 der
ambulanten Pflegedienste der IGDB, 10 Pflegefachkräfte und 3 Sozialarbeiterinnen
als Ansprechpersonen in den Betreuungsgruppen (APBs) von April-August 2009
mittels qualitativer Leitfadeninterviews zu den folgenden Forschungsfragen befragt
worden (Flick 2006; Gläser et al. 2006):
- Welche Faktoren beeinflussen aus der Sicht der Anbieter die Inanspruchnahme der
Betreuungsgruppe der IGDB durch die pflegenden Angehörigen?
- Wie schätzen die Fachpersonen die Deckung des Entlastungsbedarfs pflegender
Angehöriger durch die Inanspruchnahme der Betreuungsgruppe der IGDB ein
(vgl. Abbildung 1)?
Qualitative Interviews boten sich aufgrund der Wissenslücke zur Fachkraftperspektive
zum Zeitpunkt der Erhebung an. Zudem interessierte die subjektive Sichtweise dieser
Fachkräfte der IGDB. Zur Erfassung der spezifischen Situation im untersuchten Landkreis sollte deren Einschätzung möglichst umfänglich exploriert werden. Die Interviewleitfäden basieren auf den Literaturbefunden zum Entlastungsbedarf und den
Einflussfaktoren der Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten. Die konstruierten
Themenkomplexe sondieren die eigene Erfahrung mit der Zielgruppe, die Einschätzung des Entlastungsbedarfs der Zielgruppe und schließlich den Beitrag der Entlastungsangebote zur Deckung des Entlastungsangebots. Bei den PDLs wurden die Organisation und Rahmenbedingungen und bei den APBs die Arbeit in den Entlastungsangeboten und deren Effekte auf die Deckung des Entlastungsbedarfs angesprochen. Die
Themenkomplexe enthielten Stichworte, die im Interview als offene Fragen ausformuliert wurden (Gläser et al. 2006).
Die Interviews sind in den ambulanten Pflegediensten und in den Betreuungsgruppen durchgeführt worden, nachdem die Teilnehmer informiert eingewilligt haben und
ihnen Anonymität zugesichert wurde. Sie dauerten zwischen 1-2 Stunden. Die Auswertung erfolgte nach verbatimer Transkription der mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichneten Interviews in Form einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. Die Themenkomplexe und die Stichworte der Interviewleitfäden fungierten
auf der Basis des dargestellten theoretischen Rahmens als erste Kategorien, die die Datenauswertung strukturiert haben. Die Kategorien sind mit dem Interviewtext empirisch aufgefüllt worden. Sind weitergehende Inhalte angesprochen worden, erfolgte eine induktive Kategorienbildung mit anschließender Subsumption von Interviewmaterial (Mayring 2010; Kelle et al. 2010).
2 Eine PDL schied zur Zeit der Anfrage aus dem ambulanten Pflegedienst aus und eine weitere PDL war nicht zu
einem Interview bereit.
255
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
5.
Ergebnisse
5.1
Ergebnisse der Angehörigenbefragung
5.1.1 Stichprobenbeschreibung der Angehörigen-Befragung
Zweidrittel der befragten pflegenden Angehörigen sind 50 Jahre und älter. 36% von ihnen sind zwischen 50-64 Jahre alt und 54% sind in einem erwerbsfähigen Alter. Ein
nicht unerheblicher Teil der Pflegenden (30%) ist zwischen 65-79 Jahre alt und befindet sich selbst in einem höheren Lebensalter. Demgegenüber ist das Alter der Betreuungsgäste erwartungsgemäß höher: 53% sind 80-94 Jahre und 43% 65-79 Jahre alt.
Die Angehörigenpflege ist in diesem Sample ein überwiegend weibliches Phänomen:
71% der pflegenden Angehörigen sind überwiegend weiblichen Geschlechts und mit
66% dominieren ebenso weibliche Betreuungsgäste mit Demenz. Zum Verwandtschaftsverhältnis ist festzustellen, dass die pflegenden Angehörigen zu 39% Töchter,
37% (Ehe)Partner/in, 11% Söhne und 4% Schwiegertöchter sind. Von ihnen sind
84% verheiratet, 9% ledig, 3% mit Partner lebend und 2% verwitwet. In beruflicher
Hinsicht machen die Rentner mit 46% die größte Gruppe aus. Insgesamt gehen aber
auch 34% der Befragten einem Beruf nach. Die soziodemografischen Angaben weisen
insbesondere bei diesen Probanden auf Prädiktoren einer möglichen Doppelbelastung
in der Vereinbarkeit der Rollen als pflegende Angehörige und beruflich Beschäftigte
hin. 52% der Befragten übernehmen die Pflege alleine. Demgegenüber erhalten 39%
der Befragten Unterstützung durch Verwandte. Außerhalb der Familie erhalten 9% der
Befragten Hilfe durch Freunde und lediglich 5% durch Nachbarn. Somit ist mit Blick
auf das Sample festzustellen, dass es sich überwiegend um eine weibliche Hauptpflegeperson handelt und am ehesten Verwandte zur Ergänzung mobilisiert werden können.
Im Hinblick auf die Dauer der Angehörigenpflege zeigt sich, dass in 3/4 der Fälle die
Pflegesituation bereits seit mehr als 2 Jahren besteht, was auf eine mögliche Überlastung der Zielgruppe aufgrund der Pflegedauer verweist. 45% der Befragten beurteilten
ihren Gesundheitszustand mit eher gut, 27% mit eher schlecht, 14% mit schlecht,
11% mit sehr gut und 3% gaben keine Antwort. Auch wenn die eher positiven Beurteilungen des Gesundheitszustandes mit 56% überwiegen, darf die Gruppe von 41% mit
eher negativen Bewertungen nicht unterschätzt werden. Insgesamt handelt es sich teilweise um eine hoch belastete Gruppe mit entsprechendem Entlastungsbedarf.
In Bezug auf die Pflegebedürftigkeit der Menschen mit Demenz ist zu konstatieren,
dass 41% von ihnen die Pflegestufe 1, 34% die Pflegestufe 2, 12% noch keine Pflegestufe, 9% Pflegestufe 3 und jeweils 2% Pflegestufe 0 und keine Antwort aufweisen. Als
medizinische Diagnose ihrer erkrankten Angehörigen gaben 46% Alzheimer Demenz,
11% Vaskuläre Demenz, 23% enthielten sich einer Antwort und 20% Mischform an.
Somit liegen mit den Befunden der Dauer der Pflegesituation und der Höhe der Pflegebedürftigkeit Vorzeichen für einen hohen Entlastungsbedarf der befragten pflegenden
Angehörigen vor.
256
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5.1.2 Der Entlastungsbedar f der pflegenden Angehörigen
Insgesamt bildet sich der Entlastungsbedarf der befragten pflegenden Angehörigen
(N = 56) am stärksten in der Kategorie „Betreuung und Beaufsichtigung“, dann in den
„Bewältigungsarbeiten“, in der „Pflege“ und schließlich in der „Haushaltsführung“ ab
(vgl. Tabelle 1 bis 4). In der Kategorie Betreuung und Beaufsichtigung sind die Werte in
den Items ‚persönlich verfügbar / anwesend sein’ (86 % sehr hoch/ hoch), ‚Betreuung
am Tag’ (81 % sehr hoch/ hoch), ‚Betreuung während Urlaub’ (75 % sehr hoch/ hoch)
und ‚Sicherheit im Haushalt’ (73 % sehr hoch/ hoch) am stärksten ausgeprägt. Der hohe Entlastungsbedarf in der Betreuung am Tag ist vermutlich darauf zurückzuführen,
dass die gegenwärtige zeitliche Entlastung über die Nutzung des Betreuungsangebots
als zu gering von den Probanden empfunden wird. In den Bewältigungsarbeiten (Entlastung für die eigene Person) findet sich der größte Entlastungsbedarf bei ‚Umgang
mit Demenz’ (77% sehr hoch/ hoch), Vereinbarkeit sozialer Kontakte’ (73% sehr
hoch/ hoch), ‚Entwicklung Lebensperspektive’ (71% sehr hoch/ hoch) und ‚Umgang
mit verwirrten Verhaltensweisen’ (70% sehr hoch/ hoch). In der Kategorie Pflege
zeichnet sich der höchste Entlastungsbedarf in den Items ‚Organisation der Pflege’ (68
% sehr hoch/ hoch), Handhabung medizinischer Maßnahmen’ (62 % sehr hoch/ hoch)
Einkaufen Zubereitung Mahlzeiten Pflege Wohnbereich Wäsche waschen
sehr hoch
hoch
gering
nicht vorhanden
keine Antwort
28,6%
19,6%
37,5%
12,5%
1,8%
26,8%
28,6%
28,6%
14,3%
1,8%
28,6%
32,1%
25,0%
12,5%
1,8%
19,6%
39,3%
26,8%
12,5%
1,8%
Tab. 1: Entlastungsbedarf im Haushalt (N = 56)
Nahrungs- Körper- Bewegen,
Kleiden Intimaufnahme pflege Mobilisieren
pflege
Organisation medizinische
Maßnahmen
sehr hoch
17,9%
41,1%
17,9%
26,8%
35,7% 48,2%
37,5%
hoch
17,9%
21,4%
23,2%
25,0%
12,5% 19,6%
25,0%
gering
33,9%
26,8%
26,8%
28,6%
17,9% 19,6%
17,9%
nicht vorhanden
30,4%
10,7%
32,1%
19,6%
32,1% 12,5%
19,6%
keine Antwort
0%
0%
0%
0%
1,8%
0%
0%
Tab. 2: Entlastungsbedarf in der Pflege (N = 56)
am Tag in der Nacht während des Urlaubs verfügbar sein Sicherheit Haushalt
sehr hoch
35,7% 10,7%
51,8%
50,0%
26,8%
hoch
gering
44,6% 23,2%
16,1% 41,1%
23,2%
10,7%
35,7%
12,5%
46,4%
23,2%
nicht vorhanden 0%
19,6%
5,4%
0%
1,8%
keine Antwort
3,6%
8,9%
1,8%
1,8%
3,6%
Tab. 3: Entlastungsbedarf in der Betreuung (N = 56)
257
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Entwick- Krank- Umgang Verhüten Verhüten Vereinlung Le- heitsVerwirrt- Weglaufen Stürze
barkeit
bensper- umgang heit
Familie
spektive
Verein- Vereinbarkeit
barkeit
SozialBeruf
kontakte
sehr hoch
33,9%
35,7%
25,0%
14,3%
17,9%
33,9%
32,1%
25,0%
hoch
37,5%
41,1%
44,6%
23,2%
26,8%
32,1%
41,1%
14,3%
gering
14,3%
nicht vorhanden 10,7%
keine Antwort
3,6%
12,5%
7,1%
3,6%
23,2%
3,6%
3,6%
28,6%
26,8%
7,1%
35,7%
10,7%
8,9%
21,4%
8,9%
3,6%
16,1%
7,1%
3,6%
5,4%
37,5%
16,1%
Tab. 4: Entlastungsbedarf für die eigene Person (N = 56)
und ‚Körperpflege’ (62 % sehr hoch/ hoch) ab. In der Kategorie Haushaltsführung
schließlich ist der höchste Entlastungsbedarf im Item ‚Pflege des Wohnbereichs, Putzen und Aufräumen’ mit 61 % (sehr hoch/ hoch) festzustellen.
5.1.3 Inanspruchnahme und Deckung des Entlastungsbedar fs
Als Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten werden von
den Befragten (N= 56) mit jeweils 37,5 % am häufigsten die Unbekanntheit und die
Unklarheit über deren Nutzen angegeben (Tabelle 5). Die Unbekanntheit korrespondiert weiterhin mit dem Befund aus der offen gestellten Frage nach den fördernden
Umständen der Inanspruchnahme. Die meisten der Befragten (N = 34) gaben hier mit
Unbekanntheit Vermeiden
Konfrontation
Krankheitsbild
Unklarheit
Unterstützung
Sorge um
Angehörigen
Kosten
ja
37,5%
0,0%
37,5%
19,6%
30,4%
nein
41,1%
75,0%
37,5%
55,4%
44,6%
keine Antwort 21,4%
25,0%
25,0%
25,0%
25,0%
fehlend
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
keine Beförde- Keine Hilfe
Familiäre
rungsmöglich- durch Außenste- Entlastung
keit
hende
Außerfamiliäre
Entlastung
Selbst zurechtkommen
ja
26,8%
7,1%
21,4%
21,4%
32,1%
nein
50,0%
64,3%
44,6%
53,6%
37,5%
keine Antwort 23,2%
26,8%
32,1%
23,2%
28,6%
fehlend
0,0%
1,8%
1,8%
1,8%
1,8%
Nicht eigene
Bedürfnisse
Nicht Bedürfkein direkter Annisse Erkrankter sprechpartner
ja
5,4%
25,0%
23,2%
nein
55,4%
42,9%
46,4%
keine Antwort 39,3%
32,1%
30,4%
fehlend
0,0%
0,0%
0,0%
Tab. 5: Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten (N = 56)
258
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Abb. 1: Fördernde Umstände der Inanspruchnahme (n = 34)
17,6 % an, bei Vorliegen von mehr Informationen ein oder mehrere Entlastungsangebote in Anspruch nehmen zu wollen. Ebenso als häufigster Grund der Nicht-Inanspruchnahme ist von den Befragten (N = 56) auch die Unklarheit darüber mitgeteilt
worden, in welcher Hinsicht das Entlastungsangebot unterstützend für die Befragten
sein könnte (37,5 %). Auf die offen gestellte Frage, unter welchen Umständen die Befragten eines oder mehrere der Entlastungsangebote in Anspruch nehmen würden,
antworteten 17 % (n= 34) bei Vorliegen von mehr Informationen über das Entlastungsangebot, 15 % führen dies auf den zunehmenden Krankheitsfortschritt des Erkrankten zurück, der die Inanspruchnahme nicht erlaubt, die Ausdehnung des zeitlichen Angebots des Entlastungsangebots wird mit 15% und die Reduktion des zur
Nutzung nötigen Organisationsaufwandes mit 14% angegeben (s. Abbildung 1).
Fehlende Angebote sind nach Ansicht von 14 Befragten die Einzelbetreuung
(14,3%), die Beratung (14,3%), eine kurzfristige Entlastung (14,3%) und der Gesprächskreis (14,3%).
Der Entlastungsbedarf der Befragten (N = 56) wird am ehesten vollständig und teilweise über die Betreuungsgruppe (51,4 %), dann den ambulanten Pflegedienst (25 %)
und schließlich die häusliche Einzelbetreuung (19,7%) gedeckt. Im Vergleich der
unterschiedlichen Entlastungsangebote wird die Bedarfsdeckung in der Betreuungsgruppe somit am höchsten eingeschätzt (s. Tabelle 6).
Als Gründe für den ungedeckten Entlastungsbedarf gaben 28 Probanden in der offenen Frage das Zeitdefizit des Entlastungsangebots (46%), inhaltliche (14%) und Finanzierungsdefizite (14%), gefolgt von der Ablehnung des Angebots durch die Menschen mit Demenz selbst (11%) und dem Betreuungsdefizit (11%) an. Am wenigsten
wird die Inflexibilität des Entlastungsangebots (4%) angeführt, s. Abbildung 2.
259
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Betreuungsgruppe Einzelbetreuung Ambulanter Pflegedienst
vollständig
7,1%
5,4%
8,9%
teilweise
44,6%
14,3%
16,1%
wenig
23,2%
5,4%
7,1%
nicht
0,0%
0,0%
3,6%
trifft nicht zu 16,1%
66,1%
51,8%
keine Antwort 8,9%
8,9%
12,5%
Tab. 6: Deckung des Entlastungsbedarfs durch Entlastungsangebot
Abb. 2: Gründe ungedeckter Entlastungsbedarf
(n= 28)
Nach der Darstellung der Ergebnisse der Angehörigen-Befragung wird nun im Folgenden auf die der Fachkraft-Befragung eingegangen.
5.2 Ergebnisse der Fachkraft-Befragung
Den Erfahrungen der befragten Fachpersonen zufolge wird der Weg von der Belastung
zur Entlastung pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz über die Inanspruchnahme der niedrigschwelligen Betreuungsgruppen der IGDB von Faktoren beeinflusst, die sich sowohl auf die Nutzerinnen (interne Ressourcen oder Anforderungen der Dependenzpflegehandelnden) als auch auf die Strukturen der Anbieter sowie
auf Strategien innerhalb des Entlastungsangebots beziehen (externe Ressourcen und
Anforderungen). Diese Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme sind in Abbildung
3 den ersten beiden Kästchen zu entnehmen. Die von den Fachpersonen benannten
Entlastungseffekte durch die Inanspruchnahme der Betreuungsgruppe finden sich im
rechten Kasten.
260
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Abb. 3: Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme und Entlastungseffekte
Externe Anforderungen als hemmende Einflussfaktoren auf die
Inanspruchnahme
Als wesentliche Voraussetzung der Inanspruchnahme wird die Krankheitsakzeptanz
pflegender Angehöriger herausgestellt. Sie umfasst als interne Ressource das Erkennen,
Verstehen und Wahrhaben der Veränderungen der Menschen mit Demenz als Krankheitssymptome, was letztlich das Verständnis für die Krankheit und ihre Funktionsweise bedeutet. Doch weil diese häufig fehlt, besteht ein Entlastungsbedarf im Abbau
der internen Anforderung der Krankheitsinakzeptanz.
„Du kennst deine Mutter oder deinen Vater (…) ein Leben lang, der immer alles alleine
gemacht hat und (…) alles für einen getan hat und jetzt auf einmal ändert er sich. Ja, dann
fängt er an seine Fäkalien in den Schrank zu verstecken oder einen zu beschimpfen (…)
Und das kannst du ja von heute auf Morgen gar nicht lernen, dass der das jetzt nicht böswillig sagt oder macht oder tut, sondern dass das etwas mit einer Erkrankung zu tun hat. (…)
Da braucht man schon Unterstützung.“ (Fachkraft I10: 12)
Insbesondere im Anfangsstadium der Krankheit wird dies durch die Subtilität der
Symptome und im Weiteren durch deren Wandlung im Krankheitsverlauf erschwert.
Als Folge davon können Konflikte in der Beziehung resultieren, weil die Verhaltensweisen des Menschen mit Demenz von pflegenden Angehörigen dann nicht als krankheitsspezifisch gedeutet werden.
„Ganz oft stauen sich ja Aggressionen an. Sie denken, das ist Trotz, die machen das extra.
Und da sind ja derart Aggressionen dann schon vorhanden, wenn man rein kommt, Spannungen, ja, wo man einfach sieht, oh Gott, hier ist schon echt die Obergrenze erreicht, ja.
Weil sie einfach nicht wissen, dass es eine Krankheit ist und dass der das ja nicht extra macht
und dass es nicht persönlich gemeint ist usw. (…) Sie sind dann wirklich am Rande ihrer
261
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Kapazitäten. Und ja, das ist so, was man ganz oft vorfindet, dass die Leute fix und fertig
sind. Und wenn sie dann eben durch uns (…) hören, aha, das ist ja die Krankheit eigentlich
und das darf man nicht persönlich nehmen und wenn ich so und so mit dem umgehe, habe
ich es ja viel einfacher und wir beide haben es einfacher, dann ist denen schon mal im ersten
Moment groß geholfen… Also das ist schon im ersten Gespräch so, da kommt schon so ein
Aha-Effekt.“ (Pflegedienstleitung I3: 104-115)
Die Inanspruchnahme wird weiterhin negativ durch die interne Anforderung der
Stigmatisierungsangst pflegender Angehöriger beeinflusst, in deren Folge die Menschen mit Demenz vor der Öffentlichkeit versteckt werden können.
„Viele Angehörige wollen aber auch keine Hilfe oder sind noch nicht bereit, sie anzunehmen. Also wir haben oft das Gefühl, dass es ein Problem ist, das überhaupt nach außen zu
tragen. Also es ist halt so der Deckmantel, so in der Familie, vielleicht hat es noch ein Nachbar mitgekriegt (...) Die wenigsten gehen offen damit um draußen, ja. Also der Angehörige
wird dann irgendwie, ich sage jetzt mal in Gänsefüßchen, Zuhause versteckt.“ (Pflegedienstleitung I8: 48-52)
Die Angst vor Stigmatisierung durch Nachbarn oder andere Dorfbewohner ist nach
Ansicht der Befragten dem sozialen Druck geschuldet, denen sich pflegende Angehörige gerade in ländlichen Gebieten ausgesetzt fühlen.
„Weil die Nachbarn und gerade hier auf diesen Örtchen … in der Stadt ist es vielleicht
nicht so. Aber diese Dörfer. Da kennt ja jeder jeden und: ‚gucke mal, ja, die (pflegende Angehörige) hat ja ihre (demenzkranke) Mutter da schon wieder fortgeschafft da, ja. Die (betont) kümmert sich ja gar nicht, ja. Da wollen sie das Haus oder sonst was und dann schaffen sie die Alte fort!’ (…) Und das macht ganz oft Angst und deswegen wird da gesagt, ich
brauche ja keine Hilfe, wie sieht denn das aus, wenn da jetzt auf einmal der Pflegedienst
kommt, wir schaffen das doch alleine.“ (Pflegedienstleitung I2: 35-42)
Weitere hemmende Faktoren der Inanspruchnahme sind nach Ansicht der befragten Fachpersonen auf Seiten der pflegenden Angehörigen deren mangelnde Selbstpflege, der mit der Nutzung des Entlastungsangebots verbundene Organisationsaufwand,
ihr Misstrauen den Betreuern gegenüber, ihr Wissensdefizit über Art, Inhalt und Nutzen von Entlastungsangeboten, die Bürokratiehürde zur Beantragung von Betreuungsgeld und die Einbindung osteuropäischer Hilfskräfte in die Pflegesituation, mittels denen der Bedarf nach zeitlicher Entlastung kompensiert wird.
Strategien und Strukturen der Anbieter zur Erhöhung der Inanspruchnahme
Fördernde Maßnahmen der Anbieter zur Erhöhung der Inanspruchnahme beziehen
sich vor allem auf vertrauensbildende Maßnahmen zur Erreichung der pflegenden Angehörigen und deren Einbindung in das Entlastungsangebot. Diese reichen von einer
sensiblen Öffentlichkeitsarbeit, über die Beratung potentieller Nutzerinnen bis zur Integration der pflegenden Angehörigen in das Entlastungsangebot zum Abbau etwaiger
Vorbehalte.
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Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
„Weil wir wirklich in die Intimsphäre der Menschen eingreifen. Und damit muss auch
ganz sensibel umgegangen werden … Es darf nicht passieren, dass sie sich noch mehr in ihr
Schneckenhaus zurückziehen, sondern es muss ausgelöst werden, dass sie sich öffnen, weil sie
merken, da gibt es Hilfe, die kann ich in Anspruch nehmen, das ist gar nichts Schlimmes, das
ist legitim. Ich brauche Hilfe und erreiche damit, meinen Angehörigen länger Zuhause versorgen zu können, was sie ja alle im Prinzip wollen.“ (Pflegedienstleitung I2: 108-117)
Insbesondere der Schutz der Nutzerinnen gegenüber der Öffentlichkeit wird als wesentlich erachtet.
„Also das sind schon ganz sensible Bereiche, die ich schützen möchte nach außen. (…)
Auch für die Angehörigen. (…). Die möchten nicht, dass nach außen bekannt wird, dass sie
hier bei uns in der Demenzgruppe sind. (…) Ich denke, das ist halt so eine Scham, die sie haben. (…) Das ist so peinlich irgendwie, ja. Meine Frau ist verkalkt, wer gibt denn das schon
gerne zu.“ (Pflegedienstleitung I3: 839-856)
Für die Vertrauensbildung scheinen weiter der Bekanntheitsgrad aber auch die Vertrauenswürdigkeit des Anbieters nicht unerheblich zu sein.
Die interne Anforderung der mangelnden Selbstpflege pflegender Angehörige erfordert es, sie zunächst für deren Notwendigkeit zu sensibilisieren.
„Viele (Angehörige) muss man wirklich da hinbringen (…) ihre Bedürfnisse überhaupt
erst wieder zu konkretisieren… Weil sie sind ja schon lange in dieser Versorgungssituation,
wo man sich selbst ja total hinten dran stellt und eigentlich gar nicht merkt, dass man selbst
ja vielleicht auch noch Bedürfnisse hat oder es zumindest unterdrückt, ja. Es kommt dann
erst dann später, so, ich habe jetzt 10 Jahre gepflegt und was ist mit mir, ich habe jetzt überhaupt nichts vom Leben gehabt.“ (Pflegedienstleitung I4: 666-673)
Neben niedrigschwelligen Strukturen wie die wohnortnahe Gestaltung bzw. Bereitstellung eines Fahrdienstes, niedrige Teilnahmegebühren einschließlich der Zweckgebundenheit finanzieller Mittel als Betreuungsgeld, ist die Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit des Angebots für die nachhaltige Inanspruchnahme bedeutsam.
Entlastende Effekte der niedrigschwelligen Betreuungsgruppen
Die durch die Entlastungsangebote eingetretenen Effekte zielen sowohl auf die pflegenden Angehörigen als auch auf die Betreuungsgäste. Ein Entlastungseffekt für die
pflegenden Angehörigen betrifft die Stärkung deren Selbstpflege. Ein Aufbau dieser
internen Ressource erfolgt über die Nutzung der Gruppenbetreuungszeit zur eigenen
Erholung bzw. zum „Kräfte schöpfen“, für Termine wie Arztbesuche aber auch zur
Haushaltsführung.
„(Sie) … versuchen einfach, diese 3 Stunden, … wieder Kraft zu schöpfen. (…) weil sie
das regelmäßig, jede Woche sich auch etwas vornehmen können in der Zeit. Das ist eine
spürbare Entlastung.“ (Pflegedienstleitung I1: 262-266)
263
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Nicht zuletzt werden auch interne Ressourcen der pflegenden Angehörigen mittels
Modell-Lernen zur Stärkung der Dependenzpflegekompetenz aufgebaut.
„Es gibt da verschiedene Gesprächstechniken. Und das muss man den Angehörigen beibringen. (…) Ich versuche, es ihnen einfach zu erklären. (…) Und aber auch ein Stück weit
leben, versuchen wir das vorzuleben in der Betreuungsgruppe.“ (Fachkraft I6: 140-144)
Noch dazu erfahren pflegende Angehörige Entlastung im sozialen Austausch mit
anderen Menschen oder im Aufgehoben sein in der Gruppe, was angesichts der drohenden sozialen Isolation ein bedeutender Entlastungseffekt ist. Dies bedeutet Entlastung durch den Aufbau externer Ressourcen.
„Und vor allen Dingen einfach auch dieses einfach mal ablassen können. ... Das ist so
wichtig. Die Angehörigen haben hier Raum und Zeit, mal einfach ihren Frust auch mal abzulassen. Auch wenn ich vor Ort bin bei meinen Beratungsbesuchen, haben sie auch Zeit genug, um auch mal sich etwas von der Seele zu reden. Und vor allen Dingen habe ich auch
schon gemerkt, dieser Austausch zwischen den Angehörigen mal.“ (Pflegedienstleitung I7:
219-224)
Dieser Aufbau interner und externer Ressourcen findet neben der Teilnahme an der
Betreuungsgruppe selbst über Angehörigenkurse, -schulungen und -gesprächskreise
statt, die von den Anbietern zur Ergänzung der Betreuungsgruppe implementiert wurden.
Des Weiteren beziehen sich Entlastungseffekte auf die Menschen mit Demenz. Dies
kann die Milderung deren Krankheitssymptome bedeuten, was sich nach Ansicht der
Fachpersonen in Form der Reduktion externer Anforderungen positiv auf die Dependenzpflegehandelnde auswirkt.
„Neulich sagte ein Angehöriger: ‚Meine Frau ist immer so ausgeglichen, wenn sie von ihnen kommt! Wie machen sie das?’ Und das ist gerade diese unruhige Dame, die eben diesen
Drang zum Laufen hat. Und der ist wirklich ganz glücklich, dass er sie einmal in der Woche
bringen kann.“ (Fachkraft I4: 95)
Auch die Förderung von Ressourcen des Menschen mit Demenz wird als positiver
Effekt herausgestellt.
„Manche haben sie so ein versteinertes Gesicht so gehabt. Die strahlen schon, wenn sie die
Wohnung sehen und rein kommen. Die können viel mehr. (…) Die haben angefangen zu
reden. Und manche haben angefangen zu malen. Die haben vorher das Blatt da gehabt und
haben nichts gemacht. Die machen das jetzt!“ (Fachkraft I8: 186)
Allerdings wird die Bedarfsdeckung allein durch die niedrigschwellige Betreuungsgruppe als zu gering eingestuft.
„Ich denke, mit den Angeboten, die wir machen, können wir sicherlich nur die Spitze des
Eisbergs abdecken für die Leute, die bereit sind, Hilfe anzunehmen …“ (Pflegedienstleitung I9: 78-91)
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Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
Die zeitliche Begrenzung bezieht sich auf eine nur punktuelle Entlastung auf wenige
Stunden in der Woche. Als Möglichkeiten der zeitlichen Erweiterung würden sich zwar
die Tages- oder Nachtpflege bzw. Entlastungsangebote an Wochenenden anbieten.
Doch auch diese fehlen nach Auskunft der Befragten im untersuchten Landkreis, bzw.
sind im Fall der Nachtpflege mit hohen Kosten und einer geringen demenzspezifischen
Ausrichtung einerseits und organisatorischen Hürden andererseits verbunden. So wird
der nächtliche Entlastungsbedarf eher familiär oder über die Einbindung osteuropäischer Hilfskräfte kompensiert. Die notwendige Erweiterung besteht demzufolge in einem Ausbau entsprechender teilstationärer Entlastungsangebote, die mit dem vorhandenen Entlastungsangebot vernetzt werden sollten.
6. Diskussion
In dieser Studie ist im Vergleich zu anderen Studien aus Deutschland (Gräßel et al.
2009; Isfort et al. 2011: 133; Frey et al. 2011: 271) erstmals das spezifische Entlastungsangebot der Betreuungsgruppe aus der Sicht der konkreten Nutzerinnen und der
Anbieter untersucht worden. Beim Abgleich deren Perspektiven besteht zwischen diesen Einigkeit darüber, dass die Betreuungszeit in der Betreuungsgruppe der Erweiterung bedarf, weil sie mit etwa 3 bis 6 Stunden wöchentlicher Entlastungszeit angesichts
des enormen Entlastungsbedarfs in der Betreuung am Tag als zu gering eingestuft wird,
auch wenn die Betreuungsgruppen diesem Bedarf am ehesten zu entsprechen scheinen.
Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Schwerpunktsetzung beim Entlastungsbedarf. Wo dieser von den Nutzerinnen primär im Bereich der Betreuung und Beaufsichtigung der Menschen mit Demenz gesehen wird, heben die Fachpersonen die Notwendigkeit zur Ausbildung von Krankheitsakzeptanz als Voraussetzung von Entlastung
hervor. Auch der Studienlage zufolge ist ein Verständnis und eine Akzeptanz für krankheitsspezifische Symptome zu entwickeln (Meyer et al. 2008: 26-27, 93). Doch die
Einschätzung der Nutzerinnen in dieser Studie steht ebenso in Einklang mit Befunden
aus der Literatur, die verdeutlichen, dass gerade die mit der Krankheit Demenz verbundenen Anforderungen eine ständige Aufsicht und ein entsprechendes Angebundensein
erfordern (Pinquart et al. 2002: 86; Auer et al. 2007: 169; Dech 2009: 77). So geht von
den Symptomen der Demenzerkrankung und der mit dieser verbundenen 24-Stunden-Betreuung der Betroffenen ein intensiver Zeit- und Energieaufwand einher (Kofahl et al. 2005: 490; Schacke et al. 1998: 357; Dech 2009: 78; Meyer et al. 2008: 92).
Wie festgestellt wurde, resultieren daraus Belastungen, die entsprechende Entlastungsangebote unabdingbar werden lassen (Sauer 2007: 26). Weiterer Entlastungsbedarf besteht nach Ansicht der befragten pflegenden Angehörigen auch in der Vereinbarkeit sozialer Kontakte. Durch die Anforderung der Rund-um-die-Uhr-Betreuung des Menschen mit Demenz können soziale Kontakte nur schwer gepflegt werden. Dies steht in
Einklang mit anderen Studien über das Belastungserleben der Zielgruppe (Kofahl et al.
2005: 491; Schacke et al. 1998: 356; Dech 2009: 76; Laag et al. 2010: 183). Auch Schacke et al. (1998: 359) stellen dazu fest: „Je stärker die Pflege in Konflikt mit eigenen Bedürfnissen bzw. mit konkurrierenden Rollenerwartungen in Bezug auf Familie, Beruf etc.
265
Beiträge
Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
gerät, desto geringer die Lebenszufriedenheit.“ Rollenkonflikte ergeben sich aufgrund
von Erwartungen des sozialen Netzwerkes, der Berufswelt, der Anforderungen der Dependenzpflege und aufgrund von Rollenwechseln (Beyrodt et al. 2007: 50). Demgegenüber kann ein funktionierendes soziales Netzwerk zur sozialen Unterstützung
und somit zur aktiven Bewältigung der Pflegesituation beitragen, indem mehrere Personen am Pflege- und Betreuungsarrangement beteiligt sind (Gräßel 1998: 54). Folglich wirkt ein vorhandenes soziales Netzwerk als Ressource und Unterstützung bei der
Bewältigung von Anforderungen belastungsmindernd (Schäufele et al. 2005: 121).
In Einklang mit Befunden aus der Literatur ist auch in dieser Studie ein hoher Bedarf nach Informationen über Art, Inhalte und Nutzen von Entlastungsangeboten festgestellt worden, die deren Inanspruchnahme verhindern (Beyrodt et al. 2007: 51; Dörpinghaus et al. 2006: 27; Frey et al. 2011: 275). Dabei können sich diese auf die Leistungsberechtigung oder auf die Art und den Umfang der Angebote beziehen (Beyrodt
et al. 2007: 47; Gräßel 1998: 53; Winkler et al. 2006: 20). Trotz der bereits durch das
DSZ geleisteten Öffentlichkeitsarbeit weist dies darauf hin, dass weitere Wege in der
Erreichung der Zielgruppe beschritten werden sollten, die vor allem stärker auf den
Nutzen von Entlastungsangeboten ausgerichtet sein sollten. Angesichts der identifizierten und zum großen Teil auch in Einklang mit der Literatur stehenden Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme, bedarf es insbesondere zum Abbau der die Zielgruppe
betreffenden Hemmschwellen besonderer Zugangsstrategien. Gerade für diejenigen
pflegenden Angehörigen ohne Anbindung an fachliche Entlastungsangebote scheinen
zugehende Formen von Entlastungsangeboten gefordert.
In methodischer Sicht ist nicht auszuschließen, dass der Zugang über die Anbieter
auf Seiten der befragten Angehörigen zu sozial erwünschten Antworten geführt haben
könnte. Zudem lässt das in dieser Studie verwendete Design keinen Aufschluss über die
tatsächliche Wirkung der Intervention Betreuungsgruppe zu. Im Rahmen dieser beschreibenden Studie können allenfalls Tendenzen und Hinweise zum Entlastungsbedarf und deren Deckung gewonnen werden, die auf die untersuchte Gruppe beschränkt bleiben. In nachfolgenden Studien sollten die Entlastungseffekte durch
unterschiedliche Entlastungsangebote mit experimentellen Designs untersucht werden, um Aufschluss über deren Wirkung zu erzielen. Weiter sollte vor allem die Sichtweise von Noch-Nicht-Nutzern erforscht werden, da viele pflegende Angehörige mit
einem Entlastungsbedarf noch nicht von entsprechenden Entlastungsangeboten erreicht worden sind. Dieser Personenkreis ist in dieser Studie nicht einbezogen worden,
weil sich das Erkenntnisinteresse auf die Untersuchung der Deckung des Entlastungsbedarfs durch die in Anspruch genommenen Entlastungsangebote richtete. Bei allen
positiv angestoßenen Entwicklungen durch die Pflegereform, des großen Engagements der Anbieter und einiger positiver Entlastungseffekte durch die Entlastungsangebote der IGDB, darf aber nicht darüber hinweg gesehen werden, dass die Bedarfsdeckung allein durch die derzeitigen niedrigschwelligen Entlastungsangebote von den
Nutzern wie von den Anbietern als zu gering eingestuft wird. Dies ist den befragten Fachpersonen zufolge vor allem der doch unzureichenden Finanzierung geschuldet, die neben den Anbietern und der Pflegeversicherung auch die Kommunen in die Pflicht
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Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3
Beiträge
nimmt. Angesichts deren mitunter prekären Haushaltslage droht deren Ausstieg mit
dem Verlust der finanziellen Unterstützung, was letzten Endes zum Abbau des bestehenden Entlastungsangebots mit Konsequenzen für die informelle Pflege führen würde.
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Prof. Dr. Michael Schilder
Evangelische Hochschule Darmstadt, Zweifalltorweg 12, 64293 Darmstadt, Hessisches
Institut für Pflegeforschung, Nibelungenplatz 1, 60318 Frankfurt/ Main
schilder@eh-darmstadt.de (Korrespondenzadresse)
Susann Florian, Diplom-Pflegewirtin (FH)
Evangelische Hochschule Darmstadt, Zweifalltorweg 12, 64293 Darmstadt
Auftraggeber: Diakonisches Werk Darmstadt-Dieburg, Land Hessen
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