vollständige PDF Ausgabe - Deutsche Gesellschaft für
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Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Bernd Reuschenbach et al. Methodennutzung, -präferenz und -fortbildungsbedarfe in der deutschsprachigen Pflegewissenschaft – Ergebnisse einer Online-Befragung1 Use, preference and educational needs of research methods in nursing science in german speaking countries – results of an online sur vey Between September 2009 and Februar y 2010 127 nurse researchers from Germany, Austria and Switzerland took par t in an online-sur vey assessing their methodological competencies and the research methods they teach. In addition, they were asked about their individual needs concerning research methodological training, as well as about their decision-making strategy when choosing and using research methods. The results show, that most par ticipants have competencies in qualitative and quantitative research methods. Almost 70% of the par ticipants are well schooled in both fields. The research methods most commonly used and taught were descriptive and correlative methods, as well as content-analysis, and a grounded theor y approach. A comparison between the individual methodological competencies and the needs expressed by the par ticipants concerning their methodological training revealed the necessity to improve communication within the scientific community. The results indicate that a general debate on the specific research methods used in nursing research versus the appropriate methods for the nursing field, is due for discussion. The study highlights some impor tant issues regarding future methodological developments in nursing science. The results also provide a useful basis for comparisons with other scientific disciplines. Keywords research methods, methodological competencies, methodological training, decision making in research Im Rahmen einer Online-Erhebung wurden zwischen September 2009 und Februar 2010 insgesamt 127 Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler aus Deutsch- 1 Die Studie wurde durch eine finanzielle Forschungsförderung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft unterstützt. Für hilfreiche Kommentare und Unterstützung bei der Konzeption der Studie danken wir Katrin Koch, Inge Eberl, Gisela Kleinwechter, Regina Sauer und Andreas Lauterbach. eingereicht 06.09.2011 akzeptiert 28.02.2012 (nach Überarbeitung) 197 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 land, Österreich und der Schweiz zu ihren gelehr ten und genutzten Forschungsmethoden befragt. Ergänzend wurden mittels offener Fragen For tbildungswünsche und Entscheidungsgründe für den Einsatz von Forschungsmethoden erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass unter den Befragten ein großes Reper toire an qualitativen und quantitativen Methoden vorgehalten wird. Knapp 70% der Befragten kennen sich auf beiden Terrains aus. Neben deskriptiven und korrelativen Ver fahren zählen die Inhaltsanalyse und die Grounded Theor y zu den am häufigsten genutzten und gelehr ten Methoden. Ein Vergleich der Methodenkompetenzen und der For tbildungswünsche verdeutlicht, dass der kollegiale Austausch zukünftig geförder t werden sollte. Ebenso wird eine grundsätzliche Diskussion über fachspezifische Methoden und die Angemessenheit der Methoden vor dem Hintergrund des spezifischen pflegerischen Gegenstandes von den Befragten geforder t. Die Ergebnisse können Anhaltspunkte für die methodische Weiterentwicklung der Pflegewissenschaft geben und stellen eine Grundlage für den Vergleich mit anderen Wissenschaftsdisziplinen dar. Schlüsselwörter Forschungsmethoden, Gegenstandsangemessenheit, Curriculum, Methodologie, Erhebungsmethoden, Auswer tungsmethoden Forschungsmethoden sind konstituierendes Element einer wissenschaftlichen Disziplin und deren Weiterentwicklung ist Kennzeichen einer fortschrittsfähigen Wissenschaft (Popper 1979). Während Einigkeit darin besteht, dass es in der Pflegewissenschaft, analog zu den anderen Wissenschaften, des Einsatzes von Forschungsmethoden bedarf, herrscht Unklarheit darüber, ob es einen fachspezifischen Methodenkanon gibt und wenn ja, ob dieser angemessen zur Anwendung kommt (Barrett 1998). Vor allem die Frage, ob Pflegeforschung genuine Methoden anwendet (vgl. Bartholomeyczik 2000) oder anwenden sollte, wird kritisch diskutiert und benötigt darüber hinaus eine methodologische Diskussion. Die durch Hallberg (2006) angestoßene Debatte über notwendige Forschungsdesigns in der Pflegewissenschaft und ihre Positionierung zugunsten von Studien mit hoher externer Validität sowie die Repliken auf diesen Beitrag (Galvon et al. 2008; Borglin/Richards 2010) zeigen, wie schwierig es ist, Empfehlungen für die methodische Weiterentwicklung einer Wissenschaftsdisziplin aufzustellen, weil sie das wissenschaftliche Selbstverständnis und die individuellen Methodenkompetenzen berühren.2 Um dieses konstituierende Merkmal einer Wissenschaft hinsichtlich der Angemessenheit zu bewerten, bedarf es zunächst einer deskriptiven Analyse der genutzten und gelehrten Methoden. Daraus lassen sich dann vor dem Hintergrund der Reflexion des originären pflegerischen/pflegewissenschaftlichen Gegenstandes und des beruflichen Selbstverständnisses Forderungen für die methodische Weiterentwicklung ableiten. Darüber hinaus ermöglicht die Erfassung des Status quo der Methodennutzung, (1) die besonderen Eigenheiten des Fachgebietes zu benennen, (2) einen Vergleich mit 2 Wie fruchtbar ein selbstkritischer Zugang ist, der zunächst die Dominanz einzelner Forschungsmethoden aufdeckt und diese mit dem Anspruch der Disziplin vergleicht, zeigt der Beitrag von Baumeister et al. (2007). 198 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge existierenden internationalen Studien zur Methodennutzung (Polit/Beck 2009) und (3) in der längsschnittlichen Betrachtung die Aufdeckung von Entwicklungstendenzen innerhalb der Pflegewissenschaft. 1. Problemstellung Als relativ junge Disziplin besitzt die Pflegewissenschaft in Deutschland einen Querschnittscharakter und greift verfügbares Wissen der Nachbardisziplinen und Bezugswissenschaften auf. Darüber hinaus muss sie aber auch originäre pflegerische Belange und Probleme bestimmen (Remmers 1999). Die Aufgabe der Pflegewissenschaft besteht daher in der Sammlung, Ordnung, Überprüfung und Generierung pflegerischen Wissens. Als Methode zur Bewältigung dieser Aufgabe wird die Pflegeforschung genutzt. Pflegeforschung dient damit der methodischen Wissensvermehrung in der Pflege und bearbeitet hierfür Fragestellungen zum Gegenstandsbereich der Pflege. Da der breit gefächerte Gegenstand „Pflege“ zusätzlich unterschiedlich definiert wird, führt dies zu einer Vielzahl an unterschiedlichen Forschungsfragen (Panfil 2007). Angesichts der Mehrdimensionalität von Pflege bedarf es auch eines Pluralismus auf der methodischen Ebene (Stemmer 2001). Daher ist mittlerweile die Pflegeforschungsszene in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, so groß, dass sie nicht im Einzelnen beschrieben werden kann (Schaeffer 2003: 321-322). Klare Konturierungen der „Pflegewissenschaft“ wie auch berufliche Eingrenzungen der Akteure (Wer gilt als Pflegewissenschaftlerin/Pflegewissenschaftler?) sind dadurch erschwert. Wenn über Forschungsmethoden gesprochen wird, muss immer auch die Frage nach dem zu Grunde liegenden Wissenschaftsverständnis, einem naturwissenschaftlichen oder einem sozialwissenschaftlichen Paradigma, beantwortet werden. Für die Weiterentwicklung und Professionalisierungsbestrebungen der Pflegewissenschaft wäre eine alleinige Orientierung am naturwissenschaftlichen Paradigma nicht sinnvoll. Dies würde die Vernachlässigung der individuellen Patientenperspektive bedeuten, denn pflegebedürftige Menschen haben nicht nur körperliche, sondern auch leibliche Bedürfnisse in existentiell belastenden Lebenssituationen (Friesacher 2008), die es für den Pflegebedarf interaktionistisch auszuhandeln gilt. Gerade die wissenschaftstheoretisch formulierte doppelte Handlungslogik der Pflegepraxis (Remmers 1999) zeigt auf, dass das Verstehen des individuellen Patientenproblems eine Verschränkung unterschiedlicher Wissensarten erfordert (Oevermann 1981, 1996). Nicht nur professionstheoretische Fragen, sondern auch die Anwendung der bestimmten Methoden zur Datenerhebung und -auswertung sind mit wissenschaftstheoretischen Positionen verbunden (Schaeffer 2002). Daher wird für die Pflegewissenschaft eine Integration qualitativer und quantitativer Ansätze, welche auch vor allem bei komplexen Fragestellungen im Sinne einer Triangulation gewinnbringend sind, gefordert (Bartholomeyczik 2004). Grundsätzlich sind Forschungsmethoden Werkzeuge, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen zur Anwendung kommen können. Methoden sind in 199 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 diesem Sinne ein spezielles System von (Handlungs-)Regeln, um an neue Erkenntnisse zu gelangen. Sie sind auf einen Prozess und ein bestimmtes Ziel, wie z. B. eine systematische Problemlösung, hin ausgerichtet und sind daher zielgerichtet auszuwählen (Brandenburg 2007). Diese zielgerichtete und auch zielführende Passung in der Auswahl von Methoden wird mit dem Begriff der „Gegenstandsangemessenheit“ beschrieben. Trotz der bemerkenswerten Entwicklung der Pflegeforschung machen sich Defizite für die Weiterentwicklung von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung bemerkbar. Eines der Defizite gründet sich in der Methodenwahl und -anwendung, denn es entsteht der Eindruck bevorzugter Themenschwerpunkte (Hasseler 2005). Etablierte Methoden zur Erfassung des Stellenwertes einzelner Methoden bedienten sich bisher bibliometrischer Analysen (Hausner 2006; Traynor 2001; Polit/Beck 2009; Scholes 2010). Die Ergebnisse solcher Studien sind ein Spiegelbild des (pflege)wissenschaftlichen Mainstreams und damit auch systematischen Verzerrungen unterworfen. So kann beispielsweise das Peer-Reviewing zu einer Unterordnung in einen etablierten Methodenkanon zwingen, oder bestimmte, nicht den aktuellen Trends entsprechende Arbeiten, werden gar nicht erst zur Publikation eingereicht. Auch die Analyse von Bildungsangeboten (z. B. anhand von Modulhandbüchern) oder Lehrbüchern ist diesen Verzerrungen unterworfen. Sie decken nicht den aktuellen Stand der Forschungsanwendung und möglicher Bedarfe auf, sondern beschreiben etablierte Angebote und die als langfristig relevant erachteten Methoden. Eine systematische Erfassung der angewendeten und gelehrten Forschungsmethoden aus Sicht der Anwender liegt im deutsprachigen Raum nicht vor. Eine Recherche in der Zeitschrift „Pflege“ der Jahre 1992-2001 ergibt eingeschränkte Hinweise. Die dort veröffentlichten Forschungsarbeiten weisen im Gegensatz zu anderen Ländern, die einen Überhang an qualitativen Methoden aufwiesen, auf eine steigende Bedeutung quantitativer Methoden hin. Triangulationen wurden selten verwendet und bestimmte Forschungsbereiche, wie die Methoden der historische Forschung, eher vernachlässigt (Bartholomeyczik 2004). Eine direkte Befragung der Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler ermöglicht unmittelbarere Hinweise auf die Methodenpräferenz und Lehrinhalte. Mit diesem Ziel wurde die Erhebung in der vorliegenden Studie als Online-Befragung durchgeführt. Ergänzend wurden zur Erfassung der perspektivischen Entwicklungsbedarfe die individuellen Fort- und Weiterbildungswünsche erfragt. Diese sind ein Spiegelbild der persönlichen Entwicklungsbedarfe, aber auch der disziplinspezifischen Entwicklungsperspektiven. Vier Fragestellungen stehen damit im Mittelpunkt der vorliegenden Studie: - Welche Forschungsmethoden werden von Lehrenden und Forschenden, die sich selbst der Pflegewissenschaft zuordnen, genutzt? - Welche Forschungsmethoden werden im deutschsprachigen Raum gelehrt? 200 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge - Welche Fort- und Weiterbildungswünsche werden bezüglich der Forschungsmethoden geäußert? - Was sind Entscheidungsgrundlagen für die Methodenwahl und Entwicklungsbedarfe? 2. Methode 2.1 Design und Teilnehmerinnen/Teilnehmer Die Erhebung wurde als Online-Befragung realisiert. Diese lief von September 2009 bis Februar 2010. Wie oben dargestellt ist die Pflegewissenschaft eine junge Disziplin mit Bezügen zu verschiedenen Disziplinen. In Anlehnung an die Aufgaben der Pflegewissenschaft sind daher aus unserer Sicht als Pflegewissenschaftlerinnen/Pflegewissenschaftler all diejenigen zu fassen, welche zur methodischen Wissensvermehrung der Pflege, sei es in Empirie oder Theorie, beitragen und sich selbst daher als Pflegewissenschaftlerin/ Pflegewissenschaftler definieren. Die Eingrenzung der Stichprobe ergibt sich durch den Zugang: Die Erhebung war über die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) zu erreichen. Um möglichst viele deutschsprachige Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für die Teilnahme an der Online-Befragung zu gewinnen, wurde der Email-Verteiler der DGP genutzt. Ergänzend wurden mittels einer Internetrecherche wissenschaftliche Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und Lehrstuhlinhaber/Lehrstuhlinhaberinnen pflegebezogener Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen sowie pflegewissenschaftliche Forschungsinstitute in Deutschland, Österreich und der Schweiz ermittelt3. Diese wurden via Mail mit einem integrierten nicht personalisierten Link eingeladen, an der Befragung teilzunehmen. Insgesamt wurden 323 Personen per Mail kontaktiert, 127 Personen haben sich an der Befragung beteiligt. Inhalte und Form des Online-Fragebogens wurden innerhalb der Sektion Forschungsmethoden der DGP erarbeitet und konsentiert. Im Rahmen eines Pretests wurden mit jeweils zehn Personen zwei verschiedene Papierversionen und zwei verschiedene Onlineversionen hinsichtlich Bearbeitungsdauer, Verständlichkeit und technischer Umsetzung bewertet. Auf dieser Grundlage wurde der finale Fragebogen entwickelt. Die Datenerhebung erfolgte anonym. Es wurden keine Rechneradressen (IP-Adressen) gespeichert. Der Abbruch der Befragung führte zum Löschen des jeweiligen Datensatzes. Freiwillig konnten Namen und Email-Adresse angegeben werden, um einen Pool 3 Auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft wurde zusätzlich ein Link zur Befragung platziert, der auch Personen erreichen sollte, die nicht per Mail angeschrieben wurden, sich aber als Pflegewissenschaftlerinnen/Pflegewissenschaftler verstehen. Eine genaue Bestimmung des Rücklaufs ist durch die Form der Ansprache nicht möglich. 201 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 an Expertinnen und Experten für Fortbildungsangebote zu generieren. Ein positives Votum der Ethik-Kommission der DGP lag vor Beginn der Studie vor. 2.2 Instrumente Die Befragung gliederte sich in vier Teile 1. 2. 3. 4. Genutzte und gelehrte Forschungsmethoden, Fortbildungswünsche Entscheidungsgründe und Entwicklungsbedarfe Berufsbiografische Fragen Freiwillige Angaben der Kontaktadresse Zur Erhebung der genutzten und gelehrten Forschungsmethoden wurde eine Auswahl gängiger Forschungsdesigns, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, wie sie in den meisten Methodenlehrbüchern zu finden sind, vorgegeben. Hierzu konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann angeben, ob diese von ihnen gelehrt, angewendet oder als Fortbildungsthemen gewünscht werden. Bei den qualitativen Zugängen wurden auch Methodologien (Grounded Theory, Phänomenologie etc.) in die Befragung aufgenommen. Weitere Methoden konnten als Freitext ergänzt werden. Nach der Bestandsaufnahme im ersten Teil wurden im zweiten Teil die Entscheidungsoptionen für die Methodenwahl und die Entwicklungsbedarfe mittels folgender aufgeführter offener Fragen erhoben: 1. Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie die Forschungsmethoden, die Sie anwenden wollen, aus? 2. Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf auf dem Gebiet der Forschungsmethoden für die Pflegeforschung? Die Befragten wurden im dritten Teil gebeten, Angaben zu ihren Forschungsschwerpunkten, Tätigkeitsfeldern und zur ihrer Berufsbiographie zu machen. Auf freiwilliger Basis konnten am Ende persönliche Angaben (Name, Adresse, Email) hinterlassen werden. 2.3 Analyse Die Antworten der standardisierten Fragen wurden mittels deskriptiver Statistik ausgewertet. Die Analyse erfolgte mit PASW Statistics 18 (SPSS Inc. 2009). Die Antworten zu den zwei offenen Fragen (Entscheidung für eine Methode, Entwicklungsbedarfe) wurden mit Hilfe von Atlas.ti 5.7.1 (Atlas.ti GmbH, 2011) kodiert, thematisch geclustert und anschließend anhand der entstandenen Kategorien quantifiziert. 202 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge 3. Ergebnisse Im Zeitraum von September 2009 bis Februar 2010 füllten 127 Personen den Fragebogen aus. Aufgrund der Angaben im dritten Teil des Fragebogens ergeben sich folgende Stichprobencharakteristika: Mehrheitlich nahmen Frauen (66%) an der Befragung teil. Von den 127 Personen, die Angaben machten, arbeiteten 45% zum Zeitpunkt der Befragung an einer Universität, 35% an einer Fachhochschule, 16% in einem Krankenhaus und 10% in einer Fort- und Weiterbildungseinrichtung (Mehrfachantworten waren möglich). Siebzehn Personen ergänzten zur Frage nach dem derzeitigen Arbeitsplatz freie Antworten. In vier dieser Fälle wurden Forschungsinstitute benannt. Die meisten der teilnehmenden Personen haben ein Diplom (55%), eine Promotion (41%) und/oder einen Masterabschluss (29%). Hinsichtlich der Art des Hochschulabschlusses dominiert ein Abschluss in Pflegewissenschaft (43%), gefolgt von Gesundheitswissenschaften (20%), Pädagogik/Erziehungswissenschaften (13%), Soziologie/Sozialwissenschaften (12%) und Pflege (10%). Weitere Angaben bezogen sich auf Pflegemanagement (9%), Pflege als grundständigen Studiengang (10%), Psychologie (6%), Gerontologie (3%) und Medizin (1%). Hierbei waren Mehrfachantworten möglich. Von den teilnehmenden Personen absolvierten 78,8% eine Ausbildung in einem Pflegefachberuf. Die weitere Darstellung der Ergebnisse gliedert sich 3.1) in die Auswertung zu den gelehrten, genutzten und bevorzugten Methoden sowie 3.2) die Auswertung der offenen Fragen zu den Entscheidungsgrundlagen und Entwicklungsbedarfen. 3.1 Gelehrte, genutzte und für Fortbildungen präferierte Methoden In der Onlineerhebung wurden die persönlichen Einschätzungen zu Lehrinhalten, Nutzung und Fortbildungswünschen getrennt für Studiendesigns, Erhebungsmethoden, Auswertungsmethoden und qualitative Methoden/Methodologie erfragt. 3.1.1 Studiendesigns Bei der Abfrage zu den in der Lehre vermittelten Studiendesigns dominieren qualitative Designs, die von knapp der Hälfte der Befragten (49%) gelehrt werden (siehe Tabelle 1). Auf Platz zwei der am häufigsten genannten Lehrinhalte stehen Querschnittsstudien (36%) und auf Platz drei Längsschnittstudien (35%). Weniger häufig werden Validierungsstudien (16%) und epidemiologische Studien (17%) gelehrt. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Nutzung der Methoden: Auch hier dominieren qualitative Designs, die von 78% der Befragten als Teil ihres Methodenrepertoires genannt werden, gefolgt von Querschnittsstudien (50%) und Reviews (50%). Zu den Methoden, die weniger oft angewendet werden, gehören Metaanalysen (13%) und epidemiologische Studien (14%). Knapp ein Drittel der Befragten nennen Metaanalysen als für sie relevantes Fortbildungsthema (32%), gefolgt von randomisiert kontrollierten Studien (RCT) (26%) und Validierungsstudien (21%). 203 Beiträge Methode Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Ich lehre … Ich habe folgende Me- Ich wünsche mir Fortthoden in meiner For- bildungen zu folgenschung angewendet … den Themen … % Rang % Rang % Rang Qualitative Designs 48,8 1 78,0 1 12,6 8 Querschnittsstudien 36,2 2 49,6 2 11,0 9 Längsschnittstudien 35,4 3 27,6 5 12,6 8 Reviews 33,9 4 49,6 2 15,0 7 RCTs 29,1 5 20,5 7 26,0 2 Quasi-Experiment 28,3 6 26,8 6 18,9 6 Analyse von Datenbeständen 28,3 6 39,4 4 19,7 4 Metaanalysen 26,0 8 13,4 10 31,5 1 Epidemiologische Studien 17,3 9 14,2 9 19,7 4 Validierungsstudien 15,7 10 15,0 8 21,3 3 Tab. 1: Gelehrte und angewandte Studiendesigns der Befragten sowie deren Fortbildungswünsche (N = 127) Bei den freien Antworten zu den Fortbildungswünschen wurden genannt: Aktionsforschung (n=2), Metaanalysen (n=2), Metaethnographien (n=1), Mixed Methods (n=1) und phänomenologische Designs (n=1). 3.1.2 Daten-Erhebungsmethoden Bei etwa der Hälfte der Befragten zählen Interviews zu den Lehrinhalten (51%), gefolgt von Fragebogenmethoden (43%), Beobachtungsmethoden (39%), Dokumentenanalysen (39%) und Fokusgruppen (26%). Eine ähnliche Rangreihe ergibt sich im Hinblick auf die Methodennutzung: Interviews (84%), Fragebogen (80%), Dokumentenanalyse (58%), Beobachtung (54%) und Fokusgruppen (38%). Weniger als 15% der Befragten wünschen sich Fortbildungen zu speziellen Erhebungsmethoden. Eine Ausnahme bilden Fokusgruppeninterviews, die von 22% der Befragten als Fortbildungsthema gewünscht werden. 3.1.3 Auswer tungsmethoden Quantitative Auswertungsmethoden werden insgesamt seltener gelehrt als quantitative Erhebungsmethoden, Studiendesigns oder qualitative Methoden. Ein Viertel der Befragten lehrt deskriptive Statistik (25%), gefolgt von varianzanalytischen Verfahren (19%), korrelativen Verfahren (16%) und multivariaten Verfahren (10%). Dennoch kommen diese Methoden häufig in der eigenen Forschung zur Anwendung: Deskriptive Statistik wird von 69% als Teil des Methodenrepertoires angegeben, varianzanalytische Verfahren von 57%, korrelative Verfahren von 47% und multivariate Verfahren von 32% (siehe Tabelle 2). In den freien Antwortmöglichkeiten wurden folgende spe204 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 zielle Auswertungsmethoden zur Nutzung genannt: Mehrebenenmodelle (n=5), Dimensionsreduktionen (n=1), Ereigniszeitanalysen (n=1), Bayesianische Statistik (n=1) und Propensity Scores (n=1). Methode Ich lehre … Ich habe folgende Methoden in meiner Forschung angewendet … Ich wünsche mir Fortbildungen zu folgenden Themen … % Rang % Rang % Rang Deskriptive Statistik 25,2 1 69,3 1 12,6 4 Varianzanalysen und Mittelwertvergleiche 18,9 2 56,7 2 15,0 3 Korrelations- und Regressionsanalysen 15,7 3 47,2 3 18,1 2 Multivariate Verfahren 10,2 4 31,5 4 26,0 1 Tab 2: Gelehrte und angewandte Auswertungsmethoden der Befragten sowie deren Fortbildungswünsche (N=127) Fortbildungswünsche zu den Auswertungsmethoden werden weniger häufig genannt (< 18% der Befragten). Eine Ausnahme bilden multivariate Verfahren, die von 26% der Antwortenden als Thema gewünscht werden. 3.1.4 Qualitative Methoden/Methodologien Unter den Lehrinhalten wird der Grounded Theory-Ansatz von 34% der Befragten am häufigsten genannt, gefolgt von der Inhaltsanalyse (32%) und den Fallstudien (28%). Dies sind auch die drei methodischen Zugänge, die am häufigsten in der eigenen Forschung genutzt werden (siehe Tabelle 3). Von den 127 Befragten wünschen sich 21% Fortbildungen zur Aktionsforschung. An zweiter Stelle folgen phänomenologische Analysen (17%). Selten werden Fortbildungen zur Grounded Theory (11%) und zur Inhaltsanalyse (10%) gewünscht. 3.1.5 Verhältnis zwischen qualitativen und quantitativen Methoden Über die einzelnen Forschungsmethoden hinweg wurde eine gesonderte Analyse im Hinblick auf die Präferenz für eher quantitative vs. qualitative Methoden vorgenommen4. Hierzu wurden 11 Auswahloptionen eher den quantitativen Methoden zugeordnet (RCT, Quasi-Experiment, Längsschnittstudien, Querschnittstudien, epidemiologische Studien, Validierungsstudien, Analyse von Datenbeständen, deskriptive Statis4 Die Unterscheidung quantitativ vs. qualitativ ist auf der methodischen Ebene schwieriger als auf der methodologischen oder epistemologischen Ebene (Haas 1994). Dennoch wird diese Unterscheidung hier gewählt, da sie tradiert ist und eine hilfreichen Systematisierung für die Ergebnisse darstellt. 205 Beiträge Methode/ Methodologien Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Ich lehre … Ich habe folgende Methoden in meiner Forschung angewendet … Ich wünsche mir Fortbildungen zu folgenden Themen … % Rang % Rang % Rang Grounded Theory 33,9 1 37,8 2 11,0 9 Inhaltsanalyse 32,3 2 60,6 1 10,2 10 Fallstudien 28,3 3 35,4 3 12,6 6 Hermeneutische Analysen Phänomenologische Analysen Ethnographische Lebensweltanalyse Biografieforschung 25,2 4 22,8 4 15,0 4 17,3 5 18,1 6 17,3 2 16,5 6 10,2 9 15,0 4 15,0 7 11,8 8 16,5 3 Aktionsforschung 15,0 7 18,9 5 21,3 1 Narrationsforschung 12,6 9 12,6 7 11,8 8 10 10,2 9 12,6 6 Historische Forschung 9,4 Tab. 3: Gelehrte und angewandte qualitativen Methoden und Methodologien (N = 127) tik, Varianzanalyse, Korrelations- und Regressionsanalyse, multivariate Verfahren) und 11 Auswahloptionen den qualitativen Methoden zugeordnet (qualitative Designs, Grounded Theory, hermeneutische Analysen, Inhaltsanalyse, phänomenologische Analysen, ethnografische Lebensweltanalyse, historische Forschung, Biografieforschung, Narrationsforschung, Aktionsforschung, Fallstudie). Durch die Anzahl der Nennungen in den beiden Kategorien lassen sich so für die Lehrinhalte, die Forschungsanwendung und die Fortbildungswünsche die Präferenzen vergleichen. Für die Lehrinhalte stellt sich folgendes Ergebnis dar: Im Schnitt werden 2,6 quantitative Themen pro befragter Person gewählt (SD = 3,4) und 2,5 qualitative Themen (SD = 3,0). Für die Nutzung einzelner Methoden zeigt sich, dass im Durchschnitt 3,9 quantitative Methoden (SD = 3,0) und 3,1 qualitative Methoden ausgewählt werden (SD = 2,3). Die überwiegende Mehrheit der Befragten nutzt für die eigene Forschung qualitative und quantitative Methoden (70%). Hinsichtlich der Fortbildungswünsche ergibt sich, dass die 127 Personen im Durchschnitt 1,5 (SD = 2,6) qualitative Themen wählen, während es von den 11 quantitativen Fortbildungsthemen durchschnittlich 2,0 (SD = 2,8) Themen sind. Im Sinne einer explorativen Datenanalyse wurden verschiedene mögliche Korrelate für die Präferenz qualitative und quantitativer Methoden untersucht. Dargestellt wird hier die Methodenpräferenz und Lehrinhalte in Fachhochschulen/Hochschulen und Universitäten (Tabelle 4). 206 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Nutzung von Forschungsmethoden Methodeninhalte in der Lehre Qualitative Methoden Quantitative Methoden Qualitative Methoden Quantitative Methoden 2,7 (1,9) 4,7 (3,1) 1,8 (2,2) 2,8 (3,7) Hochschulen/ 3,4 (2,3) Fachhochschulen (45) 3,6 (2,8) 4,2 (3,3) 3,4 (3,3) Universität (57) Tab. 4: Nutzung und Lehrinhalte unter den Befragten aus Universitäten (N= 57) und Fachhochschulen/Hochschulen (N=45). Dargestellt als Mittelwerte (und Standardabweichung) der Anzahl der ausgewählten qualitativen bzw. quantitativen Methoden aus den jeweils 11 Auswahloptionen Hinsichtlich der Nutzung von Methoden ist in Hochschulen/Fachhochschulen eine Gleichverteilung festzustellen, während bei den Mitarbeitenden der Universität die Anwendung quantitativer Methoden überwiegt. In der Lehre hingegen dominieren bei den Mitarbeitenden der Hochschulen/Fachhochschulen qualitative Methoden. 3.2 Entscheidungsgrundlagen und Entwicklungsbedarfe Die Entscheidungsgrundlagen und Entwicklungsbedarfe wurden mittels der folgenden Fragen erhoben: 1. Nach welchen Gesichtspunkten wählen Sie die Forschungsmethoden aus, die Sie anwenden wollen? (3.2.1) 2. Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf auf dem Gebiet der Forschungsmethoden für die Pflegeforschung? (3.2.2) 3.2.1 Auswahl von Forschungsmethoden Insgesamt haben von den 127 Befragten 114 Personen die Möglichkeit zu einer Freitexteingabe genutzt. Die Antworten konnten in 17 Kategorien zusammengefasst werden (siehe Tabelle 5). Die am häufigsten genannten Antworten waren „nach der Forschungsfrage/ nach der Fragestellung“ (N=83) und „nach der Gegenstandsangemessenheit/ nach dem Gegenstandsbezug“ (N=21). Weitere Entscheidungskriterien sind die eigene Kompetenz und Methodenerfahrung („Bei Gleichrangigkeit hinsichtlich der Angemessenheit: jene, die ich besser beherrsche“ (1385); „Ich unterrichte die Forschungsmethoden, die ich beherrsche“ (154) und die Realisierbarkeit, was auch als Einschränkung wahrgenommen wird („leider auch pragmatisch“, 136). Ein weiterer Einflussfaktor auf die Methodenwahl sind die vorhandenen finanziellen (N=8) und zeitlichen (N=6) Ressourcen, aber auch die Erreichbarkeit der Zielgruppe (N=6). 5 Quellenangaben: Datensatz-ID 207 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Kategorie Anzahl nach der Fragestellung 83 nach dem Gegenstandsbezug 21 Ressourcen – eigene Kenntnisse mit der Methode/ Erfahrungen 11 Praktikabilität 10 ökonomische Aspekte – Geld 8 ökonomische Aspekte (Zeit) / Ressourcen – Erreichbarkeit der Zielgruppe jeweils 6 passend zum Design 5 Ergebnisorientierung / vorhandene Ressourcen / Lehrziele im Studium jeweils 4 persönliches Interesse / Ressourcen – Erfahrungen im Team jeweils 3 Theoretischer Bezugsrahmen / Aussagekraft/ Evidenz jeweils 2 Entwicklungsstand der zur Verfügung stehenden Methoden / ethische Vertretbarkeit jeweils 1 Tab. 5: Kategorien für die Auswahl von Forschungsmethoden nach Häufigkeit (N = 114 Angaben) Einige Befragte gaben an, die Forschungsmethode anhand der Zielgruppe der Studierenden und den damit verbundenen Lernzielen und Modulplänen (N=4) auszuwählen. Auch persönliche Interessenschwerpunkte (N=3) werden als Entscheidungskriterium genannt. 3.2.2 Entwicklungsbedar f auf dem Gebiet der Forschungsmethoden für die Pflegeforschung Zu dieser Frage haben 91 der 127 Befragten einen Kurztext formuliert. Das daraus gebildete Kategoriensystem zeigt die Tabelle 6. Die meisten Angaben beziehen sich auf konkrete Forschungsmethoden. So wird ein Entwicklungsbedarf in statistischen und quantitativen Verfahren (N=18) und im Methodenmix/Triangulation (N=14) formuliert. Generell lässt sich feststellen, dass die Antworten auf diese Frage das ganze Spektrum der quantitativen und qualitativen Verfahren abdecken, z. B. werden deskriptive und analytische Statistik ebenso genannt wie die Überprüfung etablierter Methoden und qualitative Ansätze. Eine weitere übergeordnete Kategorie sind Fragen der Methodendiskussion und -entwicklung. Sechs Personen thematisieren hier, dass ein methodologischer Diskurs in der Pflegewissenschaft notwendig ist. Dazu gehören die kritische Reflexion von EBN als „nur ein Baustein“ (57), die „kritische nüchterne Diskussion über Nutzen und Grenzen von RCTs“ (61) und die Einschätzung, dass sich viele Fragen in der Pflegewissenschaft nur qualitativ angemessen untersuchen lassen (50). 208 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Kategorie Anzahl Entwicklungsbedarf in methodischen Verfahren Quantitative Verfahren und Statistik 18 Methodenmix/Triangulation 14 Interventionsforschung 5 Metasynthese, -ethnografie, -analyse 4 Aktionsforschung 3 epidemiologische Verfahren / experimentelle Forschung / qualitative Designs / hermeneuti- jeweils 2 sche und phänomenologische Zugänge / Interaktionsforschung / klinische Forschung / Lebensweltforschung Objektive Hermeneutik / Beobachtung / Teilnehmende Beobachtung / Evaluationsjeweils 1 forschung / narrative Methode / Sekundärforschung / Methoden, die über den Gegensatz von quantitativ vs. qualitativ hinausgehen Methodologie, Methodendiskussion Methodendiskussion und -entwicklung in der Pflegewissenschaft ist kaum ausgebildet, Beginn eines methodologischen Diskurses 6 Kritische Beleuchtung von Evidence Based Nursing Methodologie/Qualitative Forschung und Ethik / unideologische Methodenwahl 4 jeweils 3 Verfahren der Bewertung qualitativer Studien, Überprüfung etablierter Methoden für Pfle- jeweils 2 gewissenschaft Entscheidungsfindung innerhalb von Methodenanwendungen systematisieren, Entscheijeweils 1 dungsschwierigkeiten bei fehlenden Methoden, Erhebungsmethoden/-instrumente speziell für geriatrische Patienten bzw. spezifische klinische Gruppen, Ethik, stärkere Einbindung qualitativer Verfahren Forschungsfelder Entwicklungsbedarf für neue Forschungsfelder Erforschung der leibkörperbezogenen Interaktion Praktische Fragen 6 2 Ausbau der Strukturen für Lehre / Theorie-Praxis-Transfer jeweils 4 Finanzierung 3 Praktische Probleme im Forschungsfeld 2 Nutzen für die Pflege 1 Tab. 6: Antworthäufigkeiten der Kategorien zur Frage der Einschätzung des methodischen Entwicklungsbedarfs (N = 91 Angaben) 4. Diskussion Zentrales Ziel der Studie war es, die Methoden-Nutzung und entsprechende Lehrinhalte in der deutschsprachigen Pflegewissenschaft zu analysieren, dabei methodische Schwerpunktsetzungen zu identifizieren und persönliche Weiterentwicklungsbedarfe in der Selbstreflexion der Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler aufzudecken. 209 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass Personen, die sich selbst als Pflegewissenschaftlerinnen/Pflegewissenschaftler verstehen, ein großes Spektrum an wissenschaftlichen Methoden lehren und nutzen. Knapp 70% der Befragten kennen sich sowohl im Feld der qualitativen also auch der quantitativen Forschung aus. Innerhalb der qualitativen Methoden sind die Inhaltsanalyse und Grounded Theory die am häufigsten angewendeten Methoden. Die Daten zu den quantitativen Auswertungsmethoden verdeutlichen, dass von mehr als der Hälfte der Personen der Kanon von deskriptiven, korrelativen und varianzanalytischen Verfahren genutzt wird. In den knapp 40 Freitextantworten zu den genutzten Forschungsmethoden zeigt sich eine große Spannbreite an Methoden, die in der deutschsprachigen Pflegewissenschaft angewendet werden. Hier werden insbesondere auch für die Pflegewissenschaft neuere Methodenentwicklungen, wie z. B. Mehrebenenmodelle oder andere regressionsanalytische Verfahren genannt. In der Untersuchung überwiegen tendenziell quantitative Forschungsdesigns. Ein Vergleich der Methodennutzung zwischen Hochschulen/Fachhochschulen und Universitäten legt dabei nahe, dass im universitären Kontext quantitative Methoden häufiger zum Einsatz kommen. Personen an Fachhochschulen nutzen gleichberechtigt beide Methoden. Lediglich in der Lehre ist eine besondere Dominanz qualitativer Methoden an Fachhochschulen festzustellen. Wie lassen sich diese Unterschiede trotz gleichem Gegenstandsbereich erklären? Ein Erklärungsmodell ist die stärkere Beteiligung von Universitäten an hochdotierten Forschungsprojekten, die eher in Bereichen zu finden sind, in denen Quantifizierungen gefordert sind. Eine Verortung pflegewissenschaftlicher Abteilungen in medizinischen Fakultäten oder Universitätsklinika kann diesen Quantifizierungsdruck noch verstärken. Ebenso kann der Publikationsdruck in „high-impact“-Journals die Tendenz zur Nutzung quantitativer Forschung verstärken. Wenn dieses Erklärungsmodell zutrifft, dann sind also offensichtlich auch strategische Faktoren für die Methodenpräferenz entscheidend und nicht zwingend nur die Gegenstandsangemessenheit. Vor dem Hintergrund der hohen Relevanz von RCTs in der Versorgungsforschung und der Heranziehung entsprechender Studien für Standards, Leitlinien und Richtlinien im Gesundheitswesen (Hallberg 2006) ist aufgrund der Ergebnisse festzustellen, dass dieser Bedarf über Hochschultypen hinweg nicht gedeckt werden kann: Nur jede/r fünfte Befragte gibt an, solche Studiendesigns selbst einzusetzen. Offen bleibt dabei, warum diese Studiendesigns so selten genutzt werden. Die Erklärung einer mangelnden Nutzung aufgrund fehlenden Know-Hows scheint wenig plausibel, da nur knapp ein Viertel der Befragten etwa RCTs als wünschenswertes Fortbildungsthema auswählen. Als möglicher Grund könnte eine unzureichende Mittelausstattung für entsprechende Studien angeführt werden, denn international vergleichende Studien zeigen, dass mit steigenden Drittmitteln die Anzahl an patientenzentrierten Interventionsforschungsarbeiten steigt (Polit/Beck 2009). Außerdem ist die Durchführung solcher Studien in der Pflege auch mit besonderen forschungsethischen Probleme behaftet (Edwards et al. 1998). 210 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Gleichzeitig werden bei der Abfrage der Entwicklungsbedarfe ebenfalls viele wünschenswerte Methodenkompetenzen genannt. Die Antworten reichen von deskriptiver und analytischer Statistik und multivariaten Analyseverfahren, Experimenten, Interventionsstudien und epidemiologischen Studiendesigns, narrativen Methoden, der Nutzung literaturwissenschaftlicher Methoden und komplexen Verfahren wie Kommunikations- und Interaktionsforschung bis hin zu Methodentriangulation, Reviews und Metaanalysen. Auch bei der Abfrage der Fortbildungswünsche im ersten Teil der Befragung zeigt sich ein Bedarf, besonders hinsichtlich der Methoden, die nur selten Lehr- und Forschungsinhalte sind. So werden häufig Fortbildungsbedarfe zur Metaanalyse, Fokusgruppen-Interviews, zur Aktionsforschung und zu phänomenologischen Analysen genannt. Aus den dargestellten Bedarfen lassen sich erste Anhaltspunkte für die Entwicklung von Methodenworkshops ableiten, die durch die Sektion Forschungsmethoden in der DGP nun auch realisiert werden sollen. Aus der Tatsache, dass 45 Personen ihre Bereitschaft bekundet haben, sich an Diskussionen zur Methodenentwicklung zu beteiligen und sich 17 Personen als Referentinnen oder Referenten für entsprechende Fortbildungen angeboten haben, wird deutlich, welche Ressourcen hier genutzt werden können. Die zentrale Frage, ob es eines erweiterten oder veränderten Methodeninventars bedarf, wird in den Antworten zu den Entscheidungsgrundlagen für die Methodenwahl diskutiert. So heißt es dort beispielsweise, der Fokus habe bisher zu sehr auf qualitativen Methoden gelegen (202), in einem anderen Datensatz wird dagegen die „zu starke Orientierung an quantitativen Verfahren“ (116) hervorgehoben. Zu den RCTs heißt es: „Solange RCT´s als die einzig wahre Methode in Puncto Glaubwürdigkeit und Aussagekraft zu sein scheinen, beraubt sich die Wissenschaft (nicht nur die Pflegewissenschaft) vieler spannender Ergebnisse, welche im weiteren Verlauf möglicherweise durch „höherwertige“ Methoden weiterentwickelt werden. Lobbyarbeit wäre also das Thema.“ (111) Das offensichtlich noch existente Akzeptanzproblem qualitativer Forschung klingt auch in einem weiteren Beitrag an: „Sehe keinen Sinn darin, mit medizinischer, psychologischer, sozialwissenschaftlicher Forschung zu konkurrieren, sondern kontextspezifische „kleine“ Methoden zu entwickeln, eher anwendungsorientiert“ (167). Andererseits wird auch ein „Austausch mit Fachrichtungen wie Statistik, Psychologie“ vorgeschlagen (184) und sehr pragmatisch empfohlen, einen „unideologischen gegenstandsangemessenen Zugang zu wählen und nicht in Kästchendenken zu verhaften“ (47). Zu dieser Forderung passt, dass relativ häufig auch Entwicklungsbedarfe im Bereich der Triangulation/mixed methods genannt werden, was auch Bartholomeyczik (2004) fordert. Von mehreren Befragten wird auf das Fehlen eines entsprechenden methodologischen Diskurses in der Pflegewissenschaft hingewiesen. Dies entspricht der Beobachtung von Moers und Schaeffer (2011), welche darauf hinweisen, dass eine vertiefende Fundierung pflegerischen Wissens in Form von Theoriebildung in den deutschsprachigen Ländern zurzeit noch ausbleibt. Auch bedingt durch die pflegewissenschaftliche Praxisnähe, könnte dies auf einen Mangel innerhalb der Disziplin hinweisen und dadurch Überformungsversuchen anderer Wissenschaftsdis211 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 ziplinen entgegenkommen (Moers/Schaeffer 2011). Dahinter steckt die Forderung, dass ein Theoriediskurs dringend angeregt werden sollte, da Forschung und Theoriebildung eng miteinander verwoben sind. Dies könnte der Forderung einiger Studienteilnehmer entsprechen, die eine kritische Auswahl in der Anwendung der Methode fordern. 4.1 Limitationen Die Frage der Methodenangemessenheit ist auch für die Online-Befragung selbst zu diskutieren. Die Entscheidung für eine Online-Befragung begründet sich aus dem Ziel, viele Pflegewissenschaftlerinnen/-wissenschaftler mit geringem Aufwand zu erreichen. Dafür wurden methodenimmanente Limitation in Kauf genommen, die die Generalisierbarkeit und die Validität der Daten betreffen. 4.1.1 Generalisierbarkeit Den Angaben zufolge handelt es sich meist um diplomierte und/oder promovierte Personen, die sich selbst als Pflegewissenschaftler verstehen, aber nicht zwingend ein pflegewissenschaftliches Studium absolviert haben. Die Fokussierung auf diese Berufsgruppe wurde durch die Ansprache über den Email-Verteiler der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft und entsprechende Hinweis auf pflegewissenschaftlichen Konferenzen erreicht. Dies engt den Kreis der Personen ein. Dennoch ist der Begriff der „Pflegewissenschaftler“ unscharf konturiert und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch fachverwandte Personen den Bogen ausgefüllt haben. Dass nahezu 80% über eine Ausbildung im Pflegebereich verfügen zeigt auf, dass die meisten Pflegewissenschaftler von der Praxis in die Wissenschaft wechselten. Die Heterogenität der universitären Abschlüsse, die nur zu 43% innerhalb pflegewissenschaftlicher Studiengänge absolviert wurden, zeigt eine Nähe zu den Bezugswissenschaften. Eine mögliche Einschränkung der Generalisierbarkeit ergibt sich durch den besonderen Zugang zur Befragung. So ist es möglich, dass Personen ausgeschlossen wurden, die durch einen fehlenden Internetzugang keine Informationen über die Befragung erhalten haben oder aber nicht in der Lage waren, aufgrund technischer Probleme den Fragebogen einzusehen („Coverage-Effekt“). Gelegentlich gibt es „Nonrespondents“, die auf die Bitte zur Teilnahme nicht reagieren, weil sie dieser Form der Befragung skeptisch gegenüber stehen oder die Anonymität bedroht sehen (Jackob et al. 2008). Diese Verzerrungsmöglichkeiten müssen bei der Generalisierung der Ergebnisse berücksichtigt werden. Durch die Anonymität der Befragung, die Versendung eines nicht-personalisierten Links und die fehlende IP-Kontrollen kann nicht ausgeschlossen werden, dass Personen mehrfach an der Befragung teilgenommen haben. Gleichwohl wäre aber nach den Motiven zu fragen, wieso jemand an der knapp zehnminütigen Befragung mehrfach mitwirken sollte. Die Vielzahl der Freitextantworten (114 Bögen mit Freitextantwor212 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge ten bei insgesamt 127 vollständigen Datensätzen) und der Inhalt zeigen, dass die Personen reflektiert die Fragen beantwortet haben und ein hohes Interesse an der Weiterentwicklung der Forschungsmethodik in der Pflegewissenschaft bekundet wird. 4.1.2 Validität Aus Studien zum Vergleich von Paper-Pencil-Tests und Online-Tests ist bekannt, dass Verzerrungen durch Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit bei solchen Befragungen reduziert sind. Durch die größere Anonymität werden also verlässlichere Angaben als bei anderen Formen der schriftlichen Befragung oder einem Vis-avis-Interview gemacht. So wundert es nicht, dass bei den offenen Fragen auch selbstkritische Stellungnahmen formuliert wurden, zum Beispiel, dass oft allein Zeitnot und fehlendes Fachwissen die Methodenwahl bestimmen. Bei offenen Fragen in Online-Befragungen besteht die Gefahr, dass Informationen semantisch verkürzt formuliert werden, die dann bei der Zuordnung in Kategorien einen Deutungsspielraum lassen. Nachfragen sind bei dieser Form der Abfrage nicht möglich und Verständnisschwierigkeiten lassen sich nicht angemessen klären. Daher wurden die Antworten hier nur im Sinne einer quantifizierenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Der Vergleich der Ergebnisse, bei denen Auswahloptionen vorgegeben wurden und denen der freien Texte zeigt eine hohe Übereinstimmung, z. B. hinsichtlich der Fortbildungswünsche, so dass dies als Hinweis auf die Validität der Befragung gewertet werden kann. Im Gegensatz zu den häufig genutzten bibliometrischen Studien zur Methodennutzung beziehen sich die Abfragen unmittelbar auf die Einstellungen und Nutzungen der Pflegewissenschaftlerinnen und Pflegewissenschaftler und nicht auf deren Publikationsleistung. Damit ist eine personen-, zeit- und verhaltensnahe Einschätzung der Präferenz in Forschung und Lehre gelungen. Die durchgeführte deskriptive Befragung ist aber nicht geeignet, die Gegenstandsangemessenheit der genutzten oder gelehrten Methoden zu bewerten. Die Abfrage der Entwicklungsbedarfe wurde meist im Sinne einer persönlichen Entwicklung statt einer disziplinbezogenen Entwicklung interpretiert und müsste durch andere Studien dahingehend ergänzt werden. Die Ergebnisse der Studie zeigen Parallelen zwischen Bibliometrie und dieser Online-Studie. Beide Zugänge bestätigen, dass Methoden für Interventionsstudien (z. B. RCTs, multivariate Verfahren) eher selten zur Anwendung kommen, während qualitative oder mixed-method-Studien häufiger zu finden sind (Polit/Beck 2009). Auch der Anteil an Personen, die laut Online Befragung Validierungsstudien durchführen, entspricht in etwa dem internationalen Trend von 12% (Polit/Beck 2009). Die vorliegenden Ergebnisse zeigen also trotz der beschriebenen Limitationen aktuelle Trends in der Methodennutzung und der Lehre. Im Längsschnittvergleich wird es spannend sein zu sehen, welche Veränderungen sich in den deutschsprachigen Ländern ergeben werden. Ob die genutzten und gelehrten Methoden für den Gegenstand angemessen sind, muss nun vor dem Hintergrund der Anforderungen diskutiert wer213 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 den. Entsprechende Diskurse zu entfalten ist auch eine wichtige Forderung der Studienteilnehmer – ebenso wie die Aufforderung, durch das Miteinander von Forschenden verschiedener Forschungsrichtungen die eigene Methodenkompetenz zu stärken. Die Online-Befragung selbst, die in der Zusammenarbeit von Pflegewissenschaftlern aus unterschiedlichen Methodenfeldern entstanden ist, ist ein Beleg für die fruchtbare interdisziplinäre und multimethodale Zusammenarbeit. Literatur ATLAS.ti Scientific Software Development GmbH (2011): ATLAS.ti. Version 5.7 [Computer software].Berlin: ATLAS ti GmbH Barrett, E.A.M (1998): Unique nursing research methods: The diversity chant of pioneers. In: Nursing Science Quarterly 11, 94-96 Bartholomeyczik, S. (2004): Pflegeforschung: Entwicklungen und Perspektiven in deutschsprachigen Ländern. Vorwort zur deutschen Ausgabe. In Polit, D. F./Beck, C. T./Hungler, B. P.: Lehrbuch Pflegeforschung. Methodik, Beurteilung und Anwendung. 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Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Ingrid Darmann-Finck Wirkungen einer akademischen Erstausbildung von professionell Pflegenden im Spiegel internationaler Studien Effects of a basic academic training for nurses in the light of international studies The ar ticle investigates whether benefits can be expected from nurses taking a Bachelor`s degree and receiving basic academic training. The findings are based on literature research in two internationally relevant data bases. No studies were found that indicate any causal relationships. The literature does provide convincing evidence that there is a significant positive association between the number of nursing staff possessing a Bachelor degree and the patient outcome. However the findings are ambiguous with regard to the development of nursing competences. In the following the methodical limitations of the studies reviewed and the conclusions to be drawn when designing programs of study are pointed out. Keywords Bachelor Degree in Nursing, Patient Outcome, Nursing Competence Der Ar tikel geht auf der Basis einer Literaturrecherche in zwei internationalen Fachdatenbanken der Frage nach, welche Zugewinne von einer Erstausbildung von Pflegenden auf Bachelorniveau für die Kompetenzen von Pflegenden einerseits und das Patientenoutcome andererseits zu er war ten sind. Auch wenn die gefundenen Studien nicht geeignet sind, kausale Zusammenhänge festzustellen, kann aber als gesicher t gelten, dass ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen dem Anteil von Pflegenden mit einer Bachelorqualifikation und dem Patientenoutcome besteht. Bezogen auf die Kompetenz bzw. Per formanz der Bachelorpflegenden ist die Studienlage nicht eindeutig. In der Diskussion wird auf methodische Limitierungen ebenso hingewiesen wie auf Konsequenzen für die Konzeption von primärqualifizierenden Studiengängen. Schlüsselwörter Erstausbildung auf Bachelorniveau, Patientenoutcome, Pflegekompetenz 1. Hintergrund 2010 wurden in Deutschland 22 grundständige, überwiegend duale pflegeausbildende Bachelorstudiengänge angeboten (Stöcker et al. 2010).1 Weitere Studiengänge an verschiedenen Standorten sind inzwischen an den Start gegangen bzw. befinden sich in Planung. Der deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe sieht mit der Etablierung dieser 1 Vier davon sind nicht mit einer Berufszulassung verknüpft. eingereicht 28.10.2011 akzeptiert 24.02.2012 (nach Überarbeitung) 216 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Studiengänge „eine Entwicklung hin zu europäischer Normalität“ realisiert (Stöcker et al. 2006: 839), was insofern zutrifft, als in den meisten europäischen Ländern zumindest ein Teil der professionell Pflegenden akademisch qualifiziert wird. Von der Akademisierung der Pflegeerstausbildung werden Impulse für die Professionalisierung der deutschen Pflege erwartet. Zum einen wird mit der akademischen Ausbildung ein Professionsmerkmal erfüllt, zum anderen sollten Pflegende dadurch eher in der Lage sein, den Oevermannschen Ansprüchen, sich „auf eine methodisch kontrollierte und nach expliziten Geltungskriterien bewährte erfahrungswissenschaftliche Wissensbasis (zu) berufen“ und dieses Wissen im Arbeitsbündnis mit dem Klienten anzuwenden, näher zu kommen (Oevermann 1997: 124). Aus diesem Kompetenzzuwachs lässt sich wiederum eine Anhebung der Pflegequalität ableiten. In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft fassen Stemmer et al. (2007) zusammen, dass Bachelorabsolventen beispielsweise über ein kritisches Verständnis der wichtigsten pflegewissenschaftlichen und pflegerelevanten Theorien, Prinzipien und Methoden, über die Kompetenz zur Analyse pflegerelevanter Situationen und Ableitung wissenschaftlich fundierter Urteile, die Fähigkeit zur Interpretation von wissenschaftlichem Regelwissen im Kontext von hermeneutischem Fallverstehen, zur Unterstützung anderer an der Pflege Beteiligter in ihrer Reflexionsfähigkeit und zur Erarbeitung und Weiterentwicklung von Problemlösungsstrategien verfügen (sollten). Nur selten werden in der deutschen Diskussion empirische Belege für diese theoretisch formulierten Erwartungen angeführt. Dielmann (2003), der der Akademisierung der Pflegeerstausbildung kritisch gegenüber steht, beruft sich in seiner Argumentation gegen eine Akademisierung der Erstausbildung auf eine internationale Vergleichsstudie des Picker Instituts der Universität Oxford (Coulter et al. 2001), in der die Patient/innenzufriedenheit mit der gesundheitlichen Versorgung durch Pflegende und Ärzt/innen im Krankenhaus in fünf verschiedenen Ländern (Großbritannien, USA, Deutschland, Schweiz und Schweden) untersucht wurde. Die deutschen Pflegenden rangieren dem Urteil der Patient/innen zufolge fast durchgängig an zweiter Stelle hinter der Schweiz. Das Verhalten der Pflegenden in Schweden, im Vereinigten Königreich und in den USA wird weitaus schlechter beurteilt, – und das, obwohl in diesen Ländern die Akademisierung des Pflegepersonals schon wesentlich weiter vorangeschritten ist als in Deutschland. Von Dielmann nicht erwähnt, für die Interpretation aber zentral, ist allerdings die Feststellung von Coulter et al. (2001), dass im Befragungszeitraum im Vereinigten Königreich und in Schweden ein erheblicher Mangel an Pflegepersonal bestand, was sich in den Einschätzungen der Patient/innen hinsichtlich der „Verfügbarkeit von Pflegenden“ niederschlägt. Stemmer (2003) zieht eine Studie von Sinclair (1991, Erstveröffentlichung 1987 in der Zeitschrift Nurse Education Today) heran, um den Nutzen einer Ausbildung auf Bachelorniveau zu begründen. Den in dieser Studie erhobenen Selbsteinschätzungen von Bachelorabsolventen zufolge verfügen sie über vergleichsweise höhere Kompetenzen in den Bereichen Problemlösung, Nutzung der Ergebnisse wissenschaftlicher Studien und Kommunikation. Nicht nur wegen der mangelnden Aktualität, auch aufgrund der verwendeten Forschungsdesigns und Methoden können die zitierten Studien jedoch kaum als ernstzunehmende Argu217 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 mentationsgrundlage dienen. Beide Studien beruhen nämlich auf subjektiven Fremd(Coulter 2001) bzw. Selbsteinschätzungen (Sinclair 1987), die Studie von Sinclair stützt sich darüber hinaus nur auf eine kleine Anzahl von Proband/innen. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des vorliegenden Beitrags, eine Übersicht über die Studienlage zum Nutzen bzw. zum Zugewinn durch eine Akademisierung der Erstausbildung von Pflegenden zu geben. Dabei liegen Ergebnisse nur aus den Ländern vor, in denen Bachelorstudiengänge schon länger etabliert sind als in Deutschland, allen voran den USA und Großbritannien. In beiden Ländern besteht ein gestuftes Ausbildungssystem. In den USA sind dem Status der registrierten Pflegefachkraft (Registered Nurse/RN) neben Pflegenden mit einem Bachelor of Science Degree in Nursing (BSN) außerdem Pflegende mit einem Associate Degree in Nursing (ADN) und Pflegende mit einem Diploma in Nursing zuzuordnen, wobei nur der Bachelorabschluss eine akademische Qualifikation darstellt (HRSA 2010). Unterhalb des Status der registrierten Pflegenden sind die Licensed Practical Nurses (LPN) bzw. Licensed Vocational Nurses (LVN) sowie Nurse Assistants anzusiedeln (ebd.). Pflegende mit einem Bachelorabschluss machen gegenwärtig ca. ein Drittel der registrierten Pflegenden aus. In Großbritannien existieren zwei Abschlüsse, die beide den Zugang zur Registrierung erlauben, nämlich erstens das Diploma in Higher Education und zweitens der Bachelor of Science in Nursing, wobei das Diploma einen vor-akademischen Grad darstellt und an Colleges erworben wird (Filkins et al. 2005: 87 ff.). In der direkten Pflege werden die registrierten Pflegenden von Nursing Aides bzw. Healthcare Assistants unterstützt (National Nursing Research Unit 2009). Methoden Grundlage des folgenden Beitrags ist eine Literaturrecherche in den Datenbanken Pubmed und Cinahl anhand der Begriffe educational level, Bachelor, Baccalaureate, graduate AND nurse in Kombination mit den Begriffen competency, competence, patient outcome, effect und benefit. Weitere Literatur wurde mittels Durchsicht der Literaturverzeichnisse gefundener Publikationen gewonnen. Berücksichtigt wurden Studien, die in englischsprachigen Pflegezeitschriften der letzten 10 Jahre (zum Zeitpunkt der Recherche ab dem Jahr 2000) veröffentlicht wurden (Ausnahme ein Review aus dem Jahr 1999). Bei der folgenden Durchsicht der Abstracts wurden solche Studien ausgeschlossen, die thematisch nicht relevant waren, die sich zwar auf unterschiedliche Ausbildungsniveaus, nicht aber speziell auf den Bachelorabschluss beziehen und die nicht aus dem westlichen Kulturraum stammen. Auf der Grundlage der Vollversionen wurden alle gefundenen Studien anhand ihrer Fragestellung geordnet und einer methodischen Beurteilung unterzogen. Geprüft wurden das Forschungsdesign, die Erhebungsmethoden, die Zusammensetzung des Samples und die Auswertungsverfahren. Auswahl und Qualitätsbeurteilung der Studien erfolgten lediglich durch die Autorin, so dass auch keine Interrater-Reliabilität ausgewiesen werden kann. 218 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge 2. Ergebnisse Die fünfzehn gefundenen Studien und Reviews lassen sich dahingehend differenzieren, welche Ergebnisparameter sie untersuchen, nämlich Kompetenz (1 Review, 2 Studien) bzw. Performanz (4 Studien) der professionell Pflegenden oder das Patientenoutcome (8 Studien). Kompetenz bzw. Performanz als Ergebnisparameter Im deutschsprachigen Raum wird unter Kompetenz das Potenzial eines Subjekts verstanden, in immer neuen Situationen adäquate Handlungen hervorzubringen (Erpenbeck et al. 2003: XI). Mit dem Begriff Performanz wird dagegen auf die tatsächlich erbrachten und beobachtbaren Leistungen abgehoben. International werden diese beiden Ansätze nicht so strikt voneinander getrennt, vielmehr wird mit dem Begriff Kompetenz sowohl Kompetenz als Disposition als auch Kompetenz als Performanz bezeichnet (Darmann-Finck et al. 2011). Die im Folgenden präsentierten Ergebnisse beziehen sich folglich auch auf beide Aspekte. Die meisten Studien, die sich mit dem Einfluss des Ausbildungsniveaus auf die Kompetenzen der Pflegenden beschäftigen, fokussieren die Fähigkeit des „Critical Thinking“. Critical Thinking gilt seit Ende der 1980er Jahre als spezifisches Qualitätsmerkmal grundständiger und konsekutiver Pflegestudiengänge und wird seitdem etwa in den USA im Rahmen von Akkreditierungsverfahren an vielen Hochschulen systematisch erfasst (Walsh et al. 2005). Critical Thinking beschreibt eine höhere kognitive Fähigkeit, die bei komplexen Problemen, für die keine standardisierten Problemlösungen zur Verfügung stehen, zur Anwendung kommt (Adams 1999). Studien, in denen der Zugewinn bezogen auf Critical Thinking durch eine akademische im Vergleich zu einer Erstausbildung auf Collegeniveau untersucht wird, reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Gefunden wurden ein Review und zwei weitere Studien (Tabelle 1). Das US-amerikanische Review von Adams aus dem Jahr 1999, in dem die Ergebnisse von 20 Studien einfließen, die zwischen 1977 und 1995 durchgeführt wurden, präsentiert in erster Linie eine Synthese der Studienergebnisse, keine Bewertung der Studiendesigns und Methoden. Aus der Aufstellung geht aber hervor, dass die Studien auf sehr unterschiedlichen Designs basierten (Längsschnitt-, Querschnitts-, Vergleichs- und Korrelationsstudien, z.T. deskriptive Studiendesigns). Bei der Studie von Girot (2000) handelt es sich um eine quasi-experimentelle Untersuchung, bei der Studie von Fero et al. (2009) um die retrospektive Analyse von im Rahmen eines Assessments gewonnenen Daten, d.h. die Daten wurden ursprünglich für einen anderen Zweck generiert. Bezogen auf die Messinstrumente lässt sich feststellen, dass in 18 der in dem Review von Adams (1999) berücksichtigten Studien sowie in der Studie von Girot (2000) das WatsonGlaser Critical Thinking Appraisal (WGCTA) (http://www.talentlens.com/ en/watson/) herangezogen wurde. Dabei handelt es sich um ein paper and pencil assessment, das allgemeine Fähigkeiten der klassischen Logik überprüft. Die spezifischen 219 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Herausforderungen des Handlungsfeldes der professionellen Pflege und die domänenspezifischen Fähigkeiten der klinischen Problemlösung und Entscheidungsfindung (Hülsken-Giesler 2008; Remmers 2000) kann das Instrument nur zum Teil erfassen. Fero et al. (2009) verwenden einen Test, bestehend aus 10 auf Video aufgezeichneten Fallvignetten mit geläufigen klinischen Patient/innenproblemen, zu denen die Probanden Aufgaben bearbeiten mussten (Ermittlung von Pflegeproblemen und Identifikation von geeigneten Interventionen). Die Videovignetten ermöglichen zwar einen engeren Bezug zur Berufswirklichkeit, da es sich aber um Simulationen handelt, ist unklar, ob sie tatsächlich die Berufswirklichkeit abbilden. Sowohl beim WGCTA als auch bei den Videovignetten ist folglich die Validität fraglich. Dadurch, dass die Daten in der Studie von Fero et al. (2009) im Rahmen eines Assessments für ein Universitätsklinikum gewonnen wurden, ist das Sample möglicherweise nicht typisch für die Grundgesamtheit der Pflegenden. Adams (1999) kommt in ihrem Review nicht zu eindeutigen Ergebnissen. In zehn der einbezogenen Studien konnten signifikante Zusammenhänge zwischen einer Qualifikation auf Bachelorniveau und der Fähigkeit kritischen Denkens nachgewiesen werden, bei sechs Studien war kein Zusammenhang erkennbar und vier Studien kamen zu gemischten Ergebnissen. Ähnlich uneinheitlich sind auch die Ergebnisse neuerer Studien zum Zusammenhang von kritischem Denken und Ausbildungsniveau. So stellt Girot diesbezüglich keinen signifikanten Unterschied zwischen englischen Pflegenden mit und ohne Bachelorabschluss fest, wohl aber verfügen Pflegende mit Bachelorabschluss über bessere Fähigkeiten zum „decision making in practice“ (Girot 2000). Fero et al. (2009) kommen zu dem Schluss, dass bezogen auf die Gesamtheit der Pflegenden keine Kompetenzunterschiede zu ermitteln waren, die Bachelorpflegenden und die ADN-Pflegenden aber mit zunehmender Berufserfahrung ein höheres Kompetenzniveau erreichten als die Pflegenden mit einem Diploma in Nursing. Stärker auf Performanz zielen Studien, in denen anhand von Selbsteinschätzungen beruflich Pflegender oder Fremdeinschätzungen durch z. B. leitende Pflegekräfte die Häufigkeit von bestimmten Tätigkeiten erhoben wird (Tabelle 2). In die vorliegende Darstellung wurden nur Studien einbezogen, in denen nicht eine einzelne Tätigkeit (z. B. korrekte Händedesinfektion oder Mundpflege bei Krebspatient/innen), sondern ein größeres Spektrum an Performanzen überprüft wurde. In diese Rubrik fallen zwei englische Studien, in denen Unterschiede zwischen Pflegenden mit Bachelorabschluss und Pflegenden mit einem Diploma in Nursing untersucht werden sollten. Mit der Umsetzung des Projekts 2000 ist die Pflegeausbildung in Großbritannien zwar ausschließlich an Universitäten angesiedelt, nach wie vor verfügten 2005 aber lediglich ca. 20% der Pflegenden über einen akademischen Abschluss, 80% erwarben auf der Basis eines Undergraduate-Studiums ein Diplom. Im Unterschied zur Diplomausbildung zielt die Bachelorausbildung stärker auf eine forschungs- und wissensbasierte Praxis, auf Veränderung und Innovation (Clinton et al. 2005), die Studien verfolgen daher die Fragestellung, ob sich diese Unterschiede auf die Performanz der Absolvent/innen auswirken. 220 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Autoren (Jahr) Forschungsdesign Adams (1999) Review auf der Basis von 20 Das Sample bewegt sich zwiStudien, darunter Längsschen 14 und 429 schnittstudien, Querschnittsstudien, komparative Studien und Korrelationsstudien Messinstrument: in 18 Studien das WGCTA Keine eindeutigen Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Ausbildungsniveau und critical thinking Girot (2000) Quasi-experimentelle Studie Messinstrument: WGCTA Keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des kritischen Denkens zwischen den Gruppen Fero et al. Retrospektive Analyse eines (2009) Assessments Messinstrument: Videovignetten und problembasierte Aufgabenstellungen Sample 82 Pflegekräfte verteilt auf 4 Gruppen mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus und unterschiedlicher Berufserfahrung 2144 Pflegekräfte einer Universitätsklinik, davon 31% Diploma in Nursing, 41% ADN und 28% BSN Ergebnisse Keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Kompetenz bezogen auf die Gesamtheit der Pflegenden, bei BSN-Pflegenden und ADNPflegenden steigt das Kompetenzniveau signifikant mit der Berufserfahrung, bei Pflegenden mit einem Diploma in Nursing nicht Tab. 1: Studien zum Zusammenhang zwischen Qualifikation auf Bachelorniveau und Kompetenz Bartlett et al. (2000) vergleichen die Performanz von Pflegenden mit einem Bachelorabschluss und mit einem Diploma in Nursing mittels einer Längsschnittstudie zum Zeitpunkt des Berufsabschlusses, 6 Monate und 12 Monate danach anhand von Selbsteinschätzungen der Pflegenden und Fremdeinschätzungen durch Mentor/innen auf der Basis eines Messinstruments mit neun Verhaltensdimensionen und jeweils 6-21 Items. Clinton et al. (2005) haben mittels einer Querschnittsstudie die Selbsteinschätzungen der Pflegenden und Fremdeinschätzungen durch Pflegemanager anhand des Nursing Competencies Questionaire bezogen auf verschiedene Ausbildungsniveaus (Pflegende mit Bachelorabschluss und Diplom) und Berufserfahrung, nämlich ein, zwei und drei Jahre nach Abschluss der Qualifizierung, erfasst. Das Nursing Competencies Questionaire enthält zehn Konstrukte (Führung, Professionelle Entwicklung, Assessment, Pflegeplanung, Intervention, Kognitive Fähigkeiten, soziale Teilhabe, Selbstbewusstsein, Research awareness, policy awareness) mit jeweils 6-21 Items, wobei jedes Item eine Pflegeaktivität oder -aufgabe beschreibt und die Proband/innen anhand von vier Antwortalternativen angeben müssen, wie häufig sie jede Aufgabe innerhalb des letzten halben Jahres praktiziert haben. In der US-amerikanischen Studie Smith (2002) wird anhand von standardisierten Befragungen Pflegender mit unterschiedlichem Ausbildungsniveau verglichen, wie oft sie bestimmte (189) Pflegetätigkeiten durchführen. Häufig zitiert wird die ebenfalls 221 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 US-amerikanische Studie von Goode et al. (2001), in der leitende Pflegende (Chief Nursing Officers) von 44 Kliniken, die Mitglied des University HealthSystem Consortiums sind, dahingehend befragt wurden, ob sie in der Pflegepraxis Unterschiede zwischen Pflegenden mit und ohne Bachelorabschluss (associate degree Nurses oder diploma-prepared Nurses) wahrnehmen. Unter den gefundenen Studien ist eine Längsschnittstudie, außerdem liegen eine Querschnittsstudie und zwei Umfragen vor. In den Studien kommen verschiedene Messinstrumente zur Selbst- und zur Fremdeinschätzung zum Einsatz. Einer Studie von Norman et al. (2002) zufolge hat das Nurse Competencies Questionaire eine gute interne Konsistenz, bildet aber, wie andere Instrumente auch, nur einen Teilbereich klinischer Kompetenz ab. Außerdem ist es nur bedingt in der Lage, tatsächlich zwischen kompetent und inkompetent zu differenzieren. Aus ihren Studienergebnissen schließen die Autor/innen, dass kein einzelnes Instrument in der Lage ist, klinische Kompetenz umfassend zu erheben. An den Studien, die Pflegende mit und ohne Bachelorabschluss einige Zeit nach Erwerb des beruflichen Abschlusses vergleichen, ist eine Verzerrung im Sample in Rechnung zu stellen, weil nämlich insbesondere leistungsstarke Pflegende mit einem Bachelorabschluss ein Masterstudium anschließen und daher nicht mehr in die Befragung integriert sind. Zum Zeitpunkt des Berufsabschlusses identifizierten Bartlett et al. (2000) keine signifikanten Unterschiede mit Ausnahme der Führungskompetenz, die bei den Pflegenden mit einem Diploma in Nursing besser ausgeprägt war, was sich aber in den Folgemonaten relativierte. Nach einem halben Jahr wiesen die Bachelorpflegenden signifikant höhere Werte in den Dimensionen professionelle Entwicklung, Assessment und Selbstbewusstsein (ego strength), nach 12 Monaten nur noch in der Dimension professionelle Entwicklung auf. Clinton et al. (2005) können in der Gesamtkompetenz (overall competence) wie auch bei den spezifischen Kompetenzen keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Ausbildungsstufen feststellen, sondern konstatieren hohe Kompetenz bei beiden Gruppen. Zum Teil schätzen die Pflegenden mit einem Diploma in Nursing ihre spezifischen Kompetenzen nicht-signifikant höher ein als die Bachelorabsolventen, was die Autor/innen zu der Vermutung veranlasst, dass letztere möglicherweise selbstkritischer sind. Ein Unterschied von Pflegenden mit und ohne Bachelorabschluss wird auch in der Befragung von Smith (2002) nicht festgestellt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Pflegende ein halbes Jahr nach Beendigung ihrer Ausbildung unabhängig von deren Niveau die meiste Zeit mit Routinetätigkeiten verbringen und eher selten komplexe bzw. anspruchsvollere Tätigkeiten durchführen, wie beispielsweise Anleitung und Schulung von Patient/innen. Eine Aussage über die Qualität der Durchführung kann auf der Basis der Studie freilich nicht getroffen werden. In der Studie von Goode et al. (2001) geben 71% der Befragten an, bei den Pflegenden mit Bachelorabschluss höhere Kompetenzen beobachten zu können. An erster 222 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Autoren (Jahr) Forschungsdesign Sample Ergebnisse Bartlett et al. Längsschnittstudie zu (2000) drei Zeitpunkten: Berufsabschluss sowie 6 und 12 Monate später Messinstrument: zwei vorhandene Messinstrumente werden zusammengeführt 52 BSN und 28 Diploma in Nursing Unmittelbar nach dem Berufsabschluss signifikant bessere Werte in Bezug auf die Führungskompetenz bei den Pflegenden mit Diploma in Nusing, nach einem Jahr signifikant bessere Werte in der professionellen Entwicklung bei Bachelorpflegenden Clinton et al. Querschnittstudie (2005) Messinstrument: Nurses competenencies Questionaire 166 BSN und 188 Keine signifikanten Unterschiede Diploma in Nursing mit unterschiedlicher Berufserfahrung (ein, zwei und drei Jahre nach Berufsabschluss) Smith (2002) Sekundäranalyse eines Surveys 1776 neu lizensierte Keine Unterschiede bei Pflegenden Pflegekräfte mit und mit und ohne Bachelorabschluss ohne Bachelorabschluss Goode et al. (2001) Survey 44 Führungskräfte von academic health center hospitals Höhere Kompetenzen bei Bachelorabsolventen Tab. 2: Studien zum Zusammenhang zwischen Qualifikation auf Bachelorniveau und Performanz Stelle werden bessere Fähigkeiten in „critical thinking“ genannt, gefolgt von einer geringeren Aufgabenorientierung, höherer Professionalität, besseren Führungsqualitäten, einem stärkeren Fokus auf Pflegeergebnissen, einer vermehrten Beachtung von psychosozialen Komponenten, besseren Kommunikationsfähigkeiten und einem größerem Fokus auf Anleitung und Schulung von Patient/innen. Resümierend kann festgehalten werden, dass die gefundenen Studien zum Zusammenhang zwischen einer Qualifikation von Pflegenden auf Bachelorniveau und ihrer Kompetenz bzw. Performanz bislang zu uneinheitlichen Ergebnissen kommen. Derzeit gibt es keinen empirischen Beleg für die Annahme, dass Bachelorpflegende über ein höheres Kompetenz- bzw. Performanzniveau verfügen. Dieses Ergebnis sollte aber nicht vorschnell auf mangelnde Kompetenz- bzw. Performanzunterschiede zurückgeführt werden, denn die Studien weisen einige methodische Schwächen auf. Patientenoutcome als Ergebnisparameter International existiert eine Vielzahl an Studien, anhand derer Strukturvariablen auf Seiten der Pflegenden in Beziehung zum Patientenoutcome und zur Arbeitszufriedenheit der Pflegenden gesetzt werden. Untersucht wurde bislang vor allem die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der Personalbesetzung und Patient/innenergebnissen bestehen. Die Studien stimmen in ihren Resultaten dahingehend überein, dass der Personalschlüssel in der Pflege einen erheblichen Einfluss auf das Patientenoutcome (z. B. 223 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Autoren (Jahr) Forschungs- Sample design Untersuchte Outcomes Ergebnis Aiken et al. (2003) Quer232.342 Chirurgische schnittstudie Patient/innen 9989 Pflegende 168 Krankenhäuser in Pennsylvania Tod nach erlittener Komplikation (Failure-to-rescue) 30 Tage-Mortalität Signifikant negative Zusammenhänge mit Tod nach Komplikation und 30 Tage-Mortalität Estabrooks Quer18.142 Patient/innen mit 30 Tage-Mortalität Signifikant negative Zuet al. (2005) schnittstudie unterschiedlichen intersammenhänge mit 30 Tanistischen Erkrankungen ge-Mortalität (Herzinfarkt, Pneumonie, COPD, häufiges Herzversagen) und Patient/innen nach Schlaganfall 6526 Pflegende 49 Krankenhäuser in Alberta Friese et al. (2008) Sekundäranalyse der o.g. Querschnittstudie von Aiken et al. (2003) 25.957 Chirurgische Onkologische Patient/innen 9.989 Pflegende 168 Krankenhäuser in Pennsylvania Tod nach erlittener Komplikation 30 Tage-Mortalität Komplikationen Signifikant negative Zusammenhänge mit Tod nach erlittener Komplikation und 30 Tage-Mortalität, allerdings nicht bei der Anzahl der Komplikationen Kutney-Lee Sekundäret al. (2008) analyse der o.g. Querschnittstudie von Aiken et al. (2003) 228.433 Chirurgische Patient/innen, davon 10.666 Patient/innen mit ernsthafter psychischer Erkrankung 9989 Pflegende 157 Krankenhäuser in Pennsylvania Tod nach erlittener Komplikation (Failure-to-rescue rate) 30 Tage-Mortalität Aufenthaltsdauer im Krankenhaus Keine signifikanten Zusammenhänge mit Tod nach erlittener Komplikation und Mortalität, aber positiver Zusammenhang mit Verkürzung der Aufenthaltsdauer Tourangeau Queret al. (2006) schnittstudie Getestet wurden 16 Hypothesen 46.993 Patient/innen mit 30 Tage-Mortalität akuten internistischen Erkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Pneumonie, Sepsis) 5.980 Pflegende 75 Krankenhäuser in Ontario Van den Heede et al (2009b) 224 Quer9054 Patient/innen nach Mortalität im schnittstudie einer Herzoperation Krankenhaus 28 belgische Herzzentren mit 58 Intensiv- und 75 peripheren Stationen Signifikant negative Zusammenhänge (45% der Varianz in der 30-Tage Mortalität konnten anhand von 8 Prädiktoren erklärt werden) Signifikante negative Zusammenhänge auf peripheren Stationen mit Mortalität in der Klinik, nicht aber auf Intensivstationen Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Autoren (Jahr) Forschungs- Sample design Blegen et al. Sekundära(2001) nalyse einer Querschnittstudie Van den Heede et al. (2009a) Untersuchte Outcomes Patient/innen in AkutSturzrate krankenhäusern MedikamentenInsgesamt 81 Stationen fehler in insgesamt 12 Krankenhäusern, keine Angaben zur Anzahl der Patient/innen und Pflegenden Quer260.923 Chirurgische, schnittstudie internistische und Intensivpatient/innen 115 belgische Akutkrankenhäuser, 1403 Stationen, einschl. Intensivstationen Ergebnis Keine signifikanten Zusammenhänge mit der Sturzrate und den Medikamentenfehlern 10 Patientenout- Keine signifikanten Zucomes (Dekubitus, sammenhänge tiefe Venenthrombose, Schock, postoperativer Atemstillstand, postoperative Komplikationen und Infektionen, Infektionen des Harntrakts, Krankenhauspneumonie, Pneumonie nach Beatmung, Krankenhausbedingte Sepsis, Mortalität im Krankenhaus und Tod nach erlittener Komplikation) Tab. 3: Studien zum Zusammenhang zwischen dem Anteil von Pflegenden mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und dem Patientenoutcome die Mortalitätsrate und die Zahl der Todesfälle nach erlittener Komplikation) und die Berufszufriedenheit der Pflegenden hat (z. B. Aiken et al. 2002; Needleman et al. 2002 und Rafferty et al. 2007). Erst jüngere und bislang auch vergleichsweise wenige Studien (Tabelle 3) widmen sich dem Zusammenhang zwischen dem Anteil von Pflegenden mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und dem Patientenoutcome. Bei den acht gefundenen Studien handelt es sich ausschließlich um Querschnittsstudien. Das Patientenoutcome wird bislang in den meisten Studien anhand der 30 TageMortalitätsrate und der Anzahl der Todesfälle nach erlittener Komplikation (Failureto-rescue) untersucht. Als Datengrundlage werden im Wesentlichen standardisierte Befragungen von professionell Pflegenden etwa hinsichtlich ihrer Qualifikation, des Arbeitsaufkommens auf ihrer Station und der Anzahl ihrer Berufsjahre sowie administrative Daten, die über Patient/innenereignisse und Krankenhausmerkmale Auskunft geben, herangezogen. 225 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Die Studie der Arbeitsgruppe um Aiken (Aiken et al. 2003), die mehrfach sekundär ausgewertet wurde, besticht durch eine hohe methodische Qualität, die sich auf die jahrzehntelange Erfahrung der Arbeitsgruppe in der Outcomeorientierten Forschung zurückführen lässt. Zu den Qualitätsmerkmalen zählen große, repräsentative Samples, multivariate Analysen und umfangreiche Risikoadjustierungen (z. B. hinsichtlich der Komorbidität von Patient/innen oder der Merkmale von Krankenhäusern). Eine ähnlich hohe Qualität weisen auch die Studien von Estabrooks et al. (2005), Tourangeau et al. (2006), van den Heede et al. (2009a) und van den Heede et al. (2009b) auf. In den Studien von van den Heede et al. (2009b) und Blegen et al. (2001) werden die Pflegenden- und Patient/innendaten auf Stationsebene aggregiert, in den anderen Studien auf Krankenhausebene. In der Studie von Blegen et al. (2001) erfolgt eine Kontrolle von Confoundern in vergleichsweise geringem Maße, außerdem wird die Zusammensetzung des Samples nur zum Teil beschrieben. In ihrer bahnbrechenden Studie weist das US-amerikanische Forscherteam Aiken et al. (2003) erstmalig nach, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Anteils von Pflegenden mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und einem Rückgang der Mortalitätsraten chirurgischer Patient/innen vorhanden ist. Die Wahrscheinlichkeit der 30 Tage-Mortalität sowie der Todesfälle nach erlittenen Komplikationen ist den hypothetischen Berechnungen der Studie zufolge in Krankenhäusern, in denen der Anteil von Bachelorpflegenden am Gesamtpflegepersonal mehr als 60% beträgt, um 19% niedriger als in Krankenhäusern, in denen der Anteil unter 20% liegt. Steigt der Anteil von Bachelorpflegenden um 10%, sinkt die Todesrate nach erlittener Komplikation um 5%. Anhand von Sekundäranalysen der in der Studie von Aiken et al. (2003) erhobenen Daten werden Ergebnisse bezogen auf spezielle Patient/innengruppen, nämlich onkologische chirurgische Patient/innen (Friese et al. 2008) und chirurgische Patient/innen, die an einer ernsthaften („serious“) psychischen Erkrankung leiden (Kutney-Lee et al. 2008), errechnet. In der Studie von Friese et al. (2008) wurden darüber hinaus noch Zusammenhänge zwischen Patientenoutcome und einer Vielzahl weiterer Aspekte untersucht, die die Autor/innen als „Nurse Practice Environment“ bezeichnen, wie beispielsweise die Beziehung der Pflegenden zur Managementebene und zu den Mediziner/innen oder der Status, den die Pflegenden in der Krankenhaushierarchie inne haben. Hinsichtlich des Qualifikationsniveaus kommen die Autor/innen zu dem Ergebnis, dass signifikant negative Zusammenhänge zwischen einem höheren Anteil an Bachelorpflegenden und sowohl der Mortalitätsrate als auch der Rate der Todesfälle nach erlittenen Komplikationen nachzuweisen sind, nicht aber mit der Komplikationsrate. Bei Patient/innen, die neben dem Anlass für die Operation noch eine ernsthafte psychische Erkrankung als Komorbidität aufweisen und als besonders vulnerable Zielgruppe bezeichnet werden können, sind Zusammenhänge zwischen einer höheren Quote an Bachelorpflegenden und der Verkürzung nur bezüglich der Aufenthaltsdauer signifikant, nicht aber hinsichtlich der Mortalität (Kutney-Lee et al. 2008). 226 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Auch die kanadischen Studien von Estabrooks et al. (2005) sowie Tourangeau et al. (2006) kommen zu dem Ergebnis, dass signifikant negative Zusammenhänge zwischen einem höheren Anteil an Pflegenden mit einem Bachelorabschluss am Gesamtpflegepersonal und der 30 Tage-Mortalitätsrate hier bei Patient/innen mit internistischen Erkrankungen bestehen. Mittlerweile existiert auch eine europäische Studie aus Belgien, in der signifikant negative Zusammenhänge mit der Mortalität im Krankenhaus bei frisch herzoperierten Patient/innen auf peripheren Stationen, nicht aber auch Intensivstationen festgestellt wurden (van der Heede et al. 2009b). Die beiden anderen identifizierten Studien können keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem Anteil von Bachelorpflegenden am Gesamtpflegepersonal und dem Patientenoutcome nachweisen. In einer US-amerikanischen, bereits 2001 veröffentlichten Studie wird kein Zusammenhang mit der Sturzrate von Patient/innen und der Anzahl der Medikamentenfehler von Pflegenden festgestellt (Blegen et al. 2001). Auch eine belgische Studie von van den Heede et al. (2009a) kann keinen Zusammenhang zwischen dem Anteil von Bachelorpflegenden und 10 Patientenoutcomes (Dekubitus, tiefe Venenthrombose, Schock, postoperativer Atemstillstand, postoperative Komplikationen und Infektionen, Infektionen des Harntrakts, Krankenhauspneumonie, Pneumonie nach Beatmung, Krankenhausbedingte Sepsis, Mortalität im Krankenhaus und Tod nach erlittener Komplikation) finden. Durch eine Reihe von qualitativ hochwertigen Querschnittstudien, insbesondere der Arbeitsgruppe um Aiken, kann inzwischen ein positiver Zusammenhang zwischen einer Ausbildung auf Bachelorniveau und dem Patientenoutcome als bewiesen angesehen werden. Auch die Autor/innen der Studien, die keine signifikanten Zusammenhänge finden konnten, betonen gleichermaßen, dass ihre Ergebnisse nicht so zu interpretieren sind, dass ein solcher Zusammenhang nicht besteht. 3. Bewertung und Ausblick Bei den gefundenen Studien handelt es sich überwiegend um Querschnittstudien. Keines der verwendeten Studiendesigns ist geeignet, kausale Zusammenhänge festzustellen. Insofern kann gegenwärtig – wenn überhaupt – lediglich vom Vorliegen signifikanter Zusammenhänge gesprochen werden. Die verwendeten Messinstrumente können vielfach nur eingeschränkt die testtheoretischen Gütekriterien erfüllen. Bei der Kompetenz- und Performanzdiagnostik ist u.a. die Validität der Instrumente in Zweifel zu ziehen. Bei den Studien, die das Patientenoutcome als Vergleichsparameter untersuchen, ist zu beanstanden, dass sie sich auf gut erfasste negative Patient/innenereignisse beziehen, wie die 30 Tage-Mortalität und den Tod nach erlittenen Komplikationen. Auch wenn unbestritten ist, dass Pflegende durch die kontinuierliche Begleitung von Patient/innen viel dazu beitragen, diese Ereignisse zu reduzieren, so bilden sie aber dennoch das pflegespezifische Leistungsspektrum nur partiell ab. Dies gilt letztlich auch beispielsweise für die Rate an Dekubiti oder nosokomialen Harnwegsinfektionen, beides Outcomeindikatoren, die stärker 227 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 pflegeassoziiert sind. Positive Patientenoutcomes, wie der Zuwachs an Selbstpflegefähigkeiten, werden überhaupt nicht erfasst. Ein weiteres forschungsmethodisches Problem, das die Outcomestudien betrifft, besteht in dem Rückgriff auf administrative Daten, beispielsweise zum Patientenoutcome. Da diese Daten häufig auch für ein Benchmarking veröffentlicht werden, ist ihre Qualität möglicherweise zweifelhaft (Estabrooks et al. 2005). Um zukünftig zu methodisch belastbaren Aussagen über die Wirkungen einer akademischen Erstausbildung von Pflegenden zu gelangen, sind Fortschritte in der Entwicklung valider Testinstrumente für die Messung von Pflegekompetenz (Darmann-Finck et al. 2011) sowie pflegesensitiver Instrumente zur Erfassung des Patientenoutcomes (Stemmer 2003) erforderlich. Aber selbst noch so gute Instrumente werden vermutlich die Ergebnisse von Pflege- und Pflegebildungsprozessen jeweils nur zum Teil und nicht in ihrer Komplexität abbilden können, so dass der Zugewinn durch eine Qualifikation auf Bachelorniveau auch zukünftig nicht vollständig messbar sein wird. In Deutschland gibt es gegenwärtig noch keine empirische Forschung zu der Fragestellung, welcher Zugewinn durch eine Akademisierung der Pflegeerstausbildung zu erwarten ist. Hier besteht dringender Nachholbedarf. Mit Blick auf die internationale Forschungslage fordern Aiken et al. (2003) Längsschnittstudien, da einige Studien Hinweise darauf liefern, dass sich die Effekte einer Bachelorqualifikation mit zunehmender Berufserfahrung verstärken, sowie Untersuchungen mit größeren Samples bzw. länderübergreifende Studien (Aiken et al. 2003). Letztere Forderung wird mit dem Projekt RN4CAST realisiert, einer internationalen Multicenter-Studie, an der elf europäische (darunter auch Deutschland und die Schweiz) und drei außereuropäische Länder beteiligt sind (Sermeus et al. 2011). Die Limitierungen der vorliegenden Literaturübersicht bestehen darin, dass möglicherweise aufgrund der Beschränkung auf zwei Datenbanken nicht alle relevanten Studien gefunden wurden, keine zweite Meinung zur Bewertung der gefundenen Studien herangezogen wurde und die Literaturrecherche sich auf die letzten 10 Jahre beschränkte. Auf der Basis der recherchierten Literatur lässt sich bislang zwar keine sichere Aussage hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen einer akademische Erstausbildung und der Kompetenz bzw. Performanz von Pflegenden treffen, ein positiver Zusammenhang mit dem Patientenoutcome kann aber mittlerweile als gesichert angesehen werden und somit ist durchaus eine empirische Grundlage für eine Argumentation zugunsten der Akademisierung der Pflegeerstausbildung in Deutschland gegeben. Dass bezogen auf die Kompetenz/Performanz nicht durchgängig eindeutige Ergebnisse verfügbar sind, hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Kompetenz als Ergebnis von Pflegebildungsangeboten eine Zielgröße darstellt, die aus einem äußerst komplexen Geschehen resultiert, auf das zahlreiche Einflussfaktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene einwirken. Primär werden die Effekte der Ausbildung von der Qualität des Angebots einerseits und der Qualität der Nutzung des Angebots anderer228 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge seits hervorgerufen, welche u.a. von den Persönlichkeiten der Akteure geprägt werden, aber natürlich auch in Wechselbeziehung zu Faktoren auf der Meso- und Makroebene stehen (Kiel 2009). Neben der Personalbesetzung und der Qualifikation von Pflegenden hat Studien zufolge insbesondere die Organisationsstruktur von Krankenhäusern, worunter z. B. die Bereitstellung unterstützender Dienste, die Qualität der Zusammenarbeit mit Ärzt/innen oder die Unterstützung der Pflege durch das Management fallen, einen erheblichen Einfluss auf das Pflegeergebnis. Vor dem Hintergrund dieser empirischen Evidenzen wurde in den USA das Konzept der sog. Magnetkrankenhäuser entwickelt und implementiert. Per Definition handelt es sich bei den Magnetkrankenhäusern um Kliniken, denen es aufgrund ihrer Organisationsstruktur gelungen ist, über Jahre hinweg Pflegekräfte erfolgreich an sich zu binden (Cheung et al. 2008). Das Konzept wurde inzwischen auch in einigen europäischen Ländern implementiert und führte dort zu Verbesserungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals und des Patientenoutcomes (Cheung et al. 2008). Bei der Rezeption der Befunde aus dem angloamerikanischen Raum ist in Rechnung zu stellen, dass sie nur bedingt auf das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem übertragen werden können. Beispielsweise handelt es sich bei einem Großteil der erstauszubildenden Bachelorstudiengänge in Deutschland um duale Studiengänge, d.h. die Absolventen erlangen nicht nur einen Bachelorabschluss, sondern auch ein staatliches Pflegeexamen und müssen für letzteres die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie andere Pflegeauszubildende, dies gilt insbesondere für die vergleichsweise hohen Praxisanteile. Auch haben die Pflegenden in den unterschiedlichen Systemen zum Teil andere Aufgaben. Aufgrund dieser Unterschiede in den Gesundheitssystemen der Länder muss der Nutzen einer Akademisierung der Erstausbildung für die Versorgung der Patient/innen spezifisch für das deutsche Versorgungssystem überprüft werden. Letztlich wird auch zukünftig der Nutzen einer akademischen Ausbildung nicht vollständig empirisch nachweisbar sein, so dass ungeachtet der Notwendigkeit, in Deutschland hier zu empirischen Ergebnissen zu kommen, zukünftig die Energie vor allem in die Konzeption von hochwertigen akademischen Bildungsangeboten fließen sollte. Für die Entwicklung von pflegeausbildenden Studiengängen hierzulande ist aus der Studienlage der Schluss zu ziehen, dass zunächst definiert werden müsste, für welche Aufgaben Pflegende mit einem Bachelorabschluss zuständig sein und welche Kompetenzen durch das Studium angestrebt werden sollen. Hierfür einen kompromissfähigen Rahmen zu entwickeln, ist Aufgabe der Berufsverbände und der pflegewissenschaftlichen Fachgesellschaft. Bei der Konstruktion von Kerncurricula2 und Fachqualifikationsrahmen müssten diese Kompetenzen berücksichtigt und anhand von pflegewissenschaftlichen und fachdidaktischen, bildungstheoretisch fundierten Kriterien weiterentwickelt werden. Pflegepädagogen (und damit auch Pflegewissenschaftler/innen) dürfen sich nicht damit begnügen, Lerneffekte zu überprüfen, son2 Einen Vorschlag für ein Kerncurriculum für pflegewissenschaftliche Studiengänge entwickeln Hülsken-Giesler et al. (2010). 229 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 dern sind gehalten, den Lernenden im Rahmen intergenerationeller Interaktion Möglichkeitsräume zu eröffnen, ihr Selbst- und Weltverständnis zu erweitern oder bewusst beizubehalten. Literatur Adams, B. L. (1999): Nursing education for critical thinking: an integrative review. In: Journal of Nursing Education 38, 3, 111-9 Aiken, L. H./ Clarke, Sean P./ Cheung, Robyn B./ Sloane, Douglas M./ Silber, Jeffrey H. 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(2005): Critical Thinking: Back to Square Two In: Journal of Nursing Education 45, 6, 212-219 Prof. Dr. Ingrid Darmann-Finck Universität Bremen, Fachbereich 11, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) Abt. 4 Qualifikations- und Curriculumforschung, Grazer Straße 4, 28359 Bremen, darmann@uni-bremen.de Mar tin Moers, Ute Schöniger, Marlies Böggemann Duale Studiengänge – Chancen und Risiken für die Professionalisierung der Pflegeberufe und die Entwicklung der Pflegewissenschaft Dual study programs – chances and risks regarding professional nursing and the development of nursing science The number of dual study programs which combine apprenticeship and academic education is growing in Germany. The ar ticle gives an over view about the different forms of these programs and discusses the consequences for professional nursing and the development of nursing science Keywords Dual study programs, professional nursing, development of nursing science Die Zahl dualer Studienprogramme, die Ausbildung und Studium kombinieren wächst in Deutschland. Der Ar tikel gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen dieser Programme und diskutier t die Konsequenzen für die Pflegeberufe und die Entwicklung der Pflegewissenschaft. eingereicht 19.3.2012 akzeptiert 08.06.2012 (nach Überarbeitung) 232 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Schlüsselwörter Duale Studienprogramme, Professionalisierung der Pflegeberufe, Entwicklung der Pflegewissenschaft 1. Einleitung Kombinationen von Erstausbildung und Studiengang bilden in der deutschen Pflegelandschaft seit einiger Zeit eine stärker werdende Strömung. Gemeint sind Programme, in denen verbunden mit der traditionellen Ausbildung an Gesundheits- und Kranken- bzw. Kinderkrankenpflegeschulen oder Berufsfachschulen für Altenpflege (im Weiteren allesamt als Berufsfachschulen zusammengefasst) ein Bachelorstudium absolviert wird. Dabei ist jedoch eine große konzeptionelle Bandbreite zu verzeichnen. Das nehmen wir zum Anlass, verschiedene Kombinationsmodelle von Ausbildung und Studium zu diskutieren und dabei auch die Konzeption des dualen Studienprogramms an der Hochschule Osnabrück vorzustellen. In die Konzeptionen dieser Studiengänge sind vielfältige Erwägungen eingeflossen, in denen sich die aktuellen Diskussionsstränge der Pflege abbilden: Professionstheoretische Überlegungen, professionspraktische Erfordernisse, Bedarf an fachlicher Expertise in der Praxis sowie Angleichung an das europäische Niveau – weitere wären zu nennen. Diese Bildungsoffensive trifft jedoch auf ein Praxisfeld, in dem zum Teil auch Deprofessionalisierungstendenzen (Aufgabenverlagerungen, Personalabbau, vermehrter Einsatz von Hilfskräften usw.) zu verzeichnen sind, was für die neuen Programme die Gefahr von Verwerfungen mit sich bringt. Auch für die Entwicklung der Pflegewissenschaft sind die arbeitsintensiven Erstausbildungsstudiengänge nicht ohne Folgen. Auch dies wollen wir schlaglichtartig beleuchten. 2. Die Ausgangslage Beginnen wir mit einem kurzen Überblick über den Stand der Professionalisierungsbemühungen.1 Betrachtet man die Entwicklung der Pflegewissenschaft insgesamt lässt sich konstatieren, dass nach dem im internationalen Vergleich verspäteten Beginn in den 80er und verstärkt den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine weitgehende Institutionalisierung gelungen ist, so dass man inzwischen von einer normalen Wissenschaftsdisziplin sprechen kann. Hervorzuheben ist die intensive Forschungstätigkeit auch an Fachhochschulen sowie die gelungene Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses, der inzwischen beginnt, die GründerInnengeneration abzulösen. Schwachpunkte der Disziplin sind die mangelnde Verankerung an Universitäten, die geringe Zahl habilitierter PflegewissenschaftlerInnen und insgesamt die Einordnung der Lehrstühle, Professuren und Studiengänge an größtenteils fachfremden Fachberei1 Wir stützen uns aus Gründen der Übersichtlichkeit auf den merkmalstheoretischen Ansatz mit den Elementen Zentralwertbezug, eigenständige Wissensbasis und berufliche Autonomie, wobei die Frage der eigenständigen Wissensbasis im Mittelpunkt unserer Betrachtungen steht. Für die Pflege vgl. dazu Schaeffer (2004). 233 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 chen. Die Mitte der 90er Jahre beginnende dynamische Studiengangsentwicklung hat für eigene Fachbereiche, vergleichbar den „Schools of Nursing“ in den USA, bislang meist nicht gereicht. Zu den Folgen der Normalisierung gehört aber auch die zunehmende Einbindung der PflegewissenschaftlerInnen in Aufgaben des Studiengangsmanagements, wie zum Beispiel in das florierende Geschäft der Akkreditierungen und Reakkreditierungen, das sich bisweilen als Minenfeld der Modernisierungsbürokratie erweist (vgl. Moers et al. 2011). Schauen wir auf die Studiengangsentwicklung, so wurde in den 1990er Jahren auf breiter Front mit Studienprogrammen für Lehre und Leitung begonnen. Studiengänge für PflegeexpertInnen, die direkt die Entwicklung der Pflegepraxis fördern sollen, waren in der ersten Gründungswelle in der Minderheit. Sie entstanden zunächst an den Fachhochschulen in Osnabrück, Frankfurt, Darmstadt und Fulda sowie an den universitären Standorten Witten/Herdecke und Halle. Für alle Studiengänge – mit Ausnahme der hessischen – war eine abgeschlossene Pflegeausbildung eine Zugangsvoraussetzung. Die grundständigen hessischen Studiengänge wiederum führten lediglich zum Hochschulabschluss, jedoch nicht zur Anerkennung als Pflegefachkraft im Sinne der Berufsgesetze. Die Tragfähigkeit dieser Modelle nahm spätestens Mitte der 2000er Jahre rapide ab, seit mit der Einführung der gestuften Abschlüsse gemäß dem Bolognaprozess die europaweit gültige Konzeption des Bachelor als erster berufsqualifizierender Abschluss auf Deutschland übertragen und damit das Manko der deutschen Entwicklung in der Pflegebildung unübersehbar wurde. Die qualifizierte Pflegeerstausbildung findet in der Europäischen Union (EU) weitgehend auf Bachelorniveau statt und ist damit im tertiären Sektor angesiedelt. Als Ergebnis eines dreijährigen Studiums zusätzlich zur dreijährigen Ausbildung gab es hierzulande lediglich einen Bachelor, den es in der EU bereits für die qualifizierte Ausbildung nach drei bis vier Jahren gibt. Erneuten Zündstoff bekommt diese Diskussion durch die aktuellen Pläne für eine Berufsanerkennungsrichtlinie der EU, nach der ein erfolgreicher Abschluss von 12 Schulklassen (mithin das neue deutsche Abitur oder ein vergleichbarer Abschluss) die Voraussetzung für eine qualifizierte Pflegeausbildung sein soll. Bei allen zu erwartenden Umsetzungsschwierigkeiten für eine solche Richtlinie muss darauf hingewiesen werden, dass es sich lediglich um eine in 25 von 27 EU-Staaten bereits umgesetzte Zugangsvoraussetzung handelt, es für Deutschland im europäischen Maßstab also um eine längst fällige Angleichung an das europäische Niveau ginge. Im Bolognaprozess verankerte vermehrte Anerkennungsmöglichkeiten für außerhochschulisch erworbene Leistungen (Ausbildungen, Fachweiterbildungen usw.) sowie die seit einigen Jahren vom Gesetzgeber widerstrebend eingeräumten Modellmöglichkeiten für hochschulbasierte Pflegeausbildungen führten zu einem rasch zunehmenden Angebot an dualen Studiengängen unterschiedlicher Konzeption. Neben der Orientierung am internationalen Standard spielt die zur Zeit wieder einmal sinkende Attraktivität der Pflegeberufe bei demografiebedingt wachsendem Bedarf eine entscheidende Rolle für die – allerdings immer noch zögerliche – Akzeptanz des Bedarfs an wissenschaftlich qualifizierten klinisch orientierten Pflegefachkräften durch Einrichtungsträger und Politik. 234 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge 3. Modelle der Kombination von pflegerischer Erstausbildung und Studium Als Folge dezentraler Bildungsplanung erleben wir eine große Bandbreite unterschiedlicher Modelle der Kombination von Pflegeerstausbildung und -studium, die einen Bachelorabschluss und ein staatlich anerkanntes Examen in der Pflege zum Ziel haben und allesamt mit dem Begriff „duale Studiengänge“ versehen werden, aber durchaus unterschiedliches meinen. Diese Unterschiede werden oft mit den Begriffen additiv oder integrativ gekennzeichnet. Dies hilft nicht wirklich weiter, da je nach Handlungslogik unterschiedliche Dimensionen gemeint sind. Mal ist es die Addition von Berufszweigen (auch Generalistik genannt), mal die zeitliche Aufeinanderfolge von Ausbildung und Studium. Mit Integration ist bisweilen ebenfalls die Zusammenfügung der Berufszweige gemeint oder aber die Verbindung von Berufsfachschulunterricht mit der Hochschullehre, bisweilen auch die enge Kooperation der Partner einschließlich der Pflegepraxis. Wir konzentrieren uns in unserer Analyse auf Zeitpunkte, Verteilung und Orte der Ausbildungs- und Studienanteile und haben unsere Begrifflichkeit neu sortiert. 3.1 Anerkennungsmodell Eine Pflegeausbildung wird vorausgesetzt, die allerdings auch länger zurückliegen kann. Darauf aufbauend schließt sich ein verkürztes Studium durch Anerkennung von bis zu 50% der Ausbildungszeit an. Dieser Studiengangstyp kann, aufbauend auf dem in Aus-, Fort- und Weiterbildung erlernten Wissen und den erworbenen Kompetenzen, vor allem wissenschaftsgestützte Vertiefungen des Erlernten und lediglich Ansätze einer Spezialisierung bieten (z.B. in Beratung oder Qualitätsentwicklung), da für neue berufliche Funktionen (z.B. Management) die curricularen Möglichkeiten nicht ausreichen. Dieses Modell bietet im Wesentlichen eine Nachqualifizierung und bleibt bei einer der Erstausbildung entsprechenden klinischen Ausrichtung. Daher zählen wir es trotz z.T. großen zeitlichen Abstandes von Ausbildung und Studium zu den Kombinationsmodellen. Vorteil des Anerkennungsmodells ist eine kürzere Gesamtqualifizierungszeit, da in der Regel nur noch drei Hochschulsemester zu absolvieren sind. Nachteilig ist dabei die kurze Zeit der Hochschulsozialisation, die nicht nur erhebliches Engagement der Studierenden verlangt, um das angestrebte Bachelorniveau zu erreichen, sondern häufig auch zu kurz ist, um ein eigenständigeres, auf wissenschaftlichem Denken und erhöhter Reflexionsfähigkeit fußendes berufliches Selbstverständnis als Grundlage einen professionellen Habitus zu erzeugen. 3.2 Ergänzungsmodell Begonnen wird mit der traditionellen Ausbildung, deren erfolgreicher Abschluss auch Voraussetzung für den Abschluss des Studiums ist. Allerdings kann die Entscheidung für ein Studium bereits während der Ausbildung fallen, und es besteht die Möglichkeit, einzelne Hochschulmodule in dieser Zeit zu absolvieren. Nach der Ausbildung erfolgt 235 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 eine unterschiedlich lange Hochschulphase (drei bis vier Semester), je nach dem, ob weitere Ausbildungsanteile anerkannt werden (s.o.) und ob das Studium in Vollzeit oder berufsbegleitend angeboten wird. Auch hier ist eine deutliche Verkürzung gegenüber der Summe von regelhafter Ausbildung und Studium bei einer kurzen eigentlichen Hochschulphase festzustellen. Die Hochschulphase wird durch die Ausbildung begleitende Module gegenüber dem reinen Anerkennungsmodell verstärkt, was für die Hochschulsozialisation von Vorteil ist. Hier ist jedoch eine erhebliche Abbruchquote nach erfolgreicher Ausbildung festzustellen, da häufig – durch den neuerlichen Fachkräftemangel verstärkt – ein Vollzeitarbeitsplatz mit entsprechender Vergütung lockt und die Hochschulphase des Studiums trotz bereits absolvierter Module dann doch nicht aufgenommen wird. 3.3 Ersetzungsmodell Der theoretische Teil der Ausbildung wird vollständig an der Hochschule absolviert, die nach dem Modellparagraphen des Gesundheits- und Kranken- sowie Altenpflegegesetzes an die Stelle der Berufsfachschulen tritt. Die Ausbildung wird damit an die Hochschule transferiert und auf Hochschulniveau gelehrt. Die Gesundheitseinrichtungen fungieren in diesem Modell als Kooperationspartner für die praktische Ausbildung. Hinzu kommen weitere theoretische Anteile, um den Anforderungen an einen Bachelor zu genügen. Die Gesamtlänge von Studium und Ausbildung beträgt z.B. im Modell der Gesundheitshochschule Bochum vier Jahre oder 8 Semester. Professionstheoretisch ist dies das weitestgehende Modell wissenschaftsgestützter Ausbildung, da die Gesamtverantwortung für Studium und staatlich anerkannte Ausbildung bei der Hochschule liegt. Das neben der Bachelorprüfung weiterhin gesondert abzulegende Examen, für die Berechtigung die Berufsbezeichnung zu führen, ist auch international üblich. So ist es in Großbritannien und den USA die Voraussetzung dafür, die Berufsbezeichnung „Registered Nurse“ (R.N.) verwenden zu können. Das bereits erwähnte hessische Modell hat hier seinen Schwachpunkt, da es bislang lediglich zum Hochschulabschluss, nicht jedoch zur Berufsanerkennung führt. Diese muss mit nachgewiesenen zusätzlichen Praxiszeiten, die den gesetzlichen Anforderungen Genüge leisten, und einer externen Prüfung nachgeholt werden. Ein Vorteil des Ersetzungsmodells ist die mit anderen studierten Berufen vergleichbare Dauer der Erstqualifizierung sowie die eindeutige Sozialisation an der Hochschule. Allerdings gelten die Vorgaben der Ausbildungsgesetze weiterhin, so dass das erreichbare pflegewissenschaftliche Niveau angesichts der Stofffülle in den natur- und sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen und der vielen Pflichtstunden in Grundlagenfächern nicht allzu hoch angesetzt werden sollte. Hinzu kommen die immensen verpflichtend zu absolvierenden praktischen Einsatzzeiten während des Studiums, die eben nicht nur Praktika mit Anleitung sind, sondern auch Arbeitscharakter mit Schichtdienst und Mitarbeit aufweisen. Die Studienbedingungen sind also gegenüber anderen studierten Berufen, wie etwa den Ingenieuren oder der sozialen Arbeit, durch vermehrte Anforderungen der Praxis gekennzeichnet. 236 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Ein Problem, das mit der in die Hochschule transferierten Ausbildung entsteht, ist die Konkurrenzsituation zu den Berufsfachschulen. Anders als in der internationalen Entwicklung, bei der die Fachschulen meist sukzessive – bisweilen auch „par ordre mufti“ wie in Italien oder Portugal – an die Hochschulen verlagert oder zu Hochschulen aufgewertet wurden und sich die PflegelehrerInnen entsprechend nachqualifizieren mussten, gibt es in Deutschland ein Nebeneinander beider Systeme, geteilt in Pflegeausbildung mit PflegepädagogInnen und Pflegestudium mit PflegewissenschaftlerInnen, die jeweils anderen Ministerien zugeteilt sind. Das kann für die Hochschulen zu Problemen führen, da sie das Personal mit den pflegefachlichen und pflegepädagogischen Kompetenzen für die Ausbildungen nicht besitzen und zusätzlich zu neuen pflegewissenschaftlichen Professuren eine hohe Zahl an Lehrkräften für besondere Aufgaben (Klinischer Unterricht, Praxisbegleitung, Lehre in Grundlagenfächern, Ausbildungsplanung usw.) einstellen müssten. Dies würde – selbst wenn diese aufwändige Umstrukturierung gelänge – zu einem personellen Ausbluten und einer Abwertung der Berufsfachschulen führen. Das hätte auch Auswirkungen auf Fachweiterbildungen wie beispielsweise Anästhesie- und Intensivpflege, in der Psychiatrie oder Geriatrie, die ohne qualifizierte und erfahrene PflegepädagogInnen nicht durchführbar sind. Der Zeitpunkt, an dem die Hochschulen diese vielfältigen Qualifikationen in den benötigten Größenordnungen anbieten könnten, ist sicher noch weit oder sehr weit entfernt. 3.4 Verschränkungsmodell Das Verschränkungsmodell stellt das eigentlich duale Modell dar, denn hier werden von Anfang an theoretische und praktische Ausbildung sowie Studium gleichberechtigt, parallel, koordiniert und kooperativ gestaltet. Aufgrund der Besonderheiten der Ausbildungsgesetze bedeutet ein duales Modell in der Pflege eigentlich eine Triangulation, denn drei Partner müssen zusammen kommen: die Hochschule, die Berufsfachschule und die Fachpraxis, die ihre Lernangebote aufeinander abstimmen müssen. Das unterscheidet duale Studiengänge der Pflege von denen anderer Berufe, die seit langem praktiziert werden, etwa im betriebswirtschaftlichen oder Ingenieurbereichen. Dort werden die Berufsschulanteile in der Regel von den Berufsakademien oder Hochschulen übernommen, einziger Kooperationspartner der Hochschule ist die betriebliche Praxis. Somit gehören sie zu den Ersetzungsmodellen. Vorteile eines dualen Modells sind die mit anderen studierten Berufen vergleichbare Länge der Erstausbildung und der Einsatz ausbildungserfahrener PflegepädagogInnen. Die Herausforderungen einer solchen Triangulation liegen vor allem in den curricularen Abstimmungen und Kooperationsvereinbarungen der Partner und in den immensen, teilweise auch divergierenden Anforderungen an die Studierenden. Professionspolitisch ergibt sich die Chance, langfristig Berufsfachschulen mit hoher Qualität in den tertiären Bereich zu überführen. Dabei entsteht zwangsläufig ein Nachqualifizierungsbedarf der PflegepädagogInnen, wobei dies im Kern eine konsequente Weiterführung der Entwicklung der letzten 20 Jahre wäre, in denen massiv in die akademische Qualifizierung eben dieser PflegepädagogInnen investiert wurde. 237 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Die Vor- und Nachteile oder, allgemeiner gesagt, die Merkmale der verschiedenen Modelle der Kombination von Erstausbildung und Studium stellen sich in einer Synopse wie folgt dar, s. Tabelle 1. Modelle der Kombination von Pflegeerstausbildung und -studium Modellart Merkmale Beginn des Studiums Anerkennungsmodell nach Abschluss der Ausbildung Ergänzungsmodell 1. Teil mit, 2. Teil nach Ausbildung Ersetzungsmodell Mit Ausbildungsbeginn Verschränkungsmodell Mit Ausbildungsbeginn Gesamtdauer von Ausbildung und Studium 4,5 Jahre 4,5 – 5 Jahre 3,5 - 4 Jahre 4 Jahre Hochschulzeit 3 - 4 Semester Erste Module plus 7 - 8 Semester 3 - 4 Semester Curriculare Vernetzung und Abstimmung Kenntnisse der Punktuelle VernetBerufsausbildungen zungen, Abstimwerden vorausgemung notwendig setzt, Abstimmungen nicht notwendig Status AuszubilStudierende dende/Studierende Eigenständiges Curriculum, Abstimmung nicht notwendig 1. Teil AuszubilStudierende dende und Studierende, 2. Teil Studierende Kooperationspart- Praxiseinrichtungen Berufsfachschulen Praxiseinner der Hochnur für Praktika richtungen schulen 8 Semester Weitgehende Vernetzungen, Rahmencurriculum und laufende Abstimmungen erforderlich Studierende und Auszubildende Berufsfachschulen und Praxiseinrichtungen Tab. 1: Modelle der Kombination von Pflegeerstausbildung und -studium (Moers, Schöniger, Böggemann 2012) Diese Modelle finden sich in unterschiedlichen Realisierungsformen, deren Ausprägung im Wesentlichen von den regionalen Bedingungen abhängt. Als Beispiele seien in Tabelle 2 folgende Modelle synoptisch zusammengefasst: Synopse dualer Studienprogramme Pflege Merkmale Hochschule Studienprogramm Bachelorabschluss Pflegeexamen Modellbeschreibung Anerkennungsmodelle Universität Witten/Herdecke Innovative Pflegepraxis B.A. Wird vorNach 2 Jahren ausgesetzt www.uni-wh.de/gesundheit/pfle gewissenschaft/bachelorstudien gang-innovative-pflegepraxis/ Hochschule Hannover Pflege B.A. Wird vorNach 2 Jahren ausgesetzt Oelke & Maier 2005 www.fakultaet5.fh-hannover.de/ studium/bachelor-studiengaenge/ pflege-berufsbegleitend/index.html 238 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Merkmale Hochschule Studienprogramm Bachelorabschluss Pflegeexamen Modellbeschreibung Hochschule für angewandte Wissenschaften München Kath. StiftungsFH München Pflege seit WS 08/09 B.Sc. Nach 4,5 Jahren GKP, oder GKKP Nach 3 Jahren Pflege dual Evang. FH Nürnberg Pflege dual B.Sc. Nach 4,5 Jahren B.Sc. Nach 4 Jahren Hochschule Regensburg Pflege Ergänzungsmodell Hochschule Pflege Seit Ravensberg Wein- WS 11/12 garten KFH Freiburg Pflege KFH Mainz Hochschule Ludwigshafen a.R. Universität Halle Wittenberg www.hm.edu/fk11 GKP oder AP Lüftl & Kerres 2010a, 2010b Nach 3 Jahren www.ksfh.de/studiengaenge/bachelo rstudiengaenge/pflege-dual GKP oder www.evhn.de/fb_pm_sg_bpd.html GKKP Nach 3 Jahren B.Sc. Nach GKP Nach 3 www.hs-regensburg.de/fakultaeten/ 4,5 Jahren Jahren sozialwissenschaften/studiengaenge/ pflege-dual.html B.A. Nach 4,5 GKP Nach 3 www.hs-weingarten.de/web/bachelor Jahren Jahren studiengang-pflege/startseite B.A. Nach 4,5 GKP, GKiKP, Jahren oder AP Nach 3 Jahren Gesundheit B.Sc. Nach GKP, GKiKP, & Pflege Seit 4,5 Jahren oder AP Nach SoSe 08 3 Jahren Pflege B.A. Nach 4,5 GKP, GKiKP, Jahren oder AP Nach 3 Jahren Gesundheits- B.Sc. Nach 4 GKP, GKiKP, und Pflege- Jahren AP und weitewissenschafre Nach 3 ten Jahren Hochschule Fulda Pflege B.Sc. Nach 3 Jahren GKP Nach 4 Jahren FH Frankfurt Allgemeine Pflege B.Sc. Nach 3 Jahren GKP Nach 4 Jahren KFH Köln Pflege FH Bielefeld Gesundheits- B.Sc. Nach 4 und KranJahren kenpflege www.kh-freiburg.de/studium/ studiengaenge/bachelor studiengaenge/pflege/ www.kfh-mainz.de/fachbereiche/ FB_GP/ba/gp_ba.htm web.fh-ludwigshafen.de/fb4/home. nsf/de/dualerbachelor www.studienangebot.uni-halle.de/ de/www/detail/?id=53&name=Gesu ndheits- und Pflegewissenschaften& www.fh-fulda.de/index.php?id=1792 www.fh-frankfurt.de/de/fachbereiche/fb4/studien gaenge/allgemeine_pflege_bsc B.Sc. Nach 4 GKP, GKiKP, www.katho-nrw.de/katho-nrw/ Jahren, Beoder AP Nach studium-lehre/studienangebot/ ginn im 2. 3 Jahren bachelorstudiengaenge/dualer-stuAusbildungsdiengang-pflege-bsc/ jahr GKP Nach 3,5 Jahren www.fh-bielefeld.de/fb5/bereichpflege-und-gesundheit/studium/ studienangebot/dualer-bachelorpflege 239 Beiträge Merkmale Hochschule Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Studienprogramm Bachelorabschluss Pflegeexamen Modellbeschreibung Ergänzungsmodell FH der Diakonie Bielefeld Pflegewissen- B.Sc. Nach schaft 4,5 Jahren GKP, GKiKP, www.fh-diakonie.de/.cms/Studien oder AP Nach angebote/Pflegewissenschaft/220 3 Jahren Hochschule Hannover Pflege B.A. Nach 5 Jahren GKP, GKiKP, Oelke & Maier 2005 oder AP Nach www.fakultaet5.fh-hannover.de/ 3 Jahren studium/bachelor-studiengaenge/ pflege-berufsbegleitend/index.html Ostfalia Wolfsburg Pflege im Praxisverbund B.Sc. Nach 5 Jahren GKP, GKiKP, ww.ostfalia.de/cms/de/studienberatu oder AP Nach ng/grundstaendige-studiengaen3 Jahren ge/kurz_und_knapp_grund/pflege_i p_fg.html Fernhochschule Hamburg Health Care Studies B.Sc. Nach 4 GKP oder Jahren, Beginn GKKP Nach im 2. Ausbil- 3 Jahren dungsjahr www.hamburger-fh.de/ studienangebot/hcs/index.php Ev. FH Berlin (EFB) Bachelor of Nursing B.Sc. Nach 4 Jahren GKP Nach 4 Jahren Reinhart 2003, Köber & Ruck 2007 eh-berlin.de/studienangebot/ bachelor-of-nursing/uebersicht.html Hochschule für Gesundheit Bochum Pflege B.Sc. Nach 4 Jahren GKP, GKiKP, www.hs-gesundoder AP Nach heit.de/de/bereich/pflege/ 4 Jahren Ersetzungsmodelle Verschränkungsmodelle Hochschule Osnabrück Pflege Seit WS 11/12 B.Sc. Nach 4 Jahren GKP, GKiKP, www.wiso.hs-osnabrueck.de/pflegeoder AP Nach bsc.html 4 Jahren Fliedner Fachhochschule Düsseldorf Pflege und Gesundheit Seit WS 11/12 B.A. Nach 4 Jahren GKP oder www.kaiserswerther-diakonie.de/ GKiKP Nach Fliedner_FH/Studiengaenge/Pfle 4 Jahren ge_Gesundheit/Bachelor_Pflege_ Gesundheit.html Mathias Hochschule Rheine Pflege B.Sc. Nach 4 Jahren GKP Nach 4 Jahren Hochschule Dualer StuNeubrandenburg diengang Pflegewissenschaft/Pflege management B.Sc. (NurGKP oder AP; sing & Admi- Nach 4,5 nistration) Jahren Nach 4,5 Jahren HAW Hamburg B.A. Nach 4 Jahren Pflege www.mhrheine.de/index.php?option =com_content&view=article&id=90 &Itemid=84 Teetz & Hergert 2005; Richter et al. 2008 www.hs-nb.de/fachbereichgpm/bei-uns-studieren/dualer-bcpw/ GKP Nach 4 www.haw-hamburg.de/studium/ Jahren studiengaenge/ws/bachelor/pflegedualer-studiengang.html Tab. 2: Synopse dualer Studienprogramme Pflege in Deutschland (Moers, Schöniger, Böggemann 2012) 240 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Modelle Lösungsversuche des Problems darstellen, die EU-weiten Vorstellungen im Bolognaprozess zum Bachelor als qualifizierter beruflich orientierter Erstausbildung mit den hiesigen gesetzlichen Regulierungen zusammen zu führen. Dass es dabei zu heimwerkerähnlich anmutenden curricularen Säge- und Schraubaktionen kommt, ist nicht den Modellen vorzuwerfen, sondern der im EU-Vergleich veralteten deutschen Gesetzgebung geschuldet. Alle Modelle erreichen eine deutliche Verkürzung der Gesamtzeit von Ausbildung und Studium. Sie unterscheiden sich vor allem in der Länge der echten Hochschulzeit, der Einbeziehung der beruflichen Fachrichtungen sowie den Kooperationskonstruktionen. Der Vorteil der langen Hochschulzeit geht im Ersetzungsmodell mit dem Verzicht auf die Expertise der Berufsfachschulen einher. Die Einbindung derselben im Verschränkungsmodell stellt höhere Anforderungen an die Kooperationspartner und bringt den Studierenden den Doppelstatus auch als Auszubildende, dazu die Berufsfachschule als dritten Lehr- und Lernort, und damit einerseits eine Ausbildungsvergütung und besser betreute Einbindung in die Gesundheitseinrichtungen, andererseits aber auch erhöhte Anforderungen durch den dritten Lernort. Im Folgenden stellen wir dar, wie wir in Osnabrück mit diesen Anforderungen umgehen. 4. Osnabrücker Modell eines dualen Pflegestudiums Die Leitidee des Osnabrücker Konzepts ist die möglichst weitgehende Verschränkung von Ausbildung und Studium. Dabei soll es bei der vorgesehenen Triangulation von Hochschule, Berufsfachschulen und Fachpraxis nicht nur gelingen, die zahlreichen Kooperationspartner erfolgreich zu vernetzen, sondern auch die Studierenden/Auszubildenden vor Überforderung zu schützen und engmaschig zu begleiten, damit sie sich an den verschiedenen Lernorten zurecht finden und integrieren können. 4.1 Curriculare und strukturelle Bedingungen Die Partner Hochschule und Berufsfachschule bleiben für ihren Part in der Gesamtqualifikation jeweils vollständig verantwortlich: Die Hochschule für das Bachelorstudium, die Berufsfachschule für den fachspezifischen theoretischen und den praktischen Anteil der Ausbildung. Von Seiten der Hochschulen werden alle Module im Bachelorstudium selbst gelehrt. Von Seiten der Berufsfachschulen werden alle fachspezifischen und fachpraktischen Module nach Maßgabe der Ausbildungsverordnungen unterrichtet. Um einerseits den Akkreditierungs- und andererseits den Ausbildungsgesetzesanforderungen nachzukommen, werden zahlreiche Praxisstunden als Selbstlernzeit im Rahmen des Studiums konzipiert und umgekehrt der dozentengebundene Teil einer Reihe von Modulen der Hochschule als erteilter Unterricht im Sinne der Ausbildungsgesetze gewertet und anerkannt. Von der Anerkennung theoretischer Inhalte der Berufsfachschulen für die Hochschullehre wird abgesehen, um die 241 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Sozialisation an der Hochschule so weitgehend wie möglich zu gestalten und aufwändige Qualitätsprüfungen des Berufsfachschulunterrichts zu vermeiden. Auf diese Weise gelingt es, den Gesamtaufwand für zwei Abschlüsse auf 4 Jahre zu begrenzen, gleichwohl aber das geforderte Niveau für beide Abschlüssen zu erreichen. Um Freiräume für das Studium zu schaffen und zeitgleiche Abschluss- und Bachelorprüfungen im achten Semester zu ermöglichen, wird die Ausbildung als Teilzeitmodell auf vier Jahre verlängert angeboten. Curricular wird damit deutlich gemacht, dass die Abschlüsse zum Bachelor in Pflege und zur Pflegefachkraft andersartig, aber gleichwertig sind. Die zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen für die Auszubildenden/Studierenden sind dabei erheblich. Sollten sich die Belastungen für einzelne Studierende im Verlaufe des Studiums als zu hoch erweisen, bieten die Berufsfachschulen als Auffangmöglichkeit einen Wechsel in die traditionelle dreijährige Ausbildung an. Um für möglichst viele Berufsfachschulen der Region ein Kooperationsangebot machen zu können, sind Verbünde geschaffen worden. Das bedeutet, die Hochschule ist mit zwei verbundleitenden Schulen eine Kooperation eingegangen, die je einen generalistisch ausgelegten Kurs mit 20 Auszubildenden mit Hochschulzugangsberechtigung eingerichtet haben. Die Auszubildenden werden in einer Studiengruppe à 40 Studierende an der Hochschule zusammengefasst. Die verbundleitenden Schulen kooperieren ihrerseits mit weiteren Berufsfachschulen, die Auszubildende/Studierende und auch Dozenten für den theoretischen Unterricht entsenden sowie die Praxiseinsätze in ihren Einrichtungen koordinieren und betreuen. Damit bleibt der Koordinationsaufwand für die Hochschule leistbar. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die kooperierenden Berufsfachschulen dieses Angebot gut annehmen und die Kooperation zur Weiterentwicklung nutzen. Für die Studierenden/Auszubildenden sind in diesem Modell drei Lernorte zu bewältigen: die Hoch- und Berufsfachschule sowie die Fachpraxis. Für die Akteure der Lernorte ergeben sich hohe Anforderungen der Abstimmung und Konsensbildung. Um diesen gelegentlich auch divergierenden Anforderungen genügen zu können, wurde gemeinsam mit den Kooperationspartnern ein Rahmencurriculum entwickelt, das den Erwerb der angestrebten Kompetenzen mit gemeinsamen klinischem Schwerpunkt in Ausbildung und Studium sicherstellen soll. Zur Strukturierung wurde eine pflegerische Perspektive gewählt, die von störungsfreien Lebensvollzügen in allen Lebensphasen ausgeht („Gesund Sein“) und in einem zweiten Schritt Pflegebedarf bei zunehmenden Einschränkungen der Selbstständigkeit und damit steigendem Pflegeund Hilfebedarf identifiziert und bearbeitet („Profession sein“). Die entsprechenden Seinszustände des Menschen reichen von „Behindert Sein“ über „Chronisch krank Sein“ bis zu „Abhängig Sein“, letzteres meint intensiven Pflegerbedarf in unterschiedlichen Settings von der klassischen Intensivstation bis zur Hospizbetreuung. Diese Seinszustände bilden keine Blöcke, die nacheinander abgearbeitet werden, vielmehr werden Lernsituationen entwickelt, die Kompetenzanforderungen (modifiziert nach Benner 1994) in den unterschiedlichen Seinszuständen abbilden und exemplarisch von einfachen zu komplexen Situationen, Wissensbeständen und Kompetenzen fortschreiten. 242 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Aus dem Rahmencurriculum wurden die Teilcurricula für Hochschule, Berufsfachschule und Praxis abgeleitet. Die Inhalte von Fachschulunterricht und Hochschullehre werden zeitlich möglichst koordiniert angeboten. So stehen Fragen der Professionalisierung und der Organisation des Pflegehandelns in beiden Lernorten relativ am Anfang von Ausbildung und Studium, wobei sich nicht die Themen, sondern die Perspektive der Bearbeitung unterscheiden. Während von den PflegepädagogInnen beispielsweise alle naturwissenschaftlichen Grundlagen der Anatomie, Physiologie und Krankheitslehre unterrichtet werden, werden an der Hochschule neben methodischen verstärkt handlungstheoretische Kompetenzen vermittelt, wie beispielsweise Fragen zu Bewältigungsstrategien chronisch Kranker. Ein eigenständiges Praxiscurriculum besitzt hohe Bedeutung für die notwendige Integration von Ausbildung und Studium, da Hoch- und Berufsfachschule auf die praktischen Erfahrungen der Studierenden/Auszubildenden rekurrieren. Das Praxiscurriculum bietet Strukturierungen für die gezielte Entwicklung und den Aufbau der pflegerischen Handlungskompetenzen in Situationen der Praxis und eine Verzahnung mit den theoretischen Wissensbeständen der Studierenden. Als Strukturierungs- und Steuerungshilfe dienen sogenannte Kompetenzcluster, die alle relevanten curricularen Elemente (Handlungskompetenzen, Handlungsbereich, Lernfeld, Entwicklungsstufe, Praxiseinsatzort, Praxisphase) zusammen führen. Die Berufsfachschulen organisieren und begleiten die praktische Ausbildung, wozu gemeinsam mit der Hochschule ein Praxishandbuch mit Lernaufgaben entwickelt wurde. Auch die Hochschule engagiert sich mit eigenen Modulen zum Praxislernen, in denen Praxisaufgaben gestellt werden und Praxiserfahrungen in die Lehre einbezogen werden. Damit soll auch den seit langem beklagten Anleitungslücken in der Praxisausbildung entgegengearbeitet werden. Ein wesentlicher Vorteil dieses gemeinsamen, klinisch orientierten Curriculums besteht darin, dass die Studierenden/Auszubildenden an den drei Lernorten nicht mit unterschiedlichen Zielen, Denklogiken und Handlungsmustern konfrontiert werden, sondern eine Art roten Faden vorfinden, der sich durch Ausbildung, Studium und Praxiseinsätze zieht. Im Osnabrücker Modell ist es darüber hinaus gelungen, das Rahmencurriculum für alle drei Pflegefachberufe (Gesundheits- und Kranken- sowie Kinderkrankenpflege und Altenpflege) gemeinsam zu konzipieren. An der Hochschule wird der Bachelor of Science in Pflege einheitlich für alle drei Pflegefachberufe angeboten. In den Kursen der verbundleitenden Schulen sind ebenfalls im generalistischen Ansatz alle drei Abschlüsse vertreten, wobei einige spezifische Inhalte getrennt unterrichtet werden müssen. Die Auszubildenden/Studierenden müssen sich allerdings bereits zu Beginn für eine berufliche Richtung entscheiden; nur so können die Ausbildungsgesetze eingehalten werden. Sollte der Gesetzgeber endlich seine Pläne für eine generalistische Pflegeausbildung umsetzen, wäre das Modell darauf vorbereitet. Sollte auch diese Reform noch einen langen und steinigen Weg durch die Ausschussmühlen zu überstehen haben, bietet dieses Modell eine gute Plattform für den Austausch zwischen den drei Pflegefachberufen und deren Zusammenhalt. 243 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 4.2 Folgen des Verschränkungsmodells für die Studierenden Die Studierenden/Auszubildenden werden in diesem Modell mit drei Lernorten konfrontiert, die je eigene Strukturlogiken aufweisen und deren komplexe Anforderungen zu bewältigen sind. Neben dem Lernen an Hoch- und Berufsfachschule stellt insbesondere der Kompetenzerwerb in der Praxis eine Herausforderung dar. Mit dem in den verbundleitenden Schulen gebildeten „Abiturientenkursen“ haben die Studierenden/Auszubildenden, die ja eine neue „Sorte“ in den Berufsfachschulen und in der Praxis darstellen und auch mit Widerständen rechnen müssen, einen gewissen Schutz durch ihre „peer group“. Möglich sind Abwehr von Seiten der Praxis und Konkurrenzängste von Seiten der rein fachschulisch Auszubildenden. Daraus können Identitätsprobleme, Inkompetenzgefühle wegen zu hoher Eigen- und Fremderwartungen und im schlechten Fall aus all dem folgend Abgrenzungsbedürfnisse bei den Studierenden/Auszubildenden entstehen. Daher muss Raum zur Bearbeitung und Reflexion eventueller Konflikte und von Störgefühlen gegeben werden, wofür neben der Berufsfachschule sich auch die Hochschule mit ihrem diskursiven, reflexionsorientierten Stil anbietet. Die ersten Erfahrungen lassen jedoch auf eine gedeihliche Zusammenarbeit hoffen, da der Zeitpunkt der Einführung offenbar günstig ist: In der Praxis werden qualifizierte Kräfte gebraucht und die Studierenden/Auszubildenden zeigen Respekt vor den Leistungen der Praktiker und entwickeln auch die Motivation, sich in die Praxis einzubringen. Festzustellen ist gleichwohl eine gewisse Verunsicherung der Studierenden/Auszubildenden, da sie nach den ersten Einsätzen gegenüber den dreijährig Auszubildenden weniger Praxiseinsatzzeiten und auch weniger Zeit an der auf die Praxis gezielt vorbereitende Berufsfachschule aufzuweisen haben, woraus eine geringere praktische Handlungskompetenz resultiert. Dies wird sich erwartbar im Laufe von Studium & Ausbildung – insbesondere im zusätzlichen 4. Jahr – regulieren. 4.3 Strukturelle Stützsysteme im Verschränkungsmodell Um einer Überforderung beim Bewältigen der drei Lernorte vorzubeugen, ist im Verschränkungsmodell für die Studierenden/Auszubildenden gerade in der praktischen Ausbildung ein engmaschiges Betreuungsnetz erforderlich. Die Praxis als eigentlicher Ort beruflichen Pflegehandelns stellt sich für die Sozialisation der Anfänger als sehr wirkmächtig dar, da die realen Probleme und deren Bewältigung für die Praktiker Vorrang vor den theoretischen Erkenntnissen haben und es das nachvollziehbare Bestreben der Auszubildenden/Studierenden ist, in den Teams ihrer zukünftigen Arbeitgeber Anerkennung zu finden. Daher gehört es – wie bereits ausgeführt – zum Konzept, an allen Orten mit möglichst gleichen curricularen Vorstellungen zu arbeiten. Zu diesem Zweck wird verstärkt darauf geachtet, dass die Auszubildenden/Studierenden das ihnen gesetzlich zustehende Maß an Praxisanleitung und -begleitung auch erhalten. Im Gegenzug bietet die Hochschule in Kooperation mit den Berufsfachschulen zwei Tage pro Semester Fortbildung für die PraxisanleiterInnen an, die das klinische Qualifikationsprofil und die Anforderungen an höhere Eigenständigkeit der neuen akademischen Pflegefachkräfte vermitteln helfen. Diese Fortbildungen werden stark nachge244 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge fragt. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die Kompetenzerweiterung der PraxisanleiterInnen auch den traditionell dreijährig Auszubildenden zugute kommt. Ebenso gibt es einen regelmäßigen Austausch zwischen den verantwortlichen HochschuldozentInnen des Studiengangs und den BegleitdozentInnen der Berufsfachschulen. Zur Koordination aller drei Lehr- und Lernorte ist ein Beirat eingerichtet, der sich mit allen Fragen der Kooperation beschäftigt. Die enge Verbindung der Berufsfachschulen mit der Hochschule wird auch dadurch bestärkt, dass DozentInnen der Berufsfachschulen für einzelne Module Lehraufträge an der Hochschule übernehmen. Damit werden erste Schritte zur institutionellen Verknüpfung bei gleichberechtigter Kooperation eingeleitet (vgl. zur generalistischen Ausbildung Müller 2009; Dielmann 2010a, 2010b; Reiche 2010; Schmitt et al. 2010). 5. Das Berufsprofil der AbsolventInnen dualer Studiengänge Allen vorgestellten Kombinationsmodellen ist gemeinsam, dass sie grundsätzlich eine klinische Orientierung verfolgen, also für patienten-/bewohnernahe Aufgaben qualifizieren sollen. Sie können nur erste Schritte spezialisierter Expertise vermitteln, beispielsweise in den Feldern Beratung und Qualitätsentwicklung. Die Ausbildungsanteile richten sich vollständig und die Studienanteile zumindest überwiegend auf die direkte Praxis der Betreuung von PatientInnen und BewohnerInnen sowie deren Angehörigen. Salopp formuliert wird damit der „Bachelor am Bett“ möglich, wenn von den Einrichtungen die dafür notwendigen, für komplexere Aufgaben in der Praxis ausgewiesenen und entsprechend dotierten Stellen geschaffen werden. Das Aufgabenprofil dieser Stellen beinhaltet die Verantwortungsübernahme für den gesamten Pflegeprozess der Patienten/Bewohner in einem dafür geeigneten Bezugspflegesystem wie dem Primary Nursing. Dazu gehört die Planung und Durchführung der Pflege zusammen mit Assistenzkräften sowie deren Anleitung und Supervision, die umfassende Gestaltung der patienten-/bewohnernahen Versorgungsprozesse einschließlich der dazu gehörigen Kommunikation und Kooperation mit den an diesen Prozessen beteiligten Berufsgruppen, sowie Anleitung, Schulung und Beratung von PatientInnen, BewohnerInnen und Angehörigen. Das ist in vielen Einrichtungen sicher noch Zukunftsmusik, es ist aus zwingenden Gründen jedoch erforderlich, diesen Weg zu gehen. Die demografische Entwicklung mit dem Fachkräftemangel im Gefolge hat in der Pflege bereits eingesetzt, zumal die Attraktivität des Berufes in den letzten Jahren durch Erhöhung des Arbeitsdrucks bei gleichzeitiger Senkung der Vergütung erheblich gelitten hat. Für den Pflegebereich kann man von einer Schere zwischen Bedarf und Angebot sprechen, die sich weiter öffnen wird, denn parallel zu kleiner werdenden Kohorten potenziellen Pflegenachwuchses steigen die Zahlen der Pflegebedürftigen merklich. Von Anwerbeaktionen aus dem Ausland kann nur geringe Wirkung erwartet werden, da die im Hinblick auf Sprachund Fachkompetenz in Frage kommenden Regionen meist mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Auch Reaktivierungsversuchen ausgeschiedener Pflegefachkräfte sind erfahrungsgemäß enge Grenzen gesetzt. Das bedeutet, dass der Anteil von Assis245 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 tenzkräften in der Pflege zwangsläufig steigen wird. Damit wird eine Gruppe höher qualifizierter und zu selbstständiger Arbeitsorganisation befähigter Fachkräfte unumgänglich. Sollten – nebenbei bemerkt – die gesundheitspolitischen Pläne zur Übertragung medizinischer Aufgaben auf entsprechend qualifizierte Pflegefachkräfte in größerem Umfang umgesetzt werden, wie es die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses nahelegen, würde das den Fachkräftemangel in der Pflege zunächst verschärfen. Eine positive Auswirkung auf das Image mit folgendem Bewerberanstieg wäre aber durchaus denkbar. Erwartbar ist, dass der Bedarf an wissenschaftlich qualifizierten Pflegefachkräften, die für Anleitung und Supervision von Assistenzkräften zur Verfügung stehen, weit über die Kapazitäten der klinisch orientierten Studiengänge hinaus gehen, auch wenn diese noch erweitert werden. Das wird den Druck auf die Bildungs- und Gesundheitspolitik erhöhen, umfassende Reformen der Pflegeausbildung mit bundesweiter Planung und unter Einbeziehung aller bislang erzielten Modellerfahrungen anzugehen. 6. Konsequenzen für die Professionalisierung der Pflegeberufe und für die Pflegewissenschaft Was bedeutet die hier prognostizierte Entwicklung für die Professionalisierung der Pflegeberufe und für die Pflegewissenschaft? Die Antwort fällt scheinbar paradox aus: Die Professionalisierung der Pflege wird mit einer breiten Etablierung jeder Variante der hier angesprochenen Kombinationsmodelle von Ausbildung und Studium einen großen Schritt voran tun, die Entwicklung der Pflegewissenschaft würde erheblich gebremst werden. Mit dem Fokus auf den Beruf würde die Pflege den Normalvorstellungen einer Profession als studierter Beruf mit gesellschaftlichem Auftrag und besonderen Rechten erheblich näher kommen. Die Entwicklung der vertikalen Aufspaltung des Berufes in Fach- und Assistenzkräfte ist aufgrund der demografischen Entwicklung ohnehin nicht aufzuhalten und findet sich auch in professionspolitisch weiter fortgeschrittenen Ländern wie den USA, Großbritannien oder auch den Niederlanden. Mit Blick auf die Pflegewissenschaft sieht es anders aus. Zunächst einmal sind mit für den wissenschaftlichen Nachwuchs die angesprochenen Kombinationsmodelle einer wissenschaftlichen Sozialisation nicht wirklich zuträglich. Alle Modelle arbeiten in unterschiedlichem Ausmaß mit verdichtetem Programm, verkürzten Anwesenheitszeiten an der Hochschule und Mehrfachanforderungen von theoretischer und praktischer Ausbildung und Studium. Die für die wissenschaftliche Entwicklung notwendigen Freiräume sind damit nur begrenzt gegeben. Wie auch international zu verzeichnen, verlagern sich die Hoffnungen auf wissenschaftlichen Nachwuchs im eigentlichen Sinne auf den Promotionsbereich, sogar auf Post-Doc-Programme. Wie viele der primär für den Beruf qualifizierten und sozialisierten studierten Pflegefachkräfte den auch finanziell immer schwieriger werdenden Weg weiterer akademischer Qualifikation gehen werden, bleibt abzuwarten. Bereits die aktuellen Erfahrungen mit den Masterprogrammen sind nicht unbedingt ermutigend. 246 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Auf Seiten der sich jetzt im System befindlichen PflegewissenschaftlerInnen ist eine ähnliche Ambivalenz festzustellen. Einerseits haben sie viel Energie in die Durchsetzung der Pflegewissenschaft als Disziplin gesteckt und waren dabei mittels ausgeprägter Forschungs- und Entwicklungstätigkeit durchaus erfolgreich. Andererseits sehen sie den Bedarf an primär qualifizierenden Studienprogrammen für die Praxis. Nur: je mehr sie sich dieser Aufgabe stellen – und dies tun sie aller Orten –, desto umfassender werden sie von den Aufgaben der Studiengangsentwicklung, Akkreditierung, Kooperationen mit der Praxis, aufwändigerer Betreuung der Studierenden usw. absorbiert. Ihre weiteren Rollen als ForscherInnen, WissenschaftsentwicklerInnen, aktiven Mitgliedern der Scientific Community in Fachgesellschaften, Beiräten usw. und ernstzunehmenden Akteuren im Hochschulmanagement müssen sie notgedrungen dafür zurückstellen. Je erfolgreicher die dualen Studiengänge als nächster Professionalisierungsschritt sein werden, desto weniger Freiräume haben sie für komplexe Forschungsund Entwicklungsaufgaben, in die sie die dual Studierenden/Auszubildenden aufgrund der Dichte deren Lernprogramms auch nur ganz begrenzt einbeziehen können. Von einer Förderung der Promotionsprogramme in der Pflege, die sowohl den Forschungsaktivitäten als auch der Qualifizierung wissenschaftlichen Nachwuchses dient, ist bildungs- und gesundheitspolitisch zur Zeit nur in ganz kleinen Modellversuchen die Rede, die sich, wie eine aktuelle Kooperation der Hochschule Osnabrück mit der Universität Witten/Herdecke, darüber hinaus programmatisch auf die gleichberechtigte Kooperation von Hochschulen und Universitäten in Promotionsprogrammen richten und dies nur nebenbei am Thema der Pflege und des Hebammenwesens konkretisieren. Es wird ein langer Weg für alle Beteiligten. Literatur Benner, P. (1994): Stufen zur Pflegekompetenz. From Novice to Expert. Huber: Bern Dielmann, G. (2010a): Pflegeausbildung neu gedacht? – Zum Ausbildungsmodell einer Zukunftswerkstatt der Robert Bosch Stiftung. Pflege und Gesellschaft, 15. Jg., Nr. 3, S. 87-93 Dielmann, G. (2010b): Achtung Baustelle. Ausbildungsreformen in den Gesundheitsberufen. Dr. med Mabuse, Nr. 187, S. 24-27 Lüftl, K./Kerres, A. (2010a): Einführung des ausbildungsintegrierenden Bachelorstudiengangs Pflege Dual an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München in Kooperation mit fünf Berufsfachschulen – Erste Ergebnisse aus der Begleitforschung. Pflegewissenschaft PrInterNet, Nr. 11, S. 581588 Lüftl, K./Kerres, A. (2010b): Erste Ergebnisse der Evaluationsstudie zu „Pflege Dual“. Die Schwester / Der Pfleger, 49. Jg., Nr. 12, S. 1234-1237 Köber, H./Ruck, B. (2007): Bachelor of nursing: Examen bestanden. Heilberufe, Nr.11, S. 63-64 Moers, M./Schaeffer, D./Schnepp, W. (2011): Too busy to think? Essay über die spärliche Theoriebildung der deutschen Pflegewissenschaft. Pflege, 24. Jg., Nr. 6, S. 349-360 Müller, K. (2009): Trends in der Pflegebildung: Ergebnisse deutscher Modellprojekte. Pflegewissenschaft PrInterNet, Nr. 04, S. 197-200 Oelke, U./Maier, K. (2005): Pflegeausbildung & Pflegestudium kombinieren. Ein neuer dualer Studiengang mit dem Abschluss „Bachelor of Arts (Nursing)“. PrInterNet, Nr. 01, S. 19-24 Reiche, R. (2010): Generalistische Ausbildung. Prüfungen im Modellvorhaben „Pflegeausbildung in Bewegung“. Padua, Nr. 2, S. 45-51 247 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Reinhart, M. (2003): Der berufsintegrierte pflegeerstausbildende Studiengang „Bachelor of Nursing“ an der Evangelischen Fachhochschule Berlin. Pflege & Gesellschaft, 8. Jg., Nr.3, S. 105-111 Schaeffer, D. (2004): Zur Professionalisierbarkeit von Public Health und Pflege. In: Schaeffer, D./Moers, M./Rosenbrock, R. (Hrsg.): Public Health und Pflege. Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen. 2. Auflage. Berlin: edition sigma, S. 103 - 126 Schmitt, S/Bomball, J. (2010): Kompetenzerfassung im Rahmen der Evaluation des Berliner Modellversuches „generalistische Pflegeausbildung“. PrInterNet, Nr. 12, S. 681-696 Teetz, I./Hergert, A. (2005): Dualer Studiengang „Gesundheits- und Krankenpflege und Nursing and Administration. Ein Kooperationsprojekt zwischen dem Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Neubrandenburg und der Fachhochschule Neubrandenburg. PrInterNet, Nr. 1. S. 50-54 Prof. Dr. Martin Moers Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft, Postfach 1940, 49009 Osnabrück; Moers@wi.hs-osnabrueck.de (Korrespondenzadresse) Dipl. Soz. Päd. Ute Schöniger Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft, Postfach 1940, 49009 Osnabrück Dipl. Pflege-Päd. Marlies Böggemann Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft, Postfach 1940, 49009 Osnabrück Michael Schilder, Susann Florian Die Entlastung pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen aus der Sicht der Nutzer und der Anbieter The reliefs of caregivers of people with dementia through low-threshold care groups from the caregivers and the professional’s points of views Informal caregivers of people affected by dementia experience a lot of care centered strain with possible implications for fur ther health impairments in the future. But nevertheless they do not make use of low-threshold care groups in time. Hence this research examines the satisfaction with relief of informal carers using low-threshold care groups, which are offered by 13 out-patient care ser vices in a district in Hesse. The informal carers (N = 56; response rate: 66%) are examined with a questionnaire and the nursing managers (N = 11) and nurses / social workers (N = 13) involved directly in the low-threshold care groups are inter viewed with guided inter views. The results show a high need for fur ther respite for the informal carers especially in the daily suppor t und super vision of the eingereicht 23.09.2011 akzeptiert 22.12.2011 (nach Überarbeitung) 248 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge people with dementia in the home care setting. Repressive and promotional factors for using these low-threshold care groups are identified as well. They demonstrate the requirement of more specific strategies in the ser vice of the low-threshold care groups. There have to be more effor ts to reach the target group in combination with the enlargement and flexibility of time in the low-threshold care groups. Keywords relief, dementia caregiver’s, low-threshold care groups Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz sind vielfältigen pflegebedingten Belastungen mit möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Doch nehmen sie Entlastungsangebote zu wenig oder zu spät in Anspruch. Dieses Forschungsprojekt untersucht daher die Deckung des Entlastungsbedar fs der Zielgruppe durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen, die von 13 ambulanten Pflegediensten in einem hessischen Landkreis angeboten werden. Mit strukturier ten Fragebögen sind die pflegenden Angehörigen dieser Betreuungsgäste (N = 56; Rücklaufquote: 66%) und die Pflegedienstleitungen (N = 11) sowie auch die in den Betreuungsgruppen selbst aktiven Fachpersonen (N = 13) mittels qualitativer Leitfadeninter views befragt worden. Die Ergebnisse zeigen einen hohen ungedeckten Entlastungsbedar f der Zielgruppe im Bereich der Betreuung und der Beaufsichtigung der Menschen mit Demenz im häuslichen Bereich. Zudem wurden hemmende und fördernde Faktoren der Inanspruchnahme des Angebots identifizier t, die offenbaren, dass die Entlastungsangebote zielgruppenspezifischer ausgerichtet sein sollten. Weitere Initiativen sind zur Erreichung der Zielgruppe erforderlich, die von einer zeitlichen Er weiterung und Flexibilisierung des Angebots flankier t werden sollten. Schlüsselwörter Entlastung, Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz, niedrigschwellige Betreuungsgruppe 1. Einleitung und Hintergrund der Studie In Deutschland leben zurzeit 1,3 Millionen Menschen mit Demenz1. Neuesten Schätzungen zufolge wird sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 verdoppeln (Sütterlin et al. 2011: 6). Knapp zwei Drittel von ihnen wird ambulant versorgt und davon werden 80% zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt (Dietl et al. 2010: 99). Somit ist die Angehörigenpflege die häufigste Versorgungsform in der ambulanten Langzeitversorgung (Schneekloth 2006: 406). Doch stellen pflegende Angehörige nicht nur eine personelle, sondern auch eine finanzielle Ressource für das deutsche Pflegesystem dar, weil die Pflege von Menschen mit Demenz teurer als die Diagnostik und pharmakologische Behandlung ist (Hallauer et al. 2000: 78). Diesen Bedarf nach Angehörigenpflege decken überwiegend Mitglieder des engeren Familienkreises, wie Ehepartnerinnen, Kinder und Enkelkinder sowie Schwiegerkinder (Heinemann-Knoch et al. 2006: 415; Kofahl et al. 2005: 490; Schäufele et al. 2005: 120-121; Winkler et al. 2006: 19). 1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit darauf verzichtet, bei der Bezeichnung von Personen sowohl die weibliche als auch die männliche Form zu verwenden. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint. 249 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Doch bringt die häusliche Pflege eines Menschen mit Demenz eine Vielzahl an Anforderungen mit sich, denen die pflegenden Angehörigen meist nicht gewachsen sind. So stellen sich Belastungen in körperlicher, emotionaler, sozialer, ethisch-moralischer, zeitlicher und finanzieller Hinsicht ein (Beyrodt et al. 2007: 46; Schacke et al. 1998: 356; Schäufele et al. 2005: 122; Schneekloth et al. 2005: 405; Winkler et al. 2006: 20; Sütterling et al. 2011: 31). Dies wiederum kann sich nachteilig auf ihre gesundheitliche Situation auswirken: von psychosomatischen Beschwerden, Depressionen, einer höheren Erkrankungswahrscheinlichkeit an Demenz, bis hin zu einer möglichen höheren Sterbewahrscheinlichkeit. Neben der Veränderung des Pflegestils droht auch der Zusammenbruch des häuslichen Pflegearrangements (BMFSJ 2002: 201; Gräßel 2001: 2; Jünemann et al. 2004: 233; Gloor 2006: 29; Schäufele et al. 2005: 123; Auer et al. 2007: 170; Schulz et al. 1999: 2217; Isfort et al. 2008: 816; Sütterling et al. 2011: 31). Zur Aufhebung, Verringerung oder Verhinderung von pflegebedingten Belastungen sind in Deutschland mit Einführung des Pflege-Ergänzungsgesetzes 2002 Entlastungsangebote initiiert worden (§§ 45 ff. SGB XI). Entlastungsangebote beziehen sich neben u.a. den ambulanten Pflegediensten, der Tages-, Kurzzeit- und Verhinderungspflege auch auf die sogenannten niedrigschwelligen Betreuungsangebote. Dies sind „Betreuungsangebote, in denen Helfer und Helferinnen unter pflegefachlicher Leitung die Betreuung von Pflegebedürftigen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung in Gruppen oder im häuslichen Bereich übernehmen sowie pflegende Angehörige entlasten und beratend unterstützen“ (45 c Absatz 3 SGB XI). Getragen werden diese Angebote häufig von ambulanten Pflegediensten (Sauer 1997). Ihre Anzahl hat seit der Installation im Pflegeversicherungsgesetz zugenommen (Kurz 2010: 29-30). Entscheidend für Entlastung ist aber, ob diese Art Entlastungsangebot von der Zielgruppe genutzt und als entlastend wahrgenommen wird. Forschungsbefunde weisen jedoch darauf hin, dass Entlastungsangebote von pflegenden Angehörigen kaum genutzt werden (Kofahl et al. 2005: 491; Winkler et al. 2006: 23). Anlass der Studie ist ein drei jähriges Modellprojekt (2008-2011) zur Einführung der Beratungs- und Koordinierungsstelle Demenzservicezentrum (DSZ), das vom Land Hessen gefördert wird. Die Initiative dazu ging vom Diakonischen Werk Darmstadt-Dieburg und der Interessengemeinschaft Demenzbetreuung (IGDB), einem Zusammenschluss von ambulanten Pflegediensten als Träger der zu untersuchenden niedrigschwelligen Entlastungsangebote, aus. Dieses Forschungsprojekt richtet sich auf die Untersuchung der Deckung des Entlastungsbedarfs pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen der IGDB, die vom DSZ koordiniert werden. Zur Vorbereitung dieser Studie ist im Rahmen einer Literaturstudie geklärt worden, was die Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten seitens pflegender Angehöriger beeinflusst und welche Effekte durch deren Nutzung bei ihnen auszumachen sind. 250 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge 2. Literaturstudie zur Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten und zu deren Entlastungseffekten Im Zeitraum von Februar 2009 bis August 2011 sind Literaturrecherchen zur Inanspruchnahme und zur Effektivität von Entlastungsangeboten für pflegende Angehörige in den Datenbanken Medline (PubMed) und Carelit mit folgenden Schlagwörtern durchgeführt worden: „dementia, caregiver, respite care, intervention, support intervention, care groups, low-threshold care groups, ambulatory care groups, burden, disstress, effective“ und „Belastung, Entlastung, niedrigschwellige Betreuungsgruppe, pflegende Angehörige und Demenz“. Vorab wurden diese Schlagwörter in den Thesauri der einzelnen Datenbanken (MeSH-Terms) bezüglich der Indexierung überprüft. Die Literaturrecherche wurde durch eine Handsuche in den Bibliotheken der Evangelischen Hochschule Darmstadt und der Fachhochschule Frankfurt am Main ergänzt, in denen die letzten fünf Jahrgänge der folgenden einschlägigen Fachzeitschriften ausgewertet wurden: Pflege, Pflege & Gesellschaft, Pflegezeitschrift, Die Schwester / Der Pfleger, Altenpflege, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie und Journal of Advanced Nursing. Um Aufschluss über die Deckung des Entlastungsbedarfs durch niedrigschwellige Entlastungsangebote zu erhalten, war zuerst zu erheben, was die Inanspruchnahme beeinflusst, da diese die zentrale Voraussetzung für die Entlastung durch das Entlastungsangebot darstellt. Zudem stellt sich der Literatur zufolge gerade die nicht rechtzeitige Inanspruchnahme als das zentrale Problem effektiver Entlastung heraus. Außerdem sollte mit der Literaturrecherche eruiert werden, welche entlastenden Effekte von den Entlastungsangeboten ausgehen. Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten Die geringe Nutzung von Entlastungsangeboten wird einerseits auf Wissensdefizite der pflegenden Angehörigen und andererseits auf hinderliche strukturelle Rahmenbedingungen zurückgeführt (Kofahl et al. 2005: 492; Winkler et al. 2006: 23). Auf Seiten der pflegenden Angehörigen können Vorurteile gegenüber den Leistungserbringern, wie fehlende fachliche Kompetenz und geringe Empathie, sowie die Angst vor Stigmatisierung aufgrund der Inanspruchnahme, von einer Nutzung abhalten (Beyrodt et al. 2007: 51; Brodaty et al. 2005: 544). Werden die Angehörigen hingegen über die Entlastungsangebote von einer ihnen bekannten und kundigen Person informiert und beraten, fördert dies deren Inanspruchnahme (Brodaty et al. 2005: 542; Laag et al. 2010: 184). Der direkte Kontakt zu den Angehörigen ist die beste Möglichkeit, um Hemmschwellen der Inanspruchnahme zu minimieren sowie Bedarfe und Ressourcen frühzeitig zu erkennen (Brodaty et al. 2005: 542; Dörpinghaus et al. 2006: 28; Schneekloth, 2006: 411). Auf der Seite der Entlastungsangebote kann deren Zugänglichkeit durch weite Wege, fehlende Beförderungsmöglichkeiten, lange Wartezeiten und unflexible Öffnungszeiten erschwert sein (Breidert 2001: 65; Beyrodt et al. 2007: 50; Gräßel 1998: 55). Noch dazu können unflexible Zugangsweisen und unzureichende Öffentlichkeitsarbeit das Auffinden von Entlastungsangeboten erschweren und bei der Zielgruppe das Gefühl hinterlassen, zu spät über die Entlastungsangebote informiert wor251 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 den zu sein (Meyer et al. 2008: 45; Weimer 2008: 30; Kofahl et al. 2005: 492). Neben einer bedürfnisorientierten Verfügbarkeit von Entlastungsangeboten (Weimer 2008: 31) wird vor allem in internationalen Studien darauf hingewiesen, dass Fahrdienste die Nutzung der Angebote erleichtern können (Biegel et al. 1993: 433; Kosloski et al. 1993: 411; Toseland et al. 2002: 1261). Darüber hinaus wurde in einer Studie festgestellt, dass die Qualität der Pflege und somit die Kompetenzen der Betreuer das Inanspruchnahmeverhalten positiv beeinflussen können (Kosloski et al. 1993: 411). Doch welche entlastenden Effekte durch die in Anspruch genommenen Entlastungangebote sind für die pflegenden Angehörigen in der Literatur nachweisbar? Entlastung durch niedrigschwellige Entlastungsangebote Der Studienlage zufolge fördern Entlastungsangebote die Gesundheit und die Selbstpflege der Angehörigen, indem sie deren Allgemeinzustand verbessern, zu einer höheren Lebensqualität und einem subjektiv höheren Wohlbefinden führen können (Brodaty et al. 1989: 1387; Knauf 2004: 127; Hinchliffe et al. 1995: 845; Vetter et al. 1997: 182). Auch eine psychische Entlastung kann sich durch die Initiierung sozialer Kontakte einstellen (Dörpinghaus et al. 2006: 27; Gloor 2006: 31; Kern 2007: 147; Schänzle-Geiger 2006: 33). Weitere mögliche Effekte liegen in Form einer verminderten Mortalitätsrate und einer verbesserten Selbstpflegekompetenz der Angehörigen vor (Kuzuya et al. 2006: 1368; Laag et al. 2010: 184). Neben den gesundheitsfördernden Effekten kann auch die Angehörigenpflege positiv beeinflusst werden, wie etwa in Form eines optimierten Kommunikationsverhaltens, der Abnahme intrapersonaler Rollenbelastungen und der Steigerung der Motivation zur Angehörigenpflege (Haupt et al. 2000: 503; Laag et al. 2010: 184; Jost et al. 2006: 147). Auch der längere Verbleib des Menschen mit Demenz in seiner häuslichen Umgebung ist als positiver Effekt hervorzuheben (Eloniemi-Sulkava et al. 2004: 39; Vetter et al. 1997: 182). Am effektivsten ist die Wirkung von Entlastungsangeboten, wenn sie sowohl auf der Verhaltens- als auch auf der Verhältnisebene des Familiensystems ansetzen, was allerdings multimodale Angebote erfordert (Pinquart et al. 2002: 94-95; Mantovan et al. 2010: 224). Im Rahmen der Literaturrecherche konnten zwar Studien zur Deckung des Entlastungsbedarfs durch Entlastungsangebote allgemeiner Art und deren Verbesserungsmöglichkeiten in Bezug auf die Inanspruchnahme identifiziert werden. Jedoch sind die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf die niedrigschwelligen Betreuungsgruppen in Deutschland übertragbar, da die Untersuchungen in anderen Kulturkreisen und Gesundheitssystemen stattfanden oder sich auf andere Entlastungsangebote bezogen (Pinquart et al. 2002: 94). In Deutschland haben neuere Studien die Entlastung durch verschiedene Entlastungsangebote (Laag et al. 2010: 182; Isfort et al. 2011: 133) und auch durch Betreuungsgruppen untersucht (Gräßel et al. 2009: 394). Die Einschätzung eines spezifischen Betreuungsangebots durch deren Nutzerinnen und Anbieter ist bislang jedoch nicht erforscht worden. Diese Wissenslücke im Hinblick auf die Deckung des Entlastungsbedarfs durch ein spezifisches niedrigschwelliges Betreuungsangebot aus der Sicht der Nutzerinnen und der Anbieter soll in dieser Studie geschlossen werden. 252 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge 3. Der Entlastungsbedarf im Kontext Orems SelbstpflegedefizitTheorie und Beckers Anforderungs- und Ressourcenmodell Der Begriff der Entlastung wird unter Bezugnahme auf Orems SelbstpflegedefizitTheorie (SPDT) und Beckers Anforderungs-Ressourcen-Modell geklärt. Im Rahmen der SPDT ist die Angehörigenpflege als Dependenzpflege konzeptualisiert, die das Handeln der Dependenzpflegehandelnden zur Erfüllung der Selbstpflegeerfordernisse des von ihm abhängigen Menschen umfasst (Orem 1997: 9; Dennis 2001: 30, 112). Die Aufrechterhaltung dieses Dependenzpflegesystems erfordert Selbstpflege der pflegenden Angehörigen. Dependenz- und Selbstpflege bedürfen wiederum Kompetenzen, die die Einschätzungs-, Beurteilungs- und Ausführungsfähigkeit umfassen. Kommt es zu einer Einschränkung auf diesen Kompetenzebenen, kann sich bei Nichterfüllung der Selbstpflegeerfordernisse ein Selbst- und/ oder ein Dependenzpflegedefizit ergeben (Dennis 2001: 115, 117). Da das Dependenzpflegesystem auch durch umgebungsbezogene Faktoren beeinflusst wird, wird weiter Beckers Anforderungs- und Ressourcen-Modell einbezogen, welches auf einer Gleichgewichtsvorstellung zwischen innerhalb (intern) und außerhalb (extern) der Dependenzpflege-Handelnden liegenden Anforderungen und Ressourcen basiert (Becker 2006: 111; Höhmann et al. 2010: 112). In dieser Studie wird unter Entlastung der Aufbau interner Ressourcen der pflegenden Angehörigen, wie z.B. Wissen über die Krankheit und deren Verlauf, und externer Ressourcen, wie die Mobilisierung des sozialen Netzwerkes, sowie der Abbau interner Anforderungen, wie eine zu geringe Selbstaufmerksamkeit, und externer Anforderungen, wie das Fehlen adäquater Entlastungsangebote, verstanden. Der Entlastungsbedarf pflegender Angehörigen von Menschen mit Demenz begründet sich aus dem Ungleichgewicht der die Ressourcen übersteigenden Anforderungen, die sowohl den Verhältnissen und als auch dem Verhalten geschuldet sein können (Becker 2006: 111). 4. Methodik der Untersuchung Das Ziel dieser Studie ist herauszufinden, inwieweit der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz durch die Inanspruchnahme von Betreuungsgruppen der IGDB gedeckt wird. Um Aufschluss über die Perspektiven der Nutzer wie auch der Anbieter zu erhalten, sind beide Personengruppen einbezogen worden. Zur Erforschung der Sichtweise der das Angebot nutzenden pflegenden Angehörigen dienen die folgenden Forschungsfragen: - Worin besteht der Entlastungsbedarf pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz, die eine niedrigschwellige Betreuungsgruppe der IGDB nutzen? - Was hindert und was fördert aus der Sicht der Nutzer deren Inanspruchnahme? - Inwiefern wird der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen durch die niedrigschwellige Betreuungsgruppe der IGDB gedeckt? Zur Beantwortung der ersten Frage nach dem Entlastungsbedarf ist ein strukturierter Fragebogen mit offenen Ergänzungsfragen in Anlehnung an das BIZA-D, die HPS253 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Skala und das Trajekt-Modell entwickelt worden (Gräßel 2002; Zank et al. 2006: 297, Corbin et al. 2010). Der Fragebogen eignet sich zur Bewältigung der besonderen Zugangsproblematik zu einer vulnerablen Probandengruppe, da er von aus der Betreuungsgruppe vertrauten Fachpersonen an sie verteilt, anonym ausgefüllt und in einem verschlossenen Umschlag wieder an die Fachpersonen zurückgegeben werden konnte. Auch in zeitlicher Hinsicht erschien ein Fragebogen niedrigschwelliger als ein Interview, da die Probanden selbst über dessen Beantwortung entscheiden konnten. In einem Anschreiben wurden die freiwillige Teilnahme, die Möglichkeit des Widerrufs sowie die Einhaltung von Anonymität zugesichert. In dieser Hinsicht sind etwaige mit der Teilnahme an der Studie verbundene Schäden für die Teilnehmer vermieden bzw. vermindert worden. Auch aus methodischen Gründen bot sich ein Fragebogen an, um möglichst viele Nutzerinnen der Entlastungsangebote einbeziehen zu können. Nicht zuletzt ist im Rahmen der Literaturstudie eine tragfähige Wissensbasis zur Strukturierung des Fragebogens identifiziert worden. Kriterien für die Auswahl des BIZA-D und der HPS-Skala waren deren nachgewiesene Eignung zur Erfassung der Belastungssituation pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz (Zank et al. 2006). Aus diesen Skalen sind Items zur Erfassung des Entlastungsbedarfs im Hinblick auf die Kategorien Haushaltsführung, Pflege und Betreuung übernommen worden. Diese sind um weitere selbst konstruierte Items in der Kategorie Entlastung für sich selbst aus dem Traject-Modell ergänzt worden, um auch die auf die eigene Person bezogenen Bewältigungsarbeiten mit berücksichtigen zu können. Die Items innerhalb dieser vier Kategorien sind jeweils um eine offene Frage Sonstiges ergänzt worden, um den Probanden über die Antwortvorgaben hinausgehende Auskünfte zu ermöglichen. Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage nach den die Inanspruchnahme beeinflussenden Faktoren wurden Items literaturbasiert formuliert. Die Probanden konnten ihre Zustimmung oder Ablehnung zu diesen Items auf einer dichotomisierten Skala mit den Ausprägungen ja / nein angeben. Auch hier konnten die Probanden mittels einer offenen Frage weitere Angaben zu ihrem Inanspruchnahmeverhalten machen. Die dritte Forschungsfrage im Hinblick auf die Deckung des Entlastungsbedarfs durch die niedrigschwellige Betreuungsgruppe wurde auf der Basis selbst konstruierter Items mittels einer Likert-Skala mit den Ausprägungen vollständig, teilweise, wenig und nicht operationalisiert. Daneben wurden auch der ambulante Pflegedienst und die häusliche Einzelbetreuung einbezogen, weil Entlastungsangebote mitunter auch in Kombination genutzt werden. In einer offenen Anschlussfrage konnte auch hier die Begründung für die Einschätzung frei ergänzt werden. Der Fragebogen enthielt schließlich soziodemografische Fragen über die Probanden. Der Zugang zu den Probanden wurde über die Pflegedienstleitungen und die Fachpersonen in den Betreuungsgruppen der 13 ambulanten Pflegedienste der IGDB hergestellt. Die Datenerhebung erfolgte nach einem Pretest im Juli 2009 von Mitte August 2009 - Januar 2010. Mit 56 von 84 versendeten Fragebögen wurde eine Rücklaufquote von 66% erzielt. Die Datenauswertung erfolgte im Rahmen einer deskriptiven Statistik mittels EXCEL und SPSS. Die offenen Anschlussfragen wurden mittels der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet. Die aus den 254 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Antworten der Befragten induktiv gebildeten Kategorien wurden schließlich im Anschluss ebenfalls deskriptiv statistisch ausgewertet. Als Anbieter des Entlastungsangebots sind 11 Pflegedienstleitungen (PDLs)2 der ambulanten Pflegedienste der IGDB, 10 Pflegefachkräfte und 3 Sozialarbeiterinnen als Ansprechpersonen in den Betreuungsgruppen (APBs) von April-August 2009 mittels qualitativer Leitfadeninterviews zu den folgenden Forschungsfragen befragt worden (Flick 2006; Gläser et al. 2006): - Welche Faktoren beeinflussen aus der Sicht der Anbieter die Inanspruchnahme der Betreuungsgruppe der IGDB durch die pflegenden Angehörigen? - Wie schätzen die Fachpersonen die Deckung des Entlastungsbedarfs pflegender Angehöriger durch die Inanspruchnahme der Betreuungsgruppe der IGDB ein (vgl. Abbildung 1)? Qualitative Interviews boten sich aufgrund der Wissenslücke zur Fachkraftperspektive zum Zeitpunkt der Erhebung an. Zudem interessierte die subjektive Sichtweise dieser Fachkräfte der IGDB. Zur Erfassung der spezifischen Situation im untersuchten Landkreis sollte deren Einschätzung möglichst umfänglich exploriert werden. Die Interviewleitfäden basieren auf den Literaturbefunden zum Entlastungsbedarf und den Einflussfaktoren der Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten. Die konstruierten Themenkomplexe sondieren die eigene Erfahrung mit der Zielgruppe, die Einschätzung des Entlastungsbedarfs der Zielgruppe und schließlich den Beitrag der Entlastungsangebote zur Deckung des Entlastungsangebots. Bei den PDLs wurden die Organisation und Rahmenbedingungen und bei den APBs die Arbeit in den Entlastungsangeboten und deren Effekte auf die Deckung des Entlastungsbedarfs angesprochen. Die Themenkomplexe enthielten Stichworte, die im Interview als offene Fragen ausformuliert wurden (Gläser et al. 2006). Die Interviews sind in den ambulanten Pflegediensten und in den Betreuungsgruppen durchgeführt worden, nachdem die Teilnehmer informiert eingewilligt haben und ihnen Anonymität zugesichert wurde. Sie dauerten zwischen 1-2 Stunden. Die Auswertung erfolgte nach verbatimer Transkription der mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichneten Interviews in Form einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. Die Themenkomplexe und die Stichworte der Interviewleitfäden fungierten auf der Basis des dargestellten theoretischen Rahmens als erste Kategorien, die die Datenauswertung strukturiert haben. Die Kategorien sind mit dem Interviewtext empirisch aufgefüllt worden. Sind weitergehende Inhalte angesprochen worden, erfolgte eine induktive Kategorienbildung mit anschließender Subsumption von Interviewmaterial (Mayring 2010; Kelle et al. 2010). 2 Eine PDL schied zur Zeit der Anfrage aus dem ambulanten Pflegedienst aus und eine weitere PDL war nicht zu einem Interview bereit. 255 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 5. Ergebnisse 5.1 Ergebnisse der Angehörigenbefragung 5.1.1 Stichprobenbeschreibung der Angehörigen-Befragung Zweidrittel der befragten pflegenden Angehörigen sind 50 Jahre und älter. 36% von ihnen sind zwischen 50-64 Jahre alt und 54% sind in einem erwerbsfähigen Alter. Ein nicht unerheblicher Teil der Pflegenden (30%) ist zwischen 65-79 Jahre alt und befindet sich selbst in einem höheren Lebensalter. Demgegenüber ist das Alter der Betreuungsgäste erwartungsgemäß höher: 53% sind 80-94 Jahre und 43% 65-79 Jahre alt. Die Angehörigenpflege ist in diesem Sample ein überwiegend weibliches Phänomen: 71% der pflegenden Angehörigen sind überwiegend weiblichen Geschlechts und mit 66% dominieren ebenso weibliche Betreuungsgäste mit Demenz. Zum Verwandtschaftsverhältnis ist festzustellen, dass die pflegenden Angehörigen zu 39% Töchter, 37% (Ehe)Partner/in, 11% Söhne und 4% Schwiegertöchter sind. Von ihnen sind 84% verheiratet, 9% ledig, 3% mit Partner lebend und 2% verwitwet. In beruflicher Hinsicht machen die Rentner mit 46% die größte Gruppe aus. Insgesamt gehen aber auch 34% der Befragten einem Beruf nach. Die soziodemografischen Angaben weisen insbesondere bei diesen Probanden auf Prädiktoren einer möglichen Doppelbelastung in der Vereinbarkeit der Rollen als pflegende Angehörige und beruflich Beschäftigte hin. 52% der Befragten übernehmen die Pflege alleine. Demgegenüber erhalten 39% der Befragten Unterstützung durch Verwandte. Außerhalb der Familie erhalten 9% der Befragten Hilfe durch Freunde und lediglich 5% durch Nachbarn. Somit ist mit Blick auf das Sample festzustellen, dass es sich überwiegend um eine weibliche Hauptpflegeperson handelt und am ehesten Verwandte zur Ergänzung mobilisiert werden können. Im Hinblick auf die Dauer der Angehörigenpflege zeigt sich, dass in 3/4 der Fälle die Pflegesituation bereits seit mehr als 2 Jahren besteht, was auf eine mögliche Überlastung der Zielgruppe aufgrund der Pflegedauer verweist. 45% der Befragten beurteilten ihren Gesundheitszustand mit eher gut, 27% mit eher schlecht, 14% mit schlecht, 11% mit sehr gut und 3% gaben keine Antwort. Auch wenn die eher positiven Beurteilungen des Gesundheitszustandes mit 56% überwiegen, darf die Gruppe von 41% mit eher negativen Bewertungen nicht unterschätzt werden. Insgesamt handelt es sich teilweise um eine hoch belastete Gruppe mit entsprechendem Entlastungsbedarf. In Bezug auf die Pflegebedürftigkeit der Menschen mit Demenz ist zu konstatieren, dass 41% von ihnen die Pflegestufe 1, 34% die Pflegestufe 2, 12% noch keine Pflegestufe, 9% Pflegestufe 3 und jeweils 2% Pflegestufe 0 und keine Antwort aufweisen. Als medizinische Diagnose ihrer erkrankten Angehörigen gaben 46% Alzheimer Demenz, 11% Vaskuläre Demenz, 23% enthielten sich einer Antwort und 20% Mischform an. Somit liegen mit den Befunden der Dauer der Pflegesituation und der Höhe der Pflegebedürftigkeit Vorzeichen für einen hohen Entlastungsbedarf der befragten pflegenden Angehörigen vor. 256 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 5.1.2 Der Entlastungsbedar f der pflegenden Angehörigen Insgesamt bildet sich der Entlastungsbedarf der befragten pflegenden Angehörigen (N = 56) am stärksten in der Kategorie „Betreuung und Beaufsichtigung“, dann in den „Bewältigungsarbeiten“, in der „Pflege“ und schließlich in der „Haushaltsführung“ ab (vgl. Tabelle 1 bis 4). In der Kategorie Betreuung und Beaufsichtigung sind die Werte in den Items ‚persönlich verfügbar / anwesend sein’ (86 % sehr hoch/ hoch), ‚Betreuung am Tag’ (81 % sehr hoch/ hoch), ‚Betreuung während Urlaub’ (75 % sehr hoch/ hoch) und ‚Sicherheit im Haushalt’ (73 % sehr hoch/ hoch) am stärksten ausgeprägt. Der hohe Entlastungsbedarf in der Betreuung am Tag ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die gegenwärtige zeitliche Entlastung über die Nutzung des Betreuungsangebots als zu gering von den Probanden empfunden wird. In den Bewältigungsarbeiten (Entlastung für die eigene Person) findet sich der größte Entlastungsbedarf bei ‚Umgang mit Demenz’ (77% sehr hoch/ hoch), Vereinbarkeit sozialer Kontakte’ (73% sehr hoch/ hoch), ‚Entwicklung Lebensperspektive’ (71% sehr hoch/ hoch) und ‚Umgang mit verwirrten Verhaltensweisen’ (70% sehr hoch/ hoch). In der Kategorie Pflege zeichnet sich der höchste Entlastungsbedarf in den Items ‚Organisation der Pflege’ (68 % sehr hoch/ hoch), Handhabung medizinischer Maßnahmen’ (62 % sehr hoch/ hoch) Einkaufen Zubereitung Mahlzeiten Pflege Wohnbereich Wäsche waschen sehr hoch hoch gering nicht vorhanden keine Antwort 28,6% 19,6% 37,5% 12,5% 1,8% 26,8% 28,6% 28,6% 14,3% 1,8% 28,6% 32,1% 25,0% 12,5% 1,8% 19,6% 39,3% 26,8% 12,5% 1,8% Tab. 1: Entlastungsbedarf im Haushalt (N = 56) Nahrungs- Körper- Bewegen, Kleiden Intimaufnahme pflege Mobilisieren pflege Organisation medizinische Maßnahmen sehr hoch 17,9% 41,1% 17,9% 26,8% 35,7% 48,2% 37,5% hoch 17,9% 21,4% 23,2% 25,0% 12,5% 19,6% 25,0% gering 33,9% 26,8% 26,8% 28,6% 17,9% 19,6% 17,9% nicht vorhanden 30,4% 10,7% 32,1% 19,6% 32,1% 12,5% 19,6% keine Antwort 0% 0% 0% 0% 1,8% 0% 0% Tab. 2: Entlastungsbedarf in der Pflege (N = 56) am Tag in der Nacht während des Urlaubs verfügbar sein Sicherheit Haushalt sehr hoch 35,7% 10,7% 51,8% 50,0% 26,8% hoch gering 44,6% 23,2% 16,1% 41,1% 23,2% 10,7% 35,7% 12,5% 46,4% 23,2% nicht vorhanden 0% 19,6% 5,4% 0% 1,8% keine Antwort 3,6% 8,9% 1,8% 1,8% 3,6% Tab. 3: Entlastungsbedarf in der Betreuung (N = 56) 257 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Entwick- Krank- Umgang Verhüten Verhüten Vereinlung Le- heitsVerwirrt- Weglaufen Stürze barkeit bensper- umgang heit Familie spektive Verein- Vereinbarkeit barkeit SozialBeruf kontakte sehr hoch 33,9% 35,7% 25,0% 14,3% 17,9% 33,9% 32,1% 25,0% hoch 37,5% 41,1% 44,6% 23,2% 26,8% 32,1% 41,1% 14,3% gering 14,3% nicht vorhanden 10,7% keine Antwort 3,6% 12,5% 7,1% 3,6% 23,2% 3,6% 3,6% 28,6% 26,8% 7,1% 35,7% 10,7% 8,9% 21,4% 8,9% 3,6% 16,1% 7,1% 3,6% 5,4% 37,5% 16,1% Tab. 4: Entlastungsbedarf für die eigene Person (N = 56) und ‚Körperpflege’ (62 % sehr hoch/ hoch) ab. In der Kategorie Haushaltsführung schließlich ist der höchste Entlastungsbedarf im Item ‚Pflege des Wohnbereichs, Putzen und Aufräumen’ mit 61 % (sehr hoch/ hoch) festzustellen. 5.1.3 Inanspruchnahme und Deckung des Entlastungsbedar fs Als Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten werden von den Befragten (N= 56) mit jeweils 37,5 % am häufigsten die Unbekanntheit und die Unklarheit über deren Nutzen angegeben (Tabelle 5). Die Unbekanntheit korrespondiert weiterhin mit dem Befund aus der offen gestellten Frage nach den fördernden Umständen der Inanspruchnahme. Die meisten der Befragten (N = 34) gaben hier mit Unbekanntheit Vermeiden Konfrontation Krankheitsbild Unklarheit Unterstützung Sorge um Angehörigen Kosten ja 37,5% 0,0% 37,5% 19,6% 30,4% nein 41,1% 75,0% 37,5% 55,4% 44,6% keine Antwort 21,4% 25,0% 25,0% 25,0% 25,0% fehlend 0,0% 0,0% 0,0% 0,0% 0,0% keine Beförde- Keine Hilfe Familiäre rungsmöglich- durch Außenste- Entlastung keit hende Außerfamiliäre Entlastung Selbst zurechtkommen ja 26,8% 7,1% 21,4% 21,4% 32,1% nein 50,0% 64,3% 44,6% 53,6% 37,5% keine Antwort 23,2% 26,8% 32,1% 23,2% 28,6% fehlend 0,0% 1,8% 1,8% 1,8% 1,8% Nicht eigene Bedürfnisse Nicht Bedürfkein direkter Annisse Erkrankter sprechpartner ja 5,4% 25,0% 23,2% nein 55,4% 42,9% 46,4% keine Antwort 39,3% 32,1% 30,4% fehlend 0,0% 0,0% 0,0% Tab. 5: Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von Entlastungsangeboten (N = 56) 258 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Abb. 1: Fördernde Umstände der Inanspruchnahme (n = 34) 17,6 % an, bei Vorliegen von mehr Informationen ein oder mehrere Entlastungsangebote in Anspruch nehmen zu wollen. Ebenso als häufigster Grund der Nicht-Inanspruchnahme ist von den Befragten (N = 56) auch die Unklarheit darüber mitgeteilt worden, in welcher Hinsicht das Entlastungsangebot unterstützend für die Befragten sein könnte (37,5 %). Auf die offen gestellte Frage, unter welchen Umständen die Befragten eines oder mehrere der Entlastungsangebote in Anspruch nehmen würden, antworteten 17 % (n= 34) bei Vorliegen von mehr Informationen über das Entlastungsangebot, 15 % führen dies auf den zunehmenden Krankheitsfortschritt des Erkrankten zurück, der die Inanspruchnahme nicht erlaubt, die Ausdehnung des zeitlichen Angebots des Entlastungsangebots wird mit 15% und die Reduktion des zur Nutzung nötigen Organisationsaufwandes mit 14% angegeben (s. Abbildung 1). Fehlende Angebote sind nach Ansicht von 14 Befragten die Einzelbetreuung (14,3%), die Beratung (14,3%), eine kurzfristige Entlastung (14,3%) und der Gesprächskreis (14,3%). Der Entlastungsbedarf der Befragten (N = 56) wird am ehesten vollständig und teilweise über die Betreuungsgruppe (51,4 %), dann den ambulanten Pflegedienst (25 %) und schließlich die häusliche Einzelbetreuung (19,7%) gedeckt. Im Vergleich der unterschiedlichen Entlastungsangebote wird die Bedarfsdeckung in der Betreuungsgruppe somit am höchsten eingeschätzt (s. Tabelle 6). Als Gründe für den ungedeckten Entlastungsbedarf gaben 28 Probanden in der offenen Frage das Zeitdefizit des Entlastungsangebots (46%), inhaltliche (14%) und Finanzierungsdefizite (14%), gefolgt von der Ablehnung des Angebots durch die Menschen mit Demenz selbst (11%) und dem Betreuungsdefizit (11%) an. Am wenigsten wird die Inflexibilität des Entlastungsangebots (4%) angeführt, s. Abbildung 2. 259 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Betreuungsgruppe Einzelbetreuung Ambulanter Pflegedienst vollständig 7,1% 5,4% 8,9% teilweise 44,6% 14,3% 16,1% wenig 23,2% 5,4% 7,1% nicht 0,0% 0,0% 3,6% trifft nicht zu 16,1% 66,1% 51,8% keine Antwort 8,9% 8,9% 12,5% Tab. 6: Deckung des Entlastungsbedarfs durch Entlastungsangebot Abb. 2: Gründe ungedeckter Entlastungsbedarf (n= 28) Nach der Darstellung der Ergebnisse der Angehörigen-Befragung wird nun im Folgenden auf die der Fachkraft-Befragung eingegangen. 5.2 Ergebnisse der Fachkraft-Befragung Den Erfahrungen der befragten Fachpersonen zufolge wird der Weg von der Belastung zur Entlastung pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz über die Inanspruchnahme der niedrigschwelligen Betreuungsgruppen der IGDB von Faktoren beeinflusst, die sich sowohl auf die Nutzerinnen (interne Ressourcen oder Anforderungen der Dependenzpflegehandelnden) als auch auf die Strukturen der Anbieter sowie auf Strategien innerhalb des Entlastungsangebots beziehen (externe Ressourcen und Anforderungen). Diese Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme sind in Abbildung 3 den ersten beiden Kästchen zu entnehmen. Die von den Fachpersonen benannten Entlastungseffekte durch die Inanspruchnahme der Betreuungsgruppe finden sich im rechten Kasten. 260 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Abb. 3: Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme und Entlastungseffekte Externe Anforderungen als hemmende Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme Als wesentliche Voraussetzung der Inanspruchnahme wird die Krankheitsakzeptanz pflegender Angehöriger herausgestellt. Sie umfasst als interne Ressource das Erkennen, Verstehen und Wahrhaben der Veränderungen der Menschen mit Demenz als Krankheitssymptome, was letztlich das Verständnis für die Krankheit und ihre Funktionsweise bedeutet. Doch weil diese häufig fehlt, besteht ein Entlastungsbedarf im Abbau der internen Anforderung der Krankheitsinakzeptanz. „Du kennst deine Mutter oder deinen Vater (…) ein Leben lang, der immer alles alleine gemacht hat und (…) alles für einen getan hat und jetzt auf einmal ändert er sich. Ja, dann fängt er an seine Fäkalien in den Schrank zu verstecken oder einen zu beschimpfen (…) Und das kannst du ja von heute auf Morgen gar nicht lernen, dass der das jetzt nicht böswillig sagt oder macht oder tut, sondern dass das etwas mit einer Erkrankung zu tun hat. (…) Da braucht man schon Unterstützung.“ (Fachkraft I10: 12) Insbesondere im Anfangsstadium der Krankheit wird dies durch die Subtilität der Symptome und im Weiteren durch deren Wandlung im Krankheitsverlauf erschwert. Als Folge davon können Konflikte in der Beziehung resultieren, weil die Verhaltensweisen des Menschen mit Demenz von pflegenden Angehörigen dann nicht als krankheitsspezifisch gedeutet werden. „Ganz oft stauen sich ja Aggressionen an. Sie denken, das ist Trotz, die machen das extra. Und da sind ja derart Aggressionen dann schon vorhanden, wenn man rein kommt, Spannungen, ja, wo man einfach sieht, oh Gott, hier ist schon echt die Obergrenze erreicht, ja. Weil sie einfach nicht wissen, dass es eine Krankheit ist und dass der das ja nicht extra macht und dass es nicht persönlich gemeint ist usw. (…) Sie sind dann wirklich am Rande ihrer 261 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Kapazitäten. Und ja, das ist so, was man ganz oft vorfindet, dass die Leute fix und fertig sind. Und wenn sie dann eben durch uns (…) hören, aha, das ist ja die Krankheit eigentlich und das darf man nicht persönlich nehmen und wenn ich so und so mit dem umgehe, habe ich es ja viel einfacher und wir beide haben es einfacher, dann ist denen schon mal im ersten Moment groß geholfen… Also das ist schon im ersten Gespräch so, da kommt schon so ein Aha-Effekt.“ (Pflegedienstleitung I3: 104-115) Die Inanspruchnahme wird weiterhin negativ durch die interne Anforderung der Stigmatisierungsangst pflegender Angehöriger beeinflusst, in deren Folge die Menschen mit Demenz vor der Öffentlichkeit versteckt werden können. „Viele Angehörige wollen aber auch keine Hilfe oder sind noch nicht bereit, sie anzunehmen. Also wir haben oft das Gefühl, dass es ein Problem ist, das überhaupt nach außen zu tragen. Also es ist halt so der Deckmantel, so in der Familie, vielleicht hat es noch ein Nachbar mitgekriegt (...) Die wenigsten gehen offen damit um draußen, ja. Also der Angehörige wird dann irgendwie, ich sage jetzt mal in Gänsefüßchen, Zuhause versteckt.“ (Pflegedienstleitung I8: 48-52) Die Angst vor Stigmatisierung durch Nachbarn oder andere Dorfbewohner ist nach Ansicht der Befragten dem sozialen Druck geschuldet, denen sich pflegende Angehörige gerade in ländlichen Gebieten ausgesetzt fühlen. „Weil die Nachbarn und gerade hier auf diesen Örtchen … in der Stadt ist es vielleicht nicht so. Aber diese Dörfer. Da kennt ja jeder jeden und: ‚gucke mal, ja, die (pflegende Angehörige) hat ja ihre (demenzkranke) Mutter da schon wieder fortgeschafft da, ja. Die (betont) kümmert sich ja gar nicht, ja. Da wollen sie das Haus oder sonst was und dann schaffen sie die Alte fort!’ (…) Und das macht ganz oft Angst und deswegen wird da gesagt, ich brauche ja keine Hilfe, wie sieht denn das aus, wenn da jetzt auf einmal der Pflegedienst kommt, wir schaffen das doch alleine.“ (Pflegedienstleitung I2: 35-42) Weitere hemmende Faktoren der Inanspruchnahme sind nach Ansicht der befragten Fachpersonen auf Seiten der pflegenden Angehörigen deren mangelnde Selbstpflege, der mit der Nutzung des Entlastungsangebots verbundene Organisationsaufwand, ihr Misstrauen den Betreuern gegenüber, ihr Wissensdefizit über Art, Inhalt und Nutzen von Entlastungsangeboten, die Bürokratiehürde zur Beantragung von Betreuungsgeld und die Einbindung osteuropäischer Hilfskräfte in die Pflegesituation, mittels denen der Bedarf nach zeitlicher Entlastung kompensiert wird. Strategien und Strukturen der Anbieter zur Erhöhung der Inanspruchnahme Fördernde Maßnahmen der Anbieter zur Erhöhung der Inanspruchnahme beziehen sich vor allem auf vertrauensbildende Maßnahmen zur Erreichung der pflegenden Angehörigen und deren Einbindung in das Entlastungsangebot. Diese reichen von einer sensiblen Öffentlichkeitsarbeit, über die Beratung potentieller Nutzerinnen bis zur Integration der pflegenden Angehörigen in das Entlastungsangebot zum Abbau etwaiger Vorbehalte. 262 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge „Weil wir wirklich in die Intimsphäre der Menschen eingreifen. Und damit muss auch ganz sensibel umgegangen werden … Es darf nicht passieren, dass sie sich noch mehr in ihr Schneckenhaus zurückziehen, sondern es muss ausgelöst werden, dass sie sich öffnen, weil sie merken, da gibt es Hilfe, die kann ich in Anspruch nehmen, das ist gar nichts Schlimmes, das ist legitim. Ich brauche Hilfe und erreiche damit, meinen Angehörigen länger Zuhause versorgen zu können, was sie ja alle im Prinzip wollen.“ (Pflegedienstleitung I2: 108-117) Insbesondere der Schutz der Nutzerinnen gegenüber der Öffentlichkeit wird als wesentlich erachtet. „Also das sind schon ganz sensible Bereiche, die ich schützen möchte nach außen. (…) Auch für die Angehörigen. (…). Die möchten nicht, dass nach außen bekannt wird, dass sie hier bei uns in der Demenzgruppe sind. (…) Ich denke, das ist halt so eine Scham, die sie haben. (…) Das ist so peinlich irgendwie, ja. Meine Frau ist verkalkt, wer gibt denn das schon gerne zu.“ (Pflegedienstleitung I3: 839-856) Für die Vertrauensbildung scheinen weiter der Bekanntheitsgrad aber auch die Vertrauenswürdigkeit des Anbieters nicht unerheblich zu sein. Die interne Anforderung der mangelnden Selbstpflege pflegender Angehörige erfordert es, sie zunächst für deren Notwendigkeit zu sensibilisieren. „Viele (Angehörige) muss man wirklich da hinbringen (…) ihre Bedürfnisse überhaupt erst wieder zu konkretisieren… Weil sie sind ja schon lange in dieser Versorgungssituation, wo man sich selbst ja total hinten dran stellt und eigentlich gar nicht merkt, dass man selbst ja vielleicht auch noch Bedürfnisse hat oder es zumindest unterdrückt, ja. Es kommt dann erst dann später, so, ich habe jetzt 10 Jahre gepflegt und was ist mit mir, ich habe jetzt überhaupt nichts vom Leben gehabt.“ (Pflegedienstleitung I4: 666-673) Neben niedrigschwelligen Strukturen wie die wohnortnahe Gestaltung bzw. Bereitstellung eines Fahrdienstes, niedrige Teilnahmegebühren einschließlich der Zweckgebundenheit finanzieller Mittel als Betreuungsgeld, ist die Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit des Angebots für die nachhaltige Inanspruchnahme bedeutsam. Entlastende Effekte der niedrigschwelligen Betreuungsgruppen Die durch die Entlastungsangebote eingetretenen Effekte zielen sowohl auf die pflegenden Angehörigen als auch auf die Betreuungsgäste. Ein Entlastungseffekt für die pflegenden Angehörigen betrifft die Stärkung deren Selbstpflege. Ein Aufbau dieser internen Ressource erfolgt über die Nutzung der Gruppenbetreuungszeit zur eigenen Erholung bzw. zum „Kräfte schöpfen“, für Termine wie Arztbesuche aber auch zur Haushaltsführung. „(Sie) … versuchen einfach, diese 3 Stunden, … wieder Kraft zu schöpfen. (…) weil sie das regelmäßig, jede Woche sich auch etwas vornehmen können in der Zeit. Das ist eine spürbare Entlastung.“ (Pflegedienstleitung I1: 262-266) 263 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Nicht zuletzt werden auch interne Ressourcen der pflegenden Angehörigen mittels Modell-Lernen zur Stärkung der Dependenzpflegekompetenz aufgebaut. „Es gibt da verschiedene Gesprächstechniken. Und das muss man den Angehörigen beibringen. (…) Ich versuche, es ihnen einfach zu erklären. (…) Und aber auch ein Stück weit leben, versuchen wir das vorzuleben in der Betreuungsgruppe.“ (Fachkraft I6: 140-144) Noch dazu erfahren pflegende Angehörige Entlastung im sozialen Austausch mit anderen Menschen oder im Aufgehoben sein in der Gruppe, was angesichts der drohenden sozialen Isolation ein bedeutender Entlastungseffekt ist. Dies bedeutet Entlastung durch den Aufbau externer Ressourcen. „Und vor allen Dingen einfach auch dieses einfach mal ablassen können. ... Das ist so wichtig. Die Angehörigen haben hier Raum und Zeit, mal einfach ihren Frust auch mal abzulassen. Auch wenn ich vor Ort bin bei meinen Beratungsbesuchen, haben sie auch Zeit genug, um auch mal sich etwas von der Seele zu reden. Und vor allen Dingen habe ich auch schon gemerkt, dieser Austausch zwischen den Angehörigen mal.“ (Pflegedienstleitung I7: 219-224) Dieser Aufbau interner und externer Ressourcen findet neben der Teilnahme an der Betreuungsgruppe selbst über Angehörigenkurse, -schulungen und -gesprächskreise statt, die von den Anbietern zur Ergänzung der Betreuungsgruppe implementiert wurden. Des Weiteren beziehen sich Entlastungseffekte auf die Menschen mit Demenz. Dies kann die Milderung deren Krankheitssymptome bedeuten, was sich nach Ansicht der Fachpersonen in Form der Reduktion externer Anforderungen positiv auf die Dependenzpflegehandelnde auswirkt. „Neulich sagte ein Angehöriger: ‚Meine Frau ist immer so ausgeglichen, wenn sie von ihnen kommt! Wie machen sie das?’ Und das ist gerade diese unruhige Dame, die eben diesen Drang zum Laufen hat. Und der ist wirklich ganz glücklich, dass er sie einmal in der Woche bringen kann.“ (Fachkraft I4: 95) Auch die Förderung von Ressourcen des Menschen mit Demenz wird als positiver Effekt herausgestellt. „Manche haben sie so ein versteinertes Gesicht so gehabt. Die strahlen schon, wenn sie die Wohnung sehen und rein kommen. Die können viel mehr. (…) Die haben angefangen zu reden. Und manche haben angefangen zu malen. Die haben vorher das Blatt da gehabt und haben nichts gemacht. Die machen das jetzt!“ (Fachkraft I8: 186) Allerdings wird die Bedarfsdeckung allein durch die niedrigschwellige Betreuungsgruppe als zu gering eingestuft. „Ich denke, mit den Angeboten, die wir machen, können wir sicherlich nur die Spitze des Eisbergs abdecken für die Leute, die bereit sind, Hilfe anzunehmen …“ (Pflegedienstleitung I9: 78-91) 264 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge Die zeitliche Begrenzung bezieht sich auf eine nur punktuelle Entlastung auf wenige Stunden in der Woche. Als Möglichkeiten der zeitlichen Erweiterung würden sich zwar die Tages- oder Nachtpflege bzw. Entlastungsangebote an Wochenenden anbieten. Doch auch diese fehlen nach Auskunft der Befragten im untersuchten Landkreis, bzw. sind im Fall der Nachtpflege mit hohen Kosten und einer geringen demenzspezifischen Ausrichtung einerseits und organisatorischen Hürden andererseits verbunden. So wird der nächtliche Entlastungsbedarf eher familiär oder über die Einbindung osteuropäischer Hilfskräfte kompensiert. Die notwendige Erweiterung besteht demzufolge in einem Ausbau entsprechender teilstationärer Entlastungsangebote, die mit dem vorhandenen Entlastungsangebot vernetzt werden sollten. 6. Diskussion In dieser Studie ist im Vergleich zu anderen Studien aus Deutschland (Gräßel et al. 2009; Isfort et al. 2011: 133; Frey et al. 2011: 271) erstmals das spezifische Entlastungsangebot der Betreuungsgruppe aus der Sicht der konkreten Nutzerinnen und der Anbieter untersucht worden. Beim Abgleich deren Perspektiven besteht zwischen diesen Einigkeit darüber, dass die Betreuungszeit in der Betreuungsgruppe der Erweiterung bedarf, weil sie mit etwa 3 bis 6 Stunden wöchentlicher Entlastungszeit angesichts des enormen Entlastungsbedarfs in der Betreuung am Tag als zu gering eingestuft wird, auch wenn die Betreuungsgruppen diesem Bedarf am ehesten zu entsprechen scheinen. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Schwerpunktsetzung beim Entlastungsbedarf. Wo dieser von den Nutzerinnen primär im Bereich der Betreuung und Beaufsichtigung der Menschen mit Demenz gesehen wird, heben die Fachpersonen die Notwendigkeit zur Ausbildung von Krankheitsakzeptanz als Voraussetzung von Entlastung hervor. Auch der Studienlage zufolge ist ein Verständnis und eine Akzeptanz für krankheitsspezifische Symptome zu entwickeln (Meyer et al. 2008: 26-27, 93). Doch die Einschätzung der Nutzerinnen in dieser Studie steht ebenso in Einklang mit Befunden aus der Literatur, die verdeutlichen, dass gerade die mit der Krankheit Demenz verbundenen Anforderungen eine ständige Aufsicht und ein entsprechendes Angebundensein erfordern (Pinquart et al. 2002: 86; Auer et al. 2007: 169; Dech 2009: 77). So geht von den Symptomen der Demenzerkrankung und der mit dieser verbundenen 24-Stunden-Betreuung der Betroffenen ein intensiver Zeit- und Energieaufwand einher (Kofahl et al. 2005: 490; Schacke et al. 1998: 357; Dech 2009: 78; Meyer et al. 2008: 92). Wie festgestellt wurde, resultieren daraus Belastungen, die entsprechende Entlastungsangebote unabdingbar werden lassen (Sauer 2007: 26). Weiterer Entlastungsbedarf besteht nach Ansicht der befragten pflegenden Angehörigen auch in der Vereinbarkeit sozialer Kontakte. Durch die Anforderung der Rund-um-die-Uhr-Betreuung des Menschen mit Demenz können soziale Kontakte nur schwer gepflegt werden. Dies steht in Einklang mit anderen Studien über das Belastungserleben der Zielgruppe (Kofahl et al. 2005: 491; Schacke et al. 1998: 356; Dech 2009: 76; Laag et al. 2010: 183). Auch Schacke et al. (1998: 359) stellen dazu fest: „Je stärker die Pflege in Konflikt mit eigenen Bedürfnissen bzw. mit konkurrierenden Rollenerwartungen in Bezug auf Familie, Beruf etc. 265 Beiträge Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 gerät, desto geringer die Lebenszufriedenheit.“ Rollenkonflikte ergeben sich aufgrund von Erwartungen des sozialen Netzwerkes, der Berufswelt, der Anforderungen der Dependenzpflege und aufgrund von Rollenwechseln (Beyrodt et al. 2007: 50). Demgegenüber kann ein funktionierendes soziales Netzwerk zur sozialen Unterstützung und somit zur aktiven Bewältigung der Pflegesituation beitragen, indem mehrere Personen am Pflege- und Betreuungsarrangement beteiligt sind (Gräßel 1998: 54). Folglich wirkt ein vorhandenes soziales Netzwerk als Ressource und Unterstützung bei der Bewältigung von Anforderungen belastungsmindernd (Schäufele et al. 2005: 121). In Einklang mit Befunden aus der Literatur ist auch in dieser Studie ein hoher Bedarf nach Informationen über Art, Inhalte und Nutzen von Entlastungsangeboten festgestellt worden, die deren Inanspruchnahme verhindern (Beyrodt et al. 2007: 51; Dörpinghaus et al. 2006: 27; Frey et al. 2011: 275). Dabei können sich diese auf die Leistungsberechtigung oder auf die Art und den Umfang der Angebote beziehen (Beyrodt et al. 2007: 47; Gräßel 1998: 53; Winkler et al. 2006: 20). Trotz der bereits durch das DSZ geleisteten Öffentlichkeitsarbeit weist dies darauf hin, dass weitere Wege in der Erreichung der Zielgruppe beschritten werden sollten, die vor allem stärker auf den Nutzen von Entlastungsangeboten ausgerichtet sein sollten. Angesichts der identifizierten und zum großen Teil auch in Einklang mit der Literatur stehenden Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme, bedarf es insbesondere zum Abbau der die Zielgruppe betreffenden Hemmschwellen besonderer Zugangsstrategien. Gerade für diejenigen pflegenden Angehörigen ohne Anbindung an fachliche Entlastungsangebote scheinen zugehende Formen von Entlastungsangeboten gefordert. In methodischer Sicht ist nicht auszuschließen, dass der Zugang über die Anbieter auf Seiten der befragten Angehörigen zu sozial erwünschten Antworten geführt haben könnte. Zudem lässt das in dieser Studie verwendete Design keinen Aufschluss über die tatsächliche Wirkung der Intervention Betreuungsgruppe zu. Im Rahmen dieser beschreibenden Studie können allenfalls Tendenzen und Hinweise zum Entlastungsbedarf und deren Deckung gewonnen werden, die auf die untersuchte Gruppe beschränkt bleiben. In nachfolgenden Studien sollten die Entlastungseffekte durch unterschiedliche Entlastungsangebote mit experimentellen Designs untersucht werden, um Aufschluss über deren Wirkung zu erzielen. Weiter sollte vor allem die Sichtweise von Noch-Nicht-Nutzern erforscht werden, da viele pflegende Angehörige mit einem Entlastungsbedarf noch nicht von entsprechenden Entlastungsangeboten erreicht worden sind. Dieser Personenkreis ist in dieser Studie nicht einbezogen worden, weil sich das Erkenntnisinteresse auf die Untersuchung der Deckung des Entlastungsbedarfs durch die in Anspruch genommenen Entlastungsangebote richtete. Bei allen positiv angestoßenen Entwicklungen durch die Pflegereform, des großen Engagements der Anbieter und einiger positiver Entlastungseffekte durch die Entlastungsangebote der IGDB, darf aber nicht darüber hinweg gesehen werden, dass die Bedarfsdeckung allein durch die derzeitigen niedrigschwelligen Entlastungsangebote von den Nutzern wie von den Anbietern als zu gering eingestuft wird. Dies ist den befragten Fachpersonen zufolge vor allem der doch unzureichenden Finanzierung geschuldet, die neben den Anbietern und der Pflegeversicherung auch die Kommunen in die Pflicht 266 Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 17. Jg. 2012 H.3 Beiträge nimmt. Angesichts deren mitunter prekären Haushaltslage droht deren Ausstieg mit dem Verlust der finanziellen Unterstützung, was letzten Endes zum Abbau des bestehenden Entlastungsangebots mit Konsequenzen für die informelle Pflege führen würde. Literatur Auer, S./Donabauer, Y./Zehetner, F./Span, E. (2007): Entlastung pflegender Angehöriger. Ein Programm der M.A.S Alzheimerhilfe. In: Zeitschrift für Gerontopsychologie & -psychiatrie, 20 (2/3), 169-174. Becker, P. (2006): Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Bern: Huber Beyrodt, M./Roling, G. (2007): Belastungen und Bedarf pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz. S. 41-52. In: Sauer, P./Wißmann, P. (Hrsg.): Niedrigschwellige Hilfen für Familien mit Demenz. Frankfurt am Main: Mabuse Biegel, D. E./Bass, D. M./Schulz, R./Morycz, R. (1993): Predictors of In-Home and Out-of-Home Service Use by Family Caregivers of Alzheimer`s Disease Patients. 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