Leitfaden IS-Verhalten

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Leitfaden IS-Verhalten
Integrative Sonderschulung
für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensbehinderung
Leitfaden IS – Verhalten
AMT FÜR VOLKS- UND MITTELSCHULEN
1. Februar 2013
Bildungs- und Kulturdepartement BKD
Amt für Volks- und Mittelschulen AVM
Inhaltsverzeichnis Leitfaden IS-Verhalten
1.1 Einleitung ...................................................................................................................... 21
2.1 Beschreibung ............................................................................................................... 31
3.1 Voraussetzungen ......................................................................................................... 31
4.1 Erlass ............................................................................................................................ 41
5.1 Zielsetzung ................................................................................................................... 51
6.1 Systemberatung ........................................................................................................... 61
7.1 Einzusetzendes Personal ............................................................................................ 71
8.1 Finanzielle Ressourcen................................................................................................ 71
9.1 Verantwortlichkeiten .................................................................................................... 71
10.1 Mindest-Standards ....................................................................................................... 91
11.1 Vernetzung.................................................................................................................... 91
12.1 Abgrenzung .................................................................................................................. 91
13.1 Kompetenzen...............................................................................................................101
14.1 Verständnis fördern ....................................................................................................111
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IS-Verhalten Leitfaden AVM/PL
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IS – Verhalten
Integrative Sonderschulung für Kinder und Jugendliche
mit einer Verhaltensbehinderung
1.
Einleitung
Begrifflichkeit:
IS-Verhalten ist ein Kurzbegriff für die Integrative Sonderschulung von Kindern mit
einer Verhaltensbehinderung.
Verhaltensbehinderung wird in den Erlassen des Kantons Obwalden wie auch in
andern Kantonen synonym verwendet für schwere Verhaltensstörung, schwere Verhaltensauffälligkeit, Störung des Sozialverhaltens sowie für gewisse Formen des
Autismus.
Die Verwendung des Begriffs Verhaltensbehinderung ist in der Fachliteratur noch
nicht weit verbreitet und zum Teil umstritten. Seit Einführung der NFA und der damit
verbundenen Neuregelung der Finanzierung und Zuständigkeiten in den Kantonen,
wird der Begriff häufiger gebraucht, da alle Störungen, deren sonderpädagogische
Behandlung bisher von der Invalidenversicherung finanziert wurden, in den kantonalen Erlassen systematisch unter dem Begriff „Behinderung“ abgehandelt werden
(geistige Behinderung, Sprachbehinderung, Sehbehinderung, Hörbehinderung und
eben auch Verhaltensbehinderung). Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die
verschiedenen Formen von „...behinderungen“ mit verstärkten Massnahmen zu behandeln sind, die sich von „leichteren Störungen“ abgrenzen sollen, die sich z.B. mit
Integrativer Förderung (IF) angehen lassen.
Im von der WHO herausgegebenen ICD – 10 (International Statistical Classification of
Diseases und Related Health Problems) wird der Begriff „Verhaltensbehinderung“
nicht verwendet. Dort werden nebst dem Begriff Verhaltensstörung u.a. Begriffe wie
Störung des Sozialverhaltens und Störung der Emotionen verwendet.
Zweck des Leitfadens IS-Verhalten:
Der Leitfaden IS-Verhalten erläutert die entsprechenden Vorgaben in den kantonalen
Erlassen. Er will den Vollzug konkretisieren, anhand von Beispielen mögliche Vorgehensweisen aufzeigen und das Verständnis von Kindern mit einer Verhaltensbehinderung fördern. Besonderer Wert wird auf die systemische Sichtweise gelegt, im Wissen
darum, dass ein funktionierendes bzw. ein zum Funktionieren gebrachtes soziales
Umfeld mehr bringt, als Ursachenforschung, welche oft Schuldzuweisungen Vorschub leistet.
Adressaten:
Der Leitfaden IS-Verhalten wird auf der Website des AVM veröffentlicht. Er dient zwar
in erster Linie den Schulleitungen und Fachpersonen als Hilfsmittel für die Praxis,
steht aber auch Schulbehörden und betroffenen Eltern sowie interessierten Laien zur
Verfügung.
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2.
Beschreibung
IS-Verhalten bietet Kindern und Jugendlichen, die unter einer Verhaltensbehinderung leiden, individuell zugesprochene, integrative sonderpädagogische Massnahmen an, damit die Schulung in der Volksschule vor Ort stattfinden kann.
IS-Verhalten ist nur dann sinnvoll, wenn sie aufgrund fachlicher Kriterien einer separativen Sonderschulung (Externat oder Internat) vorzuziehen ist und das erforderliche
Personal bereit gestellt werden kann.
Wenn Kinder und Jugendliche schwere, oft über längere Zeit anhaltende Verhaltensauffälligkeiten zeigen, die in ihrer Summe und Intensität als Verhaltensbehinderung bezeichnet werden, liegen oft verschiedenste Ursachen zugrunde (multifaktorielle Entstehungsgeschichte). Entscheidend für die Behandlung ist jedoch nicht die
Behebung der oft schwer eruierbaren Ursachen (defizitorientiertes Vorgehen), sondern die Behebung der Dysfunktionalität des Beziehungsnetzes, welche die Verhaltensstörung des Kindes in seinem Umfeld hervorruft (lösungsorientiertes Vorgehen).
Verhaltensbehinderungen sind nicht einfach eine Störung in der Wesensart des Kin-
Betroffenheit des
Umfeldes:
des oder Jugendlichen. Vielmehr lösen sie bei Eltern, Geschwistern, Lehrpersonen,
Systemberatung
kende und verschlimmernde Reaktionen aus, die das auffällige Verhalten des Kindes
erforderlich
1
Mitschülerinnen und Mitschülern immer auch Betroffenheit und konkrete, oft verstärfixieren oder gar verstärken. Aus diesen Gründen ist bei IS-Verhalten eine „Systemische Beratung“ (s. Kap. 6, Seite 6) erforderlich, die das Umfeld (System) des verhaltensauffälligen Kindes oder Jugendlichen aus einer ganzheitlichen Perspektive unterstützt und berät.
Um Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere Verhaltensbehinderungen zu verstehen
Auffälliges
Verhalten verstehen!
und ihnen wirkungsvoll zu begegnen, hilft deshalb meist die Frage weiter: „Wozu ist
Geht das? 1
haltensauffällig?“ zu endloser Ursachenforschung und letztlich zu Schuldzuweisun-
das Kind verhaltensauffällig?“. Während die kausale Frage „Warum ist das Kind vergen führt, gibt die finale Frage „Wozu“ gut Aufschluss darüber, welche Wirkung mit
der Verhaltensauffälligkeit im System erreicht wird bzw. erreicht werden soll. Kann die
Antworten in
Kap. 14
Frage Wozu? beantwortet werden, birgt sie oft schon den Schlüssel zur Lösung, sie
ist also lösungsorientiert.
Beispiele von möglichen Antworten auf die Wozu-Frage siehe Kap. 14, Seite 11ff.
3.
Voraussetzungen
Integrative Sonderschulung bei Verhaltensbehinderungen – kurz IS-Verhalten – umfasst „verstärkte Massnahmen“, deren Anordnung dem gleichen Prozess wie andere
Sonderschulmassnahmen unterliegt. Die wichtigsten Meilensteine eines solchen
Prozesses sind:
•
Identifizierung / Abklärung der Notwendigkeit von „verstärkten Massnahmen“
durch den SPD als aussen stehende Fachstelle („Vieraugenprinzip“)
•
Klärung, ob die Massnahmen besser integrativ oder separativ durchgeführt werden
•
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Einbezug aller Betroffenen bei der Suche nach den bestmöglichen Massnahmen
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•
Einhaltung folgender Vorgaben und gesetzlicher Bestimmungen:
- Kooperationsbereitschaft der beteiligten Partner bei der Umsetzung der Massnahmen
- (fachliche) Effizienz der Massnahmen
- Wirtschaftlichkeit der Massnahmen unter Einhaltung des Kostendaches
- Periodische Evaluation der Massnahmen
4.
Erlass
Ausführungsbestimmungen über die Sonderpädagogik in den Bereichen
Sonderschulung und Förderangebote (GDB 410.132)
Massgebend für IS-Verhalten sind sämtliche Vorgaben in den oben erwähnten Ausführungsbestimmungen und in den übergeordneten Erlassen. Im Sinne der Leserfreundlichkeit sind an dieser Stelle jedoch die für IS-Verhalten relevanten Textstellen
explizit aufgeführt:
Art. 3
Anspruchsberechtigung
Anspruchsberechtigung auf sonderpädagogische Massnahmen besteht:
a. Im Bereich der Sonderschulung für Kinder und Jugendliche mit folgenden Behinderungen:
...
5. Verhaltensbehinderungen einschliesslich Formen des Autismus.
Art. 6
1
Angebote der integrativen Sonderschulung
...
2
Folgende verstärkte Massnahmen sind im Sinne von Höchstansätzen als integrative Sonderschulung vorzusehen:
...
d. pro Schülerin oder Schüler mit einer Verhaltensbehinderung: Durchschnittlich eine Wochenstunde systemische Beratung, welche bei Bedarf mit heilpädagogischen Wochenlektionen
und/oder sozialpädagogischer Betreuung einschliesslich Unterstützung und Beratung der
Bezugspersonen kombiniert werden kann. Der maximale finanzielle Gesamtaufwand darf
höchstens zwölf heilpädagogischen Wochenlektionen entsprechen.
Art. 9
1
...
2
...
c. bei integrativer Sonderschulung
3
Als Fachpersonal gelten:
...
e. weitere ausgewiesene Fachpersonen, die sich für die Durchführung verstärkter Massnahmen eignen – insbesondere systemisch ausgebildete Beraterinnen und Berater bei Verhaltensbehinderungen.
4
Als zusätzliches Personal gelten:
a. Klassenassistenzen (Lehrpersonen ohne behinderungsspezifische Fachausbildung),
b. Klassenhilfen (Personen ohne pädagogische Ausbildung).
5
Ebenfalls als zusätzliches Personal gilt das Personal der Schulleitung bzw. Schuladministration, welches während der Durchführung der integrativen Sonderschulmassnahme mit der Fallführung betraut wird.
Art. 18
Kompetenzzentrum für integrative Sonderschulung
Folgende Sonderschulinstitutionen und Dienststellen gelten für den Kanton als Kompetenzzentren für integrative Sonderschulung:
...
f. Schulpsychologischer Dienst des Kantons für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensbehinderung.
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Art. 24
Anspruchsberechtigung für Förderangebote
Die Einwo
wohnergemeinde stellt gemäss Art. 73 und 74 BiG Förderang
gebote für folgende besonderen päd
ädagogischen Bedürfnisse sicher:
...
d. Verh
rhaltensauffälligkeiten;
5.
Zielsetzung
Koopera
ration, Handlungssicherheit und Erhöhung der Belastbar
arkeit
Die Stär
ärkung der Zusammenarbeit innerhalb des Beziehungs
gssystems, insbesondere
zwischen
en Schule und Elternhaus ist oberstes Ziel, um der Inte
ntegration bzw. dem Verbleib in der Volksschule vor Ort von Kindern und Jugendliche
hen mit Verhaltensbehinderung zum
z
Erfolg zu verhelfen.
Eine wic
ichtige Gelingensbedingung ist die (Wieder)Herstellung
ng der Funktionalität der
Beziehun
ungen im Umfeld (System) des Kindes.
Nachhal
altige Veränderungen basieren auf drei Säulen des Systems,
Sy
auf die mit ISVerhalte
ten die Aufmerksamkeit zu richten ist: (Graphik: nach Vorlage
Vo
SPD Obwalden)
Säule 1: Ziel: Stärkung der Schule
•
Hand
ndlungssicherheit der Lehrperson im Unterricht erhöhen
en
•
Supp
pport der Schulleitung bei der Fallführung gewährleisten
en
•
Kom
mpetenz-Zuwachs des Schulteams im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten
Ve
erwir
irken
Säule 2: Ziel: Stärkung der Familie
•
Erzie
ziehungssicherheit der Eltern bzw. der erziehungsberech
chtigten
Bezu
zugspersonen im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten
n erhöhen
•
Sich
herheit in der Alltagspädagogik (Hausaufgaben, Ordnun
ung, Regeln...) gewinnen
•
Selb
lbstvertrauen und Handlungssicherheit in der Zusamme
menarbeit mit der Schule
stärk
rken
Säule 3:: Ziel: Stärkung des Kindes
•
Selb
lbstwirksamkeit des Kindes in seinem Umfeld stärken
•
Sozi
zial angemessene Verhaltensweisen entwickeln, um g
gewünschte Ziele zu erreich
chen
•
Selb
lbstvertrauen stärken: So wie ich bin, bin ich OK!
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6.
Systemberatung
Auftrag:
Die Systemberatung sorgt als tragendes Fundament für eine gelingende, konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligten. Nach Bedarf initiiert und koordiniert sie für die
Schule (Säule 1), die Familie (Säule 2) und das Kind (Säule 3) Unterstützungsmassnahmen. Ziel ist, die Kooperationsbereitschaft, Handlungssicherheit und Belastbarkeit
der Bezugspersonen zu erhöhen und die Verhaltensbehinderungen des Kindes zu
reduzieren.
Die systemische Beratung stützt sich auf Erkenntnisse der Kommunikationstheorie
und auf verschiedene familientherapeutische Ansätze ab. Insbesondere nimmt die mit
der Systemberatung beauftragte Person auf die Verbesserung der Beziehungsqualität zwischen den beteiligten Personen Einfluss. Diese Vorgehensweise hat sich besonders in Familientherapien als wesentlich erfolgreicher herausgestellt, als die Einzelbehandlung des Symptom tragenden Familienmitgliedes. Deshalb steht bei ISVerhalten nicht die Einzelbehandlung des verhaltensauffälligen Kindes im Mittelpunkt.
Vor diesem theoretischen Hintergrund nimmt die mit der Systemberatung beauftragte
Person eine Haltung der Allparteilichkeit wahr. Mit diesem ganzheitlich-systemischen
Beratungsansatz soll die (Wieder)Herstellung der Funktionalität der Beziehungen
zwischen Elternhaus, Schule, Klassenverband und Kind gewährleistet werden.
Die Arbeit der Systemberatung in den Bereichen Schule und Familie:
Coaching:
Die Systemberatung nimmt mit systemischen Beratungsgesprächen ein direktes
Coaching der Hauptakteure in Schule und Elternhaus auf: In der Regel die Klassenlehrperson, bei Bedarf weitere Lehrpersonen (Fachlehrperson, SHP) - gemeinsam mit
den Eltern, bzw. den hauptverantwortlichen Beziehungspersonen in der Familie unter
Einbezug des Kindes.
Beratung:
Die Systemberatung unterstützt die Schulleitung in Bezug auf die Fallführung, insbesondere
auf
die
Koordination
und
Initiierung
weiterer
schulischer
Begleit-
massnahmen, die Einberufung von Evaluationsgesprächen und den (Weiterbildungs)Support des Schulteams. Der Entscheid über die schulischen Begleitmassnahmen und die Durchführung schulinternen Weiterbildungen bleibt bei der Schulleitung. Diese ist auch für die Durchführung der Evaluationsgespräche verantwortlich.
Vermittlung:
Bei Bedarf vermittelt die Systemberatung in Zusammenarbeit mit der Abklärungsstelle
eine sozialpädagogische Familienbegleitung.
Die Arbeit mit dem Kind
Bei Bedarf können Einzelmassnahmen für das Kind erwogen werden. Diese können
Psychotherapie, Psychomotoriktherapie, Logopädie und andere Einzelförderungen
beinhalten. Die behandelnden Therapeutinnen und Therapeuten stehen regelmässig
in einem Austausch mit der Systemberatung.
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7.
Einzusetzendes
Personal
In der Regel erforderlich:
•
Systemische Beratung (durchschnittlich höchstens eine Konsultation pro Woche).
Die Systemberatung kann von einer Vertrauensperson im System übernommen
werden. Die eingesetzte Person weist eine fortgeschrittene oder abgeschlossene
systemische Beratungsweiterbildung an einer anerkannten Weiterbildungsstätte
aus oder ist bereit, sich entsprechend weiterzubilden.
Nach Bedarf:
•
Sozialpädagogische Begleitung in der Schule durch ausgebildete Sozialpädagoginnen /-pädagogen oder durch die schulische Sozialarbeit
•
8.
Finanzielle
Ressourcen
Vgl. Kap. 4
Art. 6 Bst. d1
1
Heilpädagogische Wochenlektionen
•
Zusätzliches Personal in der Schule (vgl. Kap. 4, Seite 4, Art. 9 Abs. 4)
•
Sozialpädagogische Familienbegleitung zuhause
Zuständigkeit Kanton: Kosten für Fachpersonal im Umfang von maximal 12 heilpädagogischen Wochenlektionen pro Jahr = 12 Lektionen Funktionsstufe 12 der LPVO
vom 25.04.2008 (GDB 410.12).
Durchschnittlicher Kantonsbeitrag für Fachpersonal (nicht nur SHP) Stand 2012:
ca. 50‘000.- Fr. (zusätzlich Arbeitgeberbeiträge ca. 15%)
Zuständigkeit Gemeinde:
Vgl. Kap. 4
Art. 9 Abs. 41
1
9.
Verantwortlichkeiten
Kosten für zusätzliches Personal
Kompetenzzentrum:
Der Schulpsychologische Dienst (SPD) als Kompetenzzentrum für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensbehinderung koordiniert die Arbeit aller im Auftrag des Kantons arbeitenden systemischen Beratungspersonen. Insbesondere führt er eine Koordinationsgruppe mit den Systemberaterinnen und Systemberatern.
Koordinationsgruppe:
Die vom SPD geleitete Koordinationsgruppe trifft sich regelmässig mindestens 6 Mal
jährlich. In der Gruppe werden im Sinne einer Intervision Fallbesprechungen durchgeführt. Zudem werden Koordinationsaufgaben wahrgenommen und die Entwicklung
von IS-Verhalten fachlich und organisatorisch vertieft und weiterentwickelt.
Systemberatung:
Die Systemberatung führt eine ganzheitliche systemische Beratung unter Einbezug
der Erziehungsberechtigten, der Klassenlehrperson und des Kindes durch, in der
verbindliche Vereinbarungen über die Zusammenarbeit und die erwarteten Verhaltensänderungen getroffen werden. Bei Bedarf können weitere Bezugspersonen des
Kindes in die systemische Beratung einbezogen werden.
Die Systemberatung nimmt gegenüber allen am System beteiligten Personen eine
allparteiliche Haltung wahr und sorgt für einen guten Informationsaustausch.
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Schulleitung:
Die Schulleitung ist in der Regel fallführende Instanz und bezieht die Systemberatung
in ihre Entscheidungen mit ein. Sie überprüft die Kooperationsfähigkeit des Systems
‚Schule+Familie‘, stellt mindestens einmal jährlich ein Evaluationsgespräch mit den
Beteiligten sicher und entscheidet über die Weiterführung der integrativen Massnahme. Sie entscheidet nach Anhörung der Systemberatung über weitere Massnahmen,
z.B. schulinterne Weiterbildungen zum Thema „IS-Verhalten“, usw.
Schulische Heilpädagogin:
Sofern als Folge der Verhaltensbehinderung auch eine erhebliche Lernstörung vorliegt, kann eine IF-Lehrperson mit IS-Lektionen betraut werden.
Sozialpädagogische Betreuung während des Unterrichts:
Eine Sozialpädagogin bzw. die schulische Sozialarbeiterin kann nach Stundenaufwand (keine Lektionsansätze) unterrichtsbegleitend Betreuungsaufgaben übernehmen.
Sozialpädagogische Familienbegleitung:
Reicht die systemische Beratung nicht aus, kann zur Stabilisierung und Stärkung des
Familiensystems eine anerkannte professionelle Organisation oder Einzelperson mit
sozialpädagogischer Familienbegleitung beauftragt werden.
Personen für weiteren Behandlungsbedarf
Der SPD als Abklärungsstelle klärt in einer ersten Phase in Zusammenarbeit mit der
Schulleitung und der eingesetzten systemischen Beratung ab, ob weitere Unterstützungsmassnahmen erforderlich sind, namentlich der Einsatz von
Fachpersonal:
Vgl. Kap. 4
Art. 9 Abs. 3 1
•
Sozialpädagogische Betreuung während des Unterrichts
•
Sozialpädagogische Familienbegleitung ausserhalb des Unterrichts
•
Heilpädagogische Wochenlektionen zusätzlich zum Unterricht
zusätzlichem Personal:
Vgl. Kap. 4
Art. 9 Abs. 4
1
•
Assistenzlehrpersonen (auch zur Entlastung der Klassenlehrperson)
•
Einsatz einer Klassenhilfe zur Begleitung während des Unterrichts
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10. MindestStandards
1. Die Abklärung ergibt Sonderschulbedürftigkeit aufgrund einer Verhaltensbehinderung, für die eine separative Sonderschulung in einer Institution für Verhaltensauffällige indiziert wäre (Gemäss ICD 10).
2. Die Schule und das Elternhaus sind bereit, die Verhaltensbehinderung mit integrativer Sonderschulung anzugehen und die erforderliche enge Zusammenarbeit
sicher zu stellen.
3. Eine Fachperson für systemische Beratung berät das System und koordiniert die
bewilligten Massnahmen.
4. Schule und Elternhaus treffen verbindliche Vereinbarungen über die Ziele.
5. Die Schulleitung ist für die Fallführung verantwortlich und überprüft die Kooperationsfähigkeit des Systems ‚Schule+Familie‘. Sie stellt nach Bedarf, jedoch mindestens einmal jährlich ein Evaluationsgespräch mit den Beteiligten sicher und
entscheidet über die Weiterführung der integrativen Massnahme.
11. Vernetzung
Folgende Angebote stehen bei Bedarf ergänzend zu verstärkten Massnahmen zur
Verfügung:
1. Schul- und familienergänzende Tagesstrukturen (im Sinne eines kostenpflichtigen
Entlastungsangebots für die Familie)
2. Logopädietherapie (beim Vorliegen einer Sprachstörung)
3. Psychomotoriktherapie (insbesondere für Kinder mit ADHS)
4. Erziehungsberatung durch den Schulpsychologischen Dienst oder die Familienund Jugendberatungsstelle als Systemberatung oder als zusätzliches Beratungsangebot
5. Schulische Sozialarbeit als Systemberatung oder als zusätzliches Beratungsangebot
12. Abgrenzung
1. Für Verhaltensauffälligkeiten leichten bis mittleren Grades kann kein Anspruch
auf IS-Verhalten geltend gemacht werden. Sie sind im Rahmen der IF-Pensen
und anderer Ressourcen der Gemeinden (z.B. schulische Sozialarbeit) anzugehen.
2. IS-Verhalten kann nicht „präventiv“ verordnet werden. Wenn die Massnahmen
der Regelschule (IF/Schulische Sozialarbeit, usw.) nicht mehr ausreichen, nimmt
die Schule rechtzeitig mit dem SPD zur Abklärung weiterer Massnahmen Kontakt
auf.
3. Verhaltensbehinderungen, die sich durch selbst- und fremdgefährdendes Verhalten, erhebliche Abweichungen von ethischen oder rechtlichen Normen (z.B. Delinquenz) oder wiederkehrenden Konsum von legalen und illegalen Drogen einschliesslich Alkohol manifestieren, eignen sich nicht für IS-Verhalten und sind mit
einer Platzierung in einer separativen Sonderschulinstitution anzugehen.
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4. Wenn die Schule die Verhaltensbehinderung eines Kindes oder Jugendlichen
nach bestem Wissen und Gewissen mit integrativen Mitteln für untragbar hält
oder nach längerem Bemühen keine Ressourcen mehr freistellen kann, sind separative Sonderschulmassnahmen integrativen vorzuziehen.
Fazit:
Bei der Beurteilung der Kriterien, ob ein Verhalten in der Klasse oder im gesamten Schulbetrieb nicht mehr getragen werden kann, spielt immer auch die subjektive Wahrnehmung der beteiligten Bezugspersonen des Kindes eine Rolle. Aus
diesen Gründen sind die Definitionen „schwere Verhaltensauffälligkeit“, „Verhaltensbehinderung“, „Untragbarkeit“ äusserst restriktiv anzuwenden und immer im
D
D
SP
FB
SP
B
ZP
M
SH
P
M
SS
A
A
KL
P
E
SL
Massnahmenentscheid
SB
Funktionendiagramm
IS-Verhalten
SP
D
13. Kompetenzen
AV
M
Vieraugenprinzip durch eine fachliche Abklärung zu verifizieren oder falsifizieren.
In der Regel erforderlich
Systemberatung (SB) ernennen
E
A
Bedarf weitere Massnahmen klären
E
A/M
systemische Beratungsgespräche
Koordinationsgruppe SPD - SB
M
D
M
M
D
C
D
M
Weitere Massnahmen nach Bedarf
Einsatz Fachpersonal Schule
M
E
Einsatz Zusätzliches Personal
M
E
Einsatz Fachpersonal Sozialpäda.Familienbegleitung
C
LWB/SCHILW
M
Legende:
Kompetenzen:
E = Entscheid
A = Antrag
D = Durchführung
M = Mitwirkung
C = Controlling
Akteure:
SB
=
SL
=
KLP =
ZP
=
SPB =
SPFB =
D
M
D
D
E
Systemberatung
Schulleitung
Klassenlehrperson
zusätzliches Personal
sozialpädagogische Betreuung
sozialpädagogische
Familienbegleitung
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1
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14. Verständnis
fördern
Auffälliges Verhalten verstehen! – Geht das?
Antworten auf die Wozu-Frage:
Antworten auf die „Wozu-Frage“ fördern das Verständnis von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensbehinderungen und erleichtern den Zugang zu ihnen. Unabhängig vom Schweregrad können Verhaltensauffälligkeiten in Bezug auf Ihre Wirkung auf
das Umfeld (System) wie folgt betrachtet werden.
1. Verhaltensauffälligkeiten sind Ausdruck
Die Verhaltensauffälligkeit ist z.B. Ausdruck von innerpsychischen Konflikten
oder zwischenmenschlichen Spannungen. Ein Kind, das oft und schnell wütend
wird, zeigt uns, dass es unter Ablehnung, Mobbing oder Überforderung leidet
oder entlastet sich durch die emotionale Spannungsabfuhr von Misserfolgserlebnissen.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: Nicht die Wutausbrüche werden „wegtrainiert“. Vielmehr wird in der systemischen Beratung unter Einbezug der Bezugspersonen dem Kind vermittelt, dass seine innere Anspruchshaltung an das eigene Leistungsvermögen, nicht von aussen gefordert ist und dass es auch mit weniger guten Leistungen geliebt wird. Bei Mobbing werden die Ressourcen aller
Beteiligten benutzt um diskriminierende Verhaltensweisen des Umfeldes zu reduzieren bzw. zu beenden.
2. Verhaltensauffälligkeiten machen Eindruck
Die Verhaltensauffälligkeit macht Eindruck, löst bei den Mitmenschen Emotionen aus, erzeugt Zuwendung, Ablehnung, Provokationen und gibt dem Kind das
Gefühl von Selbstwirksamkeit – es kann etwas bewirken, auch wenn die Wirkung
für das Umfeld belastend ist.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: Das Kind lernt in der systemischen Beratung zusammen mit den Bezugspersonen, dass es auch ohne Provokationen in
seinem Umfeld etwas bewirken / „selbstwirksam“ sein kann.
3. Verhaltensauffälligkeiten sind Alarmsignale
Die Verhaltensauffälligkeit als Alarmsignal: Zum Beispiel kann delinquentes
Verhalten bedeuten: Hilfe, mir geht es schlecht, ich brauche eine Veränderung,
eine Therapie, eine Fremdplatzierung, ich brauche Grenzen und Verlässlichkeit.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: Schwere Verhaltensauffälligkeiten, die wie
Alarmsignale wirken, erfordern oft einen Eingriff ins Umfeld des Kindes, damit die
schädlichen Einflüsse beseitigt oder gestoppt werden können. Es hat keinen
Sinn, mit einem offensichtlich wenig tragfähigen Umfeld, integrative Massnahmen
zu prüfen, wenn zum Vornherein klar ist, dass nur eine separative Sonderschulmassnahme hilft. Wertvolle Entwicklungszeit in einer tragfähigen Institution ginge
dabei für das Kind oder den Jugendlichen verloren.
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4. Verhaltensauffälligkeiten sind unbeholfene Problemlösungsversuche
Die Verhaltensauffälligkeit als unbeholfener Problemlösungsversuch: Ein
Kind, welches sich in seiner Familie ausgeliefert und hilflos oder ohnmächtig fühlt,
sich etwa infolge einer Trennung hin- und hergeschoben vorkommt, beginnt in
der Schulklasse zu intrigieren, Kolleginnen und Kollegen gegeneinander auszuspielen und versucht so, eigene Machtgefühlen auszuprobieren und seine selbst
erlebten Ohnmachtsgefühlen ungeschehen zu machen.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: Das ganze System, insbesondere die Familie, muss in einem solchen Fall mit dem Ziel begleitet werden, dem Kind Schritt
für Schritt mehr Selbstbestimmung zu gewähren. Nach und nach kann dann das
manipulative Verhalten des Kindes reduziert werden.
5. Verhaltensauffälligkeiten sind Entwicklungsindiz:
Die Verhaltensauffälligkeit als Entwicklungsindiz: Ein stilles Kind mit einer längeren depressiven Phase und apathischer Einstellung beginnt plötzlich eine
Phantasiewelt aufzubauen, erzählt Lügengeschichten, welche von der Umwelt
unter Umständen schwerer zu ertragen sind, als das ruhige zurückgezogene angepasste Verhalten. Gleichwohl kann das „auffälligere“ Verhalten, darauf hinweisen, dass das Kind seine depressive Phase überwunden hat.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: In diesem Fall ist es wichtig, dass die Bezugspersonen den Sinn der Verhaltensauffälligkeit als Schritt in die richtige Richtung sehen und nicht überreagieren, sondern Ruhe bewahren.
6. Verhaltensauffälligkeiten stabilisieren Beziehungen
Die Verhaltensauffälligkeit dient dazu, Beziehungen zu stabilisieren: Beispielsweise bewirkt ein verhaltensauffälliger Aussenseiter, dass sich die Mitschüler solidarisch gegen ihn einigen und damit die Klasse als Ganzes zusammen geschweisst wird. Auch in Familien können sog. Problemkinder die Beziehung der
Eltern stabilisieren und so eine Trennung verhindern oder hinauszögern.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: In einer Systemischen Beratung sollte der
Fokus nicht auf den Konflikt „der andern“ mit dem Kind gelegt werden. Vielmehr
muss es möglich werden, dass „die andern Mitglieder des Systems“ merken,
dass sie ebenfalls unterschiedlich gegensätzlich sind und latente Konflikte haben
und diese lösen sollten anstatt sich gegen das auffällige Kind zu „verbrüdern“.
7. Verhaltensauffälligkeiten kanalisieren Emotionen
Die Verhaltensauffälligkeit kanalisiert Emotionen: Beispielsweise kann das notorische Stehlen eines Kindes dazu dienen, in einer Familie, wo ein sehr aggressiver Umgang untereinander herrscht, die Aggressionen im Sinne einer Aufopferung auf das Symptom „Stehlen“ und damit auf das Kind zu richten, so dass die
übrigen Familienmitglieder „geschont“ werden.
Lösungsorientierter Handlungsansatz: Ähnlich wie in Punkt 6 ist es auch in so einer Konfliktlage wichtig, dass das Aggressionspotenzial aller Systemmitglieder
thematisiert und durch Umgangsregeln in verträgliche Bahnen gelenkt bzw. reduziert werden kann.
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