2|2012 - Bertelsmann Stiftung

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2|2012 - Bertelsmann Stiftung
2| 2012
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
Editorial
Erinnern Sie sich noch an Chefarzt Prof. Klaus Brinkmann?
Oder an Dr. Stefan Frank, den Arzt, dem die Frauen vertrauen?
Sie waren die Hauptdarsteller der populären Arzt-Serien aus den
80er und 90er Jahren. Sie spiegelten ein Arztbild, welches
im ­Hinblick auf Professionalitäts- und Persönlichkeitsmerkmale unantastbar erschien: stets fachlich kompetent, moralisch
­korrekt, sensibel, höflich, dazu selbstsicher und anerkannt.
Auch in der Realität wird Ärzten seit vielen Jahren ein ähnlich
hohes Berufsprestige von der breiten Bevölkerung zugesprochen.
Kaum ein anderer Beruf – ausgenommen vielleicht der des
Fußballnationalspielers – zieht ein so großes Interesse der
­Bevölkerung auf sich wie der des Arztes. Dies ist auch gut
­nachvollziehbar: Den von Ärzten erbrachten Leistungen
wird schließlich eine zentrale Bedeutung für die persönliche
­Gesundheit und Lebensqualität zugeschrieben.
Mussten sich jedoch die fiktiven Doktoren in ihren 45-minütigen Episoden nie mit ökonomischen Restriktionen, Fragen der
­Versorgungsqualität oder permanentem Zeitmangel auseinandersetzen, stellt sich heute die ernsthafte Frage, ob die veränderten
Rahmenbedingungen des Arztberufes das Vertrauen in den
Berufsstand beeinflussen.
Unsere Befragungsergebnisse machen deutlich, dass sich das
­Ärzteimage verändert. So rangieren Hebammen und Krankenschwestern bei der Frage „nach dem Vertrauen in die Berufsgruppe“ heute vor den Ärzten. Wichtiger als das Ranking ist den
Autoren dieses Newsletters, Magnus Heier und Gerd ­Marstedt,
aber die Frage, wodurch das Ärzteimage beeinflusst wird und
welche Folgen ein weiterer zunehmender Imageverlust hat.
In wieweit die vermittelten Arztbilder im Fernsehen zum Image
beitragen, wird der Newsletter nicht beantworten. Leicht hätten
es unsere Serienärzte aus den 80ern und 90ern im Jahr 2012
sicher nicht. Denn: Informierte Patienten, die eine gemeinsame
Entscheidungsfindung einfordern und den „Halbgott in Weiß“
mit einer „gesunden“ Skepsis hinterfragen, tun sowohl dem
Behandlungsergebnis als auch den Ärzten gut.
Wir wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
Das Ärzteimage in der Bevölkerung:
Im Schatten von „IGeL“
und „Zweiklassenmedizin“
Magnus Heier, Gerd Marstedt
Ausgangslage
Das „Ärzteimage“ oder das „Berufsprestige“ von Ärzten bezeichnet das Ansehen dieser Berufsgruppe in der Öffentlichkeit. Erfasst
wird es zumeist in Bevölkerungsumfragen der großen Meinungsforschungsinstitute aus Berlin, Bielefeld oder Allensbach. In den
alljährlich veröffentlichten Meldungen hierzu zeigt sich seit einer
Dekade fast unverändert, dass der Arztberuf auf Platz 1 steht und
„damit unangefochten die Liste der am meisten geachteten Berufe
anführt“ (Institut für Demoskopie Allensbach 2011). Nicht ganz so
abgehoben fallen Ergebnisse der Image-Umfrage „Reader‘s Digest
European Trusted Brands 2010“ aus. Ärzte rangieren dort „nur“ auf
Platz 5 der 20 vorgegebenen Berufe, hinter Feuerwehrleuten und
Piloten – und auch noch hinter den Heilberufen der Apotheker und
Krankenschwestern (Reader’s Digest 2011). Auch ein zeitlich längerer Rückblick und Vergleich zwischen den Jahren 1966 und 2001
deutet zumindest moderate Image-Verluste an (Donsbach 2003).
In den Medien finden sich bisweilen sehr drastische Zuspitzungen
dieser Entwicklung; abgeleitet wird daraus eine nachhaltige Vertrauenskrise: „Das Arzt-Patienten-Verhältnis krankt: Sekundengespräche im Behandlungszimmer, aufgeschwatzte privat zu bezahlende
Vorsorge-Leistungen ohne nennenswerten Nutzen, übermüdete Ärzte
im Krankenhaus, personelle Unterbesetzung: Das Vertrauen in die
Ärzte sinkt“ (Südwestdeutscher Rundfunk 2010). Gibt es tatsächlich
einen nachhaltigen Vertrauensverlust in die Ärzteschaft oder skandalisieren einige Medien Einzelfälle von Abrechnungsbetrug und
ebenso spektakuläre wie seltene „Kunstfehler“ von Ärzten zugunsten
ihrer Auflage? Betrachtet man Medienberichte der letzten Jahre über
die medizinische Versorgung und ärztliches Handeln, so lassen sich
allerdings einige Entwicklungen benennen, die möglicherweise auch
das Image der Ärzteschaft bei der Bevölkerung verändert haben.

gesundheitsmonitor
Zu nennen sind hier:
n Die Ungleichbehandlung von Privat­
patienten und Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV),
zumindest was Wartezeiten betrifft.
Befragungsdaten deuten an, dass eine
schlechtere Behandlung von Kassen­
patienten sogar bei der Qualität der
medizinischen Behandlung wahr­
genommen wird (Gesundheitsmonitor
Newsletter 3/2009).
n Die zunehmende Verbreitung von Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeLLeistungen) in der Praxis niedergelassener Ärzte hat möglicherweise einen
Vertrauensverlust bewirkt – zumindest
deuten frühere Umfragen dies an.
n Die Streiks (zuletzt 2006) und
Streikandrohungen der Ärzte sind
unterschiedlich interpretierbar: als
Maßnahme zur Verbesserung der
Versorgungsbedingungen von Patienten (vermittelt über bessere ärztliche
Arbeitsbedingungen) einerseits, aber
auch als Versuch einer Durchsetzung
ökonomischer Interessen auf dem
­Rücken von Versicherten und Patienten.
Es gibt weitere Aspekte, wie die Häufung
von Abrechnungsbetrugsfällen – der
jüngste Skandal um ein Krebsmedikament, für dessen Verschreibung der
­Hersteller den Ärzten Prämien gezahlt
haben soll, ist nur das aktuellste Beispiel
unter vielen. Zu nennen sind hier aber
auch Terminprobleme für Patienten am
Quartalsende, die ärztlicherseits mit
­Hinweisen auf ein erschöpftes Budget
begründet werden (Himmel et al. 2011);
Medien­berichte über medizinisch
­überflüssige und riskante Unter­
suchungs- und Behand­lungsmethoden,
die ­„Landflucht“ der Ärzte und damit
die außerhalb von Städten oft nicht
wieder­besetzbaren und schon in naher
Zukunft fehlenden Arztpraxen mit der
Folge ­langer Wartezeiten auf Arzttermine
und sehr weiter Patientenwege.
2
Die Frage nach dem Ärzteimage erhält
damit eine gravierende Zuspitzung: Wird
ärztliches Handeln in der Bevölkerung
zunehmend so erlebt, dass es eher von
Verdienstinteressen als von Bemühungen um das Patientenwohl geleitet ist?
Überprüfbar wird auch, ob das Image
einer Berufsgruppe eher ein weitgehend
­stabiles Stereotyp ist oder ein durch
eigene Erfahrung wandelbares Deutungsmuster. Diese Frage ist nicht nur
für Meinungsforscher, für Kultur- und
­Sozialwissenschaftler von Interesse.
Damit verknüpft sind auch relevante
gesundheitspolitische Fragen: Lässt sich
das zunehmende Interesse an „alter­
nativer“ Medizin ebenfalls erklären aus
einem Imageverlust der (überwiegend
schulmedizinisch orientierten) Ärzteschaft? Ist eine starke Einflussnahme
ärztlicher Interessenverbände auf
gesundheitspolitische Entscheidungen
auch dann noch denkbar, wenn Patienten
zunehmend den Eindruck haben, ihrem
Arzt gehe es primär um sein Einkommen
und weniger um ihre Gesundheit? Und
wenn das Vertrauen in Ärzte, in ihre persönliche Kompetenz und Integrität sinken
sollte, wird dann nicht der Therapieerfolg
in vielen Fällen schon dadurch infrage
gestellt, dass der Placebo-Effekt, der
Teil jeder Behandlung ist, zunehmend
­bröckelt? In diesem Newsletter untersuchen wir auf Basis der Ergebnisse einer
repräsentativen Befragung von 1.772 Personen im Alter von 18 bis 79 Jahren, die
im Frühjahr 2012 durchgeführt wurde,
das Ärzteimage in der Bevölkerung. Ziel
ist es, das derzeitige Profil des Ärzteimages in Deutschland etwas differenzierter
und inhaltlich präziser zu analysieren,
als dies in der Allensbach-Meldung zum
Ausdruck kommt. Dabei werden folgende
Fragestellungen untersucht:
n Wurden die oben skizzierten Entwick­
lungen wie Ärztestreik, zunehmende
Verbreitung von IGeL-­Leistun­gen und
„Zwei-Klassen-Medizin“ tatsächlich
persönlich erfahren und als problematisch bewertet? Wenn ja, wird dahinter
eher ein strukturelles gesundheitspolitisches Problem gesehen ­(ökonomische
Restriktionen) oder eher ein ärztliches
Fehlverhalten zulasten von Patienten?
n Wie sieht das Berufsprestige der Ärzte
im Vergleich zu anderen Berufen
und anderen Heilberufen aus? Gibt
es Unterschiede, wenn man einzelne
Fachdisziplinen oder Beschäftigungs­
situationen betrachtet?
n Ist das Ärzteimage bei allen Bevölkerungsgruppen in etwa gleich, unab­
hängig davon, ob es sich um Kranke
oder Gesunde, Arme oder Reiche,
­Männer oder Frauen handelt? Handelt
es sich dabei eher um ein Stereotyp,
also ein durch konkrete Erfahrungen
nicht nennenswert beeinflussbares
Wahrnehmungsmuster, oder zeigen sich relevante Zusammenhänge
zu persönlichen Erfahrungen im
Versorgungs­system?
Praktizieren Ärzte eine „Zwei-KlassenMedizin“?
Dem Begriff der „Zwei-Klassen-Medizin“
haftet ein klassenkämpferischer Unterton
an. Allerdings hat auch eine Umfrage
bei mehr als 500 niedergelassenen
Haus- und Fachärzten sowie bei Klinik­
ärzten gezeigt, dass 61 Prozent (Klinik­
ärzte) und 76 Prozent (niedergelassene
Hausärzte) der Meinung sind, es gebe
in Deutschland schon jetzt eine „ZweiKlassen-Medizin“. Und von denjenigen
Ärzten, die dies aktuell noch nicht so
sehen, meint knapp die Hälfte, es würde
in den nächsten Jahren dazu kommen
(NAV-Virchow-Bund 2009).
Auf die jetzt in der Befragung im
Gesundheitsmonitor gestellte Frage
„Alles in allem genommen: Gibt es bei
uns in Deutschland nach Ihrer persön­
lichen Erfahrung derzeit eine „Zwei-­
Klassen-Medizin?“ antworten 19 Prozent
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
3
der befragten Versicherten „in sehr starkem Maße“, 52 Prozent sagen „teilweise“,
14 Prozent „nur in Ausnahmefällen“
und drei Prozent „gar nicht“. Elf Prozent
trauen sich kein Urteil zu („weiß nicht“).
Dabei zeigen sich, nicht unbedingt erwartungsgemäß, nur minimale Unterschiede
zwischen Kassen- und Privatversicherten.
In beiden Gruppen stimmen fast drei
Viertel der Befragten (71 %) der These
einer Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland entweder voll oder zumindest
­teilweise zu. Worin zeigt sich nun aus
Sicht der Bevölkerung diese Ungleich­
behandlung im Detail?
Vermutete Nachteile von Kassenpatienten
Befragte, die sagen, dass das jew. Merkmal „auf jeden Fall“ oder „eher“ zutrifft (in Prozent)
Deutlich wird aus Abbildung 1: Nicht
nur bei Wartezeiten – häufig als weniger relevant und „Komfort“-Merkmal
bezeichnet – vermuten Patienten eine
Ungleichbehandlung. Auch für mehrere
Aspekte der Behandlungsqualität selbst
werden Unterschiede betont, die teilweise
sehr groß, teilweise eher gering aus­
fallen. Bestimmte Facetten der Ungleichbehandlung von Patienten nur aufgrund
ihrer Krankenversicherung werden
dabei ­häufiger von GKV-Versicherten
betont. Dazu zählt das Merkmal längerer
­Wartezeiten – auf einen Sprechstundentermin ebenso wie die Wartezeit in
der Praxis –, die „Zeit, die man sich für
den Patienten nimmt“ oder die „Berück­
sichtigung ­neuester medizinischer
Erkenntnisse“.
Bessere Medikamente
Eine in den Medien eher selten beleuchtete Facette des Themas Zwei-KlassenMedizin ist die Überversorgung von
Privatpatienten sowohl im Bereich der
Diagnostik als auch der Therapie (ausführlich dazu Heier 2007). Auf die Frage
„Haben Sie bei sich selbst oder bei privat
versicherten Angehörigen oder Freunden
schon erlebt, dass Folgendes beim Arzt
gemacht wurde, anscheinend nur, weil
der Patient privat versichert war?“ antwortet von den befragten PKV-Versicher-
Wartezeiten auf einen Arzttermin
81
84
Wartezeiten in der Arztpraxis
62
77
Zeit, die man sich für
66
den Patienten nimmt
69
Berücksichtigung neuester
61
medizinischer Erkenntnisse
66
50
(Wirksamkeit, Nebenwirkungen)
57
Sorgfalt, Gründlichkeit bei der
25
Untersuchung
51
Freundlichkeit der Ärzte
22
34
PKV-Versicherte
GKV-Versicherte
nur GKV- und vollständig PKV-Versicherte, ohne Beamte mit Beihilfeberechtigung
Quelle: Gesundheitsmonitor 2012, 20. Erhebungswelle, n= 1.416 –1.630
Abbildung 1
ten eine nicht unerhebliche Zahl, dass
sie unnötige medizinische Verordnungen
schon über sich ergehen lassen mussten.
Besonders drastisch ist dabei (ohne
Abbildung) die Einschätzung von acht
Prozent aller Befragten, die letztlich
überflüssige Operationen bei sich selbst
oder bei Bekannten erlitten haben – nur
aufgrund ihres privaten Versicherungsstatus. Als überflüssig wurden Untersuchungen – vor allem Labor-, Ultraschall-,
Röntgen- oder Kernspinuntersuchungen
– von jeweils einem Fünftel der Befragten erlebt, überflüssige ­Arzttermine „zur
Kontrolle“ von fast einem Drittel. Insgesamt hat knapp die Hälfte der Privat­
patienten (44 %, n=106, ohne beihilfe­
berechtigte Beamte in der PKV) schon
eines der im Fragebogen vorgegebenen
Verfahren persönlich mitgemacht und
dabei als unnötig erlebt. Viele Privat­
patienten werden sich daher die Frage
stellen, ob ihr Arzt bei Diagnosen und
Therapien immer nur nach medizinischen Kriterien verfährt. Hier beginnt
sich der Begriff der Zwei-­KlassenMedizin ins Gegenteil zu ver­kehren.
Es bleibt weiteren Befragungen vor­
behalten zu erkennen in welchem Maße
gesundheitsmonitor
4
Annahmen über Motive von Ärzten zur Besserstellung von Privatpatienten (in Prozent)
Private Krankenkassen bezahlen
Leistungen eher.
Gesetzl. Krankenkassen sparen
bei ärztlicher Vergütung zu sehr.
Finanzielle Interessen sind Ärzten
wichtiger als ihre Patienten.
54
37
54
36
51
35
49
40
Dies ist ein bemerkenswertes Patientenurteil: Geld ist den Ärzten danach
oft wichtiger als die Gesundheit ihrer
Patienten. Gleichzeitig zeigen dann aber
auch neun von zehn Befragten zumindest teilweise Verständnis für die Ärzte,
indem sie die Schuld an der Zwei-Klassen-Medizin den Gesetzlichen Krankenkassen zuschieben, die bei der ärztlichen
Vergütung „zu sehr sparen“.
Ärztestreik und das
sogenannte „IGeLn“
31
5
17
Ärzte können nur so einen
angemessenen Verdienst erzielen.
0
42
40
47
39
48
20
40
Befragte, die völlig zustimmen (PKV-Versicherte)
Befragte, die eher zustimmen (PKV-Versicherte)
Befragte, die völlig zustimmen (GKV-Versicherte)
Befragte, die eher zustimmen (GKV-Versicherte)
60
80
100
nur GKV- und vollständig PKV-Versicherte, ohne Beamte mit Beihilfeberechtigung
Quelle: Gesundheitsmonitor 2012, 20. Erhebungswelle, n = 1.250 –1.384
Abbildung 2
Privat­patienten diese Überversorgung
nicht nur als unnötig, sondern auch als
Gesundheitsrisiko empfinden.
Welche Annahmen haben Versicherte
über die Ursachen der Zwei-KlassenMedizin?
Wollen Ärzte einfach mehr Geld ver­
dienen oder liegt es am System? Die
Abbildung 2 weist auf zwei Befunde hin:
n Zum Ersten sind hier nur in einem
Aspekt Differenzen zwischen Kassenund Privatpatienten erkennbar: Dass
Ärzte ihre Verdienstmöglichkeiten
höher gewichten als das Patientenwohl,
glauben GKV-Versicherte signifikant
öfter (59 %) als PKV-Mitglieder (36 %).
Bei allen anderen Statements gibt es
keine statistisch signifikanten Diffe­
renzen zwischen beiden Gruppen.
n Zum Zweiten werden strukturelle
­Ursachen noch häufiger genannt als
persönliche Interessen der Ärzte. Etwa
neun von zehn Befragten heben in
­diesem Kontext die Sparmotive der
GKV und die größere Zahlungsbereitschaft der PKV hervor.
Die Besserstellung der Privatpatienten
interpretieren die meisten Versicherten –
ausdrücklich auch die GKV-Versicherten
– als eine Art legitimer Notwehr der
Ärzte zur Sicherung eines angemessenen
Einkommens, sogar dann, wenn sie auf
Kosten der Patienten geht.
Im Jahr 2006 fand zuletzt ein Ärztestreik
in Deutschland statt. Nach vielen Groß­
demonstrationen legten an deutschen
­Universitätskliniken und kommunalen
Krankenhäusern etwa 14.000 Ärzte die
Arbeit nieder, um gegen die aus ihrer Sicht
unzumutbaren Arbeitsbedingungen und
für eine bessere Bezahlung zu ­kämpfen. Es
wurde untersucht, ob dieses Ereignis noch
in den Köpfen der Befra­gungsteilnehmer
präsent ist und wie diese den Arbeitskampf bewerten. Es zeigt sich: Die Ärztestreiks aus dem Jahr 2006 sind sehr vielen
Befragten noch präsent, 56 Prozent
­erinnern sich an Berichte im Fern­sehen
und in Zeitungen über dieses Ereignis.
Die große Mehrheit befürwortet ein
Streikrecht auch für Ärzte zur Durchsetzung ihrer Interessen und erkennt darin
sogar positive Nebeneffekte für Patienten
(Abbildung 3). Drei Ergebnisse sind hier
festzuhalten: Zum Ersten wird ein Streik
als Grundrecht für alle Erwerbs­tätigen
wahr­genommen, einbegriffen sind damit
auch Ärzte. Zum Zweiten wird das
­Streikrecht überraschenderweise nicht
(wie in der Rechtsprechung) auf abhängig
Beschäftigte beschränkt, sondern auch
niedergelassenen Ärzten, also Selbst­
ständigen, zugebilligt. Zum Dritten sieht
nur die Hälfte der Befragten in Streiks
eine Interessenkollision, die ­zulasten der
­Patienten geht.
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
5
Ein zweiter Aspekt, den wir in diesem
Kontext angesprochen haben, betrifft
Individuelle Gesundheitsleistungen
(IGeL). Frühere Befragungsergebnisse
deuten hier Kritik der Patienten an. Auf
die Frage „Wird das Verhältnis zwischen
Arzt und Patient durch das zusätzliche
Angebot privater, individueller Gesundheitsleistungen verbessert oder verschlechtert?“ sagten in einer Befragung
des Wissenschaftlichen Instituts der
AOK (WIdO) 76 Prozent „verschlechtert“
(Zok und Schuldzinski 2005). Und in
einer Studie im Auftrag der Kassen­
ärztlichen Bundesvereinigung (KBV)
bewerteten 19 Prozent der befragten
Pa­tienten die Bedenkzeit beim IGeLAngebot als zu kurz (Protschka und
­Rieser 2011).
Verbraucherzentralen, aber auch der
­Spitzenverband der GKV artikulieren
die Kritik an oft fragwürdigen ­Leistungen,
zu denen Patienten über­redet ­würden.
Der vom Spitzenverband der GKV in
­Auftrag gegebene IGeL-Monitor soll daher
im Internet Patienten auf­klären und vor
unnötigen medizinischen Ver­fahren und
damit verbundenen Kosten bewahren.
Dabei ist zu betonen: IGeL sind alle
­Leistungen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (bisher) nicht als sinnvolle
medizinische Leistung eingeordnet hat –
unter dem Begriff IGeL kann der Arzt
jede denkbare medizinische Leistung
anbieten. Eine Kontrolle findet nicht statt.
In der Befragung wurde daher auch
­thematisiert, ob die Teilnehmer schon
persönliche Erfahrungen mit solchen
Angeboten haben und wie sie Indi­
viduelle Gesundheitsleistungen bewerten.
Zunächst wird deutlich, dass etwa zwei
Drittel der Befragungsteilnehmer (66 %)
schon einmal IGeL-Leistungen angeboten
wurden, darunter 18 Prozent einmal und
48 Prozent mehrfach. Nur etwa jeder
Vierte (27 %) hat das Angebot abgelehnt.
Bewertung der Ärztestreiks (in Prozent)
Wie alle Erwerbstätigen dürfen auch
Ärzte für ihre Interessen kämpfen.
Das ist moralisch in Ordnung, denn bessere
Arbeitsbedingungen für Ärzte sind auch
gut für Patienten.
stimme völlig zu
stimme eher zu
35
15
12
stimme eher nicht zu
7 2
47
42
Ärzte tragen damit finanzielle Interessen
auf dem Rücken von Patienten aus.
Angestellten Ärzten steht das zu,
niedergelassenen Ärzten mit eigener Praxis
nicht.
42
49
25
8 3
40
43
9
20
stimme gar nicht zu (Antwort „weiß nicht“ weggelassen)
Quelle: Gesundheitsmonitor 2012, 20. Erhebungswelle, 18. Erhebungswelle, n=1.729 –1.756
Abbildung 3
28 Prozent haben die Leistung einmal
akzeptiert und selbst bezahlt, bei weiteren 44 Prozent geschah dies mehrfach.
Welche Meinung haben Befragungs­
teilnehmer nun zu diesem aus eigener
Tasche zu bezahlenden Versorgungs­
angebot?
ensverhältnis zwischen Arzt und Patient
belastet werde. Nicht ganz die Hälfte
der Bevölkerung sieht also Risiken für
das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt
und Patient und bewertet das ­Angebot in
der Arztpraxis als eher verdienst- denn
­therapieorientiert.
Die Antworten (Abbildung 4) sind nicht
völlig konsistent, was auf eine Unsicherheit der Beurteilung und eine teilweise
noch unzureichende Informationsbasis
hinweist. Einerseits glauben fast neun
von zehn Befragten, dass die IGeL-Angebote von den Kassen nicht bezahlt werden, (nur) weil diese Geld sparen wollten. Über 80 Prozent stimmen der These
zu, IGeL-Leistungen seien gut, aber zu
teuer. Andererseits denken 44 Prozent
der ­Versicherten, Kassen- wie Privatpatienten gleichermaßen, dass diese
Leistungen größtenteils medizinisch
überflüssig sind. Und eine ähnlich große
Gruppe meint, dass es den Ärzten um
Geld und nicht um Gesundheit gehe, und
dass durch IGeL-Angebote das Vertrau-
Das Vertrauen in Ärzte und
andere Berufsgruppen
Die Allensbacher Berufsprestige-Frage
thematisiert die Wertschätzung und Achtung vor dem Arztberuf: „Könnten Sie
bitte die fünf Berufe heraussuchen, die
Sie am meisten schätzen, vor denen Sie
am meisten Achtung haben?“ Als Ergebnis zeigte sich zuletzt: Den Arzt nennen
82 Prozent, die Krankenschwester 67
Prozent, den Lehrer 42 Prozent. Ganz
unten rangieren mit jeweils vier Prozent der Nennungen: Politiker, Banker/
Bankangestellter und Fernsehmoderator
(Institut für Demoskopie Allensbach
2011). Die Art der Frage dürfte eher die
gesellschaftliche Reputation anspre-
gesundheitsmonitor
6
Meinungen zu Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) nach GKV- oder PKV-Versicherung
Befragte, die völlig oder eher zustimmen (in Prozent)
Die Kassen bezahlen sie nicht, weil sie
um jeden Preis Kosten senken wollen.
86
88
81
Sie sind gut, aber zu teuer.
81
82
74
Das Vertrauensverhältnis zwischen
Arzt und Patient wird dadurch
verschlechtert.
45
46
34
Sie sind medizinisch größtenteils
überflüssig.
44
44
38
Ärzte wollen damit in erster Linie Geld
verdienen – ihnen geht es dabei nicht
um Gesundheit.
41
42
33
Die Kassen bezahlen sie nicht, weil sie
überflüssig sind.
32
32
21
alle
GKV-Versicherte
PKV-Versicherte
Quelle: Gesundheitsmonitor 2012, 20. Erhebungswelle, n=1.401–1.519
Abbildung 4
chen, ein Merkmal, über das zuletzt in
­besonders negativer Form bei einigen
Spitzenpolitikern diskutiert wurde. In
diese Operationalisierung des Ärzte­
images fließen dann auch Aspekte ein
wie das Bildungsniveau, die Verdiensthöhe und der gesellschaftliche Status.
Das Vertrauen in eine Berufsgruppe oder
eine gesellschaftliche Institution berührt
nach sozialwissenschaftlicher Interpreta-
tion eine Reihe sozialer Funktionen, die
für das gesellschaftliche Zusammenleben
zumindest nützlich, wenn nicht sogar
konstitutiv sind. Dazu gehören unter
anderem die Reduktion von Komplexität
und die Schaffung von Verhaltenssicherheit (ausführlicher: Braun und Marstedt
2010, S. 251ff.). Wir haben in der Befragung eine Reihe von Berufsgruppen
vorgegeben (insgesamt 14) und darum
gebeten, jeweils zu sagen, ob man dieser
Gruppe sehr hohes, eher hohes, eher
niedriges oder sehr niedriges Vertrauen
schenkt. Auch eine Antwort „weiß nicht“
war möglich. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse hierzu.
Ebenso wie in der bereits zitierten
Um­frage im Auftrag von Reader’s
Digest zeigen auch die hier gewonnenen ­Befragungsergebnisse, dass andere
Berufsgruppen noch vor den Ärzten
­rangieren, darunter auch zwei Heilberufe, Hebammen und Krankenschwestern. Während die Positionen am unteren Ende recht einfach zu interpretieren
sind, fällt es schwer, eine eindeutige
Erklärung zu finden, warum Hebammen
und Krankenschwestern vor den Ärzten
rangieren.
Untersucht man nun, wodurch ein höheres Vertrauen in Krankenschwestern
beeinflusst wird, zeigt sich folgendes
Ergebnis. 42 Prozent derjenigen, die
eine Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland „in sehr starkem Maße“ verbreitet
sehen, schenken Ärzten weniger Vertrauen als Krankenschwestern. Glaubt
man umgekehrt, dass es eine Zwei-­
Klassen-Medizin „gar nicht“ gibt, so sind
es nur neun Prozent, die Ärzten weniger
vertrauen. Ähnliches zeigt sich für die
Meinung darüber, ob es Ärzten bei IGeLAngeboten nur ums Geldverdienen gehe
und nicht um die Gesundheit. Stimmt
man diesem Statement völlig zu, so
­vertrauen 48 Prozent dieser Gruppe
­Ärzten weniger als Krankenschwestern.
Lehnt man das Statement völlig ab, sind
es nur 19 Prozent. Damit sind keine
­Kausalbeziehungen belegt, aber ein
Zusammenhang zwischen der wahr­
genommenen Ungleichbehandlung von
Kassen- und Privatpatienten und der
Bewertung von IGeL-Angeboten einerseits sowie dem Image-Urteil über Ärzte
in ­Relation zu einem anderen – geringer
qualifizierten – Heilberuf andererseits.
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
7
Das Ärzteimage: resistent gegenüber
Erfahrungen?
Zeigt das Ärzteimage bei allen Bevölkerungsgruppen vergleichbare Konturen,
ist es unabhängig von konkreten Versorgungserfahrungen, von Lebensalter
und Gesundheitszustand? In diesem
Abschnitt werden die Ergebnisse einer
Analyse vorgestellt, die mit multivariaten Verfahren (logistische Regression)
mögliche Differenzen aufspüren soll. Als
Indikatoren für das Ärzteimage wurden
mehrere Variablen verwendet, die jeweils
unterschiedliche Facetten akzentuieren:
1) persönliche Verdienstorientierung von
Ärzten, 2) Verdienstorientierung zulasten
von Patienten, 3) negative Veränderungen
von Qualifikationen und Verhaltensorientierungen von Ärzten in den letzten zehn
Jahren, 4) schlechteres Image von Ärzten
im Vergleich zu Krankenschwestern.
Als unabhängige Variablen wurden
unterschiedliche Erfahrungsbereiche und
Lebensbedingungen der Versicherten
verwendet. Einbezogen wurden (insgesamt 30) soziodemografische Merkmale,
Aspekte des Gesundheitszustands und
Gesundheitsverhaltens sowie Versorgungserfahrungen und Arztkontakte.
Alle Merkmale, die in diesen vorbereitenden Analysen bei zumindest einem
der vier Image-Indikatoren signifikante
Odds-Ratios (OR) aufwiesen, wurden in
einer abschließenden Regressionsanalyse
dann noch einmal gleichzeitig analysiert.
Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse. Deutlich
wird daraus zunächst, dass die zentralen
sozio-demografischen Merkmale entweder keinen oder nur einen geringen Einfluss haben. Das Ärzte­image weist aus
Sicht von Männern wie Frauen, Jüngeren
wie Älteren also sehr starke Gemeinsamkeiten auf. Auch die ein­bezogenen
Merkmale zum Gesundheitszustand und
Gesundheitsverhalten zeigen keine signifikanten Effekte.
Vertrauen in verschiedene Berufsgruppen (Angaben in Prozent)
sehr hohes Vertrauen
sehr hohes oder
eher hohes Vertrauen
Feuerwehrleute
63
98
Hebammen
57
98
Krankenschwestern
50
95
Piloten
48
95
Ärzte
34
91
Polizisten
27
81
Apotheker
27
90
Pfarrer
21
63
Lehrer
12
69
Rechtsanwälte
12
63
Taxifahrer
6
52
Journalisten
2
23
Finanzberater
2
13
Politiker
1
6
Quelle: Gesundheitsmonitor 2012, 20. Erhebungswelle, 1.565–1.720
Tabelle 1
Versorgungserfahrungen auf der ­anderen
Seite schlagen sich sehr deutlich ­nieder:
Befragte, bei denen der Hausarzt nur
wenig über die Krankengeschichte
er­fragt hat, haben ein sehr viel ungünstigeres Bild von Ärzten. Und dies gilt
ebenso für die Bewertung anderer Merkmale ärzt­lichen Verhaltens in der Sprechstunde: die erfahrene Achtung und
Respektbekundung, aber auch ­subjektiv
so erlebte Behandlungsmängel wie zum
Beispiel großer Zeitdruck oder zu wenig
gründ­liche Untersuchungen. Solch
­negative Versorgungserfahrungen
­bewirken ein deutlich negativ geprägtes
Image „der“ Ärzte.
Und schließlich schlagen sich – um
auf unsere Befunde zur „Zwei-Klassen-­
Medizin“ und zu „IGeL-Angeboten“
zurückzukommen – persönlich so erlebte
Benachteiligungen von Kassenpatienten durch längere Wartezeiten oder
einen geringeren Zeitaufwand in der
Sprechstunde ebenso negativ ­nieder
wie ­häufigere Erfahrungen, dass Ärzte
Selbstzahlerleistungen anbieten. Dies
sind offensichtlich Beobachtungen von
­Patienten, die generalisiert werden
und sich dann zu einem Negativimage
­verdichten.
Mit den vorgestellten Befunden der
multi­variaten Analyse sind natürlich
keine Kausalzusammenhänge zu ­belegen.
Es könnte sein, dass konkrete Erfahrungen in der Sprechstunde des eigenen
Haus- oder Facharztes generalisiert werden und so das allgemeine Ärzteimage
eines Patienten prägen. Aber auch umgekehrte Zusammenhänge sind möglich
und durchaus plausibel, nämlich dass ein
aus Medien oder Erzählungen im sozialen Umfeld übernommenes Ärztebild zu
Voreingenommenheit (oder in positiver
Ausprägung zu einem Vertrauensvorschuss) führt und darüber die konkreten
Erfahrungen in der ärztlichen Sprech-
gesundheitsmonitor
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Ergebnisse der multivariaten Analyse (binäre logistische Regressionen) zum Zusammenhang unterschiedlicher Einflussfaktoren
auf vier Indikatoren eines negativen Ärzteimages
Einflussfaktoren
(in Klammern: jeweilige Vergleichs­gruppen, zuerst genannt die Gruppe mit dem
Odds-Ratio-Wert)
Image 1
n = 866
Image 2
n = 901
1,7*
1,9*
Image 3
n = 893
Image 4
n=1.087
5,6***
2,4**
Lebensalter (Jüngere – Ältere)
Geschlecht (Männer – Frauen)
sozioökonomische Schicht (Unterschicht – Oberschicht)
Krankenversicherung (GKV – PKV)
Erwerbsstatus (vollzeit erwerbstätig – nicht erwerbstätig)
chronische Erkrankung (ohne – mit)
Behinderung: Stärke der Handicaps (schwach – stark)
Informationsinteresse in Gesundheitsfragen (niedrig – hoch)
0,5*
Hausarztwechsel aus Unzufriedenheit (ja – nein)
Hausarztwissen über Krankengeschichte (gering – hoch)
1,9*
1,6*
Bewertung der Kommunikation mit dem Hausarzt (nicht intensiv – intensiv)
Bewertung der Information durch den Hausarzt (nicht intensiv – intensiv)
1,8*
erlebte Achtung und Respekt bei letztem Arztkontakt (gering – hoch)
2,5***
subjektiv erlebte Behandlungsmängel (öfter – fast nie oder nie)
1,5*
persönliche Erfahrungen der Benachteiligung von Kassenpatienten (intensiv – keine)
3,4***
persönliche Erfahrungen von IGeL-Angeboten in der Praxis (mehrmals – nie)
Odds-Ratios sind statistische Kennwerte, die u.a. in multivariaten Verfahren die Effektstärke im Vergleich zweier unabhängiger Variablen beziffern.
Angegeben sind Odds-Ratios mit Signifikanzniveau: * 5 %, ** 1 %, *** 0,1 %; leere Tabellenzellen = nicht signifikante Befunde
Image 1: Ärzte handeln heute häufig vorrangig zugunsten eigener finanzieller Interessen.
Image 2: Finanzielle Interessen sind Ärzten wichtiger als ihre Patienten.
Image 3: Qualifikationen und Handlungsorientierungen von Ärzten haben sich im Vergleich zu vor 10 Jahren negativ verändert.
Image 4: Das Vertrauen in Krankenschwestern ist größer als das Vertrauen in Ärzte.
Quelle: Gesundheitsmonitor 2012, 20. Erhebungswelle
Tabelle 2
2,9***
2,2***
2,5***
1,9**
1,5*
1,5*
9
stunde filtert und mitbeeinflusst. Vermutlich spielt beides in der Realität eine
Rolle und es handelt sich um einen
­dynamischen und wechselseitigen Einfluss. Hervorzuheben bleibt jedoch vor
allem, dass die persönlichen Erfahrungen
von Bedeutung sind: Das Ärzteimage ist
kein ehernes und unbeeinflussbares
­Stereotyp, kein Wahrnehmungsraster, das
immun ist gegenüber realen ­Erfahrungen
in der ambulanten oder stationären
­Versorgung. Umgekehrt bedeutet dies
aber auch: Ärzte können durch ihr
­persönliches Verhalten das allgemeine
Ärzte­image positiv wie negativ mit
­beeinflussen.
Fazit
Fasst man die zentralen Befunde der
Befragung noch einmal zusammen, so
zeigt sich: Nicht nur bei Wartezeiten –
häufig als „Komfort“-Merkmal der
­Ver­sorgung abqualifiziert – erkennen
­Patienten eine Ungleichbehandlung von
­Kassen- und Privatpatienten. Auch für
die medizinische Behandlungsqualität
selbst werden solche Unterschiede
­wahrgenommen. Als Folge kommt weit
über die Hälfte der GKV-Versicherten und
über ein Drittel der PKV-Versicherten zu
dem Urteil, dass Ärzte Verdienstinteressen höher gewichten als das Patientenwohl. Die sechs Jahre zurück­liegenden
Ärztestreiks andererseits ­werden kaum
kritisch gesehen, sondern als legitimes
Mittel der Existenzsicherung bewertet,
das potenziell sogar Patienten durch eine
bessere Versorgung zugute kommen
kann. Kritischer sieht es bei der Bewertung von IGeL-Angeboten aus: Knapp die
Hälfte der Befragten – Kassen- wie
­Privatpatienten gleichermaßen – betont,
dass es den Ärzten ums Geld und nicht
um Gesundheit gehe, und dass dadurch
das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt
und Patient belastet werde.
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
Das Ärzteimage, so hat die abschließende
Analyse der Einflussfaktoren schließlich
gezeigt, ist keineswegs ein Stereotyp
oder unveränderliches Einstellungs­
muster. Zwar ist die Übereinstimmung
auch ­zwischen heterogenen Bevölke­
rungs­gruppen (Männern und Frauen,
Jungen und Alten, ...) sehr groß.
­Gleichwohl beeinflussen konkrete Ver­
sorgungserfahrungen nachhaltig das
Bild, das Patienten von der Berufsgruppe
der Ärzte haben; sie verzeichnen in der
­Analyse sogar den ­stärksten Effekt aller
Einflussfaktoren.
Die Patientenmeinung einer Zwei-­
Klassen-Medizin hebt die Privilegierung
privat Versicherter bei Wartezeiten, aber
auch im Rahmen der ärztlichen Behandlung hervor, wie wir festgestellt haben.
Demgegenüber hat eine erst kürzlich
­veröffentlichte wissenschaftliche Studie eine andere Bedeutung des Begriffs
­empirisch aufgezeigt. Danach sind PKVMitglieder mit „teilweise existentiellen
Leistungsausschlüssen im Krankheitsfall
konfrontiert“, denn „mehr als 80 Prozent
der Tarif­systeme der PKV leisten weniger
als die gesetzliche Krankenversicherung“ (DER SPIEGEL 2012). Und unsere
Befragung hat eine weitere Facette des
Be­griffs Zwei-Klassen-Medizin verdeutlicht: danach musste knapp die Hälfte
der Privatpatienten nur aufgrund ihres
­Versichertenstatus schon einmal dia­
gnostische oder therapeutische ­Verfahren
über sich ergehen lassen, ohne dass dies
ihrer Meinung nach ­medizinisch not­
wendig gewesen wäre.
Welche gesundheitspolitische Bedeutung
haben diese Befunde? Wenn das Image
der Ärzte dadurch leidet, hat dies natürlich eine Bedeutung für das gesamte
Versorgungssystem und es wäre Aufgabe
aller hier involvierten Verbände und
Experten aufseiten der Politik und der
Versorgung, nach Ursachen und Verände-
rungsmöglichkeiten zu suchen. Zunächst
einmal wären jedoch die Interessen­
verbände der Ärzteschaft selbst gefragt.
Besteht hier in ausreichendem Maße
­Problembewusstsein?
Zum Teil ist dies durchaus der Fall. So
mahnte Andreas Köhler, Vorstands­
vorsitzender der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung (KBV), die niedergelassenen Ärzte in einer Rede zu mehr
Zurückhaltung bei kostenpflichtigen
Behandlungen. Das hohe Vertrauen der
Patienten in die Ärzte dürfe durch das
Angebot von IGeL-Leistungen keinen
Schaden nehmen. In einer Versichertenbefragung hatte sich gezeigt, dass
„die Zahl der Versicherten zugenommen [hat], die sagen, dass sie zu wenig
Bedenkzeit gehabt hätten. Immerhin 19
Prozent ­kritisierten, dass sie zu wenig
Zeit gehabt hätten, über das Angebot
nachzudenken. Es wäre fatal, wenn
das ­nachgewiesene hohe Vertrauen der
­Patienten in die Ärzte hierdurch Schaden
nehmen würde. Deshalb appelliere ich
an dieser Stelle auch an die Ärzte, sorgsam mit diesem Vertrauen umzugehen“
(KBV 2011).
Dieser zaghafte Appell greift jedoch viel
zu kurz. Die von Bundesärztekammer
und KBV (2009) für Patienten heraus­
gegebene Informationsbroschüre zu
IGeL-Ange­boten nennt in einer Checkliste
neun Aspekte, nach denen Patienten
entscheiden sollen, ob ein Angebot für
sie ­sinnvoll und nützlich ist. Dazu zählen Kriterien wie „Fühle ich mich von
­meinem Arzt umfassend und verständlich
auch über mögliche Risiken und Nebenwirkungen der IGeL beraten?“, „Hat mich
mein Arzt darüber informiert, wie gut die
wissenschaftlichen Belege für den ­Nutzen
der IGeL sind?“ und noch sechs weitere
Merkmale. Damit werden Entscheidungen, die im Grunde nur mit medi­
zinischem Basiswissen getroffen werden
gesundheitsmonitor
­ önnen, dem Patienten als Laien aufgek
drängt. Ohne medizinisches ­Grundwissen
wird der Patient zwar auch eine Entscheidung treffen, diese dürfte jedoch eher
abhängen vom persönlichen Vertrauen in
den Arzt, von dessen ­Über­zeugungskraft
und ­Rhetorik, und ­weniger von der sachlichen Abwägung von Risiken und Neben­
wirkungen, vom Nutzen und Grad der
Evidenz­basierung. Insofern ist eine IGeL-­
Broschüre durchaus sinnvoll, doch kann
sie keineswegs als Legiti­mation dafür
­herhalten, dass in Arztpraxen auch eine
Vielzahl medizinisch unnützer Verfahren
angeboten wird und die ­Identifizierung
sinnvoller oder aber unnötiger (wenn
nicht gar schäd­licher) Leistungen
­Patienten aufgehalst wird – mit Verweis
auf die Broschüren-Informationen.
Patienten die Entscheidung zu über­
lassen, ob eine selbst zu bezahlende
diagnostische oder therapeutische Maßnahme für sie sinnvoll und nützlich ist,
dürfte zwar auch weiterhin die Zustimmung zum IGeL-Angebot stabil halten derzeit lehnt nur jeder Vierte ein Angebot
ab. Das Ärzteimage dürfte indes weiter
in Mitleidenschaft gezogen werden. Manches Kalkül dürfte darauf hinauslaufen,
dass dieser Imageverlust weitestgehend
folgenlos bleibt, da ja kaum ein niedergelassener Arzt hier völlig abseitssteht.
Außer Acht gelassen wird allerdings, dass
zumindest mittel- und langfristig negative
Patientenurteile öffentlich ­werden. Zwar
thematisieren die meisten Portale zur
Arztbewertung im Internet diesen Aspekt
derzeit noch nicht, aber es scheint absehbar, dass die Bekanntmachung eines
forcierten IGeL-Angebots in einer Praxis
zukünftig Patienten bei der Arztsuche
negativ mitbeeinflusst.
Der Vorwurf der „Zwei-Klassen-Medizin“,
ein zweiter Aspekt, der das Ärzteimage
negativ prägt, wird von Ärzteverbänden
mit wenig geschickten Gegenargumenten
10
zu entkräften versucht. „Eine Studie der
Universität Hamburg hat gezeigt“, so eine
KBV-Pressemitteilung (KBV 2012), „dass
sich eine Zweiklassenmedizin kaum
anhand unterschiedlicher Wartezeiten
von gesetzlich und privat Versicherten
nachweisen lässt. Die Studie ist eine Versachlichung zum Thema Warte­zeiten und
zeigt, dass eine in Deutschland viel
beklagte Zweiklassenmedizin ein Mythos
ist. Es lässt sich nicht ermitteln, dass
­privat Versicherte Vorteile in der medizinischen Versorgung gegenüber gesetzlich
­Versicherten haben.“ In der besagten
Hamburger Studie ist eher Gegen­teiliges
zu lesen. Dort (Roll, ­Stargardt und
­Schreyögg 2011) heißt es: „Die Studie
ergab: Auf einen Termin beim Facharzt
warten gesetzlich Versicherte neun Tage
länger als Privatpatienten. […] Sitzen die
Patienten erst mal im Wartezimmer des
Hausarztes, so warten ­gesetzlich Ver­
sicherte zehn Minuten ­länger als Privat­
patienten, bis sie aufgerufen ­werden“
(Universität Hamburg 2012: 8). Unmiss­
verständlich hinge­wiesen wird in der
­Studie darüber hinaus darauf, dass sie
aufgrund der verwendeten Daten gar
nicht als Beleg für oder gegen eine
unterschied­liche Behand­lungs­­qualität von
­Kassen- und Privat­patienten geeignet ist.
Bei IGeL-Angeboten wird zu mehr ärzt­
licher Sorgsamkeit geraten, die Ungleichbehandlung von ­Kassen- und Privatpatienten wird schlicht dementiert und mit
­Studien be­legt, die eher Gegenteiliges
­zeigen. Von Seite der ärztlichen Interessenvertreter, so wird deutlich, sind in
absehbarer Zeit kaum Initiativen zu
erwarten, die eine nach­haltige Veränderung des Status quo bewirken könnten.
Das Ärzteimage wird weiter leiden. Das ist
umso bedauerlicher, als unsere ­Analyse
gezeigt hat, dass dieses Image sehr stark
beeinflussbar ist durch ärzt­liches Verhalten und Versorgungserfahrungen der
­Patienten in der Sprechstunde.
Literatur
n Braun,
B., Marstedt, G.: System­
vertrauen im Gesundheitssystem,
in: J. Böcken, B. Braun, J. Landmann
(Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2010,
Gütersloh 2010, S. 251-288
n Bundesärztekammer und KBV: Selbst
zahlen? Individuelle Gesundheits-­
Leistungen (IGeL) – ein Ratgeber
für Patientinnen und Patienten,
Hrsg.: Bundesärztekammer und
Kassen­ärzt­liche Bundesvereinigung
in Zusammenarbeit mit dem Deutschen
Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.,
Berlin 2009
n DER SPIEGEL: „Der Tarif-Schwindel“,
Nr. 24, 11.6.2012, S. 58-63
n Donsbach, W.: Das Ärzte-Image in der
Bevölkerung – und Folgerungen für
die Kommunikation des Berufs, in:
­Ärzteblatt Sachsen Heft 5 (2003),
S. 174-179
n Heier, M.: Risiko Privatpatient, in:
Capital, 19/2007, S. 20-30
n Himmel, K., Kifmann, M., Nuscheler,
R.: „Wir haben in diesem Quartal leider
keinen Termin mehr frei…“, in:
J. Böcken, B. Braun, U. Repschläger
(Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2011,
Gütersloh 2011, S. 13-31
n Institut für Demoskopie Allensbach:
Die Allensbacher Berufsprestige-Skala
2011, Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage
10067, Februar 2011,
http://www.ifd-allensbach.de/uploads/
tx_reportsndocs/prd_1102.pdf
n KBV Reden und Statements, 2011,
Vorstellung der KBV-Versicherten­
befragung 2011, Statement des
KBV-Vorstandsvorsitzenden
Dr. Andreas Köhler, www.kbv.de/
publikationen/40295.html
n KBV Pressemitteilungen 2012, Köhler:
Zweiklassenmedizin ist ein Mythos;
www.kbv.de/40816.html
n Marstedt, G.: GKV-Reformen im Urteil
der Versicherten: Erst einmal System-
Ein Newsletter der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
11
defizite beheben, in: Gesundheits­
monitor-Newsletter 3/2009
n NAV-Virchow-Bund, Verband der
­niedergelassenen Ärzte Deutschlands
e.V.: Zwei-Klassen-Medizin ist längst
Realität, Pressemeldung, 10.9.2009,
www.nav-virchowbund.de/
landesgruppen/pressemeldungen_
landesgruppen.php?show=148
n Protschka, J., Rieser, S.: Kassenärztliche Bundesvereinigung: Das IGeLn
gefällt nicht jedem, Dtsch Arztebl 2011,
108 (47): A-2519 / B-2115 / C-2087,
www.aerzteblatt.de/v4/archiv/
artikel.asp?id=114266
n Reader’s Digest Pressemitteilung:
Deutsche Feuerwehrleute halten
­Spitzenposition, Stuttgart, 5.4.2011,
www.rd-presse.de/pressemitteilungen/
european-trusted-brands/deutschefeuerwehrleute-halten-spitzenposition
n Richter S., Rehder, H., Raspe, H.:
­Individuelle Gesundheitsleistungen
und Leistungsbegrenzungen: Erfahrungen GKV-Versicherter in Arztpraxen.
Dtsch Arztebl Int 2009; 106 (26):
433-9; www.aerzteblatt.de/archiv/
65147
n Roll, K., Stargardt, T., Schreyögg, J.:
„The effect of type of insurance and
income on waiting time in outpatient
care“, in: Geneva Papers on Risk and
Insurance, Issues and Practice, 2011,
www.wiso.uni-hamburg.de/fileadmin/
bwl/gesundheitswesen/HCHE/
hche-rp-2011-03.pdf
n Süddeutsche Zeitung: Überrumpelt
im Sprechzimmer, 21.11.2011,
www.sueddeutsche.de/geld/
kostenpflichtige-behandlungen-igelueberrumpelt-im-sprechzimmer1.1195887
n Südwestdeutscher Rundfunk, Nachtcafé: Können wir den Ärzten noch
vertrauen? Sendung vom 17.9.2010,
www.swr.de/nachtcafe/-/id=200198/
nid=200198/did=6743786/kwxut2/
index.html
n Universität
Hamburg, Online-News­
letter: Wie lange warten Sie eigentlich
beim Arzt? KrankenversicherungsStudie der Universität Hamburg zu
Wartezeiten von Patienten,
www.uni-hamburg.de/newsletter, März
2012, S. 8-9
n Zok, K., Schuldzinski, W.: Private
Zusatzleistungen in der Arztpraxis –
Ergebnisse aus Patientenbefragungen.
Hrsg. Wissenschaftliches Institut der
AOK, Bonn 2005
gesundheitsmonitor
BuchTipp:
BARMER GEK Arzneimittelreport 2012
Das Standardwerk zu den aktuellen
­Entwicklungen am deutschen Arznei­
mittelmarkt beleuchtet in diesem Jahr
Unterschiede in der Versorgung von
­Männern und Frauen. Zu beobachten
sind diese Unterschiede etwa bei der
Behandlung mit Psychopharmaka oder
nach einem Herzinfarkt. Weitere Schwerpunkte des Buchs sind Probleme in
der Schmerztherapie, die Behandlung
von Patientinnen und Patienten mit
­Multipler Sklerose und die Verord­nungen
von Antibiotika und Schmerzmitteln
durch Zahnärzte.
Die Grundlage für die Auswertungen im
BARMER GEK Arzneimittelreport sind
pseudonymisierte Daten von 8,7 Mio.
Versicherten in De utschlands größter
Krankenkasse. Dabei zeigt sich: Die
Menge der für BARMER GEK-Versicherte
verordneten Arzneimittel nahm 2011
gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent
zu, während die Ausgaben weniger stark
stiegen (+ 1,2 %). Dieser Unterschied ist
Bertelsmann Stiftung
Programm Versorgung
verbessern – Patienten
informieren
Carl-Bertelsmann-Str. 256
33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
www.gesundheitsmonitor.de
sicherlich darauf zurückzuführen, dass
bei den großen „Volkskrankheiten“ wie
Bluthochdruck, Diabetes und Asthma
mehr und mehr Generika verordnet
­werden, also preisgünstige Präparate mit
gleichem Wirkstoff.
Dennoch werden nach wie vor in
­auffälligem Umfang relativ teure patent­
geschützte Arzneimittel verschrieben,
die keinen Zusatznutzen gegenüber
bewährten Generika haben. Bei der
­BARMER GEK entfallen auf Mittel
dieser Gruppe immerhin 21 Prozent
der Ausgaben. Hier gibt es Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Qualitätsverlust.
Jenseits der Hinweise auf solche Einsparpotenziale gibt der BARMER GEK
Arzneimittelreport 2012 aber vor allem
konkrete Hinweise für eine bessere
­Versorgung der Patienten.
Barmer GEK
Lichtscheider Str. 89-95
42285 Wuppertal
www.barmer-gek.de
Gerd Glaeske, Christel Schicktanz
BARMER GEK Arzneimittelreport 2012
Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse
Band 14 · 14,90 € · ISBN 978-3-943-74479-8
E-Mail: Versorgungsforschung@barmer-gek.de
Redaktion
Andrea Engelhardt,
Nicole Osterkamp
Autoren
Dr. Gerd Marstedt
(Gesundheitswissenschaftler,
bis 2011 Universität Bremen),
Dr. Magnus Heier
(Arzt und Journalist)
Kontakt
Heike Clostermeyer
Tel.: (05241) 81-8 13 81
Fax: (05241) 81-68 13 81
heike.clostermeyer@bertelsmann-stiftung.de