Einführung in das epische Theater mit handlungs - ex
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Einführung in das epische Theater mit handlungs - ex
STUDIENSEMINAR FÜR DAS LEHRAMT FÜR DIE SEKUNDARSTUFE II - NEUSS - Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe II Referendarin: Iris Schmeink Thema: Einführung in die Theorie des epischen Theaters nach Brecht mit Hilfe produktions- und handlungsorientierter Methoden Ausbildungsjahr: 1998-2000 Schulformschwerpunkt: Gymnasium Fach: Deutsch Fachleiter: Herr Hillen, StD Kurs: GK 11 D9 Fachlehrerin: Frau Link, StR’ i. K. Schule: Schule Marienberg - Erzbischöfliches Gymnasium für Mädchen 1Einleitung.........................................................................................................................3 2Didaktische Vorüberlegungen......................................................................................... 4 2.1Überlegungen zur Lerngruppe...................................................................................... 4 2.1.1Beschreibung des Kurses........................................................................................... 4 2.1.2Äußere Rahmenbedingungen.....................................................................................5 2.1.3Lernvoraussetzungen in Bezug auf das Thema......................................................... 5 2.2Überlegungen zur Sache............................................................................................... 7 2.2.1Brechts Theorie des epischen Theaters......................................................................7 2.2.2Zum Drama Der gute Mensch von Sezuan..............................................................12 2.3Legitimation des Themas............................................................................................14 2.4Didaktische Schwerpunktsetzung - Überblick über die Gesamtreihe........................ 16 2.5Grundsätzliche methodische Vorüberlegungen.......................................................... 19 3 Planung, Darstellung und Reflexion der Einzelstunden der Sequenz.......................... 23 3.1Die erste und zweite Stunde (3. und 4. Stunde der Gesamtreihe).............................. 23 3.1.1Planung der Unterrichtsstunde.................................................................................23 3.1.2Durchführung und begleitende Reflexion der Doppelstunde.................................. 30 3.2Die dritte Stunde (5. Stunde der Gesamtreihe)...........................................................38 3.2.1Planung der Unterrichtsstunde.................................................................................38 3.2.2Durchführung und begleitende Reflexion der Unterrichtsstunde............................ 44 3.3Die vierte und fünfte Stunde (12. und 13. Stunde der Gesamtreihe)..........................48 3.3.1Planung der Unterrichtsstunde.................................................................................48 3.3.2Durchführung und begleitende Reflexion der Doppelstunde.................................. 53 3.4Die sechste Stunde (16. Stunde der Gesamtreihe)......................................................57 3.4.1Planung der Unterrichtsstunde.................................................................................57 3.4.2Durchführung und begleitende Reflexion der Unterrichtsstunde............................ 59 4Abschlussreflexion........................................................................................................ 63 4.1Handlungs- und Produktonsorientierung versus Analyse?.........................................63 4.2Zum Einsatz des szenischen Spiels............................................................................ 66 4.3Zum Aufbau der Reihe............................................................................................... 67 5Literaturverzeichnis....................................................................................................... 69 5.1Primärliteratur.............................................................................................................69 5.2Sekundärliteratur........................................................................................................ 69 5.3Didaktische Literatur und Schulbücher...................................................................... 70 6 Anhang........................................................................................................................ ...I 2 1 Einleitung In dieser Arbeit wird eine sechsstündige Sequenz vorgestellt, in der mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden in die Theorie des epischen Theaters nach Brecht eingeführt wird. Diese Sequenz ist Teil einer Unterrichtsreihe zum Drama Der gute Mensch von Sezuan von Bertolt Brecht. Aus der Themenstellung ergibt sich folgende Vorgehensweise: Im ersten Teil dieser Arbeit, den didaktischen Vorüberlegungen, wird ausgehend von Überlegungen zur Lerngruppe und zur Sache, die Gesamtplanung der Reihe vorgestellt mit der entsprechenden didaktischen sowie methodischen Schwerpunktsetzung. Hier entfalte ich mein Verständnis von Handlungs- und Produktionsorientierung. Bei den Überlegungen zur Reihenplanung wird deutlich werden, dass die dargestellte Sequenz, die dritte von insgesamt vier Teilsequenzen, nicht an einem Stück unterrichtet werden kann, sondern mit der zweiten verschränkt werden muss. Im zweiten Teil werde ich die Einzelstunden der Sequenz in der Planung ausführlich darstellen und nach jeder Einzel- bzw. Doppelstunde deren tatsächlichen Verlauf darstellen und begleitend reflektieren. Ich habe mich für die Verschränkung von Planung, Darstellung und Reflexion entschieden, da ich dies für übersichtlicher und damit besser darstell- und lesbar halte. Dadurch können große Teile der nötigen Reflexion bereits vorweggenommen werden, so dass ich mich im dritten Teil, der Abschlussreflexion, auf wesentliche Aspekte beschränken kann. Hier wird v.a. noch einmal das Verhältnis von handlungs- bzw. produktionsorientierten Methoden und analytischen Verfahren näher beleuchtet werden 3 2 Didaktische Vorüberlegungen 2.1 Überlegungen zur Lerngruppe 2.1.1 Beschreibung des Kurses Der Deutsch-Grundkurs (11 GK 9) am katholischen Mädchengymnasium Marienberg besteht aus 21 Schülerinnen. Ich unterrichte den Kurs seit Beginn des zweiten Schulhalbjahres 1998/99 mit Ausnahme von vier Stunden, die die Kurslehrerin übernommen hat. Der Kurs ist erst zu diesem Halbjahr eingerichtet worden, so dass sich die Schülerinnen nur zum Teil kannten. Deshalb habe ich in der ersten Stunde des Halbjahres zusammen mit der Lehrerin eine ausführliche Kennenlernrunde durchgeführt, in der sich die Schülerinnen auf der Grundlage von Partnerinterviews gegenseitig vorgestellt haben. Hierbei wurden sowohl persönliche Interessen als auch Erfahrungen mit dem und Wünsche an das Fach Deutsch ausgetauscht. Schon in dieser Kennenlernrunde wurde deutlich, dass die Schülerinnen auf eine offene Gesprächsatmosphäre Wert legen und selbst dafür Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Insgesamt erwies sich der Kurs als ausgesprochen leistungsbereit und -fähig. Der Großteil der Schülerinnen ist konstant am Unterrichtsgeschehen beteiligt. Nur eine Schülerinnen verbirgt ihr offensichtliches Desinteresse am Deutschunterricht mehr oder minder geschickt. Zwei weitere Schülerinnen sind im Unterrichtsgespräch sehr still, beide sind jedoch keine deutschen Muttersprachlerinnen und haben oftmals Schwierigkeiten, einem regen Gespräch zu folgen. Ich achte jedoch darauf, sie über vorbereitete Aufgaben bzw. Stillarbeitsphasen zu aktivieren. Beide zeigten sich im Übrigen sehr engagiert bei der szenischen Erarbeitung von Sequenzen aus dem im vergangenen Quartal besprochenen Drama „Nathan der Weise“. Gerade bei der pantomimischen Umsetzung der Schlussszene nutzten sie die Gelegenheit, auf diese nonverbale Art ihre Leistungsbereitschaft und -fähigkeit zu zeigen. Zwei stillere und z.T. lustlose Schülerinnen konnten durch persönliche Einzelgespräche zu mehr Mitarbeit motiviert werden. Insgesamt ergänzen sich die Schülerinnen sehr gut dadurch, dass sie - typisch für einen Grundkurs mit unterschiedlichen außerfachlichen Interessen und Wissensvoraussetzungen die Arbeit bereichern konnten. So erwies es sich bei der Arbeit am „Nathan“ als hilfreich, dass eine historisch interessierte Schülerin ihr - offensichtlich z. T. privat erworbenes - Wissen über die Kreuzzüge an passenden Stellen einbrachte, so dass auf ein Referat zum Thema verzichtet werden konnte. Zwei der Schülerinnen sind sogenannte „Springerinnen“, die zu Beginn des Halbjahres von der 10.2 direkt in die 11.2 versetzt worden sind. Sie erhalten seit Mitte des ersten Schulhalbjahres einen Ergänzungsunterricht, um mit ihnen evtl. fehlenden Stoff nachzuarbeiten. Die beiden Schülerinnen gehören jedoch schon jetzt zur Spitze des Kurses, 4 was im Laufe der Zusammenarbeit bei einigen Schülerinnen zu Unmut führte, weil sie fürchteten, dass die beiden durch den Ergänzungsunterricht im Vorteil sind. Hier ist eine besondere Sensibilität der Lehrperson v.a. im Unterrichtsgespräch nötig; es ist darauf zu achten, dass diese beiden Schülerinnen zwar angemessen gefördert werden, jedoch die anderen dadurch nicht zu kurz kommen. 2.1.2 Äußere Rahmenbedingungen Der Unterricht des Grundkurses findet mittwochs in der 7. Stunde und freitags in der ersten und zweiten Stunde statt. Es ist grundsätzlich sinnvoll, die Inhalte der Unterrichtsreihe die mit handlungs- bzw. produktionsorientierten Methoden erarbeitet werden, in die Doppelstunden zu verlegen, weil diese Methoden zum einen einen höheren Zeitaufwand erfordern und es zum anderen wünschenswert ist, handlungs- bzw. produktionsorientiert Erarbeitetes mit möglichst geringem zeitlichen Abstand vorzustellen und auszuwerten. Die Einzelstunden eignen sich demgegenüber zur analytischen Auswertung des Erarbeiteten bzw. zu stärker analytisch orientierten Stofferarbeitung, etwa einer Textanalyse. Dabei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass die Einzelstunde in der 7. Stunde liegt und die Motivation bzw. Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit nicht mehr so hoch ist wie zu früheren Tageszeiten. Allerdings zeigten sich die Schülerinnen in der vorausgegangenen Unterrichtsreihe auch in der 7. Stunde erstaunlich leistungsfähig. Der zugewiesene Unterrichtsraum ist leider sehr klein, wodurch Gruppenarbeit und Rollenspiele extrem erschwert werden. Allerdings befinden sich im Treppenhaus der Schule einige Sitzecken mit Sofas und Sesseln, die von den Schülerinnen für die Gruppenarbeiten gerne genutzt werden. Dadurch wird zwar für die Lehrperson die Begleitung der Gruppenarbeit erschwert, sie bleibt aber möglich. 2.1.3 Lernvoraussetzungen in Bezug auf das Thema Im vorigen Quartal habe ich mit den Schülerinnen bereits ein Drama bearbeitet, Nathan der Weise von G. E. Lessing. In diesem Zusammenhang haben die Schülerinnen sich auch mit dramentheoretischen Fragen auseinandergesetzt, v. a. mit Lessings AristotelesRezeption sowie mit den Regeln der normativen Poetik (drei Einheiten, Schicklichkeitsregel, Ständeklausel, Postulat der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten) wie sie v. a. im Humanismus entstanden sind. Außerdem wurde anhand einer Untersuchung des Aufbaus des gelesenen Dramas das Fünf-Akt-Schema nach Freytag erarbeitet. Außerdem wurden im Rahmen der interpretatorischen Arbeit gattungstypische Strukturelemente wie Dialog, Monolog, Figurenkonstellation und Zuschauerrolle erarbeitet. Die Schülerinnen sind also mit grundlegenden Inhalten der Theorie des Dramas der geschlossenen Form vertraut, aufgrund derer sie das Neue an der Brechtschen Konzeption ohne größere Schwierigkeiten nachvollziehen können. 5 Die Schülerinnen sind v. a. analytischen Unterricht gewohnt und verfügen über wenig Erfahrung mit produktions- und handlungsorientierten Methoden. Dennoch zeigten sie sich sehr offen auch für ihnen neue Unterrichtsmethoden. So haben sie sich größtenteils sehr engagiert auf szenische Interpretationsverfahren eingelassen. Zu diesem Zeitpunkt war auch für mich die Methode neu, was ich den Schülerinnen nicht verschwiegen habe, um deutlich zu machen, dass wir gemeinsam mit dieser Methode zu einem besseren Textverständnis zu kommen versuchen. Die Schülerinnen zeigten sich sehr interessiert an dem Verfahren und haben von sich aus Alternativvorschläge gemacht und sich zum Ertrag der Methode geäußert. Die meisten Schülerinnen bewerteten dieses Verfahren als „schwierig“, aber sinnvoll, „weil man sich vieles besser vorstellen kann“, indem man sich in die Personen einfühlt, durch Stellproben Beziehungsgefüge erarbeitet usw. Allerdings ist es einigen Schülerinnen auch schwer gefallen, bei der Präsentation den Ernst zu wahren. Es war ihnen offensichtlich peinlich, sich auf diese Weise vor den anderen zu präsentieren, obwohl angesichts der guten Atmosphäre im Kurs eigentlich kein Auslachen befürchtet werden muss. Dennoch ziehe ich eine insgesamt positive Bilanz aus der Anwendung dieser Verfahren in diesem Kurs, was mich ermutigt, auch für die hier dokumentierte Unterrichtssequenz damit zu arbeiten. Allerdings legen die Schülerinnen auch Wert auf analytische Verfahren, nicht zuletzt weil sie z. T. selbst wissen, dass sie sich zwar mündlich gut bis sehr gut äußern können, sich mit ausführlichen schriftlichen Analysen teilweise recht schwer tun, weil sie arbeitstechnische Probleme haben, z. B. beim Entwickeln und Belegen einer Deutungshypothese bei der schriftlichen Szeneninterpretation. Nicht wenigen fiel es hierbei schwer, die im Unterricht gesammelten Stichpunkte zu einem flüssigen Text zu verarbeiten und ihre Deutungen am Drama zu belegen. Deshalb ist dabei darauf zu achten, dass neben den handlungs- und produktionsorientierten Verfahren auch analytische nicht zu kurz kommen. 6 2.2 Überlegungen zur Sache Die hier dokumentierte Sequenz ist Teil einer größeren Unterrichtsreihe zum Thema: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß. Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß1 - Die dramaturgische Konzeption Brechts und ihre Realisierung am Beispiel des Dramas Der gute Mensch von Sezuan“. Über die hier dokumentierte Sequenz hinaus soll es also nicht nur um Fragen der Dramentheorie gehen, sondern auch - ausgehend von einer detaillierten Interpretation ausgewählter Szenen des Dramas - um deren Umsetzung. 2.2.1 Brechts Theorie des epischen Theaters Mit seiner Auffassung des Theaters als Lehrtheater steht Brecht zunächst in guter aufklärerischer Tradition, allerdings mit ganz anderen Prämissen und Intentionen. Hatte Lessing die Aufgabe der Tragödie etwa in der Erweiterung der „Fähigkeit, Mitleid zu fühlen“2 gesehen, so ging er davon aus, dass der Zuschauer durch die kathartische Wirkung des Fühlens von Furcht und Mitleid als besserer Mensch das Theater verlässt („der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“3), wobei die Katharsis in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten bestehe. Lessings erzieherisches Ziel des allseits gebildeten Bürgers suchte Gefühl und Ratio zu verbinden. Durch das Mitfühlen mit dem Helden auf der Bühne und der Wendung dieses Mitfühlens auf sich selbst im Sinne eines Transfers auf die eigene Situation wird der einzelne Mensch geläutert. V. a. diese Einfühlung ist es, die Brecht als „Grundpfeiler“ der von Aristoteles bestimmten „herrschenden Ästhetik“4 ablehnt, weil sie dem modernen wissenschaftlichen Zeitalter nicht mehr angemessen sei. Statt sich mit dem Bühnenhelden zu identifizieren, soll der Zuschauer die distanzierte Beobachtungshaltung des forschenden Wissenschaftlers einnehmen. Dementsprechend kritisiert Brecht das Theater etwa eines Max Reinhardt, der alle theatralischen Mittel - neben Schauspielkunst auch die durch technischen Fortschritt erweiterten Möglichkeiten bei Bühnenbild, Geräusch- und Lichteffekten - zum Einsatz brachte, um die Zuschauer in den Bann zu ziehen.5 Brechts „Erziehungsziel“ ist der kritisch-intelligente Zuschauer, der nie vergisst, dass er im Theater sitzt und das Geschehen auf dem Theater vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation reflektieren kann. Hintergrund für Brechts neue Theaterauffassung ist seine Auseinandersetzung mit dem Marxismus, die sich in seinen Dramen erstmals in den Lehrstücken niederschlägt. Etwa ab 1926 zieht sich die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten eines von Freundlichkeit und Solidarität getragenen menschlichen Zusammenlebens durch das Brecht1 Brecht, B: Der gute Mensch von Sezuan, S. 144. Lessing, G.E.: Brief vom Nov. 1759 an Friedrich Nicolai, S. 78 3 Ebd. 4 Brecht: Das epische Theater, GW 15, 289. 5 Vgl. Brech, U, S. 61. 2 7 sche Werk. Nun ist sein Adressat nicht mehr primär das bürgerliche Publikum, sondern das revolutionäre Proletariat.6 Insbesondere die Lehrstücke haben immer wieder die Erkenntnis der Veränderbarkeit der Zustände zur Intention, hier allerdings nicht über das Zuschauen, sondern das eigene Spiel. Leitmotiv der in der Folgezeit entstandenen Stücke ist die These, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Härte fordern und der Gute unter diesen Bedingungen nichts zu erreichen, ja nicht einmal zu überleben vermag: Johanna Dark (Die heilige Johanna der Schlachthöfe) scheitert mit ihren Vermittlungsversuchen zwischen Arbeitern und Chicagos ‘Fleischkönigen’, Shen Tes Güte ist auf die Verwandlung in den ausbeuterischen Vetter Shui Ta angewiesen (Der gute Mensch von Sezuan), die stumme Kattrin (Mutter Courage und ihre Kinder) muss die Rettung des Dorfes mit ihrem Leben bezahlen. Brecht legt Wert darauf, dass die in seinen Stücken dargestellten gesellschaftlichen Zustände nicht als unveränderlich präsentiert werden, sondern im Sinne des historischen Materialismus als historisch bedingt und damit veränderbar. „Der Gedanke der Veränderung bestimmt nun die gesamte Theaterarbeit Brechts: Veränderung des Theaters, Veränderung des Publikums, Demonstration einer sich verändernden Welt auf der Bühne und nicht zuletzt Anstöße geben zur Veränderung der Gesellschaft - das alles wollte der Stückeschreiber.“7 Das von Brecht abgelehnte Einfühlungstheater war ihm hierfür nicht geeignet. „Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. - So bin ich - Das ist nur natürlich - Das wird immer so sein.“8 Die Identifikation mit dem Bühnengeschehen, die Illusion, auf der Bühne ein reales Geschehen zu sehen, mache den Zuschauer passiv. Er finde sich mit der dargestellten Tragik ab und werde nicht zum Nachdenken oder gar erst aktiven Verändern der Verhältnisse motiviert. Brechts Theorie des epischen Theaters zielt auf einen Theaterstil, der durch veränderte Mittel der Schauspielkunst, Inszenierung und Textgestaltung eine andere Beziehung zwischen Publikum und Bühne hervorbringt, die die aktive Teilnahme des Zuschauers am Bühnengeschehen und das Ziehen handlungsrelevanter Konsequenzen anregt. Indem der Zuschauer nicht in eine Handlung hineinversetzt, sondern ihr gegenübergesetzt wird9, macht Brecht ihm zum distanzierten Betrachter, der sich der Inszeniertheit des Bühnengeschehens stets bewusst bleibt. Wichtigstes Element sind hier die verschiedenen Mittel der Verfremdung die von Brecht so genannten V-Effekte, durch die dem Zuschauer die vertraute Wirklichkeit auffällig gemacht werden soll: „Das ‘Natürliche’ mußte das Moment des Auffälligen bekommen. Nur so konnten die Gesetze von Ursache und Wirkung zu Tage tre6 Vgl. Volckmann 441. Volckmann 442. 8 Brecht: Das epische Theater. GW 15, 265. 9 Vgl. Brechts Gegenüberstellung der dramatischen und der epischen Form des Theaters in den Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, GW 17, 1009. Der vereinfachenden Gegenüberstellung verdankt der Text seine Berücksichtigung in zahlreichen Lehrbüchern für die gymnasiale Oberstufe. Vgl. Biermann/Schurf, 131; Pelster/Krebs 126; Fritzsche (1995) 143; Mettenleiter/Knöbl 366f. 7 8 ten. Das Handeln der Menschen mußte zugleich so sein und mußte zugleich anders sein können.“10 Die V-Effekte sind zunächst als konkrete Anweisungen zur Inszenierung und Schauspielkunst zu verstehen: Der Schauspieler soll seine Rolle nicht so spielen, dass er sich vollkommen in die dargestellte Figur verwandelt, sondern beim Spiel immer deutlich machen, dass er spielt. Er zitiert seine Rolle, indem er seinen Körper entsprechend, durch Mimik und Gestik unterstützt, zeigt bzw. vorführt. Das verlangt nach Brecht jedoch nicht weniger Schauspielkunst, sondern mehr: Der Schauspieler muss zugleich die Figur verkörpern und sich neben sie stellen, auf sie zeigen.11 Dadurch wird der Zuschauer stets zur Distanzierung und Kritik angehalten. Ähnliches wird durch die Überführung der Figurenrede von der ersten in die dritte Person erreicht und das Überführen der Handlung in die Vergangenheit, wie etwa im achten Bild in Der gute Mensch von Sezuan: Dadurch dass die zu vergegenwärtigende Handlung im Spielverlauf als vergangene dargestellt wird, soll dem Zuschauer diese als eine von möglichen Alternativen, d. h. veränderbar vorgeführt werden. Des weiteren forderte Brecht die strikte Trennung der inszenatorischen Mittel, so dass sich z. B. Text und Musik nicht ergänzen dürfen, sondern konträre Wirkung anstreben sollen. So sind die Songs auch nicht organisch bzw. die Handlung untermalend ins Drama eingewoben, sondern sind wie Musik und Bühnenbild als „Ausstellung selbständiger Künste“12 zu betrachten. Bei den Liedeinlagen soll der Wechsel vom Dramatischen ins Lyrische nicht überspielt, sondern gerade bewusst verdeutlicht werden, damit erkennbar wird, dass im Lied die gerade präsentierte Handlung kommentiert wird. Auch im Bühnenaufbau muss die veränderte Beziehung zwischen Bühne und Publikum Konsequenzen haben: Brecht ersetzte den schweren Samtvorhang („vierte Wand“) durch eine „halbhohe, leicht flatternde Gardine“. Dadurch wird einerseits der Überraschungseffekt etwa in Umbaupausen gewahrt, weil der Vorhang nicht völlig wegfällt; andererseits - und das ist das Wichtige - wird die strikte Trennung von Bühne und Publikum aufgehoben. Der Zuschauer ist nicht der Voyeur, der ab und zu durch die „vierte Wand“ des Bühnenraums sehen darf, sondern das, was die Bühne zeigt, wird ausgestellt und zur Beurteilung an bewusst Sehende übergeben.13 V-Effekte sind jedoch auch und v. a. Mittel in der Gestaltung der Stücke selbst: Die Bühne erzählt, d. h. sie benutzt epische Darstellungsweisen, durch die der zielstrebige Verlauf der Handlung immer wieder unterbrochen werden kann: Am augenfälligsten sind hier die vielfachen, direkt zum Publikum gesprochenen Textteile und die Songs, in denen sich eine Figur vorstellt, das Bühnengeschehen zusammenfasst und reflektiert oder zum eigenen Handeln Stellung nimmt. Dies kann von einem nicht zur Handlung 10 Brecht: Das epische Theater. GW 15, 265. Vgl. Brecht, Neue Technik der Schauspielkunst, GW 15,343. 12 Brecht, B.: Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, GW 17, 1012. 13 Vgl. Knopf (1980), 392. Vgl. auch Brecht: Neue Technik der Schauspielkunst. GW 16, 759 11 9 gehörenden Erzähler übernommen werden, meistens sind es jedoch die Figuren selbst, die aus dem Spiel heraustreten und sich ans Publikum wenden. Dieser Perspektivenwechsel fordert auch die Zuschauer auf, selbst eine beobachtende, reflektierende Perspektive einzunehmen. Ein weiteres Mittel sind die Vor- und Rückblenden, ein im Roman unproblematisches Verfahren, das erst im Film auch szenisch umgesetzt werden konnte und von Brecht nun auch für das Theater angewendet wurde. Auch hierbei ist es nötig, dass eine Spielfigur für das Publikum die Zeitebenen auseinander hält. Besonders deutlich wird dieses Verfahren im 8. Bild von Der gute Mensch von Sezuan, wenn Frau Yang aus ihrer Perspektive den Aufstieg ihres Sohnes Sun schildert: In ihrer Schilderung allerdings kommt Sun auffällig besser weg als im szenisch Dargestellten, wodurch die Perspektivität von Frau Yangs Wahrnehmung deutlich wird, um damit dem Zuschauer erneut die Möglichkeit zur eigenen Beurteilung des Geschehens zu geben. Verfremdend wirkt auch die Montage von Sprichwörtern, Redensarten, Bibel- und Literaturzitaten. Mitten aus der Rolle heraus gesprochen, unterscheiden sie sich stilistisch überdeutlich vom Sprachgestus der dargestellten Figur, so dass sie auffällig werden und der Zuschauer eher auf deren Inhalt achtet. Das wohl wichtigste Stilelement in Der gute Mensch von Sezuan wie auch in Herr Puntila und sein Knecht Matti ist die Aufspaltung einer Bühnenperson in zwei konträre Verhaltensweisen. Näheres hierzu in den fachlichen Überlegungen zum Drama selbst. Folge einer solchen Theatertheorie ist eine gewisse Konstruiertheit der Dramen. Die gesellschaftspolitische Zielsetzung wird so überdeutlich. Der Verzicht auf jegliche Illusion kann - so die z. T. von Brecht bereits vorhergesehene Kritik - den ästhetischen Genuss schmälern. Brecht ging jedoch davon aus, dass seine Zuschauer - auch wenn sie auf den ästhetischen Genuss des Illusionstheaters verzichten müssen - durch die gewonnenen Erkenntnisse einen Lustgewinn erzielen, den Genuss des Lernens, womit Brechts Auffassung des Genusses sich deutlich von alltagssprachlichen Füllungen des Begriffs unterscheidet. Der Genuss besteht für ihn weniger in der ästhetischen Kunsterfahrung als vielmehr in den Handlungskonsequenzen, die der Zuschauer ziehen soll. Brecht geht es darum, „die Produktivität zur Hauptquelle der Unterhaltung zu machen“14. Dennoch fordert diese Konzeption eine entsprechende Genussfähigkeit, intellektuelle Fähigkeiten nämlich. Die geforderte Distanzierung und Reflexion setzt eine andere Rezeptionshaltung voraus, die den Erwartungen des Zuschauers aufgrund seiner bisherigen Rezeptionserfahrungen zuwiderlaufen kann. Es ist fraglich, ob sich die von Brecht so gegeißelte Einfühlung in die Figuren überhaupt verhindern lässt und ob dies sinnvoll ist. Überdies ist Brechts Theater in der Praxis gar nicht so unaristotelisch, wie seine theoretischen Schriften - insbesondere die Gegenüberstellung der Merkmale des dramatischen 14 Brecht, B.: Kleines Organon für das Theater. GW 16, 672. Vgl. dazu auch Spinner 19: „Wenn er [Brecht, I.S.] sagt, dass das Theater belehren und Vergnügen vermitteln soll, dann meint er damit nicht, dass zwei sich eigentlich widersprechende Zielsetzungen im Sinne eines Sowohl-als-Auch miteinander zu verbinden seien; vielmehr ist für ihn das Lernen selbst genussvoll.“ 10 und des epischen Theaters in den Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“15 - glauben machen. Zwar relativiert Brecht selbst durch die Fußnote „Dieses Schema zeigt nicht absolute Gegensätze, sondern lediglich Akzentverschiebungen“16 diese Gegenüberstellung, doch ist sie in der Rezeption seiner Theorie vielfach verabsolutiert worden, worauf z. B. Walter H. Sokel in einem Aufsatz über die Brechtsche Dramentheorie hinweist, in welchem er den Versuch unternimmt, diese ausgehend von traditionellen Grundbegriffen der Dramaturgie zu erläutern.17 Diese Verabsolutierung findet sich auch in den diversen Unterrichtsmodellen zu Brechts Dramen bzw. Dramentheorie, z. B. in der Arbeitshilfe von Maria Mitschke, die zwar einerseits eine sehr differenzierte, vergleichende Erarbeitung diverser Dramentheorien anstrebt, andererseits aber in einem Vorschlag für ein Schülerarbeitsblatt die genannte Brechtsche Gegenüberstellung (ohne die relativierende Fußnote!) übernimmt und den Gegensatz der beiden Formen in der Gegenüberstellung „Appell an das Gefühl“ vs. „Appell an den Verstand“ zusammenfasst18 - eine naheliegende Vereinfachung, die einer genaueren Analyse jedoch nicht standhält. Wenn man z. B. Lessings Dramentheorie mit der Brechts vergleicht, so wird man zwar in der Tat große Gegensätze feststellen: Lessing will die Lehrwirkung des Dramas über das Gefühl, insbesondere das Mitleid, transportiert sehen, während Brecht dies konsequenterweise von seinem Menschen- und Gesellschaftsbild her ablehnen muss. Doch bedeutet dies nicht, dass Lessing die Verstandesebene bzw. Brecht die Gefühlsebene ausblendet. Hintergrund dieser Gegenüberstellung ist vielmehr das unterschiedliche Menschenbild: Während das Drama in aristotelischer Tradition, beim Individuum ansetzend, den Menschen mit seinem Charakter als handlungsauslösend und -bestimmend in den Mittelpunkt rückt, so ist der Mensch bei Brecht Kollektivwesen, dessen Handeln weniger vom Charakter als vielmehr durch gesellschaftspolitische und ökonomisch Über- und Unterordnungsstrukturen geprägt ist. Deshalb sind die Brechtschen Figuren auch keine Charaktere, sondern Typen, in die sich einzufühlen in der Tat schwierig ist. Dennoch wird die Botschaft der Brechtschen Stücke in der Rezeption nicht allein über die Verstandesebene vermittelt. Der von Brecht postulierte rational reflektierende Zuschauer ist letztlich Fiktion und dieser Tatsache trägt Brecht in der Gestaltung seiner Stücke unausgesprochen Rechnung. Der Zuschauer kommt nicht umhin, mit Shen Te mitzufühlen, auch wenn die Identifikation durch die unrealistische maskenhafte Spaltung der Figur immer wieder konterkariert wird. Und umgekehrt wird auch der Zuschauer eines Lessing-Dramas nicht bei der affektiven Ebene verharren, sondern über den Umweg über den Affekt soll er zu rational diskursivierbaren Erkenntnissen kommen. 15 GW 17, 1009 f. Ebd. 1009. 17 Als Beispiel für eine einseitige Brecht-Rezeption nennt er Helge Hulbergs Arbeit Die ästhetischen Anschauungen Bertolt Brechts. Kopenhagen 1962. Vgl. Sokel 208. 18 Mitschke (1990) 38. 16 11 2.2.2 Zum Drama Der gute Mensch von Sezuan Thema des Brechtschen Parabelstücks, unter der Mitarbeit von Ruth Berlau und Margarete Steffin zwischen 1926 und 1941 mit einigen Unterbrechungen entstanden, ist die These, dass der Mensch unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht gut sein kann, ohne selbst zugrunde zu gehen. Das Vorspiel hat insofern Expositionsfunktion: Drei Götter besuchen die Hauptstadt der Provinz Sezuan, um zu untersuchen, ob die Welt so bleiben kann, wie sie ist. Sie könne es, so der Beschluss aller Götter, „wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können“ (S. 1019). Die problematische Suche nach einer Unterkunft zeigt schon, dass der Auftrag schwierig ist; auch wenn die Götter alles tun, um das Bestehende zu legitimieren und ihren Auftrag schon erfüllt sehen, als sie in Shen Te einen guten Menschen gefunden zu haben glauben (es reichte hierfür bereits die Bereitstellung einer Unterkunft), so offenbart bereits Shen Tes Antwort, dass die Göttermission aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern muss: „Halt, Erleuchtete, ich bin gar nicht sicher, daß ich gut bin. Ich möchte es wohl sein, nur, wie soll ich meine Miete bezahlen? [...] Selbst wenn ich einige Gebote nicht halte, kann ich kaum durchkommen.“ (S. 16). Sie gesteht, dass sie ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdient und macht deutlich, dass die Verhältnisse, unter denen sie leben muss, gutes Handeln, nämlich das Einhalten der Gebote, die sich auf das menschliche Zusammenleben beziehen, verhindern, also nicht etwa schlechte Veranlagung oder Bequemlichkeit. Das Folgende dient der immer wieder neuen Amplifikation dieser Grundthese, auch wenn im Zuschauer angesichts des Geldgeschenks die trügerische Hoffnung aufkeimen mag, dass Shen Te tatsächlich gut sein kann, ohne selbst zugrunde zu gehen. Es zeigt sich aber, dass ihr das nur gelingt, wenn sie - betrogen von der Vorbesitzerin des von ihr erworbenen Tabakladens, bedrängt von den schmarotzenden Armen und dem von ihr einseitig geliebten Sun - sich regelmäßig in ihren geschäftstüchtigen, an Gesetze und Moral der Gesellschaft angepassten Vetter Shui Ta verwandelt. Ihre bedingungslose Nächstenliebe führt sie in den Ruin, der nur durch das rücksichtslose Handeln des erfundenen Vetters abgewendet werden kann. Schließlich ist sie gezwungen, vor Gericht den Göttern ihr Doppelspiel preis zu geben und fleht die Götter um Hilfe an. Scheinbar kompromissbereit erlauben sie ihr, einmal im Monat den Vetter einzusetzen, und verschwinden, bevor „der schöne Fund“ (142) dahin schwindet. Doch der Zuschauer hat inzwischen hinreichend begriffen, dass dies kein Ausweg ist. Erst wenn die Verhältnisse sich verändern, sind gutes Handeln, Menschenliebe und Freundlichkeit möglich. Dass Shen Te immer noch auf die Hilfe der Götter hofft, ist angesichts deren lächerlichen Auftretens für den Zuschauer unsinnig. Es muss ihm längst deutlich geworden sein, dass die Menschen selbst für eine Verbesserung der Verhältnisse sorgen müssen, und hat er es nicht begriffen, so hilft ihm der Epilog auf die Sprünge: „Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:/Sie selber däch19 Zitate aus dem Drama Der gute Mensch von Sezuan beziehen sich auf die Suhrkamp-Taschenbuchausgabe. 12 ten auf der Stelle nach/Auf welche Weis dem guten Menschen man/Zu einem guten Ende helfen kann“ (144). Insofern wird der Auftrag der Götter wie ein wissenschaftliches Experiment vorgestellt: Wenn sich die im Auftrag formulierten Bedingungen erfüllen lassen, nämlich erstens genügend gute Menschen zu finden, die zweitens menschenwürdig leben können, so muss sich auch in der Welt nichts verändern. Dass das Experiment scheitern muss, wird schon daran deutlich, dass die Götter es gleich zu Beginn durch die Geldgabe zu manipulieren suchen und darüber hinaus auch später noch die genannten Bedingungen reduzieren: Im Zwischenspiel nach dem 6. Bild reicht ihnen das Gut-Sein an sich, vom zweiten Teil der Bedingung - dem menschenwürdigen Leben - ist nicht mehr die Rede. Die Spaltung Shen Te/Shui Ta ist hier nicht psychologisch als pathologische Persönlichkeitsspaltung oder den Kampf zweier Seelen in einer Brust zu verstehen, sondern wird parabolisch als Produkt der herrschenden Verhältnisse geschildert: im gespaltenen Menschen des Stückes zeigt Brecht „die reale Spaltung des bürgerlichen [...] Menschen in eine private (moralische) und eine öffentliche (geschäftliche) Hälfte [...], dass rechtschaffenes und würdiges Leben in dieser Welt nur durch rigorose Geschäfte möglich ist, [...] er ist [...] das sichtbar gemachte Bild des objektiven Widerspruchs der Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Welt, er ist ein Bild der Entfremdung.“20 20 Knopf (1980) 206. 13 2.3 Legitimation des Themas Die Unterrichtsreihe orientiert sich hinsichtlich der methodischen und thematischen Konzeption an den Richtlinien für den Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe sowie am schulinternen Curriculum der Fachkonferenz Deutsch der Schule Marienberg, das für die Jahrgangsstufe 11.2 die vergleichende Analyse und Interpretation thematisch verwandter Texte sowie unterschiedlicher Dramentypen vorsieht. Auf der Basis der allgemeinen Lernziele der gymnasialen Oberstufe - wissenschaftspropädeutische Ausbildung und Hilfen zur Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung21 - sehen die Richtlinien für das Fach Deutsch, das unter den drei Aufgabenfeldern der Unterrichtsfächer des Gymnasiums zum sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeld gehört, in der Sekundarstufe II die Auseinandersetzung mit Gegenständen vor, die beschrieben werden als „durch sprachliche, akustische und visuelle Zeichen und Zeichensysteme bestimmte Gestaltungen (als Darstellung, Deutung, Kritik, Entwurf etc.), in denen Wirklichkeit als vermittelte Wirklichkeit erscheint, sowie die Verfahrens- und Erkenntnisweisen, die der Auseinandersetzung mit diesen Gestaltungen dienen“22, wobei Inhalte des Faches Deutsch gegenüber den anderen Fächern dieses Aufgabenfeldes wie Musik und Kunst vorrangig Texte, d.h. gesprochene oder schriftlich fixierte sprachlich strukturierte Gefüge sind.23 Die drei traditionellen Lernbereiche des Deutschunterrichts - mündliche und schriftliche Kommunikation, Umgang mit Texten, Reflexion über Sprache - berücksichtigend, werden diese für die Oberstufe unter den zwei Lernbereichen „I. Verstehen und Verfassen von Texten im Bereich ‘nichtfiktionale Texte’“ und „II. Verstehen und Verfassen von Texten im Bereich ‘fiktionale Texte’ subsumiert, wobei die hier dargestellte Unterrichtsreihe gemäß ihres Schwerpunkts in den Bereich II gehört, insofern die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text Ausgangspunkt der unterrichtlichen Arbeit ist, wobei allerdings zu deren Unterstützung gerade im Bereich der Einführung in die Brechtsche Dramentheorie nichtfiktionale Texte herangezogen werden. Die Auseinandersetzung mit fiktionalen Texten soll nach den Richtlinien die Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme am kulturellen Leben ihrer Zeit befähigen und sie darüber hinaus zu Sinnfragen führen und ihnen „Möglichkeiten zur Wertorientierung, der kritischen Reflexion und der Identitätsfindung eröffnen.“24 Im Umgang mit ihnen soll der Verstehenshorizont der Schülerinnen und Schüler erweitert werden, wobei sich Verstehen als Ergebnis der Konfrontation des Vorverständnisses des Lesers - im Hinblick auf den Unterricht also des Vorverständnisses der Schülerinnen und Schüler - mit der durch den Text vermittelten Welt- und Daseinsdeutung konstituiert. Für die konkrete 21 Vgl. Richtlinien 16ff. Ebd. 28. 23 Vgl. ebd. 34. 24 Ebd. 56. 22 14 Auswahl von Texten bedeutet dies, dass diese sowohl mit dem Verstehenshorizont der Schülerinnen konfrontierbar sein, als auch eine „Exemplarität und geschichtliche Relevanz“25 besitzen müssen. Diesem dreifachen Anspruch wird der ausgewählte Text Der gute Mensch von Sezuan gerecht.26 Thema des Dramas ist eine das Leben aller Menschen betreffende Fragestellung: Kann man in dieser Welt gut sein bzw. handeln und gleichzeitig menschenwürdig leben? Es geht um die Bedingungen der Möglichkeit von Humanität im konkreten Zusammenleben von Menschen. Diese Fragestellung ist nicht nur Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit diesem Text, sondern bildet gleichzeitig die thematische Klammer der Gegenstände des Halbjahres - der Humanitätsgedanke ist ja auch Thema des im letzten Unterrichtsvorhaben bearbeiteten Dramas Nathan der Weise von Lessing. Exemplarisch ist das für dieses Unterrichtsvorhaben ausgewählte Brecht-Drama insofern, als es für das Unterthema des Lernbereichs II „Einblick in die Entfaltung und Differenzierung von Textarten und literarischen Gattungen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang“27 ein hervorragender Gegenstand ist, um sowohl die gesellschaftliche und historische Bedingtheit von Literatur als auch die Entwicklungslinien vom aristotelischen zum nichtaristotelischen Drama zu behandeln. Außerdem ist das behandelte Drama selbst exemplarisch für die Struktur der dramatischen Werke Brechts. Seine geschichtliche Relevanz erhält es durch die Thematik, also die bereits genannte Frage nach Bedingungen der Möglichkeit humanen Handelns, sowie durch den spezifischen Beitrag Brechts zur Auseinandersetzung der großen Systeme Kommunismus/Sozialismus vs. Marktwirtschaft/Kapitalismus. Es stellt sich natürlich die Frage, ob 10 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten diese Thematik noch für die Schülerinnen relevant ist. Doch ist die Auseinandersetzung mit der marxistischen Gesellschaftskritik nicht obsolet geworden, sondern kann weiterhin als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Wertsystem durch dessen Kontrastierung mit einem anderen betrachtet werden. Der Text fordert also die Schülerinnen als Lesende und Betrachtende heraus, „selbst Norm- und Wertvorstellungen zu reflektieren und zu entwickeln“.28 Zur inhaltlich-interpretatorischen Auseinandersetzung mit dem Stück gehört jedoch auch dessen ästhetische Realisierung. Um diese untersuchen zu können, müssen die Schülerinnen auch Kenntnis von der ihm zugrunde liegenden dramaturgischen Theorie, also des epischen Theaters, haben. Dabei sollen sie Anliegen, Ziele und Mittel des epischen Theaters in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text und unter Hinzuziehung einschlägiger theoretischer Texte erhalten. Ohne diese Kenntnisse ist ein kritisches Verstehen der Brechtschen Dramen nicht möglich. 25 Ebd. 67. Die Richtlinien schlagen diesen Text in einem Vorschlag für eine Unterrichtsreihe in der Jahrgangsstufe 12 unter dem Thema „Humanität als gesellschaftliche Aufgabe in Brechts ‘Der gute Mensch von Sezuan’ - Struktur und Funktion eines nichtaristotelischen Dramas“ vor. Vgl. Richtlinien 128. 27 Ebd. 65. 28 Ebd. 68. 26 15 2.4 Didaktische Schwerpunktsetzung - Überblick über die Gesamtreihe Aus den Überlegungen zur Sache und zum Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen ergibt sich folgende inhaltliche Schwerpunktsetzung für die Gesamtreihe: Nach dem Aufgreifen erster Leseeindrücke und einer einführenden Arbeit am Text (Vorspiel) ist es notwendig, dass die Schülerinnen als Hilfe zu einem fundierten Textverständnis sich einen Wissenshintergrund zur Brechtschen Theatertheorie verschaffen. Ohne dieses Theoriewissen sind Missverständnisse vorprogrammiert. Die Gesamtreihe wird also folgende Schwerpunkte behandeln müssen: 1. Sequenz: Ein Experiment der Götter mit den Menschen: Ist es möglich in dieser Welt gut zu sein und gut zu leben? - Eine Einführung in die Grundfrage des Stücks 2. Sequenz: Untersuchung des Verlaufs des „Experiments“ und seine ästhetische Realisierung anhand ausgewählter Szenen 3. Sequenz: Einführung in die Theorie des epischen Theaters 4. Sequenz: Die Frage nach der Aktualität des Stücks als Modell, das zur selbständigen Suche nach einem guten Schluss auffordert. Die zweite und dritte Sequenz werden ineinander greifen müssen, da es nicht sinnvoll ist, eine sechsstündige Sequenz nur zur Theorie durchzuführen, ohne weiter inhaltlich am Text zu arbeiten. Nicht nur muss die Theatertheorie - auch analytisch - am Text nachgewiesen werden, auch muss inhaltlich an wichtigen Fragestellungen des Textes weitergearbeitet werden. In der Praxis ist also folgender Aufbau der Reihe geplant: In den ersten beiden Stunden der Reihe (es handelt sich hier um zwei Einzelstunden, da die dazwischen liegende Doppelstunde wegen des letzten Schultags der Abiturientinnen ausfällt), soll nach dem Sammeln von Leseeindrücken - die individuelle Lektüre des Stücks soll bis zum Beginn der Reihe bereits abgeschlossen sein - anhand des Vorspiels das Thema des Stückes erarbeitet werden. Dies wird erreicht über die Fragestellung, inwiefern das Vorspiel Expositionsfunktion hat. Es ist insofern expositorisch, als hier in der Selbstvorstellung Wangs die Vorgeschichte geliefert wird, der Zuschauer mit den wichtigsten Figuren bekannt gemacht und eben in die Thematik eingeführt wird. Gerade letzteres wird im Mittelpunkt dieser einführenden Kurzsequenz stehen. Die Mission der Götter besteht darin, zu überprüfen, ob die Welt so bleiben kann, wie sie ist. Sie kann es, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind, nämlich sich erstens genügend gute Menschen finden lassen, die zweitens menschenwürdig leben können. Ich werde die Schülerinnen nach dem Herausarbeiten dieser Mission mit der in der Sekundärliteratur häufig geäußerten These konfrontieren, dass mit dem Vorspiel eine Situation geschaffen wird, die einem wissen16 schaftlichen Experiment gleicht. In Partnerarbeit sollen sie dann den Verlauf des Experiments der Götter mit den Menschen bzw. mit dem Menschen Shen Te beschreiben. Auf diese Weise verschaffen sich die Schülerinnen einen guten Überblick über das Stück und es kann zugleich das Verständnis der Lektüre überprüft werden. An diese Sequenz schließen sich drei Stunden zur ersten Einführung in die Theorie des epischen Theaters an. Ich halte es nicht für sinnvoll, die Theorie erst an die inhaltliche Erarbeitung des Stückes anzuschließen, wie es in den meisten einschlägigen Unterrichtsmodellen vorgesehen ist29, da eine gründliche inhaltliche Interpretation ohne Kenntnis der Theorie des epischen Theaters und der ihr zugrunde liegenden marxistischen Auffassung Brechts nicht leistbar und auch nicht sinnvoll ist. In einer ersten Doppelstunde sollen daher zunächst einige typische Mittel des epischen Theaters über von den Schülerinnen zu leistende kurze Inszenierungen einer Alltagssituation erarbeitet werden, an die sich dann die Analyse zweier theoretischer Schriften Brechts anschließt. In der dann folgenden exemplarischen Interpretation ausgewählter Szenen (1., 2., 5., 8. und 10. Bild sowie der Zwischenspiele nach dem 3., 6. und 7. Bild) sollen dann die in der Einführung erworbenen Kenntnisse vertieft werden. Die für die exemplarische Behandlung ausgewählten Szenen sind solche, die für die Interpretation des Stückes zentral sind: So soll anhand des 1. und 2. Bildes neben der Erarbeitung der Figurenkonstellation auch in einige Grundlagen der marxistischen Theorie eingeführt werden. Das zweite und das fünfte Bild sind für die zentrale Frage nach der Spaltung des guten Menschen wichtig. Das 8. Bild wird als Musterszene des epischen Theaters eingehend im Hinblick auf die Verwendung V-Effekte untersucht werden. Die Gerichtsszene (10. Bild) muss behandelt werden, weil hier die Details der Handlung zusammengeführt werden und nicht nur Shen Te/Shui Ta hier vor Gericht stehen, sondern letztlich die Welt als solche beurteilt bzw. verurteilt wird. Die Aktualität des Stückes soll anhand der Behandlung des Epilogs diskutiert werden. Eine Diskussion über die Tragfähigkeit der Brechtschen Theorie wird die Reihe abschließen. Ich habe mich bewusst gegen eine an Schlüsselthemen orientierte Behandlung des Dramas und für eine sukzessive Bearbeitung ausgewählter Szenen entschieden. Ersteres würde zwar dem Drama eher gerecht, da jede einzelne Szene ja letztlich der immer wieder neuen Amplifikation des bereits im Vorspiel angelegten Grundthese ist, doch setzt diese Art der Bearbeitung einen guten Überblick über den Text voraus, der von Schülerinnen der Klasse 11 noch nicht erwartet werden kann, da sie in der Behandlung von 29 Die Unterrichtshilfen in der Reihe Oldenbourg Interpretationen (Schneidewind/Sowinski) z.B. sehen eine an Schlüsselthemen (z.B. „Shen Tes Programm“, „Sezuan: Modell einer schlechten Gesellschaft“, „Das Verhalten der Deklassierten und der herrschenden Klasse“) orientierte inhaltliche Erarbeitung des Stückes vor und liefern die Dramentheorie erst in der 13./14. Stunde anhand der Analyse des 8. Bildes nach. Die Unterrichshilfen von H. Kerber aus der ParkKörner-Reihe schlagen eine exemplarische Bearbeitung einzelner Bilder vor und die anschließende Behandlung der Theorie anhand einer Zusammenstellung von Textauszügen aus Brechts theatertheoretischen Schriften. Maria Mitschkes Unterrichsmodell im Rahmen der pb-Arbeitshilfen (Mitschke 1992) liefert zum Vorspiel allen zehn Bildern Unterrichtsvorschläge, spart aber die Zwischenspiele aus und behandelt die Theorie des epischen Theaters nur am Rande im Rahmen der Szeneninterpretationen. 17 Ganzschriften noch das sukzessive Erlesen gewohnt sind. Außerdem war ich an die Vorgabe der Kurslehrerin gebunden, dass die Klausur in einer Szeneninterpretation bestehen sollte. Aus dieser Gesamtreihe werde ich diejenigen Stunden ausführlich darstellen, in denen Aspekte der Theorie des epischen Theaters in besonderer Weise im Mittelpunkt stehen, mithin also die dritte Sequenz, die jedoch mit der zweiten verbunden ist, so dass ich hier keine zusammenhängende Sequenz, sondern mehrere über die Reihe verteilte Einzelbzw. Doppelstunden darstellen werde. 18 2.5 Grundsätzliche methodische Vorüberlegungen Die Didaktik der letzten zwanzig Jahre ist durch eine Hinwendung zu handelnden und produktiven Verfahren im Unterricht gekennzeichnet. Für die Literaturdidaktik heißt dies insbesondere der traditionellen Textanalyse - also dem Reden über den Text - eine produktive und praktische Arbeit mit dem Text gegenüber zu stellen. In ihrem Basisartikel in Praxis Deutsch über handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht erklären Haas, Menzel und Spinner den Doppelbegriff: Beide Bestandteile des Begriffs umfassen den „vielfältigen, durch praktisches Handeln und den aktiven Gebrauch der Sinne bestimmten Umgang mit gegebenen Texten und andererseits das produktive Erzeugen von neuen Texten bzw. Textteilen und Textvarianten.“30 Handlungsorientiert nennen dabei die „bildlich-illustrativen, musikalischen, darstellenden und spielenden Arbeitsformen“, produktionsorientiert nennen sie die „stärker das kognitive Vermögen beanspruchende Erzeugung von neuen Texten.“31 Ich werde diese begriffliche Differenzierung i.S. einer Klarheit der Begriffe in dieser Arbeit übernehmen, auch wenn es natürlich möglich ist, „Produktionsorientierung“ als Überbegriff zu verstehen, da ja auch die handlungsorientiert genannten Verfahren immer auf Produktion (das sog. Handlungsprodukt) zielen.32 Als Vorteil der handlungs- und produktionsorientierten Verfahren wird immer wieder angeführt, dass sie durch die stärkere Aktivierung der Schülerinnen und Schüler gegenüber dem Unterrichtsgespräch motivationssteigernd wirken, so dass sie engagierter bei der Sache seien, nicht zuletzt deshalb, weil sie sie zu persönlichen Deutungen veranlassen und überdies nicht nur einseitig kognitiv, sondern auch affektiv und emotional fordern und fördern. Dadurch wird das Verständnis der Gegenstände erleichtert: „Man versteht eine Sache besser, wenn man sie selbst gemacht hat“.33 Allerdings dürfen die entsprechenden Methoden nicht zum Selbstzweck werden, sondern stehen im Literaturunterricht immer im Dienste der Interpretation des Gegenstands, d.h. in der Regel des literarischen Textes.34 Bei der Behandlung eines Dramas bieten sich unter den handlungsorientierten Methoden v.a. die der szenischen Interpretation an. Dramen sind nicht primär für Lektüre, sondern 30 Vgl. auch Haas’ (1997: 39f.) Definition: „die allgemeinste und grundlegendste Bestimmung für den Begriff ‘handlungs- und produktinsorientierter Umgang mit Texten’ [...]: Texte in andere Medien, Aussageformen und Situationen hineinübersetzen, sie variieren, modifizieren, ergänzen, verändern, ihnen widersprechen, sie spielen, aktualisieren, verfremden - alles in allem sie ohne falsche Ehrfurcht, aber mit wachsender Sensibilität als etwas Gemachtes und damit auch zumindest versuchs- und probeweise Veränderbares verstehen [...], auf sie in jeder realisierbaren Form reagieren.“ 31 Haas/Menzel/Spinner 18. 32 Fritzsche (1994) argumentiert genau umgekehrt: „Der ‘handelnde Umgang mit Literatur’ [...] hat einen weiteren Begriffsumfang als ‘produktive Verfahren’ [...] oder auch ‘produktionsorientierter Literaturunterricht’ [...], weil er auch solche Tätigkeiten wie Kommentieren und Rezensieren umfaßt“ (S. 197). 33 Fritzsche (1994) 198; vgl. zum ganzen Abschnitt ebd. 197ff. 34 Vgl. etwa Waldmann (1984), 125 u.ö. sowie Fritzsche 198f. 19 für die Aufführung geschrieben.35 Dieser Aspekt sollte grundsätzlich in der unterrichtlichen Arbeit mit dem Drama eine tragende Rolle spielen. Das Thema der Arbeit „Einführung in die Theorie des epischen Theaters nach Brecht mit Hilfe produktions- und handlungsorientierter Methoden“ birgt allerdings eine große Schwierigkeit. Brechts Stücke sind überdeutlich auf ihre gesellschaftspolitische Aussage hin konzipiert. Sie enthalten keine wirklichen interpretatorischen Leerstellen, die etwa durch produktionsorientiere Arbeitsaufträge gefüllt werden könnten. Selbst die Aufforderung ans Publikum im Epilog des Stückes Der gute Mensch von Sezuan, sich selbst den Schluss zu suchen, darf nicht als Produktionsauftrag für eine Fortsetzung des Stücks verstanden werden. Was Brecht fordert, ist nicht die Fortsetzung des Kunstwerkes, sondern die analytische Reflexion des Gesehenen und das Ziehen von Konsequenzen mit entsprechendem verändernden eigenem Handeln. Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt, wer Brechts Stücke handlungsorientiert, insbesondere szenisch erarbeiten will. Gerade das Konzept der szenischen Interpretation, wie es Ingo Scheller36 entwickelt hat, verlangt von den Schülerinnen und Schülern Einfühlung in die Figuren. Zu Beginn der szenischen Interpretationsarbeit wird hierbei jedem Schüler eine Figur zugeteilt, die er bearbeiten soll, indem er eine Rollenbiografie entwirft und mittels verschiedener Arbeitsaufträge das Geschehen aus der Perspektive seiner Figur bewertet. Doch die Brechtschen Figuren sind in der Regel völlig ungeeignet für eine solche Einfühlung, die ja gerade nach der Brechtschen Theorie ausgeschlossen bzw. immer wieder durchkreuzt werden soll; sie sind reine Typen; im Sezuan-Stück lassen sich alle Figuren den Klassen Proletarier (von denen Shen Te und Sun ein gewisser Aufstieg ermöglicht wird), Kleinbürger (die jedoch alle ins Proletariat absteigen) und Kapitalisten zuordnen. Dass Scheller dennoch auch für das Sezuan-Stück ein Modellbeispiel der szenischen Interpretation entwickelt, ist ihm nur durch eine bestimmte verengende und zumindest aus der Perspektive der Autorenintention verfälschende interpretatorische Prämisse möglich. Scheller zufolge „führt das Stück den Kampf und das Scheitern einer Frau bei dem Versuch vor, ihren spezifisch weiblichen Fähigkeiten öffentlich Geltung zu verschaffen“37. Unter spezifisch weiblichen Fähigkeiten versteht er Shen Tes Nächstenliebe, Sensibilität für die Bedürfnisse der Menschen ihrer Umgebung, ihre Spontaneität, Impulsivität und Emotionalität.38 Abgesehen davon, dass es ausgesprochen problematisch ist, diese beziehungsorientierten Eigenschaften als spezifisch weibliche zu charakterisieren (es sei denn, man untersucht die gesellschaftliche Bedingtheit dieser Zuordnung, welches Scheller jedoch nicht vorsieht) läuft eine solche Interpretation der Brechtschen Intention völlig zuwider. Scheller macht auch keinen Hehl daraus, dass er die Haltung Brechts 35 Vgl. dazu z.B. Göbel 515 u.ö. Vgl. dazu Scheller (1993a) sowie ders. (1996) 37 Scheller (1993b) 85. 38 Vgl. ebd. 36 20 „verfremdet“ (sic!)39, indem er ein „gegenwärtig gesellschaftlich relevantes Problem in den Mittelpunkt [stellt], nämlich die Frage, wie Frauen in männlich definierten Berufsfeldern eine eigene Position entwickeln können.“40 So interessant und lebensbezogen diese Fragestellung auch sein mag, mit Interpretation hat dies nicht mehr viel zu tun. Eine Arbeit am Text muss sich auch immer an ihm selbst rechtfertigen lassen können. Dennoch ist es möglich, bei der Erarbeitung der Theatertheorie Brechts mit szenischen Verfahren zu arbeiten. Die Darstellungsweisen des epischen Theaters, insbesondere die Verfremdungselemente sind bei der reinen Textlektüre leicht zu übersehen; erst die szenische Darstellung macht sie in ihrer gewollten Künstlichkeit deutlich. Dies ist allerdings auch durch aufführungsbezogene Lektüre41 möglich und erfordert nicht unbedingt den Aufwand des selbständigen Inszenierens. In der hier dokumentierten Reihe geht es mir vielmehr zunächst darum zu zeigen, wie die Theorie selbst szenisch erarbeitet werden kann. Indem die Schülerinnen ausgehend von zwei Thesen zum dramatischen bzw. zum epischen Theater selbst kurze Alltagsszenen erspielen, entdecken sie die unterschiedlichen Darstellungs- und Wirkungsweisen der beiden Theaterformen im selbständigen Tun. Dieses so entdeckte Wissen bedarf freilich einer theoretischen Fundierung und wird durch analytische Textarbeit an theatertheoretischen Texten Brechts sowie am Drama selbst gesichert und vertieft. Darüber hinaus möchte ich das als Musterszene des epischen Theaters bezeichnete 8. Bild des Dramas u.a. produktionsorientiert durch einen transformierenden Schreibauftrag von den Schülerinnen erabeiten lassen, durch den der Verfremdungseffekt durch dessen Aufhebung mittels des transformierenden Verfahrens um so deutlicher hervortreten soll. Die Einführung in die Theorie des epischen Theaters erfolgt in der hier dokumentierten Reihe also verschränkt mit der Behandlung eines Dramas von Brecht. Eine mögliche Alternative zu dieser Bearbeitungsform wäre die arbeitsteilige Behandlung mehrerer Dramen, um so mit der Lerngruppe innerhalb eines umfangreicheren Unterrichtsvorhabens vergleichend die wesentlichen Formtypen zu erarbeiten, also nicht einen Formtyp in den Mittelpunkt zu stellen. So schlägt z.B. Waldmann in seinem dramendidaktischen Werk im Kapitel über die Erarbeitungen von Formtypen des Dramas vor, dass die Schülerinnen und Schüler nach dem arbeitsteiligen Bearbeiten analytischer Aufgaben je wiederum arbeitsteilig zu verschiedenen Dramentypen selbst ein Kurzdrama der jeweiligen Form schreiben.42 Diese Vorgehensweise ist aber ausgesprochen zeitaufwendig und sehr komplex. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich selbstständig je ein Drama eines Formtyps erarbeiten, theoretische Texte dazu verstehen und dann ein eigenes Drama des entsprechenden Typs entwerfen. Ich halte dies für eine Überforderung der Schülerinnen und Schüler und bezweifle den Erfolg des Verfahrens für die gesamte Lerngruppe, da 39 Scheller (1993b) 86. Ebd. 41 Vgl. dazu Payrhuber 76ff. 42 Vgl. Waldmann (1999), S. 47-117. 40 21 auf diese Weise jeder einzelne Schüler bzw. jede einzelne Schülerin nur einen Dramentyp kennengelernt hat und die anderen Formen nur über die ja sicher aus Zeitgründen relativ knappe Präsentation der Ergebnisse eine nur sehr ansatzweise Ahnung über Intention und Besonderheiten der jeweils bearbeiteten und selbst erstellten Texte erhalten. 22 3 Planung, Darstellung und Reflexion der Einzelstunden der Sequenz 3.1 Die erste und zweite Stunde (3. und 4. Stunde der Gesamtreihe) Thema: Einführung in das epische Theater anhand der kontrastierenden Gegenüberstellung von Inszenierungen einer Alltagsszene und der Analyse eines programmatischen Textes zur Abgrenzung des epischen vom „dramatischen“ Theater. 3.1.1 Planung der Unterrichtsstunde Ich werde die beiden Stunden, die zwar zwei unterschiedliche Schwerpunkte haben, jedoch eng zusammen gehören, als eine Einheit darstellen, nicht zuletzt deshalb, weil der erste Teil der Stunde - die szenische Erarbeitung wichtiger Elemente der Brechtschen Theatertheorie - inklusive der Einstiegsphase ca. 60 Minuten dauern wird und die Besprechung des Brecht-Textes, die am Beginn der ersten Stunde durch die daraus entnommenen beiden Eingangsthesen eingeleitet wird, auch in kürzerer Zeit zu bewältigen ist. Daher werde ich mit den Schülerinnen eine entsprechende Verschiebung der Fünfminutenpause vereinbaren. 3.1.1.1 Lernziele Stundenziel: Die Schülerinnen lernen Grundzüge des epischen Theaters nach Brecht kennen, indem sie durch Gegenüberstellung verschiedener selbst entwickelter szenischer Umsetzungen einer Alltagssituation Elemente epischen und dramatischen Theaters vorführen und analysieren und ihre so erworbenen Kenntnisse an dem Text „Die dramatische und die epische Form des Theaters“ von B. Brecht vertiefen. Teilziele: 1) Die Schülerinnen äußern sich spontan zu zwei ihnen präsentierten Thesen Brechts zur Kontrastierung der dramatischen und der epischen Form des Theaters und entwickeln hier aufgrund ihrer Leseerfahrung erste Vermutungen über deren Bedeutung. 2) Die Schülerinnen klären im Gespräch über die beiden Thesen die Begriffe ‘dramatisch’ und ‘episch’ und erkennen dabei wesentliche Grundzüge des epischen Theaters gegenüber dem dramatischen. 3) Die Schülerinnen vollziehen das Gelernte im szenischen Spiel nach und vertiefen dadurch ihre erworbenen Kenntnisse, indem sie eine vorgegebene Alltagssituation entweder mit Mitteln des epischen oder des dramatischen Theaters inszenieren. 4) Die Schülerinnen wenden ihre Kenntnisse an, indem sie bei der Vorführung der erarbeiteten Szenen die jeweilige Spielweise begründet benennen und die jeweilige Wirkung auf den Zuschauer analysieren. 23 5) Die Schülerinnen vertiefen und erweitern ihre erworbenen Kenntnisse am Text, indem sie die Brechtsche Gegenüberstellung, die ihnen als Lückentext vorliegt, selbständig ergänzen und durch Anwendung auf ihnen bekannte Dramen beider Formen erläutern. 3.1.1.2 Überlegungen zur Sache und didaktische Reduktion Zur Darlegung der Brechtschen Theatertheorie verweise ich auf die Sachanalyse im zweiten Kapitel und beschränke mich hier auf die Elemente der Theorie, die Schwerpunkt dieser Stunde sein werden. In der heutigen Stunde sollen die Schülerinnen wesentliche Elemente des epischen Theaters gegenüber dem von Brecht so titulierten „dramatischen“ Theater kennen lernen. Es erscheint mir sinnvoll, in die Brechtsche Theatertheorie anhand des Textes Die dramatische und die epische Form des Theaters aus Brechts Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“43 einzuführen, da dieser Text zu den ersten programmatischen Schriften Brechts zu seiner Theatertheorie gehört und überdies durch die Kontrastierung des Neuen am epischen Theater gegenüber den traditionellen Formen sehr plakativ - und damit auch kritisierbar - dargestellt wird. Es ist allerdings ob der dürren sprachlichen Form des Textes kaum möglich, diese Thesen wirklich zu verstehen, weil jede einzelne einer Erläuterung bedarf, die von den Schülerinnen nur durch starke Lenkung der Lehrperson leistbar ist. Daher lege ich den Schwerpunkt der Doppelstunde auf die Erarbeitung der beiden Grundthesen: „Die Bühne verkörpert einen Vorgang.“ vs. „sie erzählt ihn“. Anhand dieser Thesen können die Schülerinnen bereits erste Vermutungen über weitere Einzelheiten der Brechtschen Theaterauffassung anstellen: die Vermischung epischer (i. S. v. erzählend, d.h. durch Wendung an das Publikum mittels in die Handlung einführender bzw. diese nachträglich reflektierende Elemente, Songs, lyrische Einlagen, Zwischenspiele ) und dramatischer (i.S. v. szenisch, d.h. allein durch Rede und Gegenrede dargestellte Handlung) Elemente in einem Theaterstück. Nach dieser Klärung sollen diese Grundthesen durch szenisches Spiel nachvollzogen werden, um anschließend ihre Wirkung zu analysieren. Brecht geht davon aus, dass das dramatische Theater durch sein Bestreben nach realistischer Darstellung, der totalen Identifikation der Zuschauer mit der Rolle eine suggestive Wirkung auf den Zuschauer hat, die ihn derart in die Handlung involviert, dass er unfähig ist, diese zu reflektieren und nach Handlungsalternativen zu fragen. Das epische Theater mit seiner befremdlichen Wirkung auf den Zuschauer reißt ihn hingegen immer wieder aus der Spielhandlung hinaus, verhindert somit Einfühlung, um den Zuschauer statt dessen zur rationalen Reflexion zu zwingen. Die Schülerinnen werden nicht in der Lage sein, diese Intention, die ja auch mit dem Transport einer bestimmten ideologischen Botschaft verbunden ist, in voller Gänze nachzuvollziehen; doch sollte es ihnen möglich sein zu entdecken, dass das epische Theater Einfühlung und Illusion von realis43 Brecht, B: Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, GW 17, S. 1009 f. 24 tischer Darstellung verhindern und Abstandnahme sowohl des Schauspielers von seiner Rolle als auch des Zuschauers vom Dargestellten provozieren will. Zur Klärung der gesellschaftspolitischen Intention der Theorie wird man in dieser Stunde nicht kommen können; dies wird ansatzweise Inhalt der folgenden Einzelstunde anhand eines weiteren theatertheoretischen Textes Brechts sein und anhand der Analyse des ersten Bildes des behandelten Dramas vertieft werden, an dem sich recht gut Brechts marxistische Weltauffassung zeigen lässt. 3.1.1.3 Geplanter Stundenverlauf und Begründung der methodischen Entscheidungen Einstieg Zu Beginn der Stunde konfrontiere ich die Schülerinnen mit den beiden ersten Thesen des o.g. Textes, in dem ich folgendes Tafelbild vorgebe: Zwei Formen des Theaters Das dramatische Theater: Die Bühne verkörpert einen Vorgang (z.B. Lessing) Das epische Theater: Die Bühne erzählt einen Vorgang. (Brecht) Die Schülerinnen sollen als erstes frei zu den Thesen assoziieren. Es wird ihnen möglich sein, diese zu erläutern, da ich mit den Schülerinnen bereits im vergangenen Quartal ausführlich Lessings Theaterauffassung erarbeitet habe und sie auch mit der gängigen Unterscheidung „Epik-Dramatik-Lyrik“ vertraut sind. Daher erscheint mir diese recht plakative Vorgehensweise sinnvoll. Die Schülerinnen können auf diese Weise ihr Vorwissen für die Erarbeitung neuer Inhalte selbständig anwenden. Ich erwarte, dass sie zunächst die Begriffe „dramatisch“ und „episch“ bzw. „verkörpern“ und „erzählen“ voneinander abzugrenzen versuchen. Ich werde dabei auch ggf. nach typischen Beispielen für Epik und deren Merkmalen fragen. Als Ergebnis dieser ersten Klärung, für die ich etwa zehn Minuten Zeit veranschlage, erwarte ich, dass die Schülerinnen erkennen, dass es dem dramatischen Theater darum geht, durch die Anlage des Textes, das Agieren der Schauspieler, bühnentechnischer Mittel eine Handlung so in Szene zu setzen, dass dem Zuschauer ein Geschehen so realistisch wie möglich szenisch dargestellt wird, so dass der Zuschauer die Illusion hat, einem tatsächlichen bzw. real möglichen Vorgang beizuwohnen, wohingegen im epischen Theater die szenische Darstellung immer wieder durch erzählende Elemente unterbrochen wird, bei denen die Darsteller deutlich verschieden von der eigentlichen Handlung agieren müssen. Dieses Ergebnis ist auch deshalb erreichbar, weil beim Äußern der ersten Leseeindrücke viele Schülerinnen bereits eben diese Auffälligkeiten des Brecht-Dramas gegenüber ihnen bekannten anderen Dramen erkannt hatten. 25 Erarbeitung Nach der Klärung der Grundthesen Brechts zu den von ihm gegenübergestellten Formen des Theaters sollen die Schülerinnen in vier Gruppen eine Alltagssituation in Szene setzen: „Rita begegnet zufällig Margret, mit der sie sich vor fünf Jahren wegen eines Mannes zerstritten hat.“ Dabei dürfen sie sich selbst für eine Inszenierungsform entscheiden. Ich lasse die Situation bewusst offen, damit die Schülerinnen viel Raum haben, ihre Phantasie zu entfalten. Die Situation wird ihnen in ähnlicher Weise bekannt sein, weil Jugendliche dieses Alters (die Schülerinnen sind mit einer Ausnahme zwischen 17 und 19 Jahren) bereits einige Erfahrungen mit Partnerschaft und Eifersucht gemacht haben. Die Schülerinnen haben durch die Offenheit der vorgegebenen Situation viele Möglichkeiten der Umsetzung. Sie könnten z.B. die Begegnung selbst spielen und die Vorgeschichte durch eine Spielerin - sei es eine der beiden Frauen oder eine zusätzlich eingeführte Figur - erläutern, also durch Einfügen eines epischen Elements. Die Vorgeschichte kann aber auch unter Verzicht auf epische Elemente durch den Dialog selbst deutlich werden Es ist aber ebenso möglich, die Vorgeschichte selbst auch mittels einer Rückblende szenisch darzustellen usw. Ich habe mich gegen die Alternative entschieden, eine Situation vorzugeben, in der eine politische Position transportiert werden muss, anhand derer die von Brecht angestrebte gesellschaftspolitische Relevanz des epischen Theaters verdeutlicht werden könnte. Dies halte ich für eine Überforderung der Schülerinnen, da sie unterschiedliche und vom mir kaum einschätzbare politische Kenntnisse, Ansichten und Interessen haben. Außerdem reicht eine solche Alltagssituation aus, um das von mir angestrebte Ziel, die wesentlichen Mittel des epischen Theaters kennenzulernen und selbst anzuwenden, zu erreichen. Ebenso habe ich mich dagegen entschieden, den Schülerinnen verschiedene Situationen vorzugeben. Dies würde zwar mögliche Wiederholungen vermeiden, aber den Vergleich der Wirkung der beiden Theaterformen erschweren. Durch die Methode des freien szenischen Spiels sollen die Schülerinnen das Gelernte zunächst anwenden, aber in der Entwicklung ihrer Szene zu weiteren Erkenntnissen über Mittel und Wirkung des epischen bzw. des dramatischen Theaters kommen. Ich habe mich für dieses entdeckende Verfahren entschieden, weil ich davon ausgehe, dass es motivierender ist als ein rein analytisches Erarbeiten der Theorie am Text bzw. einer theatertheoretischen Schrift Brechts selbst ist und der Lerneffekt auf diese Weise nachhaltiger ist. Im Übrigen wählt Brecht in einer seiner theoretischen Schriften einen ähnlichen Ansatz.44 In diesem Text erklärt er die Techniken des epischen Theaters an der Demonstration einer jedem bekannten Alltagsszene: So wie ein Zeuge einen von ihm beobachteten Unfall beschreibt, indem er einige Sequenzen vorführt, anderes berichtend nachträgt bzw. seine „szenische“ Demonstration durch Erläuterungen verständlicher macht, arbei44 Vgl. B. Brecht: Die Straßenszene, GW 16, S. 546-558. 26 tet auch das epische Theater. Ein Geschehen soll nicht mit Mitteln der Illusion dargestellt werden, weil dies pure Emotionen wecken würde, sondern es soll so wiederholt werden, dass der Demonstrationscharakter nicht verborgen bleibt. Aus Zeitgründen kann ich den Schülerinnen maximal zwanzig Minuten für die Erarbeitung der Szenen einräumen, da diese sonst nicht mehr angemessen ausgewertet werden können. Die Einfachheit der vorgegebenen Situation spricht aber dafür, dass die eingeräumte Erarbeitungszeit ausreichen wird. Auswertung Die vier Gruppen spielen nacheinander ihre Szenen vor. Nach jedem Spiel wird das Dargestellte zunächst beschrieben und dann begründet entschieden, ob es sich um eine epische oder eine dramatische Darstellungsweise handelt. Dadurch kann das bisher erworbene Wissen über die Merkmale beider Formen überprüft und gesichert werden. Vermutlich werden sich die meisten Schülerinnen für die epische Darstellungsform entscheiden, weil sie weniger Darstellungskunst erfordert und es einfacher ist, die Vorgeschichte zu erzählen. Doch die Schülerinnen werden die epischen Mittel auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Intensität anwenden, so dass die Auswertung jeder einzelnen Szene auch im ungünstigsten Fall, dass keine Gruppe die dramatische Form wählt, trotzdem Lerneffekte zeitigen wird, indem etwa Darstellungsalternativen diskutiert werden. Nachdem alle Gruppen ihre Szenen vorgeführt haben, sollen abschließend zusammenfassend die jeweiligen Mittel der Darstellung und die unterschiedliche Wirkung der beiden Formtypen diskutiert werden. Ich erwarte, dass die Schülerinnen für die dramatische Form v.a. auf die Bereiche · realistische Darstellung · Wecken von Illusion · Möglichkeit der Identifikation und Einfühlung · Wiedererkennungseffekt eingehen werden und für die epische Form · Distanznahme des Spielers von der Rolle · Distanznahme des Zuschauers vom Gesehenen · Fremdheit · Möglichkeit des Nachdenkens über das Dargestellte · Bedenken von Alternativen Möglicherweise werden die Schülerinnen aber auch bemängeln, dass die epische Form durch die ständige Unterbrechung der Handlung durch eingeschobene Erklärungen verwirrend oder langweilig wirkt. 27 Inwieweit dieses Ziel erreicht werden kann, hängt stark von der Qualität des Vorgeführten ab und von der Fähigkeit der Schülerinnen von der spielerischen Erarbeitung wieder zur analytischen Reflexion zu kommen. Vertiefung und Auswertung II Im bisherigen Verlauf der Stunde konnten nicht alle von Brecht genannten Unterscheidungskriterien der beiden Formtypen erarbeitet werden. Auch die genannten bedürfen einer weiteren Reflexion. Daher sollen die Schülerinnen den - leicht gekürzten - Text45 nun doch kennenlernen. Ich wähle hier wieder ein entdeckendes Verfahren der Erarbeitung des Textes, in dem ich auf beiden Seiten der tabellarischen Gegenüberstellung Textteile weggelassen habe, die die Schülerinnen in Partnerarbeit ergänzen sollen. Einige der Thesen werden die Schülerinnen bereits durch das bisher Erarbeitete leicht füllen können, bei den anderen hilft ihnen der von mir gegebene Hinweis, dass sie versuchen sollen, das jeweilige Gegenteil der nebenstehenden These zu formulieren. Zur Erleichterung der auswertenden Besprechung sind die Thesen auf dem Arbeitsblatt im Gegensatz zum Originaltext - nummeriert. Für die Auswertung präsentiere ich den gekürzten Originaltext als OHP-Folie, wobei nach den jeweiligen Vorschlägen der Schülerinnen These für These aufgedeckt wird. Der vervollständigte Text46 wird den Schülerinnen am Ende der Stunde zu Sicherheit noch einmal in Kopie ausgehändigt. Die ersten beiden Thesen sind natürlich nicht mit Lücken versehen worden, da sie bereits zu Beginn der Doppelstunde geklärt wurden. Auch die Lücke in der zweiten These (dramatische Form) werden sie füllen können, wenn in der Auswertung der Spielszenen der Begriff der Einfühlung geklärt worden ist, womit auch die dritte These Gefühl vs. Verstand keine größeren Schwierigkeiten bereiten dürfte. Allerdings stellt Brecht der These „[Die dramatische Form des Theaters] ermöglicht ihm [dem Zuschauer] Gefühle“ nicht die möglicherweise erwartbare These „Sie regt seinen Verstand/sein Denken an“, sondern „erzwingt von im Entscheidungen“. Doch an dieser Stelle ist es sinnvoll, einen Lernumweg in Kauf zu nehmen, da die von den Schülern wahrscheinlich eher gewählte Gegenüberstellung Gefühl vs. Verstand ja nicht falsch ist. Es lässt sich leicht herausstellen, dass die Aktivierung des Verstandes Entscheidungen und Urteile über das Bühnengeschehen erzwingt. Die fünfte These dürfte aufgrund der Auswertung des szenischen Spiels keine Schwierigkeiten bereiten. Die sechste These kann durch Fragen nach dem Gegenteil von Suggestion, nämlich Argumentation leicht entwickelt werden. Probleme sind bei der siebten und achten These zu erwarten, da diese sich auf die Gesamtstruktur des Dramas bezieht, die ja erst im Ansatz besprochen wurde. Während im dramatischen Theater die Szenen klar aufeinander aufbauen und somit eine Spannungskurve, die sich erst am Ende löst, sei es durch Scheitern oder Sieg des Helden, bilden, 45 46 S. Anhang Arbeitsblatt 1a. S. Anhang Arbeitsblatt 1b. 28 steht im epischen Theater - ähnlich wie im Roman - der Gang der Handlung im Vordergrund. Da den Schülerinnen aber schon durch die Analyse des Vorspiels deutlich geworden ist, dass bereits hierin die Grundthese des Stücks enthalten ist, die im Folgenden immer wieder auf verschiedene Weise amplifiziert wird, halte ich auch diese These in der Besprechung für klärbar. Die neunte These wiederholt im Prinzip das bereits in These 3 Genannte - die Gegenüberstellung von Emotionalität und Rationalität, so dass sie nicht lange besprochen werden muss. Wichtiger sind die letzten drei Thesen: Hieran soll deutlich werden, dass das dramatische Theater nach Brechts Auffassung dem Zuschauer das Schicksalhafte des Dramenverlaufs suggeriert wird, was er als etwas Selbstverständliches und damit unveränderliches begreifen soll, während das epische Theater durch seine spezifischen Mittel eine Situation als auffällig und eben nicht selbstverständlich sondern veränderbar darstellt. Um dies den Schülerinnen verständlich zu machen, ist wohl lenkendes bzw. erläuterndes Handeln der Lehrperson nötig. Hausaufgabe Um die Intention und die Hintergründe der Entwicklung des epischen Theaters besser zu verstehen, sollen die Schülerinnen den Text „Das epische Theater“47 nach einem bereits früher von der Fachlehrerin eingeführten Verfahren analysieren. Sie sollen eine Tabelle mit den Elementen 1) Gliederung, 2) Überschrift/Funktion, 3) Inhalt, 4)Erklärung erstellen. Die ersten drei Spalten sollen die Schülerinnen auf jeden Fall ausfüllen, für die vierte Spalte nur Ideen sammeln. Diese wird in der ausführlichen Besprechung in der Folgestunde mit Hilfe der Lehrperson und der Mitschülerinnen ausgefüllt. 47 B. Brecht: Das epische Theater. GW 15, S. 263-265 (gekürzt), s. Anhang Arbeitsblatt 2, S. IV. 29 3.1.1.4 Verlaufsplan Phase/Ziel Unterrichtsgeschehen Arbeitsformen/ Medien L. schreibt zwei Thesen nebeneinander an die Tafel: Impulsunt. Einstieg Das dramatische Theater: UG Die Bühne spielt und verkörpert einen Vorgang (z.B. TA Lessing) Das epische Theater: TZ 1 Die Bühne erzählt (z.B. Brecht) TZ 2 spontane Schülerinnenäußerungen 10’ genauere Erläuterung der Thesen GA Erarbeitung L. gibt Situation vor: Rita begegnet auf der Straße Margret, mit der sie sich vor Requisiten: Hüte, fünf Jahren wegen eines Mannes zerstritten hat. Masken TZ 3 Sch. erarbeiten in vier Gruppen kurzes szen. Spiel, wobei 20’ sie sich für einen Formtyp entscheiden können Auswertung Gruppen spielen ihre Szenen vor, die jeweiligen Zu- SV/UG schauerinnen beschreiben das Dargestellte, benennen jeweilige Spielweise (dramatisch oder episch?) und begründen ihre Entscheidung, wenn alle gespielt haben: TZ 4 Zusammenfassung der Techniken des jeweiligen Form20’ typs Diskussion der Wirkung auf den Zuschauer fünf Minuten Pause (außerplanmäßig) L. teilt Text v. Brecht aus (mit Lücken) PA Vertiefung TZ 5 Sch. füllen Lücken im Text AB 10’ UG Auswert. II Zusammentragen der Ergebnisse; Vgl. mit Originaltext AB TZ 6 Evtl. Nachweis der Thesen an den Sch. bekannten Dra- Text 20’ men der beiden Formen AB, Sch.Hausaufga- Analyse des Textes: B. Brecht: Das epische Theater Hefte be 3.1.2 Durchführung und begleitende Reflexion der Doppelstunde Einstieg Die Schülerinnen haben erwartungsgemäß die Thesen durch Klärung einzelner Wörter erschlossen.48 Sie definierten unaufgefordert die Begriffe Epik und Drama und kamen zu dem Schluss, dass im Drama ein Geschehen durch Rede und Gegenrede dargestellt 48 Bei der Wiedergabe von Schülerinnenäußerungen sowie der von den Schülerinnen entwickelten Szenen beziehe ich mich auf die Mitschrift meiner Mentorin sowie auf - leider schwer verständliche - Tonbandmitschnitte. 30 wird, während Epik - auf Aufforderung nannten sie die Formen Roman, Erzählung, Novelle, Kurzgeschichte - ein Geschehen erzählt, schildert, beschreibt. Der Ort des Dramas ist die Bühne, Epik wird in Buchform präsentiert. Sogleich formulierte eine Schülerin, dass dann doch die Formulierung „episches Theater“ paradox sei. Die Schülerinnen kamen jedoch schnell darauf, dass das doch der „Clou“ an Brechts Stück sei: die szenische Darstellung wird immer wieder unterbrochen. Als Beispiel nannten sie den ersten Auftritt Wangs im Vorspiel, wo er sich selbst und die katastrophale Lage Sezuans vorstellt und seine Erwartungen an die Götter formuliert, was im Roman z.B. Sache des Erzählers sei. Eine andere Schülerin äußerte richtig, dass auf diese Weise auch Zeitsprünge möglich wären, die Handlung sei nicht auf einen kontinuierlichen Zeitablauf festgelegt, sondern zwischenzeitlich Geschehenes könne einfach durch Erzählung nachgetragen werden. Außerdem, so eine weitere Schülerin, hat der Zuschauer durch die Unterbrechung der Spielhandlung Zeit zum Nachdenken. Ich bin mit dem Verlauf dieser Phase sehr zufrieden. Die Schülerinnen konnten diese Thesen nicht zuletzt deshalb so gut erklären, weil die allermeisten das Stück gründlich gelesen haben und beim Lesen ein Szenenprotokoll angefertigt und im Text Auffälligkeiten markiert haben. Es hat sich also bewährt, dass die Schülerinnen bereits in der vorausgegangenen Unterrichtsreihe mit hilfreichen Arbeitstechniken für die Dramenlektüre vertraut gemacht wurden und diese selbständig auch in dieser Unterrichtsreihe genutzt haben. So war es möglich, ohne Überschreitung der angesetzten Zeit von zehn Minuten zur nächsten Phase überzuleiten. Erarbeitung Die Schülerinnen haben hochmotiviert - wohl weil sie das szenische Spiel bereits durch die vorausgegangene Unterrichtsreiche zum „Nathan“ kannten - sofort mit der Erfüllung des Arbeitsauftrags begonnen. Sie haben sich dazu auf Sitzecken bzw. Plattformen im Treppenhaus verteilt, um ungestört arbeiten zu können. In dem sehr kleinen Klassenraum hätten sie keine Möglichkeit zum Proben gehabt. Ich bin während der Erarbeitung herumgegangen. Drei Gruppen hatten sich schnell für einen Plot und für einen Formtyp entschieden und sehr engagiert an der Umsetzung gearbeitet. Alle drei haben sich für den epischen Formtyp entschieden. Die vierte Gruppe, die aus eher zurückhaltenden Schülerinnen bestand, tat sich zunächst etwas schwer mit dem Arbeitsauftrag; auf mein Nachfragen hin merkten sie aber schnell, dass sie sehr wohl schon Ideen im Kopf hatten und konnten durch einige Hilfen meinerseits die Aufgabe bewältigen. Die Schülerinnen sind nach der vereinbarten Zeit wieder in den Klassenraum zurückgekehrt. 31 Auswertung Die erste Gruppe verlegte die Begegnung der beiden Frauen in ein Café - das „Café des Friedens“, wie sie es an der Tafel deutlich gemacht haben. Das Bühnenarrangement besteht aus zwei Tischen mit Stühlen. An einem Tisch sitzt bereits Margret mit einer Freundin ins Gespräch vertieft. Der andere Tisch wird von Rita mit zwei Freundinnen besetzt. Die beiden erkennen sich sofort, sprechen aber nicht miteinander, sondern mit ihren jeweiligen Freundinnen. Das Gespräch der Zweiergruppe ist unverständliches Getuschel, während Rita sich lautstark über Margret echauffiert und den Freundinnen die Vorgeschichte erzählt. Als Margret nicht reagiert, sondern weiter tuschelt, wendet sich Rita kurz ans Publikum: Rita: „Haben Sie das gesehen! Die lästern über mich!“. Ritas Freundinnen versuchen sie zu beruhigen, auch Margret versucht, ein Gespräch mit Rita zu beginnen. Diese reagiert aber nur mit: Rita: „Ich will aber nicht mit dir reden! Wir gehen.“ Die Dreiergruppe verlässt das Café. Die Schülerinnen haben die Szene ohne größere Schwierigkeiten beschreiben können; besonders hoben sie lobend die realistische Darstellungsweise, das Entwerfen eines Bühnenarrangements sowie die Beteiligung aller fünf Personen und deren klare Aufteilung in zwei Gruppen hervor. Schwieriger wurde jedoch die Entscheidung, um welchen Formtyp es sich denn nun handele. Die Schülerinnen arbeiteten heraus, dass die Gruppe wohl den epischen Formtyp darstellen würde, anders sei die plötzliche Wendung der Rita-Darstellerin ans Publikum nicht zu erklären. Allerdings hätte sie dies auch zu den Freundinnen sagen können. Die Wendung ans Publikum sei kaum erkennbar gewesen, alle Darstellerinnen, insbesondere die der Rita haben ihre Rolle wirklich verkörpert. Insofern sei die Darstellung der Gruppe gegen ihre Intention dem dramatischen Formtyp zuzuordnen. Die Gruppe selbst sah dies ein: „Stimmt, wir wollten eigentlich das epische Theater mal ausprobieren, haben aber selbst gemerkt, dass unsere Szene auf dramatische Weise besser spielbar ist.“ Trotz dieser Schwierigkeiten brachte die Vorführung einen großen Lerngewinn. An dieser Stelle kam nämlich bereits die von den Darstellern des epischen Theaters geforderte Spielweise zum Ausdruck: Die Schülerinnen kritisierten, dass die Rita-Darstellerin bei der Wendung ans Publikum ihre Rolle hätte verlassen und ihre Spielweise ändern müssen. Die zweite Gruppe ließ zunächst nur zwei Spielerinnen auftreten, Rita und Margret. Die Spielerinnen stellen sich mit großem Abstand zueinander auf, gehen einige Schritte aufeinander zu, wobei Rita Margret erkennt, während Margret die andere nicht wahrzunehmen scheint. Rita: Oh, Gott! Ist das nicht...? Die sieht doch aus wie... Oh, Gott! Rita tritt vor das Publikum, während Margret in ihrer Haltung erstarrt. Rita: Vor zehn Jahren haben wir uns wegen einem Mann zerstritten, einem dicken Mann. Der war es gar nicht wert, unsere Freundschaft zu zerstören. Vielleicht sollte ich ja versuchen... Rita tritt in die Szene zurück, läuft auf Margret zu. Margret: Rita! Wie schön, dich zu wieder zu sehen! (zum Publikum gesprochen). Oh je, diese dumme Kuh! Es folgt ein offensichtlich unehrlicher Dialog über Nebensächlichkeiten (Haustiere, Einkaufstipps etc.), wobei die Spielerinnen im Beiseitesprechen die gegenseitige Verachtung für das Publikum deutlich machen. Sie vereinbaren, gemeinsam Kaffee trinken zu gehen, wobei durch Mimik und Gestik deutlich wird, dass keine von beiden dies wirklich will. Ein Mann tritt auf. Durch Ritas entsetzten Blick wird deutlich, dass es sich um den Mann handelt, um dessentwillen die Freundschaft der Frauen zerbrochen war. Rita 32 und der Mann begrüßen sich wie vorher die beiden Frauen mit herzlichen Worten aber kühler Gestik und Mimik. Rita verabschiedet sich schnell. Im auswertenden Gespräch nannten die Schülerinnen zunächst beschreibende und interpretatorische Aspekte auf der Inhaltsebene: Rita suchte Wiederannäherung an Margret, dass dies aber nicht gelingen kann, wird durch die Art des belanglosen Gesprächs sofort deutlich, als noch der Mann, das Streitobjekt, hinzukommt, erweist sich Ritas Wunsch nach Versöhnung als unrealistisch. Die Schülerinnen charakterisierten die Spielweise als klar episch, weil die Rita-Darstellerin dem Publikum die Vorgeschichte erzählt. Als sie aber auch die Äußerung der wahren Gedanken der beiden Frauen während ihres Dialogs als Argument für diese Charakterisierung anführten, musste ich korrigierend eingreifen, indem ich fragte, ob es nicht auch im dramatischen Formtyp möglich sei, die Figuren ihre wahren Gedanken und Gefühle äußern zu lassen. Die Schülerinnen erinnerten sich hierbei der diversen Monologe im „Nathan“ (als Beispiel wurde die Szene III,6 genannt) und der Möglichkeit des Beiseitesprechens. Im Unterschied zum epischen Theater verlassen die Schauspieler dabei aber niemals ihre Rolle. Im epischen Theater hingegen treten die Darsteller aus ihrer Rolle heraus, bzw. „spielen eine Rolle in der Rolle“. Diese Formulierung einer Schülerin habe ich lobend akzentuiert, weil durch das Spiel dieser Gruppe und dessen Auswertung die Anforderungen an die Darsteller, die ja bereits in der Kritik am Spiel der ersten Gruppe angesprochen worden waren, noch einmal genauer geklärt werden konnte. Ähnlich deutlich wurde dieser Aspekt bei der Vorführung der dritten Gruppe, die - gemessen am bisherigen Wissensstand der Schülerinnen - die Mittel des epischen Theaters am besten eingesetzt hat. Hier haben drei Schülerinnen gespielt. Zu Beginn der Szene stehen sich auf der linken Seite ein Paar (eine Frau -Margret - und ein Mann, letzterer durch einen Herrenhut als solcher kenntlich gemacht) und auf der rechten Seite eine Frau (Rita) in großem Abstand gegenüber. Rita erkennt Margret und macht durch einen von entsprechender Mimik und Gestik begleiteten Ausruf „Oh Gott!“ deutlich, dass ihr die Begegnung sehr unangenehm ist. Sie verläßt daraufhin ihren Standort, macht einen Schritt in Richtung Publikum und erläutert diesem die Vorgeschichte: Rita: „Ja, Sie müssen wissen, wir haben uns ziemlich zerstritten vor einigen Jahren - klar, wegen einem Mann, Udo. Hoffentlich macht die mir jetzt keine Szene.“ Die Spielerin tritt wieder an ihren ursprünglichen Standort zurück, dann gehen die Figuren aufeinander zu. Rita (verlegen): Hallo Margret! Margret: Hallo Rita, wie geht’s? Rita: Eeeh, gut.. (ihre Gestik und Mimik sprechen dagegen) Margret (wirkt selbstzufrieden): Darf ich dir Horst, meinen Verlobten vorstellen! Wie geht’s eigentlich zwischen dir und Udo?“ Rita: Och ja, alles prima zwischen uns. (Schnell:) Ich muss jetzt weg. Tschüs! Das Paar verlässt die Bühne, während Rita sich wieder ans Publikum wendet: Rita: Ein Glück, dass die nicht gemerkt haben, dass wir nicht mehr zusammen sind. Diese Erniedrigung! Wo die wohl immer ihre Männer herkriegt. Aber das ist ja mal wieder typisch. Schön, aber nix in der Birne. Und ich...? Die Schülerinnen charakterisierten diese Szene als eindeutig dem epischen Formtyp zugehörig. Sie beschrieben den Aufbau richtig: Rita erzählt in deutlicher Hinwendung zum 33 Publikum die Vorgeschichte, allerdings nur in Ansätzen. Es folgt ein Dialog, in dem Rita aus Unsicherheit und Scham unehrlich ist und der Situation entflieht, was in der abschließenden Rede zum Publikum deutlich wird. Sie wollte ihre Enttäuschung, ihre Selbstzweifel und den Neid auf Margrets Partnerschaft verbergen und überdies nicht zugeben, dass die Beziehung mit Udo längst gescheitert ist. Einige Schülerinnen kritisierten die Spielweise allerdings als zu aufgesetzt, die Gruppe hätte „mit dem Brecheisen“ versucht, epische Elemente einzubauen. Andere wandten aber dagegen ein, dass dies doch bei Brecht genauso sei. Die Spielhandlung werde unterbrochen, um die Gedanken und Gefühle der Figur zu verdeutlichen. Überdies wäre gerade durch Ritas Schlussmonolog ihr Problem deutlich geworden. Der Schluss bleibe offen, so dass der Zuschauer selbst ins Nachdenken darüber gerät, dass Rita unter Beziehungsunfähigkeit leidet und einsam ist. Dies sei eine Anregung zum Nachdenken über Partnerschaft und Liebe. Natürlich ist auch an diesem m. E. sehr gelungenen Spiel nur im Ansatz die Intention Brechts verwirklicht worden, doch konnten hieran schon wichtige Darstellungstechniken des epischen Theaters erkannt werden. Die vierte Gruppe spielte zunächst einen reinen Dialog zwischen den beiden Frauen. Zwei Frauen gehen aufeinander zu, bleiben wie angewurzelt stehen, als sie einander erkennen. Rita (aggressiv): Du hier? Margret (gereizt): Ja und? Rita: Was Dur mir vor drei Jahren angetan hast, das werde ich dir nie verzeihen. Margret: Du warst es doch, die mir Wolfgang in die Arme getrieben hat. Rita: Ich? Unverschämtheit! - Seid ihr etwa immer noch zusammen? Margret (spitz, mit Genugtuung): Überzeug’ dich selbst! Wolfgang tritt hinzu Margret: Hallo, mein Schatz, hast du schöne Sachen gefunden? Wolfgang: Och ja... Sag mal, ist das nicht Rita. Oh je. Margret: Komm, lass uns gehen! In der Auswertung bemerkten die Schülerinnen, dass diese Gruppe als einzige den Streit zwischen den beiden Frauen direkt inszeniert hat. Dabei kam der tiefsitzende Hass zwischen den beiden am stärksten heraus. Die Darstellungsweise erkannten sie als klar dramatisch. Erfreulicherweise nannten sie auch - unbewusst - die passenden Stichworte: „Man konnte sich total da hineinversetzen!“ - „Ich hätte ähnlich reagiert.“ Dadurch konnte ich darauf hinweisen, das Brecht den Aspekt der Einfühlung als wesentlichen Bestandteil des dramatischen Theaters stark hervorgehoben hat. Nach dem Vorspielen und Auswerten aller Szenen blieb noch wenig Zeit für eine Zusammenfassung, die dennoch recht ertragreich verlief. Aus Zeitgründen habe ich darauf verzichtet, die geplante Frage nach den jeweiligen Darstellungsmitteln der beiden Formtypen zu stellen. Dies war aber auch nicht nötig, da die Schülerinnen ohnehin nur die Wendung der Spieler ans Publikum als Mittel einsetzen konnten, weil ihnen zum einen nicht mehr Mittel bekannt waren und sie die anderen (Songs, lyrische Einlagen etc.) ohnehin in der Kürze der Zeit nicht hätten umsetzen können. Viel wichtiger war die Frage 34 nach der unterschiedlichen Wirkung, die die Schülerinnen m.E. sehr gut herausarbeiten konnten. Unter dem Eindruck der letzten Szene äußerten sie, dass das dramatische Theater wohl mitreißend wirken wolle, die Handlung werde nicht unterbrochen und das Spiel wirke insgesamt überzeugender und realistischer, während das epische Theater zunächst befremdlich und bisweilen (unfreiwillig?) komisch wirke. Das hätte den Effekt, dass sich der Zuschauer stärker vom Gesehenen distanziere. Um diese gute Schülerinnenäußerung zu akzentuieren, fragte ich nach, was Brecht denn wohl mit dem epischen Theater bezwecken wolle. Darauf antworteten die Schülerinnen, dass durch die Mittel des epischen Theaters die Absicht des Autors viel deutlicher zum Ausdruck käme, um sicher zu stellen, dass der Zuschauer sie auch wirklich versteht. Die im Unterricht inszenierte Situation sei ja relativ einfach gewesen und auch durch die rein dramatische Form leicht umsetzbar gewesen, doch Brecht gehe es doch um die Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und den Umgang der Menschen damit. Dazu braucht er die epischen Einschübe als Erklärung z.B. der Zustände in Sezuan und der vergeblichen Hoffnung auf die Hilfe der Götter. Eine Schülerin fasste das Gespräch hervorragend zusammen: „Diese Einschübe reißen den Zuschauer aus diesem Mitfiebern mit den Personen heraus. Wenn er die ganze Zeit nur mitfühlt, kommt er ja gar nicht zum Nachdenken. Aber durch das epische Theater wird er zum Nachdenken gezwungen.“ Ich bin mit dem Ertrag der sechzig Minuten sehr zufrieden. Die Ergebnisse waren, gemessen an dem geringen Vorwissen der Schülerinnen - immerhin wurde ja bisher nur das Vorspiel ausführlich besprochen, ohne auf die V-Effekte einzugehen - hervorragend. Die Schülerinnen konnten durch die Methode, die ihnen sichtliche Freude bereitet hat, zu eigenständiger Arbeit motiviert werden und konnten durch das eigene Spiel und das Auswertungsgespräch wichtige Mittel des epischen Theaters selbst entdecken. Die guten Ergebnisse sind allerdings nicht allein auf die richtige Methodenwahl zurückzuführen. Es hat sich als Vorteil erwiesen, dass eine Reihe von Schülerinnen Sekundärliteratur zum Drama gelesen hat, wozu ich sie bereits in der Unterrichtsreihe zum Nathan angeregt habe. Es stellt sich hier natürlich die Frage, ob der Ertrag nicht auch über eine analytische Arbeitsform in kürzerer Zeit zu erreichen gewesen wäre. Ich bin allerdings der Meinung, dass in diesem Fall die Erarbeitung der Theatertheorie Brechts sehr viel stärker von den wenigen einzelnen Schülerinnen dominiert gewesen wäre, die schon Sekundärliteratur hinzugezogen haben. Auf die von mir gewählte Weise waren alle Schülerinnen an der Erarbeitung aktiv beteiligt. Vertiefung und Auswertung II Für die Erarbeitung des Brecht-Textes blieben dann, wie erwartet, nur noch 30 Minuten. Die Zeit hat sich als zu knapp erwiesen, so dass den Schülerinnen sicherlich nicht alle 35 Thesen wirklich klar geworden sind. Ich muss selbstkritisch eingestehen, dass ich dies hätte voraussehen können und den Text auf noch weniger Thesen hätte reduzieren müssen, was ob einiger Redundanzen durchaus möglich gewesen wäre. Die meisten Schülerinnen haben jedoch alle Lücken gefüllt, ohne natürlich stets die jeweilige Originalformulierung zu finden. Die Lücke in der zweiten These zu füllen bereitete den Schülerinnen erwartungsgemäß wenig Schwierigkeiten, so schlug eine Schülerin vor: „verwickelt den Zuschauer in eine Handlung und ermöglicht ihm Gefühle“, was der Originalformulierung sehr nahe kam. Die Schülerinnen konnten den Satz nach Aufdecken der Originalversion auch gut erklären: Brecht meint wohl, dass das Mitfühlen des Zuschauers seine komplette Energie verbraucht und nicht mehr zum Denken, geschweige denn Handeln komme, beim epischen Theater würde er geradezu zum Nachdenken gezwungen, indem er immer Abstand vom szenisch Dargestellten nehmen müsse. Für die dritte These wurde vorgeschlagen „ermöglicht ihm Gedanken“. Wie erwartet, konnten die Schülerinnen hier die Brechtsche Formulierung nicht treffen, wohl aber nach Präsentation der Originalversion erklären: Während Lessing durch das Wecken von Furcht und Mitleid den Menschen moralisch läutern wollte, hält Brecht dies über die reine Gefühlsebene nicht für möglich. Die vierte These enthielt keine Lücke, so dass ich diese wegen der Zeitnot überschlagen habe, da ihre Aussage auch durch die sechste These geklärt werden kann. Die fünfte These bereitete den Schülerinnen keine Schwierigkeiten, da schon am Vergleich der gespielten Szenen deutlich wurde, dass sich der Zuschauer im dramatischen Theater von der Handlung mitreißen lassen soll, während er im epischen Theater zur Distanznahme gezwungen wird. Als mögliche Formulierung für die sechste These wurde vorgeschlagen: „Der Zuschauer wird dazu angeregt, sich selbst Gedanken zu machen.“ Hier musste ich nachhaken, um diese sehr allgemeine Äußerung zu präzisieren. Über die Formulierung des Gegenteils von Suggestion kamen die Schülerinnen aber auf die richtige Lösung: Brecht behauptet, dass der Zuschauer des dramatischen Theaters gar nicht merkt, zu was man „ihn erziehen“ wolle, im epischen Theater soll der Zuschauer durch Argumente von der Richtigkeit des vom Autor Intendierten überzeugt werden. Die siebte These bereitete den Schülerinnen erwartungsgemäß Schwierigkeiten. Zwar konnten sie die Lücke über die Formulierung des Gegenteils gut füllen, doch die Erklärung der Gegenüberstellung fiel ihnen schwer, wurde aber durch kleine Hilfestellungen meinerseits schließlich geleistet. Auch mit der achten These taten sich die Schülerinnen schwer. Über meinen Rat, diese mit den beiden folgenden zu verbinden, war es ihnen, allerdings erst nach Aufdecken der Originalversion möglich, sie zu erklären. Als Hilfestellung habe ich sie an das Freytagsche Schema des Aufbaus eines fünfaktigen Dramas erinnert. Dadurch konnten die Schülerinnen erklären, dass es im „Nathan“ etwa einen deutlichen Spannungsbogen 36 gebe, man warte gespannt auf die Lösung der in der Exposition eingeleiteten Problemstellung, die sich im Verlauf der Handlung bis zum Höhepunkt verschärft und Schritt für Schritt zur Lösung führe. Bei unserem Brecht-Drama sei ja die Grundthese schon am Anfang klar, man ist weniger gespannt darauf, wie das Drama ausgeht, sondern wie Shen Te mit den von den Göttern gestellten Anforderungen zurecht kommt. Nicht ganz zu Unrecht fanden dies einige Schülerinnen jedoch nicht überzeugend. Sie hätten sehr wohl auf eine Lösung der Probleme am Schluss gehofft und fänden das Ende daher sehr unbefriedigend. Diese spannende Diskussion konnte ich jedoch leider nicht führen und werde hierauf am Ende der Reihe noch einmal zurückkommen. Spannend wurde dann noch einmal die Diskussion der letzten drei Thesen, die ich, da die Stunde fast zu Ende war, ohne Vorschläge der Schülerinnen abzuwarten, zusammen aufgedeckt habe. Es wurde herausgearbeitet, dass der Zuschauer des dramatischen Theaters nach Brechts Auffassung die Situation als gegeben hinnehme, wohl weil er so mit den Figuren mitgefiebert habe. Im epischen Theater stelle er die Handlung jeder Figur in Frage, weil er immer wieder darüber nachdenken müsse. Damit würde ihm schnell deutlich, dass die Personen nur deshalb so und nicht anders handeln, weil die äußeren Verhältnisse ihn daran hinderten. Er müsse darüber nachdenken, ob sie nicht veränderbar seien. Es wird dem erfahrenen Leser dieser Arbeit schnell auffallen, dass insbesondere die Ergebnisse zu den letzten drei Thesen nur durch starke Lenkung erreicht werden konnten. Insgesamt muss ich zu dieser Phase der Doppelstunde zugeben, dass ich die Schülerinnen überfordert habe. Die mögliche Alternative, diesen Text an das Ende der Behandlung des Dramas zu stellen und von dort her zu problematisieren, bleibt mir jedoch erhalten, gerade weil die Besprechung noch oberflächlich war. 37 3.2 Die dritte Stunde (5. Stunde der Gesamtreihe) Thema: Vertiefung der Kenntnisse über das epische Theater anhand der Analyse des Textes „Das epische Theater“ von Bertolt Brecht 3.2.1 Planung der Unterrichtsstunde 3.2.1.1 Lernziele Stundenziel: Die Schülerinnen untermauern ihre Kenntnisse über das epische Theater theoretisch durch die Analyse des Textes „Das epische Theater“ von B. Brecht und erkennen so das politische Anliegen des epischen Theaters. Teilziele: 1) Die Schülerinnen verschaffen sich eine grobe Übersicht über die Struktur des Textes, indem sie sich auf eine mögliche Gliederung und Teilüberschriften einigen. 2) Die Schülerinnen beschreiben Abschnitt für Abschnitt den Inhalt und entwickeln Erklärungsansätze. Sie erkennen dabei das Neue des epischen Theaters und dessen von Brecht intendierten gesellschaftspolitischen Relevanzanspruch. 3) Die Schülerinnen lernen die Technik der Verfremdung als Hauptmerkmal des epischen Theaters kennen und wenden diese Kenntnis an, indem sie Wangs ersten Redebeitrag hinsichtlich seiner verfremdenden Wirkung untersuchen. 4) Die Schülerinnen wenden das Gelernte in häuslicher Arbeit selbständig an, indem sie das erste Bild nach V-Effekten und deren Wirkung untersuchen. 3.2.1.2 Überlegungen zur Sache und didaktische Reduktion Gegenstand der heutigen Stunde ist der Text „Das epische Theater“49 von Bertolt Brecht. Dieser Text ist in der Werkausgabe Teil der Sammlung der Schriften Über das nichtaristotelische Theater, die zwischen 1933 und 1941 entstanden. Dieser Text fasst das (politische) Anliegen des epischen Theaters am deutlichsten zusammen, sicherlich ein Grund, weshalb er auch in den meisten Schulbüchern für die Sekundarstufe II abgedruckt ist. Im ersten Abschnitt (Z. 1-13)50 weist Brecht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Grenzen zwischen Epik und Dramatik ohnehin fließend sind, das mögliche Missverständnis, bei dem Begriff „episches Theater“ handele es sich um ein Paradoxon, zurück. Dieser Abschnitt wird den Schülerinnen wenig Schwierigkeiten bereiten, da dies bereits zu den Ergebnissen der vorausgegangenen Doppelstunde gehörte. Der zweite Abschnitt (Z. 14-19) hingegen wird für die Schülerinnen erklärungsbedürftig sein. Brecht spielt mit den für seine neuen Mitteln der Bühnentechnik auf die den Schü49 50 B. Brecht: Das epische Theater, GW 15, 263-265. S. Anhang Arbeitsblatt 2 Ich zitiere hier nach dem den Schülerinnen augehändigten Arbeitsblatt. S. Anhang Arbeitsblatt 2 38 lerinnen bereits längst bekannten Techniken Drehbühne, Projektion, Verwendung filmischer Mittel auf die Inszenierungstechniken Max Reinhardts an, der diese aber zur Perfektionierung der Illusion einsetzte. Es wird meine Aufgabe sein, den Schülerinnen dies zu erläutern, um ihnen verständlich zu machen, dass Brecht sie mit völlig anderen Motiven einsetzt, was im folgenden Abschnitt (Z. 20-26) deutlich wird. Während es für Reinhardt darum ging, die neuen Bühnentechniken quasi als Untermalung der Handlung und als Mittel zur Schaffung der Illusion, dass das Dargestellte ein wirklich so stattfindender bzw. möglicher Vorgang ist, will Brecht sie einsetzen, um die „Umwelt“ selbständig in Erscheinung treten zu lassen. Der Begriff „Umwelt“ muss zum besseren Verständnis durch die Schülerinnen konkretisiert werden in dem Sinne, dass hier die sozialen und politischen Verhältnisse, unter denen viele Menschen leiden und wenige profitieren durch Einsatz der Bühnentechniken als Kontrast zur bzw. erklärende Verdeutlichung der dargestellten Bühnenhandlung eingesetzt werden. Der folgende Abschnitt (27-33) geht auf die konkreten Mittel des epischen Theaters ein. Der erste Satz „Die Bühne begann zu erzählen.“ ist den Schülerinnen bereits aus der Vorstunde bekannt, ebenso der Hinweis auf die veränderte Schauspieltechnik und deren Wirkung, so dass dieser Abschnitt für die Schülerinnen leicht verstehbar ist, aber die Möglichkeit bietet, im geplanten zusammenfassenden Tafelbild diese Mittel und deren Wirkungen noch einmal gründlich zu sichern. Der letzte Abschnitt behandelt die von Brecht intendierte Wirkung dieser Mittel - eine veränderte Haltung des Zuschauers. Brechts Hauptkritik an der Haltung des Zuschauers im „dramatischen Theater“ bezieht sich darauf, dass die dort intendierte Einfühlung in die Figuren folgenlos bleibt, weil auf diese Weise der Verlauf der Handlung, insbesondere in Tragödien als selbstverständlich und damit unveränderbar dargestellt werde. Im epischen Theater wird eben diese Einfühlung verhindert, weil der spezifische, nicht-illusorische Einsatz der neuen Bühnentechniken sowie die Verfremdungseffekte (leider liefert der Text diesen von Brecht erst später verwendeten Begriff nicht, sondern muss an dieser Stelle eingeführt werden) das Handeln der Menschen als von Zwängen des Gesellschaftssystems, aber nicht etwa durch schicksalhafte Gesetzmäßigkeiten, bestimmt zeigt. Der Zuschauer soll nicht mitfühlen, sondern das Geschehen wie ein Wissenschaftler distanziert verfolgen und auf diese Weise das scheinbar Selbstverständliche als veränderbar erkennen und zur Mitarbeit an eben dieser Veränderung aufgefordert werden. Es ist natürlich extrem fragwürdig, ob dies gelingt. Die zeitgenössischen Zuschauer waren durch das von Brecht kritisierte „kulinarische Theater“ etwa eines Max Reinhardt und die lange Tradition der von Aristoteles beinflussten Dramatik auf eine bestimmte Zuschauerhaltung konditioniert, die so einfach nicht verlassen werden kann. Sehgewohnheiten heutiger Zuschauer sind darüber hinaus durch den Spielfilm, der ebenfalls mit illusorischen Techniken arbeitet, bestimmt. Diese Kritik ist jedoch nicht Thema der heutigen Stunde, sondern wird in der fünften und sechsten der hier ausführlich dokumentierten Stunden sowie in der letzten Stunde der Gesamtreihe zur Sprache kommen. 39 3.2.1.3 Geplanter Stundenverlauf und Begründung der methodischen Entscheidungen Die Schülerinnen hatten als Hausaufgabe den Text vorbereitend zu analysieren. Ihnen ist das geforderte Verfahren bereits bekannt, so dass es mir sinnvoll erschien, anstelle konkreter Erarbeitungsfragen eine gründliche Textanalyse nach diesem Schema zu erstellen. Sie sollten eine Tabelle mit den Überschriften Gliederung (Angabe der Zeilennummern), Überschrift, Inhalt und Erklärung erstellen, wobei die letzte Spalte bei Verständnisschwierigkeiten teilweise offenbleiben durfte. Ein solches Verfahren erfordert eine sehr gründliche Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Abschnitt des Textes und macht den Schülerinnen schnell deutlich, wo sie konkrete Verständnisfragen haben, so dass es genügend Gesprächsanlässe für die Auswertung der Hausaufgabe im Unterricht gibt. Die Schülerinnen lernen so auch, einen schwierigen Text selbständig zu bearbeiten, so dass ein solches Verfahren auch ein Schritt zum Erwerb der Studierfähigkeit ist. Es besteht natürlich die Gefahr der Demotivierung, wenn zu viele Textteile in der häuslichen Vorarbeit ungeklärt bleiben, doch haben sie bereits mehrfach die Erfahrung machen dürfen, dass diese Verständnisprobleme klärbar sind und solche Formen häuslicher Vorarbeit noch keinem Perfektionsanspruch unterliegen. Allerdings ist es möglich und beinahe unvermeidlich, dass der Großteil dieser Stunde vom Unterrichtsgespräch bestimmt sein wird, weil die Schülerinnen auf der Klärung ihrer vielen Fragen bestehen werden. Einstieg Zunächst sollen die Schülerinnen Vorschläge zu einer sinnvollen Gliederung des Textes mittels Zeilenangaben und Überschriften machen, die der besseren Übersichtlichkeit halber an der Tafel festgehalten werden. Erarbeitung Damit wird eine einheitliche Gesprächsgrundlage geschaffen, von der aus in der Erarbeitungsphase der Text abschnittweise besprochen werden kann. Hier sollen die Schülerinnen jeweils den Inhalt jedes Abschnittes angeben und Vorschläge zur Erläuterung machen, die von mir fragend-entwickelnd bzw. durch meine Erläuterungen ergänzt werden. Es ist aus Zeitgründen nicht möglich, die komplette Tabelle an der Tafel zu dokumentieren, sondern Inhaltsbeschreibung und Erklärung können auch mündlich gesichert werden. Im Laufe der Erarbeitungsphase wird ein Tafelbild angefertigt werden, in dem Anliegen, Mittel und Wirkung des epischen Theaters zusammengefasst dargestellt sind. Auf diese Weise haben die Schülerinnen einen Überblick, der zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, aber auf der Grundlage des Textes und des in der Vorstunde erarbeiteten, einen Überblick über wesentliche Bestandteile der Theorie des epischen Theaters liefert. Um den kompletten geplanten Verlauf der Stunde gewährleisten zu können, dürfte die Erarbeitungsphase nicht wesentlich länger als zwanzig Minuten in Anspruch nehmen. Es ist aber möglich, dass sie die gesamte Stunde beansprucht, zum einen wegen der 40 Schwierigkeiten des Textes, zum anderen, weil die Schülerinnen bereits sechs Stunden hinter sich haben und ihre Konzentrationsfähigkeit geringer sein wird als zu einer früheren Tageszeit. Ich möchte den Text aber auf jeden Fall in einer Einzelstunde bearbeiten, da ich die Doppelstunden für die handlungsorientierte und daher zeitintensivere Erarbeitung des Textes verwenden muss, zumal in diesem Quartal zwei Doppelstunden ausfallen (Abi-Streich und verlängertes Himmelsfahrtswochenende). Vertiefung Es wäre natürlich wünschenswert, zur Vertiefung der erarbeiteten Theorie noch in der Stunde selbst diese Kenntnisse auf den Dramentext selbst anzuwenden, doch ist es auch vertretbar, bei Zeitmangel darauf zu verzichten, da dies auch Bestandteil der Hausaufgabe sein wird und in der Folgestunde noch einmal thematisiert wird. Sollte dennoch Zeit dafür verbleiben, sollen die Schülerinnen Wangs ersten Redebeitrag, der bereits in der Vorstunde als Beispiel für ein „episches“ Element genannt wurde hinsichtlich seiner verfremdenden Wirkung untersuchen. Falls die Zeit ausreicht, soll dies in Einzelarbeit geschehen, damit auch die weniger leistungsstarken Schülerinnen genügend Bedenkzeit erhalten; zur Not ist dies aber auch im Unterrichtsgespräch möglich. Auswertung In der Auswertungsphase wird Wangs erster Redebeitrag hinsichtlich seiner Funktion für das Stück und seiner verfremdenden Wirkung analysiert. Er tritt hier vor das Publikum, stellt sich selbst sowie die erbärmliche Situation Sezuans vor. Hierbei erfährt der Zuschauer bereits wichtige Elemente der Vorgeschichte, die im „dramatischen Theater“ in Rede und Gegenrede präsentiert worden wären. Dies wurde bereits in der ersten Stunde der Reihe anhand der Frage, ob das Vorspiel Expositionscharakter hat, angesprochen, so dass die Schülerinnen hieran schnell den epischen Charakter dieses Redebeitrags erkennen werden. Wang stelllt sich als armen Menschen vor, wie auch die Armut in Sezuan überhaupt so groß ist, dass „uns nur noch die Götter helfen können.“ Im Hintergrund wird dies durch vorübergehende Personen - vom Lastentragen gedrückte Arbeiter, ein Angestellter und zwei „Herren“, mit einem „brutalen Ausdruck wie Leute, die viel prügeln“ - verdeutlicht. Der Hintergrund bekommt also hier die Funktion, die Schilderung der Lage Sezuans zu verdeutlichen, wobei der Blick der Zuschauer von der redenden Figur ausdrücklich dorthin gelenkt wird. Des weiteren aber ist das Folgende - das Auftreten der Götter - ein komischer Kontrast zu den von Wang geäußerten Erwartungen an dieselben. Wangs Treten vor das Publikum hat also die Funktion, den Zuschauer in die Handlung einzuführen, andererseits werden Teile seiner Schilderung durch das Folgende, das überwiegend in szenischer Darstellung, d.h. mit „dramatischen“ Mitteln dargestellt wird, konterkariert. Hausaufgabe Als Hausaufgabe sollen die Schülerinnen das erste Bild nach V-Effekten und deren Wirkung untersuchen, um das bisher über die Theorie des epischen Theaters Gelernte anzuwenden. In der Regel wird vor allem das achte Bild als Musterszene für die Untersu41 chung der V-Effekte herangezogen, doch würde dies einen zu weiten Vorgriff auf die in der Gesamtreihe geplante exemplarische Analyse einzelner Bilder und Zwischenspiele bedeuten. Es ist m.E. unbedingt nötig, das erste Bild auch unter dem Gesichtspunkt der dort dargestellten Situation der Besitzlosen und ihrer typischen Verhaltensweisen zu untersuchen, um auf dieser Grundlage in die Brechts Werken zugrundeliegende Theorie des Marxismus einzuführen, die nur wenigen Schülerinnen bekannt ist. Im günstigsten Falle erwarte ich folgendes Ergebnis der Hausaufgabe: 1)Wendung ans Publikum, z.B. - S. 18: Shen Te berichtet dem Publikum, was in den drei Tagen seit dem Götterbesuch geschehen ist ® Zeitraffung, Rückblende - S. 19: Shen Te klärt Publikum über die Familie auf ®Einbezug der Vorgeschichte - S. 21: Shen Te in freien Rhythmen ans Publikum ® Rechtfertigung des eigennützigen Verhaltens der Bittsteller 2.“Lied vom Rauch“ (S. 27f.): Das Lied ist einerseits Teil der Szenenhandlung (Die Frau fordert ihre Familie auf, etwas zu unterhalten, andererseits unterbricht sie diese: Der Inhalt des Liedes nicht unterhaltend, sondern ernsthaft; Als Lied über die traurige Lebensgeschichte der achtköpfigen Familie, die Not zur Kriminalität zwang, fasst es die Aussage der Szene zusammen. Das Publikum wird durch die V-Effekte immer wieder zur Distanzierung vom Bühnengeschehen aufgefordert; die Botschaft des Stücks wird zusammengefasst und deutlich präsentiert. Der Zuschauer soll die Situation, die auf der Bühne dargestellt wird, nicht als gegeben hinnehmen, sondern über Mittel zu deren Überwindung nachdenken. 42 3.2.1.4 Verlaufsplan Phase/Ziele Unterrichtsgeschehen Einstieg TZ 1 5’ Erarbeitung TZ 2 TZ 3 Besprechung der Hausaufgabe: Vorschläge zur Gliederung des Textes mit Überschriften Arbeitsformen/ Medien SV/UG abschnittweise Analyse des Inhalts des Textes: SV/UG Schülerinnen beschreiben den Inhalt und erläutern evtl. TA mit Hilfe von Impulsen und Lehrerinformationen unklare bzw. erklärungsbedürftige Textbestandteile Hierbei werden wesentliche Ziele und Mittel des epischen Theaters an der Tafel zusammengefasst Schülerinnen untersuchen Wangs ersten Redebeitrag hin- PA Dramentext: sichtlich seiner verfremdenden Wirkung 20’ Vertiefung TZ 4 Vorspiel 10’ UG Auswertung Schülerinnen tragen ihre Ergebnisse zusammen Dramentext: TZ 5 Vorspiel 10’ Hausaufga- Untersuchen Sie das erste Bild epischen Mitteln und er- Sch.Hefte läutern Sie deren Wirkung! be 3.2.1.5 Geplantes Tafelbild Das epische Theater: Mittel, Ziele und Wirkung Anliegen des epischen Theaters: Die Umwelt (soziales und politisches System), selbständig in Erscheinung treten lassen Mittel des epischen Theaters: - Einsatz neuer Bühnentechniken (Projektion, Drehbühne, filmische Techniken) - neue Schauspieltechniken: Schauspieler soll sich nicht völlig mit Rolle identifizieren - Wendung der Schauspieler ans Publikum (Selbstvorstellung, Songs, lyrische Einlagen) - Projektion von zusätzlichen Hintergrundinformationen Þ Stück präsentiert nicht nur eine Geschichte, sondern steht im Zusammenhang mit dem Zeitgeschehen Wirkung auf den Zuschauer: VERFREMDUNGSEFFEKT Þ jeder Versuch sich in die Figur einzufühlen wird durch V-Effekte zunichte gemacht Þ wird ständig aufgefordert, über das Dargestellte nachzudenken und Kritik zu üben Þ er erkennt, dass die dargestellte Handlung unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen anders verlaufen wäre 43 3.2.2 Durchführung und begleitende Reflexion der Unterrichtsstunde Die Stunde ist im Wesentlichen wie geplant verlaufen; die gesetzten Lernziele habe ich erreicht. Wie ich bereits in der Planung befürchtet hatte, nahm jedoch die Besprechung des Textes gut 35 Minuten in Anspruch, allerdings nicht aufgrund von Verständnisschwierigkeiten, sondern weil einige Schülerinnen Kritik an der Tragfähigkeit der Brechtschen Theorie geäußert haben, deren kurze Diskussion ich nicht unterbinden wollte. Dadurch fand die Anwendung der Theorie auf den Wang-Auftritt im Vorspiel nur noch im Unterrichtsgespräch statt. Einstieg In der Einstiegsphase zeigte sich, dass die Schülerinnen den Text gründlich bearbeitet haben. Einige wollten zunächst Verständnisfragen klären, die ich aber zurückgestellt und auf die abschnittsweise Besprechung des Textes verwiesen habe. Die Schülerinnen erklärten sich mit dem von mir vorgeschlagenen Verlauf der Stunde einverstanden. Relativ schnell einigten sich die Schülerinnen auf eine Gliederung des Textes mit entsprechenden Überschriften, die ich der besseren Übersichtlichkeit halber an der Tafel dokumentiert habe: 1) Z. 1-13: Epik und Dramatik als nur scheinbare Gegensätze 2) Z. 14-21: neue Bühnentechniken verändern das Theater 3) Z. 22-26: Neue Rolle der Umwelt im Theater 4) Z. 27-33: Mittel des epischen Theaters 5) Z. 34-38: Wirkung des epischen Theaters auf die Zuschauer (Entfremdung) 6) Z. 39-42: Zusammenfassung: Das „Natürliche“ wird auffällig Erarbeitung Die Inhaltsangabe und Erklärung des ersten Abschnittes bereitete den Schülerinnen keine Schwierigkeiten. Sie grenzten zur Erläuterung noch einmal die Begriffe „Epik“ und „Dramatik“ voneinander ab und erläuterten, dass Brecht sich hier gegen die Kritik wehrt, der Begriff „episches Theater“ enthalte einen Widerspruch, da auch epische Texte dramatische Elemente enthielten und umgekehrt. Zur Beschreibung des Inhalts des zweiten Abschnitts stellten die Schülerinnen fest, dass moderne Bühnentechniken dazu dienen, die Begrenztheit der Darstellungsmöglichkeiten auf der Bühne zu erweitern, indem z.B. die Begrenzung der dargestellten Zeit durch erzählende Elemente aufgehoben werden kann. Auf Nachfrage konkretisierten sie diese Techniken (Projektion, Drehbühne, filmische Techniken wie Rückblenden). An dieser Stelle erklärte ich den Schülerinnen, dass diese Techniken natürlich nicht nur Mittel des epischen Theaters seien. Als Beispiel erzählte ich ihnen von Inszenierungen Max Reinhardts, der diese Mittel zur Perfektionierung der szenischen Darstellung auf der Bühne einsetzte, was Brecht als „kulinarisches Theater“ kritisiert hat. Um dies zu verdeutlichen, leitete ich zum dritten Abschnitt über, in dem das Anliegen des epischen Theaters, nämlich die „Umwelt“ selbstständig zur Geltung zu bringen, zur Sprache kommt. Hier musste zunächst der Begriff „Umwelt“ geklärt werden. In einem kurzen Gespräch einigten wir uns darauf, dass damit die soziale Lage der Menschen und das politische System 44 gemeint seien, dessen kritikauslösende Darstellung das Hauptanliegen Brechts sei. Auf meine Frage, was denn das Neue daran sei, äußerten die Schülerinnen, dass der Zuschauer die Umwelt nicht nur aus der Perspektive der Figuren wahrnimmt, sondern sich ein eigenes Urteil bilden kann, sowohl über das Verhalten der Figuren, die dieser Umwelt ausgesetzt sind als auch über diese Umwelt selbst. An dieser Stelle begann ich mit dem zusammenfassenden Tafelanschrieb. Als stummen Impuls habe ich bei der Zwischenüberschrift „Mittel des epischen Theaters“ den Anschrieb unterbrochen und abwechselnd auf die vorher angeschriebenen Gliederungspunkte 2) und 4) gedeutet. Dadurch wurde den Schülerinnen deutlich, dass der Einsatz der neuen Bühnentechniken durch Brecht zu diesen Mitteln gehört, allerdings mit ganz anderer Intention als bei Reinhardts Inszenierungen. Es gehe nicht um die Perfektionierung der Illusion (was so wörtlich von einer Schülerin geäußert wurde!), sondern dem genannten Anliegen des epischen Theaters zu dienen, die Umwelt selbstständig in Erscheinung treten zu lassen, etwa durch die Projektion von Hintergrundinformationen, die das Verhalten der Figuren vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Lage der dargestellten Gesellschaft erklärbar machen. An dieser Stelle habe ich die Schülerinnen noch einmal auf das Ende des zweiten Abschnittes zurückverwiesen (Z. 19-21). Da die Schülerinnen bei der Unterrichtsreihe zum „Nathan“ auch den Begriff „Tragik“ kennengelernt hatten, kamen sie rasch darauf, dass es Brechts Anliegen ist, den Verlauf der Dramenhandlung nur insofern als tragisch verstanden zu wissen, als dass die Figuren aufgrund der gesellschaftlichen Umstände scheitern, die aber gerade nicht schicksalhaft und unausweichlich, sondern veränderbar sind. Nach dieser Klärung wurde anhand des vierten Abschnitts der Tafelanschrieb um die Mittel des epischen Theaters erweitert. Hierbei wurde die von Brecht geforderte Schauspieltechnik erörtert: Nachdem eine Schülerin bei der Inhaltswiedergabe des Textes erläuterte, dass sich der Schauspieler nach Brecht mit seiner Rolle nicht vollkommen identifizieren solle, sondern immer wieder Abstand zur Figur nehmen müsse, wandte eine andere ein, dass der Schauspieler sich aber dann erst recht besonders stark in die Figur einfühlen müsse. Im Gespräch darüber erkannten die Schülerinnen, dass beides richtig sei: Die Schauspieler müssen im szenischen Spiel die Figur tatsächlich möglichst real repräsentieren, aber in der Wendung zum Publikum ihre Spielweise verändern und aus der Rolle treten. Ich verwies in diesem Zusammenhang auf, dass Brecht in einem anderen Zusammenhang51 genau diese Problematik erörtert: Die Schauspieler müssen sich insoweit in die Figuren einfühlen, dass sie ihre Eigenschaften darstellen können, jedoch nicht, um dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, dass der Bühnenvorgang in der Wirklichkeit stattfinde. Er muss nach Brecht jeden Versuch der Einfühlung des Zuschauers in die Figur immer wieder durch Distanznahme unterbrechen. Nach der Sammlung der Mittel des epischen Theaters leitete ich zur Wirkung dieser Mittel auf den Zuschauer über. Es fiel den Schülerinnen leicht, diese Wirkung zu be51 Vgl. B. Brecht, Neue Technik der Schauspielkunst. GW 15, 341-357, hier 341f. 45 schreiben („der Zuschauer soll sich nicht kritiklos in die Figur einfühlen“; „er soll sich nicht einfach wie in einem romantischen Film berieseln lassen“; „er wird aus der Illusion herausgerissen“; „er wird mit der Nase darauf gestoßen, dass das Stück der Gesellschaftskritik dient und das er mitdenken muss und Schlüsse für das reale Leben daraus ziehen muss“). Auch den Inhalt letzten Abschnitt des Textes konnten die Schülerinnen als intendierte Wirkung der epischen Mittel interpretieren: Durch den Zwang zum Nachdenken über die Bühnenhandlung nimmt der Zuschauer diese nicht als selbstverständlich wahr, sondern denkt über mögliche Ursachen des Handelns der Figuren nach. Dieser Aspekt konnte durch die Frage einer Schülerin, was denn mit dem „Natürlichen“ gemeint sei, noch vertieft werden, die ich an die Lerngruppe zurückgegeben habe. Die Schülerinnen erkannten, dass das „Natürliche“ das scheinbar Selbstverständliche ist, z.B. die sozialen Umstände, denen die Figuren ausgeliefert sind, die aber nach Brecht alles andere als natürlich, sondern veränderbar sind. An dieser Stelle habe ich den Begriff Verfremdungseffekt eingeführt mit dem Impuls „Brecht hat die Wirkung dieser Mittel als Verfremdungseffekt bezeichnet.“ Durch darauf folgenden Schülerinnenäußerungen wurde deutlich, dass sie den Begriff auf die genannten Aspekte anwenden konnten. Eine Schülerin kritisierte, dass das epische Theater aber doch nur Menschen anspreche, die ohnehin reflexionsfähig seien, und diejenigen, „die es eigentlich nötig hätten“, davon eher abgestoßen würden. Dies wurde von anderen Schülerinnen bekräftigt, die z.B. feststellten, dass man sich im Theater ja auch amüsieren wolle und Brechts Theater doch sehr gezwungen und plakativ wirke. Ich habe dies durch den Hinweis akzentuiert, dass die Schülerinnen hier eine oft gegen Brecht geäußerte Kritik geäußert hätten, dass Brecht aber der Meinung sei, dass auch das epische Theater, wie er es wörtlich formuliert, einen Genuss biete, nämlich den Genuss der Erkenntnis, was die Schülerinnen z.T. nachvollziehen konnten, größtenteils aber mit Grinsen quittierten. Es zeigt sich hier also, dass die Schülerinnen bereits jetzt in der Lage sind, auch Anfragen an die Theorie des epischen Theaters zu formulieren, auf die ich am Ende der gesamten Reihe noch einmal eingehen werde, damit die Argumente besser am Drama selbst belegt werden können. Vertiefung/Auswertung Die Vertiefungsphase konnte nicht wie geplant in intensiver Partnerarbeit durchgeführt werden, doch blieb noch genügend Zeit, zumindest im Gespräch einige Aspekte des Anliegens des epischen Theaters im ersten Auftritt Wangs wiederentdecken zu können. Die Schülerinnen nannten alle Aspekte, die ich auch als Ergebnis der Partnerarbeit erwartet hätte: Als erstes wurde die direkte Wendung ans Publikum thematisiert („Wang stellt sich und die Situation Sezuans vor“), was eine Schülerin hervorragend erläuterte: „Er tritt vor die Bühne, als wäre er kein Spieler, sondern tut so, als würde er auf die anderen 46 Figuren zeigen“, woraufhin andere Schülerinnen bemerkten, dass Wang dadurch den Zuschauer zum einen dazu bringt, dass der Zuschauer die Vorübergehenden genau beobachtet und sich fragt, welche davon wohl die Götter sein könnten und dabei gleichzeitig feststellt, dass hier Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen vorgestellt werden, was man ohne Wangs zeigende Haltung vielleicht übersehen hätte. Eine Schülerin äußerte sehr treffend, dass Brecht ja schließlich wolle, dass man über das Gesehene nachdenkt und Wang mache „eben mal vor, wie das geht.“ Zusammenfassende Stundenkritik Ich bin nur insofern mit der Stunde zufrieden, als das die inhaltlichen Ziele erreicht werden konnten, doch leidet sie natürlich darunter, dass dies ausschließlich im Unterrichtsgespräch geschah. Das Gespräch verlief zwar lebhaft und wohl auch für alle Schülerinnen mit Erkenntnisgewinn, doch war die Stunde sowohl für mich als auch für die Schülerinnen sehr anstrengend. Gegen Ende der Stunde ließ die Aufmerksamkeit stark nach, so dass das Gespräch nur noch von weniger als der Hälfte der Schülerinnen getragen wurde und andere sich auch auf Aufforderung nicht mehr äußerten. Ich bin mir zwar sicher, dass die Schülerinnen den Text gut verstanden haben, doch die konkrete Anwendung auf das Drama wird einigen sicherlich noch Schwierigkeiten bereiten. Ich sehe allerdings noch immer keine Alternative zum Verlauf dieser Stunde, weil ich die gründliche Analyse des Textes für unabdingbar halte. Eine schnellere Erarbeitung des Textes anhand von Leitfragen hätte sicherlich nicht bei allen Schülerinnen zu einer so intensiven Auseinandersetzung mit ihm geführt, die durch die häusliche Vorbereitung verlangt war, dadurch aber auch einer ausführlichen Besprechung bedurfte. Allerdings hätte bei der Besprechung des Textes Zeit einsparen können, wenn ich die Abschnittsgliederung selbst vorgegeben hätte, doch halte ich die inhaltliche Strukturierung eines Textes durch das Aufsuchen von Sinnabschnitten und Formulieren von Überschriften für einen wichtigen ersten Schritt zur Analyse eines Textes und daher für eine Leistung, die die Schülerinnen selbst erbringen müssen. 47 3.3 Die vierte und fünfte Stunde (12. und 13. Stunde der Gesamtreihe) Thema: Der Aufstieg Suns auf der Grundlage kapitalistischer Ausbeuterei- Das 8. Bild als Musterszene des epischen Theaters 3.3.1 Planung der Unterrichtsstunde 3.3.1.1 Lernziele Stundenziel: Die Schülerinnen wenden ihre Kenntnisse zur Theorie des epischen Theaters an, indem sie das 8. Bild als Musterszene der Theorie mittels verschiedener Verfahren analysieren und interpretieren. Teilziele: 1) Die Schülerinnen erkennen die Funktion des Bühnenbildes zur Verdeutlichung der Arbeitsbedingungen in Shui Tas Fabrik, indem sie ein Szenenfoto aus einer Inszenierung des Dramas beschreiben und bewerten. 2) Die Schülerinnen erkennen die Struktur der Szene (Montagetechnik, ähnlich wie bei Dokumentarfilmen), indem sie sie gliedern. 3) Die Schülerinnen entdecken durch produktives Umarbeiten der Szene sowie den Vergleich mit dem Original die Perspektivität von Frau Yangs Bericht und verstehen somit den durch die Widersprüchlichkeit der Darstellungsebenen erreichten V-Effekt. 4) Die Schülerinnen erkennen, dass der Song eine doppelte Funktion innerhalb der Szene hat (Parabel auf Sun, Mittel zur Steigerung des Arbeitstempos). 3.3.1.2 Überlegungen zur Sache und didaktische Reduktion Nicht wenige Schülerinnen haben sich, wie im Verlauf der Unterrichtsreihe deutlich wurde, schwer damit getan, Shui Tas Handlungsweise zu verstehen. Sie interpretierten sein Verhalten als angemessen und vernünftig; so fanden sie es z.B. durchaus vertretbar, dass Shui Ta im 2. Bild die Forderungen des Schreiners herunterhandelt und begriffen erst nach langer Diskussion, dass Shui Ta ihn durch Erpressung um seinen verdienten Lohn und damit in schwere Existenznot gebracht hat. Eine Schülerin äußerte sich auch lobend über die Errichtung der Tabakfabrik: Shui Ta habe den Armen Arbeit gegeben, was doch sinnvoller sei als Almosen. Dabei übersahen sie völlig die unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die im 7. Bild bereits angedeutet werden und im 8. Bild v.a. in den Regieanweisungen zum Bühnenbild („Hinter Gittern hocken, entsetzlich zusammengepfercht, einige Familien“, S. 111) erkennbar werden. Sie haben mit ihrem Urteil unkritisch Frau Yangs Perspektive übernommen und nicht begriffen, dass Frau Yangs Bericht im völligen Kontrast zum Bühnenbild und den szenischen Rückblenden steht. Diese Verständnisschwierigkeiten sind vor dem Hintergrund der Lebenssituation der Schülerinnen nachvollziehbar. Als Kinder der sozialen Marktwirtschaft ist ihnen die marxisti48 sche Kapitalismuskritik nicht mehr einleuchtend. Außerdem kann durch bloßes Lesen der Szene ihre Bauart - die gegenseitige Verfremdung der verschiedenen Darstellungsebenen Bühnenbild, Bericht, szenische Handlung und Song - übersehen werden. Dies ließe sich leicht durch das Ansehen einer Inszenierung korrigieren, doch die einzige z.Zt. zugängliche Inszenierung des Weimarer Nationaltheaters von 1988 beruht auf der Santa Monica-Fassung, in der das 8. Bild völlig anders gestaltet ist. Daher müssen andere Wege zum besseren Verständnis des Textes gefunden werden. Möglich wäre es hierbei, die Schülerinnen Vorschläge zu Bühnenbild und Inszenierung des 8. Bildes sammeln oder es gar selbst inszenieren zu lassen, doch halte ich dieses Verfahren für zu zeitaufwendig. Ich habe mich daher dafür entschieden, die Schülerinnen einmal die Perspektive eines Arbeiters in Shui Tas Fabrik einzunehmen, indem sie die Kommentare Frau Yangs zu Suns Aufstieg aus dessen Sicht umformulieren. Damit wird ihnen deutlich, dass Frau Yangs Bericht parteiisch ist und im Kontrast zur dargestellten szenischen Handlung steht. Auf dieser Grundlage erkennen die Schülerinnen die verfremdende Wirkung dieser Kontrastierung. Ursprünglich hatte ich diese Umgestaltung als vorbereitende Hausaufgabe geplant, was aber schon aus organisatorischen Gründen nicht möglich war, da die Schülerinnen in der Vorstunde die Klausur geschrieben haben. Darüber hinaus hätte dieser Produktionsauftrag vor dem Hintergrund der dargestellten Verständnisschwierigkeiten eine Überforderung einiger Schülerinnen bedeutet, weil er voraussetzt, dass es ihnen klar ist (bzw. bei der Bearbeitung klar wird), dass ein Arbeiter zu einer anderen Beurteilung des Aufstiegs Suns kommen muss. Deshalb möchte ich ihnen mittels eines Szenenfotos aus der Mailänder Inszenierung einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen in Shui Tas Fabrik vermitteln. Vor diesem Hintergrund wird ihnen der Sinn des Produktionsauftrages sicherlich deutlicher werden. 3.3.1.3 Geplanter Verlauf und Begründung der methodischen Entscheidungen Einstieg Zu Beginn der Stunde präsentiere ich den Schülerinnen als stummen Impuls ein Szenenfoto zum 8. Bild aus der Mailänder Inszenierung des Dramas von 1981 durch Giorgio Strehler.52 Strehler hat die Fabrik Shui Tas wie ein KZ auf die Bühne gebracht. Man sieht gebeugte Menschen hinter einem Gitterzaun, an dem in drei riesige Schilder mit der Aufschrift „SHUI-TA TOBACCO“, die an amerikanische Leuchtreklamen erinnern, angebracht sind. Durch diese plakative Art der Bühnenbildgestaltung werden die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Shui Tas Fabrik überdeutlich. Die Schülerinnen können sich zunächst spontan zu dem Foto äußern. Dabei erwarte ich, dass sie es relativ schnell dem 8. Bild zuordnen werden. Eine genauere Beschreibung des Fotos soll zur Diskussion über die Angemessenheit von Strehlers Bühnenbild überleiten. Gerade die Schülerinnen, die Shui Tas Aktionen positiv bewertet haben, werden möglicherweise die KZ-ähnliche Gestaltung der Fabrik für überzogen halten, doch ein Blick in die erste 52 Abgedruckt in: Knopf, Jan (1982), 217. S. Anhang S. V. 49 Regieanweisung zum 8. Bild wird zeigen, dass Strehlers Interpretation durchaus dem Text entspricht. Damit ist bereits ein wesentlicher Teil der Komposition des 8. Bildes geklärt: Das Bühnenbild, das bereits zu Beginn der Szene den Zuschauer die Perspektivität von Frau Yangs Darstellung wahrnehmen lässt. Im Rahmen der Besprechung des Fotos soll zugleich eine kurze Inhaltsbeschreibung und Einordnung der Szene in den Handlungszusammenhang in die Detailinterpretation der Szene einleiten. Erarbeitung I Zunächst sollen die Schülerinnen sich einen Überblick über die Szene verschaffen, indem sie in Partnerarbeit deren Aufbau untersuchen. Dazu gebe ich ihnen den Auftrag, die Szene zu gliedern. Dieser Arbeitsschritt ist ihnen bereits als vorbereitendes Verfahren der Textinterpretation bekannt. Ich wähle für diese Untersuchung die Partnerarbeit als Sozialform, weil die Schülerinnen dadurch einerseits Zeit haben, den Text noch einmal in Ruhe zu lesen und andererseits sich gegenseitig bei der Gliederung unterstützen können. Auswertung Die Ergebnisse werden zusammengetragen und in eine schematische Darstellung der Komposition der Szene überführt (vgl. TA 1). Dabei wird deutlich, dass das 8. Bild wie ein Dokumentarfilm aufgebaut ist, ein kommentierender Bericht, unterbrochen durch vier szenische Rückblenden, deren letzte durch einen Song wiederum unterbrochen wird. Dieses Schema ist zunächst nur beschreibend; der Kontrast der Kommentare Frau Yangs zur szenischen Bühnenhandlung wird den meisten Schülerinnen an dieser Stelle noch nicht deutlich sein. Erarbeitung II Als nächstes sollen die Schülerinnen alle Textteile des 8. Bildes, in denen sich Frau Yang ans Publikum wendet, durch Kommentare des ehemaligen Schreiners Lin To ersetzen. Dieser gehört zu den Opfern sowohl des Aufstiegs Shui Tas als auch Suns. Er ist daher die Figur, die am geeignetsten ist, die Perspektivität von Frau Yangs Bericht durch Kontrastierung mit deren Perspektive herauszustellen. Dadurch wird natürlich gerade der Kontrast von Frau Yangs Bericht zur gezeigten Handlung nivelliert, so dass die Umgestaltung des Textes durch die Schülerinnen den V-Effekt zerstört. Aber gerade dadurch kann dieser im Vergleich der Umgestaltungsvorschläge mit dem Originaltext um so deutlicher hervortreten. Mittels dieses Produktionsauftrages tun die Schülerinnen nämlich genau das, was Brecht von seinem Publikum fordert. Die Kommentierung der Szenen aus der Perspektive einer Figur nötigt den Zuschauer den „Bericht mit dem Berichteten, das Gehörte mit dem Sichtbaren, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu vergleichen“53 und dadurch zu einer eigenen Position zu kommen, die freilich klar gelenkt ist: er soll die unmenschlichen Arbeitsbedingungen im Kapitalismus erkennen und kritisieren. 53 Schneidewind/Sowinski, 106. 50 Auswertung II Zur Auswertung der Ergebnisse zu Beginn des zweiten Teils der Doppelstunde sollen die Schülerinnen den Text mit verteilten Rollen lesen. Dabei wird die Lesung jeweils an den Stellen unterbrochen, an denen Textteile zu verändern waren, um verschiedene Lösungen zu hören, auf ihre Angemessenheit zu überprüfen und mit dem Original zu vergleichen. Anschließend soll zusammenfassend diskutiert werden, warum Brecht gerade Frau Yang die Bühnenhandlung kommentieren lässt. Wäre seine Intention nicht viel deutlicher geworden, wenn Kommentar und Bühnenhandlung einander ergänzen anstatt sich zu widersprechen? Durch die Erörterung dieser Fragestellung sollen die Schülerinnen erkennen, dass die intendierte Wirkung gerade durch die Widersprüchlichkeit der Darstellungsebenen erreicht werden soll: Durch die gegenseitige Verfremdung der Darstellungsebenen werden die katastrophalen Arbeitsbedingungen erst augenfällig und nötigen den Zuschauer zu einer von Frau Yang abweichenden Stellungnahme zum Gesehenen. Umgekehrt wird damit die Beurteilung des Frau Yangs als systemerhaltend entlarvt. Vertiefung Nachdem nun bereits die Beziehung dreier verschiedener Darstellungsebenen dieser Szene - Bühnenbild, Bericht Frau Yangs und szenische Rückblenden - erarbeitet worden sind, muss nun noch zu Vervollständigung der Gestaltung des 8. Bildes das „Lied vom achten Elefanten“ untersucht werden, welches auf eine weitere Weise das Bühnengeschehen kommentiert. Auf eine genauere Analyse hinsichtlich der stilistischen Komposition des Liedes kann verzichtet werden; wichtiger ist es, Inhalt und dramatische Funktion des Liedes zu untersuchen. Dies kann aus Zeitgründen nur im Unterrichtsgespräch geschehen. Dabei soll herausgearbeitet werden, dass das Lied im doppelten Sinne eine Parabel ist, textimmanent ist es als Kritik an Sun und dem Ausbeuter Shui Ta zu verstehen, textübersteigend als Kritik am System der Ausbeutung überhaupt. Dies soll durch Gegenüberstellung von Bild- und Deutungsebene im Tafelanschrieb visualisiert werden. Anschließend soll das Gespräch auf die Funktion des Liedes für die Szene gelenkt werden. Zunächst ist es ein weiterer Kommentar der Szenenhandlung, diesmal aus der Arbeiterperspektive, darüber hinaus ist er aber auf befremdliche Weise mit der Szenenhandlung verfugt, befremdlich insofern, als Sun lachend in den Gesang einfällt und durch Händeklatschen das Tempo nicht nur des Liedes, sondern auch der Arbeitsleistung beschleunigt. Er funktioniert also den Protest der Arbeiter zu Steigerung des Arbeitstempos um. 51 Zusammenfassung Zur mündlichen Ergebnissicherung sollen die Schülerinnen zum Abschluss der Doppelstunde zusammenfassen, inwiefern das 8. Bild als Musterszene des epischen Theaters gelten kann. Hierdurch werden die einzelnen Arbeitsschritte der in dieser Doppelstunde geleisteten Interpretation zusammengeführt. 3.3.1.4 Verlaufsplan Phase/Ziele Unterrichtsgeschehen Einstieg TZ 1 5’ Erarbeit. I TZ 2 10’ Auswert. I TZ 2 10’ Erarb. II TZ 3 20’ Auswert. II TZ 3 20’ Vertiefung Arbeitsformen/ Medien L. präsentiert Szenenfoto zum 8. Bild aus der Mailänder Impulsunt. Dramentext: Inszenierung Vorspiel spontane Sch.-äußerungen Sch. beschreiben das Bild UG Sch. ordnen es dem 8. Bild begründet zu Sch. beschreiben kurz den Inhalt des 8. Bildes und ordnen es in den Handlungszusammenhang ein Sch. beurteilen Angemessenheit des dargestellten Bühnenbilds Sch. erarbeiten stichpunktartig den Aufbau des 8. Bildes PA durch Erstellen einer Gliederung Text Sch.Hefte Sch. tauschen ihre Ergebnisse aus; Entwicklung eines Ta- UG felbildes zum Aufbau des 8. Bildes Text Sch.Hefte TA 1 Sch. ersetzen alle Textteile, in denen Frau Yang sich ans PA Publikum wendet, durch Kommentare des Schreiners Lin Text, To Sch.Hefte Szen. Lesen des Textes mit verteilten Rollen, dabei wird SV/UG Lektüre jeweils an den zu veränderten Textstellen unter- Text, brochen, um mehrere Umarbeitungsvorschläge zu hören Sch.Hefte und sie nach ihrer Angemessenheit zu bewerten und mit dem Original zu vergleichen Diskussion der verfremdenden Wirkung der Kontrastierung von Frau Yangs Bericht mit den szenischen Rückblenden im Hinblick auf die Autorenintention Sch. liest „Lied vom achten Elefanten“ vor kurzes Gespräch über Thema des Liedes und Charakterisierung als Parabel Analyse des Liedes im Hinblick auf Bild- und Deutungsebene TZ 4 Erörterung der Stellung des Liedes in der Szene (dramat. 20’ Funktion, Wirkungsabsicht) Zusammenf. Sch. fassen zusammen, inwiefern das 8. Bild als Muster5’ szene des epischen Theaters angesehen werden kann SV UG TA 2, Sch.Hefte UG 3.3.1.5 geplante Tafelbilder 52 TA 1: Aufbau des 8. Bildes Bericht Frau Yangs über den Aufstieg Suns in der Tabakfabrik Song Szene 1 Vorstellung Suns bei Shui Ta Szene 2 Sun als Arbeiter Szene 3 Sun bei der Lohnauszahlung Szene 4 Sun als Aufseher TA 2: Lied vom 8. Elefanten Bildebene Deutungsebene textimmanent textübersteigend Herr Dschin Shui Ta Fabrikbesitzer 7 Elefanten Arbeiter in Shui Tas abhängige Arbeiter Fabrik 8. Elefant Sun Verräter der Arbeiterklasse 3.3.2 Durchführung und begleitende Reflexion der Doppelstunde Die Doppelstunde ist in ihren wesentlichen Teilen wie geplant verlaufen, wobei allerdings die Besprechung des Songs ein wenig zu kurz kam, weil die Produktionsphase etwas länger gedauert hat als geplant. Einstieg Die Schülerinnen begannen nach kurzem Überlegen mit der Äußerung spontaner Assoziationen („Man sieht schwer arbeitende Menschen“, „Stacheldraht und Gitter erinnern an ein Arbeitslager, Gefangenenlager“; „ebenso die Scheinwerfer“; „Schild Shui Ta Tobacco“ steht für Shui Tas Aufstieg und sein Ansehen im wirtschaftlichen Bereich“). Über die Assoziationen und Beschreibungsansätze formulierte eine Schülerin die zusammenfassende Beschreibung, dass Shui Tas Fabrik als Gefängnis dargestellt wird, wo die Arbeiter von dem nunmehr mächtigen Shui Ta unterdrückt werden. Auf meine Aufforderung ordneten die Schülerinnen das Szenenfoto problemlos dem 8. Bild zu, womit ich zur Frage der Textgemäßheit der Bühnenbildgestaltung überleiten konnte. Die kurze Diskussion leitete eine Schülerin ein, die sich überrascht von der drastischen Darstellung zeigte; sie meinte, dass der Vergleich der Fabrik mit einem Arbeitslager unangemessen sei, schließlich sei Shui Ta doch ein gerechter Arbeitgeber, der seine Arbeiter 53 gut behandle. Dieser Ansicht wurde aber von einer anderen Schülerin heftig widersprochen; die Regieanweisung zum Bühnenbild sei hier eindeutig, sie habe sich die Fabrik sogar noch schlimmer vorgestellt. Die meisten Schülerinnen hielten das Bühnenbild für angemessen. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, über das Szenenfoto in die Bearbeitung des 8. Bildes einzusteigen. Dadurch konnten die erwarteten Missverständnisse problematisiert werden, womit die Schülerinnen eine gute Basis für den Produktionsauftrag hatten. Erarbeitung und Auswertung I Die Erstellung einer Gliederung der Szene und die Entwicklung eines Schemas zum Aufbau des 8. Bildes erwies sich in der Auswertung als unproblematisch. Allerdings haben nicht wenige Schülerinnen sich mit dem Benennen der Besonderheiten dieser Szene schwer getan. So äußerten sie während der Erarbeitung, dass ihnen das Gliedern der Szene wegen der verschiedenen Zeitebenen schwer fiele, woraufhin ich den Hinweis gab, dass dies gerade eine Hilfestellung für die Gliederung sei. In der Auswertungsphase wurde jedoch allen Schülerinnen der Aufbau der Szene deutlich. Eine Schülerin verglich die Szene mit einer Hörspielkassette für Kinder. Frau Yang erzähle vom Aufstieg ihres Sohnes wie der Erzähler im Hörspiel, der in immer neue Szenen einleite. Ich habe diesen Vergleich übernommen und die Schülerinnen aufgefordert, diesen Aufbau - Erzählung und Szenen - genauer zu beschreiben, so dass rasch das geplante Tafelbild entwickelt werden konnte und ich zum geplanten Produktionsauftrag überleiten konnte. Die Zwischenschaltung eines eher formalen Arbeitsauftrages - in diesen beiden Phasen wurde ja nicht interpretiert zwischen dem assoziativen Einstieg und dem Produktionsauftrag wirkte ein wenig wie ein Fremdkörper in der Stunde. Während in der Einstiegsphase, wenn auch nur kurz, inhaltlich diskutiert werden durfte, musste diese Diskussion zugunsten eines analytischen Auftrages abgebrochen werden. Doch dieser Zwischenschritt war nötig, da das erarbeitete Schema zum Aufbau eine Hilfestellung für den Produktionsauftrag war. Dadurch wurde den Schülerinnen nämlich deutlich, dass Frau Yangs Beiträge Kommentare zu den vier Spielszenen sind. In dieser Phase ist jedoch keine Schülerin auf den Kontrast von Frau Yangs Kommentaren zu den Spielszenen eingegangen. Erarbeitung und Auswertung II Die Ergebnisse des Produktionsauftrages zeigten jedoch, dass den Schülerinnen entweder während der Arbeit daran oder bereits vorher deutlich wurde, dass die Darstellung des Geschehens sich erheblich verändern muss, wenn man eine andere Perspektive einnimmt. Am besten gelungen sind sicherlich die im Anhang unter Nr. 1 und 2 abgedruckten Arbeiten von Katrin und Ruth bzw. von Carolin, Larissa und Katharina, die sowohl deutliche Worte für Suns Verrat an seinen Kollegen (oder im marxistischen Sprachgebrauch an seiner Klasse) fanden, als auch Shui Ta als Ausbeuter darstellten. Angemessen in der Beurteilung von Suns Verhalten ist auch die Arbeit von Georgina, Helen und Anna (Nr. 3), die jedoch Shui Ta als ahnungsloses Opfer der List Suns betrachteten und 54 dabei übersahen, dass sich Shui Ta sehr bewusst die Mechanismen der Konkurrenz und mangelnder Solidarität der Arbeiter für seine Zwecke nutzt. Erfreulich ist die Arbeit von Diana (Nr. 4), die zwar qualitativ gegenüber den Arbeiten 1 und 2 abfällt, aber gemessen an Dianas üblicher Leistung gut gelungen ist. Während sie sich mit analytischen Aufträgen schwer tut und auch beim szenischen Spiel zurückhaltend ist, schien ihr das produktionsorientierte Arbeiten Spaß zu machen. Die beiden Schülerinnen Klara und Su-Hyoun (beide nicht deutsche Muttersprachlerinnen) haben, den Arbeitsauftrag modifizierend, einen zusammenhängenden Text geschrieben (Nr. 5). Trotz der insgesamt erfreulichen Ergebnisse der Produktionsphase verlief die Auswertung schleppend. Während die Schülerinnen einerseits gute Ergebnisse präsentierten, taten sie sich schwer mit dem jeweils geforderten Vergleich der Umarbeitungen mit dem Original. Die Auswertungsphase war wohl zu kleinschrittig angelegt; nach der Besprechung weniger ersetzter Stellen war die Perspektivität von Frau Yangs Bericht deutlich geworden, so dass es unnötig war, bei jeder Ersetzung wieder den Vergleich mit dem Original einzufordern. Ich habe mich aber gescheut, dies zu unterlassen, da ich alle Schülerinnenäußerungen würdigen wollte. Dennoch wäre es sinnvoller gewesen, diese Phase abzukürzen. Die die Auswertung zusammenfassende Diskussion der verfremdenden Wirkung konnte nach der ausführlichen Besprechung relativ kurz ausfallen. Auf meine Frage, welche Perspektive denn nun besser zu den Spielszenen passe, äußerten die Schülerinnen, dass beide, sowohl Frau Yang als auch der Schreiner, die Ereignisse voreingenommen darstellten, die Kommentare Lin Tos „der Sache jedoch näher“ kämen. Erfreulicherweise brachten einige Schülerinnen im Rahmen dieser Diskussion den Verfremdungsbegriff mit ein, so dass die Schülerinnen die Wirkung der Kontrastierung von Bericht und Spielszenen zutreffend benennen konnten. Vertiefung Da die Produktionsphase ein wenig länger als geplant dauerte, blieb für die Bearbeitung des Songs noch eine knappe Viertelstunde, doch erkannten die Schülerinnen schnell den parabolischen Charakter des Songs und konnten Bild- und Deutungsebene leicht benennen, so dass ich auf das geplante Tafelbild ohne Schwierigkeiten verzichten konnten. Schwieriger war natürlich das Erkennen der doppelten Funktion des Songs. Ich fragte dazu die Schülerinnen, wie der Song in die Handlung eingebunden sei, woraufhin die Schülerinnen zwar richtig äußerten, dass der Song die Meinung der Arbeiter wiedergebe, doch dauerte es ein wenig, bis sie auch hier die verfremdende Wirkung beschreiben konnten. Zusammenfassende Stundenkritik Insgesamt bin ich mit dem Verlauf der Doppelstunde zwar zufrieden, da ich meine Lernziele erreicht habe, doch hat sich die Auswertung der Produktionsphase negativ auf die Motivation der Schülerinnen ausgewirkt, da sie schlicht zu lange dauerte und damit langweilig wurde. Alternativ dazu hätte man den Produktionsauftrag auf nur einen Aus55 schnitt des Bildes beschränken können. Ich habe mich aber schon bei der Planung dagegen entschieden, weil so für die Schülerinnen der Überblick über das ganze Bild erschwert würde. Dennoch würde ich rückblickend in Zukunft die Schülerinnen arbeitsteilig in einer kürzeren Produktionsphase je nur Ausschnitte aus dem 8. Bild bearbeiten lassen, so dass der Kurs dann insgesamt das ganze Bild umgearbeitet hätte. Dies würde zwar nicht das Problem der langwierigen Auswertung lösen, aber zumindest die Produktionsphase selbst abkürzen. 56 3.4 Die sechste Stunde (16. Stunde der Gesamtreihe) Thema: Wie aristotelisch ist das epische Theater? 3.4.1 Planung der Unterrichtsstunde In dieser Stunde soll noch einmal zusammenfassend die Theorie des epischen Theaters kritisch reflektiert werden. Dazu bietet sich kein handlungs- oder produktionsorientiertes Arbeiten an. Die Schülerinnen sollen die bereits zu Beginn der Reihe behandelte Gegenüberstellung des Theaters der dramatischen und epischen Form (vgl. Arbeitsblatt 1b im Anhang) noch einmal untersuchen. Auf diese Weise können die Schülerinnen ihr im Laufe der Reihe durch handlungs- und produktionsorientierte wie auch durch analytische Verfahren erworbenes Wissen noch einmal zusammentragen und für eine kritische Würdigung der Theorie des epischen Theaters anwenden. 3.4.1.1 Lernziele Stundenziel: Die Schülerinnen sollen die Brechtsche Gegenüberstellung von epischem und dramatischem Theater kritisch prüfen ihre (gewollt) plakative Einseitigkeit erkennen und benennen. Teilziele: 1) Die Schülerinnen bewerten in einer kurzen Diskussionsrunde vergleichend die ästhetische Qualität des epischen und des dramatischen Theaters. 2) Die Schülerinnen überprüfen in arbeitsteiliger Gruppenarbeit je einzelne Thesen der Brechtschen Gegenüberstellung von epischer und dramatischer Form des Theaters an ihnen bekannten Texten beider Formen. 3) Die Schülerinnen nehmen kritisch Stellung zu der Gegenüberstellung und diskutieren deren Angemessenheit. 4) Die Schülerinnen erkennen die (gewollt) plakative Einseitigkeit der Brechtschen Gegenüberstellung. 3.4.1.2 Überlegungen zur Sache und didaktische Reduktion In den bisherigen Unterrichtsstunden zur Brechtschen Theatertheorie wurde v.a. das Neue, Nichtaristotelische des epischen Theaters herausgearbeitet. Doch wie bereits in den Überlegungen zur Sache im ersten Kapitel angemerkt, sind Brechts Dramen in der Praxis aristotelischer als die vielfach verabsolutierte Gegenüberstellung der beiden Formen glauben macht. Daher soll in der heutigen Abschlussstunde der Sequenz über die Einführung in die Brechtsche Dramentheorie die bereits in der ersten Doppelstunde der Sequenz bearbeitete Gegenüberstellung der dramatischen und der epischen Form des 57 Theaters noch einmal zur Diskussion stehen. Auf diese Weise können die Schülerinnen ihre dramentheoretischen Kenntnisse noch einmal zusammenführen und vertiefen. 3.4.1.3 Geplanter Stundenverlauf und Begründung der methodischen Entscheidungen Einstieg Um die Schülerinnen auf die kritische Überprüfung der Theorie des epischen Theaters einzustimmen, sollen sie sich kurz und spontan zu der Frage äußern, welche Theaterform sie nach der Lektüre der beiden in diesem Halbjahr gelesenen Dramen bevorzugen. Ich erwarte hierbei, dass die Meinungen im Kurs gespalten sein werden, was schon bei der Äußerung der ersten Leseeindrücke zu Beginn der Unterrichtsreihe der Fall war. Da diese Phase ausschließlich der Einstimmung dient, ist zu diesem Zeitpunkt noch keine differenzierte, begründende Stellungnahme erwartbar. Erarbeitung Um der begonnenen Diskussion ein besseres inhaltliches Fundament zu verleihen, sollen sich die Schülerinnen nun in arbeitsteiliger Gruppenarbeit mit je drei bis fünf Thesen aus dem Brecht-Text auseinandersetzen. Hierbei sollen die Thesen anhand der gelesenen Dramen beider Formen erläutert und gegebenenfalls kritisch überprüft werden. Dabei werden die Schülerinnen erkennen, dass die plakative Gegenüberstellung einer kritischen Überprüfung nur bedingt standhält. Ich wähle als Arbeitsform für diese Phase arbeitsteilige Gruppenarbeit, weil die Schülerinnen sich auf diese Weise intensiver mit einzelnen Thesen auseinandersetzen können als bei einer Plenumsdiskussion des Gesamttextes. Auswertung Beim Zusammentragen der Ergebnisse der Gruppenarbeit werden die Thesen gruppenweise zur Diskussion gestellt, in der Weise, dass je eine Gruppe ihre Überlegungen vorstellt und die Mitschülerinnen evtl. unter Einbezug eigener Ergebnisse diese diskutieren. Abschluss Um die Diskussion abzurunden, sollen sich die Schülerinnen zu der Frage äußern, ob Brechts Dramentheorie in ihrem Anspruch durch unsere Überlegungen zur Relativierung der Gegenüberstellung nun widerlegt sei. Diese Frage ist natürlich suggestiv; es soll dabei herausgestellt werden, dass Brecht selbst in einer Fußnote die Gegenüberstellung relativiert. 58 3.4.1.4 Verlaufsplan Phase/Ziel Unterrichtsgeschehen Arbeitsformen/ Medien Sch. diskutieren kurz darüber, welcher Dramenform sie UG selbst den Vorzug geben. Einstieg TZ 1 5’ Erarbeitung Sch. überprüfen in arbeitsteiliger Gruppenarbeit je einzelTZ 2/3 ne Thesen der Brechtschen Gegenüberstellung der dramatischen und der epischen Form des Theaters Auswertung Die Schülerinnen tragen ihre Ergebnisse zusammen und TZ 2-4 diskutieren sie Abschluss TZ 4 GA AB Sch. Hefte UG AB Sch. Hefte Die Schülerinnen nehmen zu der Frage Stellung, ob UG Brechts Dramentheorie durch unsere Relativierung der Gegenüberstellung widerlegt ist. 3.4.2 Durchführung und begleitende Reflexion der Unterrichtsstunde Die Unterrichtsstunde ist im Wesentlichen wie geplant verlaufen. Einstieg Wie erwartet, waren die Schülerinnen in der Beurteilung der beiden Dramenformen gespalten. Einige Schülerinnen konnten dem epischen Theater mehr abgewinnen, weil es kritischer und realitätsbezogener sei. Auch sei es durch den erzeugten Zwang zum kritischen Reflektieren des Geschehens anspruchsvoller. Andere wandten dagegen ein, dass gerade der angestrebte Lerneffekt des epischen Theaters auch und vielleicht besser mit dramatischen Mitteln zu erreichen sei, weil es den Zuschauer in seinem Innersten mehr anspreche. Gerade diese Schülerinnen fanden das epische Theater mit seinem unverdeckten Lehranspruch zu schulmäßig; der Unterhaltungsaspekt, den man doch auch vom Theater erwarte, käme zu kurz. Dagegen wandten andere ein, dass sie, wenn sie das Stück nicht in der Schule so ausführlich behandelt hätten, sich als Zuschauer sehr wohl unterhalten gefühlt hätten, der plakative Lehranspruch wäre ihnen dann gar nicht so stark aufgefallen. Die Schülerinnen stellten fest, dass dies sowohl ein Argument für als auch gegen die Theorie des epischen Theaters sein könne. Einerseits könnte dies bedeuten, dass die Theorie nicht funktioniert, weil der Zuschauer in der passiven Haltung des Unterhaltenwerdens verharrt, andererseits könnte dies aber bedeuten, dass das Stück besser als die ihm zugrunde liegende Theorie sei: wer sich unterhalten fühlt, steht dem Stück und damit seinem inhaltlichen Anspruch positiver gegenüber. Erarbeitung Alle Gruppen haben erfreulich intensiv an den einzelnen Thesen gearbeitet; beim Herumgehen wurde ich Zeugin sehr reger differenzierender Diskussionen, wobei jedoch die erste Gruppe, die sich aus eher schwachen Schülerinnen zusammensetzte, den 59 Hauptteil ihrer Arbeit auf die unkritische Erläuterung der Thesen („Was ist überhaupt damit gemeint?“) verwandte und sich mit einer Relativierung der Gegenüberstellung schwer tat. Auswertung Die Ergebnisse der ersten Gruppe, die sich mit den Thesen 1-3 auseinandergesetzt hatte, fielen erwartungsgemäß aufgrund der Schwierigkeiten der Gruppe zunächst mager aus, doch konnten im Plenumsgespräch die Thesen erläutert und kritisiert werden. Dabei stellten die Schülerinnen heraus, dass mit der Gegenüberstellung von Verkörpern und Erzählen die Besonderheit der Mittel des epischen Theaters betont werde, also die ständige Unterbrechung der Handlung durch erzählende und reflektierende Elemente. Dennoch überwiegt szenische, also verkörpernde Handlung, die allerdings durch die V-Effekte gebrochen wird. Umgekehrt enthält auch das dramatische Theater epische Elemente, z.B. Monologe oder längere Erzählteile einer Figur, z.B. die Ringparabel im Nathan, wobei diese jedoch in die Handlung eingewoben sind und der Schauspieler nicht aus der Rolle tritt. Auch die Thesen 2 und 3 stellten die Schülerinnen in Frage; auf Aufforderung konnten sie die Gegenüberstellung von Gefühl und Verstand in diesen Thesen unter Rückgriff auf Lessings Dramentheorie erläutern, stellten sie aber gleich wieder in Frage. Dabei stellten sie fest, dass Lessing zwar tatsächlich „seine Botschaft über die Gefühlsschiene transportiert“, d.h. durch die Förderung der Mitleidsfähigkeit des Zuschauers, dass dies aber seine Aktivität verbrauche, war ihnen verständlicherweise nicht einsichtig, zumal gerade das besprochene Lessing-Drama deutlich auch an den Verstand appelliert. Umgekehrt fühlt sich der Zuschauer auch gerade dadurch, dass der Mitleid mit Shen Te empfindet, durch das Drama angesprochen. Allerdings ist der Hauptunterschied der beiden Formen, dass das dramatische Theater, auch wenn es didaktische Absichten hat, beim Individuum ansetzt, während Brecht das soziale System zur Disposition stellt. Die zweite Gruppe, die sich mit den Thesen 4-6 auseinanderzusetzen hatte, konnte ihre Ergebnisse gut an die erste Gruppe anschließen: zwar unterscheiden sich die beiden Dramenformen tatsächlich gerade dadurch, dass der Zuschauer der dramatischen Form des Theaters von der Handlung mitgerissen wird, während dies im epischen Theater durch die V-Effekte verhindert wird, doch insbesondere die Gegenüberstellung von Suggestion und Argumentation kritisierten die Schülerinnen als einseitig. Auch Brecht beeinflusse die Zuschauer unbemerkt durch die Art der Darstellung, indem die Handlung so komponiert ist, dass eine Veränderung der Gesellschaft im marxistischen Sinne als einzige Lösung erscheint. Bei der Besprechung der Ergebnisse der dritten Gruppe, die die Thesen 7-10 zu bearbeiten hatte, wurde zur 7. These herausgestellt, dass Brecht hier den Unterschied im Menschenbild anspricht. Während im dramatische Theater laut Brecht das Geschehen als durch Schicksal und Beschaffenheit der dargestellten Kriterien bestimmt ist, so soll im epischen Theater deutlich werden, dass der Mensch sich verändern kann. Unter Einbe60 ziehung ihrer im Laufe der Reihe erworbenen Kenntnisse zur marxistischen Theorie nannten die Schülerinnen auch den von mir aus dem Text herausgekürzten Satz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ und wandten ihn richtig auf das Drama an: Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse und nicht das Schicksal bestimmen Bewusstsein und Handeln des Menschen, hat er diesen Zusammenhang erkannt, kann er sich und die ihn bestimmenden Umstände verändern. Doch auch diese Gegenüberstellung bleibt theoretisch. Gerade im Nathan werde der Mensch doch als veränderbar dargestellt, allerdings wieder vom Individuum und nicht von der Gesellschaftsstruktur her gedacht. Die Thesen 8-10 wurden zusammenhängend besprochen: Sie spielen auf die geschlossene, meist fünfaktige Struktur des Dramas in der aristotelischen Tradition an, wobei die Dramen auf das Ende hin konzipiert seien, mit einer allmählichen Spannungssteigerung auf den Höhepunkt in der Mitte hin, während das Drama der epischen Form eine offene Struktur hat, keinen Höhepunkt und auch keine zwangsläufige Lösung oder ein tragisches Ende enthalte. Während im Theater der dramatischen Form die Szenen aufeinander aufbauen, präsentiert im epischen Theater jede Einzelszene auf ihre Weise die Lehre des Stückes. Allerdings, so stellte die Gruppe fest, sei der Handlungsverlauf bei Brecht ebenfalls wohlkomponiert, auch wenn man jede Szene als eigene abgeschlossene Handlung betrachten könne, kann man nicht einfach einzelne Szenen weglassen, da in der Gerichtsszene alle Details wieder zusammenlaufen und der Zuschauer gerade wegen des offenen Endes erst durch Verbindung der einzelnen Details seinen eigenen Schluss ziehen kann. Die vierte Gruppe, die sich mit den Thesen 11-15 auseinandergesetzt hatte, stellte richtig fest, dass hier noch einmal zusammenfassend die Wirkung der beiden Formen des Theaters auf den Zuschauer thematisiert wird. Während dem Zuschauer des dramatischen dadurch, dass er sich mit dem Helden identifiziert, der Verlauf des Geschehens realistisch und vorhersehbar erscheint, weil es in Übereinstimmung mit ihm Bekannten steht, so soll der Zuschauer des epischen Theaters durch die V-Effekte überrascht, das scheinbar Normale und Natürliche wird dadurch in Frage gestellt, so dass der Zuschauer im Gegensatz zum dramatischen Theaters nicht positiv zustimmend, sondern mit Abwehr und Kritik am Gesehenen reagiert. Zur letzten These stellten die Schülerinnen fest, dass sie sich für das dramatische Theater auf die Tragödie beziehe, die suggeriert, dass der Held nur scheitern kann, weil seine Situation aus Schicksalsgründen ausweglos ist. Im epischen Theater jedoch soll die Situation der Figuren als Folge veränderbarer gesellschaftlicher Zwänge dargestellt werden und damit untragisch sein. Es erwies sich als Glücksfall, dass einige Schülerinnen auch das Lessingsche Trauerspiel Emilia Galotti kannten. Auch Emilias Situation ist nur aufgrund der bestehenden Verhältnisse tragisch, nur aufgrund der Macht des Prinzen war ihr der Tod die einzige Möglichkeit, sich dem Prinzen zu entziehen. Insofern ist die Situation der weiblichen Protagonistinnen in beiden Dramen nur aufgrund der sozialen Verhältnisse ausweglos, denn auf der Handlungs- 61 ebene ist auch für Shen Te die Vertröstung auf eine bessere - klassenlose - Gesellschaft keine Lösung. Abschluss Zusammenfassend konnte festgestellt werden, dass die Gegenüberstellung der beiden Theaterformen nicht absolut zu verstehen ist, sondern, wie Brecht es selbst in der einschränkenden Fußnote feststellt, „lediglich Akzentverschiebungen“ zeigt. Zusammenfassende Stundenkritik Ich bin mit dem Verlauf der Stunde sehr zufrieden. Die Ergebnisse der Gruppenarbeit und des Auswertungsgespräches zeigen, dass die Schülerinnen im Laufe der beiden Unterrichtsreihen genügende dramentheoretische Kenntnisse erworben haben. Andernfalls wären sie nicht in der Lage gewesen, den Text in dieser differenzierten Form kritisch zu reflektieren. Auch zeigte sich, dass sie die Thesen gut auf die behandelten Dramen anwenden konnten. Ihre Äußerungen zeigten, dass sie im Verlauf des Halbjahres ihr Beschreibungspotential erweitert haben. Die Diskussion verlief sehr lebendig, der größte Teil der Schülerinnen war beteiligt. 62 4 Abschlussreflexion 4.1 Handlungs- und Produktonsorientierung versus Analyse? Schwerpunkt der hier dargestellten Sequenz müsste es doch eigentlich gemäß der Themenstellung „Einleitung in die Theorie des epischen Theaters nach Brecht mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden“ sein, zu zeigen, wie es möglich ist, allein mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden eine Theorie zu erarbeiten. Doch kann es nicht darum gehen, dies völlig unter Verzicht von analytischen Arbeitstechniken zu tun. Zum einen erfordern handlungs- und produktionsorientierte Methoden immer auch eine - in der Regel zwangsläufig analytische - Auswertungsphase, in der die erstellten Arbeiten vorgestellt und erörtert werden. Gerade bei der Erarbeitung der Theorie des epischen Theaters jedoch kann auf die Lektüre und Analyse der theatertheoretischen Schriften Brechts nicht verzichtet werden. Hier bietet es sich schon von der Sache her an, diese mit Hilfe textanalytischer Verfahren zu behandeln. Es ging mir also in dieser Arbeit v.a. darum zu zeigen, wie handlungs- und produktionsorientierte Verfahren mit analytischen verknüpft werden können. Von den in dieser Arbeit dargestellten Stunden war die erste Doppelstunde schwerpunktmäßig handlungsorientiert. Die Schülerinnen sollten Spielszenen entwickeln und vorstellen. Dieses entdeckend-experimentelle Verfahren war erfolgreich. Die Schülerinnen konnten nach kurzer Erörterung der beiden zu Beginn der Doppelstunde präsentierten Thesen ihre Kenntnisse zum aristotelischen Theater und ihre zu diesem Zeitpunkt noch vagen Vorstellungen zum epischen Theater anwenden. Hierbei konnten sie die Mittel des epischen Theaters durch die Entwicklung der Szenen unter Rückgriff auf ihre Kenntnis des Brecht-Stückes selbst entdecken. Besondere Bedeutung kam hierbei den Auswertungsgesprächen zu, in denen durch die Reflexion des von den Schülerinnen Dargestellten die jeweils angewendeten Mittel deutlicher herausgestellt werden konnten. Es hat sich als Glücksfall erwiesen, dass jede der präsentierten Spielszenen auf unterschiedliche Weise dazu geeignet war. So hatte die erste Gruppe zwar eine Szene nach dem epischen Formtyp zeigen wollen, doch konnten die Schülerinnen in der Besprechung der Szene erkennen, dass die Gruppe v.a. Mittel des dramatischen Formtyps verwendet haben. Die zweite Szene eignete sich zur Erörterung der Möglichkeit epischer Elemente auch im dramatischen Formtyp. Die dritte Gruppe schließlich setzte die Mittel des epischen Theaters am besten ein, so dass sich konstatieren lässt, dass bei der Präsentation der drei ersten Spielszenen Schritt für Schritt wichtige Mittel des epischen Theaters herausgestellt werden konnten. Da die vierte Gruppe sich als einzige für den dramatischen Formtyp entschieden hatte, war deren Spiel gut geeignet, um den Unterschied 63 der beiden Formtypen herauszuarbeiten und daran die Frage nach der je unterschiedlichen Wirkung der beiden Formen anzuschließen. In der vierten und fünften Stunde der dargestellten Sequenz stand ein im besten Sinne produktionsorientiertes Verfahren im Mittelpunkt: die Verfremdung eines Textes, mit dem Ziel, durch den Vergleich der Umarbeitungen mit dem Original dessen Besonderheiten: Verfremdung eines Textes, um durch Vergleich mit Original dessen Besonderheiten herauszustellen zu können. Die Produktionsphase an sich hat sich als sinnvoll erwiesen, doch war das Auswertungsgespräch im Vergleich zur ersten Doppelstunde zwar inhaltlich durchaus ertragreich, doch verlief es wegen des großen Umfangs des zu besprechenden Textmaterials schleppend. Es hat sich wieder gezeigt, dass die Auswertung die Achillesferse der handlungs- und produktionsorientierten Methoden ist. Sie sollen sie durch den Wechsel der Arbeitsform die Schülerinnen stärker motivieren und aktivieren und v.a. andere als rein kognitive Lerntypen ansprechen, andererseits können sie aber auch nicht auf die notwendig verbal-analytische Auswertung verzichten. Hier stellt sich aber das Problem, wie die Auswertungsphase dergestalt geplant werden kann, dass möglichst einerseits viele Schülerarbeiten gewürdigt werden können und trotzdem das Gespräch nicht redundant oder langweilig wird. Im Falle der ersten Doppelstunde ist dies gelungen, da jede Gruppe den Auftrag auf je verschiedene Weise gelöst hat, so dass schon allein durch die verschiedenen Umsetzungsideen aber auch dadurch, dass an jeder Szene je verschiedene theatertheoretische Aspekte herausgearbeitet werden konnten, das Gespräch abwechslungsreich verlief und keine Langeweile auftrat. Außerdem wurden durch die Aufführung der Szenen mehr Sinne angesprochen als beim reinen Vorlesen der Ergebnisse des Produktionsauftrags zum 8. Bild. Ein häufig genanntes Argument für die Anwendung handlungs- und produktionsorientierter Methoden ist, dass dadurch die Schülerinnen nicht nur einseitig kognitiv, sondern auch affektiv und pragmatisch gefordert werden. Damit verbindet sich der Optimismus, dass diese Verfahren andere als rein kognitive Lerntypen ansprechen. Für die erste Doppelstunde scheint dieses Argument bestätigt. Durch die Arbeitsform Gruppenarbeit waren alle Schülerinnen beteiligt; erfreulicherweise konnten auch die sonst schwächeren Schülerinnen sich in besonderem Maße einbringen. Bei den Schülerinnenarbeiten zum 8. Bild zeigte sich jedoch, dass die besten Arbeiten von den Schülerinnen erbracht wurden, die auch bei analytischen Verfahren die leistungsstärksten sind und die Arbeiten der schwächeren Schülerinnen auch in diesem Fall weniger gut ausgefallen waren (vgl. z.B. die Arbeit von Katrin und Ruth, die zu den leistungsstarken Schülerinnen gehören, mit der von Su-Hyon und Klara), dennoch gingen die schwächeren Schülerinnen die produktionsorientierten Arbeitsaufträge mit mehr Motivation und auch Erfolg an, was sich v.a. bei der in Kap. 3.3.2 besprochenen Arbeit von Diana zeigte. 64 Ein weiteres Grundproblem der handlungs- und produktionsorientierten Verfahren ist, dass sie meist zeitintensiver sind als analytische Verfahren; letztere haben aber den Nachteil, dass diese meist nur von den ohnehin stärkeren Schülerinnen getragen werden; insbesondere handlungsorientierte Verfahren sollen es allen Schülerinnen ermöglichen, sich mit ihren jeweiligen Stärken einzubringen. So war in der ersten Doppelstunde deutlich zu beobachten, dass zwar häufig ein oder zwei Schülerinnen die Gruppenarbeit dominiert haben, indem hauptsächlich sie den Plot entwickelten und Vorschläge zur Umsetzung machten, aber für die tatsächliche Umsetzung wurden alle Schülerinnen gebraucht. In einer Gruppe hat eine Schülerin, die nicht selbst spielen wollte die „Regie“ übernommen und so auf ihre Weise zum Gelingen der Aufführung beigetragen. Neben der Notwendigkeit der Auswertung ist jedoch gerade bei handlungsorientierten Verfahren eine theoretische Fundierung des Erlernten notwendig. Bei der dargestellten Doppelstunde konnte die Theorie des epischen Theaters natürlich nur in Ansätzen erarbeitet werden. Es konnten lediglich einige Mittel des epischen Theaters erarbeitet werden; im Wesentlichen beschränkte sich dies auf die Wendung der Figuren bzw. der Schauspieler an das Publikum. Weitere Mittel mussten durch Textanalyse bzw. anhand von den Schülerinnen präsentierten Ausschnitten aus der Weimarer Fernsehinszenierung erarbeitet werden. Was vor allem bei dem szenischen Verfahren nicht erarbeitet werden konnte, ist die gesellschaftspolitische Intention der Brechtschen Theatertheorie, für die, wie gezeigt, zwei theatertheoretische Texte Brechts herangezogen werden mussten. Dieses Verfahren hat den Nachteil, dass es als rein analytisches nicht von allen Schülerinnen gleichermaßen bewältigt werden konnte, gerade in der dritten hier dokumentierten Stunde wurden die Nachteile des Verfahrens deutlich: Angesichts des Schwierigkeitsgrades des zu bearbeiteten Textes hatten die Schülerinnen in der Unterrichtsstunde viel Klärungs- und Diskussionsbedarf, so dass die Stunde vom Unterrichtsgespräch dominiert wurde, welches v.a. von den leistungsstarken Schülerinnen getragen wurde. Dennoch bleibt bei der Erarbeitung der Theorie des epischen Theaters die Analyse zentraler theoretischer Texte Brechts unabdingbar, nicht zuletzt auch, um die Methodenkompetenz der Schülerinnen im Hinblick auf das Erlangen der Studierfähigkeit um textanalytische Fertigkeiten zu erweitern. Angesichts der Leistungsfähigkeit und Disziplin der Schülerinnen hat sich jedoch der hohe Anteil des Unterrichtsgesprächs in dieser Stunde jedoch weitgehend unproblematisch erwiesen. Es stellt sich hier die Frage, ob unter Verzicht auf die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren zugunsten einer Ausweitung der textanalytischen Arbeit nicht die gleichen oder gar bessere Ergebnisse hätten erzielt werden können. So litt in der ersten hier dokumentierten Doppelstunde die Auswertung der Arbeit an Brechts Gegenüberstellung der dramatischen und epischen Form des Theaters am Zeitmangel. Hätte ich auf die Produktion der Spielszenen verzichtet, wäre mehr Zeit verblieben, um diese wichtige Gegenüberstellung sowie den zweiten eingesetzten theoretischen Text genauer zu besprechen. Dennoch würde ich auch in Zukunft aus mehreren Gründen nur ungern auf dieses 65 Verfahren verzichten. Zunächst war es ein motivierender Einstieg in die Erarbeitung der Theorie, die vielen Schülerinnen den Zugang zu den theoretischen Texten und auch zum Drama selbst erleichtert hat. Durch das szenische Spiel wurde eine Verständnisgrundlage für diese Texte geschaffen, die nicht zuletzt durch die Doppelstunde zum 8. Bild vertieft werden konnte. 4.2 Zum Einsatz des szenischen Spiels Diese Methode des szenischen Spiels wurde in dieser Unterrichtsreihe nicht zur Interpretation des Dramas eingesetzt, sondern zur Erarbeitung von Theorieelementen des epischen Theaters. Daher wurde sie unter anderen Prämissen verwendet als etwa im Konzept Ingo Schellers, das stark psychologisierend ist, zum einen, in dem Sinne, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die Figuren einfühlen sollen und von daher ihre Gefühlslage, ihre Charaktereigenschaften und die Motive ihrer Handlungen besser verstehen können, zum anderen aber auch dadurch, dass die Teilnehmerinnen durch Übernahme einer Rolle - dazu gehören z.B. das Schreiben von Rollenbiografien, psychodramatische Verfahren wie die Einführung eines Hilfs-Ichs, das szenische Spiel selbst, die Reflexion von Handlungen anderer Figuren aus der Perspektive der übernommenen Rolle - auch über ihr eigenes Selbstbild sich Klarheit verschaffen sollen. Bezugspunkt der szenischen Interpretation bleibt zwar der Text, doch bei der Reflexion von Gefühlen, dem gestischen und mimischen Ausdruck der Rolle usw. wird von den Darstellern zwangsläufig auf eigene Erfahrungen oder Handlungsmuster zurückgegriffen. Im Schutzraum der Rolle können die Teilnehmerinnen ihre eigenen Erfahrungen unbemerkt einbringen. Dies ist allerdings, wie bereits in Kap. 2.5 erörtert, bei den Dramen Brechts nicht sinnvoll. Anders verhält es sich allerdings bei dem von mir gewählten Verfahren. Ich habe bewusst eine Situation vorgegeben, die den Schülerinnen z.T. aus eigener Erfahrung oder Beobachtung bekannt ist. So hatten sie also auch hier im Schutz der Rolle die Möglichkeit, eigene Persönlichkeitsanteile, Erfahrungen und Gefühle in das Spiel einzubringen, ohne dass dies thematisiert wurde. Dennoch: Dies gehört nicht primär zur Intention dieses Verfahrens; gerade die Anwendung psychodramatischer Techniken halte ich im Unterricht für fragwürdig, weil die Schülerinnen dadurch gezwungen werden könnten, mehr von sich preiszugeben, als sie eigentlich bereit wären und sich dadurch vor der Lehrperson und den Mitschülerinnen bloßgestellt fühlen könnten. Dadurch, dass das szenische Spiel ausdrücklich im Dienste der Erarbeitung der Theatertheorie stand und die Schülerinnen viel Freiheit hatten, die Szene und die Rollen auszugestalten, konnte dieser Gefahr begegnet werden. 66 4.3 Zum Aufbau der Reihe Ich habe im ersten Teil der Arbeit begründet, warum ich die Erarbeitung der Theorie des epischen Theaters schon am Anfang der Reihe begonnen habe. Inhaltlich habe ich mich also für ein deduktives Verfahren entschieden. Es wäre auch möglich gewesen, im Rahmen der Interpretation des Dramas dessen formale Besonderheiten herauszuarbeiten und im Anschluss daran erst in die ihm zugrunde liegende Theorie einzuführen. Schließlich ist auch Brecht nicht davon ausgegangen, dass die Zuschauer seine Dramen nur in Kenntnis der Theorie verstehen können. Doch ist den Schülerinnen der gesellschaftspolitische Hintergrund der Dramen Brechts im Gegensatz zu zeitgenössischen Zuschauern nicht mehr unmittelbar verständlich. So kann heute eine interpretatorische Arbeit am Drama ohne Kenntnis dieses Hintergrundes nur ansatzhaft bleiben. Dadurch dass jedoch die vorgeschaltete Kurzsequenz, ausgehend von den Leseerfahrungen der Schülerinnen, sehr textnah war und auch die Unterrichtsstunden zur Theorie des epischen Theaters immer wieder auch unter Rückgriff auf das gelesene Drama erfolgten, haben die Schülerinnen diese nicht als Unterbrechung der Arbeit am Dramentext begriffen, sondern als organisch darin eingebunden. Daher sehe ich mich in dieser Grundentscheidung der Vorplanung durch den Verlauf der Unterrichtsreihe bestätigt. Anders würde ich in Zukunft jedoch bei der Textanalyse selbst vorgehen. Die in Kap. 2.4 ausgewiesene zweite Sequenz ging ja eher kleinschrittig mit der exemplarischen Behandlung einzelner Szenen chronologisch am Text entlang. Für die schwächeren Schülerinnen war dies sicherlich sinnvoll, da sie auf diese Weise angeregt wurden, die Lektüre des Dramas schrittweise zu wiederholen, um dadurch zu einer besseren Kenntnis des Textes zu gelangen, doch zeigte die Behandlung der Einzelszenen eine Reihe von Redundanzen, wodurch der große Anteil der leitstungsstarken Schülerinnen des Kurses unterfordert war. Die meisten Schülerinnen zeigten bereits zu Beginn der Unterrichtsreihe einen hervorragenden Überblick über den Text, der ja auch durch den Arbeitsauftrag in der zweiten Stunde der Gesamtreihe, den Verlauf des „Experiments“ der Götter nachzuzeichnen, gesichert werden konnte. Daher wäre eine auf diesen Überblick über das Drama bauende, stärker an inhaltlichen Grundproblemen orientierte Behandlung des Dramas möglich und sinnvoll gewesen. Dies hätte auch eine Schwierigkeit der hier dokumentierten dritten Sequenz relativiert. Die Theorie des epischen Theaters lässt sich im Sezuan-Stück am besten am 8. Bild erarbeiten. Durch die textchronologische Vorgehensweise konnte aber das 8. Bild erst mit großem Abstand zur Erarbeitung der Grundlagen der Theorie des epischen Theaters erfolgen. Zwar wurde auch bei der Behandlung der anderen Bilder und insbesondere der Zwischenspiele immer wieder darauf eingegangen, doch zum Schwerpunkt wurde die Brechtsche Theatertheorie nach den drei Einführungsstunden erst wieder sieben Unterrichtsstunden später. Es wäre unter Verzicht auf die textchronologische Vorgehensweise 67 möglich gewesen, die Behandlung des 8. Bildes vorzuziehen und damit in größere Nähe zu den drei in die Theorie einführenden Stunden zu rücken. Allerdings war ich hier an die Vorgabe der Kurslehrerin gebunden, dass die Klausur in einer Szeneninterpretation bestehen sollte, so dass ich, um diese zu üben, szenenweise vorgehen musste. 68 5 Literaturverzeichnis 5.1 Primärliteratur BRECHT, Bertold.: Schriften zum Theater I-III (=Gesammelte Werke 15-17). Frankfurt a.M. 1967 [zit. als GW + Bandangabe] DERS.: Anmerkungen zur Oper „Auftstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, GW 17, 10041016 ders.: Das epische Theater, GW 15, S. 263-316 DERS.:, DERS.: B: Der gute Mensch von Sezuan. Frankfurt a.M. 1964 Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters. In: Der Messingkauf. GW 16, S. 546-558 DERS.: Kleines Organon für das Theater. GW 16, S. 661-709 DERS.: Neue Technik der Schauspielkunst, GW 15,339-379 DERS.: Über experimentelles Theater. In: GW 15, 285-305 LESSING, G.E.: Brief vom Nov. 1759 an Friedrich Nicolai. In: DERS.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Paul Rilla. Berlin/Weimar 1968, S. 74-80 5.2 Sekundärliteratur BRECH, Ursula: Lektürehilfen Bertold Brecht „Der gute Mensch von Sezuan“. Stuttgart 1987 KNOPF, Jan: Brecht-Handbuch Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1980 [zit. als Knopf (1980)] KNOPF, Jan (Hrsg.): Brechts Guter Mensch von Sezuan. Materialien. Frankfurt a.M. 1982 [zit. als Knopf 1982] SOKEL, Walter H.: Figur, Handlung, Perspektive. Die Dramentheorie Bertolt Brechts. In: Grimm, Reinhold (Hrsg.): Deutsche Dramentheorien II. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Wiesbaden 31981, S. 208-231 VOLCKMANN, Silvia: Brechts Theater zwischen Abbild und Utopie. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980. S. 440-452 69 5.3 Didaktische Literatur und Schulbücher BIERMANN, Heinrich/SCHURF, Bernd (Hrsg.): Texte, Themen und Strukturen. Grundband Deutsch für die Oberstufe. Berlin 1997 FRITZSCHE, Joachim (Hrsg.): Überschrift Deutsch. Arbeitsbuch Literatur und Kommunikation Sekundarstufe II. Hannover 1995 [zit. als Fritzsche (1995)] FRITZSCHE, Joachim: Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. Band 3: Umgang mit Literatur. Stuttgart 1994 [zit. als Fritzsche (1994)] GÖBEL, Klaus: Das Drama im Unterricht. In: HINCK, Walter (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 515-524. HAAS, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Theorie eines „anderen“ Literaturunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze 1997 HAAS, Gerhard/MENZEL, Wolfgang/SPINNER, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch. Zeitschrift für den Deutschunterricht 123(1994), S. 17-25 KERBER, Helmut: Unterrichsmodell zu Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“. München 1998 DER KULTUSMINISTER DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN: Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1982 [zit. als Richtlinien] METTENLEITER, Peter/KNÖBL, Stefan (Hrsg.): Blickfeld Deutsch. Oberstufe. Paderborn 1991 MITSCHKE, Maria: Bertolt Brecht „Der gute Mensch von Sezuan“. Unterrichtseinheiten zur Literatur. Puchheim 1992 [zit. als Mitschke 1992] DIES.: Das epische Theater. Aspekte zur Theorie. Puchheim 1990 [zit. als Mitschke 1990] PELSTER, THEODOR/KREBS, Klaus: Deutsch Oberstufe. Sprache und Literatur. München 3 1995 PAYRHUBER, Franz-Josef: Das Drama im Unterricht. Aspekte einer Didaktik des Dramas. Analysen und empirische Befunde - Begründungen - Unterrichtsmodelle. Rheinbreitbach 1991 SCHELLER, Ingo: Szenische Interpretation. In: Praxis Deutsch. Zeitschrift für den Deutschunterricht. 136(1992) 70 DERS,: Wir machen unsere Inszenierungen selber (I). Szenische Interpretation von Dramentexten. Theorie und Verfahren zum erfahrungsbezogenen Umgang mit Literatur und Alltagsgeschichte(n). Oldenburg 1993 [zit. als Scheller 1993a] DERS.: Wir machen unsere Inszenierungen selber (II). Szen. Interpretation von Dramentexten. Verlaufspläne und Materialien für einen erfahrungsbezogenen Umgang mit Literatur und Alltagsgeschichte(n). Oldenburg 1993 [zit. als Scheller 1993b] SCHNEIDEWIND, Wolf-Egmar/SOWINSKI, Bernhard: Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (= Oldenbourg Interpretationen 31). München 21996 SPINNER, Kaspar H.: Brecht didaktisch. In: Praxis Deutsch. Zeitschrift für den Deutschunterricht 148(1998) S. 16-22 WALDMANN, Günter: Grundzüge von Theorie und Praxis eines prokuktionsorientierten Literaturunterrichts. In: HOPSTER, Norbert (Hrsg.): Handbuch „Deutsch“ Sekundarstufe I. Paderborn 1984 [zit. als Waldmann (1984)] WALDMANN, Günter: Produktiver Umgang mit dem Drama. Baldmannsweiler 21999 [zit. als Waldmann (1999)] 71