"dramaturgie" 01/04 - Dramaturgische Gesellschaft

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"dramaturgie" 01/04 - Dramaturgische Gesellschaft
Caroline Peters,
Sophie Rois und
lnga Busch in
uSexl> von
Rene Pollesch im
Berliner Prater
(Volksbühne)
Foto DRAMA
Resumee des Symposiums
«Schnittstelle Theater» -.
Die Bühne und die Medien
vom 9. ~ 11. 1. 2004 in der Volksbühne Beriin
ln
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-Tote reden· doch
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1 Jahr. Kündigungsfrist: .6 Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes. Stand 2004.
Anstatteines Editorials eine Pressestimme:
Zeigt her eure Füße!
Von Matthias Heine
rei Tage lang berieten 150 Dramaturgen in
der Volksbühne über Einflüsse neuer Medien
auf das Theater. Das Symposium hieß: «Schnitt-
D
stelle Theater». Man war sich einig: Die Bühnenkunst kann der Medienweit gar nicht entkommen,
es kommt nur darauf an, wie sie damit umgeht.
Am Anfang tut es immer gut, erst mal Verwirrung zu stiften. Vor allem, wenn im Zentrum
des Nachdenkens der Begriff «Medien» steht, von
dem jeder glaubt, zu wissen, was er bedeutet. Die
Aufgabe übernahm die Allzweckwaffe Diedrich
Diederichsen. Dem Vortrag des Medien-, Pop- und
Kunsttheoretikers war eine gewisse Amüsiertheit
darüber anzumerken, dass im öffentlichen Gespräch übers Theater immer noch Grenzen verteidigt werden, die in der Bildenden Kunst und der
Popkultur längst geschleift sind.
Wenn Deutschlands gerontokratische Theaterkritik ständig die «Selbstaufgabe« eines Theaters beklagt, welches neue Medien verwendet,
dann hat das für Diederichsen viel damit zu tun,
dass Video «ein gesellschaftlich verworfenes
Medium» sei, das man von Seiten eines kultur-.
Konservative Vorbehalte gegen die Nutzung
von Medien als theatrale Darstellungsmittel entdeckt Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann
allerdings auch bei den Künstlern - und er verteidigte sie. So müsste doch eigentlich die computergestützte Herstellung virtueller Realitäten
für die Theaterleute hochinteressant sein, weil sie
es prinzipiell ermögliche, unendliche Cyberbühnenbilder zu bauen. Doch stelle er nach -hoffnungsvoll begonnenen Experimenten fest, dass
das Interesse daran rasch erlahmt sei. Man brauche offenbar die Beschränkungen durch das
Material. Oder, mit Bezug auf Kant gesagt: «Wenn
der Mensch durch Knopfdruck seine Fantasie
abarbeiten könnte, dann wäre er Gott, und das
will er gar nicht sein.»
So werden, laut Hegemann, die alten Grundverabredungen.des Theaters durch die Avantgarden meist nicht in Frage gestellt, sondern eher
bestätigt. Dazu gehöre etwa, dass man Schauspieler, die live spielen, auch sehen können muss.
Die intensive Arbeit Frank Castorts mit Video habe
pessimistischen Traditionsbürgertums für vieles
begonnen, als sein Bühnenbildner Bert Neumann
einmal jene Grundverabredung in Frage stellte: Er
Schlechte verantwortlich mache. Im Theater
werde eben, anders als in der Bildenden Kunst,
wollte das Badezimmer in «Endstation Amerika»
als völlig geschlossenen Raum und beharrte da-
immer noch zwischen ((angemessenenn und
rauf, es genüge, wenn das Publikum die Schau-
«fremden» Praktiken unterschieden.
spieler häre. Daraufhin habe ihn Castort erstens
DRAMATURG 1/2004
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·und Ulrich Khuon [Thalia-Theater) sind, außer
gezwungen, ein Fenster in das Badezimmer eine
zubauen, und zweitens beschloss er, eine VideoFrage. Grundkonsens war: Wenn Medien unsere
kamera in das Zimmer zu stellen, mit deren Hilfe
Wirklichkeit und deren Wahrnehmung bestil1)das Spiel nach draußen übertragen wird. So sei es
men, kann und soll das Theater kein medienfreies
möglich, die Vereinbarung gleichzeitig zu verletReservat sein.
zen und zu erfüllen.
Der Autor und Theaterwissenschaftler Jens
Roselt
berichtete denn auch höchst süffisantvom ·
Mittlerweile gehe es Castorf, so Hegemann,
um zweierlei: Erstens wolle er das, was ihn prägt
Besuch des lars-von-Trier-Films uDogvillen, der
(die Medien) gewissermaßen in einem Akt der
eine uäußerst altbackene Theaterästhef1kn für .das
Gegenwehr bearbeiten. Zweitens ermögliche die
Kino kultiviere. Komischerweise habe kein einziger
Kamera es ihm, Schauspieler so zu zeigen, wie sie
deutscher Kinokritikerangesichts dessen über den
uAusverkaufn und die «Selbstpreisgaben des Kinos
sich selbst nicht sehen wollen. Als Beispiel nannte Hegemann eine Szene aus uForever Youngn, in
geklagt. Etwas von diesem selbstverständlichen
der Kathrin Angerer von. ihren «hässlichen Füßenn . Selbstvertrauen täte auch dem Theater gut. 1!11
spricht und im nächsten Augenblick diese Füße
überlebensgroß auf der Videowand zu sehen sind.
Im Gegensatz zu Hegemann war bei den drei
Videokünstlern Chris Kondek, Philip Bußmann und
Jan Speckenbach (der die Kamera bei Castorf
führt) eine gewisse Faszination fürs bloße Erproben technischer Möglichkeiten zu spüren. Kondek und Bußmann haben beide für die Wooster
Group gearbeitet und ließen keinen Zweifel, dass
der erste preiswerte Videomixer, den Panasonie
Mitte der neunziger Jahre auf den Markt brachte, die Ästhetik der New Yorker Truppe beeinflusst habe. Mittlerweile arbeite man vor allem am
Apple Computer und, so Bußmann, ein Video,
dessen. Herstellung früher Wochen dauerte, «ließe
sich heute ganz einfach in Harnburg machen und
dann im ICE nach Berlin fertig schneidenn.
Ähnlich unbefangen wurde an den gesamten
. drei Tagen des von der Dramaturgischen Gesellschaft veranstalteten Symposiums vor allem über
das uWie?n der th.eatralen Mediennutzung diskutiert -.das «Warum?n stand bei Vertretern so
Zuerst veröffentlicht in der
unterschiedlicher Ästhetiken, wie es Thomas OberBerliner Morgenpost
ender (Schauspielhaus Bochum), Anne Quinones
vom 12.01.2004
(Rene Polleschs Prater), Beate Heine (Schaubühne)
www.morgenpost.berlin 1.de
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DRAMATURG 1/2004
Theater ist kein Medium- aber was
bewirkt es, wenn der Mann mit der
Videokamera auf der Bühne arbeitet?
Von Diedrich Diederichsen
nter den zahllosen Jahresendlisten und
-abrechnungen, die im Dezember des Jahres
2003 veröffentlicht wurden, konnte man auch
U
mierbar ist eben zunächst mal alles: auch Journalismus als Strategie der Bildenden Kunst oder
Fernsehen als Theater. Andererseits lässt aber die
universelle Selbstreflexion alle Mittel als markiert
diesen Notruf einer Berliner Kollegin abfangen:
Unter der Rubrik «Wünsche für 2004» hatte sie
nämlich notiert. nur einmal im kommenden Jahr
erscheinen und damit als potenziell vordergrundsfähig, als potenzielle Hauptsache- und jede ehe-
möge die Volksbühne auf eine Videoprojektion
verzichten. Warum diese Gereiztheit? Kaum vorstellbar wäre etwa der Ausruf, die Volksbühne
malige Hauptsache darf Nebensache werden. Die
Mittel lassen sich nicht mehr in genrespezifische
Kernbestände und einfallbedingte Singularitäten
möge doch wenigstens einmal im Jahr 2004 auf
sprechende Schauspieler verzichten oder auf
scheiden. Der auffällige und ausgestellte Einsatz
von medialen Apparaturen wird da leicht zum
Musik. Die Videoprojektion scheint nach wie vor
ein Fremdkörper im Theater zu sein, und das
bevorzugten Kandidaten einer solch kritischen
legitimationsprüfenden Aufmerksamkeit- und im
scheint sich auch von selbst zu verstehen.
Diskutierenswert ist aus der Perspektive des Theaters und seiner Kritikerinnen offensichtlich nur
Ergebnis dann Ursache von konsensfähiger Genervtheit.
Der Grund liegt nahe: Alle, insbesondere alle
die Frage, ob und in welcher Menge dieser im
Prinzip verzichtbare Fremdkörper auf einer Bühne
Kritiker, sind an Diskussionen über neue Medien
gewöhnt und können oft auf eine besonders reiche Erfahrung an Diskussionen über den Zusam-
erscheinen darf, nicht ob er prinzipiell als Fremdkörper zu gelten hat. Die Gereiztheit über eine
oder besser wiederholte Videoproduktionen ver-
Avantgarden des 20. Jahrhunderts zurückreicht
Ebenso alt sind alle möglichen Versuche, den
Gebrauch der unterschiedlichsten neuen Medien
wie ein Regieeinfall und daher zu den Variablen
gezählt werden müsse. Und Variable nerven dann,
wenn sie konstant wiederkehren. Das dürfen sie
in die Theaterpraxis zu integrieren, wirklich verschiedenartig sind dabei indes die Register, in
denen diese Versuche bemerkt, benannt und diskutiert werden.
Tatort, in der Volksbühne Berlin, eröffnet mit
einer Reflexion des
Medienwissenschaftlers
und Kritikers Diedrich
Diederichsen. ·
Dabei meint das Wort Medium in diesen Dis-.
kussionen ausgesprochen verschiedene Dinge: oft
mittel in allen Künsten dazu geführt, dass kaum
noch ein solches Mittel als Selbstverständlichkeit
gelten kann und sich daher jedes und auch auf
technische Einflüsse auf das Bühnengeschehen,
die nicht immer die Kategorie Medium verdienen,
jeder Ebene der Diskussion stellen muss und legitimationsbedürftig ist. Die Perspektive und Me-
sondern eher die der Apparatur, von der elektrischen Verstärkung bis zur Projektion; sodann kon-
thode der Selbstreflexion hat infolgedessen einer-
kurrente Formen von Öffentlichkeit wie Fernse-
seits die Menge und die Einsatzmöglichkeiten von
Mitteln erhöht, weil sie eine diskursive Perspektive
hen, Kino, Computer-Kultur, wo ebenfalls selten
das Mediale gemeint ist. sondern meistens
ist und ohne die Apodiktik des Künstlerturns aus-
bestimmte Erzähl- und lnszenierungsformen, .
kommt- und diskutierbar, also per Diskurs legiti-
nicht die dazu nötigen Medien; und schließlich
DRAMATURG 1/2004
«Schnittstelle Theatern
wurde am 9. Januar am
menhang von neuen Medien und Theater zurückgreifen, der mindestens bis an die Anfänge der
weist darauf, dass sie nicht zu den Theaterkonstanten, den selbstverständlichen Mitteln der Darstellung gerechnet werden, sondern als so etwas
erst dann, wenn sie als Konstanten akzeptiert sind.
Nun hat die Selbstreflexion der Darstellungs-
Das Symposi'um
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ästhetische Formate, die mithilfe von medialen
formaler und z. T. auch eben medialer Ebene, die
Architekturen als trojanische Pferde ins Theater
ja oft auch gerade dann auftauchten und lanciert
geschleust werden und dort aber als neue, ledig-
wurden, wenn der klassische Locus der Einheit -
lich medial unterstützte, aber in erster Linie
Text und Drama eben·~ gerade auseinander zu fal-
ästhetisch auffällige oder neue Elemente des
len begann, dann hätte das Theater neue Medi.en
Theaters für Unruhe sorgen- wie etwa dem Fern-
aller Art ganz entspannt in seinen extrem großen
sehen abgeschaute höhere Geschwindigkeiten
und weiten Rahmen integrieren können, in dem
oder auch deren Gegenteile, die von der installa-
doch auch sonst so vieles Platz hat. Die Idee, dass
ti.venBUdenden .Kunst beeinflussten Langsamkeiten. Getanzte Zeitlupen, gelaberte Loops und
es angemessene. und fremde mediale Praktiken auf.
der Bühne gibt, istalso eng verbunden mit dem
gescratchte Dialoge. Schließlich gibt es den Ein-
Aufkommen von Medien oder vor allem be-
. salz von Medien in einem tatsächlich medialen
stimmter Ideen von Medialität und Medienwir-
Sinne, als Extensionen oder Modifikationen der
kungen, die zu formalen Einheitsideen ermutigten.
Grundelemente des kulturellen Formats Theater:
Anders als in der Bildenden Kunst hat es im
Projektion ersetzt die vierte Wand oder Kameras
Theater nie eine besondere Nähe zwischen seinen
vervielfachen die Bühnenräume etc.
Medien und seinen
Für und gegen alle diese Entwicklungen in
ihren unterschiedlichen konkreten Ausprägungen
genutzt, die auch die Alltagskommunikation nutzt
mag es gute immanente Argumente geben, die
. und sich nur bei seinen Hintergründen und Sup-
sich aus spezifischer Ge- oder Misslungenheil
plements bei den Künsten bedient, die auf einer
ableiten, generell scheinen mir aber die allfälli-
größeren Nähe zwischen Medium und Ausdrucks-
gen Streitereien darunter zu leiden, dass es jen-
mittel verfügen - wie etwa die Malerei und in
seits der Verwechslung von jeweils Technik,
einem gewissen Sinne auch die Musik. ln der
Öffentlichkeit undÄsthetik mit einem verallge-
Nachfolge Wagners, des Symbolismus und später
meinerten Medienbegriff zwei unausgetragene
Futurismus,
Unklarheiten gibt: zum einen, ob sich das Thea-
Synästhetisisten oder Synästhetikern wurden
von
Huysmans
und . gewissen
ter selbst als ein Medium verstehen will, das sich
Modelle und .Utopien entwickelt, mithilfe von
gegen andere verteidigen oder von ihnen ergän-
architektonischen oder medialen Apparaten und
zen lassen will, und zum anderen welchen Status
Maschinen auch die Ausdrucksmittel der Künste
Medien - alte wie neue - eben genau dann im ·
zu vereinheitlichen, von einem Zentrum aus steu-
Theater haben, wenn es sich, wofür ich argumen-
erbar und programmierbar, ja vergleichbar und
tieren möchte, gerade nicht als ein Medium ver-
ineinander übersetzbar zu machen. Und natürlich
. steht oder verstehen sollte.
Es ist offensichtlich und bedarf wohl keiner
war das Theater mit seinem Sammelsurium an
Künsten und Kunstfertigkeiten ein geeigneter Ort
ausführlicheren Begründung, dass Theater aus den
oder zumindest ein geeignetes Modell solcher
verschiedensten künstlerischen Gattungen und
mediatisierter totaler Kunst.
Formaten zusammengesetzt ist, und doch ist
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b~rstellungsmitteln gegeben.
Das Sprechtheater hat in der Regel die Medien
Es kam.jedoch anders, und im Aufstieg des
schon diese Formulierung irreführend, weil sie ein
Films ist genau eine solche medial vereinheitlich-
Ganzes aus Teilen suggeriert. Ein solches Ganzes
te Kunst aus den vielen Künsten realisiert worden:
- wie am berühmt-berüchtigsten in der Idee des
Regisseure, Bühnenarbeiter, Darsteller, Beleuchter,
Gesamtkunstwerkes - setzt nämlich auch ein
Fotografen, Bühnenmaler und -bildner, sie ·alle
Integrationsprinzip voraus, das über aller Zusamc
arbeiteten beim Film nur noch an einem belich-
mengesetztheil stehen müsste und so auch die
teten Streifen Celluloid, der also wegen und durch
Unterschiedlichkeil der verschiedenen Medien
seine medialen Eigenschaften die vielen Künste
aufheben würde. Ein solches Prinzip mag in tra-
in ein Objekt .einschmolz - und überließen das
ditionellen Theaterformen auf der Ebene des Tex-
Theater seiner natürlichen, disparaten Heteroge-
tes, des Dramas oder in noch traditionelleren ritu-
nität.
ellen Funktionen bestanden haben, aber die Idee,
Meanwhile im Lager der Bildenden Kunst:
dass es eine solche Einheit auch auf der Ebene der
Auch dort hatte naturgemäß der Aufstieg neuer
Ausdrucksmittel geben könne, ist relativ spät, ist
Bildmedien stark eingeschlagen. Wenn wir das
Ausdruck spezifischer Ideologien im Umkreis des
20. Jahrhundert grob resümieren, kann man sa-
Gesamtkunstwerk-Gedankens und tatsächlich auch
gen, dass dieser Aufstieg dazu geführt hat, das
des Aufkommens neuer Medien im Umkreis des
Verhältnis von Ausdrucksmittel und Medien in der
Theaters. Gäbe es nicht diese Einheitsvisionen auf
Bildenden Kunst nach und nach völlig neu zu
DRAMATURG 1/2004
definieren. ln der Nachfolge von Duchamp und
der symbolischen Spielregeln auf die Milieus und
vor allem seiner neo-avantgardistischen Rezepti-
die ökonomischen Hintergründe ist auch insofern
on in der Nachkriegszeit und in der Konzept-
keineswegs beliebig, als diese auf sehr spezifische
Kunst der Sechziger ist die Bildende Kunst dazu
Weise die Hardware der symbolischen Regel. bilden
übergegangen, Kunststatus und Kunst/Nichtkunst-
und ihre Genese beeinflusst haben: Weiß gestri-
Unterscheidungen eher in externen Spielregeln,
chener Galerieraum und die symbolische Archi-
symbolischen Rahmungen wie dem White Cube
tektur des Theaters haben gewiss eine prä- wie
der modernistischen Galerie und in den sozialen
prolo-symbolische Vorgeschichte, eine sozusagen
und wirtschaftlichen Bindekräften eines Kunst-
historisch-materialistisch zu erschließende Dimen-
Milieus zu situieren als in der traditionellen und
sion jenseits ihrer bloßen Funktion bei der Orga-
auch traditionell modernistischen Orientierung an
nisation und Distinktion symbolisch kultureller
den eng miteinander verbundenen Darstellungs-
Weiten. An ihnen lassen sich .auch die gesell-
mitteln und Medien in Malerei und Skulptur- von
schaftlichen Gründe ihrer Genese noch erkennen,
alldiesen Definitionen und Lokalisierungen gibt es
der idealistisch weiße,.die Kontextualität zuguns-
normativ-optimistische und rein deskriptive, die
ten von Autonomie eindämmende, Sicherheit und
zum Pessimistischen tendieren. Ihnen gemeinsam
Asyl vor allzu großer Nähe zu den Bedeutungen
ist, dass sie alle sehr den ähneln, die das moderne
da draußen versprechende Raum ebenso wie
Theater auch in seinen Selbstbeschreibungen
Bühne, Zuschauerräume und die ganze symboli-
äußert: den Status oder auch die Grenzen des Fore
sche Architektur des Theaters als exemplarische
mates machen Spielregeln und symbolische Übe-
Öffentlichkeit un.d symbolische Wiederholung der
reinkünfte aus, an die systematische Stelle des
Ordnung der Weit. Der White Cube arbeitet mit
White Cube und seiner symbolischen Funktion
der Dialektik von Hereinlassen und Aussperren
könnte etwa beim Theater die vierte Wand tre-
von Weit, das Theater mit Wiederholung, Entzie-
ten. Obwohl natürlich diese beiden Übereinkünf-
hung und Überbietung derselben.
te viele Jahrzehnte der Übertretungen und wei-
Der nun schier unüberwindliche Graben zwi-
tere der Dekonstruktion hinter sich haben, ist
schen den Milieus, eher ihrer sozialen Genese und
nicht nur ihre symbolische Virulenz wenig ge-
Reafität geschuldet als wesentlichen inhaltlichen
schwächt, entscheidender ist," dass mit ihnen der
Differenzen, allenfalls der Differenz von überwie-
weder medienbezogene noch auf künstlerische
gend staatlich zu überwiegend privatwirtschaft-
Mittel verweisende Versuch, Theater und Bilden-
lieh finanziert, dieser Graben der Kenntnisse,
. de Kunst über symbolische und soziale Verein-
Erfahrungen und Biographien täuscht also über
barungen als kulturelle Formate - und nicht als
einen gewissen Bestand an Gemeinsamkeiten hin-
Medien - zu beschreiben, sich _als .relativ erfolg-
weg. Man muss aber unterscheiden, dass die Bil-
reich erwiesen hat. Natürlich gibt es wichtige
dende Kunst sich, indem sie sich der Medien-Dar-
Unterschiede: Der Druck, den die Anwesenheit
stellungsmittei-Engführung entledigte, einer tra-
eines Publikums erzeugt, ersetzt oder mildert das
ditionell starken und wesentlichen Selbstbeschrei-
symbolische Diszipiinierungsbedürfnis und die
bung entledigte, die nicht nur bis heute im Volks-
Notwendigkeit, Grenzen symbolisch in die Rezep-
mund überlebt, sondern auch viel mit ihrer öko-
tion einzufräsen, die in der Bildenden Kunst der
White Cube leisten muss. Weswegen auch dessen
nomischen und kulturellen Herkunft aus dem
Handwerk zu tun hat. Dar.um wird die Geschichte
Dekoristruktion attraktiver ist.
dieser Entledigung auch- übrigenskontrafaktisch
Wiederum bei.den gemeinsam ist aber, dass
-immer wieder gern als eine von brachialen Para-
man den symbolischen Vereinbarungen ein sozia-
digmenwechseln erzählt, in der Schlüsselwerke
les Korrelat, ja ein Milieu zuordnet, einen kultu-
(Urinoir, Flaschentrockner, Brillo Box, Art as ldea
rellen Resonanzraum, der die beiden Formate oder
as Art etc.) und5chlüsse}künstler (Duchamp, War-
Disziplin dann wieder- gerade durch ihre struk-
hol, Weiner etc.) heroische Rollen spielen. Hinge-
turelle Ähnlichkeit -.stark unterscheidet und da-
gen scheint die Selbstverständigung des Theaters
für sorgt, dass womöglich identische mediale.
als ein Bündel loser und erweiterbarer wie redu-
Praktiken - z. B. in der Performance Art, in der
zierbarer Praktiken unter dem Regime einiger
Bewegt-Bild-Installation -sich auf ganz unter-
symbolischer Regeln eher nach und nach gewach-
schiedliche milieu-interne symbolische Vereinba-
sen zu sein und ist- soweit ich sehen kann- nicht
rungen beziehen und folglich etwas völlig ande-
an Kriegserklärungen und goldene Worte gebun-
res bedeuten und auch in völlig unterschiedlichem
den. Entsprechend wenig gehört sie zur Verfü-
Maße originell bzw. gut sein können. Dieser Bezug
gungsmasse der im Alltagsbewusstsein der Thea-
DRAMATURG" 1/2004
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termacher abrufbaren theoretischen Statements,
Es geht nämlich nicht um Medien. Es geht
entsprechend. unklar und ungeklärt bleibt das Ver-
um ein Medium, es geht um Video. Es geht auch
hältnis zu neuen Medien. Es hat nie zur großen
nicht um jeden Einsatz von Video: Bühnenbild-
Krise geführt, also führt es immer wieder zu klei-
nerische sind meistens unproblematisch, es geht
nen Krisen.
um Video in zwei Verwendungen. Zum einen
Dafür gibt es eine andere sehr bewusste und
wären dies Videoprojektionen, die nicht als Verpräsente Problematik im Selbstverständnis des
schönerungen oder Extensionen oder MetarefleTheaters, und das ist die Nähe der neuen· Medien
xionen des Bühnenraumes gelesen werden könzur Privatwirtschaft, zu kapitalistischer Konkurnen; sondern sich als das Eindringen der schmutrenz, zu ökonomischen Prinzipien, die das ökonozig-hässlichen Weit des Fernseh-Narrativ lesen
mische Format- nämlich staatsabhängig und mitlassen müssen, und zwar auf einer produktionstelständisch - wenigstens des deutschen Stadtästhetischen Ebene, nicht als wohlfeiles Zitat. Zum
und Staatstheaters gefährden könnten: Neue
anderen ist es die Videokamera in unmittelbarer
Medien ·sind nämlich immer entweder sehr, sehr
Verschaltung miteinem beweglichen Akteur, nicht
billig oder sehr, sehr teuer - und das Stadttheaim Sinne einer Thematisierung seiner Körperlichter liegt diesbezüglich sehr, sehr dazwischen keit- wie es sie im experimentellen Theater wie in
genau in der Mitte zwischen Hollywood-Budgets
der Performance-Kunst seit Ewigkeiten und längst
und alternativem Stadtteilaktivismus mit Net.Art.
kritisch durchgewunken gibt - sondern im Sinne
seiner Thematisierung als dramatischer RollenträDoch glaube ich auch nicht, dass diese Verspannung durch ein Konkurrenzgefühl zu jeder mediager mit Kamera, als Mann mit der Videokamera:
len Produktion, von einer von ihrer bloßen - tenim Sinne einer Karikatur des Mannes mit der Filmdenziell mittelständisch produzierenden- Größekamera und der an ihn in den zwanziger Jahren
nordnung des Theaters her, das zwischen medienvon unter anderem seinem Erfinder, Dziga Vertov,
gestützter Ich-AG und Spektakelindustrie sich als
gesetzten Hoffnungen.
die falsche und überlebte Unternehmenssorte
Beide Anwendungen sind tatsächlich Speziaerweisen könnte, nicht wirklich entscheidend zur
litäten dieses Hauses und nicht nur von Inszenierungen ihres Intendanten. Was aber macht ihre
Verantwortung gezogen werden kann, für das
immer wieder aufflammende Krisengespräch über
Spezifik aus, in welcher Weise durchbrechen sie
zu viel (oder auch zu wenig) neue Medien im
den längst etablierten Konsens, dem Theater eine
Theater.
prinzipielle lntermedialität im Rahmen seiner
Denn wenn es darum geht, was an deren Einsymbolischen Spielregeln zuzugestehen? Wenn
satz falsch wäre, wird man sofort eine ganze Reihe
man etwa in Hans Thies Lehmanns einflussreicher
von medialen Einflusstypen als konsensfähig und
Schrift über das postdramatische Theater liest,
für unbedenklich erklärt streichen. Als Thema und
was da über das Verhältnis jüngeren Theaters zu
technischen und elektronischen Medien gesagt
Gegenstand sind sie kein Problem, als zitierte Ausdrucksmittel, die von einer medialen Realität in
wird, fällt auf, dass Lehmann für ein Theater, das
die des Theaters überführt werden, auch nicht. Als
mit elektronischen Medien arbeitet, synonym
apparative Aufrüstung stören sie nur die, die auch ·immer wieder den Begriff High-Tech-Theater eingegen tradit!one!!e Apparate für armes Theater·
setzt. Das zeigt, dass elektronische Medien, auch
plädiert hatten. Ich glaube nicht einmal, dass
dann, wenn das weder ökonomisc.h noch techgroßformatige, das Bühnengeschehen nicht ernisch zutreffend war, immer als teuer und avanweiternde, sondern oft unterbrechende Videoprociert verstanden wurden, womit im Subtext die
jektionen wie sie in diesem Hause (der Volksbühimplizite Kritik auch verbunden sein konnte, dass·
ne) häufiger vorkommen, normalerweise ein Probdurch die Verwendung von High-Tech· die ästhelem wären, wenn sie stär".er mit der visuellen Kulitische Avanciertheil zu kurz kommt, denn sie wird
narik des elektronischen Bildes arbeiten würden
ja an die Technologie delegiert, nur die ist dann
- sie würden dann allenfalls aus Geschmacksavanciert.
gründen abgelehnt oder als Exte~sion des TheaWeniger bekannt ist aber, dass technische
terraums begrüßt werden, als neue Form des Büh- · Medien heutzutage auch Low Tech sein können,
nenbildes, nicht als Attacke auf den Bestand.
ja, da der nichtmediale Rest des Theaters techDafür ist meiner Ansicht nach eine andere Entnisch nicht markiert ist, sogar die einzige Mögwicklung verantwortlich, und sie gilt es präziser
lichkeit darstellen zu einem alltäglichen und verbreiteten Mediengebrauch, jenseits der bloßen
beim Namen zu nennen. Ich halte sie auch für
Zitation, sich zu verhalten, der nicht mehr als
eine tatsächlich interessante.
6
DRAMATURG 1/2004
im elektronischen Medien im Thea-
ästhetische Bereicherung oder Konkurrenz sich
logische Seite
lesen lässt, sondern vielmehr als Kommentar zu
ter interessant wie bei der Bildenden Kunst, die
sich komplett reddinieren musste, nachdem ihr
medialen und ästhetischen Verhaltensweisen der
Zeitgenossen fungiert. Dieser billige, aber mobile,
trashige, aber treffende Alltagsumgang mit der
Kamera ist die andere Seite der Spektakelindustrie, aber auch ohne sie nicht zu verstehen.
Dieser Umgang hat wenig noch zu tun mit den
aufklärerischen, an dokumentarische Formate
gebundenen Hoffnungen, die einst mit ihm verbunden waren, sondern steht eher für den unumwunden
hochbeschleunigten verwertenden
Zugriff auf Bilder von Lebendigkeit in alltäglichen,
kleinen Ausbeutungsverhältnissen. Gleichzeitig
sind mobile Videobilder auch eng verbunden mit
schnellen und kurzfristigen Ermächtigungseffekten, Kompensationen der eigenen Bedeutungslosigkeit.
Es ist alsö auf den ersten Blick kein formaler
Aspekt dieses Mediums, der ausgestellten, beweglichen Videohandkamera, der zählt, sondern seine
enge Verbundenheit mit einer neuen Alltagsästhetik und Alltagsperformativität der Low Culture. ln den großen Videoprojektionen ist dies
auch entscheidend, wenn auch leicht verschoben.
Was an der großen Projektion während «Der Meister und Margarita» etwa skandalisierte, war nicht
nur die Länge und Ununterbrochen heil, die ihr
zugebilligt wurde, auch nicht, dass in ihr geschehen durfte, was sonst so selten geschehen darf,
dass eine Erzählung unumwunden voranschreiten
konnte und der Bühne das Drama wegzunehmen
drohte: Als hoch auflösende Videoinstallation
oder als 35mm-Film wäre das kein Problem gewesen. Der Skandal bestand darin, dass es sich um
eine Fernsehübertragung aus Golgatha handelte,
keine Bill-Viola-Feierlichkeiten, sondern eine in
jeder Kamerabewegung erkennbare RTL-11-Ästhetik.
Diese mit der Videokamera und -Projektion
entstandenen Indices gesellschaftlicher Wirklichkeit entwickeln dennoch auch einen formalen,
theaterästhetischen Vorschlag zum Status von
elektronischen Medien: Diese muss man sich nämlich im Theater als Ausdrucksmittel vorstellen so
wie andere auch. Da sie nicht mit dem Theater
zusammenfallen, sondern nur, wie so viele andere Ausdrucksmittel auch, sich zu einer Aufführung
hinzuaddieren dürfen, müssen sie so behandelt
werden wie die anderen. Denn das Theater ist kein
mediale Konkurrenz erstanden war. Es ist nicht
interessant, wie und ob elektronische Medien die
formalen Rahmenbedingungen des Theaters
grundsätzlich erschüttern. Es geht eher darum,
inwieweit ihnen als Mitteln dieselbe kenntnisreiche Sorgfalt entgegengebracht wird, wie anderen,
konventionellen Ausdrucksmitteln: D. h. sie sind
nicht sauber, geschichtslos, mechanisch, formal.·
An ihnen kleben Verwendungsgeschichten,
metonymische Inhalte, mediengeschichtliche
Katastrophen und Epiphanien, aber vor allem Alltagsrealität Dies sind die Maschinen, mit denen
die Subjekte ihre Freizeitarbeit verrichten. Sie
sprechen ihren Dialekt. Man muss mit ihnen·
umgehen wie mit Sprechweisen~ deren Geschichte, Manieriertheiten, Abgedroschenheilen etc.,
unter Umgehung der üblichen Fallen wie reiner
Naturalismus, reine Distanzierung etc. Doch schon
der bloße Anblick einer Kamera, nicht erst des Bildes, das sie erzeugt, kann brüllend komisch sein.
Dann erst, wenn man sich klar macht, dass
z. B. Video nicht nur dann Low tech ist, wenn man
billige und in Arbeitslosenfamilien und Privatfernsehproduzentenklitschen verbreitete Formate
verwendet, sondern dass es ein gesellschaftlich
verworfenes Medium ist, das im Zweifelsfall
immer dann verantwortlich gemacht wird, wenn
Jugendliche verrohen, ihre Eitern verblöden und.
alle bis an den Rand oversexed sind - obwohl all
die vermeintlich von Horror-Videos verführten
Schlitzkiller und Amokläufer meistens Fernsehund Kinokopien gesehen haben -dann erst, wenn
die Verwendung des Mediums durch seine gesellschaftlichen Images, seine Rezeptions- und seine
Technikgeschichte hindurchgegangen ist, dann,
ja dann kann man auch den Bühnenraum ganz
konisch öffnen, 360-Grad-Zuschauerräume entwickeln und die formalen, architektonischen, physischen, ja dramaturgischen Möglichkeiten dieser
Augen-Prothesen nutzen - und schließlich sogar
die symbolischen Sicherheiten ein bisschen erschüttern, die beim Theater immer jede mediale
Bestimmung überlagern und dominieren. Der
Mann mit" der Videokamera erhält dann in der
doppelten Verneinung seines alten utopischen
Vorfahren ein bisschen von seinem RealismusVersprechen zurück. 111
Medium, es nimmt nur Medien als Ausdrucksmittel auf, nicht als Medium. Eine Aufführung wird ja
nicht zum Videofilm, sie bleibt eine Aufführung.
Aus diesem Grunde ist nicht die ästhetisch-onto-
DRAMATURG 1/2004
7
Was bewirkt die Kamera auf der Bühne
bei den Schauspielern?
Von Carl Hegemann
ln der auf
Diederichsens Vortrag
folgenden Diskussion
meldete sich der
Chefdramaturg der
Volksbühne
Carl Hegemann
folgendermaßen
zu Wort:
M
it diesem Videomedium beschäftigen wir
noch potenziert, wenn auf dieser Leinwand und
etwas zu haben, woran wir uns abarbeiten können
auf diesen Fernsehern zu sehen ist, was um sie
und was nicht nurirgendeine Art von Perfektion
herum stattfindet. Dann kann man sich über die
ins Theater bringt, die Menschen nicht entspricht
Effekte unterhalten, die das auslöst.
oder noch nicht entspricht. Wir haben lediglich
Der wichtigste Effekt für Castorf ist zur Zeit
damit mal in Gedanken experimentiert, als wir
- bei seiner letzten Produktion «Forever Young»-
dieses «Lasst uns Menschen machen» anfingen,
kurioserweise das Dokumentarische. Nicht Fernse-
diese Elementarteilchengeschichten, wo Gentech-
hen als Manipulationsmedium, das interessiert ihn
nologie und digitale Technologie plötzlich eine
gar nicht. Ihn interessiert die Möglichkeit, dass der
Einheit bilden. Da haben wir festgestellt: Wir wol-
Mann mit der Videokamera die Füße von Kathrin
len damit nichts zu tun haben. Jedenfalls Castorf
Angerer filmt und dass die dann sagt: «Ich will
können die ganze Gentechnologie, alle medialen
nicht, dass du meine Füße filmst, weil die häss-
und digitalen Perfektionsapparaturen gestohlen
lich sind.» Und Wuttke sagt dann: «Ach, hast du
bleiben. Dem geht es darum, das Medium, das er
bei deinen tollen Filmen immer ein Fußdouble
zu Hause stehen hat. den Fernsehapparat, mit sei-
gehabt?!» Und man sieht dann die Füße wirklich
ner eigenen künstlerischen und ästhetischen Pra-
und kann sich selbst über die Kamera ein Bild
xis zu konfrontieren, so dass er es auf irgendeine
machen, wie hässlich diese Füße sind.
Weise bearbeiten kann und in der Hand hat. Das
ist erst mal. der Ausgangspunkt.
Jetzt passiert auf der Bühne allerdings etwas
Bemerkenswertes, was.sich wirklich völlig davon
8
frontiert. Und dieses Phänomen wird natürlich
uns an der Volksbühne offensichtlich, um
Castorf geht in seinem Zynismus, den ich
aber wirklich für einen sehr reflektierten Zynismus
halte, so weit zu sagen: Mit Hilfe der Kamera kann
ich die Schauspieler so zeigen, wie sie sich selbst .
unterscheidet, dass man ein Transistorradio auf
nicht sehen wollen. Das ist unser möglicherweise
die Bühne stellt oder irgendwelche anderen
infames Bedürfnis, die Möglichkeiten von Thea-
Gegenstände, die man aus der Weit auf die Bühne
ter mit Hilfe des Mannes mit der Kamera auf eine
stellt. Das Interessante ist ja zunächst mal, dass
Weise zu erweitern, dass die Schauspieler nicht
sowohl der Fernsehapparat als auch die Kinolein-
nur so gezeigt werden können, wie sie sich sehen
wand per Definition für sich stehen. Wenn ich
wollen, sondern auch, wie sie sich selbst nicht
Fernsehen gucke, dann gilt das Wohnzimmer
sehen wollen. Dadurch kommt natürlich eine Ehr-
nicht, dann gilt nur dieses Display. Alles andere
lichkeit oder ein dokumentarischer Charakter von
wird ausgeblendet. Auch bei der Leinwand, in dem
Menschenschicksalen in die Produktion rein, die
Moment, wo das Licht ausgeht. ist das Kino weg,
das herkömmliche Theater überwindet. Deshalb ist
und ich versetze mich in das Kinobild. Wenn ich
die Benutzung dieses Mediums Video im Theater
die Leinwand oder den Fernseher aber auf die
etwas völlig anderes als eine Illustration oder
Bühne stelle, gibt es einen Statuswandel der Lein-
Dokumentation durch Bilder, vielmehr kann man
wand oder des Fernsehapparates, weil sie zum
gleichzeitig das Illusionäre sehen, das das Theater
Requisit werden. Sie sind plötzlich in einem Kon-
herstellt und wie es durch den Blick des Mannes
text. Die Leinwand steht in einem Kontext. da-
mit der Kamera unmittelbar gebrochen wird.
durch wird das Bühnenbild zur Installation. Das
Wenn man diese beiden Positionen vergleicht und
scheint mir ein wichtiger Vorgang zu sein, der von
sich die Möglichkeiten anguckt. die da rauskom-
den Kritikern kaum wahrgenommen wird, dass der
men, kommt man zu dem Schluss, das das neu ist
Status dieser Leinwand im Theater ein völlig ande-
in der Geschichte. Man kann nämlich mit Hilfe
rer wird, sie wird nämlich miteiner Umwelt kon-
dieser Kombination der Au.sdrucksmittel Theater
DRAMATURG 1/2004
'·
und Videomedium etwas schaffen, was es weder
in dem einen noch in dem anderen gibt. Es geht
um das erstaunliche Phänomen in der Verwen- ·
dung eines in den letzten fünfzig Jahren erfun~
denen Requisits im Theater. Damit verändern sich
Grundverabredungen des Theaters, von denen
man dachte, sie bleiben 2500 Jahre die gleichen.
Und alles Avantgardistische und alles Experimentelle im Theater dient nur dazu, diese Grundverabredungen letztlich zu bestätigen.
Eine Grundverabredung des Theater ist. dass
es Schauspiel ist, dass die Schauspieler auf eine
Bühne erhoben sind, so dass die Leute sie sehen
können. Und dass sie möglichst alles, was sie
spielen, so machen, dass das Publikum sie am
besten sehen kann. Die Aufgabe des Regisseurs
besteht im Grunde genommen in nichts anderem als dafür zu sorgen, dass die Schauspieler
sich nicht gegenseitig die Sicht nehmen. Und
jetzt kommt Bühnenbildner Neumann - das fing
an mit «Endstation Sehnsucht» - und baut ein
vollkommen geschlossenes Badezimmer und
sagt: Dann hört man die Schauspieler eben nur,
die drin sind. Dazu sagt Castorf, dass er das nicht
machen kann. Neumann meint, die Tür ist auf,
man kann doch durch die Tür gucken. Castorf
sagt nein, das widerspricht allen Grundverabredungen des Theaters. Bert Neumann wollte als
Experiment mal probieren, die vierte Wand nicht
zu beseitigen, sondern sie komplett zu schließen
und zu gucken, was passiert Er hat immerhin
noch extrem große Fenster eingebaut und dann
auch Mikr.ophone. Castorf wollte fast alles im
Badezimmer spielen lassen und dann kam der
geniale Gedanke (vor Big Brother): Wir stellen die
Kamera da rein. Und damit war es möglich, eine
grundlegende Theaterverabredung darin wirklich
zu verletzen und gleichzeitig mit Hilfe dieses
anderen Mediums auf eine Weise wieder zu
erfüllen, die einen besonderen Effekt hat. Und
das scheint mir eine Schlüsselstelle zu sein, die
völlig anders ist, als wenn irgendwelche japani-
mäßigen Theatergruppen zum Beispiel die Zuschauer einsperren.
Man kann das einmal machen, um die Regel
zu zeigen: Zuschauer müssen die Möglichkeit ha- .
ben, ein Theaterstück jederzeit zu verlassen. Und
so kann man auch. einmal die Bühne zumauern,
um die unausgesprochene Hintergrundannahme
deutlich zu machen: Eine Bühne hat einfach in
Richtung der Zuschauer offen zu sein, und sie hat
sichtbar zu sein. Man kann auch mal wie bei
Marthaler eine Szene im Dunkeln spielen lassen,
aber es hat immer nur die Bedeutung: Eigentlich
muss genug Licht da sein, damit die Zuschauer
auch sehen. Und jetzt plötzlich mit InfrarotKameras· kann man das alles machen, und der
Zuschauer muss nicht düpiert nach Hause gehen,
sondern kann etwas besonders Interessantes
genießen. Das ist, was eigentlich das Sensationelle ist, wenn wir hier über Schnittstelle Theater
reden. Es ist da etwas reingekommen, was Dinge
möglich macht, die früher nur als Witz oder als
Experiment oder als Beweis, dass das nicht geht,
im Theater möglich waren, und die jetzt als
Erfolgsproduktionen möglich sind, jenseits eines
experimentellen Status.
Das kann man bei der Inszenierung von
uForever Youngn sehen, wo wir die Kamera einfach
auf eine Weise benutzen, dass man sich darum
keine großen Gedanken macht. Die Hälfte des
Stücks spielt live hinter der Bühne. Das ist natürlich ·auch als eine Art von Verschwendung zu
sehen, das merken die Schauspieler und sagen:
Warum können wir nicht, wenn wir hinter der.
Bühne sind, Karten spielen gehen oder in die Kantine? Man kann dann doch einfach das Video von
der letzten Vorstellung zeigen. Das sagen sie aber
eigentlich nur als Witz, weil sie genau wissen, dass
das nicht geht. Die Sache mit dem Video auf der
Bühne ist keine Arbeitserleichterung, sondern mit
Sicherheit eine extreme Arbeitserschwerung und
eine größere Selbstpreisgabe der Schauspieler, als
wenn diese Kameras nicht da wären. 1111
schen oder wild gewordenen oder schlingensief-
DRAMATURG 1/2004
9
Was alles video-technisch möglich ist
Von Jan Unders
Jan Linders präsen. tierte am Freitagnachmittag be"i «Schnittstelle Theater)) die
Videokünstler Chris
Kondek, Ph Hip
BuBmann und Jan
Speckenbach. Sein
nebenstehender
Beitrag führt die
Präsentation weiter
durch einen Beispielkatalog.
D
ie Frage nach der Berechtigung von Video auf
Time" und lnternet-«Echtzeit" für die Normalver-
dem Theater hat die Praxis beantwortet; sein
braucher kostbare Zehntelsekunden liegen. Vo-
Einsatz ist längst nicht mehr bloßes Zeichen für
raussetzung für den Zuschauer ist es, die Bildpro-
· Avanciertheit, sondern bewusst eingesetztes Mit-
duktion (live) und die nicht mehr ganz simultane
tel. Seitdem dieTechnikjedem Theatermacher zur
Bildwiedergabe parallel verfolgen zu können.
Verfügung steht, hat sich ihre Verwendung aus-
Dann kann sich ein Darsteller mit seiner jüngsten
differenziert und ein ästhetisches Repertoire ent-
Vergangenheit rückkoppeln oder die eigene Zu-
wickelt, das dem Theater neue Möglichkeiten der
kunft voraussagen. Philipp Bußmann arbeitet in
Repräsentation und Narration eröffnet. Zu stu-
«Decreation" (Regie: William Forsythe, Ballett.
dieren ist mithin die Form desjeweiligen Einsat-
Frankfurt 2003) mit der gleichen Technik, indem
zes; eine unvollständige Anleitung dazu will die-
er eine live aufgenommene Tanzbewegung im
ser Text geben.
Computer zwischenspeichert und mehr und mehr
verlangsamt abspielt.
ClOSED CIRCUIT
ln Großbritannien ist die Video-Überwachung des öffentlichen Raumes bekanntlich
INVISIBLE MODE
Chris Kondek und Philipp Bußmann wissen
flächendeckend. Die walisischen Theatermacher
zu berichten, dass Elizabeth LeCompte, die Regis-
Mike Brookes und Mike Pearson spielten darauf
seurinder Wooster Group, seit «Brace Up!" (1991)
an, als sie am Mittag und am Abend desselben
Monitore auf der Bühne einsetzt, die nur für die
Tages die behinderte Performerin Lyn durch·die
Darsteller sichtbar sind. Die auf ihnen laufenden
Straßen von Cardiff zum Chapter Arts Center tru-
Filmausschnitte (meist B-Movies oder Fernseh-
gen und die Route jeweils mit Video und Polara-
serien) dienen als «Bewegungsmatrizen" (Buß-
ids dokumentierten. Am Abend präsentierte Mike
mann) oder choreographische Souffleusen: Nah-
Pearson die Dokumente der Aktion dem Publikum
·aufnahmen bringen die Darsteller an dfe Rampe,.
von «Carrying Lyn" (2001) im Arts Center in einer
Schwenks nach links oder rechts, Totalen schicken
Mischung aus «historischen" Tagesbildern und
sie zurück.
aktuellen Bildern vom Abend, die ein Kurier mit
15-minütiger Verzögerung aus der Stadt in den
LUMINANCE KEY
Saal brachte. Mit der Ankunft der Performer fie-
Die Videotechnik kann Berge versetzen: Live
len Dokumentation und Realität, Erzählzeit und
aufgenommene Darsteller können in vorprodu-
erzählte Zeit in eins. Die vortechnische, unmittel-
zierte Hintergründe gestanzt werden. Chris Kon-
bare Ursituation des Theaters war wiederherge-
dek ermöglichte es den Schauspielern von «Bei
stellt, die beobachtenden Zuschauer waren wieder
Banküberfällen wird mit wahrer Liebe gehandelt»
von den Akteuren Beobachtete.
(Regie: Stefan Pucher, Schauspielhaus Zürich
2003), sich auf künstliche Sofas zu setzen. Phi-
I
DELAY
lipp Bußmann kombiniert in ~>Hause
ln seiner Börsenhandels-Performance «Dead
(WoosterGroup 1999) Körperteile- durchWisch-
Cat Bounce" (Hebbel am Ufer 2004) hat Chris
Lights"
blenden verbindet er die Übergänge.
Kondek mit dem Delay-Effekt experimentiert. Ein
Live-Bild wird ini Computer zwischengespeichert
10
MEMORY STICK
und wenige, aber entscheidende Sekunden spä-
Die italienische Societas Raffaello Sanzio
ter wiedergegeben - so wie im elektronischen
arbeitet seit 2002 an ihrer «Tragedia Endogonidia"
Börsenhandel zwischen professioneller «Real
und entwickelt sie an jedem ihrer zehnSpielorte
DRAMATURG 1/2004
zwischen Avignon und Berlin (Hebbei-Theater)
ler zum Schlussapplaus fallen sie wieder zusam-
weiter. Im Anschluss an die etwa einstündige Auf-
men.
führung sieht das Publikum im gleichen Saal als
Videoprojektion einen Zusammenschnitt der bis-
OLD MOVIE
herigen Versionen, die eine ver'!landte Handlung
Naturgemäß erscheint jedes bewegte Bild
mit anderen Mitteln erzählt haben. Erst durch die-
dem Zuschauer im Kontext seiner Sehgewohnhei-
sen (fakultativen) zweiten Teil des Abends wird
ten als Fernsehen (wenn erkennbar live produ-
das Gesamtprojekt als Reihe von Metamorphosen
ziert) oder als Film (wenn vorproduziert). Mit
erfahrbar. Die aktuelle Aufführung hat sich in
Video ist nicht nur die Live-Produktion vo"n Bil-
Geschichte verwandelt; auf das noch frische Erin-
dern möglich geworden, sondern die Filmge-
nerungsbild wird ihre Vorgeschichte projiziert. Die
schichte steht als Bildersteinbruch zur Verfügung.
Tiefendimension der Bühne hat sich in die Dimen-
Analog zu Eisensteins «Montage der Attraktionen»
sion der Zeit transformiert.
kann der Videokünstler zum realen Bühnengeschehen dialektische Bilder montieren; das Thea-
NIGHT SHOT
terbild durch filmische Verweise vertiefen. Jan
Eine Videokamera kann für den Zuschauer
Speckenbach spielt in einer Gartenszene von
·unsichtbares sichtbar machen: nicht nur hinter
«Forever Young» (Volksbühne Berlin 2003) einen
vierten Wänden («Erniedrigte und Beleidigte» und
Ausschnitt aus «Apocalypse Now» zu. Chris Kon-
Folgende, Regie: Frank Castorf, Video: Jan Spe-
dek nutzt sein Filmarchiv noch abstrakter, wenn er
ckenbach; «Kammer Kammer», Video: Philipp BuB-
in seinem Börsentheater «Dead Cat Bounce» ein
mann). sondern auch an lichtlosen Orten. Video-
immer weiter galoppierendes Pferd als Endlos-
kameras können im Gegensatz zum menschlichen
schleife zuspielt, während die Darsteller darauf
Auge auch den Infrarotbereich wahrnehmen. ln
warten, dass die Börsenkurse zu laufen beginnen,
«Frau unter Einfluss» (Prater der Volksbühne,
Reige: Rene Pollesch) lässt Chris Kondek die Kame-
PLAYBACK
ra unter das Kleid einer Darstellerin schlüpfen. Die
Vorproduzierte Film- oder Videozuspielungen
deutsch-britische Performance-Gruppe Gab Squad
haben auf dem Theater häufig eine illusionistische
hat auf die «night shot»-Funktion der Kameras
Wirkung; ein Live-Video wird vom Publikum dage-
ihre jüngste Produktion (Prater der Volksbühne
gen als dokumentarisches Mittel akzeptiert - als
2003) aufgebaut. Eine Stunde, eine Kassettenlän-
hinter die Kulissen erweiterte Perspektive. Mit die-
ge vor Vorstellu"ngsbeginn verlassen vier Darstel-
ser Perspektive kann die Videotechnik wiederum
ler mit vier Kameras den Aufführungsort und filmen sich selbst bei ihrem Weg durch die nächt-
spielen.
· ln «Frau unter Einfluss» (Regie: Rene Pollesch,
liche Stadt zurück zum Theater. Dort werden sie
Prater der Volksbühne Berlin 2001) kombinierte
von den vorher instruierten Zuschauern begrüßt,
Chris Kondek Live-Bilder von Sophie Rois, die in
die sich dann einen vierfach parallel projizierten,
ein für die Zuschauer nicht einsehbares Blockhaus
ungeschnittenen «Film» anschauen. Für dieses
abgegangen war, mit vorproduzierten Bildern
«performance polaroid» regelt ein Toningenieur
eines um den Tisch gejagten Kindes bzw. von Spa-
die Geräuschpegel - und damit die Aufmerksam-
ghetti
keit, bis die Zuschauer sich selbst bei der nun eine
Zuschauer rannte Sophie Rois in Schnitt und
Stunde zurückliegenden Begrüßung der Darsteller
Gegenschnitt ihrem Kind hinterher bzw. tischte
essenden
Bühnenarbeitern.
Für
den
sehen. Theaterzeit und Realzeit waren um eine
ihren Männern ein Essen auf- alle schienen glei-
Stunde verschoben; mit dem Auftritt der Darstel-
chermaßen das Blockhaus zu bevölkern.
DRAMATURG 1/2004
11
ln «M.T.M.» (1994) errichtete die katalani-
einen solchen Sprung in der Entwicklung - und
schen Performance-Truppe La Fura dels Baus eine
damit der Ästhetik, denn die Videokünstler greifen
Mauer aus Pappkisten quer durch das stehende
neue Mittel gern sofort auf. Zur Ausstattung des
Publikum. Die derart getrennten Zuschauergrup-
MX50 gehörte der Stroboskop-Effekt, der den Ein-
pen bekamen zum Schein eine Live-Übertragu·ng
druck erweckt, eine Szene sei nicht mit 25 Bil-
der jeweils anderen Hälfte zu sehen, auf der die
dern pro Sekunde, sondern wie mit einer alten
Darsteller einander durch die Menge jagten und
Kamera mit 12 oder 6 Bildern aufgenommen. Nur
verprügelten. Jede Hälfte fühlte sich durch die
jedes vierte Bild wird projiziert, allerdings viermal
Reaktionen jenseits der Mauer
hintereinander. Dadurch werden Bewegungen
bestätigt; derart rückgekoppelt steigerte sich die
akustischen
ruckartig verfremdet- das Video bekommt einen
Illusion zur Evidenz - bis die Mauer fiel.
Kunstcharakter jenseits der grellen und flachen
Fernsehästhetik. Für die Wooster Group ist dieser
SLOW MOTION
<de näher man ein Wort anschaut, desto fer-
Effekt ein Markenzeichen, bislang taucht er in
. jeder ihrer Produktionen seit «The Hairy Ape»
ner schaut es zurück»- der auratisierende Blick
(Wooster Group, 1995) auf, ob betreut von Chris
eines·Karl Kraus lässt sich im Zeitalter der Video-
Kondek oder Philip Bußmann. Dieser entwickelte
reproduktion von der Literatur auf die Dinge len-
· den Effekt in seiner Arbeit für «Decreation» wei-
ken. ln «Visitors Only» (Regie: Meg Stuart, Schau-
ter, indem er ihn mit live gesteuerten und damit
spielhaus Zürich 2003) lässt Chris Kondek eine
variablen· Slow~Motion Effekten und Samplings
Tasse in Zeit, Größe und Ton verzerrt au·f einer
kombinierte.
Unterlage kreisen. Hier ist für die Wahrnehmung
unerheblich, ob diese Surreale Bildmetapher zugespielt oder tatsächlich vom Bildmischer vor dem
Orchestergraben live produziert wird.
SUPERIMPOSING
Mit ((Luminance Key)) oder ((Biue Screen)) wird
ein.Bild in ein anderes hineingestanzt Bilder lassen sich aber auch, analog einer fotografischen
STEADYSHOT
Doppelbelichtung, übereinanderlegen. Chris Kon-
ln Frank Castorfs Inszenierungen sind Jan
dek nutzt diese Technik in. seiner ersten Regie-
Speckenbach und die weiteren Kameraleute mehr
arbeit «Dead Cat Bounce» raffiniert aus, indem er
als kostümierte Techniker, doch führen sie den
zwei aus der gleichen Position aufgenommene·
Dialog mit den Schauspielern nicht auf derselben
Einstellungen von Schlitten fahre'nden Kindern
Ebene, der Sprache, sondern mit der Kamera. Phi~
übereinanderblendet Der weiße Schneehinter-
lipp BuBmann überlässt in «Kammer Kammer»
grund lässt eine passgenaue Überblendung zu, die
(Regie: William Forsythe, Ballett Frankfurt 2001)
dem Zuschauer auch in der Zeitlupe nicht also sol-
und «Decreation» den ForsytheCTänzern selbst die
che auffällt. Seine Magie gewinnt der Trick, weil
Kamera. Die Darsteller scheinen ihr Bild in der
eine Bildschicht dabei rückwärts läuft, so dass
Hand zu haben; die Bildproduktion wird in die
auf- und absteigende Schlitten aneinander vor-
szenische Aktion eingebunden. Damit kehren sich
beigleiten.
die Kräfteverhältnisse der Attraktion um: Weil
seine Produktion sichtbar wird, nimmt-das ein-
VIDEO PUPPET
äugige Kamera-Bild keineobjektivierende und
ln «Dead Cat Bounce» lässt Chris Kondek die
den Blick fesselnde Zentralperspektive mehr ein.
junge Lauren Bacall mitspielen, genauer: eine im
«Die Kunst besteht darin, das Video nicht zum
Computer in Einzelbilder zerlegte kurze Nahauf-
alleinigen Fokus zu machen», sagt Chris Kondek.
nahme. Eine Darstellerin kann ihren Text optisch
synchronisieren, indem sie mittels einer Maus
STROBE
Bacalls Mund Bild für Bild öffnet und schließt,
Noch befindet sich die Videotechnik in einer
also zum Sprechen bringt. ln «Visitors Only» lässt
stürmischen Entwicklung, mittlerweile weniger im
Kondek eine vorher aufgenommene Tänzerin mit
Bereich der Kameras als der Nachbearbeitung der
sich selbst tanzen - auch hier genügen wenige,
Bilder. Können sich zu Beginn eines Entwick-
von Hand ansteuerbare Einzelbilder, um eine ein-
lungsschrittes jeweils nur große Fernsehanstalten
mal gefilmte Sequenz zum immer leicht verschie-
einen Trick leisten, so wird die Technik bald auch
den ablaufenden leben zu erwecken. 1111
für weniger finanzkräftige Anwender wie die
Theater verfügbar, Der Bildmischer «WJMX50» von
Panasonie ma~kierte Mitte der neunziger Jahre
12
DRAMATURG 112004
Warum und wie man Kinofilme
aufs Theater bringt
Aus der Diskussion
Am 10. Januar nachmittags hieß das
W
gehen und die reine narrative Ebene aufzuheben.
Wahl von Kinostoffen, und seien sie noch so
Der Film «Das Fest» von Vinterberg geht sehr nah
speziell, hat vielleicht was damit zu tun, dass sie
an die Leute ran, im Nachhinein lässt sich sagen,
wie man Kinofilme
von der Narration befreien. Was da an Fabel pas-
dass der Reiz für die Bühnenadaption darin liegt .
siert, das ist fast schon voraussetzbar. Es reicht ein
zu probieren, schafft das Theater das, weil es
aufs Theater bringt».
An der von Dagmar
Bild, ein Moment, eine Figur, und es gibt Anknüp-
näher dran ist, noch näher ran zu kommen? Man
fungen, das heißt, es gibt mehr Freiheit für die
kann behaupten, dass es das geschafft hat auf
.
as macht die Lust an Kinostoffen aus? Die
Gestaltung, weil man befreit ist von der Narration.
Grund dieser notverstärkenden und wahrheitsvergrößernden Wirkung, die das Theater in bestimm-
Es ist wohl nicht der simple Zulauf, den man
ten Momenten haben kann, in denen nämlich
sich davon erhofft, dass die Leute den Film gese-
andere Entscheidungssituationen simuliert wer-
h.en haben und jetzt ins Theater kommen. Viel-
den. Im Film bleibt die Geschichte der erzählte
mehr gibt es Diskurse, diegeführt werden, nicht
Störfall - der Sohn überwältigt den Vater -, und
umsonst haben sich ein paar Leute in Dänemark,
im Theater wird es zur empfundenen Entschei-
sonst nicht unbedingt das Filmland, zusammen-
dungssituation eines jeden Einzelnen.
Thema: «Warum und
Borrmann und AnneSylvie 'König geleiteten
Diskussion waren unter
anderem beteiligt:
Heike Müller-MEirten,Dramaturgin der
Dresdner Produktion
von «Das Fest» nach
dem ·Dogma-Film von
Vinterberg, Hermann
Wündrich, Dramaturg
der Wiesbadener
Inszenierung nach dem
Film «Fessle mich» von
Almodovar, Christian
gesetzt und 1995 ein Dogma verabschiedet. Sie
Holtzhauer, Dramaturg
haben sich mit Abbildungstechniken und Wahr-
Dieser beschriebene Mehrwert der Bühnen-
nehmungsweisen beschäftigt, und sie haben sich
adaption ist theatergemäß, dieses Zuspitzen und
von <<Außer Atem», der
Präsentation von gleich
mit Fragen beschäftigt, wie ·man sozusagen näher
Dramatisieren einer Filmvorgabe. Es stellt sich die
sechs
rankommt an die Leute mit dem, was man
·Frage, ob diese Reibung mit den Wahrnehmungs-
erzählen möchte. Und das ist ein zentrales Thema,
weisen des Films beim Übertragungsvorgang auf
·mit dem man sich im Theater immer wieder
das Theater erhalten bleibt, ob sie überhaupt noch
beschäftigen muss, um den Preis des Überlebens.
eine Rolle spielt oder ob sie durch den Adaptions-
Wie erzählt man, wie kommt man näher ran,
vorgang nivelliert wird. Im Bezug auf den Almo-
außerhalb der gängigen Techniken? Da geht es
dovar-Film kann man die Haltung einnehmen, dass
nicht um eine vordergründige Eventkultur, son-
die Bühnenversion quasi ein Kammerspiel gewor-
dern um die Frage: Wie kann man die Not ver-
den ist, also eine sehr theateradäquate Form. Man
stärken und die Wahrheit vergrößern? Da werden
könnte sagen, es ist von der blanken Dramaturgie
Diskurse geführt, und so sehr die Dogma-Leute in
her wie ein Stück von lbsen. Das Stück rekurriert
den einschlägigen Feuilletons in Frage gestellt
auf Theaterdramaturgien. Dann stellt sich natür-
wurden, hat man sich ja doch mit ihnen ausein-
lich die Frage: Bleibt bei diesem Übertragungsvor-
andergesetzt, zumindest die Leute, die sich mit
gang etwas von dieser produktiven. Reibung mit
ästhetischen Perspektiven und Abbildungstechni-
der anderen Gattung, mit einer anderen Wahr-
ken vertraut machen. Wie verlässt man die gän-
nehmung erhalten? Wie kann das gehen, dass es
gigen Übertragungsmechanismen, also wie kann
nicht nur «eintheatert» wird und man eigentlich
man die alten Keilriemen, die offenbar nicht mehr
nur den blanken Plot genommen hat?
Inszenierungen
nach Kinostoffen in
den Berliner sophien~
saelen. Im Folgenden
geben wir charakteristische Bruchstücke
cjieser Debatte.
imstande sind zu transportieren, kappen, und welche kann man installieren? Da ist man wie immer
Die junge Generation der Theatermacher ist
. gezwungen, irgendwie aus dem System rauszu-
nicht mehr durch das Theater sozialisiert, sondern
DRAMATURG 1/2004
.13
durch Kino und Fernsehen. Das, was sie an emo-
Das Theater bietet allein aus Subventions-
tionalen und intellektuellen Prägungen aus dem
gründen für Sound- und Videodesigner MÖglich-
Kino mitgenommen haben, versuchen sie ins
keiten, Ideen aus Kino und Fernsehen umzuset-
Theater zu übersetzen. Das gibt dann ganz unter-
zen -für das Geld kann man aber noch keinen
schiedliche Formen: Es entsieht ein verstaubtes
Film machen.
Kammerspiel, oder es werden Auseinandersetzun. gen mit einer sich mit Wahrnehmungsfragen
Es gibt auch eine Sehnsucht nach der Popu-
beschäftigenden Filmästhetik geführt. Es scheint,
larität der Wirkungsmechanismen, beziehungs-
dass der Film die klassische dramatische Situation,
weise einen Neid auf die Verzauberung, mit der
die Repräsentation des Publikums, also das Thea-
Menschen aus dem Kino kommen.
ter, beerbt hat. Was der Film geschafft hat, von
Die wenigen Filme, die aufs Theater kommen,
der dramatischen Konstellation her, was ja ein
haben alle eine gute Grundgeschichte. Natürlich
klassisches Bild von der Katharsis ist, dem versucht
findet man das zum Teil auch bei Gegenwarts-
das Theater wieder auf die Spur zu kommen.
autoren, aber vielleicht doch nicht oft genug.
Die Entwicklung der Dramatik zur Episierung,
Auch Theaterautoren beziehen sich heute
zur Fragmentarisierung, wie sie auf dem Theater
häufig- direkt oder indirekt- aufs Fernsehen, auf
stattgefunden hat, hat sich im Film nicht vollzo-
den authentischen Trash. Theater ist eine unreine
gen. Dem stand Hollywood immer entgegen, die
Kunst und holt das Material daher, wo es will. Es
haben immer geguckt, dass die klassischen Para. digmen der Dramatik bewahrt werden. Insofern
ist nicht verständlich, warum das Zugreifen auf
Filmstoffe unter Bezug auf Prinzipien grundsätz- ·
kann man sagen, das Theater holt sich im Moment
lieh kritisiert wird. Da besteht eine Berührungs-
die Dramatik aus dem Film zurück.
angst, der Bezug auf Film wird als Stagnation und
Selbstaufgabe. bewertet. Film ist Material wie
Es scheint zwei unterschiedliche Herange-
anderes, jedes muss· gesondert behandelt werden,
hensweisen im Umgang mit Film zu geben. Einer-
fordert seine eigene Erzählweise, eine eigene
seits werden Stoffe, Themen, Geschichten genom-
Ästhetik, aber um viel mehr handelt es .sich dabei
men und dann versucht, eine Theater-Adaption zu
nicht.
finden, indem man Themen reduziert oder sich auf
ein Grundmotiv konzentriert, oder versucht. einen
Eine gute Umsetzung von Filmstoffen im
Diskurs mit zu thematisieren, aber sich doch auf
Theater ist immer auch eine Auseinandersetzung
die Geschichte konzentriert und sie zuspitzt. Auf
mit Mythen. Das zeigt sich auch an der Bühnen-
der anderen Seite, wie in den sophiensaelen, wird
adaption von «Das Fest», da findet eine Umwand-
deutlich gesagt, die Filme funktionieren als eine
lung statt, die Zuschauer werden Rollenträger.
Art Folie, die setzen wir auch voraus, und rekur-
Ansonsten wäre es ein normales Familiendrama,
rieren auf diese Folie ohne den Anspruch einer
nach der Enthüllungsdramaturgie gestrickt, dann
. Komplettheit.
hätte man auch lbsen nehmen können. Etwas
anderes entsteht, weil der Zuschauer Entschei-
Die Konfrontation mit Film führt das Thea-
dungsträger wird, da liegt der Fortschritt bezie-
ter auch zu einer ständigen Auseinandersetzung
hungsweise die Chance. Im Theater kann es den
mit ästhetischen Mitteln, zum Beispiel in der
Störfall geben, den wir auch hatten, es gab Ein-
Frage, wie bringt man Action-Szenen auf die
griffe in die Aufführung. Die geplante Interakti-
Bühne? Interessant ist auch zu beobachten, dass
on ist nicht angestrebt worden, aber wenn jemand
diese Befruchtung wechselseitig passiert, nämlich
einsteigen wollte, waren die Schauspieler auch
dass Film und Fernsehen im Moment versuchen,
vorbereitet, damit umzugehen. Der Handlungs-
Theatermittel einzubauen, zum Beispiel bei dem
notstand war so groß, dass es zu Zuschauerreak-
Film «Dogville» von Lars von Trier. Beim ZDF wird
tionen geführt hat.
jetzt versucht, Live-Fiction zu machen, also Filme,
die in Live-Zeit spielen.
Die Auseinandersetzung mit der Ästhetik von
Auf die Frage danach, warum Theater auf
Film führt auch zur Rückbesinnung auf die urei-
Film rekurriert, kann man auch sagen: warum
genen Möglichkeiten von Theater und wird so zur
nicht? man muss sich davon befreien, dass Thea-
Bereicherung. l!!i
ter mit einem Stück zu tun haben muss.
14
DRAMATURG 1/2004
Das Drama des Sehens
live-Video auf der Bühne oder die Politik des Blicks
Von Thomas Oberender
m Theater fasziniert u. a. der Versuch seiner
A
diesem Punkt drängen sich Erinnerungen an Thea-
ln der SchlussdiskusSion ,
verschiedenen Akteure, ein Ereignis zu produ-
terinszenierungen auf, d. h. an die simultane Prä-
zum Thema «Schnitt*
zieren, das es durch sein Produzieren selbst
senz des Schauspielers als Person und ihr Bild auf
zugleich zu vernichten droht. Oft scheinen Dra-
der Bühne. Es drängt sich aber auch die Erinne-
men oder Aufführungen darauf hinauszulaufen,
rung an intelligente Bomben auf, an Paul Virilios
nur einen einzigen, sehr speziellen Moment zu
Interesse an der Echt-Zeit-Technologie des mo"
ermöglichen, in dem sich tatsächlich etwas «ereig-
dernen . Krieges, die grau-grün schimmernden
netn. Dieser Moment erscheint als jenes einma-
Videobilder .vom Anflug der sich selbst steuernden
lige Gelingen, in dem all das Geprobte und Ver-
Waffen auf ihre Ziele,:denn auchhier kommt die-
abredete am Spiel plötzlich umschlägt in ein
ser Aspekt der Videotechnologie zu sich - Aktion
Moment von offenbarender Evidenz. Die eigent-
und Reaktion fallen zusammen, und dem Phäno-
liche Ambition jeder Kunst zielt wahrscheinlich
men des ((Ereignissesn kommt man hier somit sehr
auf eben diese Herstellung von etwas auf kalku-.
nahe.
lierbare Weise nicht Herstellbarem. Ich würde
Das Video erlaubt es also als Technologie,
diese spezielle Ambition als die Suche nach dem
dass wir uns ein Bild von unserer eigenen Aktua-
provozierten «Ereignis» bezeichnen. Die Möglich-
lität machen, wobei das Bild selbst zum Teil die-
keit, von ihm zu sprechen, umgibt, wie Jacques
ser Aktualität wird. Das Videobild wird so zu einer
Derrida sagt, allerdings immer auch eine gewisse
in die Realität eingebetteten Rückkopplung ihrer
Unmöglichkeit, denn die Einzigartigkeit des Ereig-
selbst. Dies verdeutlicht z. B. die Erinnerung an
nisses widersetzt sich der Wiederholbarkeit, die
jenen Moment, da man sich selbst zum ersten Mal
doch die Voraussetzung ist, um darüber zu spre-
in der Geschäftsauslage eines Hifi-Ladens auf
chen.
einem Fernsehschirm entdeckte, aufgenommen
stelle Theaten> am
11. Januar vormittags
gab es gleich zwei
Referate. Hier das
erste von Themas
Oberender, Autor und
Chefdramaturg des
Bochumer Schauspiel~
hauses.
von einer verborgenen Kamera. Der Passant auf
der Straße, das war man selbst; und diese Ent-
Ich sehe mich sehen
deckung bewirkt in der Regel eine Reaktion, selbst
wenn sie nur der kurze, kritische Blick auf den
Der «Große Brockhaus» vermerkt unter dem
Bildschirm ist, der einem zeigt, wie man wirkt,
Stichwort «Video»: abgeleitet lateinisch «ich sehe».
unabhängig davon, wie man sich selbst fühlt. Die-
Interessanterweise verweist der Begriff Video als
ses triviale Beispiel führt dicht an die lateinische
Sammelbezeichnung für die Aufzeichnung und
Herleitung des Begriffes Video heran, denn jenes
Wiedergabe von Bildern ausgerechnet auf ein Ver-
«ich sehe» heißt zugespitzt: «Ich sehe mich» oder
fahren, auf dessen Trägermaterial man- vielleicht
noch genauer formuliert: <<Ich sehe mich·sehen»c
erstmals in der Geschichte des Bildermachens nichts sieht. Das Video, um mit einem Vergleich zu
sprechen, ist eine Art optisches Tonband, und sein
großer Vorzug ist, dass ich sofort sehe, was «ich
Der transitorische Charakter
des Videos
sehe». Die prompte Verfügbarkeil des Bildes
erlaubt, dass es sich an den Augenblick seiner Ent-
Es lassen sich,-wenn man über das Video und
stehung erstmals dicht und direkt ankoppelt und
sein Erscheinen auf dem Theater nachdenkt, zwei
sich ihm sogar einschmiegen kann.
grundsätzliche Einsatzformen auf der Bühne un-
Mit dem Video kann das Bild erstmals Teil des
terscheiden: die Einspielung und die Live-Produk-
Augenblicks werden, in dem es entsteht, denn es
tion. Die Einspielung zeigt das Video von seiner
ist sein Live-Zeuge und, mehr noch, in Echtzeit
dem Film verwandten Seite, nämlich als Einspie-
sogar sein Reagenz, sein Bestandteil. Schon an
lung von vorproduzierten Filmen. Das Video in
DRAMATURG 1/2004
15
diesem Sinne ist der arme Verwandte des klassischen Films, den es als Videokopie oder Mitschnitt
anderer Aufnahmen reproduziert. Im Grunde erle. benwir das Video hier in einer Verwendungsform,
die z. B. schon Erwin Piscalor mit dem traditio.nellen Medium des Films realisiert hat. Das Video
aufdem Theater erscheint in der Regel vor allem
als Video-Kopie. Einen Unterschied zur Verwendung von Filmen, abgesehen vom Kostenaspekt
und der Verfügbarkeit, gibt es bei diesen Einspielungen nicht.
_Interessanterweise wird im Original professionell auf Video ugefilmt», was billig und schnell
produziert werden muss- z. B. Musikvideos, Soaps
und Pornos. Diese Produktionen haben einen
extrem transitorischen Charakter, ihre Vergänglichkeit ist ihnen eingeschrieben, sie werden
gemacht, um ersetzt zu werden. Videoproduktionen in diesem eigentlichen Sinne schufen einen
ästhetischen Bereich, in dem sich Kunst und
Nichtkunst, Können und Dilettantismus, Fake und
Authentizität, Spontaneität und Marktkalkül,
Experiment und Ambitionslosigkeit frei begegnen.
Was wäre Pop ohne Popvideos. Ohne Video kein
. Trash, keine uLindenstraße» und kein - im wertschätzendsten Sinne: Rene Pollesch. ln dieser Hins_icht hat die transitorische und demokratische
Kultur des Videos auf der Bühne enorme Spuren
hinterlassen.
Will man das Video dergestalt zum kulturellen Leitmedium erheben, so drängt sich der zweite Aspekt auf: die Live-Produktion von Videobildern auf der Bühne. Sie soll im Folgenden näher
betrachtet werden, und ich werde versuchen, zwei
Typologien des Live-Einsatzes von Videobildern zu
beschreiben.
beschrieb es Bernhard Groß in seiner bemerkenswerten Rezension der Aufführung, usitzen,
in gelblich warmes Licht getaucht, der junge
Eben und sein Stiefbruder Peter an der Seite des
Holzhausesc Peter schwärmt vom goldenen Himmel im Westen, während auf der Leinwand weiter Acker und Wolkenhimmel zu sehen sind. Er
will weg nach Kalifornien, anstatt sich weiter
von seinem alten Vater ausbeuten zu lassen. ln
der Gleichzeitigkeit von Leinwandhimmel, warmem Bühnenlicht und Peters <goldenem Himmel>
konkurrieren Bühne und Film um das richtige
Bild.»
Über dem Giebel des Holzhauses war zudem
eine zweite Leinwand wie eine moderne Werbe-.
fläche befestigt. Auf ihr zeigte Fred Kelemen als
Live-Übertragung oder Einspielung vorprodu-.
zierter Sequenzen die Vorgänge, die sich im
fnneren des Hauses abspielten. Diese Übertragung war von zweifacher Natur: Der rohe, provisorische, an Privatvideos erinnernde Charakter, der die Inszenierung dieses ukleinen Fernsehspiels» im Inneren des Hauses kennzeichnete,
verstärkte den Einbruch in die intime Weit der
·Figuren .durch die Veröffentlichung ihrer Rückzugsräume. Aber der Regisseur geht einen
Schritt weiter: Nachdem Abbi, gespielt von Kali
Angerer, ihre Intrige begonnen hat, die darauf
beruht, dass Vater und Sohn sie begehren, verschwindet sie als ureale» Bühnenperson und
erscheint fortan nur mehr als die begehrenswerte Frau auf der Leinwand. So verlagerte sich die
Spannung zwischen den Figuren nun auf das
Spannungsverhältnis zwischen Leinwandgeschehen und dem Geschehen auf der Bühne.
Das Drama des Sehens
Mehrfachpräsenz
Die Live-Produktion von Bildern fasziniert
auf der Bühne unter anderem deshalb, weil die
Echtzeit des gefilmten Geschehens via Leinwand
eine zweite, rivalisi.erende Szene auf der Szene
eröffnet. Die erste Inszenierung, in der ich den
Einsatz von Video in diesem Sinne erlebt habe,
war Fred Kelemens Aufführung uDesire» nach
Eugen O'Neills uG'ier unter Ulmen» im Prater der
Berliner Volksbühne 2001. Bert Neumann hatte
als Einheitsbühnenbild für die gesamte Spielzeit
ein Westernfilmset geschaffen -ein Farmerhaus
stand inmitten einer Kakteenwüste, im Hintergrund prangte eine große Leinwand, auf der
klassische Kinobilder der Landschaft und Umgebung eingespielt wurden. uAuf der Bühne», so
16
Das Video als ein Observations- und Dokumentationsmedium, das uns vom Bankautomaten
bis zum Flughafen immer auf der Spur ist,. zeigt
sich hier von seiner anderen Seite: als verführerisches, unser Begehren bann·endes und erweckendes Medium. Die Projektionen, die O'Neills Figuren
von sich auf andere schließen lässt, überträgt Fred
Kelemen in ihre Selbstbespiegelung durch Filmbilder. Dieses Drama des Narzismus' hat im Video
sein ideales Medium gefunden: uDas eigene Ebenbild als Filmbild vor Augen», um noch einmal
Bernhard Groß zu zitieren, ukann Eben Abbie ein
Kind machen, das offiziell Ephraims ist, und sie
töten, nachdem sie das Kind getötet hat. Als Abbie
schließlich live, in einer ihre Züge verzerrenden
Großaufnahme von der Leinwand herunter zu
DRAMATURG 1/2004
Ephraim auf der Bühne spricht, der klein und arm-
Da das Video kulturell einerseits für objekti-
selig das übermenschlich große Bild seines Begeh-
vierende, flächendeckende Observanz. steht und·
rens ansieht, entsteht für den Zuschauer schlag- .
andererseits unser Begehren ins Bild setzt, siehe
artig die unheimliche Beklemmung, die die eige-
MTV, siehe Pornografie, siehe aber auch Sam Tay-
nen, befremdlichen Wunschbilder auslösen kön-
lor Wood, eignet sich das Video in besonderem
nen.» Kelemens Dramaturgie schuf durch die
Maße für die Suche nach dem «Wirklichen», denn
Mehrfachpräsenz des Bühnengeschehens, in dem
seine ccEchtzeit)J und ((Profanität)) erlauben es ihm,
sich das Spiel auf der Bühne mit Einspielungen
zum Bestandteil des Ereignisses zu werden, das es
und Live-Übertragu.ngen mischte, eine Schwellen-
abbildet. Es dringt in Räume ein, in denen es sich
situation zwischen nah und fern, Anwesenheit
selbst wiederum vergessen macht. Durch sein Vor-
und Abwesenheit, Direktheit und lndirektheit,
handensein wird das Geschehen aber auf eine
narzistischer Selbstbetrachtung und observieren-
. simultane Weise objektiv und subjektiv zugleich.
der Fremdbeobachtung. So entwickelte das Ge-
ln diesem Zwischenraum offenbart sich in Frank
schehen auf der Bühne einen Freiheits- und Ver-
Castorfs Inszenierung von «Erniedrigte und Belei-
dichtungsgrad, der in solcher Form neu und den-
digte» der «Mensch». Aber nicht nur in dieser Ins-
noch genuin theatralisch wirkte.
zenierung: Die Modellfaii-Wirklichkeit der klei-
Das Video, so zeigte auch Frank Castorfs Ins-
nen TV-Gesellschaften, die sich in den «Big Bro-
zenierung von Dostojewskis «Erniedrigte und
ther»- oder «Superstan>-Labors der öffentlichen
Beleidigte», erze'ugt Bilder in Echtzeit und spaltet
Beobachtung aussetzen, zeichnet sich durch ein
die Echtzeit in zwei simultane, in sich jedoch kom-
sehr ähnliches Schwanken ihres inneren Zustands
plette Zustände, die miteinander rivalisieren und
aus, denn sie zeigen Menschen, die uns ihr sozia-
sich im Falle dieser Aufführung nicht «ergänzen»,
les Überleben selbst- und beobachterbewusst
sondern kontrastieren. Die Reaktion der Leinwand
zugleich vorspielen. Sie leben unter den Bedin-
auf das Bühnengeschehen macht bewusst, dass
gungen der Show, als wären die Zuschauer nicht
das Sehen des Zuschauers einer Entscheidung
vorhanden, und die Zuschauer sehen sie leben, als
gleichkommt, die seine spezielle «Wahrheit» oder
sei ihr Leben nur eine Show. Vor der Videokame- ·
«Wirklichkeit» erst produziert. Wie die Bühnenbil-·
ra ist das Verhalten der Probanden im gleichen
der von Bert Neumann, der das Geschehen in
Augenblick sowohl öffentlich wie auch intim,
geschlossene Räume verlegt, von wo es nur durch
bestimmt von Kalkül und Authentizität, vom Geld
die Video-Übertragung sichtbar gemacht werden
regiert und von der Seele getrieben, immerbeides,
kann und der das Puqlikum in eine Situation ver-
immer unauflösbar das Jetzt des Erlebnisses und·
setzt, in der es grundsätzlich nur ausschnittshaft
Antizipation von Wirkung zugleich. Zugleich
erblickt, was da passiert, genauso verweisen auch
·erzeugen die TV-Labors «Offenheit» für spontane
die Live-Bilder des Videos darauf, dass das Sehen
Momente durch ihr Verfahren des räumlichen
ein aktiver und in gewissem Sinne «welterzeugen-
«Einschlusses» - ein Verfahren, das an Bert Neu-
den> Vorgang ist. Die Bühnenbilder von Bert Neu-
manns Bühnenbilder erinnert. Wenn in diesen TV-
mann und ihre simultane Konkurrenzbühne des
. Labors aus der Dauerspannung zwischen Konkur-
Live-Bildes erinnern den Sehenden an sein eigenes
renz und Gemeinschaftsbedürfnis, Ichgefühl und
Sehen und dramatisieren somit das Sehen selbst.
Wirkungsinteresse immer wieder übersprungsartig
Dieses Drama des Sehens, das die Aufführung
Einblicke in die Weiten und Abgründe der Kandi-
prägt, korrespondiert dabei inhaltlich mit der als
daten aufblitzen, sind das letztlich exakt jene
existenzielles Drama erlebten Weltanschauung
Momente, um die es bei dieser medialen Dauerü-
von Dostojewskis Figuren. Das «ich sehe» des Vi-
berwachung geht. Denn getestet werden nicht
deos bedeutet potenziell also ein «ich sehe mich
einzelne, ablösbare Eigenschaften wie Kenntnisse
sehen», und diese explizite Dramatisierung der
oder Sportlichkeit, sondern der Mensch selbst, als
Wahrnehmungsvorgänge
auf das
totale Ressource. Dem entspricht der durch das
implizite Drama des Stoffes- die Akteure stehen
Video «durchsichtig» gemachte Schauspieler i.n
der Weltnicht mehr souverän gegenüber, sondern
den jüngsten Inszenierungen von Frank Castorf,
erleben ihr Schuldigwerden durch ihr pures ln-
wobei die Realität dieser Aufführungen der Effekt
antwortet
der-Welt-Sein. Das Live-Video veranschaulicht
unterschiedlichster Ambivalenzfelder ist: Gespielt
diese Doppelnatur des Seins. Diese Problematisie-
wird mit der authentischen Unschuld einer Lai-
rung der Wahrnehmung und szenischen Präsenz
endarstellerin in einer professionellen Inszenie-
verleiht dem Video per se eine theatralische
rung ihrer Wirkung genauso wie mit der Interfe-
Dimension.
renz von sinnlichen (Pornofilm auf der Werbe-
DRAMATURG 1/2004
17
fläche) und intellektuellen Reizen (Monolog an
absorbiert und auf einer höheren Ebene synthe-
der Rampe). Das Liv~-Video ist hier nur ein
tisiert. So durchwandert in der Inszenierung von
Moment der insgesamt auf die Erzeugung von
Christian Krachts «1979n ein Darsteller die Villa
simultanen Antagonismen angelegten Inszenie-
eines Millionärs, indem sein' eigenes Bild mit einer
rung.
anderen Aufnahme überblendet wird, die dadurch
entsteht, dass einer seiner Mitspieler vor den
Augen des Publikums eine Architekturzeitung
Raumerfindungen
durchblättert, deren Fotografien von einem Kameramann aufgenommen und als Projektion zum
Bert Neumann hat Bühnenbilder entwickelt,
die ohne den Einsatz von Live-Video-Übertragun-
· architektonischen Raum der Wanderung auf der
Leinwand werden.
gen nicht denkbar wären. Etwas hochtrabend for-·
Matthias Hartmanns Uraufführung von
muliert, ließe sich in diesem Zusammenhang auch
«Eiectronic Cityn führt dieses Prinzip weiter, indem
von einer «Raumrevolutionn der Bühne durch den
sie das Geschehen in eine Blue Box verlegt und
Einsatz des Live-Videos sprechen. Die forcierte
auf mehreren Leinwänden die live erzeugten Auf-
Intimität des Bühnenlebens jener Bungalow- oder
nahmen der Schauspieler mit live produzierten
Neustadtbewohner entsteht durch unsere Beob-
Illusionen realistischer Räume mischt, bzw. mit
achtung ihrer Beobachtung ·via Kamera. Dabei
Einspieltingen und Computersimulationen unter-
bedingen die Raumerfindungen für Inszenierun-
legt. in der Blue-Box der Szenerie erlebt das
gen wie «Erniedrigte und Beleidigten oder «Der
Publikum z. B., wie aus einer Frau, die auf einem
ldiotn zwar den Einsatz des Live-Videos, doch die
Stuhl sitzt und bis in Hüfthöhe von einem blauen
Bilder erzeugen diese Räume nicht, sie verschaf-
Schild verdeckt ist, auf der Leinwand plötzlich
fen uns lediglich einen Einblick in sie. Die Vide-
eine Kassiererin hinter einem Serviceschalter wird,
obilder werden nicht bearbeitet und verfügen
über die ein Pulk wartender Kunden herfallt.
über keine zusätzlichen Bildeffekte. Das Video
deren Gesichter von einem wandernden Kamera-
zeigt hier, was ich nicht sehen kann, und etabliert
mann auf der Hinterbühne gefilmt werden, .
eine unversöhnte Wirklichkeit neben der Wirk-
während sie als Schauspieler, brav in einer Reihe
lichkeit, deren simultane Wirkung aus ihrem alter-
sitzend, zu sehen sind: So wird die Leinwand zur
nativen und in sich autonomen Charakter besteht.
integrierenden Szene, die das Geschehen auf der
Es dissoziiert das Geschehen.
Bühne und die Simulation von Bildern vereinigt,
Ganz anders bei Matthias Hartmann - hier
wobei die Realität dieser Synthese mit dem Live-
erscheint das Video als integratives Mittel, das alle
Geschehen ihrer Herstellung vor der Kamera in der
Elemente auf ein Wirkungsmoment hin bündelt.
Wahrnehmung des Zuschauers rivalisiert. Einen
Matthias Hartmann schafft in diesem Sinne hoch-
zusätzlichen Bruch erzeugt die Verwendung von
komplexe lntegrationskunstwerke, deren Wirkung
zwei Leinwänden, die diese Synthese wiederum
durch einen «geläuterten lllusionismusn besticht.
aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt- z. B.
Romantisch sind dio;se Aufführungen im Sinne
indem sie das Bild des Sehenden und das von ihm
von Friedrich Schlegel, da sie die Herstellung ihrer
Gesehene in simultanen Bildern separiert. Das von
Suggestionen vollkommen offen legen und selbst-
dem Videoteam um Stephan Komitsch und Peer
bewusst auf die Künstlichkeil ihrer Realität ver-
Engelbracht erzeugte Live-Video-Bild erscheint in
weisen. in Matthias Hartmanns Uraufführungen
diesem Zusammenhang als eine virtuelle Form der
von Albert Ostermeiers «Es ist Zeit. Abrissn und
Ausstattung und als Hyperszene. Der neutrale
«Deutschland, deine Liedern, in seiner lnzenierung
Raum aus blauen Leinwänden definiert sich selbst
von Christian Krachts Roman «1979n und Falk
als Nullraum ohne eigene erzählerische Dimensi-
Richters Stück «Eiectronic Cityn (alle am Bochumer
on, der tatsächlich in einem ganz neuen Sinne
Schauspielhaus) erschei.nt das Live-Video in Kom-
«bespieltn wird.
bination mit filmischen Einspielungen und Projektionen daher .im Wesentlichen als ein raumschaffendes Medium, das eine Bühnensituation
Dissoziation oder offene Synthese
erzeugt, die im herkömmlichen Sinne nicht her-
18
stellbar wäre und auch keine eigene Existenz
Die hier betrachtete Form des Einsatzes von
besitzen würde. Die Leinwand wird zur dominie-
Videobildern schafft also eine «Verspielten Realität,
renden Szene, die das gesamte, ihr vom Schau-
die zeigt, wie künstlich sie erzeugt wurde, zeit-
spieler und Kameramann zugespielte· Material
gleich aber anbietet, als «Offenen Illusion erlebt zu
DRAMATURG 1/2004
werden. Auch hier episiert der Einsatz von Live-
- vielmehr riegelt der Einsatz des Live-Videos die
Videos das dramatische Geschehen, aber in einer
Welt der Aufführung von den spontanen Erfah-
ganz anderen Weise als in den Inszenierungen von
rungen der Aufführenden vollkommen ab, um den
Fred Kelemen oder Frank Castorf. Um es paradox
Blick des Zuschauers für das Nebeneinander ihrer
zu formulieren: Matthias Hartmanns Inszenierun-
Elemente zu öffnen. Dabei demonstriert das Pro-
gen wie «1979» und uEiectronic City» entwickeln
zessieren der Inszenierung nahezu vollkommene
gerade durch den Einsatz einer so episierenden
Transparenz - alles ist sichtbar und einsehbar
Technologie wie der des Live-Videos eine eiserne
gemacht. Der Bühnenbildner Volker Hintermeier
Hermetik, da die erzählerische Dimension des
hat für Aufführungen wie «Es ist Zeit. Abriss»,
Videos konkurrenzlos wird: Weder der Raum noch
«Deutschland deine Lieder» oder «1979» Installa-
das Spiel der Schauspieler haben eine «Realität»
tionslandschaften gebaut, die alle Komponenten
neben jener, die erst durch das Video entsteht. Das
des Bühnenbildes als Objekte offen ausstellen und
simultane Geschehen problematisiert sich nicht
eben dadurch auf die Leinwand als Membran und
gegenseitig, sondern ereignet sich grundsätzlich
integrative Szene auf der Szene hinweisen. So zei-
im Hinblick auf die avisierte Synthese als Gesamt-
gen die Bühnenbilder in diesen Produktionen
wirkung. Dabei wird die Hermetik der Aufführung
keine sozialen, sondern mediale Räume ohne vier-
nahezu unsichtbar durch die vollkommene Offenlegung ihres Zustandekommens: Der Techniker am
te Wand: ln einem gewissen Sinne bleiben sie
uleer)) und entstehen, indem sie mit Images ((be-
Videoschnittplatz sitzt hinter seinen Pulten mitten
spielt» werden.
im Publikum, der Kameramann und seine Assistenten arbeiten mit der Handkamera auf offener
Szene, und die Darsteller spielen offensichtlich
Gelebter Kubismus und Vivisektion
gleichzeitig mit sich und der Kamera.
Die gesteigerte Kontrollatmosphäre, die
Das umgekehrte Prinzip charakterisiert die
durch den Einsatz von Video-Technik entsteht:
Räume von Bert Neumann - hier schließen die
scheint die Freiheitsgrade im Spiel der Darsteller
Bühnenbilder die vierte Wand und erzeugen einen
dabei deutlich zu reduzieren; wobei sich die Frei-
Raum, der sich dem Blick nicht offen und trans-
heitsgrade der Wahrnehmung insgesamt erhöhen.
parent darbietet, sondern sich ihm zunächst ver-
Das Video schafft in den Inszenierungen von Mat-
schließt. Was das Bühnenbild herzeigt, muss der
thias Hartmann jene Zentralperspektive, an der
Zuschauer sich erarbeiten - im Verfolgen des
das Schauspiel insgesamt ausgerichtet wird: Das
Geschehens auf der Bühne macht er eine Erfah-
Bild und der zeitgleiche Prozess seiner Herstellung
rung mit Distanzen, mit der grundsätzlichen Aus-
ist von vornherein Fluchtpunkt der Inszenierung.
schnitthaftigkeit des Gezeigten und seiner prin-
Innerhalb dieses Gefüges agiert der Schauspieler
zipiellen Unzugänglichkeit. Die Bühnenbilder von
funktional, weil er sich in die angestrebte Gesamt-
Bert Neumann erzeugen eine eigene Form von ·
wirkung einpasst und die kalkulierten Abläufe
Realität, da sie auf einer <<Störung» des souverä-
befördert, ohne dass die Videoperspektive sein
nen Blicks beruhen, z. B. durch eine Aufsplittung
Erscheinen im kontrastierenden Sinne problema-
der Perspektive in unterschiedliche Betrachtungs-
tisiert. Im Gegenteil: Aus der Perspektive des Vi-
winkel, die keine Verabsolutierung des Gesehenen
deos ist seine Darstellung·nur eine andere Form
mehr erlaubt: Der Videokünstler Jan Speckenbach,
von Einspielung. Das Gesamtgefüge der komple-
der in vielen der jüngeren Aufführungen von
xen und vielschichtigen Konstruktion funktio-
Frank Castorf mitarbeitete, nannte dieses vom
niert, da die Spannungen und Risse innerhalb die-
Live-Einsatz des Videos mitgeprägte Verfahren
ser Abläufe, die sein eigenes Tun und die Wieder-
«gelebter Kubismus» - ich übersetze dies mit der
begegnung mit seinem Bild auslöst, von den
Entfaltung eines mehrdimensionalen Geschehens
Schauspielern nicht thematisiert werden, sondern
in der Fläche und Simultanität des Bildes. Die
in die offene Synthese aller Komponenten mün-
Bühne zeigt in diesem Falle unterschiedliche
det.
Ansichten durch unterschiedliche Arten zu sehen
Wie in. den Inszenierungen von Frank Castorf
- der Endeffekt ist immer nur ein Patchwork von
thematisiert Matthias Hartmann in seinen Auf-
Ausschnitten, nicht mehr generalisierbar, ohne
führungen das Sehen: Der Endeffekt des Bildes
Totalität. Aus den perspektivischen Verwerfungen,
zeigt immer eine andere Wirklichkeit als die sze-
aus den Teilansichten und ihren Bruchstellen ent-
nischen Details seiner Komponenten. Bei Matthias
steht vielmehr eine offene Gesamtsituation, die
Hartmann irritiert sich das Geschehen nicht selbst
keine Versöhnung zwischen ihren einzelnen Eie.-
DRAMATURG 1/2004
19
menten erlaubt. «Gelebter Kubismus» heißt in diescheint genau diese forcierte Politik des Blicks auf
sem .Falle die Simultancollage unterschiedlicher
uns selbst zum Ziel zu haben - hier wird sprichBetrachtungsweisen und das hart gefUgte Neben-. wörtlich mit anderem Einsatz gespielt, die Form
einander der so entstandenen Ansichten. Jan
schützt den Schauspieler zwar, aber unter den
Speckenbachs Videoübertragung stellt daher die
Bungalow- und Neustadtbedingungen wird alles
. diskongruenten Aspekte unvermittelt nebeneizur Form, und somit wirkt das Spiel der Darsteller
nander und spaltet den Augenblick in seine dyna.in «Erniedrigte und Beleidigte» existenziell wie selten im Theater.
mischen Komponenten auf.
Eine so hermetisch arbeitende Inszenierung
wie Matthias Hartmanns Uraufführung von «Eiectronic City» bleibt gerade wegen ihres großen
Selbstirritation und andere
Aufwandes an episierenden Mitteln auf eine
Wahrnehmungsverhältnisse
größtmögliche Reibungslosigkeit angewiesen,
denn alle Störungen bedrohen die Illusion dieser
Der Begriff der «Störung» oder der Selbstromantischen, da auf ihr eigenes Zustandekomirritation markiert also einen wichtigen Aspekt,
. men souverän hinweisenden lnszenierungsform.
wenn man von der episierenden Wirkung des LiveStörungen innerhalb der videogenerierten SituaVideos, z. B. seiner Offenlegung des Gemachten,
der Schaffung einer zweiten Szene auf der Szene
tionserzeugung sind sehr unromantische Patzer.
So wirken die Figuren in den offenen Räumen von
und dem Oszillieren der Wahrnehmung, zu einer
Matthias Hartmanns Inszenierungen viel «eingeweiterführenden Differenzierung gelangen will.
schlossener» als in den geschlossenen Räumen von
Während der geläuterte Illusionismus einer Aufführung wie «1979» in der Blue Box dank des
Frank Castorf. ln einer Inszenierung wie «Erniedrigte und Beleidigte» wirken Störungen nicht zerVideos eine gesteigerte Suggestivität des Geschestörerisch, sondern offenbarend, denn das handhens entwickelt, die sich der integrativen Wirkung
lungssimultane Video zeigt in dieser Aufführung
des Live-Videos verdankt, dissoziiert das Livedie «andere Seite» ~es holt ins Bild, was, so Frank
Video das Bühnengeschehen im Falle von Frank
Castorf, die Schauspieler von oder an sich selbst
Castprfs Aufführungen und verstärkt speziell.die
. nicht sehen wollen. Der Schauspieler wird hier
heterogenen Motive der Handlung, indem es
durch die Livecam einer zweiten Prüfung durchs
deren selbstirritierenden Momente vergrößert.
Videoauge unterworfen: Lügt er oder lügt er
nicht? Die Videokamera verlängert so den Zugriff
des «Systems» bis in die letzten Winkel und
Die Spaltung des Blicks
Nischen des Bühnenlebens und kreiert eine experimentelle Situation, in der.die SchwankungsbreiAbschließend sei auf einige Aspekte verte des Realen die Darsteller zu Probanden einer · wiesen, die beiden Typologien gemeinsam sind.
zugespitzten, gesellschaftlichen Situation macht:
Erstens: Der Einsatz des Live-Videos markiert die
Privatheil und Professionalität, Freiheit und
wahrscheinlich konsequenteste Ausformung des
Zwang, Lüge und Aufrichtigkeit, all diese Aspekte
Phänomens «Regietheater», denn hier wird der
amalgamieren sich unauflösbar in einer Realität,
Regisseur vollkommen zum Autor eines in seiner
die kein «Objektives» Außerhalb mehr kennt, das
Komplexität nicht mehr anders notier- und denkihm ein Maß stiften könnte. Der durchsichtig
baren. Geschehens. Zweitens: Zugleich, und dies
' gemachte Schauspieler Frank Castorfs, dem bei
wirkt womöglich paradox, verdanken.sich diese
Matthia~ Hartmann die durchsichtig gemachte
Entwicklungen auch einer neuen Raum- oder
Bühne gegenübersteht, wirkt dabei, wie dort die
besser Realitätskonzeption des Bühnenbilds. Mir
Bühne, ungeschützter denn je - vorm Zoom der
scheint. dass für Aufführungen dieser Art- die
Objektive auf der doppelten Live-Bühne erscheint
Wooster Group hat dies seit den frühen achtziger
der Schauspieler bei Frank Castorf in einer We1se
Jahren demonstriert -, keine traditionellen Bühpreisgegeben, die .dem traditionellen. Sprechtheanenbilder entstehen, sonderngenerative Rauminter unerreichbar blieb. Jede noch von daher
stallationen. Der Bühnenraum bildet nicht ab und
bekannte Schauspielerschinderei, jedes manisch
baut nichts nach, sondern schafft eine eigene
Realität, die hochgradig und aktiv beobachterbec
eindressierte Chorstück und jede Nacktprügelei
auf den Brettern der Bühne wirkt im Vergleich zur
wusst ist. Drittens: Das Live-Video scheint eine
Vivisektion durch das Live~Video geradezu philanDramatisierung epischer Stoffe zu ermöglichen,
die sie sich nicht mehr personalisieren lassen. Die
tropisch, zahm und literarisch. Aber Frank Castorf
20
DRAMATURG 1/2004
Romanadaptionen Frank Castorfs und Matthias
Hartmanns erschienen, würde man sie um die
Komponente des Videos berauben, merkwürdig
Der doppelte Blick, der durch die Leinwandübertragung i.mmer entsteht, scheint auf eine hÖchst
unterkomplex, denn der dramatische Reiz dieser
raffinierte Weise zu ermöglichen, dass der Darsteller in seinem unmittelbaren Spiel relativ unge-
Aufführungen beruht zu weiten Teilen nicht auf
der Spannung zwischen Figuren, sondern zwi-
brochen wirkt und wirken muss, da seine Identität
als Figur durch ihre Erscheinung im Live-Bild un-
schen Figur und Leinwand. ln diesem vom LiveVideo neu erschlossenen Kräftefeld ist der Schauspieler ganz offensichtlich nicht nur Subjekt, s.ondern auch Objekt, und somit werden auf der
Bühne plötzlich andere, abstrakter wirkende Kräfte des Sozialen darstellbar, für die der Roman mit
seiner epischen Darstellungsweise und seiner Freiheit, zwischen den Zeiten, Orten und Perspektiven frei wa.lten zu können, prädestiniert ist. Das
Live-Video erzeugt ein Klima des vagabundierenden Blicks und der szenischen Mehrfachpräsenz,
in der ein Schauspieler sich in anderen Wahrneh- .
mungsverhältnissen bewegt - das romanhafte
Erzählen einer solchen Inszenierungsform ist also
folgerichtig mit der Adaption großer Romanstoffe verbunden. Und viertens: Nach den Strategien
der lronisierung des Verhältnisses vom Schauspieler zur Figur, z. B. dem bekannten «aus der Rolle
Fallen» und der intertextuellen Perforierung des
Textes, scheint der Einsatz des Live-Videos diese
Distanzierung auf eine andere Ebene zu verlagern.
ausweichlich einen Bruch in ihrer Gesamtwirkung
erfährt. Das Spid mit der gebrochenen Identität
der Figur verlagert sich also tendenziell vom
Schauspieler auf den Zuschauer und seine Wahrnehmung des verdoppelten Geschehens. So wirdauf einer höheren Ebene- vielleicht wieder ein
«identisches» Verhältnis vom Schauspieler zur
Rolle möglich, wobei diesem Vorgang natürlich
jede Naivität fehlt.
Die Splittung des Blicks, die Rückkopplungen zwischen der simultanen Erscheinung der
Phänomene, die Verlagerung oder Potenzierung
eines Konflikts in das Spannungsfeld zwischen
Figur und ihrem Bild auf der Leinwand - all dies
lässt das Video als relativ neue und erweiternde
Raumform der Szene erscheinen. Der Live-Einsatz
des Videos bietet potenziell die Möglichkeit, die
Inszenierung in ein forciertes (detztn zu überführen, in dessen hochintegrierter Gleichzeitigkeit
sich Freiheitsgrade eröffnen, von denen sich sonst
kein Bild machen ließe. !illl
Medien müssen auch Spaß machen
und das Theater bleibt der Souverän
·Von Jens Roselt
L
ars von Triers neuer Film «Dogville» hat nicht
wenige Interpreten dazu verleitet, Vergleiche
zwischen dem Film und den ästhetischen Praktiken des Theaters zu ziehen. Man sprach plötzlich
wieder von Brechts epischem Theater oder
erkannte in der besonderen Raumanordnung des
Sets eine Bühnensituation. Trotzdem konnte man
im Feuilleton keine entnervten Filmkritiker vernehmen, die von einer Anbiederung des Films an
Ähnlich selbstbewusstist die Theaterkritik im
umgekehrten Fall nicht immer gewesen. Als Anfang der neunziger Jahre Videoprojektion und
Fernsehmonitore den enge·n Zirkel der Performance-Kunst verließ·en und auf den Bühnen
deutscher Stadttheater auftauchten, konnte dies
Zuschauer wie Kritiker noch entsetzen. Merkwür-
Schlussdiskussion über
«Schnittstelle Theater»
lieferte am Sonntag.
vormittag der Theater-
wissenschaftler und
Autor Jens Roselt.
dig: Menschen, die wahrscheinlich jeden Tag zu
das Theater sprachen und damit die Selbstaufga-
Hause sitzen und mehrere Stunden Fernsehen
gucken, reagieren, wenn sie die Mattscheibe
be und das Ende des Kinos prophezeiten.
durch das Proszenium des Theaters gerahmt
DRAMATURG 1/2004
Den zweiten vorfor·
mulierten Beitrag zur
21
sehen, als würden sie das Haupt der Medusa
onsanspruch des bürgerlichen Theater war die
erblicken. Aber diese Zeit von Schreck und Irrita-
konkrete Körperlichkeit des Schauspielers gerade
zuwider.
. Die Behauptung, Theater wurden sich heute
neuen Medien an den Hals werfen, gar mit ihnen
wetteifern, um deren Erfolg zu kopieren und die
eigene blutarme Einfallslosigkeit zu kaschieren,
trifft nicht zu, denn die Tendenz zur medialen
Mischung oder Hybridisierung ist gar kein. Phänomen, das ausschließlich das Theater trifft. Es
handelt sich vielmehr um einen Trend, der in allen
zeitgenössischen Künsten zu beobachten ist. So
kann man derzeit in der Bildenden Kunst eine
massive Art der Theatralisierung beobachten,
etwa bei" der Gestaltung von Ausstellungen.
Betrachter werden zu Zuschauern in inszenierten
Räumen. in Installationen und Performanceswird
mit Darstellern und Live-Situationen gearbeitet.
Bildende Kunst wird nicht mehr hur aufgehängt
und ausgestellt, sondern inszeniert und aufgeführt. Also zapfen auch andere Künste schamlos
das Theater an, um den eigenen Blutdruck hoch
zu halten.
Ein Aspekt wird in der Diskussion häufig
unterschlagen: Medien sind nicht nur visuelle
Phänomene, sondern auch akustische. Dies .gilt
zunächst für die Verwendung von Musik, ohne die
es im Theater inzwischen gar nicht mehr geht. Die
. mitunter unangenehme Gemeinsamkeit von Supermärkten, Staatstheatern und billigen Restaurants besteht darin, dass man nahezu unablässig
mit Musik umspült wird, als seien emotionale Vorgänge vor allem Sache des Gehörs. Auch die Verwendung von Mikrophonen und Verstärkern ist
in das Repertoire aufgenommen. Interessant sind
jene Momente, in denen Bildspur und Tonspur
getrennte Wege gehen. Wenn die Stimme des
Schauspielers unabhängig von seinem Körper
gehört werden kann, wird damit eine Wahrnehmung des Zuschauers möglich gemacht, die dessen alltäglichen Erfahrungen widerspricht Angesichts dieser Entwicklung muss man nicht
zwangsläufig von einer Verabschiedung des
Schauspielers und der Schauspielkunst aus dem
Theater sprechen. Denn der Einsatz von Videoprojektionen, Live-Aufnahmen und der medialen
Bearbeitung und Vervielfältigung von Stimmen
und Sprache stellt die Frage nach dem Schauspieler und insbesondere der Materialität seines Körpers neu.
Die Schnittstellen zwischen theatraler Präsenz und den Repräsentationspraktiken neuer
Medien markieren damit das heikle Terrain des
zeitgenössischen Theaters. Dies gilt um so mehr,
tion ist vorbei. So manche Videoprojektion wird
inzwischen gelangweilt zur Kenntnis genommen,
gilt als bloßer Effekt oder sinnlose Zutat. Auf die
Faustregel ein Fernseher auf der Bühne = experimentelles Theater, zehn Fernseher = besonders
experimentelles Theater fällt selbst das Abonnement nicht mehr herein.
Die Verwendung anderer, neuer Medien im
Theater ist also ein probates Mittel geworden.
Dennoch ist dieser Einsatz nicht selbstverständlich, d. h. er fordert Begründungen und Erklärungen heraus. Bezeichnenderweise wird gerade
dann, wenn unterschiedliche Medien miteinander verbunden oder konfrontiert werden, die
Frage nach den spezifischen Eigenarten des einzelnen Mediums besonders virulent. Über dem
Fernseher auf der Bühne schwebt gewissermaßen
auch die Frage: Was ist Theater? Was macht es
einzigartig, und worin besteht der Unterschied zu
anderen Medien technischer ReRroduktion?
Ad hoc haben Theaterenthusiasten eine
Reihe von Begriffen parat, die für das Theater in
die Waagschale geworfen werden können: Echtheit, Körperlichkeit, Unmittelbarkeit. Authentizität, Wahrhaftigkeit oder Präsenz. Diese Merkmale und die Exklusivrechte, die Theaterleute lapidar dafür beanspruchen, werden durch den Einsatz anderer, neuer Medien im Theater jedoch auf
die Probe gestellt. Was affiziert denn den Blick der
Zuschauer mehr: ein Körper auf der Bühne oder
ein Körper im Monitor auf der Bühne oder beides?
Was ist Original und wasist Kopie, wenn die Blicke
der Zuschauer hin- und herzappen müssen? Was
bedeutet Unmittelbarkeit, wenn man angesichts
einer Schauspielerin auf der Bühne und der Nahaufnahme ihres Gesichts als Live-Projektion viel
häufiger auf die mediale Repräsentation statt auf
die präsente Person blickt?
Es tut dem Theater gut, sich durch die Begegnung der medialen Art verunsichern zu lassen. Und dabei kann es durchaus fraglich sein, ob
Theater überhaupt etwas zeitlos Eigenes hat. was
gegen das zeitgeistig Fremde neuer Medien geschützt werden müsste. Dass man heute beispielsweise häufig von Präsenz spricht, wenn man die
Arbeit vonSchauspielern beschreibt, ist nicht dem
zeitlosen Wesen des Theaters geschuldet, sondern
selbst schon Ausdruck einer medialen Verschiebung. in den Schauspieltempeln des 19. Jahrhunderts, die sich das Wahre, Schöne und Gute über
die Tür. gemeißelt haben, hätte man mit Präsenz
nicht viel anfangen können. Dem Repräsentati-
22
DRAMATURG 112004
als sich der mediale Umbruch in den vergange-
damit auch ein Beitrag für eine Kultur des
nen zehn Jahren radikalisiert hat. Die Potenzie-
Zuschauens, die sich nicht als bloßer Bildkonsum
rung des Programmangebots des Fernsehens, die
verstehen lassen will.
Verbreitung von Computern und die allgegenwär-
Im Theater von Medialität zu sprechen, be-
tige Verwendung von Videotechnik strukturieren
deutet zu fragen, wie das Verhältnis von Zuschau-
Wahrnehmungsformen in einer Art und Weise
ern und Akteuren gestaltet ist. welche Konven-
neu, von der das Theater nicht unberührt bleibt.
tionen dabei bedient, in Frage gestellt oder er-
Dieser Einfluss macht sich nicht nur dann geltend,
weitert werden. Medialität ereignet sich gewis-
wenn tatsächlich ein Medium wie das Fernsehen
sermaßen im Grenzgebiet von Bühne und Publi-
auf der Bühne verwendet wird, sondern er sickert
kum. Medialität wäre also die Art und Weise, wie
auch tiefer in die Dramaturgie ein. Erinnert sei an
durch die räumliche Disposition Wahrnehmungs-
die Freude am Geschichtenerzählen, die noch in
ordnungen geschaffen werden. Man sollte des-
den frühen neunziger Jahren für avanciertes
halb davon ausgehen, dass Theater nicht dadurch
Theater tabuisiert wurde, das erneute Erproben
zu einem medialen Raum wird, dass man die
von Schnitt und Montage als theatrale Verfahren
Bühne mit Bildschirmen spickt oder mit Video-
und vor allem die Beschäftigung mit Zeitstruktu-
projektionen zu kleistert, sondern indem im Thea-
ren: die Übertragung serieller Formate auf das
ter explizit dieses Grenzland der Wahrnehmung
Theater (Theater-Soaps) und die ostentative
verhandelt und die Nahtstelle von Bühne und
Thematisierung von Zeiterfahrung, die beispiels-
Publikum immer neuen Zerreißproben ausgesetzt
weise mit Marthalers"Warteorgien eine Gegenpo-
wird. Insofern ist die Theatergeschichte auch eine
sition zur Reizflut neuer Medien setzt.
Mediengeschichte, noch bevor die Kamera erfun-
Will man diese Entwicklung auf den kleins-
' den wurde. Der Chor der antiken Tragödie kann
ten gemeinsamen Nenner bringen, könnte man
ebenso als mediales Phänomen gelten wie die
sagen, dass durch diese Verfahren Wahrnehmung
Narrenfigur im Mittelalter, Diderots Vierte Wand
im Theater selbst zum Thema wird. Die Wahrneh- ·
oder die allgegenwärtigen Rampensäue auf den
mung der Zuschauer dient hier nicht nur der
Opernbühnen. Und in diesem Zusammenhang
möglichst unkomplizierten lnformationsaufnah-
spielen auch neue Medien technischer Reproduk-
me, sondern spielt sich selbst in den Vordergrund.
tion ihre Rolle. Demnach wäre es falsch, «bösen
Die Mediennutzung im Alltag muss besonders rei-
mediale Simulation und «guten theatrale Echtheit
bungslos geschehen. Medien sind gerade dann
gegeneinander auszuspielen. Auch im Theater hat
effizient wenn sie selbst nicht in Erscheinung tre-
das Zuschauen und Zuhören seine Unschuld
ten, sondern in dem Verschwinden, was sie ver-
längst verloren, denn auch hier gibt es keine
mitteln. Je problemloser, selbstverständlicher und
unvermittelte pure Wahrnehmung, auch hier wer-
unauffälliger sie ihre eigene Rolle dabei spielen,
den Wahrnehmungsordnungen und Konventionen
desto produktiver sind sie. Es darf gewissermaßen
mitunter subtil aufgezwungen.
keine Reibungsverluste geben. Im Theater ist das
Schließlich ist es nicht immer angebracht,
. häufig anders, hierwerden die Medien nach vorne
angesichts neuer Medien auf der Bühne in die
geschubst, ihre Verfahren werden ausgestellt und
Habacht-Stellungtrivialer Medienkritik zu gehen
vorgeführt. So wird die Selbstverständlichkeit
und von Simulation und Fälschung zu sprechen.
medialer Vermittlung im Alltag auf der Bühne auf
Medien dürfen nämlich auch Spaß machen. Die
den Kopf gestellt. Inszenierungen mit neuen
Arbeit mit neuen Medien im Theater ist nicht sel-
Medien suchen häufig die Reibungsverluste, die
ten eine Spielerei. Und Spielen ist im Theater keine
Verzerrungen und Verzögerungen, die Lücken im
Untugend. Zu sehen, was passiert, wenn man
Film, die Risse der Darstellung, den Abbruch der
Medien auseinander nimmt und schief wieder
Übertragung. Die Einblendung: <<Störung. Wir bit-
zusammensetzt, oder sich an coolen Effekten zu
ten um etwas Geduldn ist der Supergau des Fern-
berauschen, ist ein ausgesprochen kreatives Verg-
sehens, sie treibt die Quote binnen Sekunden in
nügen. Und es ist ein souveräner Hinweis darauf,
den Keller. Im Theater kann diese Störung oder
dass man neue Medien nicht immer so ernst neh-
Unterbrechung ein ästhetisches Prinzip sein. Die
men muss, wie diese selbst gern genommen wer-
Hybris von Zuschauern, die den Anspruch erhe-
den möchten: ln diesem Sinne ist das Theater der
ben, alles zu durchschauen, und die sich mit der
Souverän. 1!!1
Fernbedienung in der Hand zur allseits umworbenen Zielgruppe zählen dürfen, wird so empfindlich getroffen. Der Einsatz neuer Medien ist
DRAMATURG 1/2004
23
Ein PS im. Medienzeitalter
Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater
des Rene Pollesen
Von Birgit lengers
Als Weiterführung
der Schlussdiskussion
des Symposiums
«Schnittstelle Theatern
publizieren wir hier
einen Essay der Theaterwissenschaftlerin
Birgit Lengers (Leiterin
eben jener Schlussdiskussion) über die
Arbeit des Regisseurs
Rene Pollesch.
Geschrieben wurde der
Artikel für den Band
«Gegenwartstheater»
(Arbeitstitel) der Reihe
<<Text & Kritik» (Hg.
Heinz Ludwig Arnold),
der voraussichtlich im
Septem_ber ersche-int.
«Kino, das ist das Zeitalter der Maschine.
Theater, das ist das Zeitalter des Pferdes. Sie
· werden sich niemals verstehen, was übrigens
wünschenswert ist, denn die Mischung ist
bedauerlich." (Fernand Leger, 7931)
F
ür den Theaterpuristen des Medienzeitalters
mag es bedauerlich sein,· reinrassig ist der
Theatergaul kaum noch zu haben. Aber er ist
robust und überlebt im Blick durch die Handkamera, zwischen Filmprojektionen und Live-Video,
in adaptierten Filmstoffen und -zitaten, zerstückelt in szenischen Bildmontagen, beschleunigt
in Clip-Rhythmus und Zapping-Ästhetik, präsentiert im medial geprägten Spielgestus.
Hysterische Unterg-angsvisionen sind unangebracht. Meist werden sie von denen in Anschlag
gebracht, die sich als Retter in Position bringen.
Laudenbach, Peter
(2002): «Sexualität und
Wahrheit, Teil 3n.
ln: Tip 4/02
3 Alle kursiv gedruckten
Passagen sind Zitate
v:on Rene Pollesch aus
Interviews und·
Gesprächen zwischen
2001 und 2004. Bei den
Zitaten aus seinen
Texten ist der Stücktitel
in der Fußnote angegeben, wenn er sich
nicht aus dem Kontext
erschließt
4
Wirth, Andrzej (2003):
«Rene Po~lesch. Generationsagitproptheater
für Stadtindianer)). ln:
«Werkstück. Regisseure
im Porträt.}} Arbeits- .
buch 2003. Hrsg. von
Anja Dürrschmidt und
Barbara Engelhardt,
Berlin: Theater der
. Zeit, S. 126-131.
s Ulrkh Seidler in der
Berliner Zeitung vom
16.1.2004
2
14
wollen. Der Konter der Berliner Sophiensaele auf
den «Theater muss sein!n-Siogan des Deutschen
Bühnenvereins - «Theater muss nicht sein. Sex
auch nicht!»- beschreibt treffend die Voraussetzungen, unter denen heute Theater gemacht wird.
Wer sich mit dermedialen Grenzüberschreitung
des Theaters beschäftigt, muss nicht Untergangsgespenster vertreiben, sondern nach seiner Funktion und Wirkung fragen, muss nicht Existenzrettung, sondern Phänomenologie betreiben. Das
Theater von Rene Pollesch ist ein geeigneter
Gegenstand für ein solches Unternehmen.
VORSPANN - Theaterverweigerung
Kraft zur Erneuerung entsteht aus radikaler
Negation der Konvention. Pollesch will kein Theater machen oder genauer: Er will «Theater ohne
Theater>•' machen. Das heißt, Theater ohne die
aristotelischen Grundkonstituenten wie dialogisch
gebildete Figuren, Narration einer Fabel, Mimesis
im Sinne der tradierten Darstellungsziele nachgeahmter Weiten und Wahrscheinlichkeiten. Als
Autor will er keine Theatertexte schreiben:
Ich
denke, ich schreibe keine Stücke.' Und die poste
dramatischen Sprechpartituren, die er schreibt,.
stehen unter Nachspiel-Verbot. Als Regisseur verlangt er von seinen Darstellern bloß kein Theater
zu spielen. Und eigentlich ist er auch gar kein
Regisseur: Ich inszeniere nicht, die Schauspieler
organisieren ihren Text selber. Zielgruppe dieses
AnticTh.eaters sind natürlich diejenigen, die
eigentlich ins Kino gehen, weil sie vom Theater
gelangweilt sind. Heraus .kommt ein recht eigenwilliges theatrales Format: «Generationsagitproptheaterfür Stadtindianen(
Polleschs Theater will sich den Spielregeln
der Theaterweit verweigern. Wie reagiert die
Theaterweit auf Verweigerung? Pollesch wird
Hausautor erst in Luzern, dann in Hamburg; wird
beim Rowohlt Theater Verlag verlegt, wird mit
dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet,
wird künstlerischer Leiter der Volksbühnenspiel- .
stätte Prater, wird mit seiner Trilogie «Wohnfront
2001-2002» zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Und seine jüngste Inszenierung «Telefavelasn
(2004) wird unter der Überschrift «Wiedergutealte
Theaterwertarbeit Es handelt wieder auf der Diskursbühnen in der Kritik gefeiert. .Der verlorene
Sohn, der «Theaterkategorieabschaffen> und
«Medienkurzschließern' wird willkommen geheißen im guten alten Theaterschoß.
Interessant ist .nicht der Verweigerungsgestus, sondern die Frage, mit welchen Mitteln
sich die Verweigerung äußert und was in der
Rezeption mit diesen Mitteln geschieht.
Wie die künstlerische Eingemeindung der
grenzüberschreitenden Gegenbewegung Theatergeschichte schrieb, zeigt der Blick zurück ins
«Zeitalter der Maschine». Auch die historische
Avantgarde hat, trotzgegenteiliger Proklamation, nie wirklich den Weg zum Abdecker eingeschlagen. Schon in den anti-naturalistischen und
anti-illusionistischen Bewegungen der 10er und
20er Jahre liefen alle Bemühungen auf Weiterzüchtung hinaus, auf Extension der Bühne mit
DRAMATURG 112004
medialen Mitteln. Es ging letztlich um Retheatra-
ziert und so eine epische Kommentar- zur Spie-
lisierung. Vor dem Hintergrund des Dagewesenen
lebene eingeführt. Diese wurde in Erwin Piscalors
6
Filippo Tommaso
Marinetti, zitiert nach:
Apollonio, Umberto
kann im Anschluss das Neue der gegenwärtigen
politisch-agitatorisches Theater übernommen und
(1 972): «Der Futurismus.
medialen Kreuzungen exemplarisch bei Rene Pol-
wirkungsästhetisch perfektioniert. Piscalor schrieb
lesch dargestellt werden.
die «durchschlagende Wirkung» der Filmsequen-
Manifeste und Dokumente einer künstle-
Seit Beginn der Moderne geht es in der Kunst
zen weniger der Authentizität und ihrem doku-
um die Frage, inwieweit Kunst nicht mehr Kunst
mentarischen Gehalt zu, vielmehr dem interdiszi-
sein will. Die Kunst stellte sich etwa in den Dienst
plinären Synergieeffekt: «Das Überraschungsmo-
der Revolution und sprach: Ich will Klassenkampf
ment, das sich aus dem Wechsel von Film .und
sein, ich will Maschine sein. Oder sie stellte sich
Spielszene ergab; war sehr wirkungsvoll. Aber
in den Dienst des neuen Alltags: Ich will super sein
noch stärker war die dramatische Spannung, die
wie die Reklame, ich will befreit sein wie das
Film und Spielszene voneinander bezogen. Wech-
Leben. Heute will sie den Anschluss an den tech-
selwirkend steigerten sie sich, und so wurde in
nologischen Fortschritt nicht verlieren, rüstet sich
gewissen Abständen ein Furioso der Aktion
medial auf und. gibt sich Multi-Media-High-Tech ..
erreicht, wie ich es im Theater nur selten erlebt
hatt~.>>.12
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts galt es
die <<längst erschöpfte Psychologie des Menschen»
durch die <<lyrische Besessenheit der Ma~erie»' zu
Von der Montage zur Transfusion
ersetzen. So zielten die Slogans der futuristischen
und konstruktivistischen Manifeste auf die Ver-
Der beschriebene Effekt entspricht der Wir-
bannung des menschlichen Akteurs von der Thea-
kungsästhetik der Montagetechnik, die nicht auf
terbühne: «Durch die Maschine und in der Mac
die Summe der Einzelelemente zielt, sondern auf
schine vollzieht sich heute das menschliche
deren katalysierende Wechselwirkung. Ein Kentaur
Drama!»' «Echte Gast-Darsteller eines unbekann-
war geboren, zusammengesetzt aus zwei Teilen,
ten Theaters» sollen die lebenden Schauspieler
die jedoch als solche erkennbar blieben. Was aber
ersetzen 8 !
heute geschieht, lässt sich nicht länger als kon-
«Das Kino ist die heutige Etappe des Thea-
ventionelle Kreuzung ·beschreiben, der Hybrid ist
ters!»', proklamierte 1926- ganz im Elan des Fort-
erschaffen. Brecht schrieb 1931: «Der Filmsehen-
schrittsenthusiasmusder Zeit- Sergej Eisenstein.
de liest Erzählungen anders. Ab.er auch der Erzäh-
Die Forderung, die ästhetische Produktion auf den
lungen schreibt ist seinerseits ein Filmsehender»".
Stand der technischen zu bringen, forderte in
Die Prognose ließe sich ins Heute übersetzen: Der
letzter Konsequenz die Liquidierung des Theaters
Medienrezipient sieht Theater anders. Aber auch
als Darstellungskunst zugunsten des Films. Schon
der Theatermacher/-autor ist seinerseits Medien-
bei der «Montage der Attraktionen»" (Eisenstein)
rezipient. Die Mediatisierung der Theaterproduk-
erwies sich der Theatergaul als störrisch; es fanden
tion ist nicht mehr rückgängig zu machen. Im
zwar Verfahrensweisen wie Parallelmontage, Nah-
21. Jahrhundert sind wir uns bewusst, dass Me-
aufnahme und dynamischer Szenenwechsel Ein-
dien nicht Weit vermitteln. Sie sind subkutaner
gang in die Theaterinszenierung, doch als prä-
Bestandteil unserer Weit: «Die Bilder der Massen-
destiniertes Medium erwies sich der Film mit sei-
medien kann man nicht mehr betrachten [...] sie
nen Mitteln der Bildgestaltung (Cadrage), den
rücken uns auf den Leib, schließen sich mit der
Einstellungen und Schnitten. Hier entwickelte
Netzhaut kurz.>>" Was ·bedeutet dieser mediale
Eisenstein seine Montagetheorie weiter, wurde
«Take Oven> der Sinne für den Theatermacher?Tim
heimisch und blickte nicht zurück. Auch Wsewo-
Etchells, Autor der Live-Art-Gruppe Forced Ent-
lod E. Meyerhold, der in seiner vorrevolutionären
ertainment, drückt es so aus: <<I guess TV was real-
Phase den Film noch strikt als <<illustrierte Zei-
ly in our blood- and.like any blood you have to
tung» und unkünstlerisches Reproduktionsmedi-
live with it, spill it, transfuse it, clean it, test it. You
um ablehnte- «Nichts hat der Kinematograph auf
don't have much choice about your blood, but it
dem Gebiet der Kunst zu suchen» - spricht sich
always needs dealing with it. A theatre that won"t
in den 20er Jahren für eine «Kinofizierung»" des
do this isn"t worth having»". Die Theatermacher·
Theaters aus: Gemeint war neben der technischen ·
leben mit Medien, gehen mit ihnen um, und sie
Aufrüstung des Theaters die Einführung einer fil-
halteh Einzug ins· Theater. Die Befragung der
mischen Episodendramaturgie mit kurzen Szenen
Gegenwart läuft im postdramatischen Theater
in rascher Abfolge. Erstmalig wurden auch Zwi-
über die Befragung der theatralen Form. Aber wie
schentitel und Parolen auf eine Leinwand proji-
inszeniert, überformt das Theater mediale Kon-
DRAMATURG 112004
rischen Revolution
1909-1918. Köln, 5. 81.
· Prampolini, Enrico;
Pannaggi, lvo; Paladini,
1
Vinicio: «Die mechani-
sche Kunst», S. 110112. ln: Schr:nidt-BerQmann, Hansgeorg
(1993}: «Futurismus.
· Geschichte, Ästhetik,
Dokumente». Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag,
s. 111.
8
Leger, Fernand (o. J.):
<<Mensch. Maschine.
Malerei. Aufsätze und
. Schriften zur Kunst.»
Bern, 5.151 ff.
9
"Eisenstein, Sergej M.
(1926): «Zwei Schädel
Alexanders des Großem)
0.
0.
10
Eisenstein, Sergej. M.
(1974): Schriften ·
1. Streik. Hrsg. von
Hans-Joachim Schlegel,
München: Carl Hanser
Verlag, S. 216-221.
" Vgl. Brauneck, Manfred (1982): «Theater
im 20. Jahrhundert.
Programmschriften,
Stilperioden, Reformmodelle.>) Reinbek:
Rowohlt, S. 314-322.
11
Piscator, Erwin
(1963): «Das politische
Theaten>. Reinbek:
Rowohlt, S. 74 f.
13
zitiert nach Balme,
Christopher B. (2003):
«Theater zwischen den
Medien. Perspektiven
für Theaterwissenschaft und Kritik angesichtseiner zunehmenden lntermedialität in
der Theaterpraxis.>) ln:
<<Die Deutsche Bühne»
10/2003, s. 48-51.
1
• Boltz, Norbert (1993):
«Politik der Posthistorie>), S. 250-257.
ln: Maresch, Rudplf
(Hrsg.): «Zukunft ohne
Ende». München,
s. 255.
15
Etchells, Tim (1999):
«On Performance and
Technologyn. ln: Ders.:
«Certain Fragments>);
London/New York, S. 96. ·
25
16
Lehmann, Hans-Thies
(1999): «Postdramatisches Theater».
FrankfurtJM ..: Verlag
der Autoren, S. 401A47.
17
<<Frolic for Afghanistan». ln: Berliner
Zeitung; Nr. 252,
29.10.2001.
1
a vgl. Richard Sennett
(1998): «Der flexible
Mensch. Die Kultur des
neuen Kapitalismus>).
Berlin: Berlin Verlag.
19
«Verkaufe dein Subjektb) Rene Pollesch im
Gespräch mit An ja Dürrschmidt und Themas
lrmer. ln: Theater der
Zeit 12/01, S. 5-7.
ventionen, Ästhetiken? Wie gewinnt es im Umgang mit medial geprägten Formaten, Stoffen,
Erzählweisen Spielraum?
Es gibt unterschiedliche intermediale Strategien. Unter der Überschrift «Tpeater +·- Medi-
Dieses Hotel produziert Siche(heit. - werden
durch den assoziativen Kurzschluss mit dem
transponierten Filmthema ad absurd um geführt.
en« differenziert Hans-Thies Lehmann zwischen
ln derselben Inszenierung wird auf einem der
N-Geräte, die zur Einrichtung der Wohnbühne
«Medien-Nutzung«, «Medien-Inspiration«, «Medien konstitutiv« und «Medien theatralisiert«". Pol-
(Bert Neumann) gehören, scheinbar beiläufig und
beliebig ein kurzes Video wiederholt, in dem a"f-
leschs Arbeiten w'eisen Aspekte des Medienumgangs auf, die sich allen vier Kategorien zuord-
ghanische Windhunde von. Hundepflegern gebürstet und im Kreis geführt werden. Der Text-
nen lassen. Die phänomenologische Annäherung
bewegt sich im Folgenden von außeri nach innen:
Auf die oberflächliche Mediennutzung, das Medi-
strom, der sich von den produzierten Sicherheitsund Ordnungsgefühlen über das produzierte
Bedrohungsszenario zum grenzenlosen Gerech-
enzitat folgt die Medieninspiration, das szenisch
bearbeitete Filmmotiv wie die theatral ausgeschrittene Distanz zur Filmvorlage; ein konstitutiver Medienbezug findet sich in der kontrastiven
tigkeitsfeldzug. Die Gerechtigkeit der USA kennt
. keine Grenzen bewegt hat, wird durch die Ein-
spielung eines vorproduzierten Videos auf der
Gegenüberstellung von live gefilmten und live
präsentierten Körpern, dem schließt sich die Theatralisierung und Internalisierung medialer Forma-
zentralen Leinwand unterbrochen: Auf einem
Schreibtisch kreiseln Bierflaschen mit kleinen
Rotoren und Wagners «Walkürenrittu ertönt. Die
Musik stellt die Verbindung zu einem in «Apoka-
te und Mittel an. Die These ist, dass das Theater
gerade in der medialen Grenzüberschreitung zu
lypse nowu (1979) spektakulär fotografierten
Hubschrauberangriff der Amerikaner her, wo sie
sich zurückfindet.
als Instrument der psychologischen Kriegsführung
benutzt wird: «Da werden sich die Schlitzaugen
in die Hosen scheißen.« Der von Francis Ford Cop-
Medienzitat- Kurzschlüsse bei
«lnsourcing des Zuhause. Menschen
in Scheiß-Hotels»
Pollesch nutzt. wie viele and~re Regisseure,
filmische Medien, spielt mit ihnen, um bestimmte Affekte und Effekte zu erzielen. Das Filmzitat
rekurriert auf das kollektive Bildgedächtnis einer
Film- und N-sozialisierten Generation. Ein Thema,
eine Stimmung, ein Kontext wird mit dem Medium ins Theater eingeschmuggelt, Dem Rezipienten steht es frei, assoziativ intertextuelle Verbindungen herzustellen. Pollesch beschreibt dieses
Verfahren selbst als zufällig und willkürlich: Er
hört beim Schreiben eines Theatertextes eine
Musik, die ihn an einen Film erinnert, den er dann
in der Inszenierung ein- oder anspielt, weil er entfernt mit dem Thema zu tun hat, z. B. Norman
pola virtuos inszenierte Kriegsfilm versucht in seiner ambivalenten Darstellung der ästhetischen
Faszination des Krieges weniger die militärischen
und politischen als vielmehr die psychischen
Aspekte des Vietnam-Debakels zu erhellen. Die
Filmmusik wird erneut zitiert, wenn die Darstellerinnen mit einem durch zwei aufeinander gestapelte Schreibtischstühle symbolisierten Helikopter
zum Bühnenfernseher «rollen« und zunächst einige kleine gelbe Fallschirme mit Frolic über ihm
abwerfen, um dann eine ganze Schachtel Hundefutter über dem Bildschirm auszuschütten - «[...]
ein fieses, [..,] präzises Bild für den Abwurf von
Lebensmitteln über Afghanistan.«" Die betont
trashigen theatralen Mittel konterkarieren den
bildmächtigen US-Filmklassiker der BOer, in dem
Bates' «Psycho«-Hotel mit dem Thema «lnsourcing
des Zuhause- Menschen in Scheiß-Hotels«. Das
Filmzitat wird in der Inszenierung von den Figu-
der perfekt inszenierte Schrecken des Krieges
immer gut aussieht. Beiläufig wirft Pollesch
zudem die Frage nach der Tauglichkeit des Films
als Medium der Kritik in Zeiten medial inszenier-
ren ironisch aufgegriffen: Sei du selbst, Norman
Batest, lautet die Aufforderung an die Service-
ter Kriege auf.
Das Filmzitat, die Videoeinspielungen und die
kräfte der Wohlfühlhotels, oder es heißt: Dieses
Hotel produziert Sicherheitsgefühle. Diese Con-
travestierte Filmszene bleiben in dem Verfahren
der medialen Kurzschließung jedoch lediglich
cierge oder Norman Bates produziert Sicherheit
weitere Zutaten im theatralen Hypermedium. Bei
und Ordnung! Die Slogans der neuen Dienstleis-
Pollesch geht der Medienbezug weit über die
«Medien-Nutzung« hinaus; er ist für seinen Stil
tungsgesellschaft, in der es um die Produktion des
emotionalen und kulturellen Mehrwerts von
Gütern geht - Dieses Hotel produziert Zuhause.
26
Dieses Hotel produziert persönliche Anteilnahme.
signifikant.
DRAMATURG 112004
Trojanische Pferde Gegenwartsbeschreibung im alten
Kleid der Vorlage
Die «Medien-Inspiration» lässt sich meist
Anstatt Fabel oder Filmplot nachzuerzählen,
greift Pollesch dabei eiri bestimmtes Motiv der
Vorlage auf, welches er weiterentwickelt und auf
die Themen bezieht, die in all seinen Theaterdiskursen verhandelt werden. Es ist im Grunde die
a
schon am Stücktitel ablesen:'Filme der 60er bis
Geschichte des «Blade Runnen>, die seit «Ufos
80er dienen Pollesch als Initiationspunkt und
Interviews>>. (Luzern 2001) weitererzählt wird. War
Materiallager seiner Inszenierungen, z. B. «Soylent
die Zukunftsvision in Ridley Scotts Science-
Green» von Richard Fleischer, «Der Tiger von
Fiction-Klassiker die äußerliche Identität von
Eschnapur» von Fritz Lang, «Escape from New
Mensch und Android, geht es
Po IIesch um selbst-
York» und «Sie leben!» von John Carpenter. Bei der
entfremdete Menschen, die an der Künstlichkeil
«Hochzeit von Bühne und B-Movie» (Jens Roselt)
ihres Lebens verzweifeln. Ich lebe die künstliche
handelt es sich in keiner Weise um die Transpo-
zur Vorlage u. a. die veränderten gesellschaftli-
Scheiße hier und oll die künstlichen Erinnerungen
und den Scheiß. - Ich bin bloß eine Maschine, die
simuliert, dass ich Lebe! Oh Scheiße!- Egal was
wir leben, Wir sind immer künstlich!". Seine
chen Bedingungen, unter denen Kunst gemacht
Stücke erfassen die gegenwärtige «Replikanten-
wird. Wenn er ein Stück unter dem Titel «Der Kan-
existenz» als allgemeine Auflösung des Individu-
sition des Filmstoffes auf die Bühne.
Po IIeschs Theater reflektiert in der Distanz
didat. Sie leben» inszeniert, wird gerade in Bezug-
ums in informellen komplexen Strukturen"·
nahme auf den Anti-Strauß-Dokumentarfilm «Der
Gemeint sind die verschwimmenden Grenzen zwi-
Kandidat» (1980) von Stefan Aust, Alexander von
schen öffentlichem und privatem Raum in einer
Eschwege, Alexander Kluge und Volker Schlön-
totalen Ökonomie des globalen Neo-Kapitalismus,
dorff deutlich, was Kunst heute nicht mehr leistet.
in dem man sich ein schickes Nervenkostüm in
Mit gesellschaftskritischem Agitprop-Theater kann
Mitte kauft'", Gefühle echt und bezahlt" sind.
gegen die «Neue Mitte» nicht polemisiert werden;
Ich wünsche, du wärst Geld, dann würde auf
dir drauf stehen, was du wert bist, heißt es folgerichtig in <6oylent Green ist Menschenfleisch, sagt
der politische Gegner kann nicht dokumentiert
werden, weil er nicht auszumachen ist. Die entsprechenden Brillen, mit denen der Held in John
es allen weiter!>>. Die Grundidee der Filmvorlage,
Carpenters «Sie leben» (198S) die Außerirdischen
die im überbevölkerten New York des Jahres 2022
unter den echte~ Menschen identifiziert und die
spielt, ist, dass Menschenfleisch vom staatlichen
Konsum-Einflüsterungen hinter den Medien sind
Nahrungsmonopolisten zu grünen Crackern ver-
obsolet geworden. Auch Heidi Hoh, die hochfle-
arbeitet und in Umlauf gebracht wird. Pollesch
xible" Telearbeiterin seines Dreiteilers (1998-
verbindet mit dem Thema der kannibalistischen
2001), ist nicht vergleichbar mit ihrem filmischen
totalen Verwertbarkeit des menschlichen Körpers
Vorbild, der Fabrikarbeiterin Norma Rae («Norma
das seiner Vermarktung als Sexual-Objekt, wel-
Rae» 1979; Regie: Martin Ritt), die im Filmverlauf
ches er Paul Thomas Andersans «Boogie Nights»
- wie Pollesch es formuliert - politisiert und
(1997) entlehnt, einem Film über die amerikani-
emanzipiert auf den Webstuhl steigt'", um gegen
sche Pornoszene der 70er. Ficken ist das, was mir
ihre Arbeitsbedingungen zu -protestieren. Heidi
sondern aufgefordert ihre Subjektivität auszu-
sagt, wer ich bin in diesem Porno. Wer sagt mir,
was ich bin nach dem Porno? Ein melancholischer
Grundton färbt den Theaterabend. Abschied wird
Hoh ist keiri kapitalistisch ausgebeutetes Subjekt,
beuten, und diese Selbstausbeutung tarnt sich mit
gefeiert. So sitzen die Darsteller im Schlussbild der
dem Deck-mantel der Selbstverwirklichung". Für
Inszenierung unter dem Abspann von «Soylent
Heidi Hoh, ihren Erfinder Pollesch und all die
Green>>, ein ökologischer Science-Fiction-Film von
anderen «Pioniere der New Economy» gilt: «24
gestern, so alt wie der Durchschnittszuschauer.
20
Polfesch bezieht sich
auf McRobbie, Angela
(2002): <deder ist krea-
tiv. Künstler als Pioniere
der New Economy?}>.
ln: «Singularitäten ;Allianzen, Interventionen», ITH/HGKZ.
21
Mit seiner ersten
vierteiligen TV-Serie
(3sat, 2003) schließt
Pollesch an seinen
Theaterzyklus «24
Stunden sind kein Tag»
(2002) an. ln Bezug·
nahme auf den JohnCarpenter-Film «Die
Klapperschlange)) trug
das Stück bei seiner
Premiere in der Berliner
Volksbühne (2002) als
Zusatz noch den
englischen Originaltitel
<<Escape from New
York>).
n Grad, Simen (1997):
«Der Markt am Neumarkt. Das Theater aus
ökonomischer Sicht.>'
ln: «Theater Neumarkt
Zürich, <Top Dogs>, Entstehung- Hintergründe- Materi~lien)),
Zürich 1997, S. 88.
l l «Heidi Hoh arbeitet
hier nicht mehn>, 2000
2
• «Ufos & Interviews»,
2001
2s «Telefavela>,, 2004
26
«Stadt als Beute»,
2001
21
«Sex,>, 2002
Stunden sind kein Tag»" und nicht acht, wie noch
1972 in Fassbinders sozialpolitischem Fünfteiler
aus dem Arbeitermilieu. Hier wurden im Format
der Familienserie, leicht verständliche Problemlö-
Gefilmte Körper, befreite Blicke «Soylent Green ist Menschenfleisch,
sagt es allen weiter!»
sungsstrategien vorgespielt. Wo die «Machtlogik»
durch die «Marktlogik»" ersetzt wird, hat das
Der Blick auf den Körper als Darstellungs-
Lehrstück abgedankt. Das Transparent ist nach
und Verhandlungsobjekt ist in der Inszenierung
innen verlagert. Diese Durchsagen in mir" bringt
nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ein
Pollesch mit seinen Sprecherinnen auf die Bühne.
medial vermittelter. Die Darsteller sind zu Beginn
DRAMATURG 1/2004
27
Ja vgl. Finter, Helga
(1985): «Das Kameraauge im postmodernen
Theater», in: «Studien
zur Ästhetik des
Ge:genwartstheatersn,
hrsg. von Christian W.
Thomsen, Heidelberg:
carl Winter Universitätsverlag, S. 46-66
29
D~tje, Robin: <<Kein
Kontin~um kann
immer. Ende nach dem
Trailer: Rene Polleschs
<Telefavela> in Berlin>>.
ln: Süddeutsche Zeitung
vom 17 ./18.1.2004.
der Vorstellung hinter Vorhängen und Papierwänden verborgen und werden von einer Videokamera gefilmt. Die von der schweifenden Kamera aufgefangenen intimen Nahaufnahmen, verschlungene Leiber, Fleischlandschaften, Körperdetails
sind auf drei Leinwände gebannt. Das dem direkten Blick Entzogene wird monumental-monströs
ausgestellt. Die vierte Wand der traditionellen
Theaterpraxis wird nicht durchbrachen, sondern
erst einmal geschlossen. Die Zuschauer sehen auf
der Bühne das, was die Bühne ihnen verweigert.
Somit wird der Wahrnehmungsvorgang als solcher
ästhetisch markiert und thematisiert. Das Intime
und Private wird als hergestellte, inszenierte und
medial vermittelte Authentizität vorgeführt. Hier
·besteht der entscheidende Unterschied zur Reality
Soap: Das Fernsehen kaschiert. dass Bilder immer
Produkte von Inszenierungen sind, und steuert
Wahrnehmungsvorgänge und Bedeutungszuwei"
sung rigide. Die Kamera in «Soylenf Green ist
Menschenfleisch» vermittelt einen ausschnitthaften, fragmentarischen Einblick in verborgene
Räume. Aber neben den Kamerabildern, in den live
gespielten Szenen, flüstern und schreien leibhaftig präsente Darsteller an gegen die totale Besetzung von Intimität durch Ökonomie. Du Hure,
dein Bezug zu dir selbst ist Geld. Gerade in der
Verweigerung der Zentralperspektive, im Wechsel
zwischen Abbild und Abgebildetem erfährt die
Subjektivität des Blicks, das frei schweifende
«~ameraauge»" des Zuschauers eine Aufwertung.
Der Verlust der Überblicks, des «heilen Ganzen»,
den die oben beschriebene Distanz zur Vorlage
thematisierte, wird so auch zur ästhetischen
Erfahrung im Theaterraum.
An dieser Stelle verlassen wir das Terrain der
konventionellen Mischformen, der trojanischen
Pferde und Zentauren, in denen Medien benutzt,
zitiert, implantiert und gegengeschnitten werden.
Der Theaterhybrid hat mediale Formate (TV-Serien) und Verfahren (Kameraschnitte) bereits verdaut.
Mediale Maskierung Verfremdungsstrategien eines
Soap·Operateurs
Schon mit der Gattungsbezeichnung Theater-Soap kennzeichnet Pollesch seine in Serie produzierten Arbeiten als intermediale Zwitter
(«Javam in a Box» 1-13, «Ufos B: Interviews» 1-2
in Luzern, «Heidi Hoh» 1-3 im Podewil Berlin,
«WWW-Siums» 1-10 im Hamburger Schauspielhaus, «Smarthouse» 1 B: 2 im Staatstheater Stutt-
28
gart). Auch die Bezeichnungen «No-Soap», «Splatterboulevard», «Snuff-Comedy» und «Telefavela»
verweisen auf theatrale Kreuzungen mit medialen Formaten und Ästhetiken. Bei Pollesch handelt
es sich mitnichten um die affirmative Kopie des
Fernsehformats, sondern um eine subversive mediale Maskierung. Das bedeutet, die Ähnlichkeit ist
eine oberflächliche: Das «Sendformat» entspricht
in den meisten der genannten Fälle dem der
Weekly Soap, d. h. Folgen mit einer Länge zwischen 30 und 40 Minuten werden wöchentlich
gezeigt. Die Grobstruktur der einzelnen Teile lässt
sich als «Ciip»-Folge beschreiben. ln Anlehnung an
Musik-Video-Clips, bezeichnet Pollesch mituCiip»
das von Musikeinspielung begleitete zweckfreie
Spiel, welches die statischen Sprechpassagen
unterbricht. Es findet in den Inszenierungen eine
Trennung von Bild (Aktion) und Text statt. Auch
erinnert das Setting, die Prater-Wohnbühne oder
die Couchlandschaft in Luzern an ein Fernsehatelier, die Ausstattung der «Telefavela» an stereo. type Versatzstücke eines Low-Budget"Filmsets, die
gleichförmige, pseudo-empathische Sprechweise.
an Rohübersetzungen amerikanischer Sitcoms
oder Dauerwerbesendungen und die Unterbrechungen der «Clips» an Werbepausen. Die fehlende Linearität und Kohärenz der einzelnen Inszenierungen, die Brüche und das hohe ~prechtem­
po generieren eine Rezeptionsweise, die sich mit
Metaphern. wie «Zapping», «Fastforward» oder
«Verlinken» beschreiben lassen. Die Endlostexte,
die auf verschiedene Sprecher verteilt sind, ohne
individualpsychologisch interpretiert zu werden,
erscheinen als endloser Datenstr.om, in den sich
der Zuschauer von Inszenierung zu Inszenierung
neu «einloggt». Die Prozessualität seiner Arbeitsweise, die gleich bleibenden «Spielregeln», das
Fortschreiben der Themen und die permanente
Wiederholung von Slogans, Motiven, Schlagworten, kurz: das kultivierte Selbstzitat machen Pollesch zum eigentlichen «Serientäter», zum «SoapOperateun> des Theaters,
Der Vorwurf, er zwinge seine Serienhelden
dazu, «Diskurse zu durchleben, als wären es Melodramen, und soziologische Traktate in SeifenoperForm zu bringen»", verfehlt jedoch seinen
Arbeitsansatz. ln Umkehrung zu der von Meverhold propagierten «Filmisierung» des Theaters findet eben keine «Fernsehfizierung» des Theaters
statt, sondern eine verfremdende Theatralisierung
des Medienformats. So ist «Telefavela» ein semantischer Hybrid aus der brasilianischen Seifenoper
der Reichen und Schönen und der portugiesischen
Bezeichnung für Elendsviertel. Pollesch überführt
DRAMATURG 1/2004
die Serienhelden des «Haus am Eaton Place» mit
ihren unvergänglichen Primärbedürfnissen nach
Liebe und Geld in die attraktive informelle
Scheiße, sprich: die aufgelösten sozialen Hierarchien einer Dritte-Welt-Metropole, wo man einfach keine Einzelschicksale mehr erkennen kann.
ra/ismus verdammt, zu dieser Einheitsvorstellung,
bei der ein Körper Emotionen hat, die etwas
erzählen sollen"· Diese Einheitsvorstellung, die
in "der N-Soap zelebriert und dort der Emotionslesch mit einer Darstellungsform, die er wieder-
erscheint Pollesch der «Neuen Zürcher Zeitung«
gar als «Turbo-Brecht des postökonomischen Zeit-
Schnitte bezeichnen eine Spiel- und Darstellungs-
alters«'". Die Verwandtschaft im Geiste entdeckt
weise, die durch unvermittelte Brüche in der Text-
bildern (auf den N-Monitoren im Prater-Zelt) mit
endlich etwas Zusammenhängendes zu fühlen. Polleschs Medientransfer dient
ihrem Wunsch
primär dem brechtsehen Verfremdungseffekt, der
den vertrauten Gegenstand zwar erkennen, aber
neu kontextualisiert fremd erscheinen lässt. So
um mit filmischen Metaphern beschreibt:
auch Ulrich Seidler in der «vertheaterten Wand-
präsentation gekennzeichnet ist, durch eine
zeitung», die «Telefavela» hoch hält, Handlung und
Distanzierung von Text .und Spieler sowie die
Identifikationsangebote seien nur Fallen". Eine
Trennung. von Sprechen (Tonspur) urid körperli-
weitere Parallele zu Brecht findet sich in dem
cher Aktion (Bildspur). Was d.ie Distanz zum Text
primären Ziel, «die Kinder des wissenschaftlichen
betrifft, sind die Darsteller angehalten ihn nicht
Zeitalters zu unterhalten, und zwar in sinnlicher
zu «verkörpern», sondern im brechtsehen Sinne
Weise und heiter>>". Pollesch unterhält in seinem
zu zeigen. lrmerhalb des Textstruktur zeigt sich,
«Generationsagitpoptheater»" die Kinder des Me-
dass der konventionelle Dialog, der durch aufein-
dienzeitalters nicht zuletzt mii virtuosem schau-
ander folgende und bezogene Repliken einen
spielerischen Einsatz und Camp. Das Vergnügen
semantischen Richtungswechsel erfährt, durch
am guten schlechten Geschmack springt von der
einen dialogisch gesprochenen Monolog ersetzt
Bühne, wo es in medial geprägten Pathosgesten
ist. Die Darsteller sind aufgefordert auf Anschluss
lustvoll ausgekostet wird, auf den Zuschauer über.
zu sprechen, so dass der Eindruck von Sprechau-
Die einzige Waffe gegen die Identifikationsange-
. tomaten, angeschlossen an eine Textmaschine,
bote der Massenmedien, gegen den Trivialmythos
entsteht. Innerhalb der einzelnen Repliken hinge-
ist, «ihn selbst zu mystifizieren, das heißt einen
gen finden abrupte semantische und dynamische
künstlichen Mythos zu schaffen»". Dem scheinen
Brüche statt. Am markantesten sind die geschrie-
Pollesch und seine Darsteller nachzugehen, wenn
enen Passagen, die im Text durch Großbuchstaben
er Fragmente der Medienweit synthetisiert, um sie
·gekennzeichnet sind. Der plötzliche Wechsel der
theatral zu bearbeiten. An die Stelle des kohären-
Lautstärke ist nicht psychologisch motiviert oder
ten Dialogs, der das autonome Individuum kon-
vorbereitet und hat keine Konsequenz für das wei-
turierte, tritt die «soufflierte Rede»", montiert aus
tere Sprechen:
vorgefertigtem Sprachmaterial, das medial vermittelt und präformiert ist. ·
Mediale Demontage und
internalisierte SchnitteVerzweiflung sieht nur life
wirklich gut aus!
tralisierer aus, die «hartnäckig nach zeitgemäßen
S. 1 Z1.
vgl. Pflüger, Maja.
35
Sibylle (1996): «Vom
Dialog zur Dialogizität. ·
Die Theaterästhetik
von Elfriede Jelinek)).
Tübingen und Basel:
Franke Verlag
3
~
Lehmann,
Hans~Thies,
a. a. 0., 5. 216.
37
«EI')tschlüsselt mich!))
Ein Interview mit Rene
Pollesch von Romane
Pocai, Martin Saar und
Ruth Sonderegger.
ln: «Texte zur Kunst».
März2003, 5.112~127.
,Ja zitiert nach Bettina
Brandi-Risi (2001):
<<Verzweiflung sieht
nur live wirklich gut
aus)). ln: «Stück~Werk
3>>, hrsg. von c'hristel
Weiler und Harald
Müller, Berlin: Theater
der Zeit. S. 118 . .
l? vgl. FUßnote 37,
s. 117.
40 «Zorn, Einsicht und
Verzweiflung)). Vier
Fragen von Harald
Müller an Rene Pol~
lesch, in: Theater der
Zeit 12/2000, S. 63.
41
Diederkhsen, Died~
rich: «Denn sie wissen,
was sie nicht leben
wollen.», S. 57, in:
Theater heute 3/2002.
Die Schreie packen einen
nicht. Laut und leise existiert im Fernsehen nicht,
wird weggepege/t.
beit generiert eine unverwechselbare Spielweise.
Der Paradigmenwechsel vom dramatischen
der konventionelle und kommerziell erfolgreiche Film das Theater zu einem Natu-
Agon, in dem Protagonist und Antagonist einen
DRAMATURG 1/2004
(1964): «Mythen des
Alltags>). Frankfurt/M.,
diesem Grund funktioniert die Spielweise auch
nicht in seinen Fernsehfilmen (z. B. <<Ich schneide
Für Pollesch hat
vgl. Fußnote 4
Barthes, Roland
elektronische Verstärkung" zu lesen. Aus
schnellen>, Z.DF 1998):
Konnexionen von Medientechnologie und Live-
34
sind gerade die Schreie als internalisierte Techno-
then weist Pollesch als Vertreter der Medienthea-
Akteuren»" suchen. Die theatrale Forschungsar-
vgl. Fußnote 5
n vgl. Bertolt Brecht:
1<Kieines Organon für
das Theater>}, § 75.
Auch die Schreie sind geschnitten,
die Schauspieler sagen einen Satz, und dann
kommt ein Schrei, das ist geschnitten, es soll kein
organischer Vorgang sein, man nimmt nicht eine
Pose ein und schreit dann. [. ..] Diese Schnitte, die
im Text sind und denen der Körper folgt, sind dann
doch so etwas wie ein Programm." Für Pollesch
logie, als
Das Spiel mit Versatzstücken der Trivialmy-
NZZ vom 26.5.2003
31
33
produktion beim Zuschauer dient, unterläuft Pol-
Die
Schnitte finden in den Spielern statt und sind .
nirgendwo sonst aufzuspüren. Was als Schnitte
erscheint, haben die Spieler bereits in ihr Vokabular aufgenommen. Die Suche nach ihren «Rissem> ist deshalb unproduktiv. Das Personal hat die
Schnitte in sein Sensorium übernommen, Kameraeinstellungen, Plots.'" Die internalisierten
Dort stehen sie zwischen Armuts- und Fernseh-
lo
Konflikt austragen, zur Agonie, dem inneren Kon-
29
Peter von Becker am
26.1.2004 auf dem
theaterpolitischen
Fachkolloquium «Jenseits von Musealität
und Amüsement>> in
Potsdam.
4
) Boltz, Norbert,
a. a. 0., s. 255.,
.. Diederichsen, Diedrich: «Der Idiot mit der
Videokamera». Vortrag, gehalten beim
Symposion «Schnittstelle Theater» der Dramaturgischen Gesellschaft
am 9.1.2004.
~ 5 Polleschs Theaterarbeiten basieren auf
Filmen oder theaterfernen Texten wie:
Lorenz, Kuster und
Soudry (1999): <<Reproduktionskosten fälschen! Heterosexualität, Arbeit und
Zuhause»- Berlin:
b_books Verlag; spaceLab (2000): «Fragmente
städtischen Alltags.
Widersprüche>>, 20. Jg.,
Heft 78; Sitzungsprotokolle einer poststudentischen Giorgio-Agamben-Theorielektüre
oder einschlägig_en
Managerliteratur.
·
42
flikt, ist nach Lehmann ein Wesensmerkmal des
Berichterstattung über eine Wirklichkeit erwartet,
postdramatischen Theaters. Die Verzweiflung und
die längst gelebte Unwirklichkeit geworden ist.»".
Wut, die ohne Gegner und Gegenentwurf ins
Was mit dem Medium demnach in die Stätte der
Leere läuft, gerinnt ZU(ll .kollektiven .«Scheiße»c
Hochkultur eindringt, sind. neben. medialer Selbs-
Schrei. Diederich Diederichsen überschreibt Pol-
treferenz, Trugbild und Täuschung «schmutzige»
leschs kulturtheoretisches Diskurstheater mit
mediale Formate. An den Medien, die im Theater
11Denn sie wissen, was sie nicht leben wollenu und
eingesetzt werden, «kleben Verwendungsge-
findet in dem «existenziellen Ich [,das] seine Ver-
schichten [.. .]. vor allem Alltagsrealität Dies sind
zweiflung benennen kann und darf» den Bezug
die Maschinen, mit denen die Subjekte ihre Frei-
zum Theater, mit seiner «Gewohnheit, echte Men-
zeitarbeit verrichten. Sie sprechen ihren Dialekt.»"
schen auf Bühnen»" zu stellen. Der existenzielle
Die Legitimität von Medien auf dem Theater
Schrei Ich bin $0 künstlich! ist bei Po IIesch der
wurde hier nicht in Frage gestellt. Es ging darum,
Schrei der uechten Menschen», der Darsteller
exemplarisch anhand der Theaterarbeit von Rene
gegen das unechte Leben, gegen die Trivialmy-
Po IIesch darzustellen, wie reflektiert und raffiniert
then, aus denen die Kunstfiguren auf seine Bühne
dieser «Dialekt» theatral eingesetzt wird, um dem
kommen. Dieser Schrei hat nur Raum im Theater.
Theater in der Gegenwartsbeschreibung Souver-
Folglich fehlt gerade diese Qualität, die Simulta-
änität zu verschaffen. Rene Pollesch interessiert
nität und Ambivalenz von Live-Darstellung und
seine, unsere «AIItagsrealität», die für ihn «geleb-
Medien-Versatzstück, Polleschs TV-Serie «24 Stun-
te Unwirklichkeit» ist. Ich muss erst mal die
den sind kein Tag». Verzweiflung über künstliche
Begriffe klären, wie Liebe und Leben, und ich
Existenz sieht auf dem Monitor eben nicht gut,
. bestehe darauf, dass ich anders lebe und liebe
sondern künstlich aus.
ABSPANN-: Theaterbekenntnis
als Harntet. [ ..]Meine Identität wird vor ollem im
Theater produziert. Die Frage nach der Subjektposition, der Verortung stellt Pollesch in all seinen Arbeiten. Wo leben wir? Wo.arbeiten wir? Wir
Der gute alte Theatergaul ist im Medienzeit-
sind mittendrin, immanent und hyperreal: Im
alter angekommen, und wir betrachten sein altes
uWWW-SJum», in der uTelefavela», denn uHeidi
Wesen in neuer Gestalt. Nun ist er heimisch
Hoh arbeitet hier nicht mehn>. Heidi Hoh ist im
geworden im Theateralltag, ein medialer Hybrid,
Theater. Für Po IIesch nicht Ort der Repräsentati-
dessen Existenz nur manchen Theaterfundamen-
on von Weit, sondern Teil der Wirklichkeit.
talisten dauert. ln Leger-Tradition prophezeit die-
Bei der Grenzüberschreitung, der Reibung
ser die uSelbstaufgabe des Theaters», welches sich
am Fremden in medialen Niederun'gen geschieht·
mittels filmischer Mittel «unter sein mediales
etwas, was man·pathetisch als die «Wiedergeburt
Niveau» begebe". Den Hintergrund dieser Dege-
des Theaters aus dem Medien(un)geist» bezeich-
nerationsängste vermutet Diederichsen in der
nen könnte. Was das Theater heute braucht, ist
Assoziation des Videomediums mit der trashigen
außerhalb des Theaters zu finden. Po IIesch findet
Alltagsästhetik der ulow culture», in der es
Motive in Filmen oder theoretischen Texten'', die
ursprünglich Verwendung findet. Es zeigt sich,
in seinen Theaterarbeiten zu Metaphern einer per-
dass .der Einzug des Videos auf die Bühne nicht
sönlichen Lebens- und Arbeitserfahrung stilisiert
unschuldig sein kann. Anders als noch in Pisca-
werden. ln den Inszenierungen findet eine weite-
tors Dokumentartheater dringt heute nicht Wirk-
re mediale Transformation statt: Film-Vorlage,
lichkeit per Einspielung in den Kunstraum ein. Die
Soap-Format und artifizielle Darstellungsform
Erfahrung der Postmoderne ist die einer media-
dienen sowohl der Theatralisierung des Diskurses .
len Entmachtung der Wahrnehmung: Die udigi-
als auch der Verfremdung und ironischen Bre-
tale Revolution», so Norbert Boltz, uhat die Weit
chung. Das auf Seifenopernformat zugerichtete
der Bilder total kontrollierbar und manipulierbar
Leben bekommt in Polleschs Theater-Soaps einen
gemacht. Die neuen Medien lassen nur noch eine
neuen Spielraum, in medialer Maskierung zur
Geschichte erzählen: die ihrer selbst. Deshalb
Kenntlichkeil entstellt. l!ll
überfordert man sie, wenn man authentische
30
DRAMATURG 1/2004
Drei Autoren - sechs Fragen
Resumee der drei Workshops mit Autoren
1. Das Symposium fragt nach der «Schnitt-
dien statt? Oder spielen sie - trotz ihres weit rei-
stelle Theater>>. Beeinflussen die so genannten
. neuen Medien und ihre dramaturgischen Techni-
chenden Einflusses auf die Gesellschaft - überhaupt keine Rolle für deinen Schreibprozess?
ken dein Schreiben?
R. K.: Ich benutze elektronische Medien zum
Rebekka Kricheldorf: Bewusst nicht, unbe-
Arbeiten, und sie kommen auch schon ·mal in
wusst sicher schon. Die neuen Medien sind in meinen Alltag integriert und mit meinem Leben ver-
meinen Stücken vor- z. B. wenn es um Personen
geht, deren Verhalten stark von neuen Kommu-
knüpft, so dass sie zwangsläufig ihre Spuren hinterlassen. Ich würde mich aber nicht als eine
nikationstechniken oder medialen Möglichkeiten
geleitet wird. Trotzdem mischen sich die neuen
Medien in ihrer Bedeutung für mich eher gleich-
explizit von neuen Medien geprägte oder diese
thematisierende Autorin bezeichnen.
Wahrend des Sympo~
siums fanden drei
parallele Workshops zu
Stücken der Autoren
Rebekka Kricheldorf,
Margareth Obexer und
Andri·Beyeler statt.
Diese Workshops
wurden abgeschlossen
in einer Podiumsdiskussion am Sonntagmittag, die auf diesen
Seiten rekonstruiert
wird. Weitere Teilnehmer:
Step~anie
Lubbe
wertig unter andere, «traditionelle" Einflüsse.
M. 0.: Ich schreibe - wie wohl die meisten -
spiel Staatstheater
Margareth Obexer: Nicht uDie Liebenden .. ,
bei dem noch der Anrufbeantworter ein zentra-
direkt in den Computer hinein, damit beschränkt
sich zunächst der Einfluss elektronischer Medien
Stuttgart), Martina
Grohmann (Dramaturgin, Landestheater
les Kommunikationsmedium darstellt und
hauptsächlich intertextuelle bzw. mediale Bezüge wie lngeborg Bachmanns uDer gute Gott von
auf den Schreibprozess.
Da ein künstlerisches Arbeiten mit diesen
Medien sich hauptsächlich im Produktionsprozess
zollern Tübingen Reutlingen), Petra Thöring
(freie Dramaturgin,
Manhattan" oder der Film «Harold and Maude"
dem Stück eingeschrieben sind.
Die neuen Medien erschließen vor allem
auf der Bühne abspielt, müsste es eine konkrete
Zusammenarbeit mit dem Theater oder Regisseur
geben, um diese Auseinandersetzung auch für das
Schreiben nutzbar machen zu können.
auch neue Möglichkeiten des Erzählens und
sprechen damit einen zentralen Punkt des
Schreibens an. Ich kann mir sehr gut vorstellen,
Vielleicht sind es die neuen Medien, die die
meist atomisierten Theaterfunktionen wieder zu-
dass mit den neuen Medien auch neue Bühnentexte entstehen.
sammenbringen- und auch darüber neue ästhetische Möglichkeiten erschließen.
Andri Beyeler: Bisher weder direkt noch
bewusst. Ich habe mir zumindest noch bei keinem
A. B.: Auch hier gilt eigentlich, dass ich mich
schreibenderweise bisher weder direkt noch bewusst mit elektronischen Medien auseinanderge-
Stück überlegt, eine- was weiß ich- Chat-RoomDramaturgie zu versuchen. Es sind- im Moment-
setzt habe.
mehr unmittelbar «erzählerische" Techniken, die
mich interessieren, und weniger der ganze medi-
Allerdings glaube ich, auch als Schreibender
Teil der Gesellschaft iu sein, und wenn die Neuen
al vermittelte Kram.
Medien einen weit reichenden Einfluss auf diese
haben, dann werden sie es wohl auch auf mich
2. Findet beim Schreiben überhaupt eine
Auseinandersetzung mit den elektronischen Me-
DRAMATURG 1/2004
(Dramaturgin, Schau-
Württemberg-Hohen-
Berlin), Florian Vogel
(Dramaturg, Schauspiel
Staatstheater Stutt~
gart) und lnge Zeppenfeld (Dramaturgin,
Theater Osnabrück);
Gesprächsleitung:
Axel Preusz (Chefdramaturg, Landestheater
Württemberg~Hohen~
zollern Tübingen
Reutlingen).
haben und so vielleicht auch für meinen Schreibprozess eine Rolle spielen.
31
Ich meine, ich gucke ja schon auch, was da
4. Wie kommst du generell zu einem Stoff?
draußen passiert. Ich versuche, mich schreiben-
Suchst du ihn? Oder lässt du dich gewissermaßen
derweise zu dem, was da draußen passiert, zu ver-
«von ihm finden»?
halten. Und wenn da draußen passiert, was passiert, weil die da draußen alle von den Neuen .
Medien weitreichend beeinflusst sind, dann wird
R. K.: Meist habe ich eine Stoffidee schon
lange vor Schreibbeginn gefunden - häufig eine
sich das wohl auch in dem, was ich schreibe, nie-
Mixtur aus literarischem Mythos und gerade im
derschlagen.
eigenen Leben Relevantem, manchmal aber auch
Oder, um es halbwegs pathetisch auszudrücken: Auch ich bin nur ein Kind meiner Zeit.
nur ein Bild oder einen Satz. Diese Idee trage ich
eine Weile mi~ mir herum; und bevor ich mit dem
Schreiben beginne, hat sie schon eine Vielzahl von
3. Wie kommt dein Stück in Form? Gibt es
Transformationen durchgemacht. Deshalb fällt es
vor oderwährend des Schreibens eine formale
mir immer schwer, Fragen nach dem eigentlichen
Zielsetzung, die die Struktur und die Dramatur-
Ursprungsgedanken eines Textes zu beantworten.
gie des Stückes bestimmen?'Oder bedingen die
Größe und die individuelle Qualität des Stoffes die
Form?
M. 0.: Es ist ja alles irgendwie Stoff. Dann
sammelt sich zu einem bestimmten Thema oder
einer Geschichte immer mehr Material - wie der
R. K.: Ich habe immer eine formale Vorstellung von dem gerade angefangenen Stück, die ich
Staub, der irgendwann elektrisch wird und immer
mehr Masse anzieht, bis er glüht.
aber im weiteren Arbeitsprozess nicht didaktisch
durchzusetzen versuche. Meist sucht sich der
A. B.: Ich hantiere nicht so offensiv mit dem
jeweilige Stoff während seiner eigenen Mutation
Begriff Stoff. Ich überlege mir, wenn ich einen Text
die ihm angemessene Form - was für mich als
beginne, weniger, was ein guter Stoff ist, sondern
Autor in auch. interessanter ist, da ich am Anfang
welche Fragen mich gerade umtreiben, welche
keine sichere Prognose stellen kann, wie das Stück
Situationen und Vorgänge, we!ches Verhalten und
letztendlich aussieht bzw. klingt.
welche Mechanismen mich interessieren. Und welches die Form sein könnte, damit umzugehen.
M. 0.: Es sind immer auch die Geschichten
Wo ich hingegen vom Stoff-Finden respek-
selbst, die die Form bestimmen. Doch auch un-
tive vom Stoff-Gefundenwerdeo sprechen könn-
abhängig davon ist die Auseinanders,tzung mit
te, sind Auftragsstücke. Also beispielsweise war
Schreibweisen und Erzählformen zentral.
es bei «Die Kuh Rosmarie» so, dass die Bilder-
Insofern beeinflusst umgekehrt die Beschäftigung mit Theatersprachen auch die Geschich-
buchvorlage von Anfang an da war. Da hat also
der Stoff mich gefunden.
ten.
5. Welche Kriterien legst du an einen Stoff
A. B.: Eine formale Idee, auch ein fo.rmales
Interesse war bis jetzt bei jedem Stück, das ich
an, um 'zu prüfen, ob ·er sich auch wirklich für die
Bühne eignet?
geschrieben habe, von Anfang an da. Die und das
verfolge ich dann beim Schreiben und passe aber.
auch an.
32
R. K.: Ich glaube, dass sich fast jeder Stoff
potenziell für die Bühne eignet. Es kommt darauf
DRAMATURG 112004
an, was für eine Form man ihm ~gibt. Mich inte-
M. 0.: Ich weiß nicht, was ein privates Thema
ressieren vorrangig Themen, die über das Private
hinaus auf etwas Allgemeines verweisen, einen
bestimmten Rahmen von Intimität sprengen.
ist.- aber ich glaube nicht, dass es die Grenze zum
Politischen darstellt.
Ob etwas «privat» ist, ist eine Frage der Form,
die es zusammen mit der Geschichte entweder
M. 0.: Er muss sich für mich eignen, für den
Fundus an fiktiven Möglichkeiten, an sprachlichen
und erzählerischen Momenten, die er selbst mit
geschafft hat, eine solche zu sein - oder eben
entzündet- und die ich ihm anbieten kann.
A. B.: Grundsätzlich verspüre ich wenig
Bedürfnis, meine Stücke zu etikettieren und also
A. B.: Grundsätzlich glaube ich, dass man
auf der Bühne alles erzählen kann und also alles
zu sagen: Das ist ein Stück politisches Theater.
Auch glaube ich aus solchen Fragen jeweils
rauszuhören, dass der/die Fragende eigentlich gar
nicht (<politisch)) meint, sondern (ddeologisch».
geeignet ist. um auf der Bühne erzählt zu werden. Oder ich glaube zumindest, dass man versuchen kann, alles auf der Bühne zu erzählen.
Dass man zumindest versuchen kann, alles zu
versuchen. Kommt halt, glaube ich, auf die Form
an. Also ob man die jeweils entsprechende fin-
nicht.
Ich verstehe nämlich unter «politisch» erst
einmal nöffentlichkeitsrelevant». Und natürlich
halte ich meine Stücke für öffentlichkeitsrelevant
(und also politisch). ich schreibe die ja, damit sie
gespielt werden, dass sie in der Öffentlichkeit
·stattfinden.
det.
6. Frage aus dem Publikum: Inwiefern lässt
sich bei den hier vorgestellten Stücken von politischem Theater sprechen? Werden hier nicht vornehmlich private, also unpolitische Themen verhandelt?
R. K.: Das knüpft direkt an die letzte Frage
an: ln Bezug auf meine Texte halte ich das Eti-
Und so gesehen ist ja dann auch eigentlich
jedes Stück, das gespielt wird oder s.onstwie an die
Öffentlichkeit gelangt, politisch. Und somit auch
die so genannten nunpolitischen Stücke». Die sind
so gesehen dann eben einfach affirmativ. Dass das
zuweilen vergessen wird, hängtwohl auch damit
zusammen, dass, wenn nach «politischen Stücken»
kett «privat» für falsch:- Die in meinen Stücken
auftretenden Figuren sind schon deshalb öffent-
gefragt wird, in der Regel ja nirgendwie gesellschaftskritische Stücke» gemeint wird.
Des Weiteren frage ich mich, ob es über-
lich, weil sie keine rein psychologisch funktionierenden Privatpersonen, sondern immer auch
Archetypen sind. Ob der Versuch, Themen mit
haupt so etwas gibt wie private, also unpolitische Themen. Ich glaube zum Beispiel einfach
nicht, dass ein Thema wie sexueller Missbrauch
gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu behandeln,
an sich schon als politisch zu bezeichnen ist, ist
in so genannten Liebesbeziehungen, was ich in
nsouviens" verhandle, ein privates Problem sein
eine Frage nach der Definition von «politischem
Theater". Da mein Verständnis von politischem
soll.
Theater die Absicht beinhaltet, eine Botschaft loszuwerden und gesellschaftsverändernd zu wirken,
etwas gibt wie private, also unpolitische Themen,
hängt auch damit zusammen, dass ich es schlecht
würde ich meine Stücke nicht als politisch be-
fertigbringe, ein Thema. losgelöst von der Form,
zeichnen.
in der es verhandelt wird, zu denken. 111
DRAMATURG 1/2004
Dass ich mich frage, ob es überhaupt so
33
Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker
Laudatio von John von Düffel auf «fieberweltenn
Von Daniel Mursa
s war einmal ein arm Kind und
Tanja und Strik. Ihre totgesagte Schwe-
Und später in der Nacht härte ich einen
hatt kein Vater und keine Mutter,
ster. Und Friedrich, der Adaptivbruder
Hund
war alles tot, und war niemand mehr auf
der beiden, ist derjenige, der nach Ruths
Der unten am Fluß Knochen zerbeißt
der Weit. Alles tot, und es is hingegan-
Verschwinden ihren Platz eingenommen
Dachte ich
gen und hat gesucht Tag und Nacht. Und
hat.
Wirklich
({
E
weil auf d.er Erde niemand mehr war,
Nichts ist, was es ist, in diesem
wollt's in den Himmel gehen, und der
Stück von Daniel Mursa. Der Besuch von
Und stand auf
Mond guckt es so freundlich an; und wie
Ruth wirft Schatten der Verunsicherung
Und sah aus dem Fenster
es endlich zum Mond kam, war's ein
voraus.
Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn
eigentlich verwoben sein sollten in das
gangen, und wie es zur Sonn kam, war's
Geflecht des
Und
die
Mittdreißiger, die
Lebens,
schweben
Eine ganze Weile
Aber ich s,ah nichts
in
ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu
schwindelnder Höhe über dem Abgrund
Und am M.orgen stellte ich dann fest
den Sternen kam, waren's kleine goldene
der Dinge wie Kinder in einem Fieber-
Daß das Freßgeräusch von den Wellen kam
Mücken, die waren angesteckt, wie der
traum. Tanja schlägt sich wiederholt die
Die gegen das Boot da unten schlugen
Neuntöter sie auf die Schlehen steckt.
Kni'e auf, als wäre sie ein kleines
Das im Wasser liegt
Und wie's wieder auf die Erde wollt, war
Mädchen auf dem Spielplatz. Die Geräu-
Das blaue
die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es
sche, die von der Weit unter ihnen her-
Aber das wußte ich erst am Morgen
war ganz allein.>)
An dieses Märch·en des Weltverlusts, das die Großmutter in Georg Büch-
aufdringen, verwandeln sich. Das Uner-
Und also sah ich weiter aus dem Fenster
löste ihrer Vergangenheit belegt sie mit
Und härte den Hund
bleiernem Bann:
ners «Woyzeck» erzählt, musste ich denken, als ich zum ersten Mal das Stück
Der am Ufer Knochen zerbeißt
Als ich über dem Gestrüpp am Ufer
TANJA
So etwas wie eine Rauchsäule sah
«Dreitagefieber>> von Daniel Mursa las. Es
Ich konnte nicht schlafen
Und diese Säule stieg und fiel
gibt zwischen den beiden Theater-
Gestern
Eine dünne graue Säule
stücken keine nennenswerten Parallelen.
Strik
Doch es war nirgends ein Feuer zu sehen
Doch in diesem unheimlichen Märchen
Ich bin noch müde
Und ich konnte mir das· nicht erklären
· wird eine Atmosphäre beschworen, die
Bis ich endlich sah
das erste ist, was den Leser von «Dreita-
Ich bin
gefieber" einfängt und mit hineinzieht
Mitten in der Nacht
in die Geschichte von vier Geschwistern
Jemand hat Steine in den Fluß gekippt
a~fgewacht
Daß die Säule g~r kein Rauch war
Sondern nur ein Schwarm Mücken
· Ein Schwarm Mücken
in einem dreitägigen Fieberzustand, in
Das heißt
Seltsam
dem Vergangenheif und Gegenwart ein-
Mir war
Nein
ander durchdringen.
Als schütte jemand Steine -in den Huß
Das ist doch seltsam
Die Ausgangssituation von Daniel
Und als das nicht aufhörte
Ein Schwarm Mücken
Mursas Stück scheint einfach: Strik,
Da bin ich ans Fenster gegangen
Nachts))
Tanja und Friedrich wohnen zusammen.
Und draußen war ein Sc.hwarm kleiner
in einem der oberen Stockwerke eines
schwarzer Fliegen
Hochhauses. Sie sind zwischen dreißig
Die sich von einem toten Tier erhoben
den, sind vom Zeitgeist einer Generation
und fünfunddreißig Jahre alt, gehören
Einem Vogel
xy weit entfernt. Ihr Blick ist geradezu
somit zu der Generation, die mitten im
Glaube ich
kindlich, märchenhaft im bösesten, Woy"
Leben stehtoder zumindest stehen soll-
Und da wußte ich
zeck'schen Sinne. Siespüren das Unheim-
Figuren, die so reden und empfin-
te. Und sie erwarten Besuch. Friedrich
Daß das· Geräusch keine Steine waren
liche im Vertrauten, die Kriechströme der
hat eine Frau namens Huth kennen
Sondern das Summen von den Fliegen
Bedrohlichkeil unter den Dingen. Mursas
gelernt, die vorbeikommen will. Und wie
im Flug
Protagonisten leben in ihrer eigenen,
in vielen Stücken handelt es sich dabei
Über dem Vogel
abgleitenden Weit, die auch bei Tag nicht
um eine Besucherin aus der Vergangen-
Strik
fester, nicht sicherer und beherrschbarer
heit: Ruth ist die leibliche Schwester von
.34
Und dann saß ich wieder senkrecht im Bett
wird. Das Fieber ihrer Nächte macht vor
DRAMATURG 1/2004
Der 25-jährige Daniel Mursa erhält. für sein Stück «Dreitagefieber»
·(erschienen im Rowohlt Theater Verlag) den Kleist-Fördeq)reis für
junge Dramatiker, der in diesem Jahr zum neunten Mal vergeben
wird. Neben einem Preisgeld von 7670 Euro beinhaltet der Preis auch
eine Uraufführungsgarantie für das Stück. Überreicht wird die Urkunde durc~ Frankfurts Oberbürgermeister Martin Patzelt im Namen der
Stadt Frankfurt (Oder), die den Preis zusammen mit der Dramaturgischen Gesellschaft jährlich auslobt. Die Jury, bestehend aus Vertretern
der Dramaturgischen Gesellschaft (Petra Thöring und Florian Vogel),
des Kleist Forum Frankfurt, der uraufführenden Bühne und dem
Autor und Dramaturgen John von .Düffel, der auch die Laudatio
halten wird, wählte das Stück aus 84 E'insendungen aUs. Die Uraufführungsinszenierung von «Dreitagefieber>) wird als Koproduktion
des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen
und des Kleist Forum Frankfurt im Frühjahr 2005 in Tübingen Premiere haberi und kurz darauf auch in Frankfurt (Oder) zu sehen sein.
den wachen Sturiden nicht halt Angst
und Verunsicherung bekommen" lediglich
Zwischen Mitgefühl und dem Blick
des Diagnostikers schwankt denn auch
ein anderes Gesicht. Strik und Tanja,
Friedrich und die verlorene Schwester
Ruth verlassen die Wohnung ihres priva-
die Haltung des Lesers zu diesem Text
und seinen Figuren. Manchmal erschei-
ten Vertigos kaur:n noch, das Außen
schwindet. Sie verbringen ihre Fieberzeit
in einem seltsamen Schwebezustand aus
Verlorenheil und Privilegiertsein, beinahe wie die Aristokraten in Büchners
uDantonsTod», die es nicht wagen, einen
nen Strik, Tanja, Friedrich und Ruth so
verloren, dass man nicht umhin kann,
mit ihnen zu empfinden. Manchmal
sieht man in ihrem Verhalten Anzeichen
eines Krankheitsbilds. Mursas Stück ist
eine kleine Phänomenologie des Fiebers:
Die Symptome sind gegeben, finden Sie
Fuß in eine gewöhnliche Pfütze zu setzen, aus Angst, es könnte ein Loch sein,
durch das sie aus der Weit fallen.
die Ursache heraus! Dochtrotz ihrer Fieberkurven werden seine Figuren keine
pathologischen Fälle, bleiben sie Men-
Doch nicht nur für die Atmosphäre
von «Dreitagefieber>• ist Tanjas Monolog
schen auf unsicherem Grund, die suchen
und insistieren, wo sie gefunden zu
oder besser Gesprächsversuch bezeichnend. Darin enthalten ist auch das
Erzählmuster des gesamten Stücks: Sie
haben glauben.
Diese Ambivalenz ist entscheidend.
Mursas Stück lebt von der Wandelbarkeit sämtlicher Wahrheiten und Haltun-
hört das Geräusch von Steinen, die in
einen Fluss geschüttet werden, und muss
dann feststellen, dass es Fliegen vor
ihrem Fenster sind. Sie hört einen Hund,
der Knochen zerbeißt, und sieht dann,
dass es sich um Wellen handelt, die
gegen ein Boot schlagen. Und die
Rauchsäule in der Luft erweist sich als
gen, von ihrem fiebrigen Doppelsinn.
Doch das macht es dem Theater auch
kolossal schwer. Anders als ein reiner
Text hat das Zeichensystem Theater mit
seinen zusätzlichen Codes der Körpersprache, des Untertons und Spiels eine
Tendenz zur Eindeutigkeit, die das
ein Mückenschwarm. Wahrnehmen und
Wissen gehen in diesem Stück aus~
einander. Ahnung und Erkenntnis,
Geheimnis, das der Text hütet, zerstören
kann. Die Lektüre lässt viele der einfachsten Fragen offen und bezieht ihre
Gefühl und Gewissheit separieren sich.
Nicht nur die Figuren, sondern auch
der Leser sucht in Daniel Mursas Fieberweit bisweilen vergebens nach Halt und
Spannung mitunter aus eben dieser
Offenheit und der Unschärfe möglicher
Antworten: uWer sind diese Figuren,
warum reden und handeln sie so, was
verlässlichem Grund. Was sich so still
und unspektakulär entrollt. ist gleichzeitig ein regelrechter Fieberkrimi. Der
hat sie derart aus dem Leben geworfen?»
Eine Inszenierung, die diese Fragen .zu
uMord» allerdings ist schon gewesen,
und wir wohnen den Wirren seiner Enträtselung bei. Die Katastrophe, das
Drama der äußeren Handlungen liegt
zurück in der Vergangenheit. Was bleibt.
ist das Drama der Erkenntnis über die
früh und zu deutlich beantwortet,
macht aus dem Erkenntnisdrama eine
Tautologie. Eine Inszenierung, die keine
Antwort darauf weiß, macht aus
Unschärfe Verschwommenheit und aus
den Rätseln des Textes eine Mogelpackung inhaltsleerer Geheimnisse ..
damals entstandene Schuld. Und Daniel
Mursa erzählt die Geschichte ihrer Ent-
Daniel Mursa hat ein Stück
geschrieben zwischen Fallstudie und
hüllung in einer prekären Balance von
Irritation und Information.
empathischer Geschwistergeschichte. Er
hat mit seinen Figuren eine Weit eröff-
DRAMATURG 1/2004
netzwischen Fieberwahn und Wirklichkeit. Und er hat ihnen eine Sprache
gegeben zwischen geschwisterlicher
Vertrautheit und dem Pathos des
Schweigens. Wo das Theater gern «entweder oden> sagen würde, sagt Mursa
usowohl als auch», und diese Spannung ·
des Inkompatiblen nnuss das Theater
aushalten. Es steht in der Tradition des
Kleist-Förderpreises der Stadt Frankfurt
(Oder). Texte auszuzeichnen· und junge
Dramatiker zu unterstützen, die sich
nicht so ohne weiteres eintheatern las- ·
sen. Mit ihrer Entscheidung für Daniel
Mursa setzt die Jury des Kleist-Förderpreises für junge Dramatiker diese Tradition fort.
Und was weiß man über Mursa?
Wie bei den Figuren seiner Stücke·
zunächst einmal wenig. Er wurde l979
in Harnburg geboren, brach sein Germanistikstudium in Berlin ab, um an das
renommierte Literaturinstitut in Leipzig
zu gehen, Fachrichtung Prosa und
Drama. Seine Diplomprüfungen absolvierte er über Peter Weiß· und Botho
Strauß. 2002 machte er mit seinem
Stück uNach Bayeux» erstmals als Dramatiker auf sich aufmerksam, wurde
eingeladen zu den Werkstatt-Tagen des
Hamburger Schauspielhauses, wo sein
Erstling später uraufgeführt wurde, und
zu den Autorentheatertagen des Thalia
Theaters. «Dreitagefieber>> ist seiri zweic
tes Stück, und es verrät auch etwas von
dem kriminologischen Interesse des
Autors, der seit 2004 dem Studium der
Kriminologie am Institut für Sozialforschung der Universität Harnburg nachgeht. Wer Daniel Mursa wirklich ist,
bleibt damit wie bei seinen Figuren
ungesagt. Doch er ist vor allem eins: ein
viel versprechender Dramatiker. 1!11
35
Inhalt
Anstatt eines Editorials
Seite 1
Theater ist kein Medium - aber was
bewirkt es, wenn der Mann mit der
Videokamera auf der Bühne arbeitet?
von Diedrich Diederichsen
Seite 3
Was bewirkt die Kamera auf der
Bühne bei den Schauspielern?.
vdn Carl Hegemann
Seite 8
Was alles video-technisch möglich ist
von jan Lindcrs
Seite 10
IMPRESSUM
Warum und wie man Kinofilme aufs
Theater bringt
Seite 13
Dramaturgische
Gesellschaft (DG)
Geschäftsstelle:
Tempelherrenstraße 4
10961 Berlin
Telefon:
030-693 24 82
Telefax:
030-693 26 54
e-mail:
dramaturgische.ges@
snafu.de
www.dramaturgischegesellschaft.de
Das Drama des Sehens
Live-Video auf der Bühne oder die
Politik des Blicks
von Themas Oberender
Seite 15
Am Rande des Symposiums in der Volksbüh-
Medien dürfen auch Spaß machen und das Theater bleibt der Souverän
der Dramaturgischen Gesellschaft statt. Die lau-
von Jens Roselt
fende Jahrestagung wurde dort diskutiert und
Seite 21
Vorstand:
Manfred Beilharz
(Vorsitzender),
Ann-Marie Arioli,
Dagmar Borrmann,
Birgit Lengers,
Anne-Sylvie König,
positiv bewertet. Außerdem wurde folgende Sat-
Ein PS im Medienzeitalter - Mediale
Mittel. Masken und Metaphern im
Theater von Rene Pollesch
Liquidation ... ausgeführt werden.")
von Birgit Lengcrs
Vereins oder bei Wegfall steuerbegünstigter
Seite 24
§9, letzter Absatz («Das nach Beendigung der
wird geändert und lautet: «Bei Auflösung des
Zwecke fällt sein Vermögen an eine juristische
Person des öffentlichen Rechts oder eine andere
Jan-linders.-
Drei. Autoren - sechs Fragen
Peter Spuhler,
Resumee der drei Workshops mit Autoren
Florian Vogel
ne fand die alljährliche Mitgliederversammlung
zungsänderung beschlossen:
Geschäftsführung:
Henning Rischbieter
Mitgliederversammlung der
Dramaturgischen Gesellschaft
Seite 31
steuerbegünstigte Körperschaft zwecks Verwendung für Förderung von Kunst und Kultur in
Deutschland.»
Redaktion:
Henning Rischbieter,
Heldrun Schlegel
ISSN Nr. 1432-3966
36
KleisHörderpreis 2004
Laudatio von John von Düffel
Seite 34
Das Symposium <!Schnittstelle Theater11
wurde gefordert durch
den Hauptstadtkulturfonds.
DRAMATURG 1/2004
l i e Isetzu n g en
Die Dramaturgische ßesellschaft
(dg) ist ein Zusammenschluss der
im Bereich der Darstellenden Künste und ihrer Medien Theater, Film,
Fernsehen, Hörfunk u. a. Tätigen
und Interessierten.
Ihre Aufgabe ist die Diskussion und
Formulierung künstlerischer und
gesellschaftspolitischer Vorstellungen und die Wahrung und
Durchsetzung beruflicher Interessen.
Sie versucht, möglichst viele der in
diesem Bereich arbeitenden und
_interessierten Personen und Gruppen zu sammeln, ihren Austau~ch
untereinander zu fördern und ihre
Arbeit zu dokumentieren.
Die Dramaturgische Gesellschaft
versteht Dramaturgie im weitesten
Sinne des Wortes als Vermittlung
zwischen Darstellender Kunst und
ihren Produktionsformen. Sie befasst
sich mit dramatischer Literatur, mit
Theater- und Medientheorie, mit
Publikum und Öffentlichkeit.
Die Darstellenden Kün?te und ihre
Medien unterliegen einem Veränderungsprozess. Ne~e technologisch
bedingte Informations- und Kornmunikationssysteme etablieren Sich
und treten in Konkurrenz zu den
bisherigen. Die ökonomischen und
kulturpoli_tischen Bedingungen für
die Darstellenden Künste verschär-
fen sich. Zugleich fordern neue,
teilweise alternative Formen der
Theater-, Film-, Videoproduktion
die Künste und ihre bestehenden
Institutionen heraus. ln der ästhetischen und kulturpolitischen Diskussion stehen jedoch.dramaturgische,
ästhetisch-konzeptionelle und
künstlerisch-gesellschaftspolitische
Fragen bislang noch allzu öft im
Hintergrund und werden.von technischen und parteipolitischen Interessen überdeckt. Die Dramatur-.
gisehe Gesellschaft will sie stärker
ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Arbeitsweisen
Die Zielsetzung der Dramaturgi-
schen Gesellschaft soll erreicht
werden u. a. durch:
- die Förderung des Erfahrungsaustausches und des Zusammenwirkens dei- Mitglieder und anderer
ln teressierter:
- durch die Veranstaltung von
Jahrestagungen, die abwechselnd
in verschiedenen Theaterstädten
Deutschlands, Österreichs und der
Schweiz stattfinden,
-durch die Veranstaltung von
Dramaturgischen Tagen, die jew.eils
unter einem bestimmten Thema
stehen,
-.durch Diskussions- und Vortrags-
veranstaltungen zu grundsätzlichen
und aktuellen Problemen,
.-durch die· Herausgabe der Zeitschrift .. Dramaturg" und durch die
Herausgabe der Schriftenreihe der
Dramaturgischen Gesellschaft;
-sowie durch:
die Bildung von Arbeitsgruppe_n,
in denen Mitglieder und andere
Interessiertedramaturgische Teilbereiche bearbeiten; '
- die Veröffentlichung von Stellungnahmen zu kulturpolitischen und
dramaturgischen Entwicklungen;
- die Vermittlung von Auskünften
zu dramaturgischen Fragen;
- die Zusammenarbeit mit anderen
Institutionen und W:rbänden.
Arbeitsgruppen
Zu einzelnen Fragen und Pr_oblemfeldern können von den Mitgliedern Arbeitsgruppen gebildet
werden, die sowohl ad hocals auch
langfristig Themen erarbeiten und
öffentlich wirksam ~achen.
Foru~ Junge Dramaturgie
Seit Januar 1997 gibt es innerhalb
der Dramaturgischen Gesellschaft
das Forum junge Dramaturgie. Die
Idee war, einen Gesprächsraum zu
schaffen, der jungen Dramaturgen·
und anderen Interessierten die
Gelegenheit bietet, jenseits von
pragmatischen Entscheidungen des
Theaterbetriebs ileue Stücke zu
lesen und diese gemeinsam mit den
Autoren zu diskutieren. Inzwischen
kommen Verlags- und Schauspieldramaturgen, Regisseure und Studierende aus ganz Deutschland,
Österreich und der Schweiz zu den
Gesprächen, die etwa alle acht
Wochen stattfinden {Termine unter
.www.forum-dramaturgie.de).
Antrag auf Mitgliedschaft
Ich möchte der Dramaturgischen Gesellschaft beitreten.
Mitgliedsbeitrag
Einzugsermächtigung
Der Jahresbeitrag beträgt seit
Ich ermächtige die Dramaturgische Gesellschaft
widerruflich, den von mir zu entrichtenden
Jahresbeitrag in Höhe von
bei Fälligkeit
zu Lasten meines Kontos-einzuziehen.
Weist mein Konto die erforderliche Deckung nicht
auf, besteht seitens des kontoführenden Instituts
keine Verpflichtung zur Einlösung.
dem 16.11.1993:
Alte Bundesländer
Name, Vorname
persönliche Mitglieder € 62,(ermäßigt € 22,-)
Straße/Nr.
korporative Mitglieder € 210,-
Neue Bundesländer ...
Pll/Ort
Geldinstitut/Ort
persönliche Mitglieder € 37,(ermiirligt€i8,5o)
Telefon/Telefax
korporative Mitglieder €' 128,-
E-mail
·Bankleitzahl
Kontonummer
Schweiz
persönliche Mitglieder SFr. 143...(ermäßigt SFr 50,-)
Geburtsdatum/Beruf
Ort/Datum
korporative MitgliederSFr 494,Bitte in Druckschrift ausfüllen.
Unterschrift
Dramaturgische Gesellschaft
Vorstand (seit 2002):
Dr. Manfred Beilharz, Wiesbaden {Vorsitzender)
Ann-Marie Arioli, Wiesbaden
Dagmar Borrmann, Leipzig
Birgit Lengers, Berlin
Anne-Sylvie König, Kassel
Jan lindfrs, Berlin
Peter Spuhler, Tübingen
Florian Vogel, Stuttgart
Geschäftsführung: Henning Rischbiete~
Geschäftsstelle:
Dramaturgische Gesellschaft
.Tempel herrenstraBe 4, D- 10961 ·serlin
Telefon 030/693 24 82
Telefax 030/693 26 54
e-mail: dramaturgische.ges@snafu.de
www.d ra matu rg ische-g esellsca hftd e
Postbank Berlin Bll 100 100 10
Kto Nr. 7769 100
'
M itg I ieder
Die Dramaturgische Gesellschaft ging 1956 aus dem 1953 entstandenen Dramaturgischen
Arbeitskreis hervor. Von der Gründung an versteht sie sich als eine Gesellschaft, die keine
parteipolitischen und gewerblichen Ziele verfolgt.
Waren in ihr zunächst nur die auf dem Gebiet der Dramaturgie tätigen Personen vereinigt,
so versteht sich die Gesellschaft seit ihrer Satzungsänderung im Jahr 1972 als eine Vereinigung von Praktikern und Theoretikern und versucht verstärkt, nicht nur diejenigen
anzusprechen, die aus beruflicher Tätigkeit, sondern auch d_ie, die aus persönlichen
Gründen an Fragen der Dramaturgie interessiert sind.
Die Gesellschaft hat gegenwärtig ca. 350 persönliche und 11 korporative Mitglieder.
Mitglied kann jede natürliche oder juristische Person werden,
die im Sinne der Gesellschaft tätig ist. Die Mitgliedschaft .sollte schriftlich beantragt
werden.
................................................................................................................................................
Lieferbare Publikationen
Schriften
ä € 5,Tournee-Theater, 1975
Friedrich Schultze, 1975
SteuerrefOrm und Theaterfinanzierung, 1976
25 Jahre DramC!turgische
Gesellschaft, 1978
Theater·von heute·-···RäÜme
von gestern, 1979
Sprache und Sprechen, 1979
Ist das Theater noch zu
retten?- Politische Wende=
Theaterwende?, 1984
Unlust an Erstarrung- Lust auf
Veränderung ·(SchauspielMusiktheater), 1985
Brauchen Fernsehspiel und
Hörspic:l eine neue Dramaturgie?, 1986
Deutsche Dramaturgie als Beispiel?, 1986
Heiner Müller I Unterhaltung
im Theater, 1987
Tanztheater I Mordsweiber I
~Kolt<:s, 1990
Sturz vom Sockel?
Künstlerische Arbeit._ in den
Medien der DDR, 1991
Theaterarbeit Ost/West, 1994
Dramaturgie heute, 1996/97
Herausforderungen zu
Grenzüberschreitungen, 1998
Jahrestagung Dresden 1999
Jahrestagung Berlin 2000
Bestellung
Einzelveröffentlichungen
ä€
4,-
Theatt:r in Berlin nach .1.945,
1984
Frauen im Theater (FiT):
Dokumentation 1984
Frauen im The~ter (FiT):
Dokumentation 1985
Frauen im Theater (FiD:
Dokumentation 1986/87
Mitgliederzeitschrift
DRAMATURG
lieferbar ab 1985
Einzelheft ä € 2,Doppelheft ä € 4,-
Bitte schicken Sie mir die
angekreuztein Veröffent!ichung/en
zuzüglich Versandkosten
an folgende Adresse:
Name, Vorname
!itraße/Nr.
Pli/Ort
Ort/Datum
Unterschrift
Bitte in Druckschrift ausfüllen.