Liebe Verwandte, Freundinnen, Freunde, Bekannte

Transcription

Liebe Verwandte, Freundinnen, Freunde, Bekannte
„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne“
Erster Rundbrief von Judith Freist, September 2013
Liebe Verwandte, Freundinnen, Freunde, Bekannte, UnterstützerInnen und Interessierte,
im Folgenden werdet ihr meinen ersten Rundbrief lesen können. Auf diesem Wege will ich mich
auch nochmal ganz herzlich bei euch für eure Unterstützung bedanken.
Ich hoffe, ihr hattet erholsame Sommerferien und seid nun frisch und munter wieder in den Alltag
eingetaucht.
Am neunten September, als bei uns in Baden-Württemberg wieder die Schule angefangen hat,
konnte ich nicht fassen, dass ich das Schiller-Gymnasium nicht mehr als Schülerin betreten muss
(oder auch darf). Da wurde mir erst richtig bewusst, dass ich in Belfast wohne. Bis dahin kam mir
mein Aufenthalt wie ein langer Urlaub vor. So langsam realisiere ich, dass das hier mein Zuhause
ist. Ein durchaus schöner Gedanke...
Das ist der idyllische Ausblick aus meinem ca. 10 m² großen Zimmer...der Stacheldrahtzaun um die Gärten ist in Belfast
übrigens normal.
Seit nahezu zwei Monaten bin ich nun schon hier. Vor meiner Ankunft hatten wir ein sehr
interessantes, lehrreiches und witziges Seminar, auf dem wir bestens auf das bevorstehende Jahr
vorbereitet wurden. Dort habe ich dann auch meine beiden Mitbewohner kennengelernt: Malte
und Johanna.
Mit den beiden hätte ich es wohl nicht besser treffen können. Wir sind eigentlich wie so eine kleine
Familie. Wir unternehmen so viele Sachen gemeinsam und können uns immer aufeinander
verlassen.
Außer uns wohnen noch Michael, ein Nordire und Abel, ein Spanier, in dem Reihenhaus. Allerdings
bekommen wir von den beiden nur sehr wenig mit.
Unser Haus liegt in einer sehr schönen Gegend, direkt neben einem großen Park, der Gym und
nicht weit weg von der Innenstadt.
Überhaupt ist Belfast eine sehr interessante Stadt. Die Innenstadt beinhaltet einige sehr imposante
Gebäude wie die „City Hall“, das 1906 gebaute Rathaus, oder das „Grand opera house“ und ist
meines Empfindens nach sehr sauber und schön. Kommt man jedoch in die Randgebiete, sieht das
Stadtbild schon anders aus.
Vor allem in Nord- und Westbelfast, wo sich auch mein Projekt befindet.
Diese Gegend, auch „interface areas“ genannt, ist von den sogenannten „Peace Walls“ durchzogen.
Diese wurden 1969 von dem damals regierenden Premierministers James Chichester-Clark in
Auftrag gegeben. Zunächst wurden nur Stacheldrahtzäune errichtet, mit der Zeit wurden die Zäune
aber durch Mauern und Stahlwände gefestigt. Das Ziel dieser errichteten Barrikaden war
ursprünglich die mehrfachen Auseinandersetzungen der Unionisten und Nationalisten zu
vergessen und Sicherheit
beider Parteien zu schaffen.
Sie
wurden da gebaut, wo sich
befeindete
Gruppenzuvor
mit
Steinen,
Flaschen
etc.
beworfen hat. Die aufgebauten
Barrikaden in den Köpfen
sollten also durch reale Barrikaden
beseitigt werden. Ob das
Sinn macht(e), ist eine andere
Sache.
Diese „Friedenslinien“ schaffen jedenfalls eine eher kalte und einschüchternde Atmosphäre.
Inzwischen gibt es um die 42 „Peace Walls“ in Belfast. Die Stadt plant Strategien zur Beseitigung
einiger Mauern, allerdings steht der Großteil der Bevölkerung diesem Vorhaben eher skeptisch
gegenüber.
Auch in meinem Projekt wurde das Thema bei den Jugendlichen schon des öfteren angesprochen.
Aus verschiedenen Gesprächen ergab sich für mich der Eindruck, dass sich die Mehrheit durch die
Mauern sicherer fühlen.
Der Forthspring centre
Eine der vielen „Peace Walls“
Komme ich jetzt endlich mal auf mein Projekt zu sprechen, sollte ich die Gelegenheit nutzen euch
genaueres über meine Arbeit zu erzählen...
„Forthspring“ ist eine zum Jugendtreff umgebaute frühere Kirche, die mit protestantischen und
katholischen Menschen
arbeitet. Interessant hierbei ist, dass
der vordere Teil des
Gebäudes auf
katholischem und
der hintere Teil auf
protestantischem Gebiet
liegt.
Forthsprings Hauptziel ist
es, Jahrzehnte lange Vorurteile
abzubauen und den
Menschen einen Weg zu zeigen,
wie sie mit der von Gewalt geprägten Vergangenheit umgehen können. Fast jeder, der in dieser
Gegend wohnt, hat irgendjemanden in seinem Umfeld aufgrund des Konfliktes verloren.
Forthspring geht seinem Ziel nach, indem der Center verschiedene Projekte anbietet.
Ich bin vor allem in die Kinder- und Jugendarbeit integriert. Nachmittags arbeite ich in einem Art
Hort. Wir holen die Kinder von der katholischen und protestantischen Schule ab und betreuen
diese dann bis um um ca. 17.30 Uhr.
Anfangs war diese Arbeit unglaublich schwer für mich. Nicht, weil ich zu viel zu tun hatte, sondern
weil die Erziehung hier so anders ist als ich es von Deutschland her gewohnt bin. Es ist normal,
dass die Kinder den lieben langen Tag Wii spielen dürfen, wenn sie wollen. Es werden Filme ab 12
Jahren geschaut. Ganz gleich, was sie machen wollen, alles müssen sie erfragen. „Darf ich auf die
Toilette“, „kann ich etwas malen“, „darf ich mein Bild in die Schultasche machen“ etc.
Zudem werden die Kinder nie in den Arm genommen. Die Erzieherinnen gehen ganz distanziert mit
ihren Schützlingen um. Wenn dann Kinder ankamen und Körperkontakt gesucht haben, wusste ich
nie, wie ich reagieren sollte. Inzwischen benehme ich mich so, wie ich es in Deutschland auch tun
würde: Ich nehme sie auf den Schoß, kitzel sie, nehme sie Huckepack etc. Und bis jetzt hat sich
auch keiner beschwert.
Meine festen Aufgaben habe ich mittlerweile gefunden. Mehrmals am Nachmittag muss ich zu den
unterschiedlichen Schulen laufen, um die Kinder abzuholen, dann helfe ich bei den Hausaufgaben,
um 16 Uhr richte ich Snacks, die immer aus Keksen und Buttertoast bestehen und ab 17 Uhr helfe
ich mit, aufzuräumen. Dazwischen, spiele ich „Mau Mau“, Memory, male oder kaufe im Spielladen
ein. Ich kann aber auch einfach nichts tun. Meine Kolleginnen sind wirklich sehr nett, aber sie
sitzen sehr viel vor ihrem Handy. Es gibt einfach nicht wirklich viel zu tun, wenn fünf Erwachsene
auf zehn Kinder aufpassen. Der Grund für dieses „Überangebot“ an Erwachsenen, liegt
wahrscheinlich an der hohen Arbeitslosenquote. Im Nachmittagsprogramm gibt es sehr viele
ehrenamtliche MitarbeiterInnen, die etwas zu tun haben wollen und deshalb da sind.
Die Arbeit mit den Kindern macht mir mehr Spaß als ich erwartet hätte. Man bekommt einfach viel
zurück. Wer mich aber genauer kennt, weiß, dass es mir sehr schwer fällt längere Zeit, nichts zu
tun. Und das ist aber leider aber oft der Fall.
Auch Abends, wenn ich von 18 bis 21.30 Uhr im Jugendprogramm involviert bin, besteht meine
Hauptaufgabe darin, präsent zu sein. Mal spiele ich Badminton oder Tischtennis mit den
Jugendlichen, rede oder mache Improvisationsspiele. Zum Großteil beschäftigen sich die
Jugendlichen aber selbst und meine Kollegen unterhalten sich. Das ist oft nett, aber manchmal
langweile ich mich einfach sehr. Momentan wird aber nach möglichen Programmangeboten
gesucht, sodass sich das hoffentlich bald ändert.
Zweimal die Woche machen wir das sogenannte „Detached“. Wir laufen in den umliegenden
Gebieten herum und sprechen Jugendliche auf den Straßen direkt an. Wir wollen ihnen ein
Alternativprogramm fürs Betrinken anbieten. Ob das Erfolg hat, kann ich noch nicht genau sagen.
Auffallend ist, das die erste Frage bei den Jugendlichen meistens die ist, woher man kommt.
Da man an der Wohngegend in diesen „Interface areas“ eben festmachen kann, ob man es mit
„seinesgleichen“ oder den „anderen“ zu tun hat. Glücklicherweise kann ich dann einfach sagen,
dass ich aus Deutschland komme. Daraufhin begegnen einem die Jugendlichen eher freundlich.
Was den Konflikt betrifft, kann man aber ganz schnell in Fettnäpfchen treten. Man sollte immer
von Belfast oder Nordirland reden, nicht aber von der UK oder Irland. Mir ist es zum Beispiel
passiert, dass ich in meinem Projekt erzählt habe, dass ich nun endliche eine englische
Handynummer habe, was der Wahrheit entspricht. Da wurde ich teilweise mit großen Augen
angeschaut und mir wurde ausführlich erzählt, dass ich jetzt eine irische Nummer habe.
Mit der Zeit lernt man aber das Thema geschickt zu umgehen...
Bei meinen Kollegen bin ich mittlerweile sehr gut integriert und ich verstehe auch immer mehr.
Dabei ist das mit der Sprache auch so eine Sache. „Normales“ Englisch verstehe ich inzwischen
sehr gut. Sobald aber der berüchtigte Belfastslang mit ins Spiel kommt, wird die Sache schon
schwieriger. Teilweise werden die Vokale hier so anders ausgesprochen, dass man nicht mal mich
mit meinem Schulenglisch versteht. Seit drei Wochen besuche ich einen Englischkurs in der Uni
und so verbessern sich meine Sprachkenntnisse hoffentlich noch schneller.
Unternehmungen etc.:
An den Wochenenden unternehmen wir immer etwas. Bis jetzt spielt das Wetter auch gut mit. Die
Vorurteile, dass es in Belfast immer nur regnet, sehe ich noch nicht bestätigt. Jeden Tag lässt sich
die Sonne mindestens einmal kurz blicken. Deshalb verbringen wir auch viel Zeit draußen.
Wir schon auf dem Cave
Hill, am offenen Meer, auf
verschiedenen Festivals, in
wunderschönen Cafés, in
vielen Pubs, shoppen...
(meistens
allerdings
imaginär, weil kein Geld da
ist). Im
Folgenden
seht ihr ein paar Bilder, die
meine Erlebnisse
ein
wenig unterstreichen.
Ich
kann nicht mehr
alles in Worte fassen. Manche Augenblicke waren so besonders und wertvoll...
Jedenfalls bin ich unglaublich zufrieden hier zu sein, freue mich auf jeden Tag erneut und hoffe,
dass das so bleiben wird und, dass es nicht nur der Reiz des Neuen ist....
Dieses Bild entstand auf dem
Cave Hill.
Zu sehen sind meine
Mitbewohnerin Johanna, ich,
mein Mitbwohner Malte und
Olli, ein anderer EireneFreiwilliger
Das Belfast castle
An der Nordküste, wo ich drei Tage als
Begleiterin einer Jugendfreizeit verbracht habe
Das Mela-Festival, ein großes, internationales Fest in Belfast, auf dem es jede
Menge Essen, Musik und Spielchen gibt.
Der Cupcake Verkaufststand auf dem Sankt Georges Market.
Die schokoladigen, sahningen Muffins sind einfach köstlich.
Überhaupt ist Süßes hier so verbreitet wie sonst nichts. Ich
habe noch nie in meinem Leben so viele Donuts, Muffins,
Kekse etc. verputzt wie ich es hier tue...
„Familienfoto“
Das sind alle Eirene-Freiwilligen aus Belfast.
Wer Fragen hat oder sich einfach so bei mir melden möchte:
E-Mail: judith-og@gmx.de
Adresse:
35 Delhistreet Belfast
BT7 3AJ
Northern Ireland