Antananarivo
Transcription
Antananarivo
Madagaskar Ein Erlebnisbericht von Esther Iseli 0 EINLEITUNG 2 VORBEREITUNG 3 MADAGASKAR: LAND UND LEUTE KURZE FACTS GESCHICHTE BEVÖLKERUNG UND RELIGION BILDUNGSWESEN WIRTSCHAFT UND POLITIK NATUR 4 4 4 5 7 7 8 GESUNDHEITSWESEN 10 GESUNDHEITSZUSTAND DER BEVÖLKERUNG 10 GESUNDHEITSVERSORGUNG MEDIZIN STUDIUM 11 12 KATHOLISCHE MISSIONEN PADRI REDENTORISTI SUORE IN TANA SUORE IN SAMBAVA 12 12 14 15 DISPENSAIRE AMBOHIPO INFRASTRUKTUR ARBEITSALLTAG MATERNITE 16 17 18 20 BEFELATANANA KLINISCHE FÄHIGKEITEN AUS DER SCHWEIZ TUBERKULOSE VISITE 21 21 22 23 RÜCKBLICK 24 1 EINLEITUNG "Manahoana Tompoko?" bedeutet auf Madagassisch: "Wie geht es Ihnen, mein Herr?" (es sind aber auch "Damen" damit gemeint.). Als ich im Oktober 1998 das Flugzeug nach Madagaskar bestieg, hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete. Ich sollte von einem italienischen Missionar am Flughafen abgeholt werden und dann in einer Mission in der Hauptstadt Madagaskars (Antananarivo, kurz "Tana" genannt) wohnen und in einem Ambulatorium arbeiten. Während den ersten Tagen nach meiner Ankunft war ich sehr verwirrt. Die Orientierung fiel mir schwer, ich konnte mir die komplizierten madagassischen Namen und Wörter nicht merken und sie schon gar nicht aussprechen, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Die italienischen Missionare waren mir genau so fremd wie die madagassischen Strassenhändler, die abgehackte Rinderhufe verkauften. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an mein neues Leben. Ich lernte, das madagassische Geld zusammengeknüllt in der Hosentasche zu tragen (Portemonnaies sind in Madagaskar eine Rarität!), liess mir von den Buschauffeuren nicht mehr den doppelten Fahrpreis verrechnen, feilschte halsstarrig um ein Kilo Mangos (dabei ging es jeweils um wenige Rappen) und liess mir die italienische "Pasta con fagioli" schmecken. Entgegen meiner Erwartung arbeitete ich nicht in erster Linie für die italienischen Missionare, sondern in einem staatlichen Ambulatorium. Die madagassische Arbeitsweise war mir zu Beginn sehr fremd und ich musste mich an vieles gewöhnen. Zum grossen Glück standen mir mehrere madagassische Medizinstudentinnen und die Chefärztin des Ambulatoriums, Dr. Josette, bei. Als ich mich eingewöhnt hatte, war es auch schon wieder Zeit, die Koffer zu packen. Ich freue mich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit Madagaskar! Esther Iseli Zürich, im März 2000 2 VORBEREITUNG Wie soll man sich am besten auf ein medizinisches Praktikum in einem "Land des Südens" vorbereiten? Um grosse Enttäuschungen zu vermeiden, sollte man sich zuallererst die Frage nach der eigenen Motivation beantworten. Will ich den armen Leuten helfen, sie aus ihrer auswegslosen Lebenssituation retten? Möchte ich persönlich etwas dazulernen, meinen Horizont erweitern? Die GRUHU-Wochenenden bieten die Möglichkeit, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen und darüber zu diskutieren. Meiner Meinung nach sollte man sich nicht die Illusion machen, den Menschen direkt etwas helfen zu können. Man profitiert vielmehr selbst von einem solchen Aufenthalt, indem man das Leben in einem armen Land kennen lernt und sich des luxuriösen Lebensstandards bei uns in der Schweiz bewusst wird. Vielleicht kann man den Menschen indirekt helfen, indem man die eigenen Erlebnisse an Interessierte weitergibt. Wenn man sich für ein solches Praktikum entschieden hat, stellt sich die Frage nach der Dauer des Aufenthaltes. Meine Meinung: Je länger desto besser. Das Leben in armen Ländern ist einem meist so fremd, dass man viel Zeit zur Eingewöhnung braucht. Kaum kann man sich verständigen, muss man schon wieder abreisen. Aus diesem Grund habe ich mich für ein zweites Wahlstudienjahr entschieden. Da hatte ich genügend Zeit, viel praktische Erfahrung in der Schweiz zu sammeln und konnte gleichzeitig genügend Zeit für das Praktikum im Ausland einplanen. Ursprünglich sollte mein Aufenthalt in Madagaskar 6 Monate dauern, wegen Visumproblemen blieb ich dann aber nur viereinhalb Monate. Bei der Auswahl der UHU-Monate in der Schweiz würde ich Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Pädiatrie und Dermatologie empfehlen. Ich selbst habe ausser in Dermatologie in allen diesen Fachspezialitäten ein UHUPraktikum gemacht. Es lohnt sich, eher kleinere Spitäler auszuwählen, denn dort kann man in der Regel selbstständiger arbeiten und die Medizin ist etwas weniger hochtechnisiert als an Universitätsspitälern. Welches Land auswählen? Bei welcher Organisation soll man sich melden? Ich bin ein schlechtes Beispiel dafür, wie es am einfachsten geht... Ein italienischer Bekannter unserer Familie war schon einige Male bei verschiedenen italienischen Missionen in Madagaskar zu Besuch. Er war von meiner Absicht, ein solches Praktikum zu absolvieren, begeistert. Er versprach mir, alles für mich zu organisieren. Als der Abreisemonat immer näher rückte, und ich immer noch keine Nachricht hatte, begann ich selber zu organisieren. Nach einigen Telefonaten konnte ich zwar das Abreisedatum fixieren, wusste aber immer noch sehr wenig darüber, was mich dort erwarten würde. Ich hatte niemanden hier in der Schweiz, der mich beraten konnte (z.B. bezüglich Impfungen, Ma- 3 lariaprophylaxe ... etc.). Meine Vereinbarungen bezüglich Kost, Logis, Arbeit und Visum waren nur sehr vage, und es kam dann auch vieles sehr anders als ursprünglich geplant. Aus diesen Gründen empfehle ich dir, dich einer Organisation anzuschliessen. Das gibt dir ein sicheres Gefühl bei der Abreise und während Deines Aufenthaltes. Falls du Zeit hast, ist es sicher hilfreich, dich über das Land, Kultur und Leute zu informieren. Als medizinische Literatur und v.a. als unentbehrlicher Ratgeber für die "Kitteltasche" empfehle ich das Taschenbuch "Medical Practice in Developing Countries" im V erlag Jungjohann. MADAGASKAR: LAND UND LEUTE KURZE FACTS Staatsform: Republik Grösse: 587041 km2, viertgrösste Insel der Erde Lage: 390 km östlich des afrikanischen Festlandes an der Strasse von Mosambik im Indischen Ozean. Bevölkerung: 99% Madagassen, 1% Ausländer (Franzosen, Inder, Chinesen) Bevölkerungswachstum: 2.81 % (1998) Lebenserwartung: 52.88 Jahre Einwohnerzahl: 16.3 Mio (Schätzung 1998) Hauptstadt: Antananarivo (Tana), 1.7 Mio Einwohner Sprachen: Madagassisch, zweite Amtssprache ist Französisch (gesprochen von 10%) Religion: ca. 40% AnhängerInnen traditioneller afrikanischer Religionen, ca. 50% ChristInnen (zur Hälfte katholisch), 7% MuslimInnen Pro-Kopf-Einkommen: 240 US-$ (1996). Zum Vergleich: Die Schweizer Quote liegt fast 140-mal höher. Inflationsrate: 20% Auslandverschuldung: 4.5 Mrd US-$ (das zehnfache der jährlichen Budgeteinnahmen) GESCHICHTE Nach den Erkenntnissen der bisherigen archäologischen Forschungen war Madagaskar bis weit ins erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung unbesiedelt. Die ersten Einwanderungswellen dürften die Insel von 400 bis 1600 aus dem indonesischen Raum und aus dem östlichen Afrika erreicht haben. Im Verlauf der letzten hundert Jahre fand eine Vermischung statt, doch überwiegt im Os- 4 !" ten und im Hochland nach wie vor der indonesische, im Westen der afrikanische Einfluss. Seit dem 9. Jahrhundert liessen sich arabische Seefahrer und Händler auf der Insel nieder und vermischten sich ebenfalls mir der einheimischen Bevölkerung. Ab dem 16. Jahrhundert legten Portugiesen, Engländer und Franzosen Handelsstützpunkte an. 1896 eroberte Frankreich die Insel und machte sie zu seiner Kolonie. Mit der Kolonisierung wurden Madagaskar neue kulturelle und wirtschaftliche Elemente verpasst. Der Aussenhandel wurde auf Frankreich ausgerichtet, ebenso die Verwaltung und das Bildungswesen. 1960 erlangte Madagaskar schliesslich die Unabhängigkeit. BEVÖLKERUNG UND RELIGION Obwohl die Bevölkerung offiziell Kultur und Sprache gemeinsam hat, gibt es 18 verschiedene Stämme. Die Stämme bewohnen die diversen Regionen des Landes und haben eigene Dialekte und Bräuche. Auch wenn sich die alten Strukturen langsam verwischen, bestimmt in Madagaskar immer noch die Grossfamilie. Das Land des Familien-Clans ist auch das Land der Ahnen. Die Ahnen gelten nicht als tot, sondern als in eine andere Lebensform hinübergegangen. In religiösen Riten treten die Madagassen mit den Seelen der Verstorbenen in Kontakt, fragen um Rat und bitten um Hilfe. Es herrscht die Vorstellung, dass alle Lebewesen nur auf ein Ziel hin existieren: Das Leben selbst zu erhalten und weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund ist für den Madagassen die Gemeinschaft, die Familie, der Stamm wichtiger als das Individuum. Auf einem Markt im Hochland Die traditionelle Religion der Madagassen kennt keine Kirchen und Tempel. Christliche und muslimische Religionen haben jedoch grossen Zulauf, denn sie bieten ein Umfeld, in dem sich die Leute in dieser schwierigen Zeit geborgen fühlen. Die Kirchen werden sehr rege besucht (sonntags sind in einer grossen 5 Kirche in Tana um 1500 Personen die Regel). Nach den Gottesdiensten, die mindestens 2 Stunden dauern, ergreifen wichtige Gemeindemitglieder das Wort und besprechen ausserkirchliche Probleme mit der Bevölkerung. Viele Madagassen sind sehr religiös, sie glauben häufig gleichzeitig an das Christentum und an ihre traditionelle Religion. Mir wurde oft die Frage gestellt, ob wir Europäer wirklich nicht mehr zur Kirche gingen. Als ich diese Frage jeweils mit ja beantwortete, konnten sie es kaum glauben. "Aber weshalb?" Ich weiss es auch nicht genau. Vielleicht weil es uns gut geht und wir nicht so viele Stossgebete aussprechen müssen? Bahnhof in einem Urwalddorf an der Ostküste Kinderreichturn gilt trotz oder gerade wegen der grossen Armut als erwünscht, hat doch der Nachwuchs für seine Eltern zu sorgen. Die Bevölkerung wächst im Moment um fast drei Prozent pro Jahr. Die Geburtenrate lag 1998 bei 5.76 Kindern, bei einer Häufigkeit von antikonzeptionellen Massnahmen von 19.4%. Das durchschnittliche Alter der Frauen bei der ersten Heirat beträgt 18.2 Jahre, das Alter bei Geburt des ersten Kindes 19.2 Jahre. 44% der Madagassen sind jünger als 15 Jahre alt (Stand 1993). Die Madagassen leben in sehr ärmlichen Verhältnissen. 83% der Haushalte müssen ohne Strom auskommen. 5.4% haben einen Wasseranschluss im Haus, 13% können das Wasser von öffentlichen Pumpen beziehen, 60% holen sich das Wasser aus Flüssen und der Rest muss sich Wasser kaufen. 6 Fischedorf an der Südostküste BILDUNGSWESEN Etwas mehr als 50% der Bevölkerung sind Analphabeten. Leider hat sich die Situation in den letzten Jahren noch verschlechtert. Wurden 1992 75% der Kinder eingeschult, waren es 1995 65%. Obwohl die Schulbildung für alle madagassischen Kinder obligatorisch ist, werden viele Kinder nicht oder nur für sehr kurze Zeit zur Schule geschickt. Die Familien sind darauf angewiesen, dass auch die Kinder zu ihrem Unterhalt beitragen. Kinderarbeit ist weit verbreitet: Von den 7- bis 9-Jährigen arbeiten 20%, von den 11bis 12-Jährigen 30% und von den 13-14-Jährigen 50%. Die Kinder arbeiten auf dem Familienbauernhof oder -betrieb, sie müssen die jüngeren Geschwister beaufsichtigen, oder sie arbeiten in der Stadt als Bettler oder Verkäufer. Viele werden auch auf dem Bau als "Backsteinträger" eingesetzt, wobei 75% der Backsteinträger zwischen 5- und 7 -jährig sind. Die Qualität der Schulen ist meist schlecht, in ländlichen Gebieten kommt auf 46 Schüler ein Lehrer. WIRTSCHAFT UND POLITIK Staatsoberhaupt Madagaskars ist seit 1997 der pensionierte Admiral Didier Ratsiraka. Er ist auf 5 Jahre gewählt. Mit Ratsiraka kehrte ein Ex-Diktator an die 7 Macht zurück. Von 1975 bis 1993 stand er bereits an der Spitze einer Militärjunta. Er hatte Madagaskar damals politisch und wirtschaftlich auf die sozialistischen Staaten China und Sowjetunion ausgerichtet und war damit gescheitert. Die Wirtschaft brach ein. Anfang der 90er-Jahre, nach einem siebenmonatigen Streik, wobei Ratsiraka auf die unbewaffnete Bevölkerung schiessen liess, musste er dem Druck zu mehr Demokratie nachgeben. Er wurde abgewählt. Den wirtschaftlichen Scherbenhaufen konnte jedoch auch sein Nachfolger Zafy nicht aufräumen. 1996 wurde der einstige Hoffnungsträger abgewählt und Ratsiraka wieder als Präsident bestätigt. Viele Madagassen betrachteten diese Abstimmung als eine Wahl zwischen Pest und Cholera und blieben der Urne fern. Madagaskar steht heute schlechter da als zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit. Obwohl Madagaskar keine Kriege und Flüchtlingsströme kennt, schafft es die fruchtbare Tropeninsel nicht, sich selbst zu ernähren. Ein mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nach zähen Verhandlungen geschlossenes Abkommen versucht seit 1996 die schmerzliche Korrektur der Schuldenwirtschaft. Korruption und Missmanagement behindern jedoch den Aufschwung. Die vom Agrarsektor dominierte Volkswirtschaft ist durch Naturkatastrophen (Trockenheit, Zyklone, Heuschreckenschwärme, Schweinepest ... ) und Weltmarkteinflüsse stark verwundbar. Fischerei, Bergbau, Tourismus und ein wenig Industrie sind die wichtigsten Devisenbringer. Weite Teile des Landes sind nur sehr schwer zu erreichen. Die wenigen Landesstrassen sind in erbärmlichem Zustand, oft nicht asphaltiert und können zu gewissen Jahreszeiten überhaupt nicht befahren werden. Für den Transport in entlegene Gebiete ist man auf Ochsenkarren angewiesen. NATUR Madagaskars Klima ist tropisch. An der Nordwest- und Ostküste kommt es zu starken Niederschlägen und Durchschnittstemperaturen um 25°C. Im südlichen Landesteil ist es bei ähnlichen Temperaturen viel trockener. Gemässigt ist das Klima im zentralen Hochland bei mittleren Niederschlagsmengen und Durchschnittstemperaturen um 20°C. Die Regenzeit dauert von Oktober bis März, die Trockenzeit von April bis Oktober. Madagaskar besitzt eine faszinierende Flora und Fauna. Es ist das Land mit der höchsten Rate an endemischen Tier- und Pflanzenarten: 90% seiner Wirbeltier(z.B. Lemuren) und über 95% seiner Pflanzenarten gibt es nur dort und sonst nirgendwo. Viele Tiere und Pflanzen sind aber dem Siedlungsdruck bereits zum Opfer gefallen. Als der Mensch vor weniger als 2000 Jahren Madagaskar besiedelte, war das Eiland noch grösstenteils mit dichter Vegetation bedeckt. Heute hat das grüne Laubdach erhebliche Lücken bekommen. Schätzungen zufolge ist die grüne Lunge Madagaskars auf ein Fünftel zusammengeschrumpft. Jahr für Jahr wer- 8 den auf Madagaskar 200'000 Hektaren Wald durch Brandrodung vernichtet. Der Humus wird tonnenweise fortgeschwemmt, das Meer um Madagaskar färbt sich rot. Die einst grüne Insel erodiert zur roten Wüste. Brandrodungen sind gesetzlich verboten. Mit dem Vollzug hapert es indes. Tradition, Bevölkerungswachstum, Armut und Protest- dieser unheilvolle Mix ist auf Madagaskar für die Brandroderei verantwortlich. Reisfelder im Hochland Die madagassische Regierung hat mit verschiedenen Hilfsorganisationen einen Naturschutzplan für Madagaskar erarbeitet, welcher 1990 vom Parlament ratifiziert wurde. Die Umsetzung dieses Planes ist jedoch sehr schwierig. Es wurden in letzter Zeit aber auch Fortschritte erzielt: So gibt es auf Madagaskar über 50 Nationalparks und Schutzgebiete, welche etwa 12% der unbewohnten Landfläche entsprechen. Ich kann euch den Besuch dieser Parks sehr empfehlen. 9 GESUNDHEITSWESEN GESUNDHEITSZUSTAND DER BEVÖLKERUNG Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist nicht besonders gut. Die Sterblichkeit der unter Einjährigen betrug 1997: 96 pro Tausend (im Vergleich dazu CH: 6 pro Tausend). Die Durchimpfungsrate der 12- bis 23-monatigen Kinder hat sich zwischen 1992 und 1997 leicht verschlechtert: 1997: Tbc 66% Polio 47.7% Diphterie-Tetanus-Pertussis 48.4% Masern 46% 1997 waren 40% der Säuglinge unter gewichtig (1992: 36%). Nur 47.3% der Frauen gebären in Anwesenheit von medizinisch geschultem Personal. Viele schwangere Frauen sind nicht gegen Tetanus geimpft, und es kommt immer wieder zu Tetanusinfektionen der Neugeborenen. Die durchschnittliche Körpergrösse einer Bevölkerung hängt unter anderem vom Lebensstandard ab. In Madagaskar hat die Körpergrösse in den letzten 40 Jahren stagniert oder sogar leicht abgenommen, was wahrscheinlich auf die Verschlechterung des Lebensstandards seit den 70er Jahren zurückzuführen ist. Infektionskrankheiten betreffen einen grossen Teil der Bevölkerung: Parasitosen, darunter Malaria (v.a. Malaria tropica), Würmer, Bilharziose, bakterielle und virale Erkrankungen wie Tuberkulose (ca. 3% der Bevölkerung in Tana hat eine "offene" Tuberkuloset Durchfallserkrankungen, respiratorische Infektionen, Polio, Syphilis, HIV (erstaunlicherweise ist die Inzidenz immer noch recht gering), Lepra, Pest und viele weitere Erreger. Die prekären hygienischen Verhältnisse und der schlechte Ernährungszustand prädisponieren zu infektiösen Krankheiten. Die schlechte Aufklärung über Ernährung und Krankheiten und mangelnde Prävention verschlechtern die Gesundheitssituation zusätzlich. Eine Kranken- oder Invalidenversicherung gibt es nur für die wenigsten, und so bringt die Erkrankung eines Familienmitgliedes die betroffene Familie oft in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Invalide haben oft keine andere Wahl, als auf der Strasse zu betteln. 10 GESUNDHEITSVERSORGUNG Die Gesundheitsversorgung ist besonders in den ländlichen Gebieten prekär. Dort gibt es nur sehr wenige Spitäler und basismedizinische Einrichtungen. In Tana gibt es hingegen viele arbeitslose madagassische Ärzte, die ihren Lebensunterhalt lieber als Taxifahrer bestreiten, als irgendwo auf dem Land als Arzt zu arbeiten. Ein Arzt, dem ich in seinem Taxi begegnet bin, hat mir dazu erklärt, er wolle seine Kinder einmal auf eine gute Schule schicken. Gute Schulen gäbe es nicht auf dem Land. Zudem verdiene man auf dem Land nur wenig Geld, und werde stattdessen mit Reis und Maniok bezahlt. Viele ländliche Regionen sind verkehrstechnisch so schlecht erschlossen, dass die Bevölkerung praktisch keine Möglichkeiten hat, in ein Spital zu gelangen. Zum einen würde es häufig viel zu lange dauern, zum anderen ist reisen auch teuer. Traditionelle Heiler haben auf dem Land immer noch eine wichtige Funktion. Leider nimmt das Interesse an diesen Heilmethoden ab, die Leute glauben lieber an die westliche Medizin mit ihren Spritzen und Pillen. Marktstand mit gebrauchten Spritzen, Ampullen, Pillendosen. Es gibt verschiedene staatliche Spitäler in Tana und anderen grösseren Städten. Eine Beschreibung des Universitätsspitals in Tana werde ich etwas später geben. Ohne Missionen und andere Hilfsorganisationen würde das Gesundheitssystem zusammenbrechen. Diese betreiben unzählige Ambulatorien und Spitäler. 11 MEDIZIN STUDIUM Ich habe bei meiner Arbeit und in meiner Freizeit viele madagassische Medizinstudenten kennengelernt. Der Aufbau des Studiums bis zum 6. Jahr ist dem unseren in der Schweiz nicht unähnlich. Es wird jedoch viel mehr Wert auf die Erlernung der klinischen Untersuchung gelegt, die speziellen Untersuchungstechniken wie EKG und Röntgen (nicht zu reden von PET, Szintigraphie etc.) sind dafür weniger wichtig. Im 7. Studienjahr arbeiten die Studenten als Praktikanten, wobei sie auch in ländliche Regionen geschickt werden. Die Dissertation schreiben sie im 8. Jahr und sind dann "Grundversorger". Wer sich spezialisieren möchte, muss an einer Prüfung teilnehmen. Nur die besten erhalten die Möglichkeit zur Spezialisierung, und nur die allerbesten können die Fachrichtung wählen. Es kann also vorkommen, dass sich jemand auf Urologie spezialisieren muss, obwohl er Pädiatrie machen wollte. Da sind die Verhältnisse bei uns in der Schweiz geradezu paradiesisch! KATHOLISCHE MISSIONEN PADRI REDENTORISTI Stellst Du Dir unter einer katholischen Mission auch Mönche in braunen Kutten vor? Lange Gänge und Gebete während des ganzen Tages? Dem war in Madagaskar nicht so. Ich habe viele sehr praktisch denkende, typische Italiener getroffen. Padri, die sich auch nach 20 Jahren in Madagaskar nicht von ihrer Pasta haben trennen können. Padri, die sich geduldig einen Weg durch den korrupten Dschungel der madagassischen Bürokratie schlagen müssen. Padri, die sich täglich bettelnde Leute anhören, die sich um die Bauleitung neuer Schulen kümmern und jeden Abend einen Gottesdienst halten. Wie der italienische Name schon verrät, sind die Padri Redentoristi eine italienische, katholische Kongregation. Sie haben in Süditalien und in Madagaskar je zwei Häuser. In Madagaskar eine Mission in Tana und eine in Vohemar, einer kleinen Stadt an der Nordostküste. In Tana unterhalten sie ein Ambulatorium und mehrere Primarschulen und Kirchen. Ausserdem haben sie ein grosses Seminar für madagassische Theologiestudenten und seit neuster Zeit auch einen Konvent mit madagassischen Schwestern. Sie sind Teil des grossen katholischen Netzwerks, das Madagaskar überspannt. Die Mission steht auf einem grossen Gelände in einem Aussenquartier Tanas, und besteht aus zwei stattlichen Häusern, einem Blumen- und Gemüsegarten, einem Hühnerstall und einem Basketballfeld. Etwa 30 mada- 12 gassisehe Theologiestudenten, ein französischer Theologe, vier italienische Pater und während einer gewissen Zeit auch ich, haben dort gewohnt. In Vohemar haben sie ein kleineres Haus und unterhalten verschiedene Kirchen, Schulen und ein Ambulatorium. Ein italienischer und zwei madagassische Pater sind dort stationiert. Das Ambulatorium wird von einer italienischen Schwester geführt. Wahrscheinlich könnt Ihr euch vorstellen, dass ich mich als einzige Frau unter so vielen Männern sehr zurückhaltend benehmen und mich den Regeln genau anpassen musste. Ich habe in dieser Zeit die Kirche häufiger besucht, als jemals zuvor in meinem Leben! Ich versuchte, einige madagassische Kirchenlieder zu lernen, und kam so in Kontakt mit den madagassischen Kirchgängern. Mit den Theologiestudenten stand ich in regem Austausch: Sie wollten Englisch und Deutsch lernen und mich über Europa ausfragen, und ich war daran interessiert, Madagassisch zu lernen und mit ihnen über Gott und die Welt zu diskutieren. Zu viel Zeit durfte ich aber nicht mit ihnen verbringen, denn der "Padre Superiore" war sehr misstrauisch und erlaubte uns keine allzu langen Gespräche. Das Ambulatorium der Mission ist immer nur Samstags geöffnet. Die Belegschaft besteht aus zwei Ärzten, einem Zahnarzt und zwei Helferinnen. Die Patienten sind meist sehr arm und werden umsonst behandelt. Sie warten jeweils schon früh morgens auf die Türöffnung und sind oft erst am Nachmittag mit der Konsultation an der Reihe. Den einen Arzt können die Patienten nicht leiden, so arbeitet er nicht als eigentlicher Arzt sondern ist für die Auswahl der Medikamente zuständig. Der Zahnarzt ist recht gut ausgerüstet und hat viele Patienten von langandauernden Schmerzen befreit. Zahnschmerzen sind in Madagaskar sehr häufig. Wegen Geldmangels gehen viele erst bei unerträglichen Schmerzen zum Zahnarzt. Manche gehen überhaupt nie. Man sieht wenige Madagassen mit einem einigermassen intakten Gebiss. Als ich das Medikamentenlager zum ersten Mal sah, konnte ich meinen Augen kaum trauen: Haufenweise verstaubte Medikamentenschachteln in einem wilden Durcheinander. Medikamentenlager in Tana 13 Leider waren wenige wichtige Medikamente darunter (Schmerzmittel, Antibiotika, Antimykotika ... ), der grösste Teil war nutzlos (z.B. teure ACE-Hemmer (=Blutdruckmedikament)) oder bereits seit vielen Jahren abgelaufen. Die einfachsten Medikamente waren in diesem Chaos nicht zu finden. In meinem europäischen Verbesserungsidealismus war ich davon überzeugt, dass dieses Lager unbedingt aufgeräumt werden musste. So habe ich den grössten Teil meiner Samstage zusammen mit dem unbeliebten Arzt die Medikamente aussortiert. Irgendwann war alles geordnet und es sah recht gut aus ... , zwei Monate später war alles wieder beim Alten. Dies ist eines der vielen Beispiele dafür, dass europäische Verbesserungsvorschläge in vielen anderen Ländern zu nichts taugen. Nur wenn die Lokalbevölkerung auch eine Änderung will und sie selber herbeiführt, wird sie längerfristig Bestand haben. SUORE IN TANA Wenn man Kontakte zu einer italienischen Mission hat, lernt man schnell noch weitere Missionen kennen. Die "Suore del Sacro Cuore" haben in einem anderen Stadtteil Tanas ihre Mission mit einer italienischen Oberschwester und etwa 25 madagassischen Schwestern. Diese Mission dient zur Ausbildung der jungen Madagassinnen. Nach Abschluss der Ausbildung werden die jungen Schwestern häufig noch für eine gewisse Zeit nach Italien oder in andere Landesteile Madagaskars geschickt. Im Konversationsunterricht (mit Gästen aus der Schweiz) 14 !" Die "Madre Superiore" hat mich bei unserem ersten Treffen gebeten, ihren Novizinnen Konversationsstunden in Französisch zu geben. Diese Anfrage erstaunte mich umso mehr, als es um mein Französisch nicht zum Besten stand. Trotzdem wollte ich den Versuch wagen. So verbrachte ich einen Nachmittag pro Woche bei den Suore. Ich wurde mit einem italienischen Espresso empfangen und unterrichtete dann 10 bis 20 Novizinnen. Beide Seiten mussten sich erst aneinander gewöhnen: Eine so unkonventionelle Lehrerin, die das Gebet zu Beginn der Schulstunde vergass, seltsame Sprachspiele erfand, Unmögliches verlangte und selber fehlerhaft Französisch sprach, war ihnen noch nie untergekommen. Ich, auf der anderen Seite, war es nicht gewohnt, dass man meine Spiele, meinen interaktiver Unterricht nicht verstand. Es brauchte Kompromisse auf beiden Seiten. Wir gewöhnten uns aber mit der Zeit aneinander und verbrachten unzählige unterhaltsame, für beide Seiten sehr lehrreiche und lustige Stunden. Wir diskutierten viel über Madagaskar, Europa, unsere Herkunft, unsere Familien und über Politik. Ich erlebte die jungen Schwestern als weltoffen und gut informiert, sogar über Bill Clinton und Monica wussten sie Bescheid ... SUORE IN SAMBAVA Suore in Sambava Während zwei Tagen konnte ich zusammen mit Miary, einer madagassischen Medizinstudentin, eine wundervolle italienische Mission in einer Küstenstadt besuchen. Es ist eine sehr kleine italienische Mission, mit zwei italienischen und einer madagassischen Schwester. Sie haben ein Ambulatorium für Leprakranke aufgebaut, wo sie während 4 Tagen pro Woche Leprakranke betreuen. Während den restlichen 3 Tagen pflegen sie Kranke in einem entlegenen Leprosarium. Diese Orte dienten früher der Isolation Leprakranker, heute ist man von Isolation abgekommen, viele Leprakranke sind aber dort geblieben. 15 Leprapatient mitr Fingerkontrakturen Lepra wird durch eine Infektion mit Bakterien verursacht, ist jedoch nur wenig ansteckend. Die Krankheit manifestiert sich an Haut und Nerven, wobei es v.a. durch den Gefühlsverlust zu vielen schlecht heilenden Wunden an Händen und Füssen kommt. Die Gliedrnassen faulen ab und müssen amputiert werden. Die Krankheit kann mit einer konsequenten, kombinierten Antibiotikatherapie behandelt werden. Die Medikamente werden vom Staat gratis abgegeben. Trotzdem bleiben viele Erkrankte untherapiert und werden invalid. Unwissenheit über die Ernsthaftigkeit der Erkrankung, Schamgefühle und die Notwendigkeit, soviele Tabletten zu schlucken, mögen zu den Gründen dafür zählen. Die Suore diagnostizieren die Neuerkrankungen, geben den Erkrankten die tägliche Medikamentenration ab, motivieren und unterstützen die und helfen bei der Pflege der Wunden. DISPENSAIRE AMBOHIPO Den grössten Teil meiner Arbeitszeit habe ich im Dispensaire in Ambohipo, einem Aussenquartier Tanas, verbracht. Das Dispensaire ist ein "Centre medical de base" des Staates, übertragen auf unsere Verhältnisse entspricht es etwa einer HMOPraxis. In diesem Ambulatorium wird die Bevölkerung einiger 16 Quartiere Tanas allgemeinärztlich, gynäkologisch, geburtshilflich und pädiatrisch betreut. INFRASTRUKTUR Stellt euch nicht eine hochmoderne Infrastruktur, sondern allereinfachste Verhältnisse vor. Das Ambulatorium ist in einem zweistöckigen Betonbau untergebracht: Im Parterre hat es einen Warteraum, eine Toilette und Lavabos mit fliessendem Wasser (welch grosses Glück, in Tana keine Selbstverständlichkeit!), fünf vollgestopfte Räume (Kühlschränke, Sterilisation, Tische, Stühle, Schränke und zwei Liegen) und separat noch Räumlichkeiten der neu gebauten Maternite (die habe ich erst im Bauzustand gesehen). Die Untersuchungen müssen hauptsächlich klinisch durchgeführt werden. Ein Labor fehlt. Einzig an einem Tag der Woche werden Blutproben von Schwangeren entnommen, von einem "Interne" (Medizinstudent im 7.5tudienjahr) auf dem Fahrrad ins Institut de Pasteur gebracht und dort auf Lues untersucht. Leider herrscht ein chronischer Spritzenmangel. An den einmaligen Gebrauch der Einmalspritzen ist überhaupt nicht zu denken. Die Nadeln und Spritzen werden so lange aufsterilisiert, bis die Nadelspitzen so krumm und unscharf sind, dass man sie nur noch mit Gewalt durch die Haut stechen kann. Die Sterilisation erfolgt in einem speziell für Spritzen geeigneten Dampfkochtopf auf einer unglaublichen, manchmal Funken sprühenden Kochplatte. Des weiteren gibt es zwei Blutdruckmessgeräte, zwei Waagen, einen Zentimeter und ein Fetoskop (eine Art Plastiktrichter, mit dem man die Herztöne des Feten hören kann). Ein Stethoskop bringt jeder selbst mit. Apotheke im Dispensaire in Ambohipo 17 ARBEITSALLTAG An einem durchschnittlichen Tag arbeiten morgens etwa zwei bis drei Ärztinnen, ein bis zwei Internes, zwei Medizinstudenten, zwei Sekretärinnen, zwei Hebammen und eine Hilfsschwester. Am Nachmittag reduziert sich das Personal auf eine Ärztin und eine Hilfsschwester. Im Vergleich zur Schweiz hat es in Madagaskar sehr wenig Pflege- und Hilfspflegepersonal. Diese Arbeiten werden von den Angehörigen und den Ärzten übernommen. Meine Mithilfe im Arbeitsalltag war willkommen, besonders am Nachmittag. Meine Arbeit war gleich wie diejenige der Internes und Medizinstudenten: Administration, Statistiken nachführen, Kinder wägen und impfen, Schwangere betreuen, Blutentnahmen, Medikamente sortieren und abgeben, Wundpflege etc. Den Ärztinnen durften wir selbstverständlich bei den allgemeinärztlichen Konsultationen über die Schulter schauen. Leider stand mir die sprachliche Barriere gelegentlich im Weg, denn viele Patientinnen sprachen kein Französisch und mein Madagassisch beschränkte sich auf wenige einfache Worte wie: Bauch, Schmerz, Kop( Hallo, Auf Wiedersehen, Wie gehts etc. Docteur fosette bei der Herausgabe von Medikamenten Auch in diesem Ambulatiorium warten die Patientinnen (Männer kamen nur sehr selten) mit ihren Kindern bereits frühmorgens im Wartesaal auf die Konsultation. Ihre kleinen "Krankheitsbüchlein" (wie eine Krankengeschichte) legen sie auf einen Stapet und in dieser Reihenfolge erfolgen dann auch die 18 Konsultationen. Meistens müssen sie mehrere Stunden warten. Wenn dann etwa um 9 Uhr das Personal kommt, muss zuerst aufgeräumt werden. Alle Utensilien werden bereitgelegt, wenn etwas fehlt, z.B. ein Kugelschreiber (das ist kein Witz!), dann muss noch schnell auf dem Markt eingekauft werden. Irgendwann später stellt sich ein Interne vor den versammelten Patientinnen auf und hält einen kleinen Vortrag über ein gesundheitliches Problem (z.B. HIV, Durchfallserkrankungen bei Kindern, Benutzung eines Kondoms ... ). Diese Vorträge sind vom Staat angeordnet. Die Frauen hören mehr oder weniger aufmerksam zu, Fragen stellen sie praktisch nie. Dann geht es endlich mit den Konsultationen los. Je nach Wochentag finden Kinderimpfungen oder Schwangerschaftsuntersuchungen parallel neben den allgemeinärztlichen Untersuchungen statt. Der Impfungsraum ist jeweils bis zum letzten Stuhl besetzt. Die Mütter streifen ihren Kindern schnell die Kleider hinunter, ein Blick ins Krankheitsbüchlein gibt einem Auskunft über anstehende Impfungen, diese werden aufgezogen und gespritzt. Besonders zimperlich wird nicht vorgegangen. Der Impfplan unterscheidet sich von unserem nur darin, dass in Madagaskar noch gegen Tuberkulose geimpft wird. Etwa um 12.30 Uhr kann man die Buchhaltungsergebnisse mit der Kasse vergleichen. Meistens gibt es eine Differenz, die man in minutiöser Detektivarbeit in den Büchern klären muss. Am Nachmittag geht es zwischen 14 und 15 Uhr mit allgemeinärztlichen Konsulationen weiter. Das ist dann regelrecht erholsam. Um 17 Uhr ist Feierabend. Ich machte mich dann jeweils per Kleinbus oder auch zu Fuss auf den Nachhauseweg. Die Leute konnten sich bis ans Ende meines Aufenthaltes nicht an den Anblick einer weissen, jungen Fussgängerin gewöhnen! Nun fragt Ihr Euch vielleicht, welche Krankheiten im Dispensaire am häufigsten vorkommen: 14-33% Malaria (saisonabhängig) 8-29% Krankheiten des Respirationstraktes 410% Durchfall 0.9-3.8% sexuell übertragbare Krankheiten Die Patienten müssen die Konsultation und die Medikamente bezahlen (Preisangaben für jeweils 1 Tablette/ Injektion): Konsultation Temperatur-Messen Amoxicillin (Antibiotikum) 500 mg Chloroquine (Malariamedikament) 100 mg Penicillin-Spritze 5 Mio Nystatin Salbe Paracetamol 500 mg 15Rp 2Rp 10Rp 1Rp 60Rp 140Rp 0.7Rp 19 Auch wenn diese Preise sehr niedrig erscheinen, haben viele Leute trotzdem nicht genügend Geld dabei. Es werden aber keine Ausnahmen gemacht: Wer nicht bezahlt, erhält seine Medikamente nicht. Irgendwie schaffen es dann doch alle. Es findet sich immer jemand aus der Bekannt- und Verwandtschaft, der etwas Geld ausleihen kann. Ich, beim Abfüllen von Nasentropfen MATERNITE Wie ich vorher bereits erwähnt habe, war während meines Aufenthaltes eine Maternite im Bau, ausgestattet mit zwei Gebärzimmer und einer Nasszelle. Zur grossen Einweihung sollte natürlich ein Fest stattfinden, zu dem dann auch der Besuch der Gesundheitsministerin erwartet wurde. Aber woher sollte das Quartier Geld für ein Fest nehmen? Das ist doch keine Frage, mit einem "VorEinweihungsfest"! Mit den Vorbereitungen waren wir während einer ganzen Woche beschäftigt: Es wurde aus praktisch nichts etwas gebastelt, das dann am Fest verkauft werden sollte. Die Padri zeigten sich etwas knausrig und spendeten nur einige leere Weinflaschen, die man verkaufen konnte. Das Fest übertraff meine wildesten Erwartungen: Unzählige Kindergruppen in liebevollen Kostümen, aber auch Erwachsene hielten Darbietungen mit Tanz und Gesang ab. Aus krachenden Lautsprechern tönte Musik, manchmal unterbrochen von der Musik einer kleinen Live-Band. Viel zu viele und zu lange Reden wurden gehalten, Esswaren, unsere Bastelarbeiten und die leeren 20 Flaschen wurden verkauft und einiges wurde auch versteigert. Ich weiss nicht wie gross der Erlös am Ende des Tages war, aber alle waren zufrieden! /IV or-Einweihungsfest/l der Maternde BEFELATANANA Während zwei Wochen habe ich immer morgens auf der Lungenabteilung des Universitätsspitals "Befelatanana" in Tana gearbeitet. So konnte ich mir einen Einblick verschaffen, wie sich die Arbeit im Spital von derjenigen im Ambulatorium unterscheidet. Eigentlich wollte ich nicht unbedingt ein Praktikum in einem grossen Spital machen, sondern eher Erfahrungen in Basismedizin sammeln. Docteur Josette konnte dieses Anliegen aber nicht recht verstehen, und so fand ich mich plötzlich im Spital vor einem ihrer ehemaligen Arbeitskollegen wieder. Als ich nicht augenblicklich mit der Arbeit beginnen wollte, war er fast ein wenig enttäuscht. Ohne jegliche Formalitäten wurde mein Arbeitsbeginn auf nachfolgende Woche festgelegt. KLINISCHE FÄHIGKEITEN AUS DER SCHWEIZ Das zu Beginn mulmige Gefühl beim Betreten des Spitals verschwand sehr schnell. Ich war nicht die einzige Studentin, wenn auch die einzige Ausländerin. Ich war pausenlos von neugierigen Studenten umringt, die mir Fragen 21 zum Studium in der Schweiz stellten. Bald fühlte ich mich weniger fremd. In einem von Studenten organisierten EKG-Kurs (da konnte ich mit meiner Ausbildung in der Schweiz brillieren!) lernte ich sogar den madagassischen Studentenalltag ein wenig kennen. Mit meiner Brillianz hatte es am Krankenbett ein jähes Ende: Meine klinischen Fähigkeiten waren im Vergleich zu den madagassischen Studenten eher kümmerlich. Ich wollte mich auf Laborwerte und Röntgenbilder stützen, stattdessen drückte man mir auf der Visite einen Topf mit Sputum in die Hand, das ich genau analysieren sollte (Nein, nicht nur die Farbe! Auch die Konsistenz, Bläschen und viele weitere Eigenschaften, von denen ich noch nie gehört hatte ... ). Der Oberarzt war sehr interessiert an meinem Wissen und fragte mich dauern in einem für mich unverständlichen Französisch aus. Wahrscheinlich habe ich auch bei ihm nicht besonders brilliert. TUBERKULOSE Meine Haupttätigkeit war die Betreuung der ambulanten Tuberkulosepatienten. Wird bei einem Patienten Tuberkulose festgestellt, erhält er gratis eine antibiotische Behandlung. Weil die Gefahr der Resistenzentwicklung auch bei Dreierkombination von Antibiotika gross und zudem die Compliance extrem schlecht ist, müssen die Tabletten in den ersten Monaten der Behandlung täglich unter Aufsicht eingenommen werden. Die Patienten müssen also jeden Tag vorbeikommen. Meine Hauptaufgabe war die Betreuung dieser ambulanten Patienten. Die richtige Karteikarte muss herausgesucht werden (was einfacher tönt als es ist ... ), der Patient über sein Befinden befragt und manchmal gewogen werden. Gelegentlich sind auch Sputumkontrollen, Röntgenbilder und Auskultation notwendig. Danach werden die Tabletten fein säuberlich abgezählt und der Patient nimmt seine Ration ein. Es hat nur ein einzelnes, kleines, schmutziges Glas, das allen Patienten zur Verfügung steht. Wer ein sauberes Glas wilt muss es selber abwaschen gehen. Weil es für die Patienten mühsam ist, jeden Tag in den Spital zu kommen, versuchen sie, mehrere Tagesrationen zu erhalten. Obwohl die Regelung strikt ist und keine Ausnahmen erlaubt, werden immer wieder einige Patienten bevorzugt und erhalten Wochenoder Monatsrationen. Einge Ärzte halten sich überhaupt nie an die Abgabevorschriften, was zu vielen Misstimmigkeiten mit den Patienten aber auch zwischen dem Personal führt. Einige bedauernswerte Patienten brauchen neben Tabletten täglich eine intramuskuläre Injektion eines Antibiotikums. Leider steht es um die Spritzen- und Nadelsterilisation sehr schlecht: Die Nadeln liegen in einem Metallgefäss tagelang im Wasser und weil eine Pinzette fehlt muss man mit den Händen direkt ins Wasser greifen. Da ist es ratsam aufzupassen, dass man sich nicht verletzt. Die Patienten setzen sich im "Allzweckraum" (Stationszimmer, Studentenaufenthalt, Sterilisation) auf den einzigen Stuht wo sie ihre Injektion erhalten. Diese ist nicht nur wegen der 22 stumpfen Nadeln, sondern auch wegen des Medikamentes sehr schmerzhaft. Ein Patient hat mir einmal eine Streichholzschachtel in die Hand gedrückt. Als ich sie öffnete, kam ein winziger Wattebausch zum Vorschein: Ich sollte diesen zur Desinfektion benutzen. Zuerst musste ich Alkohol suchen gehen, denn weil es nie Watte hatte, machte man normalerweise auch keine Desinfektion. Die Madagassen beherrschen eine eigentümliche, aber sehr effiziente und wenig schmerzhafte intramuskuläre Injektionstechnik: Nach zwei, drei schnellen Klopfbewegungen auf das Gesäss wird die Nadel mit Schwung eingestochen. Obwohl ich diese Technik an meiner Matratze geübt habe, wurde ich nie besonders geschickt darin. VISITE Jeden Morgen findet eine Visite mit dem Oberarzt und einigen Studenten statt. Schwestern hat es in Befelatanana praktisch keine. Auf einem alten Metallkarren werden die Krankengeschichten von Türe zu Türe gerollt (das war direkt "heimelig"!), die Patienten werden begutachtet, es wird auskultiert, diskutiert und ausgefragt, fast wie bei uns. Es gibt aber doch einige Unterschiede zu unseren Spitälern: Die Patienten im Spital sind meist extrem schwer krank, wenn nicht sogar moribund (vorher geht niemand ins Spital!), die Zimmer sind extrem schmutzig (es hat kein Putzpersonal), das Bettzeug muss selbst mitgebracht werden, unter den Betten stehen unbedeckte Bettschüsseln und die vielen Fliegen geniessen die angebrochenen Esswaren. Bitte entschuldigt meine unschöne Schilderung, aber es war leider wirklich so. Ich war zutiefst schockiert und war zu meinem Beschämen um meine Rücktransportgarantie durch die Rega froh. In einem solchen Spital will niemand auch nur einen halben Tag liegen. Ich habe mich oft gefragt, wie es zu solchen Zuständen kommen konnte. Bis heute weiss ich keine Antwort. Wahrscheinlich tragen viele einzelne Faktoren zu diesem grossen Übel bei: Niemand fühlt sich für den Zustand des Spitals verantwortlich, die meisten haben resigniert. Viele arbeiten nur noch zum eigenen Vorteil. Wenn Hilfspakete aus dem Ausland kommen, ist innert kürzester Zeit alles verschwunden. Es hat keine Schwestern und kein Putzpersonal. Viele kommen gar nicht erst zur Arbeit, so unser Abteilungschef, der als Regierungsbeamter überhaupt nie die Zeit fand, jemals das Spital zu betreten. Befelatanana ist ein berüchtigtes Spital, aber gemäss Erzählungen seien die anderen auch nicht viel besser. Trotz allem, den Abschied von Befelatanana werde ich nie vergessen. Weil auch die anderen Studenten ihr Praktikum beendet hatten, kauften wir für die Abteilung zwei kleine Geschenke: Ein Stempelkissen und ein Fieberthermometer, zwei dringend benötigte Gegenstände. 23 RÜCKBLICK Madagaskar ist ein Land mit vielen Problemen. Wenn man mit den Madagassen darüber spricht, wirken sie resigniert und niedergeschlagen. Nur noch wir Ausländer könnten sie retten. Solche Gespräche haben mich immer sehr traurig gestimmt. Dann gab es aber auch Momente, wo grosse Lebensfreude und Stolz auf ihr reichhaltiges kulturelles Erbe zum Vorschein kam. Ich wünsche mir, dass diese positive Lebenseinstellung in Madagaskar (wie auch bei uns) Oberhand nimmt. Vielen Dank für dein Interesse und viel Vergnügen bei deinen Praktika in der Schweiz oder auch im Ausland. Esther Iseli Segelpiroge auf einer kleinen Insel im Norden des Landes. 24