Lyrikanalyse

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Lyrikanalyse
Vorlesung: Einführung in die Grundbegriffe der Literaturwissenschaft (B.A.): Lyrikanalyse
ANGEWANDTE RHETORIK UND HERMENEUTIK, BEISPIEL LYRIK
Andreas Gryphius (1616 -1664):
Abend
Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk / wo Tier und Vögel waren
Traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!
Der Port naht mehr und mehr / sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man sieht / hinfahren.
Dies Leben kömmt mir vor/ als eine Renne-Bahn.
Laß höchster Gott / mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten
Laß mich nicht Ach / nicht Pracht / nicht Lust nicht Angst verleiten
Dein ewig-heller Ganz sei vor und neben mir /
Laß / wenn der müde Leib entschläft / die Seele wachen
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen /
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir.
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Sonett, 1650 erschienen
Beispiel für normative Poetik und Rhetorik
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Thema: = materia = Abend = gedankliche Verarbeitung des Themas, kein Naturgedicht,
keine Erlebnislyrik
 Schulmäßig rhetorische Verarbeitung = Nacheinander des produktionsästhetischen
Geschehens:
a. inventio = Sammeln der Gedanken
b. dispositio = Planung der Argumentationsstruktur
c. elocutio = sprachliche Ausführung
Nacheinander auf innertextueller Ebene:
a. narratio = Motivdarlegung
b. argumentatio = Argumentation, Begründung des Stadtpunktes
c. peroratio = Schlußappell
Form:
2 Quartette und 2 Terzette
1. Quartett:
a) inventio = Entfaltung, Situationsschilderung
b) argumentatio = Einsamkeit als Erkenntnis
c) peroratio = Wie ist die Zeit vertan = Über das Gedicht hinausweisende Perspektive
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rhetorische Leitlinie = a minore ad maius = vom Kleinen zum Größeren
Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann: Materialien zur B.A.-Vorlesung vom 19.12.2005
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Vorlesung: Einführung in die Grundbegriffe der Literaturwissenschaft (B.A.): Lyrikanalyse
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Hermeneutischer Aspekt:
Beschreibung = sensus litteralis
2. Quartett:
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Übertragung auf eine höhere Erkenntnisebene
Abendsituation = Lebensabend; Abend = Endzeit, Sterben
Anwendung:
 Allegorese = wenn man sich in den tiefere Sinn des Abends versetzt, führt dies zur
Erkenntnis
 Allgemeiner Bedeutungsanspruch im Sinn von Totalität wird erreicht
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Hermeneutischer Aspekt:
Deutung = sensus allegoricus
1. Terzett
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Veränderung der Redesituation = dialogische Form, Gebet, Appell
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Hermeneutischer Aspekt:
Moralische Anwendung = sensus moralis
Anwendung des zuvor Beschriebenen und in eine Allegorie gefaßten = sensus moralis =
unabweisbare Gewißheit des Todes führt zur Frage nach angemessenem Verhalten im
Leben = Abkehr vom Oberflächlichen und Suche nach Urgrund des Seins. Suche nach
Überwindung des falschen Glanzes des Lebens und Finden gläubiger Zuversicht und
göttlichen Beistandes
2. Terzett
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Situativer Wandel = Zukunftsorientierung auf Sterbestunde
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Hermeneutischer Aspekt:
Heilsgeschichtliche Perspektive = sensus anagogicus = Höherführung des Menschen
zu Gott
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Rhetorisch = Appell = Anrufung Gottes, nach Sünde Suche nach Erlösung und rettendem
Weg zu und durch Gott
Phasen der Rhetorik im Barock:
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Inventio = Erfindung des Stoffes:
Martin Opitz (1597 – 1639) „Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624): „An der
Erfindung hängt stracks die Abteilung / welche bestehet in der füglichen und artigen
Ordnung der erfundenen Sachen“
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Gattung Gedicht = strukturelles Problem der Angemessenheit. Form als Sinnbild der
ordnenden dichterischen Kraft, die Chaos der Welt überwindet und Zeichen dafür ist, daß
Mensch in göttlichem Auftrag zu sprechen vermag.
Lyrikanalytische Elemente:
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Gedichtform: = Sonett
Strophenform: Aufbau: = zwei Sonette / zwei Terzette = strukturell als argumentatio
bipolar angelegt
Zäsur: zwischen beiden Formen = Bruch zwischen Diesseits und Jenseits
Quartette:
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Alexandriner = zwölf Silben mit Zäsur
Reim = identische Reimposition
Zweireimigkeit = verstärken den Zusammenhang von Wortsinn und allegorischer
Auslegung = irdische Verknüpfung von Erscheinung und Wesen.
Terzette:
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Erste beide paargereimte Zeilen bilden Block = klanglich Einschnitt markierend,
unterstreicht höhere Argumentationsebene.
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Gehaltliche Korrespondenz mit den jeweils abschließenden, durch Reim verbundenen
Terzettteilen.
Ewig- heller Ganz = nimmt Ziel des aus der Finsternis erlösten Menschen vorweg
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 Kontrastführung von Quartetten und Terzetten auch durch syntaktische Elemente.
a. Quartett = mehrere Sätze
b. Terzett = einziger Satz, durch Anrufung Gottes eingeleitet = sinnfälliger Zusammenhang
zwischen gläubig vertrauender Lebensführung und erhoffter Erlösung
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Ordo-Gedanke = Dichtung als Spiegel des Kosmos
Rhetorische Analyse:
Elocutio:
Opitz: „Denn es muß ein Mensch ihm ernstlich etwas in seinem Gemüte fassen / hernach das
was er gefaßt hat ausreden“ = Thema, Argumentation, Gattung und Stil als literarischer
Mikrokosmos
In verbis singulis:
Personifikation: allegorische Figuration des Tages und Abends:
Schneller Tag / fahnenschwingende Nacht = Kreuzfahne bei Christi Auferstehung, Sieg Licht
über Dunkelheit in chiastischer Verschränkung = Wahrhaft hell ist die Nacht des Lebens,
wenn sie in Gottes Hand steht.
Akkumulation:
Mensch, Tier und Feld stehen für die Gattung. Häufung von Bildvorstellungen und Begriffen
als Teile eines übergeordneten Ganzen
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Metaphern:
Hafen = Endstation des irdischen Lebens = Körper als Gliederkahn
Renne-Bahn = Dasein als sinnloser Leerlauf, vita activa, dagegen Suche nach vita
contemplativa
In verbis coniunctis
Anaphorischer Parallelismus in den Terzetten
Asyndetische Reihung: Ach, Pracht, Lust, Angst
„Laß…“
Gedankenfiguren:
Antithesen: Kern des Lebens wird eingeschnürt
Kontext:
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Anspielungen, Intertextualität: Buch Hiob:
1. „Meine Tage sind schneller gewesen denn ein Läufer; sie sind geflohen und haben
nichts Gutes erlebt. Sie sind dahin gefahren wie Rohrschiffe.“ (Hiob 9, 25 f.)
2. „Er breitet aus die Mitternacht über das Leere und hängt die Erde an nichts.“ (Hiob
26,7)
 Motiv des Verlassens von Feld und Werk:
1. „Du darfst der Nacht nicht begehren, welche die Völker wegnimmt von ihrer Stätte.“
(Hiob 36,20)
 Sterne als Sinnzeichen ewiger Ordnung:
1. „Kannst du den Morgenstern hervorbringen oder den Bären am Himmel mit seinen
Jungen heraufführen? Weißt du des Himmels Ordnung?“ (Hiob 38, 32.33)
Kultur- und literaturhistorischer Stellenwert:
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Barockdichter als Weltdeuter in heilsgeschichtlicher Perspektive.
Kunst des Dichtens gibt Zeugnis von der Ordnung der Schöpfung nach Maß, Zahl
Gewicht, wie es im Buch der Weisheit beschrieben wird
Dichter als stellvertretender Ordner des Chaos der Geschichte und Gestalter des göttlichen
Kosmos = Dreißigjähriger Krieg als Erfahrungszeit und -raum.
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