Ausgabe
Transcription
Ausgabe
WZB Mitteilungen www.wzb.eu Dezember 2011 134 Ungleichheit D as Drinnen und das Draußen der Gesellschaft Weitere Themen: Mobilität der Zukunft, A.SK-Preis für Transparency International, Andreas Voßkuhle verab schiedet Folke Schuppert, James Frazer Stirlings Archiv, WZB-Evaluation WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Inhalt Titelfoto: Raum in der Fläche, Gouache auf Packpapier (Bali), Juni 1992, 42x64 cm, Michael Schleiter (1955-1996). Besitzer: G. Gavrilovic, Geschenk von Dr. J. Seipp, Foto Nr. 10/5. Editorial Aus der aktuellen Forschung 5 38 Mehr als ein neuer Motor Die Wende zur E-Mobilität erfordert innovative Nutzungskonzepte Weert Canzler und Andreas Knie Gut Ding will Weile haben Jutta Allmendinger Titelthema 7 Arm, ärmer, am ärmsten Menschen mit niedrigem Einkommen steigen immer häufiger ab Martin Ehlert und Jan Paul Heisig Aus dem WZB 10 Männer klar im Vorteil Frauen tragen bei einer Trennung weiterhin die finanzielle Hauptlast Anke Radenacker 41 Ein Wachhund der Demokratie Laudatio auf Transparency International, den A.SK-Preisträger 2011 Gunnar Folke Schuppert 13 Draußen vor der Tür Exklusion auf dem Berliner Wohnungsmarkt Christine Barwick 46 Eine echte Marke Zum Abschied Gunnar Folke Schupperts vom WZB Andreas Voßkuhle 16 Multicultural welfare politics Immigration mostly has no effect on welfare attitudes David Brady and Ryan Finnigan 48 Leistungsstark und kooperativ Ermutigende E valuationsergebnisse für das WZB Paul Stoop 19 Mehr Zeitsouveränität – für manche Langzeitkonten begünstigen Höher qualifizierte Philip Wotschack 50 Konferenzberichte 59 Personen 61A.SK-Fellowships: Forschen für Reformen 62 Nachlese: Das WZB im Dialog 63 Vorschau: Veranstaltungen 64Vorgestellt: Publikationen aus dem WZB 23 The paradox of special education Both school segregation and inclusive education are on the rise Justin J.W. Powell 26 Die soziale Frage der Demokratie Einkommen und Bildung beeinflussen die Chancen politischer Teilhabe Sebastian Bödeker 30Auf dem Weg zur Zweidrittel- Demokratie Wege aus der Partizipationskrise Alexander Petring und Wolfgang Merkel 40 Nachgefragt bei Michael Hutter Wertmigration Zu guter Letzt 66 Architektur im sozialen Kontext James Frazer Stirlings Werk in einer Stuttgarter Ausstellung Paul Stoop 34Vermögende vermögen eigentlich mehr Trotz wachsenden Wohlstands stagniert das Spendenvolumen Eckhard Priller und Jürgen Schupp WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 3 Impressum WZB Aufgaben und Arbeiten WZB-Mitteilungen ISSN 0174-3120 Im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) betreiben rund 150 deutsche und ausländische Wissenschaftler problemorientierte Grund lagenforschung. Soziologen, Politologen, Ökonomen, Rechtswissenschaftler und Historiker erforschen Entwicklungstendenzen, Anpassungsprobleme und Innovationschancen moderner Gesellschaften. Gefragt wird vor allem nach den Problemlösungskapazitäten gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen. Von besonderem Gewicht sind Fragen der Transnationalisierung und Globali sierung. Die Forschungsfelder des WZB sind: Heft 134, Dezember 2011 Herausgeberin Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung Professorin Jutta Allmendinger Ph.D. 10785 Berlin Reichpietschufer 50 Telefon 030-25 49 10 Telefax 030-25 49 16 84 Internet: www.wzb.eu Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr (März, Juni, September, Dezember) Bezug gemäß § 63, Abs. 3, Satz 2 BHO kostenlos Redaktion Dr. Paul Stoop (Leitung) Andrea Lietz-Schneider Claudia Roth Kerstin Schneider Korrektorat Udo Borchert Dokumentation Ingeborg Weik-Kornecki Mitarbeit Beauftragte der WZB-Schwerpunkte: Christoph Albrecht Babette Hagemann Alice Hohn Christian Rabe Editha von Colberg Texte in Absprache mit der Redaktion frei zum Nachdruck Auflage 11.000 Abonnements: presse@wzb.eu Fotos S. 5 und S. 62: David Ausserhofer Gestaltung Kognito Gestaltung, Berlin Satz und Druck Bonifatius GmbH, Druck · Buch · Verlag, Paderborn 4 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 – Arbeit und Arbeitsmarkt – Bildung und Ausbildung – Sozialstaat und soziale Ungleichheit – Geschlecht und Familie – Public Health – Industrielle Beziehungen und Globalisierung – Wettbewerb, Staat und Corporate Governance – Innovation, Wissen(schaft) und Kultur – Mobilität und Verkehr – Migration, Integration und interkulturelle Konflikte – Demokratie – Zivilgesellschaft – Internationale Beziehungen – Governance und Recht Gegründet wurde das WZB 1969 auf Initiative von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Gut Ding will Weile haben Eine Kommission trifft sich. Fünf Wissenschaftler sind angereist. Binnen drei Minuten haben sie sich einstimmig entschieden und machen sich auf den Rückweg. Mehrere Stunden investierte Reisezeit ist noch nicht alles. Fünf weitere Forscher haben Gutachten für die Kommissionsmitglieder geliefert. Insgesamt umfasst die Akte 40 Seiten, sorgfältig verfasst, von der Kommission aufmerksam gelesen, eingeordnet, bewertet. Der Kommissionsvorsitzende schätzt den Gesamtwert des Verfahrens auf 10.000 Euro. Wurde eine Universitätsprofessur besetzt? Nein, es ging um die Zwischenevaluation einer Juniorprofessorin, die nach einem sehr aufwendigen Verfahren vor gerade mal drei Jahren berufen wurde. Jetzt lautete die Frage, ob sie drei weitere Jahre lehren und forschen darf, befristet, ohne Aussicht auf eine Dauerstelle. Es gibt über 1.200 Juniorprofessuren in Deutschland. Der Wissenschaftsrat hat gerade seine Empfehlungen zur Bewertung und Steuerung von Forschungsleistung verabschiedet. Evaluation und Rechenschaft seien wichtig, heißt es da, aber Aufwand und Ertrag müssten in einem „angemessenen Verhältnis“ stehen. Dies ist in dem geschilderten Beispiel nicht der Fall. Die Evaluationspraxis der Leibniz-Gemeinschaft kommt dieser vernünftigen Maxime schon näher. Alle sieben Jahre werden Institute inhaltlich, forschungspolitisch und administrativ durchleuchtet. Das schafft Transparenz und hilft der Organisation, den Forschungsgruppen, den Wissenschaftlern. Man denkt über sich nach, legt sich und anderen Rechenschaft ab und hat Zeit zur Veränderung. Das WZB hat diesen Prozess gerade erneut durchlaufen. Und erfahren, dass die Empfehlungen der letzten Evaluation vor sieben Jahren eine große Hilfe waren (S. 48-49). Junge Forscherinnen und Forscher haben eine ähnlich lange Frist verdient. Dadurch würde viel Zeit gewonnen – für die Forschung. Jutta Allmendinger WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 5 Ungleichheit. (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Artikel 3, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) 6 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Arm, ärmer, am ärmsten Menschen mit niedrigem Einkommen steigen immer häufiger ab Martin Ehlert und Jan Paul Heisig Seit einigen Jahren beobachten Forscher einen stetigen Anstieg der sozialen Ungleichheit in Deutschland – ein Trend, der sich in einer wachsenden Armutsquote manifestiert. Auch in der Mittelschicht nimmt – ausgelöst durch die sozialpolitischen Reformen der letzten Jahre – die Angst vor dem Abstieg zu. Weil andauernde Arbeitslosigkeit heute schnell zum Arbeitslosengeld-II-Bezug führen kann, ist der Abstieg für die Mittelschicht ein realistisches Szenario und ein wichtiges Thema in öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussionen geworden. Die Auseinandersetzung über das potenzielle Abrutschen der Mittelschicht gehört aber auch zu einer allgemeinen Debatte über die Verteilung von Risiken in westlichen Gesellschaften. Deren Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen in allen Industrienationen zu einer Destabilisierung individueller (Erwerbs-)Biographien geführt haben: der Wertewandel, die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, die Deindustrialisierung, der Anstieg der Beschäftigung im Dienstleistungssektor und wohlfahrtstaatliche Reformen. Uneinigkeit herrscht in der Frage, wie sich diese Entwicklungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen ausgewirkt haben. Die eine Seite ist der Auffassung, dass Risiken heute in stärkerem Maße alle Gesellschaftsmitglieder gleich treffen. So hat beispielsweise Ulrich Beck bereits in seinem 1986 erschienenen Band „Risikogesellschaft“ eine Auflösung der klassischen sozialen Schichtung durch die „Demokratisierung von Risiken“ konstatiert. Auch die Vorstellung einer zunehmenden Prekarisierung der Gesellschaft folgt dieser Argumentationslinie: Kaum jemand in der heutigen Gesellschaft sei mehr vor unsicheren Verhältnissen geschützt. Dem gegenüber steht die Vorstellung, dass die Ent wicklungen eher noch zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheiten geführt haben, da sich die Risiken auf kleinere, benachteiligte Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Dieser Auffassung zufolge ist eher von einer Kumulation von Nachteilen und einer Verfestigung der Sozialstruktur auszugehen. Summary: As social inequality increases, even the middle class fears downward mobility. However, over the last 25 years, the risk of falling into poverty has developed differently for high- and low-income groups. The poverty entry risk climbed from about 10 to about 15 per cent among the lower income group while it remained constantly low for the middle and upper income groups. Kurzgefasst: Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt zu, auch der Mittelstand befürchtet den Abstieg. Doch in den verschiedenen Einkommensschichten hat sich die Wahrscheinlichkeit zu verarmen über die letzten 25 Jahre sehr unterschiedlich entwickelt. Die Verarmungsquote stieg in den unteren Einkommensschichten von ca. 10 auf ca. 15 Prozent, während sie für die mittlere und die obere Einkommensschicht gleichmäßig niedrig geblieben ist. Einen Beitrag zur empirischen Fundierung der Diskussion kann eine Untersuchung der Verarmungsrisiken verschiedener Einkommensschichten seit den 1980er Jahren leisten. Dazu wurden in der WZB-Abteilung Ungleichheit und soziale Integration Daten von Längsschnittstudien wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, die eine große Zahl individueller Einkommensverläufe enthalten. Zunächst stellt sich die Frage, wie sich Mittelschicht und andere Schichten voneinander abgrenzen lassen. Einen Anhaltspunkt bietet das bedarfsgewichtete Nettohaushaltseinkommen. Durch die Bedarfsgewichtung soll das Einkommen von Mehrpersonenhaushalten mit dem von Einpersonenhaushalten vergleichbar gemacht und damit zumindest annähernd der Lebensstandard der Haushaltsmitglieder abgebildet werden. Die Zuordnung zu den Einkommensschichten basiert auf dem Median der Einkommensverteilung. Medianeinkommen bedeutet: Eine Hälfte der Bevölkerung hat ein Einkommen zur Verfügung, das kleiner, die andere Hälfte ein Einkommen, das größer als das Medianeinkommen ist. Zur Mittelschicht gehören Menschen, deren Einkommen zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens liegt. In den letzten Jahren betrug das bedarfsgewichtete Medianeinkommen WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 7 etwa 1.500 Euro im Monat. Dementsprechend werden Beschäftigte mit einem Einkommen zwischen etwa 1.200 und 2.250 Euro der Mittelschicht zugerechnet. Menschen mit einem Einkommen unterhalb von 80 Prozent des Medians gehören zur unteren Einkommensschicht; wer ein Einkommen von mehr als 150 Prozent des Medians hat, wird zur oberen Einkommensschicht gezählt. Nach dieser Definition gehört etwa die Hälfte der Bevölkerung der Mittelschicht an. Die andere Hälfte verteilt sich in etwa zu 30 Prozent auf die untere Schicht und zu 20 Prozent auf die obere Schicht. [Foto: Ingeborg Weik-Kornecki] Martin Ehlert studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, in Osnabrück und Örebro (Schweden). Seit April 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. Er forscht über die finanziellen Folgen von Arbeitsplatzverlusten im deutschamerikanischen Vergleich. ehlert@wzb.eu Der Begriff „Schicht“ schließt etwas Dauerhaftes mit ein. Daher werden in der Analyse nur die Menschen berücksichtigt, die zwei Jahre hintereinander in derselben Einkommensschicht waren. Abstiege werden ebenfalls anhand des bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens definiert: Ein Abstieg liegt vor, wenn das Einkommen die Armutsrisikoschwelle in Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens unterschreitet. Für einen Teil der unteren Einkommensschicht ist ein weiterer Abstieg nicht mehr möglich, weil ihr Einkommen bereits unterhalb der Armutsrisikoschwelle liegt. Menschen aus der unteren Einkommensschicht werden in der Analyse daher nur berücksichtigt, wenn sie zwei Jahre oberhalb der Armutsrisikoschwelle gelebt haben, ihr Einkommen also zwischen 60 und 80 Prozent des Medians betrug. Das trifft im Schnitt auf ungefähr 40 Prozent aus dieser Schicht zu. niedrige Einkommensschicht mittlere Einkommensschicht hohe Einkommensschicht Verarmungsquote 20 % 15 % 10 % 5% 0% ´84 ´85 ´86 ´87 ´88 ´89 ´90 ´91 ´92 ´93 ´94 ´95 ´96 ´97 ´98 ´99 ´00 ´01 ´02 ´03 ´04 ´05 ´06 ´07 Entwicklung der Verarmungsquote für verschiedene Einkommensschichten (1984-2007) Quelle: SOEP, eigene Berechnungen Betrachtet man, wie sich der Abstieg in die Armut in den verschiedenen Einkommensschichten über die Zeit entwickelt hat, wird deutlich, dass Menschen in der untersten Einkommensschicht deutlich häufiger unter die Armutsschwelle geraten als diejenigen in den anderen Einkommensschichten. Über 10 Prozent der Beschäftigten mit niedrigem Einkommen werden im Schnitt innerhalb eines Jahres arm; sie haben also weniger als ca. 900 Euro zur Verfügung. Aus der Mittelschicht steigen dagegen durchschnittlich nur ungefähr 2 Prozent ab; wer ein höheres Einkommen hat, ist so gut wie nie betroffen. Dies ist zunächst nicht verwunderlich, da die untere Schicht schon sehr viel näher an der Armutsschwelle ist und schon geringe Einkommensverluste einen Abstieg hervorrufen können. Um auszuschließen, dass die Ergebnisse von kleinen Einkommensschwankungen beeinflusst werden, wird ein Abstieg nur dann miteinbezogen, wenn er mit einem substanziellen Einkommensverlust von mindestens 10 Prozent einhergeht. Diese erste Betrachtung macht bereits deutlich, dass Abstiegsrisiken deutlich ungleich verteilt sind: Die Mittelschicht und die Oberschicht sind nur äußerst selten betroffen. Das Abstiegsrisiko der unteren Einkommensschicht unterliegt zudem deutlichen Schwankungen, die grob den Konjunkturverlauf spiegeln. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sich in dieser Gruppe besonders viele niedrig Gebildete und atypisch Beschäftigte finden, deren Entlassungsrisiko 8 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 stark von der konjunkturellen Lage abhängt. Für die eingangs skizzierte Debatte wichtiger ist allerdings die Frage, ob – und wenn ja, für welche Einkommensschichten – eine Zunahme von Abstiegsrisiken erkennbar ist, die über vorübergehende konjunkturbedingte Schwankungen hinausgeht. Hier zeigt die Analyse, dass das Verarmungsrisiko nur für die untere Einkommensschicht klar angestiegen ist. Bis zum Ende der 1990er Jahre schwankte die Verarmungsquote dort konjunkturabhängig um etwa 10 Prozent. Danach allerdings ist eine deutliche Steigerung auf zuletzt etwa 15 Prozent festzustellen. In den anderen Schichten hingegen gibt es keine Veränderungen. Die Befunde stützen die These vom Abrutschen der Mittelschicht in die Armut nicht: Das Abstiegsrisiko hat in den letzten 25 Jahren ausschließlich für Haushalte mit einem niedrigen Einkommen zugenommen. Deren Lage ist deutlich unsicherer geworden, während die Mittelschicht über den gesamten Zeitraum annähernd in gleich sicheren Verhältnissen leben konnte. Der Anstieg der Armutsquote speist sich also vor allem aus niedrigen Einkommensschichten. Zusammen mit dem Ergebnis des Datenreports 2011, dass tendenziell immer weniger Personen der Armut entkommen, ergibt sich eine Verfestigung von Einkommensarmut. Wie kann diese Entwicklung erklärt werden? Eine erste Vermutung ist, dass diese Muster mit Veränderungen in der Sozialpolitik zusammenhängen. Allerdings fällt der Anstieg der Abstiegsquote von Niedrigeinkommenbeziehern nicht mit der vierten Hartz-Reform von 2005 zusammen. Zudem trifft die in dieser Reform durchgesetzte Entkopplung der Leistungen für Langzeitarbeitslose vom bisherigen Lohn eher Beschäftigte mit einem mittleren Einkommen als solche mit geringem Einkommen. Nun könnte man einwenden, dass die Abstiegsprozesse schrittweise von der Mittelschicht in die untere Schicht und dann in Armut verlaufen. Doch da sich die Analyse auf Beschäftigte bezieht, die sich seit mindestens zwei Jahren in einer Einkommensschicht befinden, tauchen solche Abstiegszenarien in der Analyse nicht auf. Weitere Analysen zeigen allerdings, dass auch verzögerte Abstiege aus der Mittelschicht nach den Reformen nicht häufiger vorkommen als vorher. Eine plausiblere Erklärung scheint die Veränderung der Arbeitsmarktstruktur in Deutschland zu sein. Studien zu den bildungsspezifischen Arbeitsmarktchancen zeigen, dass sich diese in den letzten 20 bis 30 Jahren vor allem für Beschäftigte ohne berufsqualifizierenden Abschluss verschlechtert haben. Sie müssen häufiger als früher den Arbeitgeber wechseln und sind auch öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommt, dass die Lohnungleichheit im Zeitverlauf deutlich zugenommen hat. Während Löhne am oberen Ende der Verteilung stiegen, gingen die Reallöhne im unteren Bereich sogar deutlich zurück. Während Geringqualifizierte in den 1980er Jahren also noch häufig ein vergleichsweise risikoarmes Leben im unteren Einkommensbereich führen konnten, sind sie heute stärker abstiegsgefährdet. Die Ergebnisse der Analyse deuten darauf hin, dass es eher eine Kumulation von Risiken in den unteren Schichten gibt als eine allgemeine Prekarisierung großer Teile der Gesellschaft. Der Blick sollte also eher auf bereits benachteiligte Schichten der Gesellschaft als auf die Mittelschicht gerichtet werden. Hier vollziehen sich offenkundig Prozesse, die ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft hervorrufen. [Foto: David Ausserhofer] Jan Paul Heisig studierte Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin und an der Universität Stanford (USA). Seit September 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. In seiner Dissertation untersucht er die späte Erwerbskarriere und die finanziellen Konsequenzen des Renteneintritts im deutsch-amerikanischen Vergleich. heisig@wzb.eu Literatur Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hg): Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011. Dustmann, Christian/Ludsteck, Johannes/Schönberg, Uta: „Revisiting the German Wage Structure“. In: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 124, No. 2, 2009, S. 843-881. Giesecke, Johannes/Heisig, Jan Paul: „Destabilisierung und Destandardisierung, aber für wen? Die Entwicklung der westdeutschen Arbeitsplatzmobilität seit 1984“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 62, Heft 3, 2010, S. 403-435. Giesecke, Johannes/Wotschack, Philip: Flexibilisierung in Zeiten der Krise: Verlierer sind junge und gering qualifizierte Beschäftigte. WZBrief Arbeit 01 / Juni 2009. Berlin: WZB 2009. Lengfeld, Holger/Hirschle, Jochen: „Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg“. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 38, Heft 5, 2009, S. 379-398. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 9 Männer klar im Vorteil Frauen tragen bei einer Trennung weiterhin die finanzielle Hauptlast Anke Radenacker Summary: A comparison of the financial consequences of family break-up over time shows that women still carry the financial burden. Despite increases in women’s participation in the work force, they are unable to compensate for the loss of the income the male breadwinner used to provide. Existing incentives for women’s exit from the labor market when starting a family are to some extent responsible for a hindered re-entry into employment upon separation. Kurzgefasst: Ein Zeitvergleich der wirtschaftlichen Folgen von Familientrennung zeigt, dass Frauen weiterhin die finanzielle Hauptlast tragen. Auch die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen kann die Einkommensverluste durch die Trennung vom männlichen Hauptverdiener nicht ausgleichen. Frauen mit Kindern haben es nach einer Trennung nach wie vor schwer, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das hat auch damit zu tun, dass ihnen der Ausstieg aus dem Erwerbsleben bei der Familiengründung durch verschiedene Anreize sehr leicht gemacht wird. Immer weniger Geburten und immer weniger Hochzeiten, dafür immer mehr Scheidungen: Die Familienstrukturen in Deutschland und ganz Europa haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Seitdem ist das Trennungsrisiko in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Blieben die heutigen Scheidungsverhältnisse gleich, würde in den kommenden 25 Jahren jede dritte der im Jahr 2009 geschlossenen Ehen wieder geschieden. Gegenwärtig sind bei rund jeder zweiten Scheidung minderjährige Kinder betroffen, in 90 Prozent der Fälle leben sie nach der Trennung bei der Mutter. Die Veränderungen haben dazu geführt, dass heute mehr Menschen von einer Trennung betroffen sind als jemals zuvor. In einem DFG-geförderten Forschungsprojekt am WZB wird auf der Grundlage von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) erforscht, welche wirtschaftlichen Folgen zentrale Lebensereignisse wie Familientrennung, aber auch Arbeitsplatzverlust, Krankheit und Renteneintritt im Lebensverlauf für betroffene Haushalte haben. Es ist ein bekanntes Ergebnis vorangegangener Forschung, dass die finanziellen Folgen einer Trennung für Männer und Frauen unterschiedlich sind, dass also das Geschlecht eine Dimension sozialer Ungleichheit ist. Unter dem Eindruck einer Ausweitung familienpolitischer Leistungen stellt sich aktuell aber vor allem die Frage nach der Entwicklung der Einkommensverluste für Frauen und Männer im Verlauf der Zeit. Trennung einer Familie bedeutet hier, dass ein Elternteil aus einem gemeinsamen Haushalt auszieht, in dem zu diesem Zeitpunkt mindestens ein Kind lebt, das nicht älter als 14 Jahre ist. Dabei ist es unerheblich, ob das Paar verheiratet oder unverheiratet ist. Die finanzielle Situation bemisst sich am Haushaltsnettoeinkommen auf Jahresbasis. Dieses Einkommen wird gewichtet, damit die Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe verglichen werden können. Ermittelt werden die finanziellen Veränderungen im Jahr der Trennung sowie in den folgenden vier Jahren gegenüber dem durchschnittlichen Einkommen der drei Jahre vor der Trennung. Dies gibt die relativen Unterschiede gegenüber den Einkommensverhältnissen der Vortrennungsjahre wieder. Die folgende Darstellung umfasst Familientrennungen zwischen 1987 und 2005. Dieser Zeitraum wird für den Zeitvergleich in drei Abschnitte unterteilt: von 1987 bis 1992, von 1993 bis 1999 und von 2000 bis 2005. Die Ergebnisse entsprechen zunächst den bekannten Befunden der Scheidungsforschung: Frauen tragen weiterhin die finanzielle Hauptlast einer Trennung, während Männer nach wie vor keine bedeutenden Einkommensverluste hinnehmen müssen. Im Gegenteil, Männer profitieren sogar von einer Trennung bzw. Scheidung, wenn es um das Haushaltsnettoeinkommen geht. Grund dafür ist das in Deutschland weiter vorherrschende Haupternährermodell: Nach einer Trennung haben die Männer nämlich nicht mehr im gleichen Umfang die Ex-Partnerin und Kind(er) zu versorgen und büßen gleichzeitig durch den Verlust der in den meisten Fällen höchstens teilzeitbeschäftigten Partnerin kaum Einkommen ein. Da es fast ausschließlich die Mütter sind, die nach der Trennung die gemeinsamen Kinder betreuen, können Väter unverändert oder sogar intensiver als zuvor erwerbstätig sein. So steigt das Haushaltsnettoeinkommen von Männern nach der Trennung um bis zu 25 Prozent – selbst wenn Unterhaltszahlungen berücksichtigt werden, deren Höhe die Männer selbst angeben. Teilweise arbeiten Männer nach einer Trennung mehr als vorher. Gleichzeitig kommen diese relativen Gewinne aber auch rechnerisch zustande, weil von dem in etwa gleichbleibenden 10 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Erwerbseinkommen des Mannes nach der Trennung weniger Menschen versorgt werden müssen. Dadurch haben die Männer mehr Einkommen für den eigenen Bedarf zur Verfügung. Zu erwähnen ist allerdings, dass bei der Untersuchung – abgesehen von Unterhaltszahlungen – lediglich die Einnahmenseite berücksichtigt werden kann. Über die trennungs- und scheidungsbedingten Ausgaben wie Anwaltskosten oder Kosten für die doppelte Haushaltsführung stehen keine Informationen zur Verfügung, weder für die Männer noch für die Frauen. Frauen geht rund die Hälfte des Haushaltseinkommens verloren, wenn der Familienernährer auszieht. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die relativen Einkommensverluste für die Frauen im Trennungsjahr eher geringer geworden sind – statt 47 Prozent in der ältesten Trennungskohorte waren es für die aktuellste Trennungskohorte noch 42 Prozent. Allerdings erholen sich die Frauen in den Folgejahren der Trennung heute langsamer als früher von ihren Verlusten. Das Haushaltseinkommen von Frauen, die sich Ende der 1980er Jahre bis Anfang der 1990er Jahre getrennt hatten, erreichte bereits im dritten Jahr nach der Trennung fast das Ausgangsniveau. Trennungen in den 1990er und 2000er Jahren zogen auch im vierten Jahr nach dem Auszug des Partners noch bedeutende Einkommensverluste für Frauen nach sich. Bis zu einem Viertel des ursprünglichen Einkommens bleibt für getrennt lebende Frauen der 2000er Jahre dauerhaft verloren. [Foto: David Ausserhofer] Anke Radenacker, Diplom-Demographin, ist seit April 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. Sie arbeitet im Projekt „Die wirtschaftlichen Folgen zentraler Lebensrisiken in Deutschland und den USA und ihre Entwicklung seit den 80er Jahren“ und forscht über den Sozialstaat und Familie. radenacker@wzb.eu Welche Strategien verfolgen alleinerziehende Mütter, um die Verluste zu kompensieren? Und wie erfolgreich sind diese Strategien, inwiefern haben sie sich über die Zeit verändert? Können damit auch die dauerhaften Einkommensverluste der aktuelleren Kohorten erklärt werden? Immer mehr Frauen und vor allem Mütter sind erwerbstätig – weshalb zu erwarten wäre, dass sich das Haushaltseinkommen von Frauen im Laufe der Zeit vom Einbruch nach einer Trennung erholt. Tatsächlich aber ist die Frauenerwerbsquote in erster Linie dadurch gestiegen, dass es immer mehr Teilzeit- und geringfügige Beschäftigungen gibt. Das Arbeitsvolumen ist derweil sogar gesunken. Analysen des Erwerbsverhaltens von Müttern nach einer Trennung zeigen, dass Frauen im Schnitt durchaus ihr individuelles Arbeitsvolumen im Zeitverlauf erhöht haben. Frauen der ältesten Trennungskohorte, die sich also zwischen 1987 und 1992 trennten, senkten die Zahl ihrer Arbeitsstunden sogar. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich Beruf und Familie damals noch schwerer vereinbaren ließen als heute. Die folgenden beiden Kohorten arbeiteten nach einer Trennung mehr, mit steigender Tendenz. Dies kann aber die finanziellen Verluste durch den Wegfall des Einkommens des Mannes nicht ausgleichen. Die steigende Erwerbsquote von Frauen könnte sich aus finanzieller Sicht im Scheidungsfall sogar mehr und mehr negativ ausgewirkt haben, und zwar nicht erst durch die jüngsten Änderungen im Unterhaltsrecht. Denn der Anspruch auf Ehegattenunterhalt nach der Scheidung orientiert sich unter anderem daran, ob die Erwerbstätigkeit der Mutter im Hinblick auf ihre Qualifikation und die Kinderbetreuung als zumutbar angesehen wird. Erwerbstätigkeit während der Ehe und die damit bereits vorhandene Kinderbetreuung durch Dritte können dann als Grund gesehen werden, auch nach der Scheidung eine Erwerbstätigkeit als zumutbar einzuschätzen. Im Vergleich zur sogenannten Hausfrauenehe ist dies für die Frauen mit geringeren Aussichten auf Ehegattenunterhalt verbunden. Neben rein rechtlichen Ansprüchen ist aber letztlich ausschlaggebend, ob diese Ansprüche tatsächlich geltend gemacht werden. Um Streit zu vermeiden, aber auch im Streben nach Unabhängigkeit verzichtet eine Reihe von Frauen auf Unterhalt vom Ex-Partner. Ein verändertes Haushaltseinkommen in den Jahren nach der Trennung kann auch aus einer sich verändernden Haushaltszusammensetzung resultieren. Frauen ziehen nach einer Trennung vielleicht wieder mit einem neuen Partner zusammen und verbessern dadurch die Einkommenssituation ihres Haushalts. Tatsächlich hat sich auch das nacheheliche Partnerschaftsverhalten im Laufe der Zeit verändert – ein Hinweis darauf ist, dass heute weniger Geschiedene als früher wieder heiraten. Zum einen mag die finanzielle Notwendigkeit eines männlichen Familienernährers durch die wachsende wirtschaftliche Selbstständigkeit von Frauen abgenommen haben. Gleichzeitig sind Geschiedene und WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 11 Alleinerziehende heute weniger stigmatisiert als früher. Ein weiterer Grund für die anhaltenden Einkommenseinbußen könnte sein, dass es immer mehr nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern gibt, in denen sich die Partner trennen. Frauen in diesen Lebensgemeinschaften weisen zwar eine höhere Erwerbsbeteiligung auf – sowohl die Frauenerwerbsquote als auch der Anteil in Vollzeit erwerbstätiger Frauen ist höher. Andererseits haben sie allein aufgrund des Familienstandes geringere Unterhaltsansprüche als vormals Verheiratete, was sich wiederum im Haushaltseinkommen bemerkbar macht. Die Zusammensetzung des Haushaltseinkommens als Mix aus Arbeitseinkommen, staatlichen und privaten Transfers sowie die sich verändernde Zusammensetzung von Haushalten verdeutlichen die Komplexität der Einkommensverhältnisse, wenn es zu einer Trennung kommt. Weiter verkompliziert wird dies durch die Tatsache, dass heute zwar mehr Frauen als früher erwerbstätig sind, jedoch häufiger nur in Teilzeit arbeiten. Dass sich das Partnerschaftsverhalten nach der Trennung verändert und es immer mehr nichteheliche Lebensgemeinschaften gibt, tut ein Übriges. Nicht zuletzt verdeutlichen die familienpolitischen Maßnahmen seit den 1980er Jahren, wie schmal der Grat zwischen einer Anerkennung von Familienleistungen in Form von Geld oder Zeit einerseits und negativen Anreizen zu traditioneller Arbeitsteilung mit abgeleiteten Versorgungsansprüchen andererseits ist. So mag die Betonung der Eigenverantwortung im neuen Unterhaltsrecht – im Sinne abnehmender finanzieller Verpflichtungen gegenüber ExPartnerinnen, nicht aber gegenüber den gemeinsamen Kindern – zwar ein Weg zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Müttern sein. Andererseits sind die betroffenen Haushalte dadurch zunächst finanziell schlechter gestellt. Denn das Ehegatten-Splitting, der Versorgungsausgleich und großzügige Elternzeit-Regelungen verleiten Frauen bei der Familiengründung zum Rückzug vom Arbeitsmarkt. Der Wiedereinstieg wird ihnen dann später durch mangelnde Möglichkeiten zur Kinderbetreuung und die Diskriminierung von Müttern erschwert. Bricht dann die Partnerschaft auseinander, haben es Frauen mit Kindern ausgesprochen schwer, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Literatur Radenacker, Anke: „Economic Consequences of Family Break-up. Income Before and After Family Break-up of Women in Germany and the United States“. In: Schmollers Jahrbuch, Vol. 131, No. 2, 2011, S. 225-234. Demografie und Ungleicheit: Neue Projektgruppe am WZB Wie hängen demografische Entwicklung und soziale Ungleichheit zusammen? Haben Veränderungen der Bevölkerungsstruktur Einfluss auf die Verteilung von Wohlstand innerhalb von Gesellschaften? Diese und andere Fragen werden seit 1. August 2011 in der neuen Projektgruppe Demografie und Ungleichheit untersucht. Deren Leitung hat Anette Fasang, Juniorprofessorin der Humboldt-Universität zu Berlin, übernommen. Die gebürtige Düsseldorferin (mit amerikanischem und ungarischem Pass) studierte Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Jacobs University Bremen und der Yale University in New Haven. 2008 12 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 wurde sie in Bremen mit einer Arbeit über „Geschlechterungleichheit in der Rente in Deutschland und Großbritannien“ promoviert. Vor ihrem Wechsel nach Berlin verbrachte sie drei Jahre als Postdoktorandin an der Yale und der Columbia University. Die Gruppe untersucht zunächst in mehreren Projekten den Zusammenhang von Familienbildung, Fertilität und sozialer Ungleichheit – zum Beispiel die Familienbildung in Ost- und Westdeutschland vor und nach der Wende oder die Vereinbarkeit von Familiengründung und Berufseinstieg in Deutschland und den USA. Ein weiterer Schwerpunkt der Projektgruppe ist die Analyse intergenerationaler Beziehungen. Das Forschungsprogramm der Projektgruppe folgt einem lebenslauftheoretischen Ansatz und ist international vergleichend ausgerichtet. Draußen vor der Tür Exklusion auf dem Berliner Wohnungsmarkt Christine Barwick Wie und wo Menschen wohnen, kann großen Einfluss darauf haben, wie gut sie in ihr Umfeld und letztlich in die Gesellschaft insgesamt integriert sind. Doch nicht jeder kann völlig frei über seine Wohnsituation bestimmen. Wie im Einzelnen bestimmte Mechanismen bei der Wohnungsvergabe den Zugang zum Wohnungsmarkt nach sozialen Kriterien beeinflussen, wurde in einem Berliner Forschungsprojekt untersucht. Analysiert wird die Arbeit von städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin, die vor allem für die Vergabe von Sozialwohnungen zuständig sind. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage, in welche gesellschaftlichen Kategorien Mitarbeiter dieser Unternehmen Wohnungsbewerber einordnen und ob Menschen aus bestimmten Kategorien bei der Wohnungsvergabe benachteiligt werden. Ausgangspunkt war die These des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Charles Tilly. Dieser hat gezeigt, dass Kategorisieren soziale Ungleichheit begünstigt. Für den Wohnungsmarkt hieße das konkret: Wird jeder Wohnungssuchende tatsächlich als Wohnung suchender Mensch gesehen oder primär als Einheimischer oder Migrant, als Mann oder Frau, als Christ oder Muslim – und je nach Einordnung begünstigt oder benachteiligt? Summary: Social inequality is (re)produced through the application of categories. If people are assigned to certain groups, this can – for example – speed up work procedures. Research in three Berlin social housing associations supports this hypothesis. The central question is: do employees of these housing associations consider applicants for housing really as human beings in search of an apartment, or are these applicants primarily seen as natives or migrants, men or women, Christians or Muslims – and are they favored or disadvantaged along these categories? Die Grundlage der Untersuchung bilden leitfadengestützte Interviews mit insgesamt sieben Angestellten dreier städtischer Wohnungsbaugesellschaften. Die Interviews fanden jeweils in einem Innenstadt- sowie einem Randbezirk-Büro statt. Außerdem wurde die Arbeit von Angestellten von zwei dieser Wohnungsbaugesellschaften, zuständig für die Wohnungsvergabe in Kreuzberg und Wedding, jeweils einen Tag lang beobachtet. Kurzgefasst: Werden Menschen – etwa weil es Arbeitsabläufe erleichtert – in Kategorien eingeordnet, so kann dies zu sozialer Ungleichheit führen oder diese verstärken. Dies belegt eine Untersuchung von drei städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin. Hier stellte sich ganz konkret die Frage: Wird jeder Wohnungssuchende tatsächlich als Wohnung suchender Mensch gesehen oder primär als Einheimischer oder Migrant, als Mann oder Frau, als Christ oder Muslim – und je nach Einordnung begünstigt oder benachteiligt? Organisationen wie die Wohnungsbaugesellschaften und deren Mitarbeiter fungieren als sogenannte Torwächter oder gatekeeper des Wohnungsmarkts. Sie können den Zugang zu Wohnraum kontrollieren, damit in letzter Konsequenz die sozial-räumliche Struktur der Stadt mit prägen – und so auch soziale Ungleichheit beeinflussen. Mit Blick auf soziale Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt macht der Geograf Fred Gray deutlich, dass „it is necessary to distinguish between the privileged and the excluded or disqualified, in terms of the constraints placed upon households by the organizations which allocate housing“. Viele Studien, die sich mit den Torwächtern des Wohnungsmarkts beschäftigen, stellen diese schlicht als diskriminierend dar. Hier wird jedoch diese verengte Perspektive erweitert. Die zentrale These lautet: Auch die politischen Rahmenbedingungen und die Arbeitsabläufe in der Wohnungsbaugesellschaft als Institution können dazu führen, dass sich soziale Ungleichheit verfestigt. Ein erster Mechanismus, der die Wohnungsvergabe im sozialen Wohnungsbau beeinflusst, resultiert aus stadtpolitischen Rahmenbedingungen. In Berlin beispielsweise finden Hartz-IV-Empfänger, die stark auf den sozialen Wohnungsbau angewiesen sind, oft nur mit größter Mühe eine Wohnung. Denn in der Hauptstadt liegt die Obergrenze für Mieten, die das Jobcenter übernimmt, unterhalb des Preisniveaus der meisten Sozialwohnungen. Grund sind Regeln aus den Anfangszeiten des sozialen Wohnungsbaus, die eine jährliche Zuschusskürzung durch die Stadt Berlin vorsehen. Diese Verluste lassen sich die Vermieter von den Mietern ausgleichen – durch höhere Mieten. Sozialer Wohnungsbau kann in der Hauptstadt daher mittlerweile nicht mehr mit geringen Mieten gleichgesetzt werden. Die Wohnungsbaugesellschaften können diesem Problem begegnen, indem sie auf einen Teil der Miete verzichten – was für die Unternehmen natürlich ein WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 13 Verlustgeschäft ist. Denn die Miete, die von der Stadt festgelegt wird, muss in jedem Fall an die Stadt abgeführt werden, notfalls zum Teil aus dem eigenen Etat der Gesellschaften. Eine Mietreduktion wird daher nur in bestimmten Fällen zugelassen: Der Mietbewerber muss eine Arbeit haben oder sich zumindest arbeitswillig zeigen. Zudem darf er keine Mietschulden haben und braucht ein gutes Mietzeugnis vom letzten Vermieter. Nur ein Armer, der es auch „verdient“, bekommt also eine Sozialwohnung durch Mietreduktion. In attraktiven Innenstadtlagen, in denen die Nachfrage hoch ist, sind solche Reduktionen jedoch die Ausnahme. [Foto: David Ausserhofer] Christine Barwick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung im Projekt „Citizenship Rights for Immigrants“. Sie promoviert in Stadtsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund. barwick@wzb.eu Auch die Gebietsfreistellung ist ein Mechanismus, der zur Exklusion führen kann. Gebietsfreistellung bedeutet, dass Bewerber seit 2002 in bestimmten Siedlungen und Bezirken keinen Wohnberechtigungsschein mehr brauchen, außerdem ist die Fehlbelegungsabgabe weggefallen. Das heißt, dass jeder einkommensunabhängig eine Wohnung des sozialen Wohnungsbaus mieten kann. In Gegenden wie Kreuzberg führt das dazu, dass der verfügbare Wohnraum für Geringverdiener oder Hartz-IV-Empfänger knapp wird – kurzum, die Gebietsfreistellung schränkt den verfügbaren Wohnraum für traditionelle Mieter des sozialen Wohnungsbaus ein. Die interviewten gatekeeper nutzen diesen Spielraum und bevorzugen Berufstätige. Exemplarisch ist ein Beispiel, das Petra Becker (alle Namen wurden geändert), Mitarbeiterin einer für Kreuzberg zuständigen Wohnungsbaugesellschaft, anführt: „Wenn jetzt jemand [eine Einzelperson] sagt ‚Ich nehm’ jetzt die Dreizimmerwohnung‘, dann kann er die auch haben. Durch die Fehlbelegung wäre das ja gar nicht möglich gewesen (...) Das erleichtert uns auch die Auswahl der Bewerber.“ Die politischen Regeln für den sozialen Wohnungsbau der Stadt Berlin führen also dazu, dass die Kategorie Hartz-IVEmpfänger/arbeitslos der Kategorie Mensch mit eigenem Einkommen/ erwerbstätig gegenübergestellt wird. Arbeitslose bekommen kaum noch eine Wohnung in attraktiven Stadtlagen. Sie müssen sich häufig mit Wohnungen in heruntergekommenen Sozialbausiedlungen oder benachteiligten Quartieren zufrieden geben. Auch die Arbeitsabläufe innerhalb der Wohnungsbaugesellschaft fördern eine Kategorisierung der Bewerber. Wenn es beispielsweise darum geht, die Unterlagen zur Bewerbung um eine Wohnung zusammenzustellen, sind Hartz-IV-Empfänger von vornherein im Nachteil und damit schnell ausgegrenzt. Es gewinnen nämlich diejenigen, die am schnellsten die kompletten Unterlagen vorlegen können. Hierzu gehören der Personalausweis, eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung, Einkommensnachweise der letzten drei Monate, die Schufa-Auskunft sowie bei Migranten eine für mindestens ein Jahr gültige Aufenthaltsgenehmigung. Gerade für Hartz-IV-Empfänger ist das rasche Beschaffen der Unterlagen aber schwierig, denn sie sind auf die Kooperation ihres Jobcenters angewiesen: Dort müssen sie das Wohnungsangebot vorlegen, sich die Bewerbung auf diese Wohnung genehmigen und bestätigen lassen, dass die Miete übernommen wird. Dies nimmt einige Tage, häufig sogar bis zu zwei Wochen in Anspruch. Hannes Weber von der für Kreuzberg zuständigen Wohnungsbaugesellschaft beschreibt das so: „Oft ist es auch so, dass viele Probleme haben, auch die Unterlagen teilweise zusammenzustellen. Also manche brauchen vier Wochen, manche brauchen fünf Wochen. Solange warten wir natürlich nicht auf den, dass er die Wohnung bekommt, weil dann gibt’s ja auch noch andere.“ Diese Einstellung freilich läuft dem Sinn und Zweck des sozialen Wohnungsbaus zuwider – denn er hat ja den expliziten Auftrag, bezahlbaren Wohnraum speziell für sozial Schwächere bereitzustellen. Hartz-IV-Empfängern nicht mehr Zeit einzuräumen, sich auf eine Wohnung zu bewerben, schließt diese vom Wettbewerb um Wohnraum aus, erst recht, wenn es sich um Wohnraum in gefragten Lagen handelt. Wer über ein eigenes – und vorzugsweise gutes – Einkommen verfügt, hat wesentlich bessere Chancen, das Rennen zu machen. Das Einkommen spielt aber auch noch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle. Die Wohnungsbaugesellschaften setzen einen bestimmten Schwellenwert fest: Demnach sollen die Mieter nicht mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Das klingt zwar plausibel, kann aber gerade für ärmere Haushalte problematisch sein, denn bei geringem Einkommen ist die relative Mietbelastung automatisch 14 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 höher. Der Schwellenwert führt also zu einer noch stärker eingeschränkten Wohnungsauswahl für ökonomisch schwächere Haushalte. Nicht nur die stadtpolitischen Rahmenbedingungen und die Regeln der Wohnungsbaugesellschaft fördern das Kategorisieren. Auch die Mitarbeiter selbst tendieren dazu, ihre Kunden bestimmten Gruppen zuzuordnen und dementsprechend Wohnungen zu vergeben. Die Interviews machen deutlich, dass die vermeintlichen Interessen der deutschen Mieter die Mieterauswahl der interviewten gatekeeper beeinflussen. In attraktiven Gegenden wie Kreuzberg oder auch der Spandauer Altstadt wird, wie die Mitarbeiter selbst einräumen, darauf geachtet, dass keine weiteren Familien mit Migrationshintergrund in ein Gebäude einziehen. Jürgen Scholz, der für eine Wohnungsbaugesellschaft im Wedding arbeitet, sagt zur Mieterauswahl für eine attraktive Wohnanlage mit überwiegend deutscher Mieterschaft, „da würde ich zum Beispiel ’ne Dame mit Kopftuch ungern reinsetzen“. Bei der Wohnungsvergabe spielen also die Kategorien Migrant und Einheimischer eine Rolle, wobei die Interessen der deutschen Mieter der Maßstab sind. Wenn Migranten keine oder eine schlechtere Wohnung bekommen, um den Interessen der deutschen Mieter gerecht zu werden, so benachteiligt dies natürlich die Migranten – und verstärkt soziale Ungleichheit. Die Beobachtungen der Arbeit in den Büros zweier Wohnungsbaugesellschaften belegen, dass deutsche Kunden oft türkischen, arabischen oder afrikanischen vorgezogen wurden. Waren die Migranten zugleich Hartz-IV-Empfänger, hatten sie besonders schlechte Karten. Eine Mitarbeiterin sagte beispielsweise, ihrer Meinung nach hätten Hartz-IVEmpfänger kein Recht auf Wohnungen in Innenstadtlage. Sie fügte hinzu, HartzIV-Empfänger lebten oft über Generationen hinweg von staatlicher Unterstützung und bemühten sich gar nicht um Arbeit. Der Wunsch von Migranten etwa, in einer Gegend mit geringem Migrantenanteil zu wohnen, wird nicht immer ernst genommen. Wenn aber an Migranten vorzugsweise in Siedlungen oder Quartieren vermietet wird, in denen bereits viele weitere Migranten leben, führt dies letztendlich zu ethnischer Segregation und verstärkt wiederum soziale Ungleichheit. Viele Mitarbeiter von Wohnungsbaugesellschaften schätzen sich als Experten ein, wenn es darum geht, Mietinteressenten von vornherein bestimmten Kategorien wie beispielsweise „arbeitslos“ zuzuordnen. Auf die Frage, wie schnell er seine Kunden einordnen könne, antwortet Jürgen Scholz, der seit etwa einem Jahr bei seinem Unternehmen arbeitet: „Ja, man muss auch zwei, drei Worte sprechen mit den Leuten, dann kriegt man’s aber relativ schnell raus. Aber ich sag’ mal, der erste Eindruck trifft auf 50 Prozent zu oder vielleicht 60, 70 Prozent zu, und den Rest machen dann die nächsten zwei Minuten.“ Die Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie spiegelt sich im Umgang der Mitarbeiter mit den Kunden wider. Dies wurde bei den Beobachtungen deutlich, bei denen vermeintlich arbeitslose Mietinteressenten in einigen Fällen gar keine oder in anderen Fällen eine weniger ausführliche Beratung bekamen als Erwerbstätige. Die Aussagen und Beobachtungen deuten insgesamt darauf hin, dass bei der Wohnungsvergabe im sozialen Wohnungsbau in Berlin vor allem Kategorien zur Anwendung kommen, die Hartz-IV-Empfänger und Migranten benachteiligen. Dabei zeigt sich aber, dass dies nicht allein auf Vorurteile von Mitarbeitern der Wohnungsbaugesellschaften zurückzuführen ist; auch institutionelle Diskriminierung trägt wesentlich dazu bei. So führen etwa die Rahmenbedingungen durch die städtische Politik und das hohe Arbeitsaufkommen in den Wohnungsbaugesellschaften dazu, dass schnell kategorisiert wird – und bestimmte Gruppen dadurch benachteiligt werden. In letzter Konsequenz droht dies Hartz-IV-Empfänger und Migranten immer weiter in die Großbausiedlungen in den Randbezirken zu drängen, was letztendlich soziale Ungleichheit verstärkt. Literatur Gray, Fred: „Selection and Allocation in Council Housing“. In: Transactions of the British Geographers, New Series, Vol. 1, No. 1, 1976, S. 34-46. Lipsky, Michael: Street-Level Bureaucracy. Dilemmas of the Individual in Public Services. New York: Russell Sage Foundation 1980. Tilly, Charles: Durable Inequality. Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1998. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 15 Multicultural welfare politics Immigration mostly has no effect on welfare attitudes David Brady and Ryan Finnigan Kurzgefasst: In den vergangenen Jahren wurde immer wieder Besorgnis über die Auswirkungen von Einwanderung auf die Sozialpolitik geäußert. Eine zentrale Frage lautet, ob zunehmende Einwanderung dem Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern zum Sozialstaat schadet. Aktuelle Forschungsergebnisse am Beispiel von 17 entwickelten Demokratien zeigen, dass dem nicht so ist. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Einwanderung in einigen Fällen zu einer positiveren Einstellung zum Sozialstaat führt. Summary: In recent years, there has been increased concern about the consequences of immigration on social policy. One central question is whether rising immigration undermines the public’s belief about and attitudes toward the welfare state. Current research investigating 17 affluent democracies shows that immigration mostly has no effect on public support for the welfare state. There is even evidence that flows of immigration actually increase some welfare attitudes. In the past 15 years, there has been a surge in migration to the affluent democracies. For example, the percent foreign born more than doubled in Ireland and more than quadrupled in Spain over the last decade – rising to 14.8 percent of the population in Ireland and 10.6 percent in Spain. Of course, the rise of immigration has not been uniform across all affluent democracies. Only 3 percent of Finland and 1.6 percent of Japan were foreign-born in 2005. Even though Germany has a sizable foreign-born population, the percent foreign-born actually declined modestly from 12.9 to 11 percent from 1995 to 2005. The U.S. gets a lot of credit for being a “nation of immigrants,” but new immigrants actually amounted to a greater share of the population in 1996 than 2006. Thus, the most important change might actually be the remarkable diversity in the extent to which affluent democracies have experienced rising immigration. What are the consequences of this rising immigration for the politics of social policy? Scholars, commentators and politicians have presented a variety of claims for why immigration poses a serious challenge to the generous social policies of Europe and other countries. Our research challenges these claims and ultimately concludes that rising immigration does not undermine the welfare state. We specifically investigate what we call the “public support” for the welfare state – the public’s beliefs, preferences, and attitudes favoring social policies. The argument that immigration threatens the welfare state has emerged partly because countries with generous welfare states have traditionally been viewed as more ethnically homogenous than countries with weak welfare states. The best example of this is the U.S., with its thin social policies and greater ethnic heterogeneity. Scholars have demonstrated that ethnicity, race and religion were more important sources of identity than social class for Americans at the beginning of the 20th century. While workers in Europe were collectively mobilizing and pressuring governments to expand social insurance and healthcare, American workers were bitterly divided by race and religion. In her influential book The Color of Welfare, sociologist Jill Quadagno argues that ethnic and racial divisions constrained the development of the American welfare state. Social policies purposefully excluded racial minorities, and race “became embedded in the state when welfare programs were enacted,” and was the “central social dynamic” shaping the politics of social policy. Even today, Americans are more likely to oppose welfare if they reside in proximity to larger African American populations. In his book Why Americans Hate Welfare, Martin Gilens argues that Americans view welfare as rewarding the undeserving poor, Blacks as lazy and undeserving, and Blacks as the primary beneficiaries of welfare. Gilens demonstrates that these perceptions are reflected in and amplified by the media, which dramatically overrepresents Blacks in depictions of the poor. The implication of this scholarship is that as other affluent democracies encounter the greater ethnic heterogeneity that results from immigration and become more like the U.S., public support for the welfare state will decline. There is already accumulating evidence that rising immigration in Europe has elevated the perception that immigrants exploit the welfare system. Such views that minorities disproportionately benefit from welfare are likely to undermine public support for welfare generally. 16 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 A slightly different version of the argument emphasizes what scholars call “ethnic fractionalization” in preventing solidarity among citizens. Ethnic fractionalization occurs when there is a diversity of ethnic groups, and those groups are sharply split along socio-economic lines and as a share of the population. As mentioned above, scholars have long contended that homogeneity is a key basis of solidarity in and trust of one’s fellow residents. Being the same ethnicity and speaking the same language make class-based solidarity easier and increase the sense of community in people’s minds. According to this line of reasoning, the native-born lack solidarity with immigrants and have a preference for “ingroup” members who share cultural customs and physical appearances. In fractionalized societies, people seem to be less willing to support investments in public goods like public transportation and education. Recent studies show that societies with more ethnic fractionalization have less public spending as a share of the economy. The concern with rising immigration has been that ethnic fractionalization will emerge as society becomes divided into affluent native-born residents and marginalized immigrants forming ethnic and religious minority groups. One of the most prominent accounts within this literature is provided by economists Alberto Alesina and Edward Glaeser’s book Fighting Poverty in the U.S. and Europe. They explicitly hypothesize that increased ethnic fractionalization due to immigration will undermine the generosity of European welfare states. According to them, right wing and even centrist politicians will use anti-immigrant rhetoric as tools to dismantle social policies. Ominously, they predict: “As Europe has become more diverse, Europeans have increasingly been susceptible to exactly the same form of racist, anti-welfare demagoguery that worked so well in the United States. We shall see whether the generous European welfare state can really survive in a heterogeneous society.” [Foto: Udo Borchert] David Brady is an associate professor of sociology and public policy at Duke University. He studies poverty/inequality, work/labor/economic sociology, and political economy/political sociology. He is the author of Rich Democracies, Poor People (Oxford University Press). In the summer of 2011, he contributed to the WZB lecture series on social inequality. brady@soc.duke.edu Despite mounting claims that immigration undermines public support for the welfare state, a smaller skeptical literature has begun to emerge. Scholars in the skeptical camp point to inconsistencies in the empirical evidence supporting the arguments above. In fact, the first author of this essay authored (with Beckfield and Seeleib-Kaiser) an article in the American Sociological Review that showed that there is no association between increased immigration and a smaller welfare state. Others suggest that any tradeoff between ethnic heterogeneity and redistribution is overstated. While the U.S. was traditionally more heterogeneous than Europe, Australia and Canada are much more heterogeneous than Japan – yet public support for the welfare state is significantly lower in Japan than in Australia and Canada. Further, the recent concern with immigration neglects the fact that scholars have demonstrated other more powerful influences on social policy attitudes. If these established influences are the paramount predictors of welfare attitudes, immigration is likely to play a marginal role. We entered this debate with some expectation that immigration would undermine public support for the welfare state. Our research utilized data on attitudes regarding social policy for 17 affluent democracies in 2006 and 12 in both 1996 and 2006. This public opinion data from the International Social Survey Program (ISSP) was linked with information about the stock and flows of immigration in each country. We assessed six different welfare attitudes about whether people feel it “should be the government’s responsibility to… reduce income differences between rich and poor… [or] provide a job for everyone who wants one… [or] provide a decent standard of living for the old” or remedy unemployment, housing, and healthcare. The analyses controlled for a country’s economy and history of social policy, and the individual’s social class, family characteristics, religion, age, and gender. Our sample included countries with high and low levels of immigration, with booming and struggling economies, and with meager and extensive welfare states. Our analyses mostly failed to support the hypothesis that immigration undermines public support for the welfare state. The percent foreign-born, annual net migration, and the ten-year change in the percent foreign-born do not have consistent negative effects on welfare attitudes. There is some evidence that the percent foreign-born significantly undermines the specific welfare attitude WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 17 that government “should provide a job for everyone who wants one.” However, there is much more evidence showing that net migration and change in percent foreign-born have surprisingly positive effects on welfare attitudes. These two measures of immigration flows are associated with greater support for attitudes regarding retirement, housing, and healthcare especially. [Foto: privat] Ryan Finnigan is a graduate student in sociology at Duke University. His research areas include racial stratification, demography, and urban sociology. His dissertation examines the effects of changes in urban demographic composition, and housing and labor markets on racial/ethnic inequality in homeownership, wages, and health. rmf12@soc.duke.edu There is even some evidence that the percent foreign-born increases support for attitudes regarding retirement. Thus, the evidence is quite mixed and mostly contradicts the literatures discussed earlier. While some countries with increased immigration have lower levels of support for the welfare state, even more countries exhibit the opposite pattern. For example, net migration amounted to less than one-tenth of a percent of Japan in 2005, and Japan had the lowest level of support for the view that government has a responsibility to provide housing (only 38 percent in favor). By contrast, Spain had the highest level of net migration (5.8 percent) and the highest support for the housing attitude (96 percent). Why do countries with high immigration flows tend to have higher public support for the welfare state? It could be that immigration increases the perception of higher unemployment and more competition for jobs, and such perceptions tend to trigger support for the welfare state. Scholars have shown that perceptions of immigration as an economic risk or threat are positively associated with a preference for redistribution. Thus, heightened immigration could induce respondents to favor a greater welfare state to compensate for and protect themselves from what they perceive as economic competition from immigrants. Similarly, it could be that immigration flows lead residents to feel vulnerable and insecure. A sense of vulnerability and insecurity could create a perception of unmet societal needs, and lead to a desire for increased welfare state interventions. In fact, our analyses show that net migration is significantly positively associated with a preference for greater welfare spending on health, pensions and unemployment. Our results challenge much conventional wisdom and many scholars and commentators. In the process, we encourage greater caution with bold claims about the negative effects of immigration or ethnic heterogeneity for welfare states. We show that it is essential to compare a broader set of countries, to examine those countries over time, and to get past simplistic U.S.-Europe differences. We also demonstrate that examining multiple welfare attitudes provides a more informative picture of the effects of immigration. Our research leads us to hypothesize that citizens might have a bifurcated response to rising immigration. On one hand, many citizens will prefer more extensive and generous social policies. On the other hand, there is convincing evidence that rising immigration contributes to anti-immigrant attitudes and support for extremist rightwing political parties. We even suggest that these two outcomes might be compatible for a segment of the population that has less education, is marginally employed or unemployed, and has lower incomes and more insecurity. In sum, our study shows the value of cross-national survey research on important social problems and challenges facing modern societies. The availability of cross-national survey data and the statistical techniques to analyze such data have increased substantially in recent years. Social scientists are better poised now than ever to provide convincing answers to questions like ours. Ultimately, we find very little evidence that immigration poses a threat to the welfare state. Rather, immigration and ethnic heterogeneity may actually be compatible with generous social policies. Though many politicians and commentators provoke fear by talking about the failures of multiculturalism, these claims have little empirical support. Immigration does not clearly reduce public support for the welfare state and some aspects of immigration seem to increase the public’s beliefs in and preferences for social policy. 18 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Summary: Women and unskilled workers often lack time for vocational training or career development. Empirical examples of working-life time accounts are used to examine the extent to which women and workers in lower occupational positions are equally able to save up time and realize paid leaves for training and better work-life balance. There is evidence that working-life time accounts enhance rather than diminish existing gender and job inequalities over the course of life. These findings call for both, the improvement of working-life time accounts as well as their expansion through additional working-time option. Kurzgefasst: Geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte verfügen seltener über zeitliche Gestaltungsspielräume. Ihnen fehlt oft die Zeit für Weiterbildung und berufliche Weiterentwicklung. Aktuelle Betriebs- und Beschäftigtendaten geben Aufschluss darüber, inwieweit Langzeitkonten diesen Gruppen das Ansparen bezahlter Auszeiten für Weiterbildung oder eine bessere Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensbereiche ermöglichen. Die Ergebnisse deuten eher auf eine Verschärfung als eine Abschwächung sozialer Ungleichheiten hin und zeigen: Langzeitkonten müssen besser ausgestaltet und um weitere Arbeitszeitoptionen ergänzt werden. Mehr Zeitsouveränität – für manche Langzeitkonten begünstigen Höher qualifizierte Philip Wotschack Zeit zu haben gehört zur Lebensqualität: Zeit für Erwerbsarbeit, Partnerschaft, Kinder, Freunde, Erholung und Freizeit. Doch nicht jeder kann souverän über seine Zeit verfügen; die Chancen sind ungleich verteilt. Das gilt auch für die Möglichkeit, Zeit in Bildung, soziale Netzwerke oder beruflichen Aufstieg zu investieren. Wer hier nicht in hohem Maß über seine Zeit verfügen kann, dessen mittel- und langfristige Lebenschancen sind stärker eingeschränkt, vor allem bei gravierenden Ereignissen im Lebensverlauf wie der Geburt von Kindern oder der Bewältigung beruflicher Krisen. Die bestehende Forschung zeigt, dass sich geschlechts- und schichtspezifische Benachteiligungen oft negativ auf die zeitlichen Gestaltungsspielräume auswirken. Geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte haben nicht nur häufiger niedrigere Einkommen, schlechtere Arbeitsbedingungen oder geringere Arbeitsmarktchancen, sie verfügen auch seltener über die notwendige Zeit für Erholung, Familie, Weiterbildung oder berufliche Veränderung. Arbeitszeit im Lebensverlauf Seit Mitte der 1990er Jahre haben unter dem Schlagwort der lebenslauf- oder lebenszyklusorientierten Arbeitszeitgestaltung neue Ansätze Eingang in die betriebliche Arbeitszeitpolitik gefunden. Sie wollen den Beschäftigten Möglichkeiten eröffnen, die Erwerbsarbeitszeit besser an die Wechselfälle des Lebens anzupassen. Dabei sollten auch für geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte bessere Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der beruflichen Weiterbildung geschaffen werden. Ein wichtiges Instrument sind dabei langfristig angelegte Arbeitszeitkonten, die eine Umverteilung der Erwerbsarbeitszeit im Lebensverlauf möglich machen. Ihr Prinzip: In bestimmten Lebensphasen arbeiten Beschäftigte mehr und sparen diese Zeit auf dem Langzeitkonto an. Später können sie auf dieses Arbeitszeitkonto zurückgreifen und die vorgearbeitete Zeit nutzen, etwa für Kinderbetreuung, Pflege, Weiterbildung oder Erholung. Das Zeitguthaben wird für eine temporäre Freistellung oder Teilzeitarbeit verwendet. Einkommensverluste werden vermieden. Aus der Perspektive des Lebensverlaufs wird nicht weniger gearbeitet, die Arbeitszeit wird nur anders verteilt. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 19 Sind solche Lebensarbeitszeitmodelle wirklich in der Lage, bestehende Benachteiligungsmuster zu durchbrechen? Die empirische Untersuchung dieser Fragen steht noch aus. Repräsentative Individualdaten zur Nutzung von Langzeitkonten liegen nicht vor. Ein Forschungsprojekt am WZB kann jedoch erste Aufschlüsse geben: Auf Basis von repräsentativen Unternehmensdaten sowie Beschäftigtendaten aus zwei Dienstleistungsbetrieben wurden Muster der ungleichen Nutzung von Langzeitkonten untersucht. Leitend war die Frage, ob Langzeitkonten neue zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten für weibliche Beschäftigte und Beschäftigte mit niedriger beruflicher Stellung schaffen und damit zum Abbau bestehender Muster sozialer Benachteiligungen beitragen können. Die Analysen auf Basis repräsentativer Unternehmensdaten und Fallstudien in Vorreiterunternehmen zeigen, dass bestimmte Beschäftigtengruppen eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten haben: Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen können deutlich seltener auf ein Langzeitkonto zugreifen als Arbeitnehmer in großen Unternehmen (mit 250 und mehr Mitarbeitern). In großen Unternehmen, in denen viele Frauen beschäftigt sind, ist die Chance, dass ein Langzeitkonto existiert, wiederum signifikant kleiner als in Großunternehmen mit einem hohen Männeranteil – eine klare Benachteiligung weiblicher Beschäftigter. Selbst in Vorreiterunternehmen mit Langzeitkonten, die in den Fallstudien ausführlicher untersucht wurden, zeigt sich, dass oft nur Beschäftigte der fest angestellten „Kernbelegschaften“ Zugang zum Langzeitkonto haben, während Leiharbeiter und befristet Beschäftigte von der Nutzung ausgeschlossen sind. Vertiefende statistische Auswertungen von Beschäftigtendaten aus zwei Dienstleistungsbetrieben machen zudem deutlich, dass auch innerhalb dieser Kernbelegschaften das Langzeitkonto sehr unterschiedlich verwendet wird. Berufsgruppen mit niedrigem Einkommen sind benachteiligt Bei den befragten hochqualifizierten Angestellten ist das Langzeitkonto am weitesten verbreitet; bei qualifizierten Angestellten gibt es einen mittleren, bei einfachen Angestellten einen niedrigen Verbreitungsgrad. Beschäftigte mit niedrigerer Vergütung weisen zudem deutlich geringere Zeitguthaben auf bestehenden Langzeitkonten auf. Aufgrund der geringeren Vergütung ist diese Beschäftigtengruppe eher auf ein vollständiges Entgelt angewiesen, um ein ausreichendes Haushaltseinkommen erzielen zu können. Hochqualifizierte Angestellte profitieren, denn mit einer hohen beruflichen Stellung ist häufig viel unbezahlte Mehrarbeit verbunden. Das Langzeitkonto eröffnet dieser Beschäftigtengruppe die Möglichkeit, zumindest einen Teil der ohnehin anfallenden Überstunden auf dem Langzeitkonto zu sparen. Entsprechend stärker wird das Langzeitkonto genutzt. Bei den qualifizierten Angestellten (vor allem den Männern) wird es häufig als Option gesehen, um den vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu realisieren. Beschäftigte mit einer niedrigeren beruflichen Stellung wollen die Zeit auf dem Langzeitkonto anders einsetzen. Zwar stellt der vorzeitige Ausstieg aus dem Erwerbsleben auch bei dieser Gruppe den häufigsten Verwendungswunsch dar, doch möchten sie ihr Guthaben auf dem Langzeitkonto öfter als die höher qualifizierten Angestellten für eine bezahlte Freistellung in der Familienzeit verwenden. Für die unteren Berufsgruppen zeichnet sich damit ein grundlegendes Dilemma ab: Die Nutzung des Langzeitkontos könnte für viele eine wichtige Lösung von Vereinbarkeitsproblemen darstellen, ist aber aufgrund der für ihre soziale Lage charakteristischen finanziellen und zeitlichen Restriktionen nur selten realisierbar. Wie Frauen Langzeitkonten nutzen In den untersuchten Betrieben ist das Langzeitkonto bei Frauen und Männern ähnlich weit verbreitet. Auch die Guthabenhöhe unterscheidet sich nicht signi- 20 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 fikant. Benachteiligungen werden allerdings sichtbar, wenn Männer und Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen oder Vergütungsgruppen betrachtet werden. Geschlechtsspezifische Benachteiligungen bei der Nutzung des Langzeitkontos sind also nicht genereller Natur, sondern entfalten sich erst im Lebenskontext. In der mittleren Lebensphase, in der viele Beschäftigte Kinder im Haushalt zu betreuen haben, haben die befragten weiblichen Beschäftigten deutlich seltener ein Langzeitkonto als ihre männlichen Kollegen oder als Frauen in späteren Lebensphasen. Unter den Beschäftigten mit Langzeitkonto haben wiederum die weiblichen Beschäftigten mit niedriger Vergütung die geringsten Guthaben. Für Frauen entstehen Benachteiligungen bei der Nutzung des Langzeitkontos also vor allem in der Kombination mit hohen außerberuflichen Anforderungen oder bei geringerem Entgeltniveau. [Foto: David Ausserhofer] In der Gruppe der hochqualifizierten Angestellten entnehmen vor allem vollzeitbeschäftigte Frauen Zeit aus dem Langzeitkonto. Es scheint für die durch Vollzeiterwerbstätigkeit und Haushalt besonders in Anspruch genommene Gruppe eine wichtige Rolle zu spielen, um ihren Alltag zeitlich zu entlasten. Frauen mit Langzeitkonto wollen das Guthaben erheblich häufiger als Männer für Weiterbildung verwenden – unabhängig von ihrer beruflichen Stellung. Offensichtlich bietet das Langzeitkonto für Frauen eine Möglichkeit, Weiterbildungsinteressen zu verfolgen, die sie aufgrund ihrer Verpflichtungen in Beruf und Familie sonst nicht wahrnehmen könnten. Dieser Befund unterstreicht erneut die wichtige Rolle, die das Langzeitkonto für die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit weiblicher Beschäftigter spielen kann, die aufgrund der skizzierten Nutzungsbarrieren aber nur selten realisiert wird. Philip Wotschack ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Der in Groningen promovierte Soziologe untersucht im Projekt „Betriebliche Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik im Lebensverlauf“ neue Handlungsansätze der demografiebewussten und lebenslauforientierten Personalarbeit von Unternehmen. wotschack@wzb.eu Eine langfristige Perspektive im Unternehmen ist für viele Beschäftigte eine Voraussetzung dafür, Guthaben mit dem Langzeitkonto anzusparen. Ist diese nicht gegeben, wächst das Risiko, dass der Ansparprozess oder die spätere Zeit entnahme scheitern. Mitarbeiter, die keine Beschäftigungsperspektive im Unternehmen sehen, nutzen ein Langzeitkonto daher seltener. Auch die Bereitschaft, das Zeitguthaben für Weiterbildung zu verwenden, sinkt. In der Folge bauen Beschäftigte mit hohem Arbeitsplatzrisiko seltener Guthaben auf dem Langzeitkonto auf und verfügen damit über geringere zeitliche Ressourcen für den Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch hier droht damit eine Verschärfung sozialer Ungleichheit. Das Langzeitkonto braucht Ergänzungen In der Gesamtschau machen die Ergebnisse deutlich, dass die Möglichkeiten, mit dem Langzeitkonto Zeitguthaben aufzubauen, für bestimmte Beschäftigtengruppen eingeschränkt sind. Das gilt in erster Linie für Beschäftige mit einer niedrigeren beruflichen Stellung, aber auch für Frauen, wenn diese sich in der mittleren Lebensphase befinden oder geringes Einkommen haben. Damit zeichnet sich hinsichtlich der Wirkung des Langzeitkontos eher eine Verschärfung ungleicher Verfügungsmöglichkeiten über Zeit im Lebensverlauf ab als deren Auflösung. Die Ziele einer stärker demografie- und lebenslauforientierten Arbeitszeitgestaltung und der Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit von am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen wie etwa Frauen oder Geringqualifizierte werden derzeit mit dem Langzeitkonto kaum erreicht. Die Verbreitung des Kontos ist bei diesen Gruppen am geringsten. Auch jüngere Beschäftigte bzw. Beschäftigte in der mittleren Lebensphase verfügen deutlich seltener über ein Langzeitkonto und weisen erheblich niedrigere Zeitguthaben auf. Damit stehen diesen Beschäftigtengruppen in geringerem Maße Zeitguthaben zur Verfügung, die sie für die die Erhaltung ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie einsetzen können. Für die Arbeitszeitpolitik in den Unternehmen heißt das: Beschäftige aus niedrigen Qualifikations- und Einkommensgruppen und solche mit Betreuungsoder Pflegeaufgaben (insbesondere Frauen) brauchen Unterstützung, damit sie ausreichende Zeitguthaben aufbauen können. Da es bei diesen Beschäftigten zeitliche und finanzielle Restriktionen gibt, können sich die Betriebe nicht allein auf die Einrichtung von Langzeitkonten verlassen. Hier ist die ganz Band- WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 21 breite von Handlungsansätzen und Instrumenten der Arbeitszeitgestaltung gefragt, die eine bessere Vereinbarkeit unterschiedlicher Anforderungen im Lebensverlauf ermöglichen; sie reichen von Teilzeitoptionen über Sabbaticalmodelle bis hin zur täglichen flexiblen Arbeitszeitgestaltung. In der betrieblichen Praxis finden sich hierfür erfolgreiche Beispiele. Ein großer Automobilhersteller setzt stark auf Sabbaticals und Teilzeitoptionen. Um auch im gewerblichen Bereich und bei niedrigem Einkommen Teilzeitarbeit und Freistellungen zu ermöglichen, werden individuelle Lösungen, passend zu den Interessen und Möglichkeiten der Beschäftigten, angeboten. So können über einen längeren Zeitraum Entgeltbestandteile, Resturlaub und Guthaben aus dem Jahresarbeitszeitkonto für eine bezahlte Freistellung genutzt werden. Ein anderes Beispiel bietet eine Klinik, bei der im Dreischichtsystem gearbeitet wird. Zeiträume für außerberufliche Anforderungen werden dort durch Teilzeitoptionen und individuelle Spielräume bei der täglichen Arbeitszeitlage geschaffen. Solche Beispiele stellen bisher eher die Ausnahme dar. Sie wären innerhalb eines neuen arbeitszeitpolitischen Leitbilds weiterzuentwickeln und zu fördern. Literatur Wotschack, Philip: „Keine Zeit für die Auszeit. Lebensarbeitszeit als Aspekt sozialer Ungleichheit“ In: Soziale Welt, JG. 63, Heft 1, 2012 (im Erscheinen). Wotschack, Philip: „Working-Time Options over the Life Course. Challenges und Company Practices“. In: Ralf Rogowski/Robert Salais/Noel Whiteside (Eds.): Transforming European Employment Policy: Labour Market Transitions and the Promotion of Capability. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar 2012 (im Erscheinen). Wotschack, Philip/Scheier, Franziska/Schulte-Braucks, Philipp/Solga, Heike: „Zeit für Lebenslanges Lernen. Neue Ansätze der betrieblichen Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik“. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 64, Heft 1, 2012, S. 541-547. 22 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 The paradox of special education Both school segregation and inclusive education are on the rise Justin J.W. Powell Debates about the best organization of schooling to serve children and youth with impairments, to deal with deviant behavior, and to address social disadvantage have continued from the Enlightenment up to the present day. Special education has grown to provide additional resources to help students with disabilities, learning difficulties, and disadvantages to access the curriculum and succeed in school. These diverse programs have served a population of students continuously changing in size and composition, but especially poor boys, children belonging to racial, ethnic, migrant, or linguistic minority groups, and disabled children. Around the world, special education programs offer assistance not only to children with a range of impairments, but, increasingly, also to those with a variety of newly defined student disabilities, or “special educational needs.” With the aim to facilitate access to schooling, campaigns to raise awareness, disciplinary diagnostics, and professional knowledge have led to an increasing proportion of children and youth with disadvantages or disabilities. Thus, like other types of education, from primary and secondary to tertiary education, special education has grown remarkably. However, in many societies learning support has been provided in environments (far) removed from the regular classroom. Segregated educational programs, whether offered in special schools or classrooms, are criticized for stigmatizing children and youth and for insufficiently reducing inequalities in education and training, which limit labor market participation and often lead to social exclusion. As a consequence, calls for change in school structures and practices have been voiced globally. While there is consensus that all children and youth – regardless of ability level – should participate in schooling, there is growing doubt about the principle that special schooling for some is necessary – or even preferable. International charters, such as the United Nations Convention on the Rights of People with Disabilities (2006), call the taken-for-grantedness of special education settings that segregate or separate students into question. Instead, it emphasizes accessibility and a range of other measures to ensure educational and social participation. Article 24 mandates inclusive education for all, including vocational training, higher education, and lifelong learning. Its stipulations challenge the legitimacy of segregated schooling even as it demands that policymakers address myriad structural and cultural barriers to inclusion. Yet this shift occurs at the same time that rising academic standards and output measures of achievement and attainment place pressure on general education to increase school performance. In turn, this undergirds the exclusion of learners who do not test well or require additional support to reach their learning goals. Kurzgefasst: Sonderpädagogische Förderung nimmt seit Jahrzehnten weltweit zu, oft in Sonderschulen oder -klassen. Seit 2006 haben sich 106 Länder durch Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention dem Ziel verpflichtet, von der Frühförderung bis zur Erwachsenenbildung das Bildungssystem inklusiv umzugestalten. Es mag paradox erscheinen, dass gleichzeitig sowohl segregierende als auch inklusive Lernumwelten expandieren. Der Grund: Die Verflechtung und Wechselwirkungen zwischen sonderpädagogischen Fördersystemen, allgemeiner Pädagogik und anderen Institutionen sowie die Interessen der beteiligten Professionen verhindern die Transformation hin zur schulischen Inklusion für alle. Summary: Often provided in special schools and classes, special education has grown rapidly for decades. In contrast, since 2006, 106 countries around the world have ratified the UN Convention on the Rights of People with Disabilities, which mandates inclusive education, from early childhood to lifelong learning. A contemporary paradox found in many societies is that both school segregation and inclusive education are on the rise. The interdependencies between special education, general education and other institutions along with vested professional interests have thus far hindered the transformations needed to realize inclusive education for all. These forces in different directions have led to a paradox: the simultaneous rise in rates of segregated schooling and inclusive education. These contrary developments are embedded in the larger phenomenon of education expansion. The rise in participation in formal schooling has led to ever-higher attainment rates in secondary and tertiary education and ever-longer careers, and these rising standards reveal starkly many who do not achieve (much) school success. With ever more pupils “having special educational needs,” both the rates of segregated and inclusive schooling can rise. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 23 For example, in Germany, where the UN Convention took effect in 2009 and inclusive education (Integrationspädagogik) has been developed and practiced in some Länder for decades, attendance in special schools continues to grow, especially rapidly in Eastern Germany. In 2008, more pupils than ever before received some special education support: 480,000, or 6 percent of all pupils of compulsory school age. Of those, 89,000 (18 percent) attended regular schools. With that Germany is one of the European countries with the lowest overall inclusion rates and conversely highest levels of school segregation. Thus far, in terms of schooling, Germany has made few and gradual changes toward meeting its commitment to the UN Convention. This is so especially due to the institutionalization of special schools, professional interests, and federal governance. In another federal country, the United States, there is a long tradition of special classes within regular schools. The US has a much higher inclusion rate – over half of all pupils with special educational needs – and less than 4 percent of pupils with special educational needs attend special schools or residential institutions. Whereas Germany has a special education system built upon interschool segregation, the US system is organized around intra-school separation. Despite increases, neither country’s education system is fully inclusive as the UN Convention mandates. The resulting paradox cannot be explained solely by analyzing inclusive or special education, whether conceptually or empirically. Rather, we must explore the drivers of change in these two fields jointly. Special education’s domain stretches far beyond the boundaries of general education. Its organizational field includes health care systems, vocational training programs and transition planning, and labor markets. Because special education serves many of the most disadvantaged youth, it also shares an organizational community with the juvenile justice system. Special education is central to the operation of these other systems and this interconnectedness of special education to such neighboring institutions makes proposals for transformative change, such as the UN Convention, more difficult to achieve. In many countries, segregated schools have become synonymous with limitations, exclusion, and low social status. More than ever before, being disabled remains linked to being less educated than one’s peers. Conversely, attaining less education leads to an increased risk of becoming disabled, of experiencing poverty, and of suffering social exclusion. Considerable inequalities in learning opportunities persist. In many countries, segregation is still the dominant mode of providing special education support and services. Some groups of teachers, administrators, and other professionals have little interest in systemic shifts that would limit their autonomy or require them to assume additional roles, especially when political support for financing such reforms is lacking. Yet international comparisons show that some countries successfully implement inclusive education reforms, even when this demands transformative change in education systems. Within Europe or among the OECD countries, the rates of inclusive education vary from under 10 percent to more than 90 percent. This range emphasizes the gap between the global rhetoric of inclusive education and the realities of institutionalized organizational forms in special education, whether special schools, as found in Germany, or special classrooms, prevalent in the United States. Tremendous variation across countries underscores the inertia in special education and the persistence of particular organizational forms, which results from interconnections with other institutions and cultural values, such as individualism or collectivism. Whereas many societies emphasize group belonging regardless of student characteristics, others have favored individual education rights and choices. Further, individuals and groups differ in whether they value the resources special education offers more than they fear the stigmatizing effects of its labels – or vice-versa. Inclusive education promises to more fully utilize the diversity of interests and abilities found among all groups of children to develop each individual’s intellectual and social competencies. Responding to these principles and global trends, states and nongovernmental organizations around the world have committed themselves to “education for all” – and to inclusive education. Globally, 24 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 inclusive education has risen as a goal. Thus far, 106 countries worldwide have ratified the UN Convention. Locally, advocates and activists in the disability rights movement have succeeded in increasing access to integrated schools or even inclusive classrooms. However, transformative education system reforms that would do most to enable inclusive schooling have thus far been hindered by ideological, normative, and political resistance. This is partially because the paradigm shift toward inclusive education not only affects special education deeply, but also challenges the status quo, as elaborated in interconnected education, economic, and justice systems. Thus, in many countries, battles continue at the nexus of education and social policy. The results of these conflicts influence whether and when countries around the world will achieve their shared goal of inclusive education. The simultaneous rise of segregation and inclusion emphasizes not individual characteristics, but rather institutionalized organizations that provide schooling. The seemingly paradoxical rise – indeed, the coexistence – of school segregation and inclusion depends on continued expansion in the group of children and youth who receive additional resources to access the curriculum. However, the logic of segregation that posits separation as necessary to provide such individualized learning supports contradicts the powerful idea codified in international human rights charters that to strengthen democracy and enable active citizenship requires nothing less than inclusive education for all. [Foto: David Ausserhofer] Justin J.W. Powell is a sociologist (Dr. phil., Freie Universität Berlin) in the Research Unit Skill Formation and Labor Markets and currently Visiting Professor at the Leibniz University Hannover. powell@wzb.eu Literature Pfahl, Lisa: Techniken der Behinderung. Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld: transcript 2011. Powell, Justin J.W.: Barriers to Inclusion: Special Education in the United States and Germany. Boulder, CO: Paradigm Publishers 2011. Richardson, John G./Powell, Justin J.W.: Comparing Special Education: Origins to Contemporary Paradoxes. Stanford, CA: Stanford University Press 2011. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1999 bis 2008. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Dokumentation Nr. 189. Bonn: Kultusministerkonferenz 2010. United Nations: Convention on the Rights of Persons with Disabilities. New York: United Nations 2006. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 25 Die soziale Frage der Demokratie Einkommen und Bildung beeinflussen die Chancen politischer Teilhabe Sebastian Bödeker Summary: Opportunities to actively shape the political process are not distributed equally. Citizens with a low income and modest level of education participate significantly less in political activities than those with a higher income and high level of education. The debate about how to strengthen democracies must address the social dimension of political participation. Es wird in Deutschland wieder über die Krise der Demokratie debattiert, zuletzt besonders heftig während der Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs im Sommer 2010. Dabei geht es um Politikverdrossenheit, Lobbyismus und die Übermacht wirtschaftlicher und politischer Eliten. Viele der vorgebrachten Lösungsvorschläge für die Misere der parlamentarischen Demokratie sind institutioneller Art: Volksentscheide und andere Formen direkter Bürgerbeteiligung sollten eingeführt bzw. verstärkt genutzt werden. Es gilt aber auch, über die sozialen Grundlagen demokratischer Willensbildung und Beteiligung nachzudenken. Bietet unsere Gesellschaft wirklich allen Bürgern die gleichen Chancen, sich einzubringen und die eigenen Interessen zu artikulieren? Kurzgefasst: Die Chancen, aktiv an der politischen Willensbildung teilzunehmen, sind unterschiedlich verteilt: Wer einen niedrigen oder gar keinen Bildungsabschluss und wer ein niedriges Einkommen hat, beteiligt sich deutlich weniger an demokratischen Prozessen als gut Ausgebildete und Menschen mit höherem Einkommen. Dies gilt für Beteiligung an Wahlen und Mitarbeit in Parteien und Bürgerinitiativen wie für die Bekundung des politischen Willens mittels Unterschriftenlisten oder Online-Initiativen. Bei der Debatte um eine Stärkung der Demokratie muss die soziale Dimension daher stärker berücksichtigt werden. Politische Gleichheit ist ein fundamentales Prinzip demokratischer Herrschaft. Gleichheit erschöpft sich hierbei nicht in einem Rechtsanspruch auf freie Wahlen und dem Grundsatz der gleichen Gewichtung jeder einzelnen Stimme; sie ist vielmehr auf komplexe Weise mit der Input- und Output-Seite demokratischen Regierens verknüpft. Politische Gleichheit ist in einem substanziellen Sinne als gleiche Berücksichtigung von Interessen der Bevölkerung zu verstehen. Wer diesen Anspruch als Kernidee von Demokratie akzeptiert, muss sich der hohen Anforderungen bewusst sein, die sich daraus für demokratisches Regieren ergeben. Aus dem Grundsatz politischer Gleichheit lässt sich eine Reihe notwendiger Bedingungen ableiten, von deren Erfüllung politische Gleichheit abhängt. 1. Jeder Bürger muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen so autonom wie möglich zu erkennen und sich ein Urteil über mögliche Alternativen zu bilden. Ein politisches System muss dafür die Bedingungen schaffen. Hierzu zählen insbesondere Freiheitsrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, und der Zugang zu Bildung, die es ermöglicht, Argumente abzuwägen und Interessen zu artikulieren. 2. Jeder Bürger muss die Möglichkeit haben, seine Interessen direkt in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen oder seine Interessen von anderen vertreten zu lassen. Unterschiedliche Interessen müssen dabei die gleiche Chance haben, im politischen Entscheidungsprozess Gehör zu finden. 3. Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen politischer Entscheidungen müssen die Interessen der Bevölkerung im gleichen Maße berücksichtigt werden. Diese Frage der Gewichtung ist jedoch höchst umstritten; es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eine gleiche Berücksichtigung von Interessen genau beinhaltet. John Rawls etwa vertritt das sogenannte Differenzprinzip: Entscheidungen sollten so getroffen werden, dass sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. Anders als das utilitaristische Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens ist das Differenzprinzip geeignet, die Bedingung der gleichen Berücksichtigung von Interessen zu erfüllen. Denn der Maßstab für politische Entscheidungen sind nach dieser Idee die Interessen der von einer Entscheidung am wenigsten Begünstigten. Betrachtet man nun die empirischen Befunde der Demokratie- und Partizipationsforschung, zeigt sich, wie wenig die Bedingungen für politische Gleichheit erfüllt sind. Einkommensschwache Teile der Bevölkerung sind bei allen Formen politischer Partizipation unterrepräsentiert. Dies gilt für die Wahlbeteiligung 26 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 ebenso wie für politische Mitgliedschaften oder nicht organisationsgebundene Formen der Partizipation (siehe Abbildung 1). Höchstes Einkommensquintil Niedrigstes Einkommensquintil Kritischer Konsum Teilnahme an öffentlicher Diskussion Teilnahme an Unterschriftensammlung Online-Protest Teilnahme an Demonstration Wahlteilnahme Arbeit in Bürgerinitiative Mitarbeit in Partei 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Abbildung 1 Politische Partizipation in Deutschland nach Einkommen (2008); Abgebildet ist die Häufigkeit der Teilnahme an unterschiedlichen Aktivitäten nach Einkommensgruppen, die auf der Grundlage des nettogewichteten Äquivalenzeinkommens gebildet wurden. Datenbasis: Allbus 2008 (gewichtet) Die Betrachtung der politischen Beteiligung je nach dem erreichten Bildungsabschluss ergibt ein ähnliches Bild: Wer Abitur hat, beteiligt sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit am politischen Prozess als der, der nur einen Hauptschul- oder keinen Abschluss hat (Abbildung 2). Wenn über den insgesamt starken Rückgang der Wahlbeteiligung und den massiven Mitgliederschwund der etablierten Parteien geklagt wird, darf diese spezielle Problematik nicht ausgeklammert werden. (Fach-)Abitur Hauptschule/kein Abschluss Kritischer Konsum Teilnahme an öffentlicher Diskussion Teilnahme an Unterschriftensammlung Online-Protest Teilnahme an Demonstration Wahlteilnahme Arbeit in Bürgerinitiative Mitarbeit in Partei 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Abbildung 2 Politische Partizipation in Deutschland nach Schulabschluss (2008); Datenbasis: Allbus 2008 (gewichtet) Gelegentlich wird dieser Trend weniger als Ausdruck einer Krise, sondern als kultureller Wandel der demokratischen Praxis interpretiert. Die zurückgehende WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 27 Wahlbeteiligung etwa werde durch andere Formen des politischen Engagements kompensiert, wird argumentiert. Bürgerinnen und Bürger mischten sich aktiv ein und wollten ihre Interessen außerhalb etablierter Kanäle selbst in die Hand nehmen. Zwar ist es richtig, dass Aktivitäten wie zum Beispiel die Mitarbeit in Bürgerinitiativen oder die Teilnahme an Unterschriftensammlungen zugenommen haben, doch sind diese Formen des politischen Engagements in noch höherem Maße von Bildungsgrad und Einkommen abhängig (siehe Abbildungen 1 und 2). Diese Varianten der Beteiligung am politischen Prozess können eine schwächelnde Wahlbeteiligung oder die zurückgehende Mitarbeit in Parteien nicht ersetzen. (Foto: Udo Borchert) Sebastian Bödeker ist seit September 2011 als Doktorand im Programm der Berlin Graduate School for Transnational Studies Mitglied der WZB-Abteilung Transnationale Konflikte und internationale Institutionen. Er hat an der University of Indiana (Bloomington) und der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft studiert und arbeitet zu politischer Partizipation, sozialen Bewegungen und transnationalen Nichtregierungsorganisationen. boedeker@wzb.eu Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf politische Partizipation werden auch auf der Ebene handlungsbezogener Einstellungen sichtbar: Das generelle Interesse an politischen Sachverhalten und Prozessen ist in hohem Maß von Einkommen und Bildung abhängig. Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass der Glaube daran, dass die eigene politische Betätigung eine Wirkung hat, bei bildungsfernen und einkommensschwachen Gruppen der Bevölkerung äußerst gering ausgeprägt ist. Politik wird von sozial benachteiligten Menschen als eine Veranstaltung politischer Eliten betrachtet. Die eigenen Einflussmöglichkeiten werden gering eingeschätzt. Somit kommt es zu „Mechanismen des Selbstausschlusses“, die zu einem noch geringeren politischen Engagement sozial Benachteiligter führen. Das ist insbesondere bei modernen Formen politischer Partizipation der Fall, die auf Eigeninitiative und Flexibilität setzen. Eine nach sozialer Lage und Bildungsstand differenzierte ungleiche Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen ist nicht nur ein abstraktes Problem, sondern hat unmittelbare Auswirkungen auf politische Inhalte und Politikgestaltung: Wenn ganze gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen weniger zum Ausdruck bringen, wird das fundamentale Prinzip politischer Gleichheit verletzt. Die soziale Selektivität des politischen Systems ist das eigentliche Problem repräsentativer Demokratie. Erstens sind bildungsferne und ressourcenschwache Bevölkerungsgruppen im geringeren Maße fähig, ihre Interessen zu identifizieren und mögliche Alternativen bei politischen Entscheidungen gegeneinander abzuwägen. Zweitens sind sozial benachteiligte Menschen im politischen System unterrepräsentiert; ihre Interessen finden somit bei politischen Entscheidungen weniger Gehör. Drittens führt die zunehmende soziale Selektivität zu einer verzerrten Berücksichtigung von Interessen bildungsferner und einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen. Die Einführung und vermehrte Nutzung direktdemokratischer Verfahren, die mit der Hoffnung einer unmittelbaren und unverzerrten Berücksichtigung von Bevölkerungsinteressen verbunden ist, wird allein an dem eigentlichen Problem wenig ändern. Die sozialen und institutionellen Dimensionen müssen im Kontext analysiert werden, wie dies auch Alexander Petring und Wolfgang Merkel in diesem Heft tun (siehe S. 30-33). Wird die soziale Dimension vernachlässigt, könnten institutionelle Reformen sogar zu einer weiteren Verschärfung sozialer Selektivität beitragen. Das hat die Abstimmung über die Schulreform in Hamburg im Sommer 2011 eindrucksvoll bewiesen. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei lediglich 39,3 Prozent und unterschied sich stark nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In sozial schwächeren Stadtteilen war die Walbeteiligung um ein Vielfaches geringer als in den wohlhabenden Gegenden. Die eindeutigen Gewinner des Volksentscheids waren die einkommensstarken und gut gebildeten Familien der Hamburger Mittelschicht, deren Kinder auch weiterhin einen privilegierten Zugang zu Bildung genießen werden. Was kann also getan werden, um der Zunahme sozialer Selektivität im politischen System entgegenzuwirken? Prinzipiell lassen sich drei Strategien unterscheiden, die sich im Idealfall gegenseitig verstärken können: 1. Der Abbau sozialer Ungleichheiten durch sozial- und verteilungspolitische Maßnahmen, vor allem aber durch eine aktive Bildungspolitik. Bildungseinrichtungen kommt hierbei nicht nur eine klassische Ausbildungsfunktion zu; sie sollten gleichzeitig als Orte verstanden werden, in denen demokratische Prakti- 28 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 ken vermittelt und eingeübt werden. Demokratieerziehung sollte zum zentralen Bestandteil der Bildungspolitik werden. 2. Die Stärkung der Interessenrepräsentation sozial benachteiligter Teile der Bevölkerung. Dies kann durch eine Stärkung oder Neugründung von Organisationen erfolgen, die sich für die Interessen sozial Benachteiligter einsetzen; zudem müssen die Strukturen, in denen solche Organisationen politisch aktiv sind, verbessert werden. Hierzu zählen unter anderem die Begrenzung der Lobbymacht wirtschaftlicher Interessen und eine Verbesserung des Zugangs von kleineren zivilgesellschaftlichen Akteuren zu politischen Entscheidungen. Eine entscheidende Rolle spielen in diesem Kontext auch die politischen Parteien. Um ihrem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, muss es ihnen gelingen, mehr Mitglieder aus sozial benachteiligten Schichten anzusprechen und für eine dauerhafte Mitarbeit zu gewinnen. 3. Die Aktivierung sozial Benachteiligter für eigenes politisches Engagement (empowerment). Eine Stärkung der Strukturen und Finanzierungsmöglichkeiten in diesem Bereich könnte zu einer Aktivierung sozial benachteiligter Gruppen beitragen. Unter dem Schlagwort community organizing werden Konzepte diskutiert, wie sich bestimmte soziale Gruppen für politisches Engagement in ihrem lokalen Kontext gewinnen lassen. Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen sind gefordert, wenn es um die Bekämpfung sozialer Selektivität und die Verwirklichung politischer Gleichheit geht. Institutionelle Reformen des politischen Systems können sinnvoll sein – ohne Berücksichtigung der sozialstrukturellen Dimension können sie die Probleme der repräsentativen Demokratie jedoch nicht beseitigen. Literatur Bartels, Larry M.: Unequal Democracy. The Political Economy of the New Gilded Age. New York/Princeton: Princeton University Press 2008. Bödeker, Sebastian: Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland. Grenzen politischer Gleichheit in der Bürgergesellschaft? Frankfurt a.M.: Otto Brenner Stiftung (im Erscheinen). Klatt, Johanna/Walter, Franz (Hg.): Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld: transcript 2011. Schäfer, Armin: „Die Folgen sozialer Ungleicheit für die Demokratie in Westeuropa“. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, Jg. 4, Heft 1, 2010, S. 131–156. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 29 Summary: Political participation in developed democracies is steadily decreasing. Voter turnout is in decline, social selectivity of political participation is on the rise. The major political parties face the challenge of dwindling membership. Strengthening elements of direct democracy or fostering alternative methods of political involvement are insufficient. On the contrary, these forms of participation are even more prone to exclude the poor and less well educated. What is needed is a broad range of preventive social, fiscal and educational policies which counteract social exclusion of a significant part of the population. Kurzgefasst: Die aktive Teilnahme am politischen Prozess nimmt kontinuierlich ab: Die Wahlbeteiligung geht zurück, die soziale Selektivität der Partizipation verschärft sich, die Volksparteien verlieren an Bindungskraft und beklagen seit Jahren einen massiven Mitgliederschwund. Die Stärkung direkt-demokratischer Elemente oder alternativer politischer Betätigungsformen wären keine probaten Gegenmittel. Im Gegenteil – diese Beteiligungsformen sind noch stärker einer sozialen Selektion unterworfen. Wichtig wäre – neben einer deutlicheren Profilierung der Parteien - eine breit gefächerte präventive Politik, die der dauerhaften sozialen Exklusion großer Bevölkerungsteile entgegenwirkt. Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise Alexander Petring und Wolfgang Merkel Politische Teilhabe ist ein zentraler Bestandteil jeder Demokratie. Dabei geht es nicht um Beliebiges, sondern um freiheitlich ausgestaltete und gesicherte Partizipation in einem pluralistischen Wettbewerb. Gleichzeitig muss die Freiheit durch politische Beteiligungsrechte gegen Übergriffe in Form paternalistischer Bevormundung oder autoritärer Einschränkungen abgesichert werden. Jürgen Habermas hat dies als die normative wie funktionale Gleichursprünglichkeit von politisch-partizipativen und freiheitlichen Rechten bezeichnet. Ein substanzieller und nicht nur formaler Demokratiebegriff muss neben der bloß theoretischen Gewährung dieser Rechte auch die praktische Wirklichkeit dieser Rechte in den Blick nehmen. Diese Wirklichkeit ist in den meisten westlichen Demokratien gegenwärtig geprägt durch nachlassende und asymmetrische Partizipation wie Repräsentation: – Die Wahlbeteiligung geht zurück – dies gefährdet den partizipativen Kern der Demokratie. – Die soziale Selektivität der Beteiligung nimmt zu – dies verletzt das demokratische Gleichheitsprinzip. – Die Wahlergebnisse der Volksparteien erodieren und vermindern damit die politische Integrationsfähigkeit just in einer Zeit, in der die heterogener gewordenen Gesellschaften Volksparteien besonders bedürfen. – Die Parteien verlieren Mitglieder und damit die Verankerung in der Gesellschaft. Gegen diese Krisenerscheinungen wurden in den vergangenen Jahren etliche Gegenmittel vorgeschlagen. Wir wollen vier Reformvorschläge etwas näher in den Blick nehmen. 1. Die Zivilgesellschaft stärken? Der Rückgang konventioneller politischer Beteiligung (sprich: Wahlen) kann prinzipiell auch in repräsentativen Demokratien durch Elemente direkter Partizipation ausgeglichen werden. Volksbegehren, Volksentscheide, Bürgerbewegungen, zivilgesellschaftliche Assoziationen, Petitionen und andere Unterschriftenaktionen sowie Demonstrationen sind Beispiele für alternative und ergänzende Formen politischer Partizipation; der Boykott bestimmter Produkte oder ein kritisches Konsumverhalten im Allgemeinen sind Beispiele für ein weiter gefasstes Verständnis alternativer Partizipationsformen. 30 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Doch es zeigt sich, dass die soziale Selektivität bei den alternativen Partizipationsformen noch wesentlich stärker ausgeprägt ist als bei der Wahl als konventioneller Form der politischen Partizipation. Allein aus diesem Grund können zivilgesellschaftliche Assoziationen und Initiativen nie die demokratischen Ausfallbürgen niedergehender (Volks-)Parteien sein. Trotz aller positiven Partizipationsimpulse, die von der Zivilgesellschaft ausgehen können, verstärken diese in aller Regel die Tendenz der Exklusion unterer Schichten aus der politischen Sphäre. Während sich bei allgemeinen Wahlen die mittleren und höheren Einkommensschichten noch in vergleichsweise geringem Maße stärker beteiligen, weisen andere zivilgesellschaftliche Aktivitäten eine sichtbar stärkere Asymmetrie der Beteiligung zuungunsten der unteren Klassen auf. Bezieht man zusätzlich die erdrückende Dominanz gut gebildeter junger Menschen in den Nichtregierungsorganisationen in die Partizipationsbilanz ein, verstärkt sich die soziale Schieflage (siehe auch den Beitrag von Sebastian Bödeker, S. 26-29, und die Grafiken auf S. 27 dieses Hefts). Zugespitzt formuliert: Die zunehmenden zivilgesellschaftlichen Aktivitäten verschärfen gerade jene Exklusionskrankheit unserer Demokratie, die sie eigentlich heilen sollen. Zivilgesellschaftliche Organisationen können kein Ersatz für starke Volksparteien und Gewerkschaften sein. [Foto: David Ausserhofer] Alexander Petring ist seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. In seiner Dissertation analysierte er die Reformtätigkeit von Wohlfahrtsstaaten. Von März 2011 bis Juni 2012 forscht er als A.SK-Fellow in Buenos Aires (Argenti nien). 2. Mehr direkte Demokratie wagen? Sind die Hoffnungen auf die direkte Demokratie gerechtfertigt? Die direkte Demokratie gibt dazu in der Realität wenig Anlass. Volksabstimmungen haben eine größere soziale Schieflage als allgemeine Wahlen. Es sind die wohlhabenderen und die besser gebildeten Bürger, die das „Volk“ in Referenden vertreten. Vertreter einer elitären Demokratie könnten argumentieren, dass dies durchaus wünschenswert sei, da dadurch auf gleichsam „natürliche“ Weise unvernünftige Entscheidungen „unvernünftiger“ Bevölkerungsschichten unwahrscheinlich würden. Dass dies ein substanzloses Argument ist, liegt auf der Hand. Fachkompetenz bedeutet schließlich nicht notwendigerweise Gemeinwohlorientierung. Die besser Gebildeten vertreten ebenso ihre partikularen Interessen, wie dies die weniger gebildeten Wähler tun. Es soll kein Zweifel aufkommen: Referenden können eine sinnvolle Ergänzung in repräsentativen Demokratien sein. Ihre legitimierende Funktion soll nicht verschwiegen werden. Doch die Probleme der sozialen Selektivität des demokratischen Systems lassen sich mit direktdemokratischen Verfahren keinesfalls lösen. 3. Wahlpflicht einführen? Der Wahlgang ist die politische Partizipationsform, bei der die soziale Selektivität am geringsten ausgeprägt ist. Gleichwohl ist auch das Wählen nicht frei von sozialer Selektivität. Das Ausmaß der Wahlenthaltung in unterschiedlichen sozialen Gruppen weist insbesondere dann ein starkes sozioökonomisches Gefälle auf, wenn die Wahlbeteiligung insgesamt niedrig ist. Mit der Wahlpflicht existiert ein Mechanismus, der die Wahlbeteiligung massiv anhebt und die soziale Verzerrung stark reduziert. Sie wurde in vielen Ländern praktiziert und existiert in Europa bis heute in Griechenland, Luxemburg, Belgien und Zypern, weltweit in über 30 Ländern. Um wirksam die Wahlbeteiligung zu erhöhen, bedarf es übrigens keinesfalls drakonischer Strafen. Es reichen schon geringe Geldbeträge oder symbolische Strafen wie die Aufnahme in ein entsprechendes Nichtwählerregister, um die Wahlenthaltung zum Ausnahmefall zu machen. Dies lässt sich vor allem mit den ebenfalls sehr geringen „Kosten“ erklären, die der Wahlgang bei den Bürgern verursacht: Das Wahllokal ist, zumindest in Europa, normalerweise zu Fuß zu erreichen, der Wahlvorgang nimmt nur wenig Zeit in Anspruch und ist über den gesamten Wahltag hinweg möglich. Gleichzeitig sind von einer Wahlpflicht weitere positive Nebeneffekte zu erhoffen. Parteien können sich Mobilisierungskampagnen sparen und stattdessen im Wahlkampf mehr Wert auf Inhalte legen. Bürger, die bislang der Politik völlig WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 31 distanziert gegenüberstanden, sind gezwungen, sich Gedanken darüber zu machen, welche Partei sie wählen sollen. Damit ist die Wahlpflicht auch eine Maßnahme der politischen Bildung. Und ganz grundsätzlich lässt sich argumentieren, dass eine der Grundideen des proportionalen Wahlsystems – das Parlament als repräsentatives Abbild der Volksmeinung zusammenzusetzen – nur dann verwirklicht wird, wenn auch tatsächlich möglichst alle Bürger gewählt haben und nicht nur ein bestimmter Teil, der die Bevölkerungsstruktur lediglich verzerrt widerspiegelt. [Foto: David Ausserhofer] Wolfgang Merkel ist seit 2004 Direktor der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Sozialwissenschaften. Zu seinen Forschungsthemen gehören unter anderem Demokratie und Demokratisierung, politische Regime, Sozialdemokratie und soziale Gerechtigkeit. wolfgang.merkel@wzb.eu Es gibt jedoch auch Argumente gegen die Einführung einer Wahlpflicht. Das vielleicht stärkste Gegenargument ist der mit der Wahlpflicht verbundene Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte. Auch wenn dieser Eingriff minimal ist, kann man die Problematik nicht völlig von der Hand weisen. Bevor man allerdings den durch die Einführung der Wahlpflicht induzierten Untergang der freiheitlichen Demokratie postuliert, lohnt es, den tatsächlichen Freiheitsverlust und die damit verbundenen Gefahren zu benennen. Denn auch bei einer Wahlpflicht haben alle Bürger natürlich weiterhin die Gelegenheit, keine Partei zu wählen oder den Stimmzettel ungültig zu machen. In einigen Ländern gibt oder gab es auf Wahlzetteln bereits die Kategorie „none of the above“ („keine/r der genannten Parteien oder Kandidaten“). Der tatsächliche Freiheitsverlust reduzierte sich durch die Einführung einer solchen Wahloption dann lediglich auf die Zeit (30 bis 60 Minuten), die der Wahlgang bzw. die Beantragung und Ausführung der Briefwahl kosten. Diese Freiheitskosten scheinen deutlich hinter dem zurückzubleiben, was durch eine Wahlpflicht an demokratischer Gleichheit und Qualität hinzugewonnen werden kann. Der demokratietheoretische Gütertausch heißt: minimale Freiheitseinschränkung gegen beachtliche Gleichheitsgewinne. Gleichwohl sollte eine solche die Freiheit einschränkende Maßnahme nur nach einem intensiven öffentlichen Diskurs beschlossen werden. 4. Klare programmatische Konturen schaffen? Die vierte Option setzt anders als die zuvor genannten nicht an den Institutionen und Verfahren an, sondern richtet sich auf die Angebotsseite des politischen Systems: die Parteien. Studien haben gezeigt, dass die Ausdifferenzierung des programmatischen Angebots der zur Wahl stehenden Parteien einen positiven Einfluss auf den Mobilisierungsgrad der Wähler hat. Je deutlicher die Parteien unterscheidbar sind, umso höher ist die Wahlbeteiligung. In den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten haben sich die klassischen Kernwählerschaften der Parteien immer weiter aufgelöst. Das hat seine Ursache nicht nur in dem fehlenden Willen der Parteien, ein klares programmatisches Profil zu entwickeln. Die Ausdifferenzierung der sozialen Milieus und die Heterogenisierung vormals relativ kohärenter sozialer Gruppen haben es den Parteien auch immer schwerer gemacht, sich auf eine Kernwählerschaft zu konzentrieren. Insofern haben es die Parteien zwar mit deutlich heterogeneren Wählergruppen zu tun als vor 30 oder 40 Jahren; sie haben allerdings in den vergangenen Jahren auch vergleichsweise wenig getan, um ihrerseits auf diese veränderten Rahmenbedingungen zu reagieren. Der Satz, den Angela Merkel vor der Bundestagswahl 2009 mehrfach wiederholte, ist ein deutlicher Ausdruck dieser Haltung: „Die CDU ist liberal, christlich-sozial und konservativ.“ Es ist der Versuch, einen möglichst breiten politischen Raum zu besetzen. Dass zwischen einer christlich-sozialen, konservativen und liberalen Ausrichtung auch erhebliche Spannungen, Inkonsistenzen, wenn nicht sogar Unvereinbarkeiten existieren, wird dabei billigend in Kauf genommen. Es erscheint zweifelhaft, ob es die Volksparteien gegenwärtig überhaupt als erstrebenswert ansehen, klare Konturen zu entwickeln. Ein klares programmatisches Profil, zum Beispiel in Form von konkreten (und: konstanten!) mittel- und langfristigen Vorhaben, böte den Parteien aber durchaus die Möglichkeit, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Wenn die Wähler den Eindruck haben, zwischen klar erkennbaren Alternativen auswählen zu können, nehmen sie auch verstärkt an Wahlen teil. 32 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Möglicherweise ist die Formulierung und Durchsetzung entsprechender Vorhaben wesentlich wirkungsvoller als alle rechtlichen und organisationellen Reformen der demokratischen Kerninstitutionen. Diese Vermutung läge zumindest dann nahe, wenn die partizipatorische Schieflage lediglich die Konsequenz der immer tiefer gewordenen Kluft zwischen Arm und Reich, prekär und gesichert Beschäftigten, gut gebildeten und wenig gebildeten Bürgern wäre. Anstatt sich also im hoffnungslosen Kampf gegen die Symptome aufzureiben, müssten die Ursachen angegangen werden. Diese Ursachenbekämpfung wäre dann zuallererst die Aufgabe einer veränderten Bildungs-, Sozial-, Steuer- und Wirtschaftspolitik. Der Beweis, dass Politik auch heute noch in der Lage ist, Ungleichheiten zu reduzieren, Märkte zu domestizieren und demokratischer Kontrolle zu unterwerfen – kurzum: dass Politik die ökonomischen Verhältnisse gestaltet und nicht umgekehrt –, könnte auch jenen Teil der Bürgerschaft wieder dazu motivieren, sich politisch zu beteiligen, der sich momentan frustriert und hoffnungslos von ihr abgewendet hat. Literatur Merkel, Wolfgang/Petring, Alexander: „Partizipation und Inklusion“. In: Friedrich Ebert Stiftung (Hg.): Demokratie in Deutschland 2011. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung 2011 (im Erscheinen). Wie Entscheidungsträger in Deutschland denken Wie schätzen jene, die in Deutschland Politik, Wirtschaft und Kulturleben prägen, die Zukunft der Demokratie ein, was denken sie über Migration und die Perspektiven Europas? Welche Einstellungen haben sie zu diesen zentralen Themen der gesellschaftlichen Debatte, wo sehen sie ihre Verantwortung? Welche Unterstützung wünschen sie? 20 Jahre nach der Wiedervereinigung soll eine deutschlandweit angelegte Studie Antworten auf diese Fragen geben. Die Studie „Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen“ wird geleitet von Jutta Allmendinger, Kooperationspartner sind Michael Hartmann vom Institut für Soziologie der TU Darmstadt sowie das WZB-Brückenprojekt „Die politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus“. Als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen begleiten Katrin Dribbisch und Elisabeth Bunselmeyer die Studie am WZB. Bis März 2012 werden die höchsten Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in persönlichen Interviews befragt. Die Studie untersucht die Karrieren und Lebensverläufe deutscher Führungskräfte und fragt nach deren gesellschaftspolitischen Einstellungen und Handlungsmaximen. Im Ergebnis kann so – gut zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung – ein umfassendes Bild von der „Lage der Nation“ aus Sicht jener gezeichnet werden, die in Deutschland Verantwortung tragen. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 33 Vermögende vermögen eigentlich mehr Trotz wachsenden Wohlstands stagniert das Spendenvolumen Eckhard Priller und Jürgen Schupp Summary: Women donate more than men, older people more than younger. Income is another decisive factor influencing donation behavior, but only applies to donating money. With regard to blood donations, social and financial differences are of far less importance. In this case, almost all social groups and classes donate equally – albeit much less frequently. While in 2010, almost 40 percent of all Germans donated money, only seven percent gave blood. Kurzgefasst: Frauen spenden mehr als Männer, Alte mehr als Junge. Auch das Einkommen hat einen wichtigen Einfluss auf das Spendenverhalten. All das gilt allerdings nur für Geldspenden. Bei der Blutspende sind die sozialen und finanziellen Unterschiede viel weniger von Belang. Hier spenden nahezu alle Schichten und Klassen gleich – allerdings auch viel seltener. Während 2010 fast 40 Prozent aller Deutschen Geld spendeten, gaben nur sieben Prozent von ihrem eigenen Blut. Viele Menschen in Deutschland spenden – das belegen amtliche Statistiken, Umfragen und Studien. Spenden lässt sich auf vielerlei Weise, Menschen geben Geld oder Gegenstände, sie spenden Blut oder Organe. Auf jede Form trifft die sozialwissenschaftliche Definition zu, dass das Spenden ein freiwilliger Transfer für gemeinwohlorientierte Zwecke ist, bei dem der Spender für seine Handlung keine äquivalente materielle Gegenleistung erhält. Als spezifische Variante von prosozialem Handeln – also einem Handeln, das anderen zugute kommt, unabhängig von der jeweiligen Motivation – deutet das Ausmaß des Spendens sowohl auf Solidarität als auch auf potenzielle Umverteilungsmöglichkeiten jenseits von Steuern in der Gesellschaft hin. Besonders Geldspenden sind gegenwärtig in Deutschland eine wichtige Ressource, um im Katastrophenfall schnell helfen zu können. Sie haben zudem eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, wenn es darum geht, gesellschaftliche Bereiche mitzugestalten, in denen es an Geld mangelt. Geldspenden spielen eine wichtige Rolle, um zivilgesellschaftliche Organisationen wie Vereine, Verbände oder Stiftungen im Sozialen, in der Kultur, der Bildung oder der internationalen Hilfe zu unterstützen. Das Spenden hat also einen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Stellenwert. Dabei wird das Spenden von Geld keineswegs uneingeschränkt positiv gesehen. So ist schnell kritisch die Rede vom sogenannten Postgiro-Aktivismus oder der checkbook participation – also davon, dass sich die Spender von tatkräftiger Verantwortung und Schuldbewusstsein freikaufen, quasi eine moderne Form des Ablasshandels betreiben. Oft werden auch Befürchtungen geäußert, dass Spenden genutzt werden, um staatliche Defizite und Missstände zu beheben oder dass finanzkräftige Einzelne übers Spenden Einfluss auf öffentliche Güter und Bereiche gewinnen. Zudem wird immer wieder die Sorge laut, dass die finanzielle Unterstützung von Bedürftigen deren Eigeninitiative bremsen könnte. Als Hilfe bei Naturkatastrophen – wie etwa beim Oder-Hochwasser 1997, der Elbflut 2002 oder der Tsunami-Katastrophe im Jahr 2005 – ist das Spenden jedoch weithin akzeptiert. Die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sind unterschiedlich verankert und vernetzt, und sie verfügen über ungleiche materielle Ressourcen. Dies wirft zwei Fragen auf: Spenden alle sozialen Gruppen und zeigen sie damit in gleichem Maße prosoziales Verhalten? Und: Entsprechen die Geldspenden der einzelnen Gruppen ihrer wirtschaftlichen Situation oder besitzen bestimmte Gruppen noch Reserven, mit denen sich das nationale Spendenvolumen vergrößern ließe? In Deutschland vorliegende Erhebungen zum Thema Geldspenden kommen zu einem gemeinsamen Befund: Es herrscht seit rund 15 Jahren ein hohes Maß an Kontinuität. Es sind kaum Entwicklungen hin zu einem spürbaren Wachstum des Spendenvolumens auszumachen – und das, obwohl das Vermögen der Bevölkerung gestiegen ist. Aktuelle und sozialstrukturell differenzierte Daten liegen mit der Langzeitstudie des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) vor, die das DIW Berlin zusammen mit TNS Infratest Sozialforschung erhebt: Im Erhebungsjahr 2010 gaben rund 40 Prozent der in Deutschland lebenden Erwachsenen an, in den zurückliegenden zwölf Monaten Geld gespendet zu haben. Legt man die im 34 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 SOEP ermittelten Pro-Kopf-Spenden von 200 Euro pro Jahr als Durchschnittswert für eine Hochrechnung auf die Bevölkerung fest, ergibt sich ein Gesamtspendenvolumen von rund 5,3 Milliarden Euro. Obwohl der SOEP-Befragung zufolge ein beachtlicher Anteil der in Deutschland lebenden Bürger spendete, gibt es beträchtliche Unterschiede nach Region, Geschlecht, Alter und Bildung. Während etwa 41 Prozent der Westdeutschen Geld gaben bei einer durchschnittlichen Spendenhöhe von 213 Euro, spendeten nur ein Drittel der Ostdeutschen Geld. Im Schnitt war hier auch die gespendete Summe mit 136 Euro deutlich niedriger. Beim Blutspenden als einer anderen Form des Spendens sind hingegen die Ostdeutschen eifriger – sie zählen zu acht Prozent zu den Spendern, im Westen sind es nur sechs Prozent (siehe Tabelle). Eine Rolle mag dabei spielen, dass zu DDR-Zeiten Blutspenden fester Bestandteil des betrieblichen Gesundheitswesens war und diese Form des Spendens im Osten Deutschlands daher selbstverständlicher ist als im Westen. Auch im Spendenverhalten von Männern und Frauen gibt es Unterschiede: Die SOEP-Daten zeigen, dass Frauen in Deutschland eher spenden. Für die unterschiedliche Spendenbeteiligung beider Geschlechter wird oft die durchschnittlich längere Lebenserwartung von Frauen verantwortlich gemacht, da ältere Menschen häufiger spenden als jüngere. Beim Blutspenden zeigten sich hingegen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede – sieben Prozent der Männer Tabelle WM 134der Spenden und sechs Prozent Frauen gaben an, im vergangenen Jahr Blut gespendet zu haben. Mit zunehmendem Alter steigen die Spendenbereitschaft und auch die durchschnittliche Höhe gespendeter Geldbeträge, während die Bereitschaft zu BlutGeldspende (in Prozent) Spendenhöhe (Euro/Jahr) Blutspende (in Prozent) insgesamt 40 201 7 Westdeutschland Ostdeutschland 41 32 213 136 6 8 Männer Frauen 38 41 245 162 7 6 deutsch nichtdeutsche Staatsangehörigkeit 40 28 202 179 7 2 18 bis 34 Jahre 35 bis 49 Jahre 50 bis 64 Jahre 65 bis 79 Jahre 80 Jahre und älter 25 39 42 52 51 98 197 194 255 266 12 8 6 2 0 kein Schulabschluss/Hauptschulabschluss sonstiger Abschluss Abitur (Fach-)Hochschulabschluss 34 36 42 58 144 146 161 347 4 7 15 7 vollzeiterwerbstätig teilzeitbeschäftigt, geringfügige Tätigkeit nicht erwerbstätig arbeitslos gemeldet 38 43 43 16 215 144 219 85 9 8 3 6 Blutspender/in im Jahr 2009 Blutspender/in in den letzten 10 Jahren 46 43 134 143 100 - Geldspende im Jahr 2009 100 201 8 Spendenverhalten in Deutschland im Jahr 2010 (in den letzten 12 Monaten vor der Befragung) Quelle: SOEP V27 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 35 spenden zurückgeht. Besonders selten spenden jüngere Menschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren Geld. In dieser Altersgruppe spendet nur jeder Vierte, und die durchschnittliche Spendenhöhe liegt bei vergleichsweise niedrigen 100 Euro. Viele Menschen beginnen offensichtlich erst im mittleren Alter mit dem Spenden; die Bereitschaft steigt dann in den Altersgruppen über 65 Jahren auf über 50 Prozent. [Foto: David Ausserhofer] Eckhard Priller leitet die Projektgruppe Zivilengagement am WZB. Die Spendenthematik untersucht er speziell unter sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten. Zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten gehören der dritte Sektor und zivilgesellschaftliches Engagement. priller@wzb.eu Die Gründe für den deutlichen Einfluss des Alters auf das Spendenverhalten sind bislang noch nicht näher untersucht. Erklärungsansätze der Generationenforschung gehen davon aus, dass Menschen einer Altersgruppe wie jene der Älteren zu einem ähnlichen Verhalten tendieren, da sie in ihrer Kindheit gleiche bzw. ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zum Beispiel einen Krieg erlebt, zugleich aber auch Solidarität in Not und Leid erfahren haben. Häufig wird die größere Spendenbereitschaft älterer Menschen aber auch auf deren größeres Vermögen sowie eine damit insgesamt gute wirtschaftliche Situation und die höhere Zufriedenheit mit dem eigenen Einkommen zurückgeführt. Beim Blutspenden kehrt sich das Spendenverhalten um – die Jüngeren sind hier deutlich aktiver, während der Spenderanteil ab 50 Jahren stark zurückgeht, was auch auf zunehmende gesundheitliche Einschränkungen zurückgeführt werden kann. Je gebildeter ein Mensch ist, desto eher spendet er Geld. Am spendabelsten sind Frauen und Männer mit (Fach-)Hochschulabschluss. In dieser Gruppe spenden nahezu 60 Prozent der Befragten. Bei Menschen ohne oder mit einem niedrigen Bildungsabschluss fällt die Spenderquote mit rund einem Drittel weit geringer aus. Keinen Akademiker-Effekt gibt es hingegen beim Blutspenden. Auch der Erwerbsstatus beeinflusst die Spendenbereitschaft – Arbeitslose spenden seltener Geld als Erwerbstätige. Die Spendenquote liegt bei den Arbeitslosen bei nur 16 Prozent. Nichterwerbstätige, zu denen besonders Frauen und Männer im Rentenalter gehören, haben nicht nur die höchste Spenderquote, sondern spenden mit 219 Euro auch im Durchschnitt den höchsten Betrag. Erwartungsgemäß hat die Höhe des verfügbaren Einkommens großen Einfluss auf das Spendenverhalten. Größerer Wohlstand würde es theoretisch ermöglichen, einen höheren Anteil von Einkommen und Vermögen anderen Menschen oder Projekten zukommen zu lassen, ohne selbst verzichten zu müssen oder in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Denn wer ein hohes Einkommen hat, dem fällt es demnach leichter, gemeinnützige Zwecke finanziell zu unterstützen – dementsprechend könnte die Spendenfreudigkeit mit steigender ökonomischer Position zunehmen. Mit höheren Einkommen wachsen durch die Steuerprogression zudem die Anreize fürs Spenden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass nach sämtlichen vorliegenden empirischen Erhebungen der Anteil der Spender mit steigendem Einkommen zunimmt. Auch nach Angaben aus dem SOEP spenden untere Einkommensgruppen prozentual einen geringeren Anteil des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes als Menschen mit höherem Einkommen. Empirische Studien aus den USA zeigen, dass es dort eine sogenannte U-förmige Beziehungskurve zwischen Einkommens- und Spendenhöhe gibt: Im Vergleich zu den untersten Einkommen sinkt der prozentuale Spendenanteil bei steigendem Einkommen. Erst bei höherem Einkommen, wenn es eine bestimmte Marke übersteigt, nimmt der Spendenanteil wieder zu. In Deutschland ist das anders: Hier spendet das unterste Einkommenszehntel den SOEP-Daten zufolge mit 0,13 Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens anteilig am wenigsten, im zweituntersten Einkommenszehntel erhöht sich das Spendenvolumen bereits auf 0,20 Prozent des Jahresnettoeinkommens. Nach einem weiteren Anstieg in den beiden folgenden Einkommenszehnteln fällt der Spendenanteil im fünften und sechsten Zehntel – also in der Mitte der Einkommensgruppierung – ab. Nach dem siebten Zehntel steigt der Spendenanteil wieder an, und das oberste Einkommenszehntel hat mit 0,57 Prozent den mit Abstand höchsten Anteil. Das Spendenvolumen in dieser Einkommensgruppe beträgt annähernd zwei Milliarden Euro – rund ein Drittel des gesamten Geldspendenvolumens. Menschen mit einem höheren Einkommen spenden also nicht nur häufiger, sie spenden auch mehr. Allerdings sind hierzulande die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen noch relativ gering. Besser Verdienende 36 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 könnten es sich somit erlauben, künftig noch mehr zu spenden, zumal bei dieser Gruppe die Rückflüsse durch die Minderung der Steuerlast relativ am höchsten sind. Neben dem Einkommen haben die Vermögensverhältnisse besonderen Einfluss auf das Spenden. Deutschland gehört, was den Umfang der Privatvermögen angeht, weltweit zu den reichsten Ländern. Das Geldvermögen der Bevölkerung ist selbst in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrisen angestiegen. Eine Zunahme der Vermögen ist nicht zuletzt durch einen Anstieg des in Deutschland vergleichsweise milde besteuerten Erbschaftsvolumens seit Anfang der 1990er Jahre zu verzeichnen. Bis zum Jahr 2020 dürften bei geschätzten elf Millionen Erbfällen Immobilien-, Geld- und Gebrauchsvermögen von rund drei Billionen Euro vererbt werden. An diesen Vermögenszuwächsen partizipiert freilich nicht die ganze Bevölkerung gleichermaßen. Insofern ist von jenen, deren Vermögen kräftig zulegt, ein höherer Spendenbeitrag zu erwarten – ein wachsendes Vermögen sollte auf der individuellen Ebene zu einem steigenden Spendenaufkommen führen. Der durchaus vorhandene Vermögenszuwachs ist mit dem gegenwärtig stagnierenden Spendenvolumen nur schwer öffentlich vermittelbar. Zwar nicht aus der Perspektive des prosozialen Handelns, aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sollten nach Vorstellung der Fundraising-Expertin Marita Haibach die sogenannten Großspender, also jene, die ab 500 bzw. 1000 Euro im Jahr spenden, stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Nur so lasse sich künftig ein spürbarer Zuwachs des Spendenumfangs erreichen. Nach Berechnungen auf Grundlage des World Wealth Report leben in Deutschland 861.000 Menschen mit einem Nettovermögen von mindestens 785.000 Euro: Würde nur ein Prozent dieses Einkommens gespendet, so ließe sich damit jährlich ein zusätzliches Spendenaufkommen von mindestens 6,8 Milliarden Euro erreichen. Das Spendenaufkommen in Deutschland könnte damit die Marke von zehn Milliarden Euro im Jahr übertreffen. [Foto: DIW] Jürgen Schupp ist Leiter des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) im DIW Berlin und Honorarprofessor für Soziologie an der FU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Erhebungsmethodik und Umfrageforschung, Soziale Indikatoren sowie angewandte Längsschnittanalysen zu Arbeitsmarktintegration und soziale Ungleichheit. jschupp@diw.de Mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Geld- und Blutspenden zeigt sich, dass bei den Geldspendern eher als bei den Blutspendern soziale Merkmale bedeutsam sind. Untersuchungen zeigen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Blut- und Geldspenden gibt: Blutspender spenden um neun Prozentpunkte häufiger Geld und Geldspender spenden umgekehrt zu rund fünf Prozentpunkten häufiger Blut als der Bevölkerungsdurchschnitt. Das lässt darauf schließen, dass eine allgemeine Neigung zum Spenden und damit zu prosozialem Handeln ausgeprägt ist. Das Spenden ist also keineswegs nur materiell motiviert, sondern wird auch von vielerlei Wertentscheidungen und subjektiven Dispositionen bestimmt. Während die vorliegenden Ergebnisse eindrucksvoll zeigen, dass verfügbares Einkommen und Bildung sowohl die Spendenbereitschaft als auch die Höhe der jeweiligen Geldspende signifikant beeinflussen, spielen bei Blutspendern Einkommens- oder Bildungseffekte keine Rolle. Literatur Adloff, Frank/Priller, Eckhard/Strachwitz, Rupert Graf (Hg.): Prosoziales Verhalten – Spenden in interdisziplinärer Perspektive. Stuttgart: Lucius & Lucius 2010. Deutsches Zentrum für soziale Fragen (Hg.): Spendenbericht Deutschland 2010. Berlin: DZI 2010. Haibach, Marita: Großspenden in Deutschland: Wege zu mehr Philanthropie. Köln: Major Giving Solutions 2010. Priller, Eckhard/Schupp, Jürgen: Soziale und ökonomische Merkmale von Geld- und Blutspendern in Deutschland. DIW Wochenbericht, 29/2011. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2011, S. 3-10. Priller, Eckhard/Sommerfeld, Jana (Hg.): Spenden in Deutschland. Analysen – Konzepte – Perspektiven. Münster: LIT Verlag 2010. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 37 Mehr als ein neuer Motor Die Wende zur E-Mobilität erfordert innovative Nutzungskonzepte Weert Canzler und Andreas Knie Summary: Climate change, the end of cheap oil, and the looming collapse of transportation systems demand the transition to post-fossil energy sources. Changing the drive unit alone will not suffice. Multiple, networked electromobility could accommodate the diverse needs of individual transportation. It requires harmonized, integrated modes of transport, facilitating uncomplicated combinations of public and private means of transport, like trains, buses, cars, and bicycles. E-cars can serve as both a means of transport and a buffer against weather-related fluctuations in the production of renewable electric power. The question is not only whether integrated emobility will be accepted by users. A political framework must be created for electromobility as well. Zusammenfassung: Klimawandel, das Ende des billigen Öls und drohender Verkehrskollaps zwingen zum Umstieg auf die Elektromobilität. Diese umfasst aber mehr als nur einen neuen Antrieb. Vielmehr geht es darum, öffentliche und private Verkehrsmittel wie Züge, Busse, Autos und Fahrräder miteinander zu verknüpfen. Elektrofahrzeuge können darüber hinaus als Puffer für die unregelmäßige Stromproduktion aus regenerativen Quellen dienen. Noch ist offen, ob eine solche vernetzte E-Mobilität von den Nutzerinnen und Nutzern angenommen wird. Auch die Politik ist gefragt, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich Elektromobilität durchsetzen kann. Die Bundesregierung hat ein klares Ziel vorgegeben: Bis 2020 sollen eine Million elektrisch betriebene Fahrzeuge auf deutschen Straßen unterwegs sein – und die deutsche Autoindustrie soll zum Vorreiter einer weltweiten E-Mobility werden. Ob dieses Zukunftsszenario allerdings Realität wird, ist fraglich. Der Erfolg hängt maßgeblich davon ab, ob Politik, Wirtschaft und Nutzer zu tiefgreifenden Veränderungen bereit sind. Denn eines ist klar: Es geht um weit mehr als darum, den Verbrennungsmotor durch einen Elektroantrieb zu ersetzen. Elektroautos fahren sich zwar angenehm, sind leise und haben eine sofort spürbare Beschleunigung. Technisch werden sie den konventionell betriebenen Automobilen jedoch noch auf lange Zeit unterlegen bleiben. Man kann mit ihnen nur relativ kurze Strecken zurücklegen, und das Aufladen der Batterie braucht viel Zeit. Eine bezahlbare „Superbatterie“ mit einer deutlich höheren Speicherdichte ist nicht in Sicht. Außerdem sind Elektroautos in der Anschaffung doppelt so teuer wie herkömmliche Autos – der normale Käufer wird sich deshalb ein Elektroauto nicht leisten wollen. Angesichts dieser Handicaps haben Elektroautos nur dann eine Chance, sich auf dem Markt zu etablieren, wenn man sie anderweitig attraktiv macht – zum Beispiel indem man sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer neuen integrierten Dienstleistung verbindet. Das könnte so funktionieren: Man hat eine Karte oder auch ein Mobiltelefon und kann damit durchgängig alle Verkehrsmittel nutzen. Man fährt, ohne viel über die Kosten nachzudenken, und erst am Monatsende kommt die Rechnung. Dabei würde das klassische Fahrzeug seinen Charakter radikal verändern. Es wäre nicht mehr ein exklusives, privates Fortbewegungsmittel, das für alle Gelegenheiten genutzt wird, sondern Teil einer professionell gemanagten und öffentlich genutzten Verkehrsflotte. E-Mobile im Flottenmanagement haben gegenüber rein privat genutzten Fahrzeugen viele Vorteile. Sie lassen sich kontrolliert einsetzen, erreichen eine höhere Fahrleistung und sind effizienter. Entscheidend ist jedoch, dass sie gezielt aufgeladen werden können, nämlich dann, wenn der Strom am günstigsten ist. Darüber hinaus könnten Elektroauto-Flotten eine wichtige Funktion in der angestrebten Energiewende übernehmen. Gesucht werden nämlich dringend neue Speicheroptionen, um die wachsende unregelmäßige Stromproduktion einzufangen, die mit dem Ausbau von Wind- und Solaranlagen verbunden ist. „Vehicle to Grid“ (V2G) heißt das neue Geschäftsmodell, bei dem E-Fahrzeuge zu Puffern für überschüssigen regenerativen Strom werden, vorzugsweise in der Nacht und an nachfragearmen Wochenenden. Voraussetzung ist aber, dass die Fahrzeuge auch tatsächlich als verlässliche „Auffangbecken“ zur Verfügung stehen. In Flotten wäre das der Fall. Carsharing als eine Variante des Flottenbetriebs wäre ein ideales Programm zur Markteinführung von E-Mobilen. Damit sind gleich mehrere Vorteile verbunden. Die Nutzung eines Elektroautos wäre für den Einzelnen bezahlbar. Damit hätten mehr Menschen die Möglichkeit, Erfahrungen mit E-Autos zu machen. Zudem passen die Streckenprofile von Autofahrten in städtischen Gebieten – täglich durchschnittlich unter 50 Kilometer – zur Reichweite des Elektroautos. Darüber hinaus steht ein kalkulierbarer Teil der Flotte für längere Intervalle an Stationen und könnte dort aufgeladen werden. All das macht lukrative Geschäftsmodelle für ein entwickeltes V2G möglich, die beispielsweise dem Carsharing-Anbieter nicht nur 38 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 günstige Stromtarife garantieren, sondern auch die Möglichkeit geben, Einspeisevergütungen in Zeiten erhöhter Nachfrage nach grünem Strom zu erhalten. Wie ein intermodales Verkehrsangebot konkret aussehen kann, wurde im Rahmen des vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Modellvorhabens „BeMobility“ in Berlin und Brandenburg entwickelt (siehe www.bemobility.de) und im Sommer 2011 von über 1.500 Kunden getestet, die mit mehr als 30 verschiedenen E-Fahrzeugen über 250.000 Kilometer zurückgelegt haben. Zum Angebot gehörten auch Zeitkarten für den öffentlichen Verkehr sowie die Nutzung der öffentlichen Mieträder der Deutschen Bahn. Diese Verkehrsangebote konnten bequem über eine App auf dem Smartphone gebucht werden. Um solche intermodalen Verkehrsdienstleistungen alltagstauglich zu machen, sind jedoch umfassende verkehrspolitische Änderungen notwendig. Der öffentliche Raum muss praktisch neu aufgeteilt und für Sharing-Konzepte zugänglich gemacht werden. Öffentliche Autos und Fahrräder müssen überall dort abgestellt werden können, wo Platz ist. Das ist bislang noch nicht der Fall. Oft muss um jeden einzelnen Stellplatz gekämpft werden, während private Fahrzeuge im öffentlichen Raum umsonst oder mit Anwohnerplaketten kostengünstig parken dürfen. Darüber hinaus muss die technische Infrastruktur deutlich verbessert werden. Genügend Ladestationen und vor allem ein einheitlicher und einfacher Zugang zu den unterschiedlichen Ladepunkten sind unverzichtbar. [Foto: David Ausserhofer] Weert Canzler ist Politikwissenschaftler und promovierter Soziologe (FU Berlin). 1993 kam er ans WZB, wo er 1997 mit Andreas Knie die Projektgruppe Mobilität gründete. Seit 2008 ist er Mitglied der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik. Er arbeitet vor allem über Innovations- und Zukunftsforschung sowie Verkehrs- und Infrastrukturpolitik. canzler@wzb.eu Die größten Herausforderungen sind aber nicht technischer, sondern vielmehr sozialer und innovationskultureller Art. Um eine integrierte Infrastruktur aufzubauen, müssen Energieversorger, Automobilhersteller und öffentliche Verkehrsunternehmer kooperieren und ihre Geschäftspläne miteinander abstimmen. Denn jede Branche ist gezwungen, ihr Kerngeschäft neu zu sortieren und bisherige Kooperationen und Allianzen zu überprüfen. Nicht zu erwarten ist zwar, dass die Energieversorger zukünftig zu Stromverträgen auch ein Elektroauto dazugeben werden – ein Geschäftsmodell, wie man es aus der Mobilfunkbranche kennt. Realistisch dagegen erscheint es, dass beispielsweise Daimler in Zukunft auch Bahnfahrkarten verkauft. Beim Kurzzeitvermietangebot Car2go sucht der Autobauer bereits die Nähe zum öffentlichen Verkehr. Noch aber funktioniert die Zusammenarbeit nicht wirklich. Die Kommunen und Gebietskörperschaften stehen vor ähnlichen Problemen. Die milliardenteuren Energie- und Verkehrsinfrastrukturen waren bisher ausschließlich auf Versorgungssicherheit ausgelegt. Innovationen kamen hier nicht vor. Zudem gibt es in Deutschland keine Förderprogramme, die Grenzübergänge zwischen Branchen und Disziplinen unterstützen. Symptomatisch hierfür ist, das BMW seine Venture-Capital-Gesellschaft für die Beteiligung an vielversprechenden Spin-offs im Bereich urbaner Mobilität in New York und nicht in Deutschland gegründet hat. Schließlich bleibt die Frage, ob die Nutzerinnen und Nutzer bereit sind, auf neue Formen der Mobilität umzusteigen. Denn es geht um nicht weniger als um den Abschied vom privaten Auto – der Rennreiselimousine, die einen jederzeit an fast jeden Ort bringen kann. Erste Erfahrungen aus Pilotversuchen zeigen zwar einen „Lerneffekt“: Wer sich auf intermodale Mobilitätsdienstleistungen und ECarsharing einlässt, nutzt weniger das private, konventionelle Auto und mehr die öffentlichen Verkehrsmittel und das Leihfahrrad. Ob diese Idee einer vernetzten Elektromobilität eines Tages Wirklichkeit wird, hängt jedoch davon ab, ob sie tatsächlich alltagstauglich ist – sich also in die Routinen des täglichen Lebens einbauen lässt. [Foto: Uwe Kumpfmüller] Literatur Canzler, Weert/Knie, Andreas: Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine saubere Zukunft. München: oekom Verlag 2011. NPE – Nationale Plattform Elektromobilität: Zweiter Bericht der Nationalen Plattform Elektromobilität. Berlin: NPE 2011. Urry, John/Dennis, Kingsley: After the Car. Cambridge: Polity Press 2009. Andreas Knie ist Soziologieprofessor an der TU Berlin; seit 1987 forscht er am WZB. Seit 2006 ist er Mitglied der Geschäftsführung des Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel GmbH und seit 2010 Leiter Geschäftsentwicklung der Fuhrparkgruppe der Deutschen Bahn AG. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verkehr und Mobilität sowie Wissenschafts- und Innovationspolitik. knie@wzb.eu WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 39 Nachgefragt bei Michael Hutter: Wertmigration Sie haben für Ihre Forschungen zur Wertmigration die Wurzeln von Disneys Märchenfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ in der europäischen Kunstgeschichte ergründet … … die definitiv vorhanden sind. So ist Schneewittchens böse Stiefmutter der Uta aus dem Naumburger Dom nachempfunden. Schon in den 1830er, 1840er Jahren gab es in Europa Zeichnungen von Zwergen, die Schneewittchens Zwergen ähneln. Schneewittchen erinnert an Bildnisse aus der Romantik. Wie kommt das? Disney machte seinen Zeichnern Bildmaterial aus der Romantik zugänglich. Er reiste durch Europa, kaufte Bildbände auf und ließ sie in die USA bringen. Dabei geht es neben der Bilderwelt des 19. Jahrhunderts auch um das, was gebaut wurde – Schloss Neuschwanstein etwa. Wo findet die Wertmigration statt? Es geht um einen innewohnenden Wert, der in einem anderen Umfeld erhalten bleibt. Das Publikum von „Schneewittchen“ musste in Sekundenbruchteilen erkennen, dass die Stiefmutter mächtig und böse ist – Disney und seine Zeichner mussten also Bilder suchen, die dem Zuschauer blitzschnell vertraut sind. Genauso geht es den Betrachtern der Uta: Diese Figur überzeugt sofort und war im 19. Jahrhundert bereits wertgeschätzt als eindrucksvolle Darstellung einer Herrscherin. Was interessiert Sie an Wertmigrationen? Die Fähigkeit des Zuschauers, solche Angebote zu verstehen. Und die Fähigkeit der Schöpfer, aus etablierten Kunstwerken neue kommerzielle Werte zu schaffen. Wer Disney hört, denkt an Comic-Jubilar Mickey Mouse, der soeben 60 wurde. Auch bei Mickey ist eine Wertmigration nachweisbar, denn im 19. Jahrhundert gab es eine Tradition sprechender Tiere mit menschlichen Zügen. Für meine Zwecke waren die Disney-Märchenfilme allerdings ein reichhaltigerer Fundort. Foto: David Ausserhofer Fragen: Andrea Lietz-Schneider 40 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Ein Wachhund der Demokratie Laudatio auf Transparency International, den A.SK-Preisträger 2011 Gunnar Folke Schuppert Die Laudatio auf einen Preisträger sollte keine unspezifische Anhäufung von Komplimenten und Artigkeiten sein; ich möchte auch der naheliegenden Versuchung widerstehen, zu erläutern, wie wichtig, ja unverzichtbar die Arbeit von Transparency International für so etwas wie eine globale politische Kultur ist. Wir alle sind doch durch das einigende Band der Überzeugung verbunden, dass Transparenz in der Politik etwas Gutes ist und dass die Arbeit von Transparency International Anerkennung und Unterstützung verdient. Nachdem dies klargestellt ist, scheint es mir an der Zeit, mit einer strukturierten Laudatio zu beginnen, die vier Aspekte thematisiert. Als erstes möchte ich erläutern, warum es sinnvoll ist, einer Institution und nicht unbedingt einer Einzelperson diesen Preis zu verleihen; zweitens möchte ich den Begriff „Watchdog-Institution“ kurz umreißen; drittens müssen einige Worte zum Zentralbegriff der Transparenz gesagt werden. Und schließlich möchte ich die Brücke von transparency zur rule of law schlagen. Vom Gottvertrauen zum Institutionenvertrauen Vertrauen setzt – so könnte man denken – eine personale Beziehung voraus. Man vertraut einem anderen Menschen – weil man ihn kennt oder weil man ihn mag. Wähler geben Politikern einen Vertrauensvorschuss – häufig ein riskantes Unterfangen. Aber es gibt auch so etwas wie Institutionenvertrauen. Das Paradebeispiel dafür ist das im Moment landauf, landab gefeierte Bundesverfassungsgericht. Unter der Überschrift „Karlsruhe als Gnadenort“ hat Heribert Prantl, ein sympathischer und witziger Mensch, zugleich eine Institution des liberalen Journalismus, folgendes notiert: „Was Altötting für den deutschen Katholizismus ist, das ist Karlsruhe für den deutschen Rechtsstaat – ein Gnadenort. Hier wie dort manifestieren sich Wunder. Das Wunder von Karlsruhe besteht im Vertrauen, das die Deutschen in dieses Gericht setzen: Die 16 Bundesverfassungsrichter sind für die Rechtsuchenden so etwas Ähnliches wie für gläubige Christen die 14 Nothelfer.“ Dieses hübsche Zitat ist nicht der einzige und nicht der wichtigste Grund, das Bundesverfassungsgericht als Vergleichsinstitution heranzuziehen. Es ist vielmehr das ambivalente Verhältnis unseres höchsten Gerichts zur Transparenz. Einerseits ist das Gebäude des Gerichts eine Hommage an den Transparenzgedanken; die durchgängigen Glasfronten laden zum Einblick ein, allerdings nur bis zur Tür des Beratungszimmers, hinter der das sogenannte Beratungsgeheimnis bereits Platz genommen hat. Allerdings hat dieses Beratungsgeheimnis nichts mit der transparenzwidrigen „normativen Kraft des Hinterzimmers“ zu tun; vielmehr ist es ein funktional unentbehrlicher Bestandteil einer diskursiven Entscheidungsfindung. Als transparenzwidrig aber gilt vielen das Verfahren der Richterwahl; zwar werden sie von Bundestag und Bundesrat gewählt, de facto werden aber wegen der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit in kleinster Runde, aber mit allergrößter parteipolitischer Sorgfalt Personalpakete geschnürt, die wieder aufzuschnüren sich wiederum nach den informellen Regeln des Politikbetriebs nicht gehört. Geben wir erneut Heribert Prantl das Wort, der zu diesem Punkt mit seiner spitzen Feder Folgendes zu Protokoll gegeben hat: „Mehr Transparenz und WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 41 weniger Parteienmacht sollte künftig das Wahlverfahren bestimmen. Dies verlangten Politiker, Wissenschaftler, Journalisten; passiert ist seither dennoch nichts. Dabei könnte sogar die Papstwahl als Vorbild dienen: Die ist nämlich eine echte Wahl – und man kennt die Namen sowohl der Wählenden als auch der Wählbaren.“ [Foto: privat] Shu Kai und Angela Chan haben 2007 den A.SK Social Science Award gestiftet. Alle zwei Jahre verleiht das WZB den Preis. Mit ihm wird sozialwissenschaftliche Forschung gewürdigt, die einen Beitrag zu politischen und sozialen Reformen leistet. 2007 wurde der englische Ökonom Anthony Atkinson, 2009 die amerikanische Rechtsphilosophin Martha C. Nussbaum mit dem Preis geehrt. Die Familie Chan hat zusätzlich Mittel für mehrere Postdoc-Fellowships gestiftet (siehe Seite 61). So viel zum Bundesverfassungsgericht und seinen von allen gelobten Leistungen für das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Warum aber sollten wir eine Institution wie Transparency International wertschätzen, ihr vertrauen oder gar – ganz ohne Wahl – ihr Mitglied werden? Soweit ich sehe, ist von Transparency International weder im deutschen Grundgesetz noch in der Charta der Vereinten Nationen die Rede; was legitimiert diese Institution eigentlich, sich zum Sprachrohr des Gemeinwohls zu machen und denjenigen, die den Staat als Beute genüsslich unter sich aufteilen, das Festmahl durch die Praxis des naming and shaming zu versalzen? Die nunmehr zu erläuternde Antwort kann bündig ausfallen: Transparency International ist eine unentbehrliche Watchdog-Institution. Transparency International als Watchdog-Institution Wenn wir über das Gemeinwohl nachdenken – und wer von uns täte dies nicht täglich –, so fällt schnell ins Auge, dass wir es in einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen wie dem unseren mit einer Vielzahl von Gemeinwohlakteuren zu tun haben, von denen einige in der Rechtsordnung ausdrücklich vorgesehen, andere aber als selbsternannte Gemeinwohlagenten unterwegs sind. Wenn man sie – was sozialwissenschaftlich aufgeschlossene Juristen gerne tun – zu systematisieren versucht, so kann man drei besonders interessante gemeinwohlspezifische Institutionalisierungen unterscheiden, nämlich Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls. Beginnen wir mit den Hütern des Gemeinwohls, womit Institutionen gemeint sind, die auch tatsächlich so adressiert werden, weil sie für bestimmte Gemeinwohlbelange eine Hüter- beziehungsweise Obhutfunktion wahrnehmen. Dazu rechnen etwa – um nur vier besonders prominente Beispiele zu nennen – das schon genannte Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung, das Bundeskartellamt als Hüter des Wettbewerbs, die Europäische Kommission, die sich selbst gern als Hüterin der Verträge bezeichnet, und als besonders schönes Beispiel, das man angemessen wohl nur mit einem gewissen nostalgischen Timbre in der Stimme zitieren kann, die Deutsche Bundesbank als Hüterin der Währung. Obwohl sie inzwischen dramatisch an Bedeutung verloren hat, taugt sie als Beispiel des Gemeinten hervorragend: Die Bundesbank war und ist die institutionalisierte Verkörperung der Leitidee der Geldwertstabilität und hat auch entsprechend dieser ihr in die Wiege gelegten Funktionslogik agiert. Helmut Schmidt – der leadership ausstrahlende Altkanzler, der fast schon Kultstatus genießt – hat deshalb in den Direktoren der Bundesbank wie auch den Richtern des Bundesverfassungsgerichts als den bisweilen lästigen Konter-Kapitänen unserer Republik gesprochen, passend zu der von ihm selbst bevorzugten nautischen Kopfbedeckung. Eine andere Kategorie sind die sogenannten Wächter des Gemeinwohls. Als Paradebeispiel gelten insoweit Organisationen, die wir gemeinhin als NGOs bezeichnen, ein Organisationstyp, der inzwischen auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken kann. Uns interessiert aber weniger ihre in der Tat staunenswerte Karriere, sondern ihr institutioneller Beitrag zum Gemeinwohl sowie die Frage, ob auch ihnen – im funktionellen Sinne – ein bestimmtes Amt zugesprochen werden kann. Nach einer solchen Amtsbezeichnung zu suchen liegt deshalb nahe, weil ihnen in der Literatur ein institutionelles Charisma bescheinigt wird, das in den institutionenspezifischen Leistungen der NGOs für das politische System seine Rechtfertigung finde. Will man diese Leistungen auf den Punkt bringen, so kann man dafür auf den Begriff des Wächteramtes zurückgreifen – wie dies der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, Walter Homolka, mit den folgenden Worten 42 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 getan hat: „Die NGOs treten an, neben Parlament und Wirtschaft ihre wichtige Rolle bei der künftigen Gestaltung unserer Gesellschaft zu spielen (…).“ Besonders auf der internationalen Ebene „erfüllen international arbeitende Organisationen wie Greenpeace oder der World Wide Fund for Nature (WWF) ein bedeutsames Wächteramt“. Von diesem Begriff des Wächteramtes ist es nur ein kleiner Schritt zu dem der Watchdogs. Dieser Begriff entstammt – wenn wir recht sehen – der britischen Privatisierungspolitik unter der uns allen erinnerlichen Maggie Thatcher. Kennzeichnend für die tiefgreifende Privatisierungspolitik der Regierung Thatcher war, dass zwar alles, was vorher staatliche Daseinsvorsorgeleistungen waren, von British Rail über Gas, Wasser und Elektrizität, dem Markt überantwortet wurde, gleichzeitig aber spiegelbildliche Regulierungsbehörden ins Leben gerufen wurden, um ein flächendeckendes Angebot zu erträglichen Preisen sicherzustellen. Diese Organisationen neuen Typs hören aufgrund ihrer Regulierungs- und Überwachungsfunktion auf den Namen regulatory watchdogs – eine Spezies von Wachhunden, die nicht nur bellen, sondern auch beißen können. Auch Transparency International bellt nicht nur, sondern beißt auch; der von ihr publizierte und periodisch aktualisierte Korruptionsperzeptionsindex ist einer der meistgelesenen Indizes der Welt und arbeitet mit Waffen, die für Einrichtungen typisch sind, die über keine formalisierten Sanktionsmittel verfügen; dies sind, wie Claus Offe es treffend formuliert hat, „information and signals as a resource of public policy“. [Foto: David Ausserhofer] Gunnar Folke Schuppert (rechts) hielt am 19. November 2011 bei der A.SK-Preisverleihung in Berlins Rotem Rathaus die hier dokumentierte Laudatio auf Transparency International. Für die Organisation, die sich weltweit für den Kampf gegen Korruption einsetzt, nahm dessen Managing Director Cobus de Swardt (links) die Auszeichnung entgegen. Ich komme nun zu meinem dritten Punkt, nämlich von Transparency International als institutionalisierter Verkörperung der idée directrice der Transparenz öffentlicher Herrschaftsausübung. Was bedeutet nun das Zauberwort Transparenz? Transparency International als optozentristische Institution Wer sich für Literatur interessiert, kennt das literarische Genre der Festschrift. Wer sich besonders für Literatur interessiert, kennt vielleicht auch eine besondere Variante dieses Genres, nämlich Festschriften für Personen, die niemals gelebt haben, also fiktive Personen mit einer eigens für sie erfundenen Legende. Die erste Festschrift dieses Typs soll – wie man hört – dem fiktiven Bundestagsabgeordneten Jakob Maria Mierscheid gegolten haben; eine weitere im Nomos Verlag erschienene behandelt Leben und Wirken eines wissenschaftlichen Mitarbeiters am Bundesverfassungsgericht mit dem schönen Namen Ernst-August Nagelmann. Die dritte mir bekannte Festschrift dieses Typs ist die für ErnstAugust Dölle mit dem jedermann verständlichen Titel „Dichotomie und Duplizität“. Ernst-August Dölle verdanken wir – veranlasst durch einen Besuch in der Lüneburger Heide – eine von ihm entwickelte Typologie der Stille: Mucksmäuschenstille, ehrfürchtige Stille, Totenstille, ohrenbetäubende Stille usw. usw. Bevor Dölle aber sich dem Phänomen der Stille widmete, war er Optozentrist. Ein Optozentrist ist – wie der Name eigentlich schon sagt – jemand, dessen Wahrnehmung auf optische Signale zentriert ist. Wir sind eigentlich alle Optozentristen, was spätestens klar wird, wenn wir unseren täglichen Sprachgebrauch durchmustern: Er wimmelt von Optozentrismen. Nur einige Beispiele: Der Staatsanwalt – das ist sein Job – bringt Licht ins Dunkle; wenn wir uns bewerben, rücken wir uns ins rechte Licht; wenn etwas offensichtlich ist, ist es sonnenklar; wenn Frau Allmendinger mir etwas erläutert, antworte ich reflexhaft: „Das leuchtet mir ein.“ Das Jahrhundert der Aufklärung heißt im Englischen „The Century of Enlightenment“. Welche Schlussfolgerungen kann man nun aus dem Optozentrismus-Befund ziehen? Wir lernen daraus vor allem zweierlei: Erstens, dass der Begriff der Transparenz ein optozentristischer Begriff par excellence ist. Das Transparenzgebot hat Scheinwerferqualität, Transparenz taucht all das, was absichtsvoll verborgen bleiben soll oder in den Grauzonen der Rechtsstaatlichkeit heimisch ist, erbarmungslos in ein grelles Licht und macht WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 43 das entsprechende Treiben öffentlich. Transparenz stört daher nicht nur – und insoweit ist Transparency International vielen eine überaus lästige Institution – dunkle Gestalten, dunkle Geschäfte und dunkle Machenschaften, Transparenz stört auch jede kumpaneihafte Gemütlichkeit. Die Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2011 wirft in diesem Zusammenhang einen kritischen Blick auf eines unserer Nachbarländer und titelt „Österreich – eine korrupte Republik?“; die SZ gibt ihrem Artikel die interessante Überschrift „Unter Freunderln“ und fügt als Befund hinzu: „Ein System von Geben und Nehmen in Österreichs Politik hat den Staat offenbar zum Selbstbedienungsladen gemacht.“ Genau darum geht es: Unter der ebenso Gemütlichkeit suggerierenden wie entlarvenden FreunderlnSemantik verbirgt sich ein System, und damit sind wir beim zweiten Lerneffekt angelangt. [Foto: David Ausserhofer] Alex, Ellen und Tony Chan (von links nach rechts) vertraten die Stifterfamilie des A.SK-Preises bei der Preisverleihung in Berlin. Transparenzwidrige Phänomene wie Korruption, Klientelismus und Vetternwirtschaft haben System. Sie sind weniger der kriminellen Energie einzelner geschuldet – was es natürlich auch gibt. Vielmehr geht es um Intransparenz voraussetzende oder zumindest begünstigende Strukturen. Es reicht also nicht aus, einige besonders eklatante Fälle von Korruption oder Vetternwirtschaft zu skandalisieren und alsdann wieder dem Kurzzeitgedächtnis einer skandalgewohnten Gesellschaft zu überantworten, sondern darum, die Funktionslogik bestimmter Strukturen und informaler Spielregeln aufzudecken und durch die governance-analytische Brille genauer zu betrachten. Was damit gemeint ist, bringt wiederum die Süddeutsche Zeitung vom 17. August 2011 auf den Punkt, in deren Sportteil sich die folgenden Artikelüberschriften finden: „Im Netzwerk der alten Kameraden. Transparency International empfiehlt der FIFA eine unabhängige Anti-Korruptions-Kommission“. Transparency International agiert damit nicht nur in dem boomenden Bereich der Politikberatung, sondern ist im Grenzbereich zwischen Politik und Wissenschaft unterwegs. Nur eine systematische und wissenschaftlich fundierte Ursachenforschung zur Korruption hat überhaupt eine Chance, gegen dieses krakenhafte Phänomen etwas ausrichten zu können. Insoweit ist Transparency International notwendig eine halfway-Institution in dem ohnehin immer durchlässiger werdenden Grenzbereich von Wissenschaft und Politik – und genau dieser Bereich interessiert auch das WZB, das sich auch in diesem Grenzbereich auskennt. Insoweit sitzen wir in einem Boot und können voneinander lernen. Wenn wir an dieser Stelle einen kurzen Moment innehalten, so können wir bereits auf vier institutionelle Rollen zurückblicken, in denen wir Transparency International schon kennen gelernt haben: Transparency International ist zunächst einmal eine einleuchtende Institution, denn dass Transparenz gut ist, leuchtet jedem ein. Transparency International ist eine Watchdog-Institution, ein nicht nur zahnloser, sondern beißbereiter Wächter des Gemeinwohls. In dieser Rolle ist Transparency International zugleich eine bestimmte Akteure und Verhaltensweisen störende und damit lästige Institution, ein Befund, der den Laudator fast zu dem Satz animieren könnte: „und ewig stört Transparenzgebot“, und schließlich ist Transparency International ein bemerkenswertes halfwayhouse zwischen Wissenschaft und Politik und auch von daher ein Gegenstand besonderen sozialwissenschaflichen Interesses. Ich komme jetzt zu meinem letzten Punkt, den Zusammenhang von Transparenzgebot und der am WZB gepflegten „rule of law“-Forschung. Transparenzgebot und rule of law Die idée directrice der Transparenz und die für den modernen Verfassungsstaat nicht minder wichtige Leitidee der Rechtsstaatlichkeit haben viel miteinander zu tun und verfügen – wie man es bei heutigen Koalitionsverhandlungen gerne formuliert – über erhebliche Schnittmengen. Der Rechtsstaat lebt von klaren Abgrenzungen und Unterscheidungen; dies zeigt sich etwa in den den Rechtsstaat prägenden Prinzipien einer klaren Gewaltenteilung, eindeutigen Kompetenzen, klaren, hinreichend bestimmten und verständlichen Gesetzen, einer klaren Trennung zwischen privat und staatlich, dem vorher feststehenden ge- 44 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 setzlichen Richter, der vorherig feststehenden Strafbarkeit einer Tat, dem Rückwirkungsverbot und so weiter und so fort. Insoweit ist auch der Rechtsstaat eine einleuchtende und dem Transparenzgedanken verpflichtete Institution. Wenn ich für die Robert Bosch Stiftung den Führungsnachwuchs für Verwaltung und Wirtschaft aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion in dem von ihnen gewünschten Bereich Good Governance unterrichte, werde ich deshalb nicht müde, Korruptionsbekämpfung, Transparency International und rule of law in einem Atemzug zu nennen. Es kann daher auch nicht überraschen, wenn die Rechtsstaatforderung hoch im Kurs steht. Das Auswärtige Amt und das WZB haben vor zwei Jahren eine große Tagung zu diesem Thema veranstaltet, und auf der internationalen Ebene spricht man von einer Millionenbeträge bewegenden und personalintensiven rule of law promotion industry. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass der Rechtsstaat massiven Gefährdungen ausgesetzt ist, und zwar nicht nur im Gefolge des sogenannten kleinen war on terror, in dessen Verlauf rechtsstaatliche Prinzipien allzu bereitwillig auf dem Altar der Staatsräson geopfert werden, sondern just durch die Phänomene, die Transparency International im Visier hat, also Korruption, Klientelismus und Vetternwirtschaft. Der Würzburger Politikwissenschaftler Hans-Joachim Lauth hat daher gefordert, „to put the deficient Rechtsstaat on the research agenda“, also diese Gefährdungen von Rechtsstaatlichkeit genauer in den Blick zu nehmen. [Foto: David Ausserhofer] Rotes Rathaus. Die Preisverleihung wurde aufmerksam verfolgt: von links Tony und Ellen Chan, Trans parency-Geschäftsführer de Swardt, TransparencyGründer Peter Eigen, Laudator Gunnar Folke Schuppert und WZB-Beiratsmitglied Gesine Schwan. Er schlägt vor, drei Gefährdungslagen des Rechtsstaates zu unterscheiden. Die erste, vergleichsweise harmlose Gefährdungslage ist mangelnde rechtsstaatliche Kapazität; hier kann man prinzipiell „nachrüsten“ durch bessere Ausbildung, mehr Personal etc. Die zweite, ungleich massivere Gefährdungslage beobachten wir in sogenannten Räumen begrenzter Staatlichkeit, in denen – wie derzeit etwa in Mexiko – Drogenkartelle nach ihren eigenen Gesetzen leben beziehungsweise Warlords oder mafiöse Strukturen selbst gesetzte Regeln aufstellen und im Bedarfsfall auch gewaltsam durchsetzen. Die dritte und meines Erachtens gefährlichste Gefährdungslage ist diejenige, in der in Gesellschaften informale Regeln das tatsächliche Leben bestimmen, etwa informale Tauschregeln wie bei der Korruption oder informale personale Beziehungsnetzwerke wie bei Klientelismus und Vetternwirtschaft. Wenn solche informalen Regeln die tatsächlichen rules of the game darstellen, kann der durch formale Tugenden gekennzeichnete Rechtsstaat keine Wirkungsmacht entfalten. Insofern ist es in der Tat naheliegend, würden Transparency International und das WZB Rule of Law Center „join their forces“. Lassen Sie mich mit einer bekennerhaften Bemerkung zum Schluss kommen. Ich berate unter anderem eine gemeinnützige Stiftung, die Werner-BonhoffStiftung, die sich als einer ihrer Aufgaben dem Abbau bürokratischer Hemmnisse für unternehmerisches Handeln verschrieben hat. Was liegt da näher, als die Metapher vom bürokratischen Dschungel zu verwenden, den es auszulichten und transparenter zu machen gilt; ich habe für dieses Projekt den Namen bureaucratic transparency vorgeschlagen und bekenne an dieser Stelle öffentlich, mich damit an den Erfolg der heute zu preisenden Institution ein wenig angehängt zu haben. Ich glaube, Argumente haben wir genug beisammen. Dass die Institution Transparency International den heute zu vergebenden Preis verdient hat, ist nach alledem nicht nur einleuchtend, sondern sonnenklar. Herzlichen Glückwunsch und – wie ein Freund von mir seine Briefe bisweilen zu schließen pflegt – „still more power to you“. Gunnar Folke Schuppert war von 2003 bis zum Herbst 2011 Forschungsprofessor für Neue Formen von Governance am WZB und ist Geschäftsführender Leiter des WZB Rule of Law Center. Zuvor hatte er Rechtsprofessuren an der Universität Augsburg und der Humboldt-Universität zu Berlin inne. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 45 Eine echte Marke Zum Abschied Gunnar Folke Schupperts vom WZB Andreas Voßkuhle Laudationes auf große Wissenschaftler sind berechenbar: Man lobt das tiefgründige Werk und die persönliche Schaffenskraft, weist auf die Rezeption im Inund Ausland hin und schließt regelmäßig mit dem Hinweis, der zu Ehrende sei auch ein freundlicher Mensch und ein guter Lehrer. Eine solche Laudatio aus Anlass des Eintritts in den wohl eher bewegten Ruhestand würde aber Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert, dem scheidenden geschäftsführenden Direktor des WZB Rule of Law Center, der bis zum Jahr 2008 einen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungswissenschaft, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin innehatte und seit dem Jahre 2003 die WZBForschungsprofessur Neue Formen von Governance, nicht gerecht. Denn Folke Schuppert ist nicht nur ein bedeutender Rechtswissenschaftler, sondern eine echte Marke! Was meine ich damit? Wenn man – gerade hier in Berlin – von jemandem sagt, er sei „ne echte Marke“, also gewissermaßen ein Original, dann spricht daraus regelmäßig eine besondere Form der Anerkennung. Es handelt sich nicht nur um jene Form des allgemeinen Respekts, den man all denjenigen entgegenbringt, die in einer Disziplin Herausragendes vollbracht haben, sei es als großer Staatsmann, als erfolgreicher Sportler oder eben als Wissenschaftler, sondern man will damit gleichzeitig zum Ausdruck bringen, dass die Art und Weise, wie jemand etwas Besonderes geleistet hat, mit dem konventionellen Erklärungs- und Bewertungsmustern für Erfolg nur schwer eingefangen werden kann. Deshalb ist Folke Schuppert ein perfektes Beispiel für eine „echte Marke“. Folke Schuppert hat einen eigenen wissenschaftlichen Stil kreiert Unter den lebenden Staatsrechtslehrern gibt es zumindest drei, die man bei der Lektüre der ersten Zeilen sofort an ihrem wissenschaftlichen Stil erkennen kann: Peter Häberle, Robert Alexy und Folke Schuppert. Vielleicht am originellsten und eigenwilligsten ist der Stil von Folke Schuppert. Während nämlich viele wissenschaftliche Autoren darum bemüht sind, die Originalität der eigenen Aussagen zu unterstreichen und die Inspiration durch andere Quellen eher zu verschleiern („vgl. auch dazu …“), hat er aus der Not eine Tugend und die Collagetechnik hoffähig gemacht. Sie zeichnet sich dadurch aus, andere Autoren durch ausführliche Originalzitate für sich sprechen zu lassen und dabei gleichzeitig ganz eigene Erkenntnisziele zu verfolgen. Folke Schuppert schlüpft hier häufig in die Rolle des geschickten Arrangeurs, der sich aus den aktuellen Angeboten verschiedener wissenschaftlicher Märkte unbekümmert, aber gleichwohl mit sicherer Hand Nützliches auswählt und neu kombiniert. Die Kreativität dieser Vorgehensweise und der mit ihr verbundene Erkenntnisgewinn wird meistens erst durch die veränderte Gesamtperspektive auf das Ganze deutlich, das eben weitaus mehr darstellt als die Summe seiner Teile. Weit über 15 größere Monographien dürfen hier als eindrucksvoller, ja fast einschüchternder Beleg gelten. Folke Schuppert ist ein Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten Heutzutage gehört es zum guten Ton fast jedes Geisteswissenschaftlers, hervorzuheben, dass er/sie auch interdisziplinär arbeiten würde. Nur wenige sind aber tatsächlich Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten, die sich in andere Disziplinen wirklich hineinbegeben. Unter den Staatsrechtslehrerinnen und -lehrern dürfte es wohl zurzeit niemanden geben, der sich so weit und so tief in das Feld der Politik- und Sozialwissenschaft eingearbeitet hat wie Folke Schup- 46 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 pert. Beleg dafür ist nicht nur seine jahrelange Tätigkeit am WZB. Der entscheidende Lackmustest ist vielmehr die Frage, inwieweit andere Disziplinen die wissenschaftlichen Beiträge des Wanderers auch rezipieren, inwieweit er ihnen etwas zu sagen hat. Schaut man in neuere politikwissenschaftliche Veröffentlichungen oder sozialwissenschaftliche Studien zum Verhältnis von Staat und Recht, dann darf man fast sicher sein, spätestens auf S. 68 auf mehrere Arbeiten von Folke Schuppert zu stoßen. Gleichzeitig ist es ihm gelungen, die traditionell nationalintrovertierte deutsche Staatsrechtslehre für neuere Strömungen innerhalb der Verwaltungs- und Politikwissenschaft gerade aus dem angloamerikanischen Raum nachhaltig zu interessieren. Folke Schuppert hat Sinn für Moden und Trends Damit bin ich beim nächsten wichtigen Punkt: Folke Schupperts untrügliche Spürnase für wissenschaftliche Entwicklungen, neue interdisziplinäre Verbundbegriffe und Forschungstrends. Als Patchworkarbeiter ist er immer auf der Suche nach neuen Stoffen und Mustern, die eingewoben werden können in die große Decke, die seit einigen Jahren den Namen „Governance“ trägt. Sein Interesse ist dabei nicht primär die Vertiefung des Vorhandenen, das mühsame Schleifen eines einzelnen Steins. Folke Schuppert gräbt lieber nach neuen Rohdiamanten; manchmal schleicht sich dabei auch einmal ein Halbedelstein ein, bei der Masse an Karat fällt das aber in keiner Weise ins Gewicht. Gunnar Folke Schuppert [Foto: David Ausserhofer] Folke Schuppert ist ein Entertainer Viele deutsche Geisteswissenschaftler leben in dem (Irr-)Glauben, dass gute Wissenschaft nicht spannend und unterhaltsam sein darf. Folke Schuppert eignet sich vorzüglich dazu, den Gegenbeweis anzutreten. Seine originellen Wortspiele („von Bismarck zu Benchmark“), seine Selbstironie („erschöpft durch so viel Gelehrsamkeit halten wir inne“) und sein Sinn für Dramatik – jeder wissenschaftliche Beitrag aus der Feder von Folke Schuppert besitzt einen kunstvollen Aufbau und Spannungsbogen – machen die Lektüre Schuppert’scher Werke und die Gespräche mit dem Autor fast immer zu einem wahrhaften Vergnügen. Er dürfte zudem der einzige Staatsrechtslehrer sein, dem man ohne Bedenken die Fernsehtalkshow zur Primetime am Sonntagabend anvertrauen könnte. Folke Schuppert hat Charme Kein Entertainer ohne Charme! Auch von dieser für einen Wissenschaftler seltenen Gabe besitzt Folke Schuppert im Übermaß! Der durch ihn verkörperten Mischung aus barocker Lebenslust, geistiger Antrittsschnelligkeit und Herzenswärme kann sich kaum jemand entziehen, allenfalls jene Spezies, die einen asketischen Lebensstil für einen Ausweis von Intellektualität hält, was selbstverständlich nicht gegen Askese spricht. Ich fasse zusammen: Folke Schuppert ist eine echte Marke, mit eigenem Stil, ein Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten, mit Sinn für Moden und Trends und ein Entertainer mit Charme. Bleib so Folke! Ohne Dich wäre die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht deutlich ärmer! Andreas Voßkuhle ist Präsident des Bundesverfassungsgerichts. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 47 Leistungsstark und kooperativ Ermutigende Evaluationsergebnisse für das WZB Paul Stoop Sieben Jahre scheinen eine lange Zeit zu sein, aber im Alltag einer wissenschaftlichen Institution können 84 Monate schneller vorbei sein, als man zu Beginn dieser Phase meinen möchte. Im Herbst 2004 verkündete die LeibnizGemeinschaft, deren Mitglied das WZB ist, das Ergebnis ihrer Evaluation: Dem Institut wurde ausgezeichnete Forschungsarbeit bescheinigt und eine kleine Hausaufgabenliste für die Zeit bis zur nächsten Evaluation überreicht. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Am 24. November veröffentlichte die Leibniz-Gemeinschaft das Ergebnis der Evaluation 2011. Die mit der institutionellen Bewertung beauftragte Expertenkommission und der Senatsausschuss der Leibniz-Gemeinschaft bescheinigen dem WZB eine „außerordentliche Leistungsstärke“. Der Prozess der Weiterentwicklung seit der letzten Bewertung im Jahr 2004 sei „in bemerkenswerter Weise vorangetrieben“ worden. Die meisten der WZB-Forschungseinheiten sind aus Sicht der Gutachter „sehr gut bis exzellent“. Gewürdigt werden auch die „beachtlichen“ Leistungen in der forschungsbasierten politikbezogenen Beratung und im Wissenstransfer, die Präsenz in der Öffentlichkeit sowie der Aufbau von Datensammlungen, die der sozialwissenschaftlichen Forschung insgesamt zur Verfügung stehen. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses bezeichnet das unabhängige Gremium als „überzeugend“. Auch wenn die Gutachter die Arbeit der einzelnen Forschungseinheiten des WZB im Kontext der jeweiligen Disziplinen beurteilt haben, war ihr Blick in erster Linie auf die Gesamtheit der Institution gerichtet. In allen WZB-Evaluationen (früher verantwortet vom Wissenschaftsrat und seit 2004 von der Leibniz-Gemeinschaft) hat dabei eine Frage besonderes Gewicht: Schöpft das WZB das Potenzial seiner breiten disziplinären Ausrichtung ganz aus? Wird jenseits der erforderlichen Spezialisierung in der jeweiligen Einzeldisziplin auch über die Grenzen von Fächern und Forschungseinheiten hinweg fruchtbar kooperiert? Die Antwort der Gutachter lautet im aktuellen Evaluationsbericht: Ja, organisatorische und inhaltliche Kohärenz der Forschung haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die Chance, die das Zusammenwirken von Soziologen, Politologen, Ökonomen, Rechts- und Geschichtswissenschaftlern bietet, werde von den rund 150 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf überzeugende Weise genutzt. Eines des Elemente, die in den letzten Jahren neu entworfen wurden, sind die „Brückenprojekte“: Wissenschaftler aus zwei oder drei Forschungseinheiten entwickeln eine gemeinsame Fragestellung, die in einem mehrjährigen Forschungsprojekt bearbeitet wird. In diesem Sinne arbeiten jetzt zum Beispiel Soziologen mit verhaltensökonomisch orientierten Wirtschaftswissenschaftlern zusammen. Eine spezielle Form eines solchen übergreifenden Brückenprojekts ist das WZB Rule of Law Center, das in den letzten Jahren in der Forschungspraxis entstanden ist. Rechtswissenschaftler, Demokratieforscher und Experten in Internationalen Beziehungen haben dieses offene Dialog-Forum initiiert, das inzwischen verstärkt wird durch die Irmgard-Coninx-Stiftungsprofessur Rule of Law in the Age of Globalization. Das Rule of Law Center ist weniger eine eigene Organisationseinheit als eine Plattform für die Diskussion von Fragen etwa der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie jenseits des Nationalstaats und des Zusammenwirkens nationaler und supranationaler Rechtssysteme. 48 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Sehr gute Noten gibt es von den Gutachtern auch für die Forschungsleistungen des WZB, wie sie sich in den anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften niederschlagen – die Leitwährung der Forschungsreputation. Die in den letzten Jahren modifizierte Publikationsstrategie habe dazu geführt, dass die Zahl der Veröffentlichungen in referierten Zeitschriften – die mit den strengsten Maßstäben und dem härtesten Wettbewerb – kontinuierlich gestiegen ist. Aktuell erscheinen knapp 70 Prozent der Zeitschriftenpublikationen von WZB-Forschern in englischen und anderen ausländischen Zeitschriften, nach Auffassung der Gutachter ein deutliches Zeichen für die starke internationale Anerkennung und Wirkung der WZB-Forschung. Es gibt weitere Indikatoren für die hohe Reputation der Forschung, wie etwa die Höhe der im Wettbewerb eingeworbenen Drittmittel. Zur Zeit beträgt der Anteil der Drittmittel 24 Prozent des WZB-Grundhaushalts. Dabei unterstützen die Leibniz-Gutachter die Strategie des WZB, diesen Anteil nicht mehr wesentlich zu steigern. Wissenschaftler sollten nicht zu viel wertvolle Forschungszeit in Antrags- und Managementarbeit investieren, die das Drittmittelgeschäft mit sich bringt. So wichtig Publikationen für das Renommee und für den fachlichen Dialog mit den Peers sind – Forscher und Forscherinnen erbringen in einem Teil ihrer Arbeitszeit auch Serviceleistungen für die Gemeinschaft der Wissenschaftler insgesamt, für die Politik, für gesellschaftlich wirkende Organisationen und für die Medien: Sie engagieren sich in wissenschaftlichen Beiräten und Herausgebergremien, tragen Expertise zur Arbeit parlamentarischer Kommissionen bei, referieren auf Fachtagungen zivilgesellschaftlicher Gruppen und Verbände und bieten den Redaktionen von Zeitungen, Rundfunksendern und elektronischen Medien in der Form von Essays, Interviews und Stellungnahmen Beiträge zu aktuellen Themen. In den letzten Jahren wurden allein sieben Bundesministerien unter Beteiligung vieler WZB-Forscher beraten. Die Evaluatoren würdigten auch diese „beachtliche Leistung“. Nur wenige Wissenschaftler haben am WZB eine unbefristete Stelle. Umso wichtiger ist dem WZB, dem forschenden Nachwuchs optimale Voraussetzungen zu bieten, etwa über die Förderung von Auslandsaufenthalten an den Universitäten Harvard, Lund und Sydney sowie der London School of Economics and Political Science. Wer nach einigen Jahren das WZB verlässt, soll für den harten Wettbewerb um Stellen außerhalb der eigenen Institution gut gerüstet sein, auch jenseits der Forschung. Die Leibniz-Gemeinschaft lobt die „sehr guten neuen Strukturen“ der Nachwuchsförderung. So werden die Pflichten und Rechte aller an Promotions- und Habilitationsarbeiten Beteiligten in einem „Code of Conduct guter wissenschaftlicher Betreuung“ festgelegt, einem Instrument, das die Gutachter als „vorbildlich“ bezeichnen. Wurde das WZB zu Zeiten seiner Gründung von den Berliner Universitäten kritisch beäugt als mögliche „Gegenuniversität“, so hat sich in den letzten Jahrzehnten eine intensive Kooperation entwickelt. Dies zeigt sich nicht nur an der gemeinsamen Berufung leitender Forscher, sondern auch bei den Nachwuchswissenschaftlern. Das WZB beteiligt sich aktiv an Programmen der strukturierten Graduiertenkollegs an den Berliner Universitäten. 20 der rund 60 Promovierenden am WZB sind eingebunden in diese Kollegs, die das WZB in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam mit der Freien Universität, der Technischen Universität, der Humboldt-Universität und der Hertie School of Governance betreibt. Eine Ausweitung der Kooperation mit Universitäten, wie sie das WZB anstrebt, findet den Beifall der Leibniz-Gutachter: die gemeinsame Berufung von Nachwuchswissenschaftlern auf W1- und W2-Professuren mit der Möglichkeit späterer Entfristung (tenure track). Evaluationsbericht: www.wzb.eu/evaluation2011 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 49 Konferenzberichte How federal states change Benny Geys Conference “Unraveling States? Mergers, Secessions and (De)centralisation”, November 9, 2011, hosted by the WZB Research Professorship The Future of Fiscal Federalism in collaboration with the Freie Universität Berlin and the Max Planck Institute for Tax Law and Public Finance; Organizers: Benny Geys (WZB/ Vrije Universiteit Brussel/Norwegian Business School BI), Kai A. Konrad (WZB/MPI for Tax Law and Public Finance) and Ronnie Schöb (FU Berlin) The conference brought together scholars from diverse research institutions and universities in Europe, Canada, and Hong Kong to discuss their research on the evolving nature of federal states and the behavior of the multiple actors within such states. While Charles Tiebout’s path-breaking work (A Pure Theory of Local Expenditures, 1956) is still a major point of reference in the economic literature on fiscal federalism, Robin Boadway (Queen’s University, Canada) argued in his keynote address that it is hardly convincing as a positive description – or, for that matter, normative prescription – of federalism at the regional level. This is important as stepping away from the assumptions underlying the Tiebout model makes that many of its central conclusions are no longer guaranteed to hold (for instance his ideas on competition among local governments). Boadway’s paper underlying his lecture will appear in a future issue of the Journal of Public Economics and will no doubt lead to a substantial academic debate. In similar spirit, Pohan Fong (City University of Hong Kong) warned against an over-reliance on the median voter model in economic models. He indeed illustrated that collective decisionmaking problems with an uneven number of players need not necessarily lead to the implementation median voter’s preference under majority rule. In fact, in a dynamic bargaining setting where the agenda-setter is determined through an all-pay auction (one could think of a presidential election in which all candidates expend costly effort, but only one wins the “prize”), key positions with agenda control may not be sought by politicians with moderate ideological views. As a result, the median voter’s preference need not arise in equilibrium. 50 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Vincent Anesi (University of Nottingham) discussed the connection between secessionism and minority protection. He argued that a country’s political majority can work towards maintaining political unity by pre-committing to the protection of the rights of minorities in a country. However, the willingness of the majority to do so is likely to depend strongly on the minority’s intrinsic desire for independence and beliefs about the cost of secession. This insightful paper will likewise appear in the Journal of Public Economics. Three papers on the programme addressed the issue of immigration and population mobility. Massimo Bordignon (University of Milan) argued that (perfect) labor mobility – often argued to be a requirement for common currency areas to succeed – may not be desirable when fiscal policy is available at the federal or national level. The reason is that it may prevent countries from reaching specific stabilization targets and induce complex coordination problems across countries. Another theoretical contribution by Michele Ruta (World Trade Organization) showed that the inherent interdependence of countries’ immigration policies can give rise to a coordination failure in which countries get stuck in a welfare-inferior outcome. It would require multi-lateral institutions to address this inefficiency, much like the GATT/WTO system has been able to improve international trade policy coordination. In an empirical contribution, Jordi Jofre-Monseny (IEB, University of Barcelona) revisited the connection between socio-demographic heterogeneity and support for redistribution by analysing the Spanish immigration wave that drastically changed immigrant density in Spanish municipalities between 1998 and 2006. He finds that welfare spending increased less, and the vote share of right-wing parties increased more, in municipalities with a higher influx of migrants – supporting theoretical arguments that population heterogeneity negatively affects preferences towards redistribution and the welfare state. Finally, one of the presentation slots was reserved for a PhD candidate from “The Future of Fiscal Federalism” research project, financed by the Leibniz-Gemeinschaft. Luisa Herbst (WZB/Max Planck Institute for Tax Law and Public Finance) presented ongoing research on alliance formation in contests. As such alliances form in many different settings (e.g., elections, wars or scientific co-authorships in the battle for publications), understanding the incentives to join alliances, and the behavior of alliance members has obvious policy relevance. Using an experimental design, Luisa Herbst shows that people often choose to be in an alliance even when there is no clear monetary incentive to do so. This observation appears predominantly driven by individuals intending to free-ride on their alliance partner, since players voting in favour of alliances generally invest less effort in the game. Yet, interestingly, allowing individuals the choice whether to form an alliance (compared to forcing them into an alliance) increases overall effort levels, both by alliance members and their solitary opponent. Wie HIV-Prävention bei Migranten gelingen kann Hella von Unger Abschlusskonferenz des Projekts „Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrantinnen und Migranten“ am 8. September 2011, organisiert von der Forschungsgruppe Public Health Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des WZB hat sich die Zusammenarbeit mit AidsHilfen und Migranten-Vertretern gelohnt: Das dreijährige Forschungsprojekt Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrantinnen und Migranten (PaKoMi) hat richtungsweisende Ergebnisse für die Gestaltung und Erforschung von HIV-Prävention für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland geliefert. Die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Studie zeigt, dass Migranten-Gruppen, die in der HIV-Prävention bislang als schwer erreichbar galten, sehr wohl erreicht werden können. Dies gelingt, wenn Vertreter dieser Gruppen angemessen in die Konzeption und Erforschung präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen einbezogen werden: Die Partizipation der Zielgruppen – also ihre Beteiligung mit Entscheidungsmacht – ist der Schlüssel zum Erfolg. Bei der Abschlussveranstaltung wirkten mehr als 100 Vertreter aus Wissenschaft, Politik, Praxis und Communities an der Präsentation der Ergebnisse mit. Vorgestellt wurden unter anderem Fallstudien mit afrikanischen, bulgarischen, russisch- und türkischsprachigen Zielgruppen und Communities in vier Städten. Es kamen Wissenschaftler, Kooperationspartner von der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. und vor allem die beteiligten Migranten-Vertreter zu Wort. Diese stellten Ergebnisse und Empfehlungen vor, wie sich die HIV-Prävention für und mit Migranten in Deutschland weiterentwickeln lässt. Sie sprachen sich für eine bessere gesellschaftliche Teilhabe von Migranten aus und dafür, Einrichtungen des Gesundheitswesens stärker interkulturell zu öffnen. Hilfreich ist es demnach auch, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in Gesundheitsämtern, Beratungsstellen, Aids-Hilfen und anderen Einrichtungen zu beschäftigen und Mitarbeiter transkulturell zu schulen. Die Praktiker forderten zudem mehr Ressourcen, um Migranten aus den Communities als peer educators, Multiplikatoren und Gesundheitsbotschafter einzusetzen. Vertreterinnen unterschiedlicher Communities aus vier deutschen Städten bei der Abschlusstagung des Projekts über HIV-Prävention unter Migranten und Migrantinnen [Foto: Karin Schwickerath] WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 51 Catherine Flohr und Viktor Oteku, Community-Vertreter aus Osnabrück, präsentieren Ergebnisse der örtlichen Fallstudie über HIV-Prävention unter Migranten [Foto: Karin Schwickerath] Die PaKoMi-Fallstudien verdeutlichen, dass die verschiedenen Migranten-Gruppen unterschiedliche Bedürfnisse bei der HIV-Prävention haben. Viele Menschen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland zwar von bestehenden HIV-Präventionsangeboten erreicht. Es gibt allerdings stärker gefährdete MigrantenGruppen, die besondere Ansprache und spezielle Angebote brauchen. Wie die Fallstudien zeigten, haben etwa bulgarische Sexarbeiter und -arbeiterinnen in Dortmund andere Bedürfnisse als Angehörige der afrikanischen Communities in Hamburg: So fehlte es den Bulgarinnen und Bulgaren aus der Fallstudie an grundsätzlichem Wissen über Körperfunktionen, HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten. Die Afrikanerinnen und Afrikaner in Hamburg benötigten derweil gezielte Informationen über anonyme und kostenlose HIV-Tests und darüber, wie sich eine HIV-Diagnose auf ihr Aufenthaltsrecht auswirkt. Wie sich zeigte, konnte die bulgarische Zielgruppe nur wenig mit schriftlichem Infomaterial anfangen, weil viele der Frauen und Männer gar nicht lesen können. Für die Afrikanerinnen und Afrikaner dagegen, die ein sehr hohes Bildungsniveau haben, waren Broschüren oder Flyer sehr wohl geeignet. Abgesehen vom kulturellen Hintergrund spielen also sozioökonomische, rechtliche und auch lokale Faktoren eine wichtige Rolle für die HIV-Prävention bei Migranten. So sind in Hamburg circa 20.000 Afrikanerinnen und Afrikaner gemeldet, die in verschiedenen Communities relativ gut vernetzt sind. Die in Osnabrück gemeldeten rund 500 Afrikanerinnen und Afrikaner dagegen sind weit weniger stark gemeinschaftlich organisiert. Daher können in Hamburg gezielt schon bestehende 52 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Angebote einer peer-basierten, lebensnahen HIV-Prävention verbessert werden. In Osnabrück dagegen müssen Community-Strukturen erst einmal entwickelt werden. In beiden Fällen hat jedoch die Beteiligung der Community-Partner an den Forschungs- und Entwicklungsprozessen dazu geführt, die jeweiligen Bedürfnisse zu identifizieren und darauf einzugehen. Auftakt des Leibniz-Mentoringprogramms Anke Geßner und Carmen Kurbjuhn Die Leibniz-Gemeinschaft beging am 14. September 2011 mit einem Festakt am WZB den Auftakt des Leibniz-Mentoringprogramms für Post-Doktorandinnen. Das Mentoringprogramm wurde entwickelt für exzellente und engagierte Wissenschaftlerinnen der LeibnizEinrichtungen und bietet ihnen individuelle Unterstützung auf dem Weg zu einer Führungsposition oder Professur. Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft Karl Ulrich Mayer ging in seiner Begrüßungsansprache auf die zentrale Bedeutung der Chancengleichheit für die Leibniz-Gemeinschaft ein. Das Mentoringprogramm könne einen wichtigen Beitrag dazu leisten. In der Pilotphase 2011/2012 ist das Programm auf die Region Berlin/Brandenburg begrenzt. Mayer betonte aber, dass das Programm verstetigt und auf alle Leibniz-Einrichtungen ausgeweitet werden müsse. Projektleiterin Anke Geßner stellte das Mentoringprogramm vor. Es basiert im Wesentlichen auf einer Tandembeziehung zwischen Mentee und Mentorin oder Mentor. Um diese Partnerschaft herum bietet das Programm auf drei Ebenen Unterstützung in der Karriereförderung an: Seminare, Leibniz Dialoge und Coachings. Wie wichtig nachhaltige Motivation für die wissenschaftliche Karriere ist, erläuterte Jasmin Döhling-Wölm, Studienberaterin und Coach (Oldenburg). Sie stellte Motivationsstrategien für wissenschaftliche Langstreckenläufe vor, wie sie es mit ihrem Konzept der „Karrierekunst“ umsetzt. WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger belegte anhand neuer Daten die noch immer mangelnde Teilhabe von Frauen in der Wissenschaft. Das gelte insbesondere für die höheren Stufen der Karriereleiter. Sie betonte, wie wichtig es sei, sich für eine bessere Planbarkeit wissenschaftlicher Karrieren einzusetzen; in der Leibniz-Gemeinschaft wird dies von der Projektgruppe „Wissenschaftliche Werdegänge und Karriereverläufe“ geleistet. Individuelles Mentoring sei ein hilfreiches Instrument. Das zeigten auch ihre persönlichen Erfahrungen. Wie Proteste wirken Simon Teune Abschlusskonferenz „Outcomes of Social Movements and Protest“ der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa, 23. bis 25. Juni 2011, in Zusammenarbeit mit dem Forschernetzwerk „Moveout“ Welchen Einfluss hatte die Protestbewegung gegen die Atomkraft auf die Entscheidung des deutschen Bundestages, bis zum Jahr 2022 aus dieser Form der Energiegewinnung auszusteigen? Über diese Frage ist nach der Katastrophe von Fukushima viel spekuliert worden. Haben die Großdemonstrationen und Menschenketten der Jahre 2009 und 2010 die Abgeordneten beeindruckt? Sicher waren langfristige Entwicklungen bedeutsamer. Die vor 30 Jahren auch aus der Anti-Atombewegung hervorgegangenen Grünen hatten mit dem Atomkonsens vom 14. Juni 2000 den Ausstieg forciert. Dabei konnte sich die Partei auf eine breite Ablehnung der Atomkraft in der Bevölkerung berufen. Welche Rolle spielte dabei die unermüdliche Aufklärungsarbeit von Initiativen und Verbänden über die Risiken der Atomkraft? Die Frage, welche Wirkungen Proteste und soziale Bewegungen entfalten können, gehört zu den größten Herausforderungen in der Bewegungsforschung. In den seltensten Fällen bewirken Proteste linear die Umsetzung von zentralen Forderungen. In der Regel sind die Wege, über die die Politik der Straße Veränderungen hervorruft, sehr verschlungen; allzu häufig sind die Folgen von Aktionen und Kampagnen nicht intendiert. Wer sich wissenschaftlich den Folgen sozialer Bewegungen nähert, steht vor einer Reihe von Fragen: Welche Faktoren sollen in Betracht gezogen werden? Welche Zeiträume werden analysiert? Welche Indikatoren für die Aktivität sozialer Bewegungen und für Veränderungen werden herangezogen? Verspricht ein Vergleich oder eine Fallstudie einen größeren Erkenntnisgewinn? Um sich über diese und andere Fragen auszutauschen, veranstaltete die Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa im Juni 2011 ihre Abschlusskonferenz „Outcomes of Social Movements and Protest“. Die Tagung markierte das Ende von sechseinhalb Jahren gemeinsamer Arbeit am WZB und einen vorläufigen Schlusspunkt für die Forschung zu sozialen Bewegungen, die hier 23 Jahre betrieben worden war. Auch wenn beinahe alle Vortragenden betonten, der komplexen Realität nicht gerecht werden zu können, machte die Tagung deutlich, dass es vielversprechende Wege gibt, sich den Auswirkungen sozialer Bewegungen anzunähern. Nur zwei können an dieser Stelle vorgestellt werden. Doug McAdam (Stanford) stellte die gängige Forschungspraxis in Frage, Effekte nur an solchen Fällen zu untersuchen, bei denen tatsächlich Proteste stattfinden. Das von ihm vorgestellte Forschungsprojekt zu „Risikogemeinden“ setzt früher an und versteht bereits die Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern als Resultat einer Politik von unten. In welchen Gemeinden, die gleichermaßen von Plänen für den Bau eines Kraftwerks betroffen waren, entwickelt sich überhaupt Widerstand, und wie wirkt sich dieser auf die Entscheidung über einen Kraftwerkbau aus? Von 20 ausgewählten Gemeinden in den USA regte sich in 10 von ihnen überhaupt Widerstand, in nur zweien war er bewegungsförmig. In einer qualitativ vergleichenden Analyse zeigte sich zunächst, dass die Kraftwerkprojekte mit hoher Wahrscheinlichkeit dann genehmigt wurden, wenn es keinen Widerstand in der Bevölkerung gab. Verwirklicht wurden sie allerdings nur, wenn auch die ökonomischen Rahmenbedingungen günstig waren. Regte sich dagegen Widerstand, auch nur in Form von Protestbriefen oder Versammlungen, erhöhte das die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung eines Projekts. Dass die Mobilisierung von sozialen Bewegungen, die öffentliche Meinung zu den Themen, die die Bewegungen aufbringen, und konkrete WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 53 Längerfristige Wirkung? Aktivisten der Occupy-Bewegung haben ihre Zelte in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs aufgebaut. Ihr Protest richtet sich gegen die Übermacht der Banken. [Foto: picture alliance/dpa] politische Entscheidungen in einem komplexen Wechselverhältnis stehen, zeigte Lee Ann Banaszak (Pennsylvania State University). In ihrer Forschung zur Frauenbewegung stellte sich häufiger die Frage, ob Straßenproteste (und die Berichterstattung darüber) die öffentliche Meinung zu Geschlechtergerechtigkeit verändern und politische Entscheidungen beeinflussen oder ob nicht umgekehrt eine Wandlung in der kollektiven Wahrnehmung und eine entsprechende Gesetzgebung die Wahrscheinlichkeit zur Teilnahme an Demonstrationen erhöhen. Zur Klärung dieser Frage bezieht Banaszak Protestereignisse, einen Index für die öffentliche Meinung zu Geschlechtergerechtigkeit und Kongressabstimmungen zu thematisch einschlägigen Gesetzen ein. In einer Zeitreihenanalyse zeigt sich, dass die aus der Ökonometrie entlehnte Granger-Kausalität von Protesten auf die Verschiebung öffentlicher Meinung nicht nachweisbar ist; auf eine Gleichberechtigung befördernde Gesetzgebung wirken Proteste aber durchaus. Anders herum haben ein verändertes Meinungsklima und eine unterstützende Legislative sehr wohl einen Effekt auf die Beteiligung an Protesten. Gesetzgebung und öffentliche Meinung wiederum beeinflussen sich gegenseitig. Die Analyse legt aber auch nahe, dass Proteste als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zeitversetzt wirksam werden. 54 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Eine langfristige Perspektive auf die Wirkung sozialer Bewegungen und entsprechende Untersuchungszeiträume forderte auch David Meyer (University of California, Irvine) ein, der zusammen mit Dieter Rucht (WZB) die Diskussionen der Konferenz resümierte. Sie waren sich einig, dass die Forschung zu Veränderungsprozessen, die durch soziale Bewegungen und Proteste angestoßen werden, noch einen weiten Weg vor sich hat. Versuche, die Folgen von sozialen Bewegungen zu rekonstruieren, stoßen schnell an ihre Grenzen. Denn Veränderungen auf mehreren Ebenen spielen eine Rolle: in der öffentlichen Meinung, in Parteien und Parlamenten, in dominanten Deutungsmustern, aber auch in den Biografien der Akteure und in der Konfiguration sozialer Bewegungen. Rucht zweifelte an der Sinnhaftigkeit einer allgemeinen Theorie von Bewegungseffekten. Er plädierte stattdessen dafür, induktiv zu arbeiten und überschaubare Prozesse in den Blick zu nehmen. Auch wenn die Tagung deutlich machte, dass es in der Forschung zu den Effekten sozialer Bewegungen in erster Linie darum geht, die richtigen Fragen zu stellen, und dass befriedigende Antworten rar sind, wurde die Bedeutung des Forschungsfeldes durch die politischen Ereignisse des Jahres offenkundig. Die öffentliche Podiumsdiskussion zu den Protesten im arabischen Raum und in Südeuropa zeigte, dass die Hoffnung auf die demokratisierende Wirkung von Protesten auch vor Forschern und Forscherinnen nicht halt macht. Stadt und Protest Janet Merkel und Nona Schulte-Römer Workshop „Macht und Konflikte um die/in der Stadt“, 14. und 15. Oktober 2011, Treffen des Nachwuchsnetzwerks „Stadt Raum Architektur“ Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger sein können, um über städtische soziale Bewegungen zu diskutieren. Das sechste Treffen des Nachwuchsnetzwerks „Stadt Raum Architektur“ fiel zusammen mit dem internationalen Aktionstag der Occupy-Bewegung, die am 15. Oktober nicht nur zur Besetzung der Wall Street, sondern in Städten weltweit zu Protesten gegen das globale Finanzsystem aufrief. So hatten die rund 50 Teilnehmer des zweitägigen Workshops „Macht und Konflikte um die/ in der Stadt“ im Anschluss an die Veranstaltung Gelegenheit, zu beobachten und zu überprüfen, was im WZB thematisiert worden war: die Bedeutung des urbanen Raums für soziale Bewegungen und verschiedene Ansätze zum Verständnis aktueller städtischer Konflikte und Protestinitiativen. Das Nachwuchsnetzwerk ist ein loser, fächerübergreifender Verbund von Forscherinnen und Forschern aus den Bereichen Soziologie, Geografie, Stadtplanung, Architektur und Geschichte und tagt halbjährlich an wechselnden Orten im deutschsprachigen Raum. Die Workshops bieten jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Forum, um ihre Forschungsprojekte vorzustellen. Thematisiert werden dabei Fragen der Urbanität, der Raumgestaltung oder der städtischen Governance. Der Workshop war in vier parallele Panels unterteilt, die sich einerseits mit materiellen Anlässen oder Manifestationen von Machtkonflikten beschäftigten, etwa im Bau von Moscheen, Leuchtfassaden und Medienarchitekturen oder in künstlerischen Bildreproduktionen von repräsentativen Stadtplätzen. Zum anderen wurden wirkmächtige städtische Diskurse in den Blick genommen und gefragt, wie Themensetzungen oder öffentlich ausgetragene Debatten Stadtentwicklungsperspektiven prägen, soziale Ungleichheiten reproduzieren oder Konfliktpunkte virulent werden lassen. Der Stadtplaner Grischa Bertram vom Institut für urbane Entwicklung der Universität Kassel fragte beispielsweise nach dem Zusammen- hang von neuen urbanen Protestformen und dem gegenwärtigen Planungsleitbild der „Urban Renaissance“. Seine These war die Zunahme genuin städtischer Konflikte, in denen die Stadt nicht nur als Bühne oder Arena für Proteste und die Artikulation gesellschaftlicher Interessen dient, sondern die Stadt selbst und ihre Entwicklung immer mehr zum Konfliktgegenstand zwischen Anwohnern, Investoren und Stadtpolitik wird. Unter den Vorzeichen einer auf interurbane Konkurrenz ausgerichteten wachstumsorientierten Stadtentwicklungspolitik wird demnach ein stärkerer Stadtbezug für soziale Bewegungen und Proteste sichtbar. Vor allem die Aufwertung der Innenstädte und große Stadtentwicklungsprojekte, wie Mediaspree in Berlin oder Stuttgart 21, geben immer öfter Anlass für lokale Protestinitiativen, die ein „Recht auf Stadt“ und damit eine soziale und gerechte Stadt einfordern. Die Kulturwissenschaftlerin Henriette Horni, ebenfalls Universität Kassel, analysierte hingegen spezifisch städtische Ausprägungen gesamtgesellschaftlicher Konfliktkonstellationen und materielle Formen der Konfliktbewältigung am Beispiel von Belfast. Wo sich Jahrzehnte der Gewalt in Gestalt von Mauern ins Stadtbild eingeschrieben haben, sollen nun friedfertige Graffitis und Identifikationsbauten wie das Titanic-Museum ein Zeichen zum Neuanfang setzen. Die Frage, welche Rolle Urbanität für das Ausund Aufbrechen von Konflikten „in der und um die Stadt“ spielt, griff die Politikwissenschaftlerin Margit Mayer (FU Berlin und Center for Metropolitan Studies, TU Berlin) in ihrem Gastvortrag auf. Mayer unterschied zunächst soziale Bewegungen in Städten von städtischen Bewegungen und erläuterte verschiedene analytische Perspektiven der Stadt- und Bewegungsforschung der letzten 40 Jahren. Dabei machte sie auch auf den neuen Geist aktueller Proteste aufmerksam, die Gesetzübertretungen offenbar gerne vermeiden. Vielmehr äußern die Besetzer der Wall Street ihren Unmut am globalen Finanzsystem und an Immobilienspekulationen im Einklang mit städtischen Vorschriften, gewaltfrei und nach allen Regeln bürgerlichen Anstands. In diesem Sinne begaben sich im Anschluss an den Workshop einige der Teilnehmer zur Feldforschung vor den Reichstag, wo die Besetzung des Vorplatzes und der Konflikt in der Stadt allerdings noch in der Nacht mit einem Polizeieinsatz und der Räumung der Besetzer aus der umstrittenen Bannmeile vor dem Bundestag endete. Die Diskussion um öffentliche Nutzungsrechte in der sogenannten „befriedeten Zone“ mündete dabei in einen Konflikt über die Stadt, der nicht nur lokal, sondern auch im Internet thematisiert wurde. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 55 Auf dem Weg zum europäischen Wissenschaftsraum? Tim Flink und Dagmar Simon Workshop „Perspectives Towards a European Science System“ am 6. und 7. Oktober 2011, initiiert von Frieder Meyer-Krahmer (WZBFellow), Dagmar Simon und Tim Flink (beide Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik) Über aktuelle und absehbare Tendenzen des europäischen Wissenschaftssystems diskutierten europäische und amerikanische Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit Entscheidungsträgern aus Wissenschaftspolitik und -förderung. Gemeinsam ist ihnen das Anliegen, eine gemeinsame Agenda zu entwickeln, mit dem Ziel, die Entwicklungen in europäischen Wissenschaftssystemen besser beobachten und analysieren zu können. Im Zentrum der Diskussionen stand die Frage, inwieweit nationale Pfadabhängigkeiten im Zuge der dynamisierten Agenda eines Europäischen Forschungsraums aufgebrochen werden und welche Konsequenzen dies für Kernelemente des Wissenschaftssystems hat. Unter diesen Kernelementen können unter anderem Organisationen, epistemische Praktiken der Wissensproduktion, normative Standards der Wissenschaft und Karriereentwicklungen gefasst werden. Am naheliegendsten scheint eine Veränderung auf der Organisations- und Karriereebene. Zwar sind Organisationen und Karrieren noch primär an nationale Systeme gebunden. Auch zeichnet sich die supranationale Forschungspolitik der EU vor allem durch die Umverteilung nationaler Gelder für Forschung aus, die anteilig an allen Forschungsausgaben in Europa gerade einmal bei sechs Prozent liegt. Allerdings nimmt die Intensität gegenseitiger Beobachtung und Koordinierung der Systeme zu. So konkurrieren einzelne Forschungsfördereinrichtungen um die besten Wissenschaftler und Gutachter, gleichzeitig öffnen sie Förderprogramme in variabler Geometrie und organisieren gemeinsame Ausschreibungen. Eine Koordinierung mit der Förderpolitik der Europäischen Kommission steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Und so halten die nationalen Förderer den 2007 gegründeten European Research Council bislang auf Distanz. Wenn die Koordinierung auf Seiten der Forschungsförderer zunimmt, lässt sich dies bei Forschungsorganisationen ebenso feststellen. So versammeln sich Universitäten in Benchmarking Clubs und versuchen, individuelle Profile von internationalem Rang und Namen auszubilden, was gleichzeitig wieder zu (unge- 56 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 wollten) Angleichungsprozessen führt. Unterstützt wird das Verhalten von Universitäten und Forschungsinstituten unter anderem durch global und europäisch geführte Diskurse um wissenschaftliche Exzellenz. Scheinbar harte Fakten – die Ergebnisse von Evaluationen, Rankings und Ratings – befeuern diese Verhaltensweisen. In Workshopbeiträgen weltweit führender Rankingproduzenten, wie zum Beispiel Antony van Raan von der Universität Leiden, wurde die Ranking-Gläubigkeit jedoch kritisiert, da die ihnen zugrunde liegenden Formeln sozial konstruiert und stark deutungsabhängig sind. Ein Beispiel: Subtrahiert man alle nichtenglischen Publikationen und deren Impact aus den Globalrankings, kommt die weltweit höchste wissenschaftliche Reputation (scientific impact) der Universität Göttingen zu. Bei dem Workshop war man sich darüber einig, dass unter dem Aspekt von Konvergenz oder Divergenz der Entwicklungen in europäischen Wissenschaftssytemen Fragen der (nationalen) Adaption globaler Modelle von Exzellenzprogrammen auf der Forschungsagenda stehen sollen. Wie reagieren zentrale Organisationen der Wissensproduktion – Universitäten und Forschungseinrichtungen – auf neue Herausforderungen? Wie sind institutionelle Konfigurationen mit Dynamiken der Wissensproduktion zusammenzudenken? Konkreter: Welche Auswirkungen haben die Veränderungsprozesse der Organisationen auf die einzelne Forscherin bzw. den einzelnen Wissenschaftler? Als nächster Schritt soll auf Initiative der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik ein Forschungsnetzwerk zu diesen Fragen aufgebaut werden. Luhmann im Dialog Ignacio Farías und Arlena Jung Workshop: „Luhmann im Dialog mit zeitgenössischen Sozialtheorien“, 24. Oktober 2011; Veranstalter: Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit Neue Theorien leben von der Behauptung, die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten zu können. Auch Niklas Luhmanns Systemtheorie pflegt eine solche Rhetorik. Sie behauptet zum Beispiel, dass traditionelle Sozialtheorien Identitätstheorien sind, die soziale Entitäten als ontologisch gegeben ansehen. In einem radikalen Bruch damit stellt Luhmann seine Theorie als differenzlogische Theorie dar, das heißt als Theorie, die eine rein relationale Sicht auf soziale Wirklichkeit erlaubt. Obwohl diese Rhetorik die Sichtbarkeit der Theorie erhöhte, hatte sie nicht gewollte Konsequenzen für ihre Rezeption. Trotz ihrer überragenden Erkenntnisse wird die Systemtheorie heute vor allem international kaum ernst genommen und sogar abgelehnt, da sie als inkompatibel mit den sozialtheoretischen Annahmen vieler Sozialwissenschaftler gilt. Niklas Luhmann [Zeichnung: Sonntag, Quelle: Wikimedia Commons] Der internationale Workshop „Luhmann im Dialog mit zeitgenössischen Sozialtheorien“ unternahm den Versuch, diese Zäsur zwischen Systemtheorie und zeitgenössischer Soziologie durch Theorievergleiche zu überwinden. Sozialwissenschaftler präsentierten Studien zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen der Systemtheorie und anderen zeitgenössischen Theoriegebäuden – vor allem der sozialen Netzwerktheorie, dem neuen französischen Pragmatismus, der Akteur-NetzwerkTheorie und der Phänomenologie. Die Vorträge zeigten, wie diese Theoriegebäude zusammengeführt werden können, um vor allem zwei Phänomene zu erforschen: erstens die Differenzierung komplexer Gesellschaften jenseits von Luhmanns Theorie der funktionalen Differenzierung und zweitens die Verbindung von kommunikativen Prozessen und Systemen mit einem zeitlich-räumlichen Realitätsunterbau. Ein zentraler Verdienst von Luhmanns Systemtheorie ist die problembezogene Differenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme wie zum Beispiel Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Kunst. Die ersten drei Beiträge des Workshops beschäftigten sich mit der Frage, wie sich soziale Formationen, die sich nicht an die Grenzen dieser Funktionssysteme halten, auf diese beziehen. David Kaldewey (Universität Bielefeld) zeigte am Beispiel von Diskursen über die Wissenschaft, ihre Theorien, Methoden und ihren Praxisbezug, dass eine abstrakte Systemkodierung „wahr – unwahr“ nicht genügt, um ihre empirische Vielfältigkeit zu verstehen. Michael Hutter (WZB) verglich Luhmanns Begriff und Theorie der Funktionssysteme mit den von Luc Boltanski und Laurent Thévenot identifizierten Regimes öffentlicher Rechtfertigung, insbesondere den jeweiligen Auffassungen von Wertkodierungen, Geschlossenheit und gegenseitiger Irritation. Jan Fuhse (Universität Bielefeld) ging auf die Möglichkeit ein, andere Formen der sozialen Differenzierung mit der Systemtheorie Luhmanns zu konzeptualisieren, nämlich die Entstehung von sozialen Netzwerken aufgrund von kommunikativer Dynamik sowie die Konstitution von kollektiven Akteuren und sozialen Bewegungen. Durch Luhmanns Verständnis von Kommunikation als sich selbst produzierende Dynamik rücken Phänomene wie die Verquickung von Diskursen, körperlichen Dispositionen und materiellen und zeit-räumlichen Anordnungen an den Rand der Aufmerksamkeit. Arlena Jung (WZB) zeigte den Nutzen der sozialphänomenologischen Perspektive für den Luh mann’schen Begriff der System/UmweltWechselwirkung auf. Das von Alfred Schütz formulierte Konzept einer raum-zeitlichen Ordnung als Realitätsunterbau bietet eine Möglichkeit, das Einwirken der Umwelt zu erklären, und somit einen Ausweg aus Widersprüchlichkeiten eines systemtheoretischen Kopplungskonzepts. Jorge Galindo (Universidad Autónoma Metropolitana, Mexiko) stellte die These zur Diskussion, dass Luhmanns, Bourdieus und Latours Theorien auf ein gemeinsames Referenzproblem zurückgeführt werden können, nämlich durch die Frage, wie die Kontingenz des Sozialen durch das Soziale selbst eingeschränkt wird. Zum Schluss stellte Ignacio Farías (WZB) die These auf, dass die Systemtheorie eine soziologische Theorie des Virtuellen ist, die dann durch eine Theorie des Aktuellen vervollständigt werden muss. Anhand der Begriffe Selektion, Differenzierung und Kultur skizzierte er, wie eine soziologische Perspektive, die dem Zusammenwirken von virtuellen Systemen und aktuellen Gefügen Rechnung trägt, aussehen könnte. Die Organisatoren planen einen weiteren Workshop für das erste Halbjahr 2012. Interpretationen – kontinental und angelsächsisch Dorothea Kübler Konferenz „Interpretation in the Arts and in Economics: Exploring the Anglo-German Divide“, 10. und 11. November 2011, organisiert von Sir Peter Jonas und Steffen Huck (University WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 57 College London) gemeinsam mit Michael Hutter und Dorothea Kübler im Rahmen des WZB-Brückenprojekts „Kulturell bedingte Framing-Effekte in der experimentellen Spieltheorie“ Große Brückenschläge wurden in dem zweitägigen Workshop gewagt, um sich Antworten auf die Frage zu nähern, ob sich zwischen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Tradition ein durchgängiger Interpretationsunterschied in der Kultur (Oper, Literatur und Theater), aber auch in den Sozial- und Rechtswissenschaften finden lässt. Eingeladen waren Kritiker, Intendanten, Regisseure und Wissenschaftler. Anselm Heinrich (University of Glasgow) verglich die Theatertraditionen in England und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon damals stellten Kritiker die konzeptionelle, abstrakte, erzieherische und bloß nicht allzu unterhaltsame Theatertradition in Deutschland der englischen Tradition gegenüber, die auf kommerziellen Erfolg und damit gerade auf Unterhaltung ausgerichtet war. Dan Albright (Harvard University) zeigte mit Hilfe von Filmaufnahmen von Operninszenierungen die widerständige Natur zeitgenössischer, überwiegend kontinentaleuropäischer Interpretationen und lobte „bad taste“ sowie Gewaltanwendung gegenüber dem historischen Stoff als Zeichen ernstzunehmender Interpretation. Perfekt illustriert wurde diese Gegenüberstellung durch Andreas Homoki (Intendant der Komischen Oper Berlin) sowie John Berry (künstlerischer Direktor der English National Opera): Homoki hob die historisch gewachsene Tradition der Komischen Oper als Regietheater her- 58 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 vor. John Berry richtete seinen Blick dagegen auf Gastregisseure, zum Beispiel bekannte Filmregisseure, die neue Zuschauergruppen in die Oper bringen. Für seine Darstellung spielten auch strukturelle Faktoren wie die differenzierte Altersstruktur der Besucher einzelner Aufführungen eine Rolle. Die Leiter der beiden Häuser verkörperten damit den Gegensatz Konzept versus Zuschauererfolg in nahezu idealtypischer Weise. Auf der anderen Seite standen Beiträge aus der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, die den Versuch unternahmen, narrative und konzeptionelle Elemente an den Rechtssystemen des case law und des common law (Gerhard Dannemann, Humboldt-Universität zu Berlin; Oliver Lepsius, Universität Bayreuth) und an den ökonomischen Forschungstraditionen empirischer versus theoretischer bzw. experimenteller Methoden festzumachen (Steffen Huck, University College London; Matthias Klaes, University of Glasgow). Matthias Klaes argumentierte, dass die Berliner Schule der Statistik um Ladislaus von Bortkiewicz dem Formalismus und der Moderne zuzurechnen sei; Keynes sei dagegen als Mitglied des Bloomsbury-Kreises eher narrativen Ausdrucksformen zugeneigt gewesen. Steffen Huck entwickelte die Hypothese, dass man Max Weber sozusagen auf den Kopf zu stellen habe, da die Prädestinationslehre des Protestantismus im Widerspruch zur Willensfreiheit stehe. Die Ansätze von Bernard Mandeville und Adam Smith zur wundersamen Vermehrung des Gemeinwohls durch die Verfolgung individueller Interessen stünden dagegen fest auf dem Boden der Willensfreiheit. Personen Gastwissenschaftler Professor Bernhard Ebbinghaus ist von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 2011 Gastwissenschaftler im Projekt „Institutionelle Bedingungen des Zusammenhangs von atypischer Beschäftigung und sozialer Ungleichheit in Europa“, geleitet von Jutta Allmendinger. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Mannheim und war Direktor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES). Ebbinghaus ist Leiter mehrerer Forschungsprojekte zu Themen vergleichender Wohlfahrtsstaatsforschung am MZES und dem Mannheimer Sonderforschungsbereich „Political Economy of Reform“. Am WZB wird er insbesondere seine Forschung über Nichtbeschäftigung und familiäre Risikogruppen in Europa weiterführen. Philipp Hallenberger ist seit September 2011 Doktorand der Abteilung Transnationale Konflikte und internationale Institutionen und Stipendiat an der Berlin Graduate School of Transnational Studies. Seine Dissertation schreibt er über die Accountability-Mechanismen internationaler Organisationen. Am Beispiel des Inspection Panel der Weltbank erörtert er, ob und inwiefern dieses Sonderorgan zur Reduzierung des Demokratie- und Accountability-Defizits der Weltbank beigetragen hat. Seit 1. Oktober 2011 ist Dr. Bram Lancee Gast der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung. An der Universität Amsterdam ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Institutions, Inequalities, Internationalization“ der Fakultät für Soziologie. Als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung wird er in den nächsten zwei Jahren in dem von Ruud Koopmans geleiteten Projekt „Sozialkapital und Arbeits marktintegration von Migranten in Europa: Der Einfluss von Wohlfahrtsstaatregimen, Integrationspolitik und Arbeitsmarktstruktur“ arbeiten und zu ethnischer Diversität und Vertrauen in Deutschland forschen. Berufungen Professorin Jutta Allmendinger Ph.D. wurde in die High Level Economic Expert Group „Innovation for Growth“ (I4G) der Europäischen Kommission berufen. Die noch einzuberufende Expertenkommission soll künftig die Forschungsund Innovationskommissarin beraten. Dr. Roland Habich, Leiter des Zentralen Datenmanagements, wurde von der Mitgliederversammlung des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften GESIS in den Nutzerbeirat von GESIS gewählt. Der Nutzerbeirat hat insbesondere die Aufgabe, das Institut bei der weiteren Entwicklung der Serviceleistungen zu beraten. [Foto: David Ausserhofer] Dadurch sollen praktische Nutzerprobleme und -interessen frühzeitig erkannt und berücksichtigt sowie die inhaltliche Ausgestaltung und Qualität der Serviceleistungen verbes- sert werden. Der Nutzerbeirat besteht aus zehn Personen und wird für drei Jahre gewählt. PD Dr. Eugénia da ConceiçãoHeldt, seit April 2011 Heisenberg-Fellow und Gastwissenschaftlerin der Abteilung Transnationale Konflikte und internationale Institutionen, hat einen Ruf an die Technische Universität Dresden auf eine W3-Professur für Internationale Politik erhalten. Professorin Marina Hennig, Projektleiterin des DFG-Projekts „Versuch einer empirischen Rekonstruktion der Habitus- und Feldtheorie von Bourdieu durch die Netzwerkanalyse“ am WZB, lehrt seit August als Professorin für Netzwerkforschung und Familiensoziologie an der Universität Mainz. Ihr Schwerpunkt am Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport ist die Netzwerkforschung und Familiensoziologie. Professor Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen, hat den Ruf auf die Position des Präsidenten des LeibnizInstituts für Globale und Regionale Studien (GIGA) und auf eine S-Professur für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg abgelehnt. Ehrungen / Preise Professorin Jutta Allmendinger hat den Verdienstorden des Landes Berlin erhalten. Mit dem Orden zeichnet der Senat von Berlin Personen aus, die sich in hervorragender Weise um die Stadt verdient gemacht haben. Jedes Jahr am 1. Oktober, dem Jahrestag des Inkrafttretens der Berliner Verfassung von 1950, empfängt der Regierende Bürgermeister die Träger des Verdienstordens und ernennt gegebenenfalls neue. Die Zahl der lebenden Ordensträger ist auf 400 begrenzt. Dr. Martin Binder wurde am 23. November mit dem Nachwuchspreis der Leibniz-Gemeinschaft ausgezeichnet. Er erhielt den Preis in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften für seine Dissertation über die Selektivität humanitärer Interventionen nach dem Ende des Kalten Krieges. Für die Arbeit verlieh ihm die Freie Universität Berlin 2009 den Doktortitel mit der Bestnote „summa cum laude“. Mit dem [Foto: privat] Nachwuchspreis prämiert die Leibniz-Gemeinschaft jährlich zwei herausragende Doktorarbeiten aus den insgesamt 87 Mitglieds-Institutionen. Der Politikwissenschaftler ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Transnationale Konflikte und internationale Institutionen. Dr. Marc Helbling erhält den Nachwuchspreis des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird zusammen mit dem Berliner Wissenschaftspreis an junge Spitzenforscher vergeben. Er zeichnet „exzellente wissenschaftliche Leistung kombiniert mit innovativen, kreativen und praxisorientierten Forschungsansätzen aus“. Marc Helbling leitet seit Mai 2011 am WZB die Emmy-Noether- Nachwuchsgruppe Einwanderungspolitik im Vergleich. Die Preisverleihung findet am 15. Februar 2012 in Berlin statt. Professorin Chiara Saraceno wurde zum Honorary Fellow des Collegio Carlo Al- WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 59 berto ernannt. Das Collegio Carlo Alberto ist ein Gemeinschaftsprojekt der Compagnia di San Paolo und der Universität Turin. Seine Aufgabe ist es, Forschung und Ausbildung in den Sozialwissenschaften zu fördern. Carlo-AlbertoFellows sind hervorragende Sozialwissenschaftler, die zur Forschung des Collegio durch ihre aktive Teilnahme an seinem akademischen Leben sowie ihren Bemühungen, das Ansehen des Collegio innerhalb der internationalen Forschergemeinschaft zu stärken, wesentlich beitragen. Promotion Udo E. Simonis ist für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Für seine außergewöhnlichen Verdienste als Umweltwissenschaftler und erfolgreicher Vermittler umweltpolitischer Erkenntnisse wird Professor Udo E. Simonis mit dem UmweltMedienpreis 2011 der Deutschen Umwelthilfe (DUH) ausgezeichnet. Simonis war von 1981 bis 1987 Direktor des Internationalen Instituts für Umwelt und Gesellschaft (IIUG) und von 1988 bis 2003 Forschungsprofessor für Umweltpolitik am WZB. Personalien Dr. Holger Straßheim wurde am 16. Juli 2011 in Tübingen auf Vorschlag der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Promotionspreis 2011 der Eberhard-Karls-Universität verliehen. In seiner Dissertation untersucht er die Macht- und Konfliktdimension interorganisatorischer Netzwerke. Straßheim arbei tet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrbereich Politische Soziologie und Sozialpolitik an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seit Mai 2011 koordiniert er zugleich in der WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Verwissenschaftlichung oder Vergesellschaftung? Der Wandel der Wissensordnungen in Deutschland, Großbritannien und den USA“. 60 Mariya Chelova, Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen, hat am 4. Oktober 2011 erfolgreich ihre Promotion „,Divided We Stand‘. Emergence and Viability of Political Regimes in the Former Soviet Union: The Case of Hybrid Regimes in Georgia, Moldova and Ukraine“ am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt. Im Rahmen der Kooperation mit der Berlin Graduate School of Social Sciences verbringt Julian Brückner von November 2011 bis Januar 2012 einen Forschungsaufenthalt in der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. In seiner Promotion beschäftigt er sich mit der Rolle des Militärs im Prozess der demokratischen Transition und Konsolidierung in den Ländern Lateinamerikas. Marie-Pierre Dargnies, Abteilung Verhalten auf Märkten, ist für drei Monate der Einladung von Muriel Niederle, Economics Department der Universität Stanford, gefolgt und forscht dort von September bis Dezember 2011 zu „Team Competition“ und Genderfragen in der experimentellen Verhaltensökonomik. Dr. med. Anja Dieterich, MPH, seit Februar 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Public Health, hat im Oktober 2011 das WZB verlassen und ist zu einem großen gemeinnützigen Verein für soziale Arbeit gewechselt. Zuletzt arbeitete sie in dem EU-geförderten Forschungsnetzwerk „Health Systems and Long-term Care for Older People in Europe“ an der Entwicklung von Analysemodellen für die kom- WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 plexen Zusammenhänge von Langzeitpflege-Prozessen in europäischen Ländern, dabei besonders zu den Bedingungen ihrer Koordination und Kontinuität. Katrin Dribbisch, DiplomPolitologin, ist seit September 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projektgruppe bei der Präsidentin und betreut zusammen mit Elisabeth Bunselmeyer die Studie „Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen“. Sie studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Uniwersytet Warszawski in Warschau. Durch ihr Zusatzstudium an der HPI School of Design Thinking in Potsdam interessiert sie sich insbesondere für die Anwendung von Design Thinking als nutzerzentriertem Innovationsansatz in Politik und Verwaltung und möchte ihre Promotion über diesen Themenbereich verfassen. Professorin Anette Fasang Ph.D. leitet seit September 2011 als Juniorprofessorin für Demografie an der Humboldt-Universität zu Berlin die Projektgruppe Demografie und Ungleichheit am WZB. Zuvor war sie Wissenschaftlerin am Institute for Social and Economic Research and Policy, Columbia University, New York, nachdem sie von 2008 bis 2011 als Postdoktorandin am Center for Research on Inequalities and the Life Course, Yale University, New Haven, gearbeitet hatte. Benjamin Faude ist seit Oktober 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Transnationale Konflikte und internationale Institutionen. Zuvor war er im DFG-Graduiertenkolleg „Märkte und Sozialräume in Europa“ in Bamberg. In seiner Dissertation befasst er sich mit den Wechselwirkungen zwischen internationalen Institutionen und den sich daraus ergebenden strukturellen Effekten im [Foto: Udo Borchert] Hinblick auf eine internationale Ordnungsbildung. Claudia Finger arbeitet seit August 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projektgruppe Nationales Bildungspanel: Berufsbildung und lebenslanges Lernen an der Entwicklung von Erhebungsinstrumenten für Bildungsentscheidungen im Bereich Weiterbildung. Johannes Gerschewski, Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen, verbringt von Oktober bis Dezember 2011 einen Gastaufenthalt am Department of Politics and International Relations der Universität Oxford. Dort wird er neben der Arbeit für das DFGProjekt „Critical Junctures and the Survival of Dictatorships“ unter der Leitung von Wolfgang Merkel an seiner Dissertation zur Stabilität von Autokratien in Ostasien arbeiten. Sophie Grünwald ist seit Oktober 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. Sie entwickelt ihr Promotionsprojekt in engem Austausch mit dem von Wolfgang Merkel geleiteten DFGProjekt „Critical Junctures and the Survival of Dictatorships“. Rustamdjan Hakimov, Abteilung Verhalten auf Märkten, hat zwischen Mitte Oktober und Mitte November 2011 seinen einmonatigen Forschungsaufenthalt im Rahmen des WZB/Sydney-Kooperationsprogramms der WZB-Nachwuchsförderung in Australien verbracht, um mit den Ökonomen am Economics Department der dortigen Universität über sein Forschungsthema Matching Markets zusammenzuarbeiten. Anna Marczuk arbeitet seit September 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projektgruppe Nationales Bildungspanel: Berufsbildung und lebenslanges Lernen an der Bearbeitung von Längs schnittanalysen zu Bildungsund Erwerbsbiografien, Partnerbiografien sowie zum Weiterbildungsverhalten. Sophie Mützel Ph.D. ist im Wintersemester 2011/2012 an die Universität Wien, Fakultät Sozialwissenschaften, als Universitätsprofessorin für die Bereiche „Soziologische Theorien sowie Kultur- und Wirtschaftssoziologie“ bestellt. Dr. Justin J.W. Powell, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt, vertritt im Wintersemester 2011/2012 die Universitätsprofessur für Bildungssoziologie an der Leibniz Universität Hannover. Er unterrichtet unter anderem über den Vergleich von Bildungs- und Ausbildungssystemen und Disability Studies. Marcel Raab forscht seit August 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe Demografie und Ungleichheit unter der Leitung von Anette Fasang im Projekt „Intergenerationale Transmission von Fertilität und Familienbildung“. Zuvor arbeitete er drei Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bamberg sowohl an der Professur für Bevölkerungswissenschaft Psychologie an den Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung. Dort wird sie ihre Promotion zu dem Thema Kompetenz- und Identitätsentwicklung im Geschlechtervergleich schreiben. Dem WZB wird sie als Gastwissenschaftlerin verbunden bleiben. [Foto: Udo Borchert] wie im Nationalen Bildungspanel (NEPS). Julia Schorlemmer verabschiedete sich vom WZB. Von Juni 2008 an war sie studentische Mitarbeiterin, seit März 2010 Forschungsassistentin bei der Präsidentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Lebensentwürfe – junge Frauen und Männer heute“. Sie wechselt an die FU Berlin in den Fachbereich Erziehungswissenschaften und Todd Sekuler, MPH, erarbeitet seit September 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Public Health eine Typologie unterschiedlicher Lebensstile von Männern, die Sex mit Männern haben und in einer Beziehung mit einer Frau leben, in dem gleichnamigen Projekt, das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gefördert und von Michael Bochow geleitet wird. A.SK-Fellowships: Forschen für Reformen Mit einem ASK-Fellowship wurden Thamy Pogrebinschi, Yaman Kouli und Martin Schröder bei der Preisverleihung des A.SK Social Science Award am 19. November 2011 im Roten Rathaus in Berlin (siehe Seite 41-45) ausgezeichnet. Das Stipendium, das von der Familie Chan gestiftet wird, gibt jüngeren Sozialwissenschaftlern die Möglichkeit, ein Jahr an einem Projekt zu arbeiten, das zur Entwicklung sozialer und politischer Reformen beiträgt. Neben dem Preisgeld umfasst es die Einladung, am WZB zu forschen. Dr. Thamy Pogrebinschi (links) ist Professorin an der State University in Rio de Janeiro. Sie untersucht, vor welchen neuen Herausforderungen Demokratien heute stehen – vor allem, wenn diese sich mit wachsenden öffentlichen Forderungen nach mehr Partizipation auseinandersetzen müssen. Dem Thema Knowledge as Infrastructure und der Bedeutung von Wissen für Innovation und Produktion in den moder- [Foto: David Ausserhofer] nen Industriestaaten geht Yaman Kouli (rechts), wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz, auf den Grund. Dr. Martin Schröder, Gastwissenschaftler am Minda de Gunzburg Center for European Studies, Harvard University, fragt danach, wie das Modell der Sozialen Marktwirtschaft seine Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann, ohne dabei das in ihm verankerte Ideal sozialer Gerechtigkeit zu beschädigen. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 61 Nachlese Das WZB im Dialog: Medien, Podien und Begegnungen Paul Stoop Das WZB führt auf vielfältige Weise den Dialog mit Politik, Gesellschaft, Medien. Von Januar 2012 an auch twitternd: 140 Zeichen pro Tweet. Digital Das Medienecho auf die Start-Konferenz des Instituts für Internet und Gesellschaft im Oktober war überwältigend: 1,45 Kilo auf Papier. Enquete Jutta Allmendinger und Heike Solga berieten die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität über Geschlecht bzw. Bildung. Mitlese Die vom WZB mit herausgegebene Zeitschrift Leviathan widmet sich im Heft 4/2011 der Krise des Kapitalismus: www.vsjournals.de. Unerwartet Marcel Helbig und Tina Baier fanden heraus: 500 € Studiengebühren pro Semester haben keinen negativen Effekt auf die Studierneigung. Datenreport Der Datenreport 2011 (Redakteur: Roland Habich) belegt: Armut verfestigt sich in Deutschland: www.bpb.de/publikationen. Vorsichtige Prognose Die €-Krise kann nur durch „muddling-through“ gelöst werden, nach Pieter de Wilde im National Public Radio – das ihn aber „Peter“ nennt. Neuheit Die WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit betreibt einen eigenen Blog: www.culturalsourcesofnewness.net. Ernte Kontinuität Das Buch, an dem SZ-Redakteur Felix Berth als Gastjournalist am WZB gearbeitet hat, ist erschienen: Die Verschwendung der Kindheit (Beltz). Das WZB wird 2012 sein Journalist-in-Residence-Programm fortführen. Die Ausschreibung kommt im März: www.wzb.eu. Vorlese Das Schwerpunktthema der WZB-Mitteilungen im März 2012 ist „Vertrauen“. 62 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Twitterlese Im nächsten Heft der WZB-Mitteilungen werden die Meldungen der „Nachlese“ wieder länger sein als 140 Zeichen. Vorschau Veranstaltungen 6. Dezember 2011 23. und 24. Februar 2012 Jugend und Engagement WZB-Reihe Erfolgskulturen der Gegenwart. Neue Zivilengagementforschung Vortrag von Perspektiven auf das Verhältnis von Professor Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts, München. Das zivilgesellschaftliche Engagement Leistung, Anerkennung und Erfolg wird im Zuge der neu entfachten Bildungsdebatte als BildungsTagung Keynotes: Professor Sighard Neckel (Goethe-Uniort und Lernfeld für junge Menschen behandelt. Das vielfältige Engagement junger Menschen, das Möglichkeiten der Alltagsbildung und des Kompetenzerwerbs bietet, steht im Mittelpunkt des Vortrags. Veranstalter: WZB; Informationen bei Marie Unger, marie.unger@wzb.eu 10. Januar 2012 Bürgerengagement zwischen staatlicher Steuerung und Selbstregulierung WZB-Reihe Zivilengagementforschung Vortrag von Professorin Daniela Neumann, Max-Weber-Institut für Soziologie an der Universität Heidelberg. Mit Blick auf die Nationale Engagementstrategie werden aktuelle Entwicklungen im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und Tendenzen der engagementförderlichen Infrastruktureinrichtungen wie Freiwilligenagenturen vorgestellt. Veranstalter: WZB; Informationen bei Marie Unger, marie. unger@wzb.eu versität Frankfurt a.M.), Professorin Gabriele Wagner (Leibniz Universität Hannover) und Dr. Stephan Voswinkel (Institut für Sozialforschung, Frankfurt a.M.) Die „Pflicht zum Erfolg“ (Neckel) scheint als gesellschaftliches Leitmotiv einen veritablen Siegeszug zu feiern. Doch gilt das für alle Diskursfelder, sozialen Institutionen und (beruflichen) Akteurinnen und Akteuren gleichermaßen? Auf der Tagung wird der Frage nach unterschiedlichen Erfolgskulturen der Gegenwart aus sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Blickwinkeln nachgegangen. Sie findet im Rahmen des Forschungsprojekts „Exzellenz und Geschlecht in Führungspositionen der Wissenschaft und Wirtschaft“ statt. Veranstalter: Dr. Hildegard Matthies und Dr. Denis Hänzi, WZB-Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik; Informationen und Anmeldungen bei JanChristoph Rogge, rogge@wzb.eu 14. Februar 2012 Zivilgesellschaftliche Organisationen? WZB-Reihe Zivilengagementforschung Vortrag von Dr. Holger Krimmer, Stifterver- band für die Deutsche Wissenschaft, Essen. Engagement findet in zivilgesellschaftlichen Organisationen statt – das ist die gängige Anschauung. Holger Krimme problematisiert diese Auffassung: Sind Organisationen, in denen Engagement keine Rolle spielt, nicht der Zivilgesellschaft zuzurechnen? Oder gilt es zu differenzieren – und nach welchen Kriterien? Diese Fragen werden anhand neuer Daten des Projekts Zivilgesellschaft in Zahlen behandelt. Veranstalter: WZB; Informationen bei Marie Unger, marie.unger@wzb.eu 22. und 23. März 2012 Partizipation und Gesundheit Tagung Die Forschungsgruppe Public Health wird im Frühjahr 2012 nach 33 Jahren die Arbeit am WZB beenden. Aus diesem Anlass sollen die vielfältigen Beziehungen zwischen Partizipation und Gesundheit in gesundheitsrelevanten Gesellschaftsbereichen diskutiert werden. Veranstalter: Professor Rolf Rosenbrock, WZB-Forschungsgruppe Public Health; Informationen bei Susanne Hartung, hartung@wzb.eu WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 63 Vorgestellt Publikationen aus dem WZB Migration und Rechtsstatus Janina Söhn Migrantenkinder haben in Deutschland schlechtere Bildungschancen als einheimische Kinder, doch auch zwischen einzelnen Migrantengruppen gibt es Bildungsungleichheiten. Dies wird nicht allein verursacht durch sozioökonomische und kulturelle Verschiedenheiten, sondern durch den unterschiedlichen rechtlichen Status der jeweiligen Gruppen. Denn der Status bestimmt entscheidend über Teilhaberechte und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen und beeinflusst auch den schulischen Erfolg von Migrantenkindern. Janina Söhn zeigt, dass Aussiedler aus Osteuropa im Vergleich zu anderen Zuwanderern von günstigeren integrationspolitischen Regeln profitieren konnten und Aussiedlerkinder seltener von Bildungsarmut betroffen sind als Kinder aus anderen Migrantengruppen. JaninaSöhn:Rechtsstatusund Bildungschancen.DiestaatlicheUngleichbehandlungvonMigrantengruppen undihreKonsequenzen.ReiheSozialstrukturanalyse.Wiesbaden:VSVerlagfür Sozialwissenschaften2011. (K)eine Karriere im Doppelpack Alessandra Rusconi, Heike Solga (Hg.) Bei Akademikerpaaren haben die Partner einiges an Engagement und Geld in ihre Ausbildung investiert und sind grundsätzlich karriereorientiert. Dennoch sind Doppelkarrieren – Konstellationen also, in denen beide Partner bildungs- und altersgemäße Jobs haben – bei diesen Paaren nicht die Regel. Im Projekt „Gemeinsam Karriere machen“ haben WZB-Wissenschaftlerinnen um Heike Solga erforscht, was diese Karrieren blockieren und was sie fördern kann. Ihre Erkenntnisse präsentieren sie nun in einem Sammelband. AlessandraRusconi/HeikeSolga(Hg.):GemeinsamKarrieremachen.DieVerflechtungvonBerufs karrierenundFamilieinAkademikerpartnerschaften.Opladen/FarmingtonHills,MI:Verlag BarbaraBudrich2011. Der Leuchtende Pfad Sebastian Chávez Wurm 1980 startete der Leuchtende Pfad seinen Kampf gegen die junge peruanische Demokratie, an dessen Ende fast 70.000 Tote zu beklagen waren. Sebastian Chávez Wurm zeigt, dass gängige Revolutionstheorien den Aufstieg des Leuchtenden Pfads vom Studentenzirkel zum Guerillaverband nur unzureichend erklären können, wenn sie nicht um eine akteursbezogene Dimension ergänzt werden. Er verbindet Makro- und Mikroprozesse miteinander und beschreibt, wie der Leuchtende Pfad nicht nur Menschen, sondern auch materielle und ideelle Ressourcen mobilisierte und die Strukturen zu seinen Gunsten zu nutzen wusste. SebastianChávezWurm:Derleuchtende PfadinPeru(19701993).DieErfolgsbedingungeneinesrevolutionärenProjekts.Köln/ Weimar/Wien:BöhlauVerlag2011. Komplexe Karrieren durch die Globalisierung? Anette Fasang et al. Hat die Globalisierung Folgen für den individuellen Karriereverlauf? Schließlich ist weithin der Eindruck entstanden, dass heute statt der stabilen Karriereverläufe der Vergangenheit komplexe Karrieren die Regel sind – Karrieren also, die etwa gekennzeichnet sind durch häufige Wechsel des Arbeitgebers. Anette Fasang und ihre Kollegen Daniela Grunow und Torsten Biemann haben diese These anhand der Karriereverläufe von Einsteigern am Arbeitsmarkt in den ersten acht Jahren ihrer Berufstätigkeit überprüft. Und kommen zu dem Schluss, dass Karrieren heute nicht signifikant komplexer sind als in der Vergangenheit. TorstenBiemann/AnetteEvaFasang/DanielaGrunow:„DoEconomic GlobalizationandIndustryGrowthDestabilizeCareers?AnAnalysisofCareerCom plexityandCareerPatternsOverTime“.In:OrganizationStudies,Vol.32,No.12. 64 WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Gestalter und Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde, Dieter Gosewinkel Kein Partei- und kein Kirchenmann, wohl aber kritischer Sozial- demokrat und engagierter Katholik – zu einem differenzierten Porträt fügt sich das biografische Interview von WZB-Forscher Dieter Gosewinkel mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Gosewinkel spricht mit seinem früheren akademischen Lehrer Böckenförde über dessen Zeit als Wissenschaftler und Richter, entlockt ihm aber auch viele Details über seine Kindheit und seine biographischen Prägungen. Im ersten Teil des Bandes lassen sich Böckenfördes lange vergriffene Aufsätze nachlesen: Ausführungen über Europa, Staat und Bürger, soziale Gerechtigkeit, Parteien und Demokratie sowie Einwanderung und Integration.ErnstWolf gangBöckenförde/DieterGosewinkel:Wissenschaft,Politik,Verfassungsgericht.AufsätzevonErnst WolfgangBöckenförde,BiographischesInterviewvonDieterGosewinkel.SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft2006.Berlin:SuhrkampVerlag2011. 60 Jahre Urteile in roten Roben: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wurde am 28. September 1951 offiziell eröffnet. Sascha Kneip legt in seinem Aufsatz in der Politischen Vierteljahresschrift eine Bilanz der Tätigkeit des obersten deutschen Gerichts vor. [Foto: picture-alliance/dpa] Das Bundesverfassungsgericht – Gegenspieler oder Mitspieler der Politik? Sascha Kneip Pünktlich zum 60. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts ist eine Bilanz der Tätigkeit des obersten deutschen Gerichts erschienen. Sascha Kneips Fazit lautet: Obwohl das Bundesverfassungsgericht immer mehr Klagen bearbeiten muss, hat es nicht häufiger in die Politik hineinregiert – verfassungsgerichtliches Handeln führt also nicht per se zur zunehmenden Justizialisierung der Politik. Verfassungsgerichte sind demnach nicht grundsätzlich Veto- oder Gegenspieler der Politik, sondern legitime Mitspieler in der Demokratie. Sie arbeiten mit an einem gemeinsamen Ziel – der Ausgestaltung und Interpretation der Verfassungsordnung. SaschaKneip (2011):„Gegenspieler,Vetospieleroderwas?DemokratiefunktionalesAgierendes Bundesverfassungsgerichts19512005“.In:PolitischeVierteljahresschrift,Jg.52,H. 2,S.220247. Vertrauen für Wohlstand und Zufriedenheit Kenneth Newton et al. Ein vertrauensvolles Klima unter den Bürgern lässt Gesellschaften prosperieren und macht Demo- kratien lebendiger. Was Länder mit einem hohen Grad an general trust von Staaten ohne Klima des Vertrauens unterscheidet, haben der WZB-Gastwissenschaftler Kenneth Newton und die ehemaligen WZB-Forscher Jan Delhey und Christian Welzel untersucht. Erstmals präsentieren die Wissenschaftler eine Messmethode für general trust, die echte Vergleiche zwischen Staaten ermöglicht. Demnach ist das allgemeine Vertrauen in der Türkei, Ruanda und Trinidad und Tobago am schwächsten ausgeprägt – und am stärksten in Schweden, Norwegen und der Schweiz. JanDelhey/KennethNewton/ChristianWelzel:„HowGeneralIsTrustin‚MostPeople‘? SolvingtheRadiusofTrustProblem“.In:AmericanSociologicalReview,Vol.74,S.786807. Weitere Publikationen unter:www.wzb.eu/sites/default/files/publikationen/911.2011.pdf WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 65 Zu guter Letzt Architektur im sozialen Kontext James Frazer Stirlings Werk in einer Stuttgarter Ausstellung Paul Stoop Es wäre für manchen Berliner Vortragssaal eine praktische Ergänzung, was James Frazer Stirling in den 1960er Jahren für die Universität Leicester entwarf: eine Wendeltreppe, die vom Campusrasen direkt zu den letzten Reihen des hoch über dem Boden schwebenden Hörsaals der Ingenieurs-Fakultät führte. Der Noteingang ermöglicht es verspäteten Studenten, so diskret in die Vorlesung zu gelangen, dass sich die Störung in Grenzen hält. Leider hat kein Architekt im notorisch verspäteten Berlin den gewitzten Einfall übernommen. Aber diese eine glasumhüllte Wendeltreppe gibt es immerhin – ein Beispiel für die Eigenwilligkeit, den Sinn für Praktisches und den Humor des schottischen Architekten James Frazer Stirling (1926–1992), der mit seinem langjährigen Partner Michael Wilford auch das GebäudeEnsemble des WZB entworfen hat. Die Essenz von Stirlings Werk, seine Arbeitsweise und seine Inspirationsquellen werden gerade in Stuttgart vorgestellt. Es ist nach New Haven und London die dritte Station der Ausstellung, die der Stirling-Schüler und Architekturhistoriker Anthony Vidler (The Cooper Union, New York) kuratiert hat. Vidler konnte das jüngst vollständig erschlossene und katalogisierte Stirling-Archiv in Montreal nutzen. Die Werkeinführung gastiert noch bis Mitte Januar 2012 in der Staatsgalerie Stuttgart, dessen Stirling-Anbau 1984 noch heftigere Kontroversen auslöste als der vier Jahre später fertiggestellte, rosa-blau-gestreifte WZB-Bau. [Foto: Adelheid Scholten] Paul Stoop leitet das Referat Information und Kommunikation des WZB. 66 „Notes from the Archive“ heißt die Ausstellung bescheiden. Sie könne erst ein vorsichtiger Ansatz zu einer Gesamtschau sein, schreibt Kurator Vidler im Vorwort des Katalogs. Aber die ausgewählten Zeichnungen, Modelle, Fotos sowie einige charakteristische persönliche Gegenstände bieten schon jetzt reizvolle Einblicke in den Stirling’schen Kosmos. Sie erleichtern es, die Entwicklung eines Gestalters zu verstehen, den Robert Maxwell, Herausgeber von Stirlings Schriften, kürzlich in einem Stuttgarter Vortrag den „ersten globalen Architekten“ nannte, mit großen Projekten in Europa, den USA und Japan. WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 Stirling war ein genauer Beobachter und ein exzessiver Sammler, der die räumliche Umgebung immer als Kontext für seine Bauten verstand. Sein erstes Übungsfeld war die Natur. Penibel führte er als Schüler Buch über seine vogelkundlichen Exkursionen in die ländliche Umgebung Liverpools. Das in der Ausstellung präsentierte, gemeinsam mit einem Freund erstellte Vogel-Buch aus den Jahren 1939 bis 1942 enthält Tagebuchnotizen, Zeichnungen und Fotos; minutiös sind Nester, Eier, Ruheorte und Wege dokumentiert und kommentiert. Architekturbeobachtung stand damals noch nicht auf Stirlings Agenda, setzte aber beim Studium am Liverpool College of Art umso heftiger ein. Der Fotoapparat blieb ein treuer Begleiter. Mappe um Mappe füllte Stirling mit urbanen Eindrücken: Straßenzüge, Gebäude, Detailansichten. Jedes Foto ist genau beschriftet – eine systematisch angelegte, im Einzelnen sehr heterogene Fundgrube. Mit diesen Elementarteilchen spielte Stirling, nicht beliebig (und nicht postmodern, wie er als Etiketten-Allergiker betonte), sondern ausgestattet mit einem genau analysierenden und liebevollen Blick auf die gesamte Architekturgeschichte und die zeitgenössischen Meister. Wer Stirling vor allem mit den Stuttgarter und Berliner Bauten in den 1980er Jahren mit ihren teils grellen Elementen verbindet, begegnet im „Archiv“ einem Architekten, der sich zunächst der geradlinigen, proportionierten Moderne eng verbunden fühlte. Le Corbusier war ihm wichtig, Stirling setzte sich mit dem Werk von „Corb“ in den 1950er Jahren produktiv auseinander. Aber das lange Zeit beherrschende Thema „Form und Funktion“ verlor nach dem 2. Weltkrieg für Stirling und viele seiner Generation an Bedeutung. Für ihn spielten „Kontext und Assoziation“ die entscheidende Rolle. Die Einbettung seiner Bauten in den gewachsenen sozialen Raum war ihm wichtig. Das zeigt sich nicht zufällig in manchen der ausgestellten Zeichnungen: Die Pläne sind voller Menschen, wirken belebt. Der Blick des Architekten geht ins Innere, sieht Bewegung, Begegnung und Sammlung der Möglichkeiten. Nachdem sich herauskristallisiert hatte, dass die einzelnen WZB-Anbauten jeweils unterschiedliche Formen aus der Architekturgeschichte haben sollten, stellte Stirling eine Liste der Möglichkeiten zusammen: links eine Reihe vom frühmodernen runden Turm (silo) über das zeitgenössische Bürogebäude und den griechischen Tempel bis zum spätägyptischen Tempel; rechts eine knappere Auswahl, bei der auch aktuelle Formen in Betracht gezogen wurden: Frank Lloyd Wrights Larkin-Bau in Buffalo, New York (1905, abgerissen 1950), und Mies van der Rohes Crown Hall des College of Architecture, Planning and Design (Illinois Institute of Technology, Chicago), die am Ende nicht zu den ausgewählten fünf Formen ge hörten. Kommunikation im Bau. Die Perspektive verharrt aber nicht im Inneren, sondern ist gleichzeitig wieder nach außen gerichtet. Die Treppe für die zu spät Kommenden in Leicester war so eine Idee, die der räumlichen Alltagserfahrung und der visionären Belebung der imaginierten Architektur entsprungen ist. Auch seine Zeichenweise belegt den Wert, den Stirling dem Räumlichen beimaß. Wenn er eine Idee entwickelte, war der erste große Schritt zur Visualisierung für ihn die axonometrische Darstellung; Stirling zeigte den Bau in jenen Zeiten vor den digitalen 3D-Möglichkeiten in der Draufsicht. Der Grundriss, mit dem viele andere Architekten den ersten Schritt der Darstellung leisteten, entstand bei Stirling erst im späteren Verlauf des Prozesses. Es ist mehr als ein kleiner Gag, dass eine der Zeichnungen für seine Abschlussarbeit ihn selbst in einem Helikopter zeigt, der das Werk, das Haus für einen Ranger, von oben umkreist. Auch der spezielle Reiz realisierter Stirling-Bauten, die Beziehungen der einzelnen Bauteile zueinander und zur Umgebung, erschließt sich am besten aus der Draufsicht, beim WZB etwa vom hohen Bibliotheksturm aus – für alle, die gerade keinen Helikopter zur Hand haben. Die in Stuttgart präsentierten Zeichnungen vermitteln beispielhaft Stirlings Schaffensprozess. Sie sind wohl noch nicht immer in der exakten zeitlichen Reihenfolge, wie der Kurator anmerkt; dafür bräuchte es noch vieler Jahre detaillierten Archivstudiums. Aber an der Darstellung des WZB lässt sich nachvollziehen, wie Stirling zunächst alle möglichen Formen sammelte, manche gleich wieder ausschloss, dann wieder neue aufnahm, um mit einer kleinen Auswahl favorisierter Formen weiter zu spielen (siehe Abbildung). Die Strukturierung der Gebäudeteile leitete er nicht ab von einer Großidee, einer Theorie oder von bedeutisierenden Zahlen- und Linienspielen, sondern entwickelte sie durch Probieren, Herumschieben, Kombinieren, dann den Austausch einzelner Formen. So gelangte er schließlich zu einer Anordnung, wie wir sie heute als WZB kennen. Der manchmal als beliebig kritisierte Stirling war kein Verbaltheoretiker, sondern ein tief in der Tradition verwurzelter Theoretiker des praktizierenden Forschens. Das Entscheidende war für Stirling dann aber das Leben in den so assoziierten Formen und Räumen. In Melsungen sagte er 1992, kurz vor seinem Tod, bei der feierlichen Eröffnung der gemeinsam mit Michael Wilford entworfenen Braun-Fabrik: „Ich hoffe, dass alle, die hier arbeiten werden, diese Bauten als so leicht zu besetzen empfinden wie die Falkenfamilien, die sich ohne Weiteres in den von uns aufgestellten Vogelhäusern auf dem höchsten Gebäude niedergelassen haben.“ Hier sprach der frühere birdwatcher, der Architekt mit dem Auge für das wirklich Wichtige: die soziale Dimension dessen, was nur scheinbar leblose Materie ist. [Abbildung: James Stirling, Michael Wilford and Associates , Wissenschaftszentrum, Berlin: typological study, 1979-87 Canadian Centre for Architecture, Montréal. James Stirling/Michael Wilford fonds, ink and graphite on paper 20.9 x 29.9 cm. AP140.S2.SS1.D57.P6.15] Die Ausstellung James Frazer Stirling. Notes from the Archive ist bis zum 15. Januar 2012 im Altbau der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen. Der Katalog zur Ausstellung ist herausgegeben von Anthony Vidler (erschienen 2011 bei Yale University Press, New Haven und London, in Zusammenarbeit mit dem Canadian Centre for Architecture und dem Yale Center for British Art, 303 Seiten). WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 67 Zerbrechlich. Die Stuttgarter Staatsgalerie widmet sich in einer aktuellen Ausstellung dem Werk des Architekten James Frazer Stirling. Dieses Modell des Wohnhauses für einen Architekten verpackte der junge Stirling umsichtig für den Postversand – gebaut wurde das Haus nicht. Stirling, der gemeinsam mit Michael Wilford den Anbau der Staatsgalerie entworfen hat, gestaltete auch das heutige Gebäude des WZB. In der Ausstellung „Notes from the Archive“ geben Arbeitsskizzen unter anderem Aufschluss über die gestalterische Entwicklung der rosa-blauen Anbauten des WZB (siehe den Bericht über die Ausstellung auf den Seiten 66-67). [Foto: James Frazer Stirling, Architektenhaus, Modell 1948 oder 1949, AP140.SS1.D3.P3, James Stirling/Michael Wilford fonds, Canadian Centre for Architecture, Montréal]