Ausgabe

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Ausgabe
WZB
Mitteilungen
www.wzb.eu
Dezember 2011
134
Ungleichheit D
­ as Drinnen und
das Draußen der Gesellschaft

Weitere Themen: Mobilität der Zukunft, A.SK-Preis für
Transparency International, Andreas Voßkuhle verab­
schiedet Folke Schuppert, James Frazer Stirlings Archiv,
WZB-Evaluation

WZB
Mitteilungen
Heft 134
Dezember 2011
Inhalt
Titelfoto:
Raum in der Fläche, Gouache
auf Packpapier (Bali), Juni 1992,
42x64 cm, Michael Schleiter
(1955-1996). Besitzer: G. Gavrilovic, Geschenk von
Dr. J. Seipp, Foto Nr. 10/5.
Editorial
Aus der aktuellen Forschung
5
38
Mehr als ein neuer Motor
Die Wende zur E-Mobilität erfordert
­innovative Nutzungskonzepte
Weert Canzler und Andreas Knie
Gut Ding will Weile haben
Jutta Allmendinger
Titelthema
7
Arm, ärmer, am ärmsten
Menschen mit niedrigem Einkommen
steigen immer häufiger ab
Martin Ehlert und Jan Paul Heisig
Aus dem WZB
10
Männer klar im Vorteil
Frauen tragen bei einer Trennung
­weiterhin die finanzielle Hauptlast
Anke Radenacker
41
Ein Wachhund der Demokratie
Laudatio auf Transparency International, den A.SK-Preisträger 2011
Gunnar Folke Schuppert
13
Draußen vor der Tür
Exklusion auf dem Berliner
­Wohnungsmarkt
Christine Barwick
46
Eine echte Marke
Zum Abschied Gunnar Folke Schupperts
vom WZB
Andreas Voßkuhle
16
Multicultural welfare politics
Immigration mostly has no effect on
welfare attitudes
David Brady and Ryan Finnigan
48
Leistungsstark und kooperativ
Ermutigende E
­ valuationsergebnisse
für das WZB
Paul Stoop
19
Mehr Zeitsouveränität – für manche
Langzeitkonten begünstigen Höher­
qualifizierte
Philip Wotschack
50
Konferenzberichte
59
Personen
61A.SK-Fellowships: Forschen für
­Reformen
62
Nachlese: Das WZB im Dialog
63
Vorschau: Veranstaltungen
64Vorgestellt: Publikationen aus dem WZB
23
The paradox of special education
Both school segregation and inclusive
education are on the rise
Justin J.W. Powell
26
Die soziale Frage der Demokratie
Einkommen und Bildung beeinflussen
die Chancen politischer Teilhabe
Sebastian Bödeker
30Auf dem Weg zur Zweidrittel-­
Demokratie
Wege aus der Partizipationskrise
Alexander Petring und Wolfgang Merkel
40
Nachgefragt bei Michael Hutter
Wertmigration
Zu guter Letzt
66 Architektur im sozialen Kontext
James Frazer Stirlings Werk in einer
Stuttgarter Ausstellung
Paul Stoop
34Vermögende vermögen eigentlich
mehr
Trotz wachsenden Wohlstands ­stagniert
das Spendenvolumen
Eckhard Priller und Jürgen Schupp
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
3
Impressum
WZB Aufgaben und Arbeiten
WZB-Mitteilungen
ISSN 0174-3120
Im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) betreiben rund
150 deutsche und ausländische Wissenschaftler problemorientierte Grund­
lagenforschung. Soziologen, Politologen, Ökonomen, Rechtswissenschaftler
und Historiker erforschen Entwicklungstendenzen, Anpassungsprobleme und
Innovations­chancen moderner Gesellschaften. Gefragt wird vor allem nach
den Problemlösungskapazitäten gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen.
Von besonderem Gewicht sind Fragen der Transnationalisierung und Globali­
sierung. Die Forschungsfelder des WZB sind:
Heft 134, Dezember 2011
Herausgeberin
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums
Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin
Reichpietschufer 50
Telefon 030-25 49 10
Telefax 030-25 49 16 84
Internet: www.wzb.eu
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im
Jahr (März, Juni, September, Dezember)
Bezug gemäß § 63, Abs. 3, Satz 2 BHO
kostenlos
Redaktion
Dr. Paul Stoop (Leitung)
Andrea Lietz-Schneider
Claudia Roth
Kerstin Schneider
Korrektorat
Udo Borchert
Dokumentation
Ingeborg Weik-Kornecki
Mitarbeit
Beauftragte der WZB-Schwerpunkte:
Christoph Albrecht
Babette Hagemann
Alice Hohn
Christian Rabe
Editha von Colberg
Texte in Absprache mit
der Redaktion
frei zum Nachdruck
Auflage
11.000
Abonnements: presse@wzb.eu
Fotos S. 5 und S. 62: David Ausserhofer
Gestaltung
Kognito Gestaltung, Berlin
Satz und Druck
Bonifatius GmbH, Druck · Buch · Verlag,
Paderborn
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
– Arbeit und Arbeitsmarkt
– Bildung und Ausbildung
– Sozialstaat und soziale Ungleichheit
– Geschlecht und Familie
– Public Health
– Industrielle Beziehungen und Globalisierung
– Wettbewerb, Staat und Corporate Governance
– Innovation, Wissen(schaft) und Kultur
– Mobilität und Verkehr
– Migration, Integration und interkulturelle Konflikte
– Demokratie
– Zivilgesellschaft
– Internationale Beziehungen
– Governance und Recht
Gegründet wurde das WZB 1969 auf Initiative von Bundestagsabgeordneten
­aller Fraktionen. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.
Gut Ding will Weile haben
Eine Kommission trifft sich. Fünf Wissenschaftler sind angereist. Binnen
drei Minuten haben sie sich einstimmig entschieden und machen sich
auf den Rückweg. Mehrere Stunden investierte Reisezeit ist noch nicht
alles. Fünf weitere Forscher haben Gutachten für die Kommissionsmitglieder geliefert. Insgesamt umfasst die Akte 40 Seiten, sorgfältig verfasst, von der Kommission aufmerksam gelesen, eingeordnet, bewertet.
Der Kommissionsvorsitzende schätzt den Gesamtwert des Verfahrens
auf 10.000 Euro. Wurde eine Universitätsprofessur besetzt? Nein, es ging
um die Zwischenevaluation einer Juniorprofessorin, die nach einem
sehr aufwendigen Verfahren vor gerade mal drei Jahren berufen wurde.
Jetzt lautete die Frage, ob sie drei weitere Jahre lehren und forschen
darf, befristet, ohne Aussicht auf eine Dauerstelle. Es gibt über 1.200 Juniorprofessuren in Deutschland. Der Wissenschaftsrat hat gerade seine
Empfehlungen zur Bewertung und Steuerung von Forschungsleistung
verabschiedet. Evaluation und Rechenschaft seien wichtig, heißt es da,
aber Aufwand und Ertrag müssten in einem „angemessenen Verhältnis“
stehen. Dies ist in dem geschilderten Beispiel nicht der Fall.
Die Evaluationspraxis der Leibniz-Gemeinschaft kommt dieser vernünftigen Maxime schon näher. Alle sieben Jahre werden Institute inhaltlich,
forschungspolitisch und administrativ durchleuchtet. Das schafft Transparenz und hilft der Organisation, den Forschungsgruppen, den Wissenschaftlern. Man denkt über sich nach, legt sich und anderen Rechenschaft ab und hat Zeit zur Veränderung. Das WZB hat diesen Prozess
gerade erneut durchlaufen. Und erfahren, dass die Empfehlungen der
letzten Evaluation vor sieben Jahren eine große Hilfe waren (S. 48-49).
Junge Forscherinnen und Forscher haben eine ähnlich lange Frist verdient. Dadurch würde viel Zeit gewonnen – für die Forschung.
Jutta Allmendinger
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Ungleichheit. (1) Alle Menschen sind vor
dem Gesetz gleich. (2) Männer und
Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung
der Gleichberechtigung von Frauen und
Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin. (3) Niemand
darf wegen seines Geschlechtes, seiner
Abstammung, seiner Rasse, seiner
Sprache, seiner Heimat und Herkunft,
seines Glaubens, seiner religiösen oder
politischen Anschauungen benachteiligt
oder bevorzugt werden. Niemand darf
wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden. (Artikel 3, Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland)
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Arm, ärmer, am ärmsten Menschen mit
niedrigem Einkommen steigen immer
häufiger ab
Martin Ehlert und Jan Paul Heisig
Seit einigen Jahren beobachten Forscher einen stetigen Anstieg der sozialen
Ungleichheit in Deutschland – ein Trend, der sich in einer wachsenden Armutsquote manifestiert. Auch in der Mittelschicht nimmt – ausgelöst durch die sozialpolitischen Reformen der letzten Jahre – die Angst vor dem Abstieg zu. Weil
andauernde Arbeitslosigkeit heute schnell zum Arbeitslosengeld-II-Bezug führen kann, ist der Abstieg für die Mittelschicht ein realistisches Szenario und ein
wichtiges Thema in öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussionen geworden.
Die Auseinandersetzung über das potenzielle Abrutschen der Mittelschicht gehört aber auch zu einer allgemeinen Debatte über die Verteilung von Risiken in
westlichen Gesellschaften. Deren Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen in allen Industrienationen zu einer Destabilisierung
individueller (Erwerbs-)Biographien geführt haben: der Wertewandel, die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, die Deindustrialisierung, der Anstieg
der Beschäftigung im Dienstleistungssektor und wohlfahrtstaatliche Reformen.
Uneinigkeit herrscht in der Frage, wie sich diese Entwicklungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen ausgewirkt haben. Die eine Seite ist der Auffassung,
dass Risiken heute in stärkerem Maße alle Gesellschaftsmitglieder gleich treffen. So hat beispielsweise Ulrich Beck bereits in seinem 1986 erschienenen
Band „Risikogesellschaft“ eine Auflösung der klassischen sozialen Schichtung
durch die „Demokratisierung von Risiken“ konstatiert. Auch die Vorstellung
­einer zunehmenden Prekarisierung der Gesellschaft folgt dieser Argumentationslinie: Kaum jemand in der heutigen Gesellschaft sei mehr vor unsicheren
Verhältnissen geschützt. Dem gegenüber steht die Vorstellung, dass die Ent­
wicklungen eher noch zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheiten geführt
haben, da sich die Risiken auf kleinere, benachteiligte Bevölkerungsgruppen
konzentrieren. Dieser Auffassung zufolge ist eher von einer Kumulation von
Nachteilen und einer Verfestigung der Sozialstruktur auszugehen.
Summary: As social inequality increases, even the middle class fears
downward mobility. However, over the
last 25 years, the risk of falling into
poverty has developed differently for
high- and low-income groups. The
poverty entry risk climbed from
about 10 to about 15 per cent among
the lower income group while it remained constantly low for the middle
and upper income groups.
Kurzgefasst: Die soziale Ungleichheit
in Deutschland nimmt zu, auch der
Mittelstand befürchtet den Abstieg.
Doch in den verschiedenen Einkommensschichten hat sich die Wahrscheinlichkeit zu verarmen über die
letzten 25 Jahre sehr unterschiedlich
entwickelt. Die Verarmungsquote stieg
in den unteren Einkommensschichten
von ca. 10 auf ca. 15 Prozent, während
sie für die mittlere und die obere Einkommensschicht gleichmäßig niedrig
geblieben ist.
Einen Beitrag zur empirischen Fundierung der Diskussion kann eine Untersuchung der Verarmungsrisiken verschiedener Einkommensschichten seit den
1980er Jahren leisten. Dazu wurden in der WZB-Abteilung Ungleichheit und soziale Integration Daten von Längsschnittstudien wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) ausgewertet, die eine große Zahl individueller Einkommensverläufe
enthalten.
Zunächst stellt sich die Frage, wie sich Mittelschicht und andere Schichten voneinander abgrenzen lassen. Einen Anhaltspunkt bietet das bedarfsgewichtete
Nettohaushaltseinkommen. Durch die Bedarfsgewichtung soll das Einkommen
von Mehrpersonenhaushalten mit dem von Einpersonenhaushalten vergleichbar gemacht und damit zumindest annähernd der Lebensstandard der Haushaltsmitglieder abgebildet werden.
Die Zuordnung zu den Einkommensschichten basiert auf dem Median der Einkommensverteilung. Medianeinkommen bedeutet: Eine Hälfte der Bevölkerung
hat ein Einkommen zur Verfügung, das kleiner, die andere Hälfte ein Einkommen, das größer als das Medianeinkommen ist. Zur Mittelschicht gehören Menschen, deren Einkommen zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens
liegt. In den letzten Jahren betrug das bedarfsgewichtete Medianeinkommen
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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etwa 1.500 Euro im Monat. Dementsprechend werden Beschäftigte mit einem
Einkommen zwischen etwa 1.200 und 2.250 Euro der Mittelschicht zugerechnet.
Menschen mit einem Einkommen unterhalb von 80 Prozent des Medians gehören zur unteren Einkommensschicht; wer ein Einkommen von mehr als 150
Prozent des Medians hat, wird zur oberen Einkommensschicht gezählt. Nach dieser Definition gehört etwa die Hälfte der Bevölkerung der Mittelschicht an. Die
andere Hälfte verteilt sich in etwa zu 30 Prozent auf die untere Schicht und zu
20 Prozent auf die obere Schicht.
[Foto: Ingeborg Weik-Kornecki]
Martin Ehlert studierte Sozialwissenschaften an der
Humboldt-Universität zu Berlin, in Osnabrück und
Örebro (Schweden). Seit April 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ungleichheit
und soziale Integration. Er forscht über die finanziellen Folgen von Arbeitsplatzverlusten im deutschamerikanischen Vergleich.
ehlert@wzb.eu
Der Begriff „Schicht“ schließt etwas Dauerhaftes mit ein. Daher werden in der
Analyse nur die Menschen berücksichtigt, die zwei Jahre hintereinander in derselben Einkommensschicht waren. Abstiege werden ebenfalls anhand des bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens definiert: Ein Abstieg liegt vor, wenn
das Einkommen die Armutsrisikoschwelle in Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens unterschreitet. Für einen Teil der unteren Einkommensschicht ist
ein weiterer Abstieg nicht mehr möglich, weil ihr Einkommen bereits unterhalb
der Armutsrisikoschwelle liegt. Menschen aus der unteren Einkommensschicht
werden in der Analyse daher nur berücksichtigt, wenn sie zwei Jahre oberhalb
der Armutsrisikoschwelle gelebt haben, ihr Einkommen also zwischen 60 und
80 Prozent des Medians betrug. Das trifft im Schnitt auf ungefähr 40 Prozent aus
dieser Schicht zu.
niedrige
Einkommensschicht
mittlere
Einkommensschicht
hohe
Einkommensschicht
Verarmungsquote
20 %
15 %
10 %
5%
0%
´84 ´85 ´86 ´87 ´88 ´89 ´90 ´91 ´92 ´93 ´94 ´95 ´96 ´97 ´98 ´99 ´00 ´01 ´02 ´03 ´04 ´05 ´06 ´07
Entwicklung der Verarmungsquote für verschiedene
Einkommensschichten (1984-2007)
Quelle: SOEP, eigene Berechnungen
Betrachtet man, wie sich der Abstieg in die Armut in den verschiedenen Einkommensschichten über die Zeit entwickelt hat, wird deutlich, dass Menschen in
der untersten Einkommensschicht deutlich häufiger unter die Armutsschwelle
geraten als diejenigen in den anderen Einkommensschichten. Über 10 Prozent
der Beschäftigten mit niedrigem Einkommen werden im Schnitt innerhalb eines Jahres arm; sie haben also weniger als ca. 900 Euro zur Verfügung. Aus der
Mittelschicht steigen dagegen durchschnittlich nur ungefähr 2 Prozent ab; wer
ein höheres Einkommen hat, ist so gut wie nie betroffen. Dies ist zunächst nicht
verwunderlich, da die untere Schicht schon sehr viel näher an der Armutsschwelle ist und schon geringe Einkommensverluste einen Abstieg hervorrufen
können. Um auszuschließen, dass die Ergebnisse von kleinen Einkommensschwankungen beeinflusst werden, wird ein Abstieg nur dann miteinbezogen,
wenn er mit einem substanziellen Einkommensverlust von mindestens 10 Prozent einhergeht. Diese erste Betrachtung macht bereits deutlich, dass Abstiegsrisiken deutlich ungleich verteilt sind: Die Mittelschicht und die Oberschicht
sind nur äußerst selten betroffen.
Das Abstiegsrisiko der unteren Einkommensschicht unterliegt zudem deutlichen Schwankungen, die grob den Konjunkturverlauf spiegeln. Dies dürfte vor
allem darauf zurückzuführen sein, dass sich in dieser Gruppe besonders viele
niedrig Gebildete und atypisch Beschäftigte finden, deren Entlassungsrisiko
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
stark von der konjunkturellen Lage abhängt. Für die eingangs skizzierte Debatte
wichtiger ist allerdings die Frage, ob – und wenn ja, für welche Einkommensschichten – eine Zunahme von Abstiegsrisiken erkennbar ist, die über vorübergehende konjunkturbedingte Schwankungen hinausgeht. Hier zeigt die Analyse,
dass das Verarmungsrisiko nur für die untere Einkommensschicht klar angestiegen ist. Bis zum Ende der 1990er Jahre schwankte die Verarmungsquote dort
konjunkturabhängig um etwa 10 Prozent. Danach allerdings ist eine deutliche
Steigerung auf zuletzt etwa 15 Prozent festzustellen. In den anderen Schichten
hingegen gibt es keine Veränderungen.
Die Befunde stützen die These vom Abrutschen der Mittelschicht in die Armut
nicht: Das Abstiegsrisiko hat in den letzten 25 Jahren ausschließlich für Haushalte mit einem niedrigen Einkommen zugenommen. Deren Lage ist deutlich
unsicherer geworden, während die Mittelschicht über den gesamten Zeitraum
annähernd in gleich sicheren Verhältnissen leben konnte. Der Anstieg der Armutsquote speist sich also vor allem aus niedrigen Einkommensschichten. Zusammen mit dem Ergebnis des Datenreports 2011, dass tendenziell immer weniger Personen der Armut entkommen, ergibt sich eine Verfestigung von
Einkommensarmut.
Wie kann diese Entwicklung erklärt werden? Eine erste Vermutung ist, dass diese Muster mit Veränderungen in der Sozialpolitik zusammenhängen. Allerdings
fällt der Anstieg der Abstiegsquote von Niedrigeinkommenbeziehern nicht mit
der vierten Hartz-Reform von 2005 zusammen. Zudem trifft die in dieser Reform durchgesetzte Entkopplung der Leistungen für Langzeitarbeitslose vom
bisherigen Lohn eher Beschäftigte mit einem mittleren Einkommen als solche
mit geringem Einkommen. Nun könnte man einwenden, dass die Abstiegsprozesse schrittweise von der Mittelschicht in die untere Schicht und dann in Armut verlaufen. Doch da sich die Analyse auf Beschäftigte bezieht, die sich seit
mindestens zwei Jahren in einer Einkommensschicht befinden, tauchen solche
Abstiegszenarien in der Analyse nicht auf. Weitere Analysen zeigen allerdings,
dass auch verzögerte Abstiege aus der Mittelschicht nach den Reformen nicht
häufiger vorkommen als vorher.
Eine plausiblere Erklärung scheint die Veränderung der Arbeitsmarktstruktur
in Deutschland zu sein. Studien zu den bildungsspezifischen Arbeitsmarktchancen zeigen, dass sich diese in den letzten 20 bis 30 Jahren vor allem für Beschäftigte ohne berufsqualifizierenden Abschluss verschlechtert haben. Sie müssen
häufiger als früher den Arbeitgeber wechseln und sind auch öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Hinzu kommt, dass die Lohnungleichheit im Zeitverlauf
deutlich zugenommen hat. Während Löhne am oberen Ende der Verteilung stiegen, gingen die Reallöhne im unteren Bereich sogar deutlich zurück. Während
Geringqualifizierte in den 1980er Jahren also noch häufig ein vergleichsweise
risikoarmes Leben im unteren Einkommensbereich führen konnten, sind sie
heute stärker abstiegsgefährdet.
Die Ergebnisse der Analyse deuten darauf hin, dass es eher eine Kumulation von
Risiken in den unteren Schichten gibt als eine allgemeine Prekarisierung großer Teile der Gesellschaft. Der Blick sollte also eher auf bereits benachteiligte
Schichten der Gesellschaft als auf die Mittelschicht gerichtet werden. Hier vollziehen sich offenkundig Prozesse, die ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft hervorrufen.
[Foto: David Ausserhofer]
Jan Paul Heisig studierte Soziologie, Philosophie und
Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin und an der
Universität Stanford (USA). Seit September 2007 ist
er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung
Ungleichheit und soziale Integration. In seiner Dissertation untersucht er die späte Erwerbskarriere und
die finanziellen Konsequenzen des Renteneintritts im
deutsch-amerikanischen Vergleich.
heisig@wzb.eu
Literatur
Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum
Berlin für Sozialforschung (Hg): Datenreport
2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik
Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische
Bildung 2011.
Dustmann, Christian/Ludsteck, Johannes/Schönberg, Uta: „Revisiting the German Wage Structure“. In: The Quarterly Journal of Economics, Vol.
124, No. 2, 2009, S. 843-881.
Giesecke, Johannes/Heisig, Jan Paul: „Destabilisierung und Destandardisierung, aber für wen?
Die Entwicklung der westdeutschen Arbeitsplatzmobilität seit 1984“. In: Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 62, Heft 3,
2010, S. 403-435.
Giesecke, Johannes/Wotschack, Philip: Flexibilisierung in Zeiten der Krise: Verlierer sind junge
und gering qualifizierte Beschäftigte. WZBrief Arbeit 01 / Juni 2009. Berlin: WZB 2009.
Lengfeld, Holger/Hirschle, Jochen: „Die Angst der
Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg“. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 38, Heft 5, 2009, S.
379-398.
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Männer klar im Vorteil Frauen tragen
bei einer Trennung weiterhin die
­finanzielle Hauptlast
Anke Radenacker
Summary: A comparison of the financial consequences of family break-up
over time shows that women still carry the financial burden. Despite increases in women’s participation in the
work force, they are unable to compensate for the loss of the income the
male breadwinner used to provide.
Existing incentives for women’s exit
from the labor market when starting
a family are to some extent responsible for a hindered re-entry into employment upon separation.
Kurzgefasst: Ein Zeitvergleich der
wirtschaftlichen Folgen von Familientrennung zeigt, dass Frauen weiterhin
die finanzielle Hauptlast tragen. Auch
die steigende Erwerbstätigkeit von
Frauen kann die Einkommensverluste
durch die Trennung vom männlichen
Hauptverdiener nicht ausgleichen.
Frauen mit Kindern haben es nach einer Trennung nach wie vor schwer,
wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. Das hat auch damit zu tun,
dass ihnen der Ausstieg aus dem Erwerbsleben bei der Familiengründung
durch verschiedene Anreize sehr
leicht gemacht wird.
Immer weniger Geburten und immer weniger Hochzeiten, dafür immer mehr
Scheidungen: Die Familienstrukturen in Deutschland und ganz Europa haben
sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Seitdem ist das
Trennungsrisiko in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Blieben die heutigen Scheidungsverhältnisse gleich, würde in den kommenden 25 Jahren jede
dritte der im Jahr 2009 geschlossenen Ehen wieder geschieden. Gegenwärtig
sind bei rund jeder zweiten Scheidung minderjährige Kinder betroffen, in 90
Prozent der Fälle leben sie nach der Trennung bei der Mutter.
Die Veränderungen haben dazu geführt, dass heute mehr Menschen von einer
Trennung betroffen sind als jemals zuvor. In einem DFG-geförderten Forschungsprojekt am WZB wird auf der Grundlage von Daten des Sozio-oekonomischen
­Panels (SOEP) erforscht, welche wirtschaftlichen Folgen zentrale Lebensereignisse wie Familientrennung, aber auch Arbeitsplatzverlust, Krankheit und Renteneintritt im Lebensverlauf für betroffene Haushalte haben. Es ist ein bekanntes
Ergebnis vorangegangener Forschung, dass die finanziellen Folgen einer Trennung für Männer und Frauen unterschiedlich sind, dass also das Geschlecht eine
Dimension sozialer Ungleichheit ist. Unter dem Eindruck einer Ausweitung familienpolitischer Leistungen stellt sich aktuell aber vor allem die Frage nach der
Entwicklung der Einkommensverluste für Frauen und Männer im Verlauf der Zeit.
Trennung einer Familie bedeutet hier, dass ein Elternteil aus einem gemeinsamen Haushalt auszieht, in dem zu diesem Zeitpunkt mindestens ein Kind lebt,
das nicht älter als 14 Jahre ist. Dabei ist es unerheblich, ob das Paar verheiratet
oder unverheiratet ist. Die finanzielle Situation bemisst sich am Haushaltsnettoeinkommen auf Jahresbasis. Dieses Einkommen wird gewichtet, damit die
Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe verglichen werden können. Ermittelt werden die finanziellen Veränderungen im Jahr der Trennung
sowie in den folgenden vier Jahren gegenüber dem durchschnittlichen Einkommen der drei Jahre vor der Trennung. Dies gibt die relativen Unterschiede
gegenüber den Einkommensverhältnissen der Vortrennungsjahre wieder. Die
folgende Darstellung umfasst Familientrennungen zwischen 1987 und 2005.
Dieser Zeitraum wird für den Zeitvergleich in drei Abschnitte unterteilt: von
1987 bis 1992, von 1993 bis 1999 und von 2000 bis 2005.
Die Ergebnisse entsprechen zunächst den bekannten Befunden der Scheidungsforschung: Frauen tragen weiterhin die finanzielle Hauptlast einer Trennung,
während Männer nach wie vor keine bedeutenden Einkommensverluste hinnehmen müssen. Im Gegenteil, Männer profitieren sogar von einer Trennung bzw.
Scheidung, wenn es um das Haushaltsnettoeinkommen geht. Grund dafür ist das
in Deutschland weiter vorherrschende Haupternährermodell: Nach einer Trennung haben die Männer nämlich nicht mehr im gleichen Umfang die Ex-Partnerin
und Kind(er) zu versorgen und büßen gleichzeitig durch den Verlust der in den
meisten Fällen höchstens teilzeitbeschäftigten Partnerin kaum Einkommen ein.
Da es fast ausschließlich die Mütter sind, die nach der Trennung die gemeinsamen
Kinder betreuen, können Väter unverändert oder sogar intensiver als zuvor erwerbstätig sein. So steigt das Haushaltsnettoeinkommen von Männern nach der
Trennung um bis zu 25 Prozent – selbst wenn Unterhaltszahlungen berücksichtigt werden, deren Höhe die Männer selbst angeben. Teilweise arbeiten Männer
nach einer Trennung mehr als vorher. Gleichzeitig kommen diese relativen Gewinne aber auch rechnerisch zustande, weil von dem in etwa gleichbleibenden
10
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Erwerbseinkommen des Mannes nach der Trennung weniger Menschen versorgt
werden müssen. Dadurch haben die Männer mehr Einkommen für den eigenen
Bedarf zur Verfügung. Zu erwähnen ist allerdings, dass bei der Untersuchung –
abgesehen von Unterhaltszahlungen – lediglich die Einnahmenseite berücksichtigt werden kann. Über die trennungs- und scheidungsbedingten Ausgaben wie
Anwaltskosten oder Kosten für die doppelte Haushaltsführung stehen keine Informationen zur Verfügung, weder für die Männer noch für die Frauen.
Frauen geht rund die Hälfte des Haushaltseinkommens verloren, wenn der Familienernährer auszieht. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die relativen Einkommensverluste für die Frauen im Trennungsjahr eher geringer geworden sind – statt 47 Prozent in der ältesten Trennungskohorte waren es für
die aktuellste Trennungskohorte noch 42 Prozent. Allerdings erholen sich die
Frauen in den Folgejahren der Trennung heute langsamer als früher von ihren
Verlusten. Das Haushaltseinkommen von Frauen, die sich Ende der 1980er Jahre
bis Anfang der 1990er Jahre getrennt hatten, erreichte bereits im dritten Jahr
nach der Trennung fast das Ausgangsniveau. Trennungen in den 1990er und
2000er Jahren zogen auch im vierten Jahr nach dem Auszug des Partners noch
bedeutende Einkommensverluste für Frauen nach sich. Bis zu einem Viertel des
ursprünglichen Einkommens bleibt für getrennt lebende Frauen der 2000er
Jahre dauerhaft verloren.
[Foto: David Ausserhofer]
Anke Radenacker, Diplom-Demographin, ist seit April
2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. Sie arbeitet
im Projekt „Die wirtschaftlichen Folgen zentraler Lebensrisiken in Deutschland und den USA und ihre
Entwicklung seit den 80er Jahren“ und forscht über
den Sozialstaat und Familie.
radenacker@wzb.eu
Welche Strategien verfolgen alleinerziehende Mütter, um die Verluste zu kompensieren? Und wie erfolgreich sind diese Strategien, inwiefern haben sie sich
über die Zeit verändert? Können damit auch die dauerhaften Einkommensverluste der aktuelleren Kohorten erklärt werden? Immer mehr Frauen und vor
allem Mütter sind erwerbstätig – weshalb zu erwarten wäre, dass sich das Haushaltseinkommen von Frauen im Laufe der Zeit vom Einbruch nach einer Trennung erholt. Tatsächlich aber ist die Frauenerwerbsquote in erster Linie dadurch gestiegen, dass es immer mehr Teilzeit- und geringfügige Beschäftigungen
gibt. Das Arbeitsvolumen ist derweil sogar gesunken. Analysen des Erwerbsverhaltens von Müttern nach einer Trennung zeigen, dass Frauen im Schnitt durchaus ihr individuelles Arbeitsvolumen im Zeitverlauf erhöht haben. Frauen der
ältesten Trennungskohorte, die sich also zwischen 1987 und 1992 trennten,
senkten die Zahl ihrer Arbeitsstunden sogar. Ein Grund dafür könnte sein, dass
sich Beruf und Familie damals noch schwerer vereinbaren ließen als heute. Die
folgenden beiden Kohorten arbeiteten nach einer Trennung mehr, mit steigender Tendenz. Dies kann aber die finanziellen Verluste durch den Wegfall des
Einkommens des Mannes nicht ausgleichen.
Die steigende Erwerbsquote von Frauen könnte sich aus finanzieller Sicht im
Scheidungsfall sogar mehr und mehr negativ ausgewirkt haben, und zwar nicht
erst durch die jüngsten Änderungen im Unterhaltsrecht. Denn der Anspruch auf
Ehegattenunterhalt nach der Scheidung orientiert sich unter anderem daran, ob
die Erwerbstätigkeit der Mutter im Hinblick auf ihre Qualifikation und die Kinderbetreuung als zumutbar angesehen wird. Erwerbstätigkeit während der Ehe
und die damit bereits vorhandene Kinderbetreuung durch Dritte können dann
als Grund gesehen werden, auch nach der Scheidung eine Erwerbstätigkeit als
zumutbar einzuschätzen. Im Vergleich zur sogenannten Hausfrauenehe ist dies
für die Frauen mit geringeren Aussichten auf Ehegattenunterhalt verbunden.
Neben rein rechtlichen Ansprüchen ist aber letztlich ausschlaggebend, ob diese
Ansprüche tatsächlich geltend gemacht werden. Um Streit zu vermeiden, aber
auch im Streben nach Unabhängigkeit verzichtet eine Reihe von Frauen auf
Unterhalt vom Ex-Partner.
Ein verändertes Haushaltseinkommen in den Jahren nach der Trennung kann
auch aus einer sich verändernden Haushaltszusammensetzung resultieren.
Frauen ziehen nach einer Trennung vielleicht wieder mit einem neuen Partner
zusammen und verbessern dadurch die Einkommenssituation ihres Haushalts.
Tatsächlich hat sich auch das nacheheliche Partnerschaftsverhalten im Laufe
der Zeit verändert – ein Hinweis darauf ist, dass heute weniger Geschiedene als
früher wieder heiraten. Zum einen mag die finanzielle Notwendigkeit eines
männlichen Familienernährers durch die wachsende wirtschaftliche Selbstständigkeit von Frauen abgenommen haben. Gleichzeitig sind Geschiedene und
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Alleinerziehende heute weniger stigmatisiert als früher. Ein weiterer Grund
für die anhaltenden Einkommenseinbußen könnte sein, dass es immer mehr
nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern gibt, in denen sich die Partner trennen. Frauen in diesen Lebensgemeinschaften weisen zwar eine höhere
Erwerbsbeteiligung auf – sowohl die Frauenerwerbsquote als auch der Anteil in
Vollzeit erwerbstätiger Frauen ist höher. Andererseits haben sie allein aufgrund
des Familienstandes geringere Unterhaltsansprüche als vormals Verheiratete,
was sich wiederum im Haushaltseinkommen bemerkbar macht.
Die Zusammensetzung des Haushaltseinkommens als Mix aus Arbeitseinkommen, staatlichen und privaten Transfers sowie die sich verändernde Zusammensetzung von Haushalten verdeutlichen die Komplexität der Einkommensverhältnisse, wenn es zu einer Trennung kommt. Weiter verkompliziert wird dies durch
die Tatsache, dass heute zwar mehr Frauen als früher erwerbstätig sind, jedoch
häufiger nur in Teilzeit arbeiten. Dass sich das Partnerschaftsverhalten nach der
Trennung verändert und es immer mehr nichteheliche Lebensgemeinschaften
gibt, tut ein Übriges. Nicht zuletzt verdeutlichen die familienpolitischen Maßnahmen seit den 1980er Jahren, wie schmal der Grat zwischen einer Anerkennung
von Familienleistungen in Form von Geld oder Zeit einerseits und negativen Anreizen zu traditioneller Arbeitsteilung mit abgeleiteten Versorgungsansprüchen
andererseits ist. So mag die Betonung der Eigenverantwortung im neuen Unterhaltsrecht – im Sinne abnehmender finanzieller Verpflichtungen gegenüber ExPartnerinnen, nicht aber gegenüber den gemeinsamen Kindern – zwar ein Weg
zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Müttern sein. Andererseits sind die betroffenen Haushalte dadurch zunächst finanziell schlechter gestellt. Denn das
Ehegatten-Splitting, der Versorgungsausgleich und großzügige Elternzeit-Regelungen verleiten Frauen bei der Familiengründung zum Rückzug vom Arbeitsmarkt. Der Wiedereinstieg wird ihnen dann später durch mangelnde Möglichkeiten zur Kinderbetreuung und die Diskriminierung von Müttern erschwert. Bricht
dann die Partnerschaft auseinander, haben es Frauen mit Kindern ausgesprochen schwer, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen.
Literatur
Radenacker, Anke: „Economic Consequences of Family Break-up. Income Before and
After Family Break-up of Women in Germany and the United States“. In: Schmollers
Jahrbuch, Vol. 131, No. 2, 2011, S. 225-234.
Demografie und Ungleicheit:
Neue Projektgruppe am WZB
Wie hängen demografische Entwicklung und
soziale Ungleichheit zusammen? Haben Veränderungen der Bevölkerungsstruktur Einfluss
auf die Verteilung von Wohlstand innerhalb
von Gesellschaften? Diese und andere Fragen
werden seit 1. August 2011 in der neuen Projektgruppe Demografie und Ungleichheit untersucht. Deren Leitung hat Anette Fasang, Juniorprofessorin der Humboldt-Universität zu
Berlin, übernommen.
Die gebürtige Düsseldorferin (mit amerikanischem und ungarischem Pass) studierte Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Jacobs University Bremen
und der Yale University in New Haven. 2008
12
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
wurde sie in Bremen mit einer Arbeit über
„Geschlechterungleichheit in der Rente in
Deutschland und Großbritannien“ promoviert.
Vor ihrem Wechsel nach Berlin verbrachte sie
drei Jahre als Postdoktorandin an der Yale und
der Columbia University.
Die Gruppe untersucht zunächst in mehreren
Projekten den Zusammenhang von Familienbildung, Fertilität und sozialer Ungleichheit –
zum Beispiel die Familienbildung in Ost- und
Westdeutschland vor und nach der Wende oder
die Vereinbarkeit von Familiengründung und
Berufseinstieg in Deutschland und den USA.
Ein weiterer Schwerpunkt der Projektgruppe
ist die Analyse intergenerationaler Beziehungen. Das Forschungsprogramm der Projektgruppe folgt einem lebenslauftheoretischen
Ansatz und ist international vergleichend ausgerichtet.
Draußen vor der Tür Exklusion auf dem
Berliner Wohnungsmarkt
Christine Barwick
Wie und wo Menschen wohnen, kann großen Einfluss darauf haben, wie gut sie in
ihr Umfeld und letztlich in die Gesellschaft insgesamt integriert sind. Doch nicht
jeder kann völlig frei über seine Wohnsituation bestimmen. Wie im Einzelnen
bestimmte Mechanismen bei der Wohnungsvergabe den Zugang zum Wohnungsmarkt nach sozialen Kriterien beeinflussen, wurde in einem Berliner Forschungsprojekt untersucht. Analysiert wird die Arbeit von städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin, die vor allem für die Vergabe von
Sozialwohnungen zuständig sind. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage, in welche
gesellschaftlichen Kategorien Mitarbeiter dieser Unternehmen Wohnungsbewerber einordnen und ob Menschen aus bestimmten Kategorien bei der Wohnungsvergabe benachteiligt werden. Ausgangspunkt war die These des amerikanischen
Sozialwissenschaftlers Charles Tilly. Dieser hat gezeigt, dass Kategorisieren soziale Ungleichheit begünstigt. Für den Wohnungsmarkt hieße das konkret: Wird
jeder Wohnungssuchende tatsächlich als Wohnung suchender Mensch gesehen
oder primär als Einheimischer oder Migrant, als Mann oder Frau, als Christ oder
Muslim – und je nach Einordnung begünstigt oder benachteiligt?
Summary: Social inequality is (re)produced through the application of categories. If people are assigned to certain groups, this can – for example
– speed up work procedures. Research
in three Berlin social housing associations supports this hypothesis. The
central question is: do employees of
these housing associations consider
applicants for housing really as human beings in search of an apartment,
or are these applicants primarily seen
as natives or migrants, men or women, Christians or Muslims – and are
they favored or disadvantaged along
these categories?
Die Grundlage der Untersuchung bilden leitfadengestützte Interviews mit insgesamt sieben Angestellten dreier städtischer Wohnungsbaugesellschaften. Die
Interviews fanden jeweils in einem Innenstadt- sowie einem Randbezirk-Büro
statt. Außerdem wurde die Arbeit von Angestellten von zwei dieser Wohnungsbaugesellschaften, zuständig für die Wohnungsvergabe in Kreuzberg und Wedding, jeweils einen Tag lang beobachtet.
Kurzgefasst: Werden Menschen – etwa
weil es Arbeitsabläufe erleichtert – in
Kategorien eingeordnet, so kann dies
zu sozialer Ungleichheit führen oder
diese verstärken. Dies belegt eine Untersuchung von drei städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin.
Hier stellte sich ganz konkret die Frage: Wird jeder Wohnungssuchende tatsächlich als Wohnung suchender
Mensch gesehen oder primär als Einheimischer oder Migrant, als Mann
oder Frau, als Christ oder Muslim –
und je nach Einordnung begünstigt
oder benachteiligt?
Organisationen wie die Wohnungsbaugesellschaften und deren Mitarbeiter fungieren als sogenannte Torwächter oder gatekeeper des Wohnungsmarkts. Sie
können den Zugang zu Wohnraum kontrollieren, damit in letzter Konsequenz die
sozial-räumliche Struktur der Stadt mit prägen – und so auch soziale Ungleichheit beeinflussen. Mit Blick auf soziale Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt
macht der Geograf Fred Gray deutlich, dass „it is necessary to distinguish between the privileged and the excluded or disqualified, in terms of the constraints
placed upon households by the organizations which allocate housing“.
Viele Studien, die sich mit den Torwächtern des Wohnungsmarkts beschäftigen,
stellen diese schlicht als diskriminierend dar. Hier wird jedoch diese verengte
Perspektive erweitert. Die zentrale These lautet: Auch die politischen Rahmenbedingungen und die Arbeitsabläufe in der Wohnungsbaugesellschaft als Institution können dazu führen, dass sich soziale Ungleichheit verfestigt.
Ein erster Mechanismus, der die Wohnungsvergabe im sozialen Wohnungsbau
beeinflusst, resultiert aus stadtpolitischen Rahmenbedingungen. In Berlin beispielsweise finden Hartz-IV-Empfänger, die stark auf den sozialen Wohnungsbau angewiesen sind, oft nur mit größter Mühe eine Wohnung. Denn in der
Hauptstadt liegt die Obergrenze für Mieten, die das Jobcenter übernimmt, unterhalb des Preisniveaus der meisten Sozialwohnungen. Grund sind Regeln aus den
Anfangszeiten des sozialen Wohnungsbaus, die eine jährliche Zuschusskürzung
durch die Stadt Berlin vorsehen. Diese Verluste lassen sich die Vermieter von
den Mietern ausgleichen – durch höhere Mieten. Sozialer Wohnungsbau kann in
der Hauptstadt daher mittlerweile nicht mehr mit geringen Mieten gleichgesetzt werden.
Die Wohnungsbaugesellschaften können diesem Problem begegnen, indem sie
auf einen Teil der Miete verzichten – was für die Unternehmen natürlich ein
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
13
Verlustgeschäft ist. Denn die Miete, die von der Stadt festgelegt wird, muss in
jedem Fall an die Stadt abgeführt werden, notfalls zum Teil aus dem eigenen Etat
der Gesellschaften. Eine Mietreduktion wird daher nur in bestimmten Fällen
zugelassen: Der Mietbewerber muss eine Arbeit haben oder sich zumindest arbeitswillig zeigen. Zudem darf er keine Mietschulden haben und braucht ein
gutes Mietzeugnis vom letzten Vermieter. Nur ein Armer, der es auch „verdient“,
bekommt also eine Sozialwohnung durch Mietreduktion. In attraktiven Innenstadtlagen, in denen die Nachfrage hoch ist, sind solche Reduktionen jedoch die
Ausnahme.
[Foto: David Ausserhofer]
Christine Barwick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung im Projekt „Citizenship Rights for Immigrants“. Sie promoviert in Stadtsoziologie an der
Humboldt-Universität zu Berlin und dem Institut für
Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund.
barwick@wzb.eu
Auch die Gebietsfreistellung ist ein Mechanismus, der zur Exklusion führen
kann. Gebietsfreistellung bedeutet, dass Bewerber seit 2002 in bestimmten
Siedlungen und Bezirken keinen Wohnberechtigungsschein mehr brauchen, außerdem ist die Fehlbelegungsabgabe weggefallen. Das heißt, dass jeder einkommensunabhängig eine Wohnung des sozialen Wohnungsbaus mieten kann. In
Gegenden wie Kreuzberg führt das dazu, dass der verfügbare Wohnraum für
Geringverdiener oder Hartz-IV-Empfänger knapp wird – kurzum, die Gebietsfreistellung schränkt den verfügbaren Wohnraum für traditionelle Mieter des
sozialen Wohnungsbaus ein. Die interviewten gatekeeper nutzen diesen Spielraum und bevorzugen Berufstätige. Exemplarisch ist ein Beispiel, das Petra Becker (alle Namen wurden geändert), Mitarbeiterin einer für Kreuzberg zuständigen Wohnungsbaugesellschaft, anführt: „Wenn jetzt jemand [eine Einzelperson]
sagt ‚Ich nehm’ jetzt die Dreizimmerwohnung‘, dann kann er die auch haben.
Durch die Fehlbelegung wäre das ja gar nicht möglich gewesen (...) Das erleichtert uns auch die Auswahl der Bewerber.“ Die politischen Regeln für den sozialen Wohnungsbau der Stadt Berlin führen also dazu, dass die Kategorie Hartz-IVEmpfänger/arbeitslos der Kategorie Mensch mit eigenem Einkommen/
erwerbstätig gegenübergestellt wird. Arbeitslose bekommen kaum noch eine
Wohnung in attraktiven Stadtlagen. Sie müssen sich häufig mit Wohnungen in
heruntergekommenen Sozialbausiedlungen oder benachteiligten Quartieren
zufrieden geben.
Auch die Arbeitsabläufe innerhalb der Wohnungsbaugesellschaft fördern eine
Kategorisierung der Bewerber. Wenn es beispielsweise darum geht, die Unterlagen zur Bewerbung um eine Wohnung zusammenzustellen, sind Hartz-IV-Empfänger von vornherein im Nachteil und damit schnell ausgegrenzt. Es gewinnen
nämlich diejenigen, die am schnellsten die kompletten Unterlagen vorlegen
können. Hierzu gehören der Personalausweis, eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung, Einkommensnachweise der letzten drei Monate, die Schufa-Auskunft sowie bei Migranten eine für mindestens ein Jahr gültige Aufenthaltsgenehmigung. Gerade für Hartz-IV-Empfänger ist das rasche Beschaffen der
Unterlagen aber schwierig, denn sie sind auf die Kooperation ihres Jobcenters
angewiesen: Dort müssen sie das Wohnungsangebot vorlegen, sich die Bewerbung auf diese Wohnung genehmigen und bestätigen lassen, dass die Miete
übernommen wird. Dies nimmt einige Tage, häufig sogar bis zu zwei Wochen in
Anspruch. Hannes Weber von der für Kreuzberg zuständigen Wohnungsbaugesellschaft beschreibt das so: „Oft ist es auch so, dass viele Probleme haben, auch
die Unterlagen teilweise zusammenzustellen. Also manche brauchen vier Wochen, manche brauchen fünf Wochen. Solange warten wir natürlich nicht auf
den, dass er die Wohnung bekommt, weil dann gibt’s ja auch noch andere.“ Diese
Einstellung freilich läuft dem Sinn und Zweck des sozialen Wohnungsbaus zuwider – denn er hat ja den expliziten Auftrag, bezahlbaren Wohnraum speziell für
sozial Schwächere bereitzustellen. Hartz-IV-Empfängern nicht mehr Zeit einzuräumen, sich auf eine Wohnung zu bewerben, schließt diese vom Wettbewerb um
Wohnraum aus, erst recht, wenn es sich um Wohnraum in gefragten Lagen handelt.
Wer über ein eigenes – und vorzugsweise gutes – Einkommen verfügt, hat wesentlich bessere Chancen, das Rennen zu machen. Das Einkommen spielt aber
auch noch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle. Die Wohnungsbaugesellschaften setzen einen bestimmten Schwellenwert fest: Demnach sollen die Mieter nicht mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Das
klingt zwar plausibel, kann aber gerade für ärmere Haushalte problematisch
sein, denn bei geringem Einkommen ist die relative Mietbelastung automatisch
14
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
höher. Der Schwellenwert führt also zu einer noch stärker eingeschränkten
Wohnungsauswahl für ökonomisch schwächere Haushalte.
Nicht nur die stadtpolitischen Rahmenbedingungen und die Regeln der Wohnungsbaugesellschaft fördern das Kategorisieren. Auch die Mitarbeiter selbst
tendieren dazu, ihre Kunden bestimmten Gruppen zuzuordnen und dementsprechend Wohnungen zu vergeben. Die Interviews machen deutlich, dass die
vermeintlichen Interessen der deutschen Mieter die Mieterauswahl der interviewten gatekeeper beeinflussen. In attraktiven Gegenden wie Kreuzberg oder
auch der Spandauer Altstadt wird, wie die Mitarbeiter selbst einräumen, darauf
geachtet, dass keine weiteren Familien mit Migrationshintergrund in ein Gebäude einziehen. Jürgen Scholz, der für eine Wohnungsbaugesellschaft im Wedding
arbeitet, sagt zur Mieterauswahl für eine attraktive Wohnanlage mit überwiegend deutscher Mieterschaft, „da würde ich zum Beispiel ’ne Dame mit Kopftuch
ungern reinsetzen“. Bei der Wohnungsvergabe spielen also die Kategorien Migrant und Einheimischer eine Rolle, wobei die Interessen der deutschen Mieter
der Maßstab sind. Wenn Migranten keine oder eine schlechtere Wohnung bekommen, um den Interessen der deutschen Mieter gerecht zu werden, so benachteiligt dies natürlich die Migranten – und verstärkt soziale Ungleichheit.
Die Beobachtungen der Arbeit in den Büros zweier Wohnungsbaugesellschaften
belegen, dass deutsche Kunden oft türkischen, arabischen oder afrikanischen
vorgezogen wurden. Waren die Migranten zugleich Hartz-IV-Empfänger, hatten
sie besonders schlechte Karten.
Eine Mitarbeiterin sagte beispielsweise, ihrer Meinung nach hätten Hartz-IVEmpfänger kein Recht auf Wohnungen in Innenstadtlage. Sie fügte hinzu, HartzIV-Empfänger lebten oft über Generationen hinweg von staatlicher Unterstützung und bemühten sich gar nicht um Arbeit. Der Wunsch von Migranten etwa,
in einer Gegend mit geringem Migrantenanteil zu wohnen, wird nicht immer
ernst genommen. Wenn aber an Migranten vorzugsweise in Siedlungen oder
Quartieren vermietet wird, in denen bereits viele weitere Migranten leben,
führt dies letztendlich zu ethnischer Segregation und verstärkt wiederum soziale Ungleichheit.
Viele Mitarbeiter von Wohnungsbaugesellschaften schätzen sich als Experten
ein, wenn es darum geht, Mietinteressenten von vornherein bestimmten Kategorien wie beispielsweise „arbeitslos“ zuzuordnen. Auf die Frage, wie schnell er
seine Kunden einordnen könne, antwortet Jürgen Scholz, der seit etwa einem
Jahr bei seinem Unternehmen arbeitet: „Ja, man muss auch zwei, drei Worte
sprechen mit den Leuten, dann kriegt man’s aber relativ schnell raus. Aber ich
sag’ mal, der erste Eindruck trifft auf 50 Prozent zu oder vielleicht 60, 70 Prozent
zu, und den Rest machen dann die nächsten zwei Minuten.“ Die Zuordnung zu
einer bestimmten Kategorie spiegelt sich im Umgang der Mitarbeiter mit den
Kunden wider. Dies wurde bei den Beobachtungen deutlich, bei denen vermeintlich arbeitslose Mietinteressenten in einigen Fällen gar keine oder in anderen
Fällen eine weniger ausführliche Beratung bekamen als Erwerbstätige.
Die Aussagen und Beobachtungen deuten insgesamt darauf hin, dass bei der
Wohnungsvergabe im sozialen Wohnungsbau in Berlin vor allem Kategorien
zur Anwendung kommen, die Hartz-IV-Empfänger und Migranten benachteiligen. Dabei zeigt sich aber, dass dies nicht allein auf Vorurteile von Mitarbeitern der Wohnungsbaugesellschaften zurückzuführen ist; auch institutionelle
Diskriminierung trägt wesentlich dazu bei. So führen etwa die Rahmenbedingungen durch die städtische Politik und das hohe Arbeitsaufkommen in den
Wohnungsbaugesellschaften dazu, dass schnell kategorisiert wird – und bestimmte Gruppen dadurch benachteiligt werden. In letzter Konsequenz droht
dies Hartz-IV-Empfänger und Migranten immer weiter in die Großbausiedlungen in den Randbezirken zu drängen, was letztendlich soziale Ungleichheit
verstärkt.
Literatur
Gray, Fred: „Selection and Allocation in Council
Housing“. In: Transactions of the British Geographers, New Series, Vol. 1, No. 1, 1976, S. 34-46.
Lipsky, Michael: Street-Level Bureaucracy. Dilemmas of the Individual in Public Services. New
York: Russell Sage Foundation 1980.
Tilly, Charles: Durable Inequality. Berkeley and
Los Angeles: University of California Press 1998.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
15
Multicultural welfare politics
­Immi­gration mostly has no effect on
welfare attitudes
David Brady and Ryan Finnigan
Kurzgefasst: In den vergangenen Jahren wurde immer wieder Besorgnis
über die Auswirkungen von Einwanderung auf die Sozialpolitik geäußert.
Eine zentrale Frage lautet, ob zunehmende Einwanderung dem Verhältnis
von Bürgerinnen und Bürgern zum
Sozialstaat schadet. Aktuelle Forschungsergebnisse am Beispiel von
17 entwickelten Demokratien zeigen,
dass dem nicht so ist. Es gibt sogar
Hinweise darauf, dass Einwanderung
in einigen Fällen zu einer positiveren
Einstellung zum Sozialstaat führt. Summary: In recent years, there has
been increased concern about the
consequences of immigration on social policy. One central question is
whether rising immigration undermines the public’s belief about and attitudes toward the welfare state. Current research investigating 17
affluent democracies shows that immigration mostly has no effect on
public support for the welfare state.
There is even evidence that flows of
immigration actually increase some
welfare attitudes.
In the past 15 years, there has been a surge in migration to the affluent democracies. For example, the percent foreign born more than doubled in Ireland and
more than quadrupled in Spain over the last decade – rising to 14.8 percent of
the population in Ireland and 10.6 percent in Spain. Of course, the rise of immigration has not been uniform across all affluent democracies. Only 3 percent
of Finland and 1.6 percent of Japan were foreign-born in 2005. Even though
Germany has a sizable foreign-born population, the percent foreign-born actually declined modestly from 12.9 to 11 percent from 1995 to 2005. The U.S. gets
a lot of credit for being a “nation of immigrants,” but new immigrants actually
amounted to a greater share of the population in 1996 than 2006. Thus, the most
important change might actually be the remarkable diversity in the extent to
which affluent democracies have experienced rising immigration.
What are the consequences of this rising immigration for the politics of social
policy? Scholars, commentators and politicians have presented a variety of
claims for why immigration poses a serious challenge to the generous social
policies of Europe and other countries. Our research challenges these claims
and ultimately concludes that rising immigration does not undermine the welfare state. We specifically investigate what we call the “public support” for the
welfare state – the public’s beliefs, preferences, and attitudes favoring social
policies.
The argument that immigration threatens the welfare state has emerged partly
because countries with generous welfare states have traditionally been viewed
as more ethnically homogenous than countries with weak welfare states. The
best example of this is the U.S., with its thin social policies and greater ethnic
heterogeneity. Scholars have demonstrated that ethnicity, race and religion
were more important sources of identity than social class for Americans at the
beginning of the 20th century. While workers in Europe were collectively mobilizing and pressuring governments to expand social insurance and healthcare,
American workers were bitterly divided by race and religion. In her influential
book The Color of Welfare, sociologist Jill Quadagno argues that ethnic and racial
divisions constrained the development of the American welfare state. Social
policies purposefully excluded racial minorities, and race “became embedded in
the state when welfare programs were enacted,” and was the “central social
dynamic” shaping the politics of social policy. Even today, Americans are more
likely to oppose welfare if they reside in proximity to larger African American
populations.
In his book Why Americans Hate Welfare, Martin Gilens argues that Americans
view welfare as rewarding the undeserving poor, Blacks as lazy and undeserving, and Blacks as the primary beneficiaries of welfare. Gilens demonstrates that
these perceptions are reflected in and amplified by the media, which dramatically overrepresents Blacks in depictions of the poor. The implication of this
scholarship is that as other affluent democracies encounter the greater ethnic
heterogeneity that results from immigration and become more like the U.S.,
public support for the welfare state will decline. There is already accumulating
evidence that rising immigration in Europe has elevated the perception that
immigrants exploit the welfare system. Such views that minorities disproportionately benefit from welfare are likely to undermine public support for welfare generally.
16
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
A slightly different version of the argument emphasizes what scholars call “ethnic fractionalization” in preventing solidarity among citizens. Ethnic fractionalization occurs when there is a diversity of ethnic groups, and those groups are
sharply split along socio-economic lines and as a share of the population. As
mentioned above, scholars have long contended that homogeneity is a key basis
of solidarity in and trust of one’s fellow residents. Being the same ethnicity and
speaking the same language make class-based solidarity easier and increase the
sense of community in people’s minds. According to this line of reasoning, the
native-born lack solidarity with immigrants and have a preference for “ingroup” members who share cultural customs and physical appearances.
In fractionalized societies, people seem to be less willing to support investments
in public goods like public transportation and education. Recent studies show
that societies with more ethnic fractionalization have less public spending as a
share of the economy. The concern with rising immigration has been that ethnic fractionalization will emerge as society becomes divided into affluent native-born residents and marginalized immigrants forming ethnic and religious
minority groups. One of the most prominent accounts within this literature is
provided by economists Alberto Alesina and Edward Glaeser’s book Fighting
Poverty in the U.S. and Europe. They explicitly hypothesize that increased ethnic
fractionalization due to immigration will undermine the generosity of European
welfare states. According to them, right wing and even centrist politicians will
use anti-immigrant rhetoric as tools to dismantle social policies. Ominously,
they predict: “As Europe has become more diverse, Europeans have increasingly
been susceptible to exactly the same form of racist, anti-welfare demagoguery
that worked so well in the United States. We shall see whether the generous
European welfare state can really survive in a heterogeneous society.”
[Foto: Udo Borchert]
David Brady is an associate professor of sociology
and public policy at Duke University. He studies poverty/inequality, work/labor/economic sociology, and
political economy/political sociology. He is the author
of Rich Democracies, Poor People (Oxford University
Press). In the summer of 2011, he contributed to the
WZB lecture series on social inequality.
brady@soc.duke.edu
Despite mounting claims that immigration undermines public support for the
welfare state, a smaller skeptical literature has begun to emerge. Scholars in the
skeptical camp point to inconsistencies in the empirical evidence supporting
the arguments above. In fact, the first author of this essay authored (with Beckfield and Seeleib-Kaiser) an article in the American Sociological Review that
showed that there is no association between increased immigration and a
smaller welfare state. Others suggest that any tradeoff between ethnic heterogeneity and redistribution is overstated. While the U.S. was traditionally more
heterogeneous than Europe, Australia and Canada are much more heterogeneous than Japan – yet public support for the welfare state is significantly lower in Japan than in Australia and Canada. Further, the recent concern with immigration neglects the fact that scholars have demonstrated other more
powerful influences on social policy attitudes. If these established influences
are the paramount predictors of welfare attitudes, immigration is likely to play
a marginal role.
We entered this debate with some expectation that immigration would undermine public support for the welfare state. Our research utilized data on attitudes
regarding social policy for 17 affluent democracies in 2006 and 12 in both 1996
and 2006. This public opinion data from the International Social Survey Program (ISSP) was linked with information about the stock and flows of immigration in each country. We assessed six different welfare attitudes about whether
people feel it “should be the government’s responsibility to… reduce income differences between rich and poor… [or] provide a job for everyone who wants
one… [or] provide a decent standard of living for the old” or remedy unemployment, housing, and healthcare. The analyses controlled for a country’s economy
and history of social policy, and the individual’s social class, family characteristics, religion, age, and gender. Our sample included countries with high and low
levels of immigration, with booming and struggling economies, and with meager and extensive welfare states.
Our analyses mostly failed to support the hypothesis that immigration undermines public support for the welfare state. The percent foreign-born, annual net
migration, and the ten-year change in the percent foreign-born do not have
consistent negative effects on welfare attitudes. There is some evidence that the
percent foreign-born significantly undermines the specific welfare attitude
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
17
that government “should provide a job for everyone who wants one.” However,
there is much more evidence showing that net migration and change in percent
foreign-born have surprisingly positive effects on welfare attitudes. These two
measures of immigration flows are associated with greater support for attitudes
regarding retirement, housing, and healthcare especially.
[Foto: privat]
Ryan Finnigan is a graduate student in sociology at
Duke University. His research areas include racial
stratification, demography, and urban sociology. His
dissertation examines the effects of changes in urban
demographic composition, and housing and labor
markets on racial/ethnic inequality in homeownership, wages, and health.
rmf12@soc.duke.edu
There is even some evidence that the percent foreign-born increases support
for attitudes regarding retirement. Thus, the evidence is quite mixed and mostly contradicts the literatures discussed earlier. While some countries with increased immigration have lower levels of support for the welfare state, even
more countries exhibit the opposite pattern. For example, net migration amounted to less than one-tenth of a percent of Japan in 2005, and Japan had the lowest
level of support for the view that government has a responsibility to provide
housing (only 38 percent in favor). By contrast, Spain had the highest level of net
migration (5.8 percent) and the highest support for the housing attitude (96
percent).
Why do countries with high immigration flows tend to have higher public support for the welfare state? It could be that immigration increases the perception
of higher unemployment and more competition for jobs, and such perceptions
tend to trigger support for the welfare state. Scholars have shown that perceptions of immigration as an economic risk or threat are positively associated
with a preference for redistribution. Thus, heightened immigration could induce
respondents to favor a greater welfare state to compensate for and protect
themselves from what they perceive as economic competition from immigrants.
Similarly, it could be that immigration flows lead residents to feel vulnerable
and insecure. A sense of vulnerability and insecurity could create a perception
of unmet societal needs, and lead to a desire for increased welfare state interventions. In fact, our analyses show that net migration is significantly positively
associated with a preference for greater welfare spending on health, pensions
and unemployment.
Our results challenge much conventional wisdom and many scholars and commentators. In the process, we encourage greater caution with bold claims about
the negative effects of immigration or ethnic heterogeneity for welfare states.
We show that it is essential to compare a broader set of countries, to examine
those countries over time, and to get past simplistic U.S.-Europe differences. We
also demonstrate that examining multiple welfare attitudes provides a more
informative picture of the effects of immigration. Our research leads us to hypothesize that citizens might have a bifurcated response to rising immigration.
On one hand, many citizens will prefer more extensive and generous social
policies. On the other hand, there is convincing evidence that rising immigration contributes to anti-immigrant attitudes and support for extremist rightwing political parties. We even suggest that these two outcomes might be compatible for a segment of the population that has less education, is marginally
employed or unemployed, and has lower incomes and more insecurity.
In sum, our study shows the value of cross-national survey research on important social problems and challenges facing modern societies. The availability of
cross-national survey data and the statistical techniques to analyze such data
have increased substantially in recent years. Social scientists are better poised
now than ever to provide convincing answers to questions like ours. Ultimately,
we find very little evidence that immigration poses a threat to the welfare state.
Rather, immigration and ethnic heterogeneity may actually be compatible with
generous social policies. Though many politicians and commentators provoke
fear by talking about the failures of multiculturalism, these claims have little
empirical support. Immigration does not clearly reduce public support for the
welfare state and some aspects of immigration seem to increase the public’s
beliefs in and preferences for social policy.
18
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Summary: Women and unskilled workers often lack time for
vocational training or career development. Empirical examples
of working-life time accounts are used to examine the extent
to which women and workers in lower occupational positions
are equally able to save up time and realize paid leaves for
training and better work-life balance. There is evidence that
working-life time accounts enhance rather than diminish
existing gender and job inequalities over the course of life.
These findings call for both, the improvement of working-life
time accounts as well as their expansion through additional
working-time option.
Kurzgefasst: Geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte
verfügen seltener über zeitliche Gestaltungsspielräume. Ihnen
fehlt oft die Zeit für Weiterbildung und berufliche Weiterentwicklung. Aktuelle Betriebs- und Beschäftigtendaten geben
Aufschluss darüber, inwieweit Langzeitkonten diesen Gruppen
das Ansparen bezahlter Auszeiten für Weiterbildung oder eine
bessere Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensbereiche ermöglichen. Die Ergebnisse deuten eher auf eine Verschärfung
als eine Abschwächung sozialer Ungleichheiten hin und zeigen: Langzeitkonten müssen besser ausgestaltet und um weitere Arbeitszeitoptionen ergänzt werden.
Mehr Zeitsouveränität – für manche
Langzeitkonten begünstigen Höher­
qualifizierte
Philip Wotschack
Zeit zu haben gehört zur Lebensqualität: Zeit für Erwerbsarbeit, Partnerschaft,
Kinder, Freunde, Erholung und Freizeit. Doch nicht jeder kann souverän über
seine Zeit verfügen; die Chancen sind ungleich verteilt. Das gilt auch für die
Möglichkeit, Zeit in Bildung, soziale Netzwerke oder beruflichen Aufstieg zu investieren. Wer hier nicht in hohem Maß über seine Zeit verfügen kann, dessen
mittel- und langfristige Lebenschancen sind stärker eingeschränkt, vor allem
bei gravierenden Ereignissen im Lebensverlauf wie der Geburt von Kindern
oder der Bewältigung beruflicher Krisen. Die bestehende Forschung zeigt, dass
sich geschlechts- und schichtspezifische Benachteiligungen oft negativ auf die
zeitlichen Gestaltungsspielräume auswirken. Geringqualifizierte und weibliche
Beschäftigte haben nicht nur häufiger niedrigere Einkommen, schlechtere Arbeitsbedingungen oder geringere Arbeitsmarktchancen, sie verfügen auch seltener über die notwendige Zeit für Erholung, Familie, Weiterbildung oder berufliche Veränderung.
Arbeitszeit im Lebensverlauf
Seit Mitte der 1990er Jahre haben unter dem Schlagwort der lebenslauf- oder
lebenszyklusorientierten Arbeitszeitgestaltung neue Ansätze Eingang in die betriebliche Arbeitszeitpolitik gefunden. Sie wollen den Beschäftigten Möglichkeiten eröffnen, die Erwerbsarbeitszeit besser an die Wechselfälle des Lebens anzupassen. Dabei sollten auch für geringqualifizierte und weibliche Beschäftigte
bessere Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der beruflichen Weiterbildung geschaffen werden.
Ein wichtiges Instrument sind dabei langfristig angelegte Arbeitszeitkonten, die
eine Umverteilung der Erwerbsarbeitszeit im Lebensverlauf möglich machen.
Ihr Prinzip: In bestimmten Lebensphasen arbeiten Beschäftigte mehr und sparen diese Zeit auf dem Langzeitkonto an. Später können sie auf dieses Arbeitszeitkonto zurückgreifen und die vorgearbeitete Zeit nutzen, etwa für Kinderbetreuung, Pflege, Weiterbildung oder Erholung. Das Zeitguthaben wird für eine
temporäre Freistellung oder Teilzeitarbeit verwendet. Einkommensverluste
werden vermieden. Aus der Perspektive des Lebensverlaufs wird nicht weniger
gearbeitet, die Arbeitszeit wird nur anders verteilt.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Sind solche Lebensarbeitszeitmodelle wirklich in der Lage, bestehende Benachteiligungsmuster zu durchbrechen? Die empirische Untersuchung dieser Fragen
steht noch aus. Repräsentative Individualdaten zur Nutzung von Langzeitkonten
liegen nicht vor. Ein Forschungsprojekt am WZB kann jedoch erste Aufschlüsse
geben: Auf Basis von repräsentativen Unternehmensdaten sowie Beschäftigtendaten aus zwei Dienstleistungsbetrieben wurden Muster der ungleichen Nutzung von Langzeitkonten untersucht. Leitend war die Frage, ob Langzeitkonten
neue zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten für weibliche Beschäftigte und Beschäftigte mit niedriger beruflicher Stellung schaffen und damit zum Abbau
bestehender Muster sozialer Benachteiligungen beitragen können.
Die Analysen auf Basis repräsentativer Unternehmensdaten und Fallstudien in
Vorreiterunternehmen zeigen, dass bestimmte Beschäftigtengruppen eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten haben: Beschäftigte in kleinen und mittleren
Unternehmen können deutlich seltener auf ein Langzeitkonto zugreifen als Arbeitnehmer in großen Unternehmen (mit 250 und mehr Mitarbeitern). In großen
Unternehmen, in denen viele Frauen beschäftigt sind, ist die Chance, dass ein
Langzeitkonto existiert, wiederum signifikant kleiner als in Großunternehmen
mit einem hohen Männeranteil – eine klare Benachteiligung weiblicher Beschäftigter.
Selbst in Vorreiterunternehmen mit Langzeitkonten, die in den Fallstudien ausführlicher untersucht wurden, zeigt sich, dass oft nur Beschäftigte der fest angestellten „Kernbelegschaften“ Zugang zum Langzeitkonto haben, während Leiharbeiter und befristet Beschäftigte von der Nutzung ausgeschlossen sind.
Vertiefende statistische Auswertungen von Beschäftigtendaten aus zwei Dienstleistungsbetrieben machen zudem deutlich, dass auch innerhalb dieser Kernbelegschaften das Langzeitkonto sehr unterschiedlich verwendet wird.
Berufsgruppen mit niedrigem Einkommen sind
­benachteiligt
Bei den befragten hochqualifizierten Angestellten ist das Langzeitkonto am weitesten verbreitet; bei qualifizierten Angestellten gibt es einen mittleren, bei
einfachen Angestellten einen niedrigen Verbreitungsgrad. Beschäftigte mit
niedrigerer Vergütung weisen zudem deutlich geringere Zeitguthaben auf bestehenden Langzeitkonten auf. Aufgrund der geringeren Vergütung ist diese Beschäftigtengruppe eher auf ein vollständiges Entgelt angewiesen, um ein ausreichendes Haushaltseinkommen erzielen zu können. Hochqualifizierte Angestellte profitieren, denn mit einer hohen beruflichen Stellung ist häufig viel
unbezahlte Mehrarbeit verbunden. Das Langzeitkonto eröffnet dieser Beschäftigtengruppe die Möglichkeit, zumindest einen Teil der ohnehin anfallenden
Überstunden auf dem Langzeitkonto zu sparen. Entsprechend stärker wird das
Langzeitkonto genutzt. Bei den qualifizierten Angestellten (vor allem den Männern) wird es häufig als Option gesehen, um den vorzeitigen Ausstieg aus dem
Erwerbsleben zu realisieren.
Beschäftigte mit einer niedrigeren beruflichen Stellung wollen die Zeit auf dem
Langzeitkonto anders einsetzen. Zwar stellt der vorzeitige Ausstieg aus dem Erwerbsleben auch bei dieser Gruppe den häufigsten Verwendungswunsch dar,
doch möchten sie ihr Guthaben auf dem Langzeitkonto öfter als die höher qualifizierten Angestellten für eine bezahlte Freistellung in der Familienzeit verwenden. Für die unteren Berufsgruppen zeichnet sich damit ein grundlegendes
Dilemma ab: Die Nutzung des Langzeitkontos könnte für viele eine wichtige Lösung von Vereinbarkeitsproblemen darstellen, ist aber aufgrund der für ihre
soziale Lage charakteristischen finanziellen und zeitlichen Restriktionen nur
selten realisierbar.
Wie Frauen Langzeitkonten nutzen
In den untersuchten Betrieben ist das Langzeitkonto bei Frauen und Männern
ähnlich weit verbreitet. Auch die Guthabenhöhe unterscheidet sich nicht signi-
20
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
fikant. Benachteiligungen werden allerdings sichtbar, wenn Männer und Frauen
in unterschiedlichen Lebensphasen oder Vergütungsgruppen betrachtet werden. Geschlechtsspezifische Benachteiligungen bei der Nutzung des Langzeitkontos sind also nicht genereller Natur, sondern entfalten sich erst im Lebenskontext. In der mittleren Lebensphase, in der viele Beschäftigte Kinder im
Haushalt zu betreuen haben, haben die befragten weiblichen Beschäftigten
deutlich seltener ein Langzeitkonto als ihre männlichen Kollegen oder als Frauen in späteren Lebensphasen. Unter den Beschäftigten mit Langzeitkonto haben
wiederum die weiblichen Beschäftigten mit niedriger Vergütung die geringsten
Guthaben. Für Frauen entstehen Benachteiligungen bei der Nutzung des Langzeitkontos also vor allem in der Kombination mit hohen außerberuflichen Anforderungen oder bei geringerem Entgeltniveau.
[Foto: David Ausserhofer]
In der Gruppe der hochqualifizierten Angestellten entnehmen vor allem vollzeitbeschäftigte Frauen Zeit aus dem Langzeitkonto. Es scheint für die durch
Vollzeiterwerbstätigkeit und Haushalt besonders in Anspruch genommene
Gruppe eine wichtige Rolle zu spielen, um ihren Alltag zeitlich zu entlasten.
Frauen mit Langzeitkonto wollen das Guthaben erheblich häufiger als Männer
für Weiterbildung verwenden – unabhängig von ihrer beruflichen Stellung. Offensichtlich bietet das Langzeitkonto für Frauen eine Möglichkeit, Weiterbildungsinteressen zu verfolgen, die sie aufgrund ihrer Verpflichtungen in Beruf
und Familie sonst nicht wahrnehmen könnten. Dieser Befund unterstreicht erneut die wichtige Rolle, die das Langzeitkonto für die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit weiblicher Beschäftigter spielen kann, die aufgrund der skizzierten Nutzungsbarrieren aber nur selten realisiert wird.
Philip Wotschack ist seit 2008 wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Der in Groningen promovierte Soziologe untersucht im Projekt „Betriebliche Arbeitszeit- und
Qualifizierungspolitik im Lebensverlauf“ neue Handlungsansätze der demografiebewussten und lebenslauforientierten Personalarbeit von Unternehmen.
wotschack@wzb.eu
Eine langfristige Perspektive im Unternehmen ist für viele Beschäftigte eine
Voraussetzung dafür, Guthaben mit dem Langzeitkonto anzusparen. Ist diese
nicht gegeben, wächst das Risiko, dass der Ansparprozess oder die spätere Zeit­
ent­nahme scheitern. Mitarbeiter, die keine Beschäftigungsperspektive im Unternehmen sehen, nutzen ein Langzeitkonto daher seltener. Auch die Bereitschaft, das Zeitguthaben für Weiterbildung zu verwenden, sinkt. In der Folge
bauen Beschäftigte mit hohem Arbeitsplatzrisiko seltener Guthaben auf dem
Langzeitkonto auf und verfügen damit über geringere zeitliche Ressourcen für
den Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Auch hier droht damit eine Verschärfung sozialer Ungleichheit.
Das Langzeitkonto braucht Ergänzungen
In der Gesamtschau machen die Ergebnisse deutlich, dass die Möglichkeiten, mit
dem Langzeitkonto Zeitguthaben aufzubauen, für bestimmte Beschäftigtengruppen eingeschränkt sind. Das gilt in erster Linie für Beschäftige mit einer niedrigeren beruflichen Stellung, aber auch für Frauen, wenn diese sich in der mittleren Lebensphase befinden oder geringes Einkommen haben. Damit zeichnet
sich hinsichtlich der Wirkung des Langzeitkontos eher eine Verschärfung
­ungleicher Verfügungsmöglichkeiten über Zeit im Lebensverlauf ab als deren
Auflösung. Die Ziele einer stärker demografie- und lebenslauforientierten Arbeitszeitgestaltung und der Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit von am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen wie etwa Frauen oder Geringqualifizierte
werden derzeit mit dem Langzeitkonto kaum erreicht. Die Verbreitung des Kontos ist bei diesen Gruppen am geringsten. Auch jüngere Beschäftigte bzw. Beschäftigte in der mittleren Lebensphase verfügen deutlich seltener über ein
Langzeitkonto und weisen erheblich niedrigere Zeitguthaben auf. Damit stehen
diesen Beschäftigtengruppen in geringerem Maße Zeitguthaben zur Verfügung,
die sie für die die Erhaltung ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie einsetzen können.
Für die Arbeitszeitpolitik in den Unternehmen heißt das: Beschäftige aus niedrigen Qualifikations- und Einkommensgruppen und solche mit Betreuungsoder Pflegeaufgaben (insbesondere Frauen) brauchen Unterstützung, damit sie
ausreichende Zeitguthaben aufbauen können. Da es bei diesen Beschäftigten
zeitliche und finanzielle Restriktionen gibt, können sich die Betriebe nicht allein auf die Einrichtung von Langzeitkonten verlassen. Hier ist die ganz Band-
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
21
breite von Handlungsansätzen und Instrumenten der Arbeitszeitgestaltung
gefragt, die eine bessere Vereinbarkeit unterschiedlicher Anforderungen im
Lebensverlauf ermöglichen; sie reichen von Teilzeitoptionen über Sabbaticalmodelle bis hin zur täglichen flexiblen Arbeitszeitgestaltung.
In der betrieblichen Praxis finden sich hierfür erfolgreiche Beispiele. Ein großer Automobilhersteller setzt stark auf Sabbaticals und Teilzeitoptionen. Um
auch im gewerblichen Bereich und bei niedrigem Einkommen Teilzeitarbeit
und Freistellungen zu ermöglichen, werden individuelle Lösungen, passend zu
den Interessen und Möglichkeiten der Beschäftigten, angeboten. So können
über einen längeren Zeitraum Entgeltbestandteile, Resturlaub und Guthaben
aus dem Jahresarbeitszeitkonto für eine bezahlte Freistellung genutzt werden.
Ein anderes Beispiel bietet eine Klinik, bei der im Dreischichtsystem gearbeitet wird. Zeiträume für außerberufliche Anforderungen werden dort durch
Teilzeitoptionen und individuelle Spielräume bei der täglichen Arbeitszeitlage
geschaffen. Solche Beispiele stellen bisher eher die Ausnahme dar. Sie wären
innerhalb eines neuen arbeitszeitpolitischen Leitbilds weiterzuentwickeln
und zu fördern.
Literatur
Wotschack, Philip: „Keine Zeit für die Auszeit. Lebensarbeitszeit als Aspekt sozialer
Ungleichheit“ In: Soziale Welt, JG. 63, Heft 1, 2012 (im Erscheinen).
Wotschack, Philip: „Working-Time Options over the Life Course. Challenges und
Company Practices“. In: Ralf Rogowski/Robert Salais/Noel Whiteside (Eds.): Transforming European Employment Policy: Labour Market Transitions and the Promotion of Capability. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar 2012 (im Erscheinen).
Wotschack, Philip/Scheier, Franziska/Schulte-Braucks, Philipp/Solga, Heike: „Zeit für
Lebenslanges Lernen. Neue Ansätze der betrieblichen Arbeitszeit- und Qualifizierungspolitik“. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 64, Heft 1, 2012, S. 541-547.
22
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
The paradox of special education
Both school segregation and inclusive
education are on the rise
Justin J.W. Powell
Debates about the best organization of schooling to serve children and youth
with impairments, to deal with deviant behavior, and to address social disadvantage have continued from the Enlightenment up to the present day. Special education has grown to provide additional resources to help students with disabilities, learning difficulties, and disadvantages to access the curriculum and
succeed in school. These diverse programs have served a population of students
continuously changing in size and composition, but especially poor boys, children belonging to racial, ethnic, migrant, or linguistic minority groups, and disabled children.
Around the world, special education programs offer assistance not only to children with a range of impairments, but, increasingly, also to those with a variety
of newly defined student disabilities, or “special educational needs.” With the aim
to facilitate access to schooling, campaigns to raise awareness, disciplinary diagnostics, and professional knowledge have led to an increasing proportion of
children and youth with disadvantages or disabilities. Thus, like other types of
education, from primary and secondary to tertiary education, special education
has grown remarkably.
However, in many societies learning support has been provided in environments (far) removed from the regular classroom. Segregated educational programs, whether offered in special schools or classrooms, are criticized for stigmatizing children and youth and for insufficiently reducing inequalities in
education and training, which limit labor market participation and often lead to
social exclusion. As a consequence, calls for change in school structures and
practices have been voiced globally. While there is consensus that all children
and youth – regardless of ability level – should participate in schooling, there is
growing doubt about the principle that special schooling for some is necessary – or even preferable.
International charters, such as the United Nations Convention on the Rights of
People with Disabilities (2006), call the taken-for-grantedness of special education settings that segregate or separate students into question. Instead, it emphasizes accessibility and a range of other measures to ensure educational and
social participation. Article 24 mandates inclusive education for all, including
vocational training, higher education, and lifelong learning. Its stipulations challenge the legitimacy of segregated schooling even as it demands that policymakers address myriad structural and cultural barriers to inclusion. Yet this shift
occurs at the same time that rising academic standards and output measures of
achievement and attainment place pressure on general education to increase
school performance. In turn, this undergirds the exclusion of learners who do
not test well or require additional support to reach their learning goals.
Kurzgefasst: Sonderpädagogische Förderung nimmt seit Jahrzehnten weltweit zu, oft in Sonderschulen oder
-klassen. Seit 2006 haben sich 106
Länder durch Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention dem
Ziel verpflichtet, von der Frühförderung bis zur Erwachsenenbildung das
Bildungssystem inklusiv umzugestalten. Es mag paradox erscheinen, dass
gleichzeitig sowohl segregierende als
auch inklusive Lernumwelten expandieren. Der Grund: Die Verflechtung
und Wechselwirkungen zwischen sonderpädagogischen Fördersystemen,
allgemeiner Pädagogik und anderen
Institutionen sowie die Interessen der
beteiligten Professionen verhindern
die Transformation hin zur schulischen Inklusion für alle.
Summary: Often provided in special
schools and classes, special education
has grown rapidly for decades. In
­contrast, since 2006, 106 countries
around the world have ratified the UN
Convention on the Rights of People
with Disabilities, which mandates
­inclusive education, from early childhood to lifelong learning. A contemporary paradox found in many
societies is that both school segregation and inclusive education are on
the rise. The interdependencies
­between special education, general
education and other institutions along
with vested professional interests
have thus far hindered the transformations needed to realize inclusive
education for all.
These forces in different directions have led to a paradox: the simultaneous rise
in rates of segregated schooling and inclusive education. These contrary developments are embedded in the larger phenomenon of education expansion. The
rise in participation in formal schooling has led to ever-higher attainment rates
in secondary and tertiary education and ever-longer careers, and these rising
standards reveal starkly many who do not achieve (much) school success. With
ever more pupils “having special educational needs,” both the rates of segregated and inclusive schooling can rise.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
23
For example, in Germany, where the UN Convention took effect in 2009 and inclusive education (Integrationspädagogik) has been developed and practiced in
some Länder for decades, attendance in special schools continues to grow, especially rapidly in Eastern Germany. In 2008, more pupils than ever before received some special education support: 480,000, or 6 percent of all pupils of
compulsory school age. Of those, 89,000 (18 percent) attended regular schools.
With that Germany is one of the European countries with the lowest overall inclusion rates and conversely highest levels of school segregation. Thus far, in
terms of schooling, Germany has made few and gradual changes toward meeting
its commitment to the UN Convention. This is so especially due to the institutionalization of special schools, professional interests, and federal governance.
In another federal country, the United States, there is a long tradition of special
classes within regular schools. The US has a much higher inclusion rate – over
half of all pupils with special educational needs – and less than 4 percent of
pupils with special educational needs attend special schools or residential institutions. Whereas Germany has a special education system built upon interschool segregation, the US system is organized around intra-school separation.
Despite increases, neither country’s education system is fully inclusive as the
UN Convention mandates.
The resulting paradox cannot be explained solely by analyzing inclusive or special education, whether conceptually or empirically. Rather, we must explore the
drivers of change in these two fields jointly. Special education’s domain stretches far beyond the boundaries of general education. Its organizational field includes health care systems, vocational training programs and transition planning, and labor markets. Because special education serves many of the most
disadvantaged youth, it also shares an organizational community with the juvenile justice system. Special education is central to the operation of these other
systems and this interconnectedness of special education to such neighboring
institutions makes proposals for transformative change, such as the UN Convention, more difficult to achieve.
In many countries, segregated schools have become synonymous with limitations, exclusion, and low social status. More than ever before, being disabled
remains linked to being less educated than one’s peers. Conversely, attaining
less education leads to an increased risk of becoming disabled, of experiencing
poverty, and of suffering social exclusion. Considerable inequalities in learning
opportunities persist. In many countries, segregation is still the dominant mode
of providing special education support and services. Some groups of teachers,
administrators, and other professionals have little interest in systemic shifts
that would limit their autonomy or require them to assume additional roles,
especially when political support for financing such reforms is lacking.
Yet international comparisons show that some countries successfully implement inclusive education reforms, even when this demands transformative
change in education systems. Within Europe or among the OECD countries, the
rates of inclusive education vary from under 10 percent to more than 90 percent. This range emphasizes the gap between the global rhetoric of inclusive
education and the realities of institutionalized organizational forms in special
education, whether special schools, as found in Germany, or special classrooms,
prevalent in the United States. Tremendous variation across countries underscores the inertia in special education and the persistence of particular organizational forms, which results from interconnections with other institutions and
cultural values, such as individualism or collectivism. Whereas many societies
emphasize group belonging regardless of student characteristics, others have
favored individual education rights and choices. Further, individuals and groups
differ in whether they value the resources special education offers more than
they fear the stigmatizing effects of its labels – or vice-versa.
Inclusive education promises to more fully utilize the diversity of interests and
abilities found among all groups of children to develop each individual’s intellectual and social competencies. Responding to these principles and global
trends, states and nongovernmental organizations around the world have committed themselves to “education for all” – and to inclusive education. Globally,
24
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
inclusive education has risen as a goal. Thus far, 106 countries worldwide have
ratified the UN Convention. Locally, advocates and activists in the disability
rights movement have succeeded in increasing access to integrated schools or
even inclusive classrooms.
However, transformative education system reforms that would do most to enable inclusive schooling have thus far been hindered by ideological, normative,
and political resistance. This is partially because the paradigm shift toward inclusive education not only affects special education deeply, but also challenges
the status quo, as elaborated in interconnected education, economic, and justice
systems. Thus, in many countries, battles continue at the nexus of education and
social policy. The results of these conflicts influence whether and when countries around the world will achieve their shared goal of inclusive education.
The simultaneous rise of segregation and inclusion emphasizes not individual
characteristics, but rather institutionalized organizations that provide schooling. The seemingly paradoxical rise – indeed, the coexistence – of school segregation and inclusion depends on continued expansion in the group of children
and youth who receive additional resources to access the curriculum. However,
the logic of segregation that posits separation as necessary to provide such individualized learning supports contradicts the powerful idea codified in international human rights charters that to strengthen democracy and enable active
citizenship requires nothing less than inclusive education for all.
[Foto: David Ausserhofer]
Justin J.W. Powell is a sociologist (Dr. phil., Freie Universität Berlin) in the Research Unit Skill Formation
and Labor Markets and currently Visiting Professor at
the Leibniz University Hannover.
powell@wzb.eu
Literature
Pfahl, Lisa: Techniken der Behinderung. Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die
Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld: transcript
2011.
Powell, Justin J.W.: Barriers to Inclusion: Special Education in the United States and
Germany. Boulder, CO: Paradigm Publishers 2011.
Richardson, John G./Powell, Justin J.W.: Comparing Special Education: Origins to
Contemporary Paradoxes. Stanford, CA: Stanford University Press 2011.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1999 bis
2008. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Dokumentation
Nr. 189. Bonn: Kultusministerkonferenz 2010.
United Nations: Convention on the Rights of Persons with Disabilities. New York:
United Nations 2006.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Die soziale Frage der Demokratie
­Einkommen und Bildung beeinflussen
die Chancen politischer Teilhabe
Sebastian Bödeker
Summary: Opportunities to actively
shape the political process are not
distributed equally. Citizens with a
low income and modest level of education participate significantly less in
political activities than those with a
higher income and high level of education. The debate about how to
strengthen democracies must address
the social dimension of political participation.
Es wird in Deutschland wieder über die Krise der Demokratie debattiert, zuletzt
besonders heftig während der Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter
Hauptbahnhofs im Sommer 2010. Dabei geht es um Politikverdrossenheit, Lobbyismus und die Übermacht wirtschaftlicher und politischer Eliten. Viele der
vorgebrachten Lösungsvorschläge für die Misere der parlamentarischen Demokratie sind institutioneller Art: Volksentscheide und andere Formen direkter Bürgerbeteiligung sollten eingeführt bzw. verstärkt genutzt werden. Es gilt
aber auch, über die sozialen Grundlagen demokratischer Willensbildung und
Beteiligung nachzudenken. Bietet unsere Gesellschaft wirklich allen Bürgern
die gleichen Chancen, sich einzubringen und die eigenen Interessen zu artikulieren?
Kurzgefasst: Die Chancen, aktiv an der
politischen Willensbildung teilzunehmen, sind unterschiedlich verteilt:
Wer einen niedrigen oder gar keinen
Bildungsabschluss und wer ein niedriges Einkommen hat, beteiligt sich
deutlich weniger an demokratischen
Prozessen als gut Ausgebildete und
Menschen mit höherem Einkommen.
Dies gilt für Beteiligung an Wahlen
und Mitarbeit in Parteien und Bürgerinitiativen wie für die Bekundung des
politischen Willens mittels Unterschriftenlisten oder Online-Initiativen. Bei der Debatte um eine Stärkung
der Demokratie muss die soziale Dimension daher stärker berücksichtigt
werden.
Politische Gleichheit ist ein fundamentales Prinzip demokratischer Herrschaft.
Gleichheit erschöpft sich hierbei nicht in einem Rechtsanspruch auf freie Wahlen und dem Grundsatz der gleichen Gewichtung jeder einzelnen Stimme; sie ist
vielmehr auf komplexe Weise mit der Input- und Output-Seite demokratischen
Regierens verknüpft. Politische Gleichheit ist in einem substanziellen Sinne als
gleiche Berücksichtigung von Interessen der Bevölkerung zu verstehen. Wer
diesen Anspruch als Kernidee von Demokratie akzeptiert, muss sich der hohen
Anforderungen bewusst sein, die sich daraus für demokratisches Regieren ergeben. Aus dem Grundsatz politischer Gleichheit lässt sich eine Reihe notwendiger Bedingungen ableiten, von deren Erfüllung politische Gleichheit abhängt.
1. Jeder Bürger muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen so autonom wie
möglich zu erkennen und sich ein Urteil über mögliche Alternativen zu bilden.
Ein politisches System muss dafür die Bedingungen schaffen. Hierzu zählen insbesondere Freiheitsrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, und der
Zugang zu Bildung, die es ermöglicht, Argumente abzuwägen und Interessen zu
artikulieren.
2. Jeder Bürger muss die Möglichkeit haben, seine Interessen direkt in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen oder seine Interessen von anderen
vertreten zu lassen. Unterschiedliche Interessen müssen dabei die gleiche
Chance haben, im politischen Entscheidungsprozess Gehör zu finden.
3. Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen politischer Entscheidungen müssen die Interessen der Bevölkerung im gleichen Maße berücksichtigt werden.
Diese Frage der Gewichtung ist jedoch höchst umstritten; es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eine gleiche Berücksichtigung von Interessen
genau beinhaltet. John Rawls etwa vertritt das sogenannte Differenzprinzip:
Entscheidungen sollten so getroffen werden, dass sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. Anders als das utilitaristische
Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens ist das Differenzprinzip geeignet,
die Bedingung der gleichen Berücksichtigung von Interessen zu erfüllen. Denn
der Maßstab für politische Entscheidungen sind nach dieser Idee die Interessen
der von einer Entscheidung am wenigsten Begünstigten.
Betrachtet man nun die empirischen Befunde der Demokratie- und Partizipationsforschung, zeigt sich, wie wenig die Bedingungen für politische Gleichheit
erfüllt sind. Einkommensschwache Teile der Bevölkerung sind bei allen Formen
politischer Partizipation unterrepräsentiert. Dies gilt für die Wahlbeteiligung
26
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
ebenso wie für politische Mitgliedschaften oder nicht organisationsgebundene
Formen der Partizipation (siehe Abbildung 1).
Höchstes Einkommensquintil
Niedrigstes Einkommensquintil
Kritischer Konsum
Teilnahme an
öffentlicher Diskussion
Teilnahme an Unterschriftensammlung
Online-Protest
Teilnahme an
Demonstration
Wahlteilnahme
Arbeit in
Bürgerinitiative
Mitarbeit in Partei
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Abbildung 1
Politische Partizipation in Deutschland nach Einkommen (2008);
Abgebildet ist die Häufigkeit der Teilnahme an unterschiedlichen
Aktivitäten nach Einkommensgruppen, die auf der Grundlage
des nettogewichteten Äquivalenzeinkommens gebildet wurden.
Datenbasis: Allbus 2008 (gewichtet)
Die Betrachtung der politischen Beteiligung je nach dem erreichten Bildungsabschluss ergibt ein ähnliches Bild: Wer Abitur hat, beteiligt sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit am politischen Prozess als der, der nur einen Hauptschul- oder keinen Abschluss hat (Abbildung 2). Wenn über den insgesamt
starken Rückgang der Wahlbeteiligung und den massiven Mitgliederschwund
der etablierten Parteien geklagt wird, darf diese spezielle Problematik nicht
ausgeklammert werden.
(Fach-)Abitur
Hauptschule/kein Abschluss
Kritischer Konsum
Teilnahme an
öffentlicher Diskussion
Teilnahme an Unterschriftensammlung
Online-Protest
Teilnahme an
Demonstration
Wahlteilnahme
Arbeit in
Bürgerinitiative
Mitarbeit in Partei
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Abbildung 2
Politische Partizipation in Deutschland nach Schulabschluss (2008);
Datenbasis: Allbus 2008 (gewichtet)
Gelegentlich wird dieser Trend weniger als Ausdruck einer Krise, sondern als
kultureller Wandel der demokratischen Praxis interpretiert. Die zurückgehende
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
27
Wahlbeteiligung etwa werde durch andere Formen des politischen Engagements
kompensiert, wird argumentiert. Bürgerinnen und Bürger mischten sich aktiv
ein und wollten ihre Interessen außerhalb etablierter Kanäle selbst in die Hand
nehmen. Zwar ist es richtig, dass Aktivitäten wie zum Beispiel die Mitarbeit in
Bürgerinitiativen oder die Teilnahme an Unterschriftensammlungen zugenommen haben, doch sind diese Formen des politischen Engagements in noch höherem Maße von Bildungsgrad und Einkommen abhängig (siehe Abbildungen 1
und 2). Diese Varianten der Beteiligung am politischen Prozess können eine
schwächelnde Wahlbeteiligung oder die zurückgehende Mitarbeit in Parteien
nicht ersetzen.
(Foto: Udo Borchert)
Sebastian Bödeker ist seit September 2011 als Doktorand im Programm der Berlin Graduate School for
Transnational Studies Mitglied der WZB-Abteilung
Transnationale Konflikte und internationale Institutionen. Er hat an der University of Indiana (Bloomington) und der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft studiert und arbeitet zu politischer
Partizipation, sozialen Bewegungen und transnationalen Nichtregierungsorganisationen.
boedeker@wzb.eu
Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf politische Partizipation werden
auch auf der Ebene handlungsbezogener Einstellungen sichtbar: Das generelle
Interesse an politischen Sachverhalten und Prozessen ist in hohem Maß von
Einkommen und Bildung abhängig. Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass der Glaube daran, dass die eigene politische Betätigung eine Wirkung hat, bei bildungsfernen und einkommensschwachen Gruppen der Bevölkerung äußerst gering
ausgeprägt ist. Politik wird von sozial benachteiligten Menschen als eine Veranstaltung politischer Eliten betrachtet. Die eigenen Einflussmöglichkeiten ­werden
gering eingeschätzt. Somit kommt es zu „Mechanismen des Selbstausschlusses“,
die zu einem noch geringeren politischen Engagement sozial Benachteiligter
führen. Das ist insbesondere bei modernen Formen politischer Partizipation der
Fall, die auf Eigeninitiative und Flexibilität setzen.
Eine nach sozialer Lage und Bildungsstand differenzierte ungleiche Teilnahme
an politischen Entscheidungsprozessen ist nicht nur ein abstraktes Problem,
sondern hat unmittelbare Auswirkungen auf politische Inhalte und Politikgestaltung: Wenn ganze gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen weniger zum
Ausdruck bringen, wird das fundamentale Prinzip politischer Gleichheit verletzt.
Die soziale Selektivität des politischen Systems ist das eigentliche Problem repräsentativer Demokratie. Erstens sind bildungsferne und ressourcenschwache
Bevölkerungsgruppen im geringeren Maße fähig, ihre Interessen zu identifizieren und mögliche Alternativen bei politischen Entscheidungen gegeneinander
abzuwägen. Zweitens sind sozial benachteiligte Menschen im politischen System unterrepräsentiert; ihre Interessen finden somit bei politischen Entscheidungen weniger Gehör. Drittens führt die zunehmende soziale Selektivität zu
einer verzerrten Berücksichtigung von Interessen bildungsferner und einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen.
Die Einführung und vermehrte Nutzung direktdemokratischer Verfahren, die
mit der Hoffnung einer unmittelbaren und unverzerrten Berücksichtigung von
Bevölkerungsinteressen verbunden ist, wird allein an dem eigentlichen Problem
wenig ändern. Die sozialen und institutionellen Dimensionen müssen im Kontext analysiert werden, wie dies auch Alexander Petring und Wolfgang Merkel in
diesem Heft tun (siehe S. 30-33). Wird die soziale Dimension vernachlässigt,
könnten institutionelle Reformen sogar zu einer weiteren Verschärfung sozialer Selektivität beitragen. Das hat die Abstimmung über die Schulreform in
Hamburg im Sommer 2011 eindrucksvoll bewiesen. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei lediglich 39,3 Prozent und unterschied sich stark nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In sozial schwächeren Stadtteilen war die Walbeteiligung um ein Vielfaches geringer als in den wohlhabenden Gegenden. Die
eindeutigen Gewinner des Volksentscheids waren die einkommensstarken und
gut gebildeten Familien der Hamburger Mittelschicht, deren Kinder auch weiterhin einen privilegierten Zugang zu Bildung genießen werden.
Was kann also getan werden, um der Zunahme sozialer Selektivität im politischen System entgegenzuwirken? Prinzipiell lassen sich drei Strategien unterscheiden, die sich im Idealfall gegenseitig verstärken können:
1. Der Abbau sozialer Ungleichheiten durch sozial- und verteilungspolitische
Maßnahmen, vor allem aber durch eine aktive Bildungspolitik. Bildungseinrichtungen kommt hierbei nicht nur eine klassische Ausbildungsfunktion zu; sie
sollten gleichzeitig als Orte verstanden werden, in denen demokratische Prakti-
28
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
ken vermittelt und eingeübt werden. Demokratieerziehung sollte zum zentralen
Bestandteil der Bildungspolitik werden.
2. Die Stärkung der Interessenrepräsentation sozial benachteiligter Teile der Bevölkerung. Dies kann durch eine Stärkung oder Neugründung von Organisationen erfolgen, die sich für die Interessen sozial Benachteiligter einsetzen; zudem
müssen die Strukturen, in denen solche Organisationen politisch aktiv sind,
verbessert werden. Hierzu zählen unter anderem die Begrenzung der Lobbymacht wirtschaftlicher Interessen und eine Verbesserung des Zugangs von kleineren zivilgesellschaftlichen Akteuren zu politischen Entscheidungen. Eine entscheidende Rolle spielen in diesem Kontext auch die politischen Parteien. Um
ihrem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, muss es ihnen gelingen, mehr
Mitglieder aus sozial benachteiligten Schichten anzusprechen und für eine dauerhafte Mitarbeit zu gewinnen.
3. Die Aktivierung sozial Benachteiligter für eigenes politisches Engagement
(empowerment). Eine Stärkung der Strukturen und Finanzierungsmöglichkeiten
in diesem Bereich könnte zu einer Aktivierung sozial benachteiligter Gruppen
beitragen. Unter dem Schlagwort community organizing werden Konzepte diskutiert, wie sich bestimmte soziale Gruppen für politisches Engagement in ihrem
lokalen Kontext gewinnen lassen.
Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen sind gefordert, wenn es um
die Bekämpfung sozialer Selektivität und die Verwirklichung politischer Gleichheit geht. Institutionelle Reformen des politischen Systems können sinnvoll
sein – ohne Berücksichtigung der sozialstrukturellen Dimension können sie die
Probleme der repräsentativen Demokratie jedoch nicht beseitigen.
Literatur
Bartels, Larry M.: Unequal Democracy. The Political Economy of the New Gilded Age.
New York/Princeton: Princeton University Press 2008.
Bödeker, Sebastian: Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland.
Grenzen politischer Gleichheit in der Bürgergesellschaft? Frankfurt a.M.: Otto Brenner Stiftung (im Erscheinen).
Klatt, Johanna/Walter, Franz (Hg.): Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld: transcript 2011.
Schäfer, Armin: „Die Folgen sozialer Ungleicheit für die Demokratie in Westeuropa“.
In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, Jg. 4, Heft 1, 2010, S. 131–156.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
29
Summary: Political participation in developed democracies is
steadily decreasing. Voter turnout is in decline, social selectivity of political participation is on the rise. The major political
parties face the challenge of dwindling membership.
Strengthening elements of direct democracy or fostering alternative methods of political involvement are insufficient. On
the contrary, these forms of participation are even more prone to exclude the poor and less well educated. What is needed
is a broad range of preventive social, fiscal and educational
policies which counteract social exclusion of a significant part
of the population.
Kurzgefasst: Die aktive Teilnahme am politischen Prozess
nimmt kontinuierlich ab: Die Wahlbeteiligung geht zurück, die
soziale Selektivität der Partizipation verschärft sich, die Volksparteien verlieren an Bindungskraft und beklagen seit Jahren
einen massiven Mitgliederschwund. Die Stärkung direkt-demokratischer Elemente oder alternativer politischer Betätigungsformen wären keine probaten Gegenmittel. Im Gegenteil
– diese Beteiligungsformen sind noch stärker einer sozialen
Selektion unterworfen. Wichtig wäre – neben einer deutlicheren Profilierung der Parteien - eine breit gefächerte präventive Politik, die der dauerhaften sozialen Exklusion großer Bevölkerungsteile entgegenwirkt.
Auf dem Weg zur Zweidrittel-­Demokratie
Wege aus der Partizipationskrise
Alexander Petring und Wolfgang Merkel
Politische Teilhabe ist ein zentraler Bestandteil jeder Demokratie. Dabei geht es
nicht um Beliebiges, sondern um freiheitlich ausgestaltete und gesicherte Partizipation in einem pluralistischen Wettbewerb. Gleichzeitig muss die Freiheit
durch politische Beteiligungsrechte gegen Übergriffe in Form paternalistischer
Bevormundung oder autoritärer Einschränkungen abgesichert werden. Jürgen
Habermas hat dies als die normative wie funktionale Gleichursprünglichkeit
von politisch-partizipativen und freiheitlichen Rechten bezeichnet. Ein substanzieller und nicht nur formaler Demokratiebegriff muss neben der bloß theoretischen Gewährung dieser Rechte auch die praktische Wirklichkeit dieser
Rechte in den Blick nehmen. Diese Wirklichkeit ist in den meisten westlichen
Demokratien gegenwärtig geprägt durch nachlassende und asymmetrische Partizipation wie Repräsentation:
– Die Wahlbeteiligung geht zurück – dies gefährdet den partizipativen Kern der
Demokratie.
– Die soziale Selektivität der Beteiligung nimmt zu – dies verletzt das demokratische Gleichheitsprinzip.
– Die Wahlergebnisse der Volksparteien erodieren und vermindern damit die
politische Integrationsfähigkeit just in einer Zeit, in der die heterogener gewordenen Gesellschaften Volksparteien besonders bedürfen.
– Die Parteien verlieren Mitglieder und damit die Verankerung in der Gesellschaft.
Gegen diese Krisenerscheinungen wurden in den vergangenen Jahren etliche
Gegenmittel vorgeschlagen. Wir wollen vier Reformvorschläge etwas näher in
den Blick nehmen.
1. Die Zivilgesellschaft stärken?
Der Rückgang konventioneller politischer Beteiligung (sprich: Wahlen) kann
prinzipiell auch in repräsentativen Demokratien durch Elemente direkter Partizipation ausgeglichen werden. Volksbegehren, Volksentscheide, Bürgerbewegungen, zivilgesellschaftliche Assoziationen, Petitionen und andere Unterschriftenaktionen sowie Demonstrationen sind Beispiele für alternative und
ergänzende Formen politischer Partizipation; der Boykott bestimmter Produkte
oder ein kritisches Konsumverhalten im Allgemeinen sind Beispiele für ein
weiter gefasstes Verständnis alternativer Partizipationsformen.
30
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Doch es zeigt sich, dass die soziale Selektivität bei den alternativen Partizipationsformen noch wesentlich stärker ausgeprägt ist als bei der Wahl als konventioneller Form der politischen Partizipation. Allein aus diesem Grund können
zivilgesellschaftliche Assoziationen und Initiativen nie die demokratischen Ausfallbürgen niedergehender (Volks-)Parteien sein. Trotz aller positiven Partizipationsimpulse, die von der Zivilgesellschaft ausgehen können, verstärken diese
in aller Regel die Tendenz der Exklusion unterer Schichten aus der politischen
Sphäre. Während sich bei allgemeinen Wahlen die mittleren und höheren Einkommensschichten noch in vergleichsweise geringem Maße stärker beteiligen,
weisen andere zivilgesellschaftliche Aktivitäten eine sichtbar stärkere Asymmetrie der Beteiligung zuungunsten der unteren Klassen auf. Bezieht man zusätzlich die erdrückende Dominanz gut gebildeter junger Menschen in den
Nichtregierungsorganisationen in die Partizipationsbilanz ein, verstärkt sich
die soziale Schieflage (siehe auch den Beitrag von Sebastian Bödeker, S. 26-29,
und die Grafiken auf S. 27 dieses Hefts). Zugespitzt formuliert: Die zunehmenden
zivilgesellschaftlichen Aktivitäten verschärfen gerade jene Exklusionskrankheit unserer Demokratie, die sie eigentlich heilen sollen. Zivilgesellschaftliche
Organisationen können kein Ersatz für starke Volksparteien und Gewerkschaften sein.
[Foto: David Ausserhofer]
Alexander Petring ist seit 2004 wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Abteilung Demokratie: Strukturen,
Leistungsprofil und Herausforderungen. In seiner
Dissertation analysierte er die Reformtätigkeit von
Wohlfahrtsstaaten. Von März 2011 bis Juni 2012
forscht er als A.SK-Fellow in Buenos Aires (Argenti­
nien).
2. Mehr direkte Demokratie wagen?
Sind die Hoffnungen auf die direkte Demokratie gerechtfertigt? Die direkte Demokratie gibt dazu in der Realität wenig Anlass. Volksabstimmungen haben eine
größere soziale Schieflage als allgemeine Wahlen. Es sind die wohlhabenderen
und die besser gebildeten Bürger, die das „Volk“ in Referenden vertreten. Vertreter einer elitären Demokratie könnten argumentieren, dass dies durchaus
wünschenswert sei, da dadurch auf gleichsam „natürliche“ Weise unvernünftige
Entscheidungen „unvernünftiger“ Bevölkerungsschichten unwahrscheinlich
würden. Dass dies ein substanzloses Argument ist, liegt auf der Hand. Fachkompetenz bedeutet schließlich nicht notwendigerweise Gemeinwohlorientierung.
Die besser Gebildeten vertreten ebenso ihre partikularen Interessen, wie dies
die weniger gebildeten Wähler tun.
Es soll kein Zweifel aufkommen: Referenden können eine sinnvolle Ergänzung
in repräsentativen Demokratien sein. Ihre legitimierende Funktion soll nicht
verschwiegen werden. Doch die Probleme der sozialen Selektivität des demokratischen Systems lassen sich mit direktdemokratischen Verfahren keinesfalls
lösen.
3. Wahlpflicht einführen?
Der Wahlgang ist die politische Partizipationsform, bei der die soziale Selektivität am geringsten ausgeprägt ist. Gleichwohl ist auch das Wählen nicht frei von
sozialer Selektivität. Das Ausmaß der Wahlenthaltung in unterschiedlichen sozialen Gruppen weist insbesondere dann ein starkes sozioökonomisches Gefälle
auf, wenn die Wahlbeteiligung insgesamt niedrig ist. Mit der Wahlpflicht existiert ein Mechanismus, der die Wahlbeteiligung massiv anhebt und die soziale
Verzerrung stark reduziert. Sie wurde in vielen Ländern praktiziert und existiert in Europa bis heute in Griechenland, Luxemburg, Belgien und Zypern, weltweit in über 30 Ländern. Um wirksam die Wahlbeteiligung zu erhöhen, bedarf es
übrigens keinesfalls drakonischer Strafen. Es reichen schon geringe Geldbeträge oder symbolische Strafen wie die Aufnahme in ein entsprechendes Nichtwählerregister, um die Wahlenthaltung zum Ausnahmefall zu machen. Dies lässt
sich vor allem mit den ebenfalls sehr geringen „Kosten“ erklären, die der Wahlgang bei den Bürgern verursacht: Das Wahllokal ist, zumindest in Europa, normalerweise zu Fuß zu erreichen, der Wahlvorgang nimmt nur wenig Zeit in Anspruch und ist über den gesamten Wahltag hinweg möglich.
Gleichzeitig sind von einer Wahlpflicht weitere positive Nebeneffekte zu erhoffen. Parteien können sich Mobilisierungskampagnen sparen und stattdessen im
Wahlkampf mehr Wert auf Inhalte legen. Bürger, die bislang der Politik völlig
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
31
distanziert gegenüberstanden, sind gezwungen, sich Gedanken darüber zu machen, welche Partei sie wählen sollen. Damit ist die Wahlpflicht auch eine Maßnahme der politischen Bildung. Und ganz grundsätzlich lässt sich argumentieren, dass eine der Grundideen des proportionalen Wahlsystems – das Parlament
als repräsentatives Abbild der Volksmeinung zusammenzusetzen – nur dann
verwirklicht wird, wenn auch tatsächlich möglichst alle Bürger gewählt haben
und nicht nur ein bestimmter Teil, der die Bevölkerungsstruktur lediglich verzerrt widerspiegelt.
[Foto: David Ausserhofer]
Wolfgang Merkel ist seit 2004 Direktor der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und
Herausforderungen und Professor für Vergleichende
Politikwissenschaft und Demokratieforschung an
der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Sozialwissenschaften. Zu seinen Forschungsthemen
gehören unter anderem Demokratie und Demokratisierung, politische Regime, Sozialdemokratie und
soziale Gerechtigkeit.
wolfgang.merkel@wzb.eu
Es gibt jedoch auch Argumente gegen die Einführung einer Wahlpflicht. Das
vielleicht stärkste Gegenargument ist der mit der Wahlpflicht verbundene Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte. Auch wenn dieser Eingriff minimal ist,
kann man die Problematik nicht völlig von der Hand weisen. Bevor man allerdings den durch die Einführung der Wahlpflicht induzierten Untergang der freiheitlichen Demokratie postuliert, lohnt es, den tatsächlichen Freiheitsverlust
und die damit verbundenen Gefahren zu benennen. Denn auch bei einer Wahlpflicht haben alle Bürger natürlich weiterhin die Gelegenheit, keine Partei zu
wählen oder den Stimmzettel ungültig zu machen. In einigen Ländern gibt oder
gab es auf Wahlzetteln bereits die Kategorie „none of the above“ („keine/r der
genannten Parteien oder Kandidaten“).
Der tatsächliche Freiheitsverlust reduzierte sich durch die Einführung einer
solchen Wahloption dann lediglich auf die Zeit (30 bis 60 Minuten), die der Wahlgang bzw. die Beantragung und Ausführung der Briefwahl kosten. Diese Freiheitskosten scheinen deutlich hinter dem zurückzubleiben, was durch eine
Wahlpflicht an demokratischer Gleichheit und Qualität hinzugewonnen werden
kann. Der demokratietheoretische Gütertausch heißt: minimale Freiheitseinschränkung gegen beachtliche Gleichheitsgewinne. Gleichwohl sollte eine solche die Freiheit einschränkende Maßnahme nur nach einem intensiven öffentlichen Diskurs beschlossen werden.
4. Klare programmatische Konturen schaffen?
Die vierte Option setzt anders als die zuvor genannten nicht an den Institutionen und Verfahren an, sondern richtet sich auf die Angebotsseite des politischen Systems: die Parteien. Studien haben gezeigt, dass die Ausdifferenzierung
des programmatischen Angebots der zur Wahl stehenden Parteien einen positiven Einfluss auf den Mobilisierungsgrad der Wähler hat. Je deutlicher die Parteien unterscheidbar sind, umso höher ist die Wahlbeteiligung. In den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten haben sich die klassischen Kernwählerschaften
der Parteien immer weiter aufgelöst. Das hat seine Ursache nicht nur in dem
fehlenden Willen der Parteien, ein klares programmatisches Profil zu entwickeln. Die Ausdifferenzierung der sozialen Milieus und die Heterogenisierung
vormals relativ kohärenter sozialer Gruppen haben es den Parteien auch immer
schwerer gemacht, sich auf eine Kernwählerschaft zu konzentrieren.
Insofern haben es die Parteien zwar mit deutlich heterogeneren Wählergruppen zu tun als vor 30 oder 40 Jahren; sie haben allerdings in den vergangenen
Jahren auch vergleichsweise wenig getan, um ihrerseits auf diese veränderten Rahmenbedingungen zu reagieren. Der Satz, den Angela Merkel vor der
Bundestagswahl 2009 mehrfach wiederholte, ist ein deutlicher Ausdruck dieser Haltung: „Die CDU ist liberal, christlich-sozial und konservativ.“ Es ist der
Versuch, einen möglichst breiten politischen Raum zu besetzen. Dass zwischen einer christlich-sozialen, konservativen und liberalen Ausrichtung
auch erhebliche Spannungen, Inkonsistenzen, wenn nicht sogar Unvereinbarkeiten existieren, wird dabei billigend in Kauf genommen. Es erscheint zweifelhaft, ob es die Volksparteien gegenwärtig überhaupt als erstrebenswert
ansehen, klare Konturen zu entwickeln. Ein klares programmatisches Profil,
zum Beispiel in Form von konkreten (und: konstanten!) mittel- und langfristigen Vorhaben, böte den Parteien aber durchaus die Möglichkeit, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Wenn die Wähler den Eindruck haben, zwischen klar
erkennbaren Alternativen auswählen zu können, nehmen sie auch verstärkt
an Wahlen teil.
32
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Möglicherweise ist die Formulierung und Durchsetzung entsprechender Vorhaben wesentlich wirkungsvoller als alle rechtlichen und organisationellen Reformen der demokratischen Kerninstitutionen. Diese Vermutung läge zumindest
dann nahe, wenn die partizipatorische Schieflage lediglich die Konsequenz der
immer tiefer gewordenen Kluft zwischen Arm und Reich, prekär und gesichert
Beschäftigten, gut gebildeten und wenig gebildeten Bürgern wäre. Anstatt sich
also im hoffnungslosen Kampf gegen die Symptome aufzureiben, müssten die
Ursachen angegangen werden. Diese Ursachenbekämpfung wäre dann zuallererst die Aufgabe einer veränderten Bildungs-, Sozial-, Steuer- und Wirtschaftspolitik. Der Beweis, dass Politik auch heute noch in der Lage ist, Ungleichheiten
zu reduzieren, Märkte zu domestizieren und demokratischer Kontrolle zu unterwerfen – kurzum: dass Politik die ökonomischen Verhältnisse gestaltet und
nicht umgekehrt –, könnte auch jenen Teil der Bürgerschaft wieder dazu motivieren, sich politisch zu beteiligen, der sich momentan frustriert und hoffnungslos von ihr abgewendet hat.
Literatur
Merkel, Wolfgang/Petring, Alexander: „Partizipation und Inklusion“. In: Friedrich
Ebert Stiftung (Hg.): Demokratie in Deutschland 2011. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung 2011 (im Erscheinen).
Wie Entscheidungsträger in
Deutschland denken
Wie schätzen jene, die in Deutschland Politik,
Wirtschaft und Kulturleben prägen, die Zukunft
der Demokratie ein, was denken sie über Migration und die Perspektiven Europas? Welche
Einstellungen haben sie zu diesen zentralen
Themen der gesellschaftlichen Debatte, wo sehen sie ihre Verantwortung? Welche Unterstützung wünschen sie?
20 Jahre nach der Wiedervereinigung soll eine
deutschlandweit angelegte Studie Antworten
auf diese Fragen geben. Die Studie „Entscheidungsträger in Deutschland: Werte und Einstellungen“ wird geleitet von Jutta Allmendinger,
Kooperationspartner sind Michael Hartmann
vom Institut für Soziologie der TU Darmstadt
sowie das WZB-Brückenprojekt „Die politische
Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus“. Als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen begleiten Katrin Dribbisch und Elisabeth
Bunselmeyer die Studie am WZB.
Bis März 2012 werden die höchsten Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in persönlichen Interviews befragt. Die
Studie untersucht die Karrieren und Lebensverläufe deutscher Führungskräfte und fragt
nach deren gesellschaftspolitischen Einstellungen und Handlungsmaximen. Im Ergebnis kann
so – gut zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung – ein umfassendes Bild von der „Lage
der Nation“ aus Sicht jener gezeichnet werden,
die in Deutschland Verantwortung tragen.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
33
Vermögende vermögen eigentlich mehr
Trotz wachsenden Wohlstands stagniert
das Spendenvolumen
Eckhard Priller und Jürgen Schupp
Summary: Women donate more than
men, older people more than younger.
Income is another decisive factor influencing donation behavior, but only
applies to donating money. With regard to blood donations, social and financial differences are of far less importance. In this case, almost all social
groups and classes donate equally –
albeit much less frequently. While in
2010, almost 40 percent of all Germans donated money, only seven percent gave blood.
Kurzgefasst: Frauen spenden mehr als
Männer, Alte mehr als Junge. Auch das
Einkommen hat einen wichtigen Einfluss auf das Spendenverhalten. All
das gilt allerdings nur für Geldspenden. Bei der Blutspende sind die sozialen und finanziellen Unterschiede
viel weniger von Belang. Hier spenden nahezu alle Schichten und Klassen gleich – allerdings auch viel seltener. Während 2010 fast 40 Prozent
aller Deutschen Geld spendeten, gaben
nur sieben Prozent von ihrem eigenen Blut.
Viele Menschen in Deutschland spenden – das belegen amtliche Statistiken, Umfragen und Studien. Spenden lässt sich auf vielerlei Weise, Menschen geben Geld
oder Gegenstände, sie spenden Blut oder Organe. Auf jede Form trifft die sozialwissenschaftliche Definition zu, dass das Spenden ein freiwilliger Transfer für
gemeinwohlorientierte Zwecke ist, bei dem der Spender für seine Handlung keine äquivalente materielle Gegenleistung erhält. Als spezifische Variante von
prosozialem Handeln – also einem Handeln, das anderen zugute kommt, unabhängig von der jeweiligen Motivation – deutet das Ausmaß des Spendens sowohl
auf Solidarität als auch auf potenzielle Umverteilungsmöglichkeiten jenseits
von Steuern in der Gesellschaft hin.
Besonders Geldspenden sind gegenwärtig in Deutschland eine wichtige Ressource, um im Katastrophenfall schnell helfen zu können. Sie haben zudem eine
nicht zu unterschätzende Bedeutung, wenn es darum geht, gesellschaftliche Bereiche mitzugestalten, in denen es an Geld mangelt. Geldspenden spielen eine
wichtige Rolle, um zivilgesellschaftliche Organisationen wie Vereine, Verbände
oder Stiftungen im Sozialen, in der Kultur, der Bildung oder der internationalen
Hilfe zu unterstützen. Das Spenden hat also einen wirtschaftlichen, politischen
und sozialen Stellenwert.
Dabei wird das Spenden von Geld keineswegs uneingeschränkt positiv gesehen.
So ist schnell kritisch die Rede vom sogenannten Postgiro-Aktivismus oder der
checkbook participation – also davon, dass sich die Spender von tatkräftiger Verantwortung und Schuldbewusstsein freikaufen, quasi eine moderne Form des
Ablasshandels betreiben. Oft werden auch Befürchtungen geäußert, dass Spenden genutzt werden, um staatliche Defizite und Missstände zu beheben oder
dass finanzkräftige Einzelne übers Spenden Einfluss auf öffentliche Güter und
Bereiche gewinnen. Zudem wird immer wieder die Sorge laut, dass die finanzielle Unterstützung von Bedürftigen deren Eigeninitiative bremsen könnte.
Als Hilfe bei Naturkatastrophen – wie etwa beim Oder-Hochwasser 1997, der
Elbflut 2002 oder der Tsunami-Katastrophe im Jahr 2005 – ist das Spenden jedoch weithin akzeptiert.
Die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sind unterschiedlich verankert und
vernetzt, und sie verfügen über ungleiche materielle Ressourcen. Dies wirft
zwei Fragen auf: Spenden alle sozialen Gruppen und zeigen sie damit in gleichem Maße prosoziales Verhalten? Und: Entsprechen die Geldspenden der einzelnen Gruppen ihrer wirtschaftlichen Situation oder besitzen bestimmte Gruppen noch Reserven, mit denen sich das nationale Spendenvolumen vergrößern
ließe?
In Deutschland vorliegende Erhebungen zum Thema Geldspenden kommen zu
einem gemeinsamen Befund: Es herrscht seit rund 15 Jahren ein hohes Maß an
Kontinuität. Es sind kaum Entwicklungen hin zu einem spürbaren Wachstum des
Spendenvolumens auszumachen – und das, obwohl das Vermögen der Bevölkerung gestiegen ist. Aktuelle und sozialstrukturell differenzierte Daten liegen
mit der Langzeitstudie des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) vor, die das DIW
Berlin zusammen mit TNS Infratest Sozialforschung erhebt: Im Erhebungsjahr
2010 gaben rund 40 Prozent der in Deutschland lebenden Erwachsenen an, in
den zurückliegenden zwölf Monaten Geld gespendet zu haben. Legt man die im
34
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
SOEP ermittelten Pro-Kopf-Spenden von 200 Euro pro Jahr als Durchschnittswert für eine Hochrechnung auf die Bevölkerung fest, ergibt sich ein Gesamtspendenvolumen von rund 5,3 Milliarden Euro.
Obwohl der SOEP-Befragung zufolge ein beachtlicher Anteil der in Deutschland
lebenden Bürger spendete, gibt es beträchtliche Unterschiede nach Region, Geschlecht, Alter und Bildung. Während etwa 41 Prozent der Westdeutschen Geld
gaben bei einer durchschnittlichen Spendenhöhe von 213 Euro, spendeten nur
ein Drittel der Ostdeutschen Geld. Im Schnitt war hier auch die gespendete Summe mit 136 Euro deutlich niedriger. Beim Blutspenden als einer anderen Form
des Spendens sind hingegen die Ostdeutschen eifriger – sie zählen zu acht Prozent zu den Spendern, im Westen sind es nur sechs Prozent (siehe Tabelle). Eine
Rolle mag dabei spielen, dass zu DDR-Zeiten Blutspenden fester Bestandteil des
betrieblichen Gesundheitswesens war und diese Form des Spendens im Osten
Deutschlands daher selbstverständlicher ist als im Westen.
Auch im Spendenverhalten von Männern und Frauen gibt es Unterschiede: Die
SOEP-Daten zeigen, dass Frauen in Deutschland eher spenden. Für die unterschiedliche Spendenbeteiligung beider Geschlechter wird oft die durchschnittlich längere Lebenserwartung von Frauen verantwortlich gemacht, da ältere
Menschen häufiger spenden als jüngere. Beim Blutspenden zeigten sich hingegen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede – sieben Prozent der Männer
Tabelle
WM
134der
Spenden
und sechs
Prozent
Frauen gaben an, im vergangenen Jahr Blut gespendet zu
haben.
Mit zunehmendem Alter steigen die Spendenbereitschaft und auch die durchschnittliche Höhe gespendeter Geldbeträge, während die Bereitschaft zu BlutGeldspende
(in Prozent)
Spendenhöhe
(Euro/Jahr)
Blutspende
(in Prozent)
insgesamt
40
201
7
Westdeutschland
Ostdeutschland
41
32
213
136
6
8
Männer
Frauen
38
41
245
162
7
6
deutsch
nichtdeutsche Staatsangehörigkeit
40
28
202
179
7
2
18 bis 34 Jahre
35 bis 49 Jahre
50 bis 64 Jahre
65 bis 79 Jahre
80 Jahre und älter
25
39
42
52
51
98
197
194
255
266
12
8
6
2
0
kein Schulabschluss/Hauptschulabschluss
sonstiger Abschluss
Abitur
(Fach-)Hochschulabschluss
34
36
42
58
144
146
161
347
4
7
15
7
vollzeiterwerbstätig
teilzeitbeschäftigt, geringfügige Tätigkeit
nicht erwerbstätig
arbeitslos gemeldet
38
43
43
16
215
144
219
85
9
8
3
6
Blutspender/in im Jahr 2009
Blutspender/in in den letzten 10 Jahren
46
43
134
143
100
-
Geldspende im Jahr 2009
100
201
8
Spendenverhalten in Deutschland im Jahr 2010 (in den letzten 12 Monaten vor der
Befragung)
Quelle: SOEP V27
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
35
spenden zurückgeht. Besonders selten spenden jüngere Menschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren Geld. In dieser Altersgruppe spendet nur jeder Vierte,
und die durchschnittliche Spendenhöhe liegt bei vergleichsweise niedrigen 100
Euro. Viele Menschen beginnen offensichtlich erst im mittleren Alter mit dem
Spenden; die Bereitschaft steigt dann in den Altersgruppen über 65 Jahren auf
über 50 Prozent.
[Foto: David Ausserhofer]
Eckhard Priller leitet die Projektgruppe Zivilengagement am WZB. Die Spendenthematik untersucht er
speziell unter sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten. Zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten gehören der dritte Sektor und zivilgesellschaftliches Engagement.
priller@wzb.eu
Die Gründe für den deutlichen Einfluss des Alters auf das Spendenverhalten
sind bislang noch nicht näher untersucht. Erklärungsansätze der Generationenforschung gehen davon aus, dass Menschen einer Altersgruppe wie jene der
Älteren zu einem ähnlichen Verhalten tendieren, da sie in ihrer Kindheit gleiche
bzw. ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zum Beispiel einen Krieg erlebt, zugleich aber auch Solidarität in Not und Leid erfahren haben. Häufig wird die
größere Spendenbereitschaft älterer Menschen aber auch auf deren größeres
Vermögen sowie eine damit insgesamt gute wirtschaftliche Situation und die
höhere Zufriedenheit mit dem eigenen Einkommen zurückgeführt. Beim Blutspenden kehrt sich das Spendenverhalten um – die Jüngeren sind hier deutlich
aktiver, während der Spenderanteil ab 50 Jahren stark zurückgeht, was auch auf
zunehmende gesundheitliche Einschränkungen zurückgeführt werden kann.
Je gebildeter ein Mensch ist, desto eher spendet er Geld. Am spendabelsten sind
Frauen und Männer mit (Fach-)Hochschulabschluss. In dieser Gruppe spenden
nahezu 60 Prozent der Befragten. Bei Menschen ohne oder mit einem niedrigen
Bildungsabschluss fällt die Spenderquote mit rund einem Drittel weit geringer
aus. Keinen Akademiker-Effekt gibt es hingegen beim Blutspenden. Auch der
Erwerbsstatus beeinflusst die Spendenbereitschaft – Arbeitslose spenden seltener Geld als Erwerbstätige. Die Spendenquote liegt bei den Arbeitslosen bei nur
16 Prozent. Nichterwerbstätige, zu denen besonders Frauen und Männer im
Rentenalter gehören, haben nicht nur die höchste Spenderquote, sondern spenden mit 219 Euro auch im Durchschnitt den höchsten Betrag.
Erwartungsgemäß hat die Höhe des verfügbaren Einkommens großen Einfluss
auf das Spendenverhalten. Größerer Wohlstand würde es theoretisch ermöglichen, einen höheren Anteil von Einkommen und Vermögen anderen Menschen
oder Projekten zukommen zu lassen, ohne selbst verzichten zu müssen oder in
wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Denn wer ein hohes Einkommen
hat, dem fällt es demnach leichter, gemeinnützige Zwecke finanziell zu unterstützen – dementsprechend könnte die Spendenfreudigkeit mit steigender ökonomischer Position zunehmen. Mit höheren Einkommen wachsen durch die
Steuerprogression zudem die Anreize fürs Spenden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass nach sämtlichen vorliegenden empirischen Erhebungen der
Anteil der Spender mit steigendem Einkommen zunimmt. Auch nach Angaben
aus dem SOEP spenden untere Einkommensgruppen prozentual einen geringeren Anteil des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes als Menschen mit höherem Einkommen.
Empirische Studien aus den USA zeigen, dass es dort eine sogenannte U-förmige Beziehungskurve zwischen Einkommens- und Spendenhöhe gibt: Im Vergleich zu den untersten Einkommen sinkt der prozentuale Spendenanteil bei
steigendem Einkommen. Erst bei höherem Einkommen, wenn es eine bestimmte Marke übersteigt, nimmt der Spendenanteil wieder zu. In Deutschland
ist das anders: Hier spendet das unterste Einkommenszehntel den SOEP-Daten
zufolge mit 0,13 Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens anteilig am
wenigsten, im zweituntersten Einkommenszehntel erhöht sich das Spendenvolumen bereits auf 0,20 Prozent des Jahresnettoeinkommens. Nach einem weiteren Anstieg in den beiden folgenden Einkommenszehnteln fällt der Spendenanteil im fünften und sechsten Zehntel – also in der Mitte der Einkommensgruppierung – ab. Nach dem siebten Zehntel steigt der Spendenanteil wieder
an, und das oberste Einkommenszehntel hat mit 0,57 Prozent den mit Abstand
höchsten Anteil. Das Spendenvolumen in dieser Einkommensgruppe beträgt
annähernd zwei Milliarden Euro – rund ein Drittel des gesamten Geldspendenvolumens. Menschen mit einem höheren Einkommen spenden also nicht nur
häufiger, sie spenden auch mehr. Allerdings sind hierzulande die Unterschiede
zwischen den Einkommensgruppen noch relativ gering. Besser Verdienende
36
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
könnten es sich somit erlauben, künftig noch mehr zu spenden, zumal bei dieser Gruppe die Rückflüsse durch die Minderung der Steuerlast relativ am
höchsten sind.
Neben dem Einkommen haben die Vermögensverhältnisse besonderen Einfluss
auf das Spenden. Deutschland gehört, was den Umfang der Privatvermögen angeht, weltweit zu den reichsten Ländern. Das Geldvermögen der Bevölkerung ist
selbst in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrisen angestiegen. Eine Zunahme
der Vermögen ist nicht zuletzt durch einen Anstieg des in Deutschland vergleichsweise milde besteuerten Erbschaftsvolumens seit Anfang der 1990er
Jahre zu verzeichnen. Bis zum Jahr 2020 dürften bei geschätzten elf Millionen
Erbfällen Immobilien-, Geld- und Gebrauchsvermögen von rund drei Billionen
Euro vererbt werden. An diesen Vermögenszuwächsen partizipiert freilich nicht
die ganze Bevölkerung gleichermaßen. Insofern ist von jenen, deren Vermögen
kräftig zulegt, ein höherer Spendenbeitrag zu erwarten – ein wachsendes Vermögen sollte auf der individuellen Ebene zu einem steigenden Spendenaufkommen führen. Der durchaus vorhandene Vermögenszuwachs ist mit dem gegenwärtig stagnierenden Spendenvolumen nur schwer öffentlich vermittelbar.
Zwar nicht aus der Perspektive des prosozialen Handelns, aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sollten nach Vorstellung der Fundraising-Expertin Marita Haibach die sogenannten Großspender, also jene, die ab 500 bzw. 1000 Euro
im Jahr spenden, stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Nur so lasse
sich künftig ein spürbarer Zuwachs des Spendenumfangs erreichen. Nach Berechnungen auf Grundlage des World Wealth Report leben in Deutschland 861.000
Menschen mit einem Nettovermögen von mindestens 785.000 Euro: Würde nur
ein Prozent dieses Einkommens gespendet, so ließe sich damit jährlich ein zusätzliches Spendenaufkommen von mindestens 6,8 Milliarden Euro erreichen.
Das Spendenaufkommen in Deutschland könnte damit die Marke von zehn Milliarden Euro im Jahr übertreffen.
[Foto: DIW]
Jürgen Schupp ist Leiter des Sozio-oekonomischen
Panel (SOEP) im DIW Berlin und Honorarprofessor für
Soziologie an der FU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Erhebungsmethodik und Umfrageforschung, Soziale Indikatoren sowie
angewandte Längsschnittanalysen zu Arbeitsmarktintegration und soziale Ungleichheit.
jschupp@diw.de
Mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Geld- und Blutspenden zeigt sich,
dass bei den Geldspendern eher als bei den Blutspendern soziale Merkmale bedeutsam sind. Untersuchungen zeigen, dass es einen direkten Zusammenhang
zwischen Blut- und Geldspenden gibt: Blutspender spenden um neun Prozentpunkte häufiger Geld und Geldspender spenden umgekehrt zu rund fünf Prozentpunkten häufiger Blut als der Bevölkerungsdurchschnitt. Das lässt darauf
schließen, dass eine allgemeine Neigung zum Spenden und damit zu prosozialem Handeln ausgeprägt ist. Das Spenden ist also keineswegs nur materiell motiviert, sondern wird auch von vielerlei Wertentscheidungen und subjektiven
Dispositionen bestimmt. Während die vorliegenden Ergebnisse eindrucksvoll
zeigen, dass verfügbares Einkommen und Bildung sowohl die Spendenbereitschaft als auch die Höhe der jeweiligen Geldspende signifikant beeinflussen,
spielen bei Blutspendern Einkommens- oder Bildungseffekte keine Rolle.
Literatur
Adloff, Frank/Priller, Eckhard/Strachwitz, Rupert Graf (Hg.): Prosoziales Verhalten –
Spenden in interdisziplinärer Perspektive. Stuttgart: Lucius & Lucius 2010.
Deutsches Zentrum für soziale Fragen (Hg.): Spendenbericht Deutschland 2010.
Berlin: DZI 2010.
Haibach, Marita: Großspenden in Deutschland: Wege zu mehr Philanthropie. Köln:
Major Giving Solutions 2010.
Priller, Eckhard/Schupp, Jürgen: Soziale und ökonomische Merkmale von Geld- und
Blutspendern in Deutschland. DIW Wochenbericht, 29/2011. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2011, S. 3-10.
Priller, Eckhard/Sommerfeld, Jana (Hg.): Spenden in Deutschland. Analysen – Konzepte – Perspektiven. Münster: LIT Verlag 2010.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
37
Mehr als ein neuer Motor Die Wende
zur E-Mobilität erfordert innovative
Nutzungs­konzepte
Weert Canzler und Andreas Knie
Summary: Climate change, the end of
cheap oil, and the looming collapse of
transportation systems demand the
transition to post-fossil energy sources. Changing the drive unit alone will
not suffice. Multiple, networked electromobility could accommodate the
diverse needs of individual transportation. It requires harmonized, integrated modes of transport, facilitating
uncomplicated combinations of public
and private means of transport, like
trains, buses, cars, and bicycles. E-cars
can serve as both a means of transport and a buffer against weather-related fluctuations in the production of
renewable electric power. The question is not only whether integrated emobility will be accepted by users. A
political framework must be created
for electromobility as well.
Zusammenfassung: Klimawandel, das
Ende des billigen Öls und drohender
Verkehrskollaps zwingen zum Umstieg auf die Elektromobilität. Diese
umfasst aber mehr als nur einen neuen Antrieb. Vielmehr geht es darum,
öffentliche und private Verkehrsmittel wie Züge, Busse, Autos und Fahrräder miteinander zu verknüpfen. Elektrofahrzeuge können darüber hinaus
als Puffer für die unregelmäßige
Stromproduktion aus regenerativen
Quellen dienen. Noch ist offen, ob eine
solche vernetzte E-Mobilität von den
Nutzerinnen und Nutzern angenommen wird. Auch die Politik ist gefragt,
Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich Elektromobilität durchsetzen
kann.
Die Bundesregierung hat ein klares Ziel vorgegeben: Bis 2020 sollen eine Million
elektrisch betriebene Fahrzeuge auf deutschen Straßen unterwegs sein – und
die deutsche Autoindustrie soll zum Vorreiter einer weltweiten E-Mobility werden. Ob dieses Zukunftsszenario allerdings Realität wird, ist fraglich. Der Erfolg
hängt maßgeblich davon ab, ob Politik, Wirtschaft und Nutzer zu tiefgreifenden
Veränderungen bereit sind. Denn eines ist klar: Es geht um weit mehr als darum,
den Verbrennungsmotor durch einen Elektroantrieb zu ersetzen.
Elektroautos fahren sich zwar angenehm, sind leise und haben eine sofort spürbare Beschleunigung. Technisch werden sie den konventionell betriebenen Automobilen jedoch noch auf lange Zeit unterlegen bleiben. Man kann mit ihnen
nur relativ kurze Strecken zurücklegen, und das Aufladen der Batterie braucht
viel Zeit. Eine bezahlbare „Superbatterie“ mit einer deutlich höheren Speicherdichte ist nicht in Sicht. Außerdem sind Elektroautos in der Anschaffung doppelt
so teuer wie herkömmliche Autos – der normale Käufer wird sich deshalb ein
Elektroauto nicht leisten wollen.
Angesichts dieser Handicaps haben Elektroautos nur dann eine Chance, sich auf
dem Markt zu etablieren, wenn man sie anderweitig attraktiv macht – zum Beispiel indem man sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer neuen integrierten Dienstleistung verbindet. Das könnte so funktionieren: Man hat eine Karte
oder auch ein Mobiltelefon und kann damit durchgängig alle Verkehrsmittel
nutzen. Man fährt, ohne viel über die Kosten nachzudenken, und erst am Monatsende kommt die Rechnung. Dabei würde das klassische Fahrzeug seinen
Charakter radikal verändern. Es wäre nicht mehr ein exklusives, privates Fortbewegungsmittel, das für alle Gelegenheiten genutzt wird, sondern Teil einer
professionell gemanagten und öffentlich genutzten Verkehrsflotte.
E-Mobile im Flottenmanagement haben gegenüber rein privat genutzten Fahrzeugen viele Vorteile. Sie lassen sich kontrolliert einsetzen, erreichen eine höhere Fahrleistung und sind effizienter. Entscheidend ist jedoch, dass sie gezielt
aufgeladen werden können, nämlich dann, wenn der Strom am günstigsten ist.
Darüber hinaus könnten Elektroauto-Flotten eine wichtige Funktion in der angestrebten Energiewende übernehmen. Gesucht werden nämlich dringend neue
Speicheroptionen, um die wachsende unregelmäßige Stromproduktion einzufangen, die mit dem Ausbau von Wind- und Solaranlagen verbunden ist. „Vehicle to Grid“ (V2G) heißt das neue Geschäftsmodell, bei dem E-Fahrzeuge zu Puffern für überschüssigen regenerativen Strom werden, vorzugsweise in der
Nacht und an nachfragearmen Wochenenden. Voraussetzung ist aber, dass die
Fahrzeuge auch tatsächlich als verlässliche „Auffangbecken“ zur Verfügung stehen. In Flotten wäre das der Fall.
Carsharing als eine Variante des Flottenbetriebs wäre ein ideales Programm zur
Markteinführung von E-Mobilen. Damit sind gleich mehrere Vorteile verbunden.
Die Nutzung eines Elektroautos wäre für den Einzelnen bezahlbar. Damit hätten
mehr Menschen die Möglichkeit, Erfahrungen mit E-Autos zu machen. Zudem passen die Streckenprofile von Autofahrten in städtischen Gebieten – täglich durchschnittlich unter 50 Kilometer – zur Reichweite des Elektroautos. Darüber hinaus
steht ein kalkulierbarer Teil der Flotte für längere Intervalle an Stationen und
könnte dort aufgeladen werden. All das macht lukrative Geschäftsmodelle für ein
entwickeltes V2G möglich, die beispielsweise dem Carsharing-Anbieter nicht nur
38
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
günstige Stromtarife garantieren, sondern auch die Möglichkeit geben, Einspeisevergütungen in Zeiten erhöhter Nachfrage nach grünem Strom zu erhalten.
Wie ein intermodales Verkehrsangebot konkret aussehen kann, wurde im Rahmen des vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Modellvorhabens
„BeMobility“ in Berlin und Brandenburg entwickelt (siehe www.bemobility.de)
und im Sommer 2011 von über 1.500 Kunden getestet, die mit mehr als 30 verschiedenen E-Fahrzeugen über 250.000 Kilometer zurückgelegt haben. Zum Angebot gehörten auch Zeitkarten für den öffentlichen Verkehr sowie die Nutzung
der öffentlichen Mieträder der Deutschen Bahn. Diese Verkehrsangebote konnten bequem über eine App auf dem Smartphone gebucht werden.
Um solche intermodalen Verkehrsdienstleistungen alltagstauglich zu machen,
sind jedoch umfassende verkehrspolitische Änderungen notwendig. Der öffentliche Raum muss praktisch neu aufgeteilt und für Sharing-Konzepte zugänglich
gemacht werden. Öffentliche Autos und Fahrräder müssen überall dort abgestellt werden können, wo Platz ist. Das ist bislang noch nicht der Fall. Oft muss
um jeden einzelnen Stellplatz gekämpft werden, während private Fahrzeuge im
öffentlichen Raum umsonst oder mit Anwohnerplaketten kostengünstig parken
dürfen. Darüber hinaus muss die technische Infrastruktur deutlich verbessert
werden. Genügend Ladestationen und vor allem ein einheitlicher und einfacher
Zugang zu den unterschiedlichen Ladepunkten sind unverzichtbar.
[Foto: David Ausserhofer]
Weert Canzler ist Politikwissenschaftler und promovierter Soziologe (FU Berlin). 1993 kam er ans WZB,
wo er 1997 mit Andreas Knie die Projektgruppe Mobilität gründete. Seit 2008 ist er Mitglied der Forschungsgruppe Wissenschaftspoli­tik. Er arbeitet vor
allem über Innovations- und Zukunftsforschung sowie Verkehrs- und Infrastrukturpolitik.
canzler@wzb.eu
Die größten Herausforderungen sind aber nicht technischer, sondern vielmehr
sozialer und innovationskultureller Art. Um eine integrierte Infrastruktur aufzubauen, müssen Energieversorger, Automobilhersteller und öffentliche Verkehrsunternehmer kooperieren und ihre Geschäftspläne miteinander abstimmen. Denn jede Branche ist gezwungen, ihr Kerngeschäft neu zu sortieren und
bisherige Kooperationen und Allianzen zu überprüfen. Nicht zu erwarten ist
zwar, dass die Energieversorger zukünftig zu Stromverträgen auch ein Elektroauto dazugeben werden – ein Geschäftsmodell, wie man es aus der Mobilfunkbranche kennt. Realistisch dagegen erscheint es, dass beispielsweise Daimler in
Zukunft auch Bahnfahrkarten verkauft. Beim Kurzzeitvermietangebot Car2go
sucht der Autobauer bereits die Nähe zum öffentlichen Verkehr. Noch aber funktioniert die Zusammenarbeit nicht wirklich.
Die Kommunen und Gebietskörperschaften stehen vor ähnlichen Problemen. Die
milliardenteuren Energie- und Verkehrsinfrastrukturen waren bisher ausschließlich auf Versorgungssicherheit ausgelegt. Innovationen kamen hier nicht vor. Zudem gibt es in Deutschland keine Förderprogramme, die Grenzübergänge zwischen
Branchen und Disziplinen unterstützen. Symptomatisch hierfür ist, das BMW seine
Venture-Capital-Gesellschaft für die Beteiligung an vielversprechenden Spin-offs
im Bereich urbaner Mobilität in New York und nicht in Deutschland gegründet hat.
Schließlich bleibt die Frage, ob die Nutzerinnen und Nutzer bereit sind, auf neue
Formen der Mobilität umzusteigen. Denn es geht um nicht weniger als um den
Abschied vom privaten Auto – der Rennreiselimousine, die einen jederzeit an
fast jeden Ort bringen kann. Erste Erfahrungen aus Pilotversuchen zeigen zwar
einen „Lerneffekt“: Wer sich auf intermodale Mobilitätsdienstleistungen und ECarsharing einlässt, nutzt weniger das private, konventionelle Auto und mehr
die öffentlichen Verkehrsmittel und das Leihfahrrad. Ob diese Idee einer vernetzten Elektromobilität eines Tages Wirklichkeit wird, hängt jedoch davon ab,
ob sie tatsächlich alltagstauglich ist – sich also in die Routinen des täglichen
Lebens einbauen lässt.
[Foto: Uwe Kumpfmüller]
Literatur
Canzler, Weert/Knie, Andreas: Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine saubere
Zukunft. München: oekom Verlag 2011.
NPE – Nationale Plattform Elektromobilität: Zweiter Bericht der Nationalen Plattform Elektromobilität. Berlin: NPE 2011.
Urry, John/Dennis, Kingsley: After the Car. Cambridge: Polity Press 2009.
Andreas Knie ist Soziologieprofessor an der TU Berlin;
seit 1987 forscht er am WZB. Seit 2006 ist er Mitglied
der Geschäftsführung des Innovationszentrums für
Mo­bilität und gesellschaftlichen Wandel GmbH und
seit 2010 Leiter Geschäftsentwicklung der Fuhrparkgruppe der Deutschen Bahn AG. Seine Forschungsschwerpunkte sind Verkehr und Mobilität sowie Wissenschafts- und Innovationspolitik.
knie@wzb.eu
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Nachgefragt
bei Michael Hutter: Wertmigration
Sie haben für Ihre Forschungen zur Wertmigration die Wurzeln von Disneys Märchenfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ in der europäischen Kunstgeschichte ergründet … … die definitiv vorhanden sind.
So ist Schneewittchens böse Stiefmutter der Uta aus dem Naumburger
Dom nachempfunden. Schon in den 1830er, 1840er Jahren gab es in Europa Zeichnungen von Zwergen, die Schneewittchens Zwergen ähneln.
Schneewittchen erinnert an Bildnisse aus der Romantik. Wie kommt das?
Disney machte seinen Zeichnern Bildmaterial aus der Romantik zugänglich. Er reiste durch Europa, kaufte Bildbände auf und ließ sie in die USA
bringen. Dabei geht es neben der Bilderwelt des 19. Jahrhunderts auch
um das, was gebaut wurde – Schloss Neuschwanstein etwa. Wo findet die
Wertmigration statt? Es geht um einen innewohnenden Wert, der in einem anderen Umfeld erhalten bleibt. Das Publikum von „Schneewittchen“
musste in Sekundenbruchteilen erkennen, dass die Stiefmutter mächtig
und böse ist – Disney und seine Zeichner mussten also Bilder suchen, die
dem Zuschauer blitzschnell vertraut sind. Genauso geht es den Betrachtern der Uta: Diese Figur überzeugt sofort und war im 19. Jahrhundert
bereits wertgeschätzt als eindrucksvolle Darstellung einer Herrscherin.
Was interessiert Sie an Wertmigrationen? Die Fähigkeit des Zuschauers,
solche Angebote zu verstehen. Und die Fähigkeit der Schöpfer, aus etablierten Kunstwerken neue kommerzielle Werte zu schaffen. Wer Disney
hört, denkt an Comic-Jubilar Mickey Mouse, der soeben 60 wurde. Auch
bei Mickey ist eine Wertmigration nachweisbar, denn im 19. Jahrhundert
gab es eine Tradition sprechender Tiere mit menschlichen Zügen. Für
meine Zwecke waren die Disney-Märchenfilme allerdings ein reichhaltigerer Fundort.
Foto: David Ausserhofer
Fragen: Andrea Lietz-Schneider
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Ein Wachhund der Demo­kratie
Laudatio auf Transparency International,
den A.SK-Preisträger 2011
Gunnar Folke Schuppert
Die Laudatio auf einen Preisträger sollte keine unspezifische Anhäufung von
Komplimenten und Artigkeiten sein; ich möchte auch der naheliegenden Versuchung widerstehen, zu erläutern, wie wichtig, ja unverzichtbar die Arbeit von
Transparency International für so etwas wie eine globale politische Kultur ist.
Wir alle sind doch durch das einigende Band der Überzeugung verbunden, dass
Transparenz in der Politik etwas Gutes ist und dass die Arbeit von Transparency
International Anerkennung und Unterstützung verdient. Nachdem dies klargestellt ist, scheint es mir an der Zeit, mit einer strukturierten Laudatio zu beginnen, die vier Aspekte thematisiert.
Als erstes möchte ich erläutern, warum es sinnvoll ist, einer Institution und
nicht unbedingt einer Einzelperson diesen Preis zu verleihen; zweitens möchte
ich den Begriff „Watchdog-Institution“ kurz umreißen; drittens müssen einige
Worte zum Zentralbegriff der Transparenz gesagt werden. Und schließlich möchte ich die Brücke von transparency zur rule of law schlagen.
Vom Gottvertrauen zum Institutionenvertrauen
Vertrauen setzt – so könnte man denken – eine personale Beziehung voraus.
Man vertraut einem anderen Menschen – weil man ihn kennt oder weil man ihn
mag. Wähler geben Politikern einen Vertrauensvorschuss – häufig ein riskantes
Unterfangen. Aber es gibt auch so etwas wie Institutionenvertrauen. Das Paradebeispiel dafür ist das im Moment landauf, landab gefeierte Bundesverfassungsgericht. Unter der Überschrift „Karlsruhe als Gnadenort“ hat Heribert
Prantl, ein sympathischer und witziger Mensch, zugleich eine Institution des liberalen Journalismus, folgendes notiert: „Was Altötting für den deutschen Katholizismus ist, das ist Karlsruhe für den deutschen Rechtsstaat – ein Gnadenort.
Hier wie dort manifestieren sich Wunder. Das Wunder von Karlsruhe besteht im
Vertrauen, das die Deutschen in dieses Gericht setzen: Die 16 Bundesverfassungsrichter sind für die Rechtsuchenden so etwas Ähnliches wie für gläubige
Christen die 14 Nothelfer.“
Dieses hübsche Zitat ist nicht der einzige und nicht der wichtigste Grund, das
Bundesverfassungsgericht als Vergleichsinstitution heranzuziehen. Es ist vielmehr das ambivalente Verhältnis unseres höchsten Gerichts zur Transparenz.
Einerseits ist das Gebäude des Gerichts eine Hommage an den Transparenzgedanken; die durchgängigen Glasfronten laden zum Einblick ein, allerdings nur
bis zur Tür des Beratungszimmers, hinter der das sogenannte Beratungsgeheimnis bereits Platz genommen hat. Allerdings hat dieses Beratungsgeheimnis
nichts mit der transparenzwidrigen „normativen Kraft des Hinterzimmers“ zu
tun; vielmehr ist es ein funktional unentbehrlicher Bestandteil einer diskursiven Entscheidungsfindung.
Als transparenzwidrig aber gilt vielen das Verfahren der Richterwahl; zwar
werden sie von Bundestag und Bundesrat gewählt, de facto werden aber wegen
der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit in kleinster Runde, aber mit allergrößter parteipolitischer Sorgfalt Personalpakete geschnürt, die wieder aufzuschnüren sich wiederum nach den informellen Regeln des Politikbetriebs nicht
gehört. Geben wir erneut Heribert Prantl das Wort, der zu diesem Punkt mit
seiner spitzen Feder Folgendes zu Protokoll gegeben hat: „Mehr Transparenz und
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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weniger Parteienmacht sollte künftig das Wahlverfahren bestimmen. Dies verlangten Politiker, Wissenschaftler, Journalisten; passiert ist seither dennoch
nichts. Dabei könnte sogar die Papstwahl als Vorbild dienen: Die ist nämlich eine
echte Wahl – und man kennt die Namen sowohl der Wählenden als auch der
Wählbaren.“
[Foto: privat]
Shu Kai und Angela Chan haben 2007 den A.SK
­Social Science Award gestiftet. Alle zwei Jahre verleiht das WZB den Preis. Mit ihm wird sozialwissenschaftliche Forschung gewürdigt, die einen Beitrag zu
politischen und sozialen Reformen leistet. 2007 wurde der englische Ökonom Anthony Atkinson, 2009 die
amerikanische Rechtsphilosophin Martha C. Nussbaum mit dem Preis geehrt. Die Familie Chan hat zusätzlich Mittel für mehrere Postdoc-Fellowships gestiftet (siehe Seite 61).
So viel zum Bundesverfassungsgericht und seinen von allen gelobten Leistungen für das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Warum aber
sollten wir eine Institution wie Transparency International wertschätzen, ihr
vertrauen oder gar – ganz ohne Wahl – ihr Mitglied werden? Soweit ich sehe, ist
von Transparency International weder im deutschen Grundgesetz noch in der
Charta der Vereinten Nationen die Rede; was legitimiert diese Institution eigentlich, sich zum Sprachrohr des Gemeinwohls zu machen und denjenigen, die den
Staat als Beute genüsslich unter sich aufteilen, das Festmahl durch die Praxis
des naming and shaming zu versalzen? Die nunmehr zu erläuternde Antwort
kann bündig ausfallen: Transparency International ist eine unentbehrliche
Watchdog-Institution.
Transparency International als Watchdog-Institution
Wenn wir über das Gemeinwohl nachdenken – und wer von uns täte dies nicht
täglich –, so fällt schnell ins Auge, dass wir es in einem pluralistisch verfassten
Gemeinwesen wie dem unseren mit einer Vielzahl von Gemeinwohlakteuren zu
tun haben, von denen einige in der Rechtsordnung ausdrücklich vorgesehen,
andere aber als selbsternannte Gemeinwohlagenten unterwegs sind. Wenn man
sie – was sozialwissenschaftlich aufgeschlossene Juristen gerne tun – zu systematisieren versucht, so kann man drei besonders interessante gemeinwohlspezifische Institutionalisierungen unterscheiden, nämlich Hüter, Wächter und Anwälte des Gemeinwohls.
Beginnen wir mit den Hütern des Gemeinwohls, womit Institutionen gemeint
sind, die auch tatsächlich so adressiert werden, weil sie für bestimmte Gemeinwohlbelange eine Hüter- beziehungsweise Obhutfunktion wahrnehmen. Dazu
rechnen etwa – um nur vier besonders prominente Beispiele zu nennen – das
schon genannte Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung, das Bundeskartellamt als Hüter des Wettbewerbs, die Europäische Kommission, die sich
selbst gern als Hüterin der Verträge bezeichnet, und als besonders schönes Beispiel, das man angemessen wohl nur mit einem gewissen nostalgischen Timbre
in der Stimme zitieren kann, die Deutsche Bundesbank als Hüterin der Währung.
Obwohl sie inzwischen dramatisch an Bedeutung verloren hat, taugt sie als Beispiel des Gemeinten hervorragend: Die Bundesbank war und ist die institutionalisierte Verkörperung der Leitidee der Geldwertstabilität und hat auch entsprechend dieser ihr in die Wiege gelegten Funktionslogik agiert. Helmut Schmidt – der
leadership ausstrahlende Altkanzler, der fast schon Kultstatus genießt – hat deshalb in den Direktoren der Bundesbank wie auch den Richtern des Bundesverfassungsgerichts als den bisweilen lästigen Konter-Kapitänen unserer Republik gesprochen, passend zu der von ihm selbst bevorzugten nautischen Kopfbedeckung.
Eine andere Kategorie sind die sogenannten Wächter des Gemeinwohls. Als
­Paradebeispiel gelten insoweit Organisationen, die wir gemeinhin als NGOs
­bezeichnen, ein Organisationstyp, der inzwischen auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken kann. Uns interessiert aber weniger ihre in der Tat staunenswerte Karriere, sondern ihr institutioneller Beitrag zum Gemeinwohl sowie
die Frage, ob auch ihnen – im funktionellen Sinne – ein bestimmtes Amt zugesprochen werden kann. Nach einer solchen Amtsbezeichnung zu suchen liegt
deshalb nahe, weil ihnen in der Literatur ein institutionelles Charisma bescheinigt wird, das in den institutionenspezifischen Leistungen der NGOs für das
politische System seine Rechtfertigung finde.
Will man diese Leistungen auf den Punkt bringen, so kann man dafür auf den
Begriff des Wächteramtes zurückgreifen – wie dies der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, Walter Homolka, mit den folgenden Worten
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
getan hat: „Die NGOs treten an, neben Parlament und Wirtschaft ihre wichtige
Rolle bei der künftigen Gestaltung unserer Gesellschaft zu spielen (…).“ Besonders auf der internationalen Ebene „erfüllen international arbeitende Organisationen wie Greenpeace oder der World Wide Fund for Nature (WWF) ein bedeutsames Wächteramt“.
Von diesem Begriff des Wächteramtes ist es nur ein kleiner Schritt zu dem der
Watchdogs. Dieser Begriff entstammt – wenn wir recht sehen – der britischen
Privatisierungspolitik unter der uns allen erinnerlichen Maggie Thatcher. Kennzeichnend für die tiefgreifende Privatisierungspolitik der Regierung Thatcher
war, dass zwar alles, was vorher staatliche Daseinsvorsorgeleistungen waren,
von British Rail über Gas, Wasser und Elektrizität, dem Markt überantwortet
wurde, gleichzeitig aber spiegelbildliche Regulierungsbehörden ins Leben gerufen wurden, um ein flächendeckendes Angebot zu erträglichen Preisen sicherzustellen.
Diese Organisationen neuen Typs hören aufgrund ihrer Regulierungs- und
Überwachungsfunktion auf den Namen regulatory watchdogs – eine Spezies von
Wachhunden, die nicht nur bellen, sondern auch beißen können. Auch Transparency International bellt nicht nur, sondern beißt auch; der von ihr publizierte
und periodisch aktualisierte Korruptionsperzeptionsindex ist einer der meistgelesenen Indizes der Welt und arbeitet mit Waffen, die für Einrichtungen typisch sind, die über keine formalisierten Sanktionsmittel verfügen; dies sind,
wie Claus Offe es treffend formuliert hat, „information and signals as a resource
of public policy“.
[Foto: David Ausserhofer]
Gunnar Folke Schuppert (rechts) hielt am 19. November 2011 bei der A.SK-Preisverleihung in Berlins Rotem Rathaus die hier dokumentierte Laudatio auf
Transparency International. Für die Organisation, die
sich weltweit für den Kampf gegen Korruption einsetzt, nahm dessen Managing Director Cobus de
Swardt (links) die Auszeichnung entgegen.
Ich komme nun zu meinem dritten Punkt, nämlich von Transparency International als institutionalisierter Verkörperung der idée directrice der Transparenz
öffentlicher Herrschaftsausübung. Was bedeutet nun das Zauberwort Transparenz?
Transparency International als optozentristische Institution
Wer sich für Literatur interessiert, kennt das literarische Genre der Festschrift.
Wer sich besonders für Literatur interessiert, kennt vielleicht auch eine besondere Variante dieses Genres, nämlich Festschriften für Personen, die niemals
gelebt haben, also fiktive Personen mit einer eigens für sie erfundenen Legende.
Die erste Festschrift dieses Typs soll – wie man hört – dem fiktiven Bundestagsabgeordneten Jakob Maria Mierscheid gegolten haben; eine weitere im Nomos
Verlag erschienene behandelt Leben und Wirken eines wissenschaftlichen Mitarbeiters am Bundesverfassungsgericht mit dem schönen Namen Ernst-August
Nagelmann. Die dritte mir bekannte Festschrift dieses Typs ist die für ErnstAugust Dölle mit dem jedermann verständlichen Titel „Dichotomie und
Duplizität“. Ernst-August Dölle verdanken wir – veranlasst durch einen Besuch
in der Lüneburger Heide – eine von ihm entwickelte Typologie der Stille: Mucksmäuschenstille, ehrfürchtige Stille, Totenstille, ohrenbetäubende Stille usw. usw.
Bevor Dölle aber sich dem Phänomen der Stille widmete, war er Optozentrist.
Ein Optozentrist ist – wie der Name eigentlich schon sagt – jemand, dessen
Wahrnehmung auf optische Signale zentriert ist. Wir sind eigentlich alle Optozentristen, was spätestens klar wird, wenn wir unseren täglichen Sprachgebrauch durchmustern: Er wimmelt von Optozentrismen. Nur einige Beispiele:
Der Staatsanwalt – das ist sein Job – bringt Licht ins Dunkle; wenn wir uns bewerben, rücken wir uns ins rechte Licht; wenn etwas offensichtlich ist, ist es
sonnenklar; wenn Frau Allmendinger mir etwas erläutert, antworte ich reflexhaft: „Das leuchtet mir ein.“ Das Jahrhundert der Aufklärung heißt im Englischen
„The Century of Enlightenment“. Welche Schlussfolgerungen kann man nun aus
dem Optozentrismus-Befund ziehen? Wir lernen daraus vor allem zweierlei:
Erstens, dass der Begriff der Transparenz ein optozentristischer Begriff par excellence ist. Das Transparenzgebot hat Scheinwerferqualität, Transparenz taucht
all das, was absichtsvoll verborgen bleiben soll oder in den Grauzonen der
Rechtsstaatlichkeit heimisch ist, erbarmungslos in ein grelles Licht und macht
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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das entsprechende Treiben öffentlich. Transparenz stört daher nicht nur – und
insoweit ist Transparency International vielen eine überaus lästige Institution
– dunkle Gestalten, dunkle Geschäfte und dunkle Machenschaften, Transparenz
stört auch jede kumpaneihafte Gemütlichkeit. Die Süddeutsche Zeitung vom 21.
September 2011 wirft in diesem Zusammenhang einen kritischen Blick auf eines unserer Nachbarländer und titelt „Österreich – eine korrupte Republik?“; die
SZ gibt ihrem Artikel die interessante Überschrift „Unter Freunderln“ und fügt
als Befund hinzu: „Ein System von Geben und Nehmen in Österreichs Politik hat
den Staat offenbar zum Selbstbedienungsladen gemacht.“ Genau darum geht es:
Unter der ebenso Gemütlichkeit suggerierenden wie entlarvenden FreunderlnSemantik verbirgt sich ein System, und damit sind wir beim zweiten Lerneffekt
angelangt.
[Foto: David Ausserhofer]
Alex, Ellen und Tony Chan (von links nach rechts)
vertraten die Stifterfamilie des A.SK-Preises bei der
Preisverleihung in Berlin.
Transparenzwidrige Phänomene wie Korruption, Klientelismus und Vetternwirtschaft haben System. Sie sind weniger der kriminellen Energie einzelner
geschuldet – was es natürlich auch gibt. Vielmehr geht es um Intransparenz
voraussetzende oder zumindest begünstigende Strukturen. Es reicht also nicht
aus, einige besonders eklatante Fälle von Korruption oder Vetternwirtschaft zu
skandalisieren und alsdann wieder dem Kurzzeitgedächtnis einer skandalgewohnten Gesellschaft zu überantworten, sondern darum, die Funktionslogik bestimmter Strukturen und informaler Spielregeln aufzudecken und durch die
governance-analytische Brille genauer zu betrachten. Was damit gemeint ist,
bringt wiederum die Süddeutsche Zeitung vom 17. August 2011 auf den Punkt,
in deren Sportteil sich die folgenden Artikelüberschriften finden: „Im Netzwerk
der alten Kameraden. Transparency International empfiehlt der FIFA eine unabhängige Anti-Korruptions-Kommission“.
Transparency International agiert damit nicht nur in dem boomenden Bereich
der Politikberatung, sondern ist im Grenzbereich zwischen Politik und Wissenschaft unterwegs. Nur eine systematische und wissenschaftlich fundierte Ursachenforschung zur Korruption hat überhaupt eine Chance, gegen dieses krakenhafte Phänomen etwas ausrichten zu können. Insoweit ist Transparency
International notwendig eine halfway-Institution in dem ohnehin immer durchlässiger werdenden Grenzbereich von Wissenschaft und Politik – und genau
dieser Bereich interessiert auch das WZB, das sich auch in diesem Grenzbereich
auskennt. Insoweit sitzen wir in einem Boot und können voneinander ­lernen.
Wenn wir an dieser Stelle einen kurzen Moment innehalten, so können wir bereits auf vier institutionelle Rollen zurückblicken, in denen wir Transparency
International schon kennen gelernt haben: Transparency International ist zunächst einmal eine einleuchtende Institution, denn dass Transparenz gut ist,
leuchtet jedem ein. Transparency International ist eine Watchdog-Institution,
ein nicht nur zahnloser, sondern beißbereiter Wächter des Gemeinwohls. In dieser Rolle ist Transparency International zugleich eine bestimmte Akteure und
Verhaltensweisen störende und damit lästige Institution, ein Befund, der den
Laudator fast zu dem Satz animieren könnte: „und ewig stört Transparenzgebot“,
und schließlich ist Transparency International ein bemerkenswertes halfwayhouse zwischen Wissenschaft und Politik und auch von daher ein Gegenstand
besonderen sozialwissenschaflichen Interesses.
Ich komme jetzt zu meinem letzten Punkt, den Zusammenhang von Transparenzgebot und der am WZB gepflegten „rule of law“-Forschung.
Transparenzgebot und rule of law
Die idée directrice der Transparenz und die für den modernen Verfassungsstaat
nicht minder wichtige Leitidee der Rechtsstaatlichkeit haben viel miteinander
zu tun und verfügen – wie man es bei heutigen Koalitionsverhandlungen gerne
formuliert – über erhebliche Schnittmengen. Der Rechtsstaat lebt von klaren
Abgrenzungen und Unterscheidungen; dies zeigt sich etwa in den den Rechtsstaat prägenden Prinzipien einer klaren Gewaltenteilung, eindeutigen Kompetenzen, klaren, hinreichend bestimmten und verständlichen Gesetzen, einer
klaren Trennung zwischen privat und staatlich, dem vorher feststehenden ge-
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
setzlichen Richter, der vorherig feststehenden Strafbarkeit einer Tat, dem Rückwirkungsverbot und so weiter und so fort. Insoweit ist auch der Rechtsstaat eine
einleuchtende und dem Transparenzgedanken verpflichtete Institution. Wenn
ich für die Robert Bosch Stiftung den Führungsnachwuchs für Verwaltung und
Wirtschaft aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion in dem von ihnen gewünschten Bereich Good Governance unterrichte, werde ich deshalb
nicht müde, Korruptionsbekämpfung, Transparency International und rule of law
in einem Atemzug zu nennen.
Es kann daher auch nicht überraschen, wenn die Rechtsstaatforderung hoch im
Kurs steht. Das Auswärtige Amt und das WZB haben vor zwei Jahren eine große
Tagung zu diesem Thema veranstaltet, und auf der internationalen Ebene spricht
man von einer Millionenbeträge bewegenden und personalintensiven rule of law
promotion industry. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass der Rechtsstaat massiven Gefährdungen ausgesetzt ist, und zwar nicht nur im Gefolge des
sogenannten kleinen war on terror, in dessen Verlauf rechtsstaatliche Prinzipien
allzu bereitwillig auf dem Altar der Staatsräson geopfert werden, sondern just
durch die Phänomene, die Transparency International im Visier hat, also Korruption, Klientelismus und Vetternwirtschaft. Der Würzburger Politikwissenschaftler Hans-Joachim Lauth hat daher gefordert, „to put the deficient Rechtsstaat on the research agenda“, also diese Gefährdungen von Rechtsstaatlichkeit
genauer in den Blick zu nehmen.
[Foto: David Ausserhofer]
Rotes Rathaus. Die Preisverleihung wurde aufmerksam verfolgt: von links Tony und Ellen Chan, Trans­
parency-Geschäftsführer de Swardt, TransparencyGründer Peter Eigen, Laudator Gunnar Folke
Schuppert und WZB-Beiratsmitglied Gesine Schwan.
Er schlägt vor, drei Gefährdungslagen des Rechtsstaates zu unterscheiden. Die
erste, vergleichsweise harmlose Gefährdungslage ist mangelnde rechtsstaatliche Kapazität; hier kann man prinzipiell „nachrüsten“ durch bessere Ausbildung,
mehr Personal etc. Die zweite, ungleich massivere Gefährdungslage beobachten
wir in sogenannten Räumen begrenzter Staatlichkeit, in denen – wie derzeit
etwa in Mexiko – Drogenkartelle nach ihren eigenen Gesetzen leben beziehungsweise Warlords oder mafiöse Strukturen selbst gesetzte Regeln aufstellen
und im Bedarfsfall auch gewaltsam durchsetzen.
Die dritte und meines Erachtens gefährlichste Gefährdungslage ist diejenige, in
der in Gesellschaften informale Regeln das tatsächliche Leben bestimmen, etwa
informale Tauschregeln wie bei der Korruption oder informale personale Beziehungsnetzwerke wie bei Klientelismus und Vetternwirtschaft. Wenn solche informalen Regeln die tatsächlichen rules of the game darstellen, kann der durch
formale Tugenden gekennzeichnete Rechtsstaat keine Wirkungsmacht entfalten.
Insofern ist es in der Tat naheliegend, würden Transparency International und
das WZB Rule of Law Center „join their forces“.
Lassen Sie mich mit einer bekennerhaften Bemerkung zum Schluss kommen.
Ich berate unter anderem eine gemeinnützige Stiftung, die Werner-BonhoffStiftung, die sich als einer ihrer Aufgaben dem Abbau bürokratischer Hemmnisse für unternehmerisches Handeln verschrieben hat. Was liegt da näher, als die
Metapher vom bürokratischen Dschungel zu verwenden, den es auszulichten
und transparenter zu machen gilt; ich habe für dieses Projekt den Namen bureaucratic transparency vorgeschlagen und bekenne an dieser Stelle öffentlich,
mich damit an den Erfolg der heute zu preisenden Institution ein wenig angehängt zu haben.
Ich glaube, Argumente haben wir genug beisammen. Dass die Institution Transparency International den heute zu vergebenden Preis verdient hat, ist nach
alledem nicht nur einleuchtend, sondern sonnenklar. Herzlichen Glückwunsch
und – wie ein Freund von mir seine Briefe bisweilen zu schließen pflegt – „still
more power to you“.
Gunnar Folke Schuppert war von 2003 bis zum
Herbst 2011 Forschungsprofessor für Neue Formen
von Governance am WZB und ist Geschäftsführender
Leiter des WZB Rule of Law Center. Zuvor hatte er
Rechtsprofessuren an der Universität Augsburg und
der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Eine echte Marke Zum Abschied Gunnar
Folke Schupperts vom WZB
Andreas Voßkuhle
Laudationes auf große Wissenschaftler sind berechenbar: Man lobt das tiefgründige Werk und die persönliche Schaffenskraft, weist auf die Rezeption im Inund Ausland hin und schließt regelmäßig mit dem Hinweis, der zu Ehrende sei
auch ein freundlicher Mensch und ein guter Lehrer. Eine solche Laudatio aus
Anlass des Eintritts in den wohl eher bewegten Ruhestand würde aber Prof. Dr.
Gunnar Folke Schuppert, dem scheidenden geschäftsführenden Direktor des
WZB Rule of Law Center, der bis zum Jahr 2008 einen Lehrstuhl für Staats- und
Verwaltungswissenschaft, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht an der
Humboldt-Universität zu Berlin innehatte und seit dem Jahre 2003 die WZBForschungsprofessur Neue Formen von Governance, nicht gerecht. Denn Folke
Schuppert ist nicht nur ein bedeutender Rechtswissenschaftler, sondern eine
echte Marke! Was meine ich damit? Wenn man – gerade hier in Berlin – von jemandem sagt, er sei „ne echte Marke“, also gewissermaßen ein Original, dann
spricht daraus regelmäßig eine besondere Form der Anerkennung. Es handelt
sich nicht nur um jene Form des allgemeinen Respekts, den man all denjenigen
entgegenbringt, die in einer Disziplin Herausragendes vollbracht haben, sei es
als großer Staatsmann, als erfolgreicher Sportler oder eben als Wissenschaftler,
sondern man will damit gleichzeitig zum Ausdruck bringen, dass die Art und
Weise, wie jemand etwas Besonderes geleistet hat, mit dem konventionellen Erklärungs- und Bewertungsmustern für Erfolg nur schwer eingefangen werden
kann. Deshalb ist Folke Schuppert ein perfektes Beispiel für eine „echte Marke“.
Folke Schuppert hat einen eigenen wissenschaftlichen
Stil kreiert
Unter den lebenden Staatsrechtslehrern gibt es zumindest drei, die man bei der
Lektüre der ersten Zeilen sofort an ihrem wissenschaftlichen Stil erkennen
kann: Peter Häberle, Robert Alexy und Folke Schuppert. Vielleicht am originellsten und eigenwilligsten ist der Stil von Folke Schuppert. Während nämlich viele
wissenschaftliche Autoren darum bemüht sind, die Originalität der eigenen
Aussagen zu unterstreichen und die Inspiration durch andere Quellen eher zu
verschleiern („vgl. auch dazu …“), hat er aus der Not eine Tugend und die Collagetechnik hoffähig gemacht. Sie zeichnet sich dadurch aus, andere Autoren durch
ausführliche Originalzitate für sich sprechen zu lassen und dabei gleichzeitig
ganz eigene Erkenntnisziele zu verfolgen. Folke Schuppert schlüpft hier häufig
in die Rolle des geschickten Arrangeurs, der sich aus den aktuellen Angeboten
verschiedener wissenschaftlicher Märkte unbekümmert, aber gleichwohl mit
sicherer Hand Nützliches auswählt und neu kombiniert. Die Kreativität dieser
Vorgehensweise und der mit ihr verbundene Erkenntnisgewinn wird meistens
erst durch die veränderte Gesamtperspektive auf das Ganze deutlich, das eben
weitaus mehr darstellt als die Summe seiner Teile. Weit über 15 größere Monographien dürfen hier als eindrucksvoller, ja fast einschüchternder Beleg gelten.
Folke Schuppert ist ein Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten
Heutzutage gehört es zum guten Ton fast jedes Geisteswissenschaftlers, hervorzuheben, dass er/sie auch interdisziplinär arbeiten würde. Nur wenige sind aber
tatsächlich Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten, die sich in andere Disziplinen wirklich hineinbegeben. Unter den Staatsrechtslehrerinnen und
-lehrern dürfte es wohl zurzeit niemanden geben, der sich so weit und so tief in
das Feld der Politik- und Sozialwissenschaft eingearbeitet hat wie Folke Schup-
46
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
pert. Beleg dafür ist nicht nur seine jahrelange Tätigkeit am WZB. Der entscheidende Lackmustest ist vielmehr die Frage, inwieweit andere Disziplinen die wissenschaftlichen Beiträge des Wanderers auch rezipieren, inwieweit er ihnen
etwas zu sagen hat. Schaut man in neuere politikwissenschaftliche Veröffentlichungen oder sozialwissenschaftliche Studien zum Verhältnis von Staat und
Recht, dann darf man fast sicher sein, spätestens auf S. 68 auf mehrere Arbeiten
von Folke Schuppert zu stoßen. Gleichzeitig ist es ihm gelungen, die traditionell
nationalintrovertierte deutsche Staatsrechtslehre für neuere Strömungen innerhalb der Verwaltungs- und Politikwissenschaft gerade aus dem angloamerikanischen Raum nachhaltig zu interessieren.
Folke Schuppert hat Sinn für Moden und Trends
Damit bin ich beim nächsten wichtigen Punkt: Folke Schupperts untrügliche
Spürnase für wissenschaftliche Entwicklungen, neue interdisziplinäre Verbundbegriffe und Forschungstrends. Als Patchworkarbeiter ist er immer auf der
Suche nach neuen Stoffen und Mustern, die eingewoben werden können in die
große Decke, die seit einigen Jahren den Namen „Governance“ trägt. Sein Interesse ist dabei nicht primär die Vertiefung des Vorhandenen, das mühsame
Schleifen eines einzelnen Steins. Folke Schuppert gräbt lieber nach neuen Rohdiamanten; manchmal schleicht sich dabei auch einmal ein Halbedelstein ein,
bei der Masse an Karat fällt das aber in keiner Weise ins Gewicht.
Gunnar Folke Schuppert
[Foto: David Ausserhofer]
Folke Schuppert ist ein Entertainer
Viele deutsche Geisteswissenschaftler leben in dem (Irr-)Glauben, dass gute
Wissenschaft nicht spannend und unterhaltsam sein darf. Folke Schuppert eignet sich vorzüglich dazu, den Gegenbeweis anzutreten. Seine originellen Wortspiele („von Bismarck zu Benchmark“), seine Selbstironie („erschöpft durch so
viel Gelehrsamkeit halten wir inne“) und sein Sinn für Dramatik – jeder wissenschaftliche Beitrag aus der Feder von Folke Schuppert besitzt einen kunstvollen
Aufbau und Spannungsbogen – machen die Lektüre Schuppert’scher Werke und
die Gespräche mit dem Autor fast immer zu einem wahrhaften Vergnügen. Er
dürfte zudem der einzige Staatsrechtslehrer sein, dem man ohne Bedenken die
Fernsehtalkshow zur Primetime am Sonntagabend anvertrauen könnte.
Folke Schuppert hat Charme
Kein Entertainer ohne Charme! Auch von dieser für einen Wissenschaftler seltenen Gabe besitzt Folke Schuppert im Übermaß! Der durch ihn verkörperten
Mischung aus barocker Lebenslust, geistiger Antrittsschnelligkeit und Herzenswärme kann sich kaum jemand entziehen, allenfalls jene Spezies, die einen asketischen Lebensstil für einen Ausweis von Intellektualität hält, was selbstverständlich nicht gegen Askese spricht.
Ich fasse zusammen: Folke Schuppert ist eine echte Marke, mit eigenem Stil, ein
Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten, mit Sinn für Moden und
Trends und ein Entertainer mit Charme. Bleib so Folke! Ohne Dich wäre die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht deutlich ärmer!
Andreas Voßkuhle ist Präsident des
­Bundesverfassungsgerichts.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Leistungsstark und kooperativ
Ermutigende Evaluationsergebnisse
für das WZB
Paul Stoop
Sieben Jahre scheinen eine lange Zeit zu sein, aber im Alltag einer wissenschaftlichen Institution können 84 Monate schneller vorbei sein, als man zu
Beginn dieser Phase meinen möchte. Im Herbst 2004 verkündete die LeibnizGemeinschaft, deren Mitglied das WZB ist, das Ergebnis ihrer Evaluation: Dem
Institut wurde ausgezeichnete Forschungsarbeit bescheinigt und eine kleine
Hausaufgabenliste für die Zeit bis zur nächsten Evaluation überreicht.
Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Am 24. November veröffentlichte die
Leibniz-Gemeinschaft das Ergebnis der Evaluation 2011. Die mit der institutionellen Bewertung beauftragte Expertenkommission und der Senatsausschuss
der Leibniz-Gemeinschaft bescheinigen dem WZB eine „außerordentliche Leistungsstärke“. Der Prozess der Weiterentwicklung seit der letzten Bewertung im
Jahr 2004 sei „in bemerkenswerter Weise vorangetrieben“ worden. Die meisten
der WZB-Forschungseinheiten sind aus Sicht der Gutachter „sehr gut bis exzellent“. Gewürdigt werden auch die „beachtlichen“ Leistungen in der forschungsbasierten politikbezogenen Beratung und im Wissenstransfer, die Präsenz in der
Öffentlichkeit sowie der Aufbau von Datensammlungen, die der sozialwissenschaftlichen Forschung insgesamt zur Verfügung stehen. Die Förderung des
wissenschaftlichen Nachwuchses bezeichnet das unabhängige Gremium als
„überzeugend“.
Auch wenn die Gutachter die Arbeit der einzelnen Forschungseinheiten des WZB
im Kontext der jeweiligen Disziplinen beurteilt haben, war ihr Blick in erster
Linie auf die Gesamtheit der Institution gerichtet. In allen WZB-Evaluationen
(früher verantwortet vom Wissenschaftsrat und seit 2004 von der Leibniz-Gemeinschaft) hat dabei eine Frage besonderes Gewicht: Schöpft das WZB das Potenzial seiner breiten disziplinären Ausrichtung ganz aus? Wird jenseits der
erforderlichen Spezialisierung in der jeweiligen Einzeldisziplin auch über die
Grenzen von Fächern und Forschungseinheiten hinweg fruchtbar kooperiert?
Die Antwort der Gutachter lautet im aktuellen Evaluationsbericht: Ja, organisatorische und inhaltliche Kohärenz der Forschung haben in den letzten Jahren
deutlich zugenommen. Die Chance, die das Zusammenwirken von Soziologen,
Politologen, Ökonomen, Rechts- und Geschichtswissenschaftlern bietet, werde
von den rund 150 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf überzeugende Weise genutzt.
Eines des Elemente, die in den letzten Jahren neu entworfen wurden, sind die
„Brückenprojekte“: Wissenschaftler aus zwei oder drei Forschungseinheiten
entwickeln eine gemeinsame Fragestellung, die in einem mehrjährigen Forschungsprojekt bearbeitet wird. In diesem Sinne arbeiten jetzt zum Beispiel Soziologen mit verhaltensökonomisch orientierten Wirtschaftswissenschaftlern
zusammen. Eine spezielle Form eines solchen übergreifenden Brückenprojekts
ist das WZB Rule of Law Center, das in den letzten Jahren in der Forschungspraxis entstanden ist. Rechtswissenschaftler, Demokratieforscher und Experten in
Internationalen Beziehungen haben dieses offene Dialog-Forum initiiert, das inzwischen verstärkt wird durch die Irmgard-Coninx-Stiftungsprofessur Rule of
Law in the Age of Globalization. Das Rule of Law Center ist weniger eine eigene
Organisationseinheit als eine Plattform für die Diskussion von Fragen etwa der
Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie jenseits des Nationalstaats und des Zusammenwirkens nationaler und supranationaler Rechtssysteme.
48
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Sehr gute Noten gibt es von den Gutachtern auch für die Forschungsleistungen
des WZB, wie sie sich in den anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften niederschlagen – die Leitwährung der Forschungsreputation. Die in den letzten
Jahren modifizierte Publikationsstrategie habe dazu geführt, dass die Zahl der
Veröffentlichungen in referierten Zeitschriften – die mit den strengsten Maßstäben und dem härtesten Wettbewerb – kontinuierlich gestiegen ist. Aktuell
erscheinen knapp 70 Prozent der Zeitschriftenpublikationen von WZB-Forschern in englischen und anderen ausländischen Zeitschriften, nach Auffassung
der Gutachter ein deutliches Zeichen für die starke internationale Anerkennung
und Wirkung der WZB-Forschung.
Es gibt weitere Indikatoren für die hohe Reputation der Forschung, wie etwa die
Höhe der im Wettbewerb eingeworbenen Drittmittel. Zur Zeit beträgt der Anteil
der Drittmittel 24 Prozent des WZB-Grundhaushalts. Dabei unterstützen die
Leibniz-Gutachter die Strategie des WZB, diesen Anteil nicht mehr wesentlich zu
steigern. Wissenschaftler sollten nicht zu viel wertvolle Forschungszeit in Antrags- und Managementarbeit investieren, die das Drittmittelgeschäft mit sich
bringt.
So wichtig Publikationen für das Renommee und für den fachlichen Dialog mit
den Peers sind – Forscher und Forscherinnen erbringen in einem Teil ihrer
Arbeitszeit auch Serviceleistungen für die Gemeinschaft der Wissenschaftler
insgesamt, für die Politik, für gesellschaftlich wirkende Organisationen und für
die Medien: Sie engagieren sich in wissenschaftlichen Beiräten und Herausgebergremien, tragen Expertise zur Arbeit parlamentarischer Kommissionen bei,
referieren auf Fachtagungen zivilgesellschaftlicher Gruppen und Verbände und
bieten den Redaktionen von Zeitungen, Rundfunksendern und elektronischen
Medien in der Form von Essays, Interviews und Stellungnahmen Beiträge zu
aktuellen Themen. In den letzten Jahren wurden allein sieben Bundesministerien unter Beteiligung vieler WZB-Forscher beraten. Die Evaluatoren würdigten
auch diese „beachtliche Leistung“.
Nur wenige Wissenschaftler haben am WZB eine unbefristete Stelle. Umso wichtiger ist dem WZB, dem forschenden Nachwuchs optimale Voraussetzungen zu
bieten, etwa über die Förderung von Auslandsaufenthalten an den Universitäten
Harvard, Lund und Sydney sowie der London School of Economics and Political
Science. Wer nach einigen Jahren das WZB verlässt, soll für den harten Wettbewerb um Stellen außerhalb der eigenen Institution gut gerüstet sein, auch jenseits der Forschung. Die Leibniz-Gemeinschaft lobt die „sehr guten neuen Strukturen“ der Nachwuchsförderung. So werden die Pflichten und Rechte aller an
Promotions- und Habilitationsarbeiten Beteiligten in einem „Code of Conduct
guter wissenschaftlicher Betreuung“ festgelegt, einem Instrument, das die Gutachter als „vorbildlich“ bezeichnen.
Wurde das WZB zu Zeiten seiner Gründung von den Berliner Universitäten kritisch beäugt als mögliche „Gegenuniversität“, so hat sich in den letzten Jahrzehnten eine intensive Kooperation entwickelt. Dies zeigt sich nicht nur an der
gemeinsamen Berufung leitender Forscher, sondern auch bei den Nachwuchswissenschaftlern. Das WZB beteiligt sich aktiv an Programmen der strukturierten Graduiertenkollegs an den Berliner Universitäten. 20 der rund 60 Promovierenden am WZB sind eingebunden in diese Kollegs, die das WZB in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam mit der Freien Universität, der Technischen
Universität, der Humboldt-Universität und der Hertie School of Governance betreibt. Eine Ausweitung der Kooperation mit Universitäten, wie sie das WZB anstrebt, findet den Beifall der Leibniz-Gutachter: die gemeinsame Berufung von
Nachwuchswissenschaftlern auf W1- und W2-Professuren mit der Möglichkeit
späterer Entfristung (tenure track).
Evaluationsbericht: www.wzb.eu/evaluation2011
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Konferenzberichte
How federal states change
Benny Geys
Conference “Unraveling States? Mergers, Secessions and (De)centralisation”, November 9,
2011, hosted by the WZB Research Professorship The Future of Fiscal Federalism in collaboration with the Freie Universität Berlin and
the Max Planck Institute for Tax Law and Public Finance; Organizers: Benny Geys (WZB/­
Vrije Universiteit Brussel/Norwegian Business School BI), Kai A. Konrad (WZB/MPI for Tax
Law and Public Finance) and Ronnie Schöb (FU
Berlin)
The conference brought together scholars
from diverse research institutions and universities in Europe, Canada, and Hong Kong to discuss their research on the evolving nature of
federal states and the behavior of the multiple
actors within such states. While Charles
Tiebout’s path-breaking work (A Pure Theory
of Local Expenditures, 1956) is still a major
point of reference in the economic literature
on fiscal federalism, Robin Boadway (Queen’s
University, Canada) argued in his keynote
address that it is hardly convincing as a positive description – or, for that matter, normative
prescription – of federalism at the regional level. This is important as stepping away from
the assumptions underlying the Tiebout model
makes that many of its central conclusions are
no longer guaranteed to hold (for instance his
ideas on competition among local governments). Boadway’s paper underlying his lecture
will appear in a future issue of the Journal of
Public Economics and will no doubt lead to a
substantial academic debate.
In similar spirit, Pohan Fong (City University of
Hong Kong) warned against an over-reliance on
the median voter model in economic models.
He indeed illustrated that collective decisionmaking problems with an uneven number of
players need not necessarily lead to the implementation median voter’s preference under
majority rule. In fact, in a dynamic bargaining
setting where the agenda-setter is determined
through an all-pay auction (one could think of a
presidential election in which all candidates
expend costly effort, but only one wins the “prize”), key positions with agenda control may not
be sought by politicians with moderate ideological views. As a result, the median voter’s preference need not arise in equilibrium.
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Vincent Anesi (University of Nottingham) discussed the connection between secessionism
and minority protection. He argued that a
country’s political majority can work towards
maintaining political unity by pre-committing
to the protection of the rights of minorities in
a country. However, the willingness of the majority to do so is likely to depend strongly on
the minority’s intrinsic desire for independence and beliefs about the cost of secession.
This insightful paper will likewise appear in
the Journal of Public Economics.
Three papers on the programme addressed the
issue of immigration and population mobility.
Massimo Bordignon (University of Milan)
argued that (perfect) labor mobility – often
argued to be a requirement for common currency areas to succeed – may not be desirable
when fiscal policy is available at the federal or
national level. The reason is that it may ­prevent
countries from reaching specific stabilization
targets and induce complex coordination problems across countries. Another theoretical
contribution by Michele Ruta (World Trade Organization) showed that the inherent interdependence of countries’ immigration policies
can give rise to a coordination failure in which
countries get stuck in a welfare-inferior outcome. It would require multi-lateral institutions to address this inefficiency, much like
the GATT/WTO system has been able to improve international trade policy coordination.
In an empirical contribution, Jordi Jofre-Monseny (IEB, University of Barcelona) revisited
the connection between socio-demographic
heterogeneity and support for redistribution
by analysing the Spanish immigration wave
that drastically changed immigrant density in
Spanish municipalities between 1998 and
2006. He finds that welfare spending increased
less, and the vote share of right-wing parties
increased more, in municipalities with a higher influx of migrants – supporting theoretical
arguments that population heterogeneity negatively affects preferences towards redistribution and the welfare state.
Finally, one of the presentation slots was reserved for a PhD candidate from “The Future of
Fiscal Federalism” research project, financed
by the Leibniz-Gemeinschaft. Luisa Herbst
(WZB/Max Planck Institute for Tax Law and Public Finance) presented ongoing research on
alliance formation in contests. As such alliances form in many different settings (e.g., elections, wars or scientific co-authorships in the
battle for publications), understanding the incentives to join alliances, and the behavior of
alliance members has obvious policy relevance. Using an experimental design, Luisa Herbst
shows that people often choose to be in an alliance even when there is no clear monetary
incentive to do so. This observation appears
predominantly driven by individuals intending
to free-ride on their alliance partner, since
players voting in favour of alliances generally
invest less effort in the game. Yet, interestingly, allowing individuals the choice whether to
form an alliance (compared to forcing them
into an alliance) increases overall effort levels,
both by alliance members and their solitary
opponent.
Wie HIV-Prävention bei Migranten
gelingen kann
Hella von Unger
Abschlusskonferenz des Projekts „Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit
Migrantinnen und Migranten“ am 8. September 2011, organisiert von der Forschungsgruppe Public Health
Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
des WZB hat sich die Zusammenarbeit mit AidsHilfen und Migranten-Vertretern gelohnt: Das
dreijährige Forschungsprojekt Partizipation
und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrantinnen und Migranten (PaKoMi) hat richtungsweisende Ergebnisse für die Gestaltung
und Erforschung von HIV-Prävention für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland geliefert. Die vom Bundesministerium für
Gesundheit geförderte Studie zeigt, dass Migranten-Gruppen, die in der HIV-Prävention bislang als schwer erreichbar galten, sehr wohl
erreicht werden können. Dies gelingt, wenn
Vertreter dieser Gruppen angemessen in die
Konzeption und Erforschung präventiver und
gesundheitsfördernder Maßnahmen einbezogen werden: Die Partizipation der Zielgruppen
– also ihre Beteiligung mit Entscheidungsmacht – ist der Schlüssel zum Erfolg.
Bei der Abschlussveranstaltung wirkten mehr
als 100 Vertreter aus Wissenschaft, Politik, Praxis und Communities an der Präsentation der
Ergebnisse mit. Vorgestellt wurden unter anderem Fallstudien mit afrikanischen, bulgarischen, russisch- und türkischsprachigen Zielgruppen und Communities in vier Städten. Es
kamen Wissenschaftler, Kooperationspartner
von der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. und vor allem die beteiligten Migranten-Vertreter zu
Wort. Diese stellten Ergebnisse und Empfehlungen vor, wie sich die HIV-Prävention für und
mit Migranten in Deutschland weiterentwickeln lässt. Sie sprachen sich für eine bessere
gesellschaftliche Teilhabe von Migranten aus
und dafür, Einrichtungen des Gesundheitswesens stärker interkulturell zu öffnen. Hilfreich
ist es demnach auch, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in Gesundheitsämtern, Beratungsstellen, Aids-Hilfen und anderen Einrichtungen zu beschäftigen und Mitarbeiter
transkulturell zu schulen. Die Praktiker forderten zudem mehr Ressourcen, um Migranten aus
den Communities als peer educators, Multiplikatoren und Gesundheitsbotschafter einzusetzen.
Vertreterinnen unterschiedlicher Communities aus vier deutschen Städten bei der Abschlusstagung
des Projekts über HIV-Prävention unter Migranten und Migrantinnen
[Foto: Karin Schwickerath]
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Catherine Flohr und Viktor Oteku, Community-Vertreter aus Osnabrück, präsentieren Ergebnisse der
örtlichen Fallstudie über HIV-Prävention unter Migranten
[Foto: Karin Schwickerath]
Die PaKoMi-Fallstudien verdeutlichen, dass die
verschiedenen Migranten-Gruppen unterschiedliche Bedürfnisse bei der HIV-Prävention
haben. Viele Menschen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland zwar von bestehenden HIV-Präventionsangeboten erreicht. Es
gibt allerdings stärker gefährdete MigrantenGruppen, die besondere Ansprache und spezielle Angebote brauchen. Wie die Fallstudien zeigten, haben etwa bulgarische Sexarbeiter und
-arbeiterinnen in Dortmund andere Bedürfnisse als Angehörige der afrikanischen Communities in Hamburg: So fehlte es den Bulgarinnen
und Bulgaren aus der Fallstudie an grundsätzlichem Wissen über Körperfunktionen, HIV und
andere sexuell übertragbare Krankheiten. Die
Afrikanerinnen und Afrikaner in Hamburg benötigten derweil gezielte Informationen über
anonyme und kostenlose HIV-Tests und darüber, wie sich eine HIV-Diagnose auf ihr Aufenthaltsrecht auswirkt. Wie sich zeigte, konnte
die bulgarische Zielgruppe nur wenig mit
schriftlichem Infomaterial anfangen, weil viele
der Frauen und Männer gar nicht lesen können.
Für die Afrikanerinnen und Afrikaner dagegen,
die ein sehr hohes Bildungsniveau haben, waren Broschüren oder Flyer sehr wohl geeignet.
Abgesehen vom kulturellen Hintergrund spielen also sozioökonomische, rechtliche und
auch lokale Faktoren eine wichtige Rolle für
die HIV-Prävention bei Migranten. So sind in
Hamburg circa 20.000 Afrikanerinnen und Afrikaner gemeldet, die in verschiedenen Communities relativ gut vernetzt sind. Die in Osnabrück gemeldeten rund 500 Afrikanerinnen
und Afrikaner dagegen sind weit weniger
stark gemeinschaftlich organisiert. Daher
können in Hamburg gezielt schon bestehende
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WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Angebote einer peer-basierten, lebensnahen
HIV-Prävention verbessert werden. In Osnabrück dagegen müssen Community-Strukturen erst einmal entwickelt werden. In beiden
Fällen hat jedoch die Beteiligung der Community-Partner an den Forschungs- und Entwicklungsprozessen dazu geführt, die jeweiligen Bedürfnisse zu identifizieren und darauf
einzugehen.
Auftakt des Leibniz-Mentoringprogramms
Anke Geßner und Carmen Kurbjuhn
Die Leibniz-Gemeinschaft beging am 14. September 2011 mit einem Festakt am WZB den
Auftakt des Leibniz-Mentoringprogramms für
Post-Doktorandinnen. Das Mentoringprogramm wurde entwickelt für exzellente und
engagierte Wissenschaftlerinnen der LeibnizEinrichtungen und bietet ihnen individuelle
Unterstützung auf dem Weg zu einer Führungsposition oder Professur.
Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft Karl
Ulrich Mayer ging in seiner Begrüßungsansprache auf die zentrale Bedeutung der Chancengleichheit für die Leibniz-Gemeinschaft ein. Das
Mentoringprogramm könne einen wichtigen
Beitrag dazu leisten. In der Pilotphase 2011/2012
ist das Programm auf die Region Berlin/Brandenburg begrenzt. Mayer betonte aber, dass das
Programm verstetigt und auf alle Leibniz-Einrichtungen ausgeweitet werden müsse.
Projektleiterin Anke Geßner stellte das Mentoringprogramm vor. Es basiert im Wesentlichen
auf einer Tandembeziehung zwischen Mentee
und Mentorin oder Mentor. Um diese Partnerschaft herum bietet das Programm auf drei
Ebenen Unterstützung in der Karriereförderung an: Seminare, Leibniz Dialoge und Coachings. Wie wichtig nachhaltige Motivation für
die wissenschaftliche Karriere ist, erläuterte
Jasmin Döhling-Wölm, Studienberaterin und
Coach (Oldenburg). Sie stellte Motivationsstrategien für wissenschaftliche Langstreckenläufe vor, wie sie es mit ihrem Konzept der „Karrierekunst“ umsetzt.
WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger belegte
anhand neuer Daten die noch immer mangelnde Teilhabe von Frauen in der Wissenschaft.
Das gelte insbesondere für die höheren Stufen
der Karriereleiter. Sie betonte, wie wichtig es
sei, sich für eine bessere Planbarkeit wissenschaftlicher Karrieren einzusetzen; in der
Leibniz-Gemeinschaft wird dies von der Projektgruppe „Wissenschaftliche Werdegänge
und Karriereverläufe“ geleistet. Individuelles
Mentoring sei ein hilfreiches Instrument. Das
zeigten auch ihre persönlichen Erfahrungen.
Wie Proteste wirken
Simon Teune
Abschlusskonferenz „Outcomes of Social Movements and Protest“ der Forschungsgruppe
Zivilgesellschaft, Citizenship und politische
Mobilisierung in Europa, 23. bis 25. Juni 2011,
in Zusammenarbeit mit dem Forschernetzwerk „Moveout“
Welchen Einfluss hatte die Protestbewegung
gegen die Atomkraft auf die Entscheidung des
deutschen Bundestages, bis zum Jahr 2022 aus
dieser Form der Energiegewinnung auszusteigen? Über diese Frage ist nach der Katastrophe
von Fukushima viel spekuliert worden. Haben
die Großdemonstrationen und Menschenketten der Jahre 2009 und 2010 die Abgeordneten
beeindruckt? Sicher waren langfristige Entwicklungen bedeutsamer. Die vor 30 Jahren
auch aus der Anti-Atombewegung hervorgegangenen Grünen hatten mit dem Atomkonsens vom 14. Juni 2000 den Ausstieg forciert.
Dabei konnte sich die Partei auf eine breite Ablehnung der Atomkraft in der Bevölkerung berufen. Welche Rolle spielte dabei die unermüdliche Aufklärungsarbeit von Initiativen und
Verbänden über die Risiken der Atomkraft?
Die Frage, welche Wirkungen Proteste und soziale Bewegungen entfalten können, gehört zu
den größten Herausforderungen in der Bewegungsforschung. In den seltensten Fällen bewirken Proteste linear die Umsetzung von zentralen Forderungen. In der Regel sind die Wege,
über die die Politik der Straße Veränderungen
hervorruft, sehr verschlungen; allzu häufig
sind die Folgen von Aktionen und Kampagnen
nicht intendiert. Wer sich wissenschaftlich den
Folgen sozialer Bewegungen nähert, steht vor
einer Reihe von Fragen: Welche Faktoren sollen in Betracht gezogen werden? Welche Zeiträume werden analysiert? Welche Indikatoren
für die Aktivität sozialer Bewegungen und für
Veränderungen werden herangezogen? Verspricht ein Vergleich oder eine Fallstudie einen
größeren Erkenntnisgewinn?
Um sich über diese und andere Fragen auszutauschen, veranstaltete die Forschungsgruppe
Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa im Juni 2011 ihre Abschlusskonferenz „Outcomes of Social Movements and Protest“. Die Tagung markierte das
Ende von sechseinhalb Jahren gemeinsamer Arbeit am WZB und einen vorläufigen Schlusspunkt für die Forschung zu sozialen Bewegungen, die hier 23 Jahre betrieben worden war.
Auch wenn beinahe alle Vortragenden betonten,
der komplexen Realität nicht gerecht werden zu
können, machte die Tagung deutlich, dass es
vielversprechende Wege gibt, sich den Auswirkungen sozialer Bewegungen anzunähern. Nur
zwei können an dieser Stelle vorgestellt werden.
Doug McAdam (Stanford) stellte die gängige
Forschungspraxis in Frage, Effekte nur an solchen Fällen zu untersuchen, bei denen tatsächlich Proteste stattfinden. Das von ihm vorgestellte Forschungsprojekt zu „Risikogemeinden“
setzt früher an und versteht bereits die Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern als Resultat einer Politik von unten. In welchen Gemeinden, die gleichermaßen von Plänen für
den Bau eines Kraftwerks betroffen waren,
entwickelt sich überhaupt Widerstand, und wie
wirkt sich dieser auf die Entscheidung über einen Kraftwerkbau aus? Von 20 ausgewählten
Gemeinden in den USA regte sich in 10 von
ihnen überhaupt Widerstand, in nur zweien
war er bewegungsförmig. In einer qualitativ
vergleichenden Analyse zeigte sich zunächst,
dass die Kraftwerkprojekte mit hoher Wahrscheinlichkeit dann genehmigt wurden, wenn
es keinen Widerstand in der Bevölkerung gab.
Verwirklicht wurden sie allerdings nur, wenn
auch die ökonomischen Rahmenbedingungen
günstig waren. Regte sich dagegen Widerstand,
auch nur in Form von Protestbriefen oder Versammlungen, erhöhte das die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung eines Projekts.
Dass die Mobilisierung von sozialen Bewegungen, die öffentliche Meinung zu den Themen,
die die Bewegungen aufbringen, und konkrete
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Längerfristige Wirkung? Aktivisten der Occupy-Bewegung haben ihre Zelte in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs aufgebaut. Ihr Protest richtet sich gegen die Übermacht der Banken.
[Foto: picture alliance/dpa]
politische Entscheidungen in einem komplexen Wechselverhältnis stehen, zeigte Lee Ann
Banaszak (Pennsylvania State University). In
ihrer Forschung zur Frauenbewegung stellte
sich häufiger die Frage, ob Straßenproteste
(und die Berichterstattung darüber) die öffentliche Meinung zu Geschlechtergerechtigkeit verändern und politische Entscheidungen
beeinflussen oder ob nicht umgekehrt eine
Wandlung in der kollektiven Wahrnehmung
und eine entsprechende Gesetzgebung die
Wahrscheinlichkeit zur Teilnahme an Demonstrationen erhöhen. Zur Klärung dieser
Frage bezieht Banaszak Protestereignisse, einen Index für die öffentliche Meinung zu Geschlechtergerechtigkeit und Kongressabstimmungen
zu
thematisch
einschlägigen
Gesetzen ein. In einer Zeitreihenanalyse zeigt
sich, dass die aus der Ökonometrie entlehnte
Granger-Kausalität von Protesten auf die Verschiebung öffentlicher Meinung nicht nachweisbar ist; auf eine Gleichberechtigung befördernde Gesetzgebung wirken Proteste aber
durchaus. Anders herum haben ein verändertes Meinungsklima und eine unterstützende
Legislative sehr wohl einen Effekt auf die Beteiligung an Protesten. Gesetzgebung und öffentliche Meinung wiederum beeinflussen
sich gegenseitig. Die Analyse legt aber auch
nahe, dass Proteste als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zeitversetzt wirksam
werden.
54
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Eine langfristige Perspektive auf die Wirkung
sozialer Bewegungen und entsprechende Untersuchungszeiträume forderte auch David
Meyer (University of California, Irvine) ein, der
zusammen mit Dieter Rucht (WZB) die Diskussionen der Konferenz resümierte. Sie waren sich
einig, dass die Forschung zu Veränderungsprozessen, die durch soziale Bewegungen und Proteste angestoßen werden, noch einen weiten
Weg vor sich hat. Versuche, die Folgen von sozialen Bewegungen zu rekonstruieren, stoßen
schnell an ihre Grenzen. Denn Veränderungen
auf mehreren Ebenen spielen eine Rolle: in der
öffentlichen Meinung, in Parteien und Parlamenten, in dominanten Deutungsmustern, aber
auch in den Biografien der Akteure und in der
Konfiguration sozialer Bewegungen. Rucht
zweifelte an der Sinnhaftigkeit einer allgemeinen Theorie von Bewegungseffekten. Er plädierte stattdessen dafür, induktiv zu arbeiten
und überschaubare Prozesse in den Blick zu
nehmen.
Auch wenn die Tagung deutlich machte, dass es
in der Forschung zu den Effekten sozialer Bewegungen in erster Linie darum geht, die richtigen Fragen zu stellen, und dass befriedigende
Antworten rar sind, wurde die Bedeutung des
Forschungsfeldes durch die politischen Ereignisse des Jahres offenkundig. Die öffentliche
Podiumsdiskussion zu den Protesten im arabischen Raum und in Südeuropa zeigte, dass die
Hoffnung auf die demokratisierende Wirkung
von Protesten auch vor Forschern und Forscherinnen nicht halt macht.
Stadt und Protest
Janet Merkel und Nona Schulte-Römer
Workshop „Macht und Konflikte um die/in der
Stadt“, 14. und 15. Oktober 2011, Treffen des
Nachwuchsnetzwerks „Stadt Raum Architektur“
Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger sein können, um über städtische soziale Bewegungen
zu diskutieren. Das sechste Treffen des Nachwuchsnetzwerks „Stadt Raum Architektur“ fiel
zusammen mit dem internationalen Aktionstag der Occupy-Bewegung, die am 15. Oktober
nicht nur zur Besetzung der Wall Street, sondern in Städten weltweit zu Protesten gegen
das globale Finanzsystem aufrief.
So hatten die rund 50 Teilnehmer des zweitägigen Workshops „Macht und Konflikte um die/
in der Stadt“ im Anschluss an die Veranstaltung Gelegenheit, zu beobachten und zu überprüfen, was im WZB thematisiert worden war:
die Bedeutung des urbanen Raums für soziale
Bewegungen und verschiedene Ansätze zum
Verständnis aktueller städtischer Konflikte
und Protestinitiativen. Das Nachwuchsnetzwerk ist ein loser, fächerübergreifender Verbund von Forscherinnen und Forschern aus
den Bereichen Soziologie, Geografie, Stadtplanung, Architektur und Geschichte und tagt
halbjährlich an wechselnden Orten im deutschsprachigen Raum. Die Workshops bieten jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Forum, um ihre Forschungsprojekte
vorzustellen. Thematisiert werden dabei Fragen der Urbanität, der Raumgestaltung oder
der städtischen Governance.
Der Workshop war in vier parallele Panels unterteilt, die sich einerseits mit materiellen Anlässen oder Manifestationen von Machtkonflikten beschäftigten, etwa im Bau von
Moscheen, Leuchtfassaden und Medienarchitekturen oder in künstlerischen Bildreproduktionen von repräsentativen Stadtplätzen. Zum
anderen wurden wirkmächtige städtische Diskurse in den Blick genommen und gefragt, wie
Themensetzungen oder öffentlich ausgetragene Debatten Stadtentwicklungsperspektiven
prägen, soziale Ungleichheiten reproduzieren
oder Konfliktpunkte virulent werden lassen.
Der Stadtplaner Grischa Bertram vom Institut
für urbane Entwicklung der Universität Kassel
fragte beispielsweise nach dem Zusammen-
hang von neuen urbanen Protestformen und
dem gegenwärtigen Planungsleitbild der „Urban Renaissance“. Seine These war die Zunahme genuin städtischer Konflikte, in denen die
Stadt nicht nur als Bühne oder Arena für Proteste und die Artikulation gesellschaftlicher
Interessen dient, sondern die Stadt selbst und
ihre Entwicklung immer mehr zum Konfliktgegenstand zwischen Anwohnern, Investoren
und Stadtpolitik wird. Unter den Vorzeichen
einer auf interurbane Konkurrenz ausgerichteten wachstumsorientierten Stadtentwicklungspolitik wird demnach ein stärkerer Stadtbezug für soziale Bewegungen und Proteste
sichtbar. Vor allem die Aufwertung der Innenstädte und große Stadtentwicklungsprojekte,
wie Mediaspree in Berlin oder Stuttgart 21, geben immer öfter Anlass für lokale Protestinitiativen, die ein „Recht auf Stadt“ und damit eine
soziale und gerechte Stadt einfordern.
Die Kulturwissenschaftlerin Henriette Horni,
ebenfalls Universität Kassel, analysierte hingegen spezifisch städtische Ausprägungen gesamtgesellschaftlicher Konfliktkonstellationen
und materielle Formen der Konfliktbewältigung am Beispiel von Belfast. Wo sich Jahrzehnte der Gewalt in Gestalt von Mauern ins
Stadtbild eingeschrieben haben, sollen nun
friedfertige Graffitis und Identifikationsbauten
wie das Titanic-Museum ein Zeichen zum Neuanfang setzen.
Die Frage, welche Rolle Urbanität für das Ausund Aufbrechen von Konflikten „in der und um
die Stadt“ spielt, griff die Politikwissenschaftlerin Margit Mayer (FU Berlin und Center for
Metropolitan Studies, TU Berlin) in ihrem Gastvortrag auf. Mayer unterschied zunächst soziale Bewegungen in Städten von städtischen Bewegungen und erläuterte verschiedene
analytische Perspektiven der Stadt- und Bewegungsforschung der letzten 40 Jahren. Dabei
machte sie auch auf den neuen Geist aktueller
Proteste aufmerksam, die Gesetzübertretungen offenbar gerne vermeiden. Vielmehr äußern die Besetzer der Wall Street ihren Unmut
am globalen Finanzsystem und an Immobilienspekulationen im Einklang mit städtischen
Vorschriften, gewaltfrei und nach allen Regeln
bürgerlichen Anstands.
In diesem Sinne begaben sich im Anschluss an
den Workshop einige der Teilnehmer zur Feldforschung vor den Reichstag, wo die Besetzung
des Vorplatzes und der Konflikt in der Stadt allerdings noch in der Nacht mit einem Polizeieinsatz und der Räumung der Besetzer aus der
umstrittenen Bannmeile vor dem Bundestag
endete. Die Diskussion um öffentliche Nutzungsrechte in der sogenannten „befriedeten
Zone“ mündete dabei in einen Konflikt über die
Stadt, der nicht nur lokal, sondern auch im Internet thematisiert wurde.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Auf dem Weg zum europäischen
Wissenschaftsraum?
Tim Flink und Dagmar Simon
Workshop „Perspectives Towards a European
Science System“ am 6. und 7. Oktober 2011,
initiiert von Frieder Meyer-Krahmer (WZBFellow), Dagmar Simon und Tim Flink (beide
Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik)
Über aktuelle und absehbare Tendenzen des
europäischen Wissenschaftssystems diskutierten europäische und amerikanische Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit
Entscheidungsträgern aus Wissenschaftspolitik und -förderung. Gemeinsam ist ihnen das
Anliegen, eine gemeinsame Agenda zu entwickeln, mit dem Ziel, die Entwicklungen in europäischen Wissenschaftssystemen besser beobachten und analysieren zu können.
Im Zentrum der Diskussionen stand die Frage,
inwieweit nationale Pfadabhängigkeiten im
Zuge der dynamisierten Agenda eines Europäischen Forschungsraums aufgebrochen werden
und welche Konsequenzen dies für Kernelemente des Wissenschaftssystems hat. Unter
diesen Kernelementen können unter anderem
Organisationen, epistemische Praktiken der
Wissensproduktion, normative Standards der
Wissenschaft und Karriereentwicklungen gefasst werden. Am naheliegendsten scheint eine
Veränderung auf der Organisations- und Karriereebene. Zwar sind Organisationen und Karrieren noch primär an nationale Systeme gebunden. Auch zeichnet sich die supranationale
Forschungspolitik der EU vor allem durch die
Umverteilung nationaler Gelder für Forschung
aus, die anteilig an allen Forschungsausgaben
in Europa gerade einmal bei sechs Prozent liegt.
Allerdings nimmt die Intensität gegenseitiger
Beobachtung und Koordinierung der Systeme
zu. So konkurrieren einzelne Forschungsfördereinrichtungen um die besten Wissenschaftler und Gutachter, gleichzeitig öffnen sie Förderprogramme in variabler Geometrie und
organisieren gemeinsame Ausschreibungen.
Eine Koordinierung mit der Förderpolitik der
Europäischen Kommission steckt allerdings
noch in den Kinderschuhen. Und so halten die
nationalen Förderer den 2007 gegründeten European Research Council bislang auf Distanz.
Wenn die Koordinierung auf Seiten der Forschungsförderer zunimmt, lässt sich dies bei
Forschungsorganisationen ebenso feststellen.
So versammeln sich Universitäten in Benchmarking Clubs und versuchen, individuelle
Profile von internationalem Rang und Namen
auszubilden, was gleichzeitig wieder zu (unge-
56
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
wollten) Angleichungsprozessen führt. Unterstützt wird das Verhalten von Universitäten
und Forschungsinstituten unter anderem durch
global und europäisch geführte Diskurse um
wissenschaftliche Exzellenz. Scheinbar harte
Fakten – die Ergebnisse von Evaluationen, Rankings und Ratings – befeuern diese Verhaltensweisen. In Workshopbeiträgen weltweit führender Rankingproduzenten, wie zum Beispiel
Antony van Raan von der Universität Leiden,
wurde die Ranking-Gläubigkeit jedoch kritisiert, da die ihnen zugrunde liegenden Formeln
sozial konstruiert und stark deutungsabhängig
sind. Ein Beispiel: Subtrahiert man alle nichtenglischen Publikationen und deren Impact aus
den Globalrankings, kommt die weltweit höchste wissenschaftliche Reputation (scientific impact) der Universität Göttingen zu.
Bei dem Workshop war man sich darüber einig,
dass unter dem Aspekt von Konvergenz oder
Divergenz der Entwicklungen in europäischen
Wissenschaftssytemen Fragen der (nationalen)
Adaption globaler Modelle von Exzellenzprogrammen auf der Forschungsagenda stehen
sollen. Wie reagieren zentrale Organisationen
der Wissensproduktion – Universitäten und
Forschungseinrichtungen – auf neue Herausforderungen? Wie sind institutionelle Konfigurationen mit Dynamiken der Wissensproduktion zusammenzudenken? Konkreter: Welche
Auswirkungen haben die Veränderungsprozesse der Organisationen auf die einzelne Forscherin bzw. den einzelnen Wissenschaftler?
Als nächster Schritt soll auf Initiative der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik ein Forschungsnetzwerk zu diesen Fragen aufgebaut
werden.
Luhmann im Dialog
Ignacio Farías und Arlena Jung
Workshop: „Luhmann im Dialog mit zeitgenössischen Sozialtheorien“, 24. Oktober 2011;
Veranstalter: Abteilung Kulturelle Quellen von
Neuheit
Neue Theorien leben von der Behauptung, die
Welt aus einer anderen Perspektive betrachten
zu können. Auch Niklas Luhmanns Systemtheorie pflegt eine solche Rhetorik. Sie behauptet
zum Beispiel, dass traditionelle Sozialtheorien
Identitätstheorien sind, die soziale Entitäten
als ontologisch gegeben ansehen. In einem radikalen Bruch damit stellt Luhmann seine Theorie als differenzlogische Theorie dar, das
heißt als Theorie, die eine rein relationale Sicht
auf soziale Wirklichkeit erlaubt. Obwohl diese
Rhetorik die Sichtbarkeit der Theorie erhöhte,
hatte sie nicht gewollte Konsequenzen für ihre
Rezeption. Trotz ihrer überragenden Erkenntnisse wird die Systemtheorie heute vor allem
international kaum ernst genommen und sogar abgelehnt, da sie als inkompatibel mit den
sozialtheoretischen Annahmen vieler Sozialwissenschaftler gilt.
Niklas Luhmann
[Zeichnung: Sonntag, Quelle: Wikimedia Commons]
Der internationale Workshop „Luhmann im Dialog mit zeitgenössischen Sozialtheorien“ unternahm den Versuch, diese Zäsur zwischen
Systemtheorie und zeitgenössischer Soziologie durch Theorievergleiche zu überwinden.
Sozialwissenschaftler präsentierten Studien
zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen der Systemtheorie und anderen zeitgenössischen Theoriegebäuden – vor allem der
sozialen Netzwerktheorie, dem neuen französischen Pragmatismus, der Akteur-NetzwerkTheorie und der Phänomenologie. Die Vorträge
zeigten, wie diese Theoriegebäude zusammengeführt werden können, um vor allem zwei
Phänomene zu erforschen: erstens die Differenzierung komplexer Gesellschaften jenseits
von Luhmanns Theorie der funktionalen Differenzierung und zweitens die Verbindung
von kommunikativen Prozessen und Systemen mit einem zeitlich-räumlichen Realitätsunterbau.
Ein zentraler Verdienst von Luhmanns Systemtheorie ist die problembezogene Differenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme
wie zum Beispiel Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Kunst. Die ersten drei Beiträge des
Workshops beschäftigten sich mit der Frage,
wie sich soziale Formationen, die sich nicht
an die Grenzen dieser Funktionssysteme halten, auf diese beziehen. David Kaldewey (Universität Bielefeld) zeigte am Beispiel von Diskursen über die Wissenschaft, ihre Theorien,
Methoden und ihren Praxisbezug, dass eine
abstrakte Systemkodierung „wahr – unwahr“
nicht genügt, um ihre empirische Vielfältigkeit
zu ­verstehen. Michael Hutter (WZB) verglich
­Luhmanns Begriff und Theorie der Funktionssysteme mit den von Luc Boltanski und
Laurent Thévenot identifizierten Regimes öffentlicher Rechtfertigung, ­ insbesondere den
jeweiligen Auffassungen von Wertkodierungen, Geschlossenheit und gegenseitiger Irritation. Jan Fuhse (Universität Bielefeld) ging auf
die Möglichkeit ein, andere Formen der sozialen Differenzierung mit der Systemtheorie
Luhmanns zu konzeptualisieren, nämlich die
Entstehung von sozialen Netzwerken aufgrund
von kommunikativer Dynamik sowie die Konstitution von kollektiven Akteuren und sozialen
Bewegungen.
Durch Luhmanns Verständnis von Kommunikation als sich selbst produzierende Dynamik
rücken Phänomene wie die Verquickung von
Diskursen, körperlichen Dispositionen und
materiellen und zeit-räumlichen Anordnungen an den Rand der Aufmerksamkeit. Arlena
Jung (WZB) zeigte den Nutzen der sozialphänomenologischen Perspektive für den Luh­
mann’schen Begriff der System/UmweltWechselwirkung auf. Das von Alfred Schütz
formulierte Konzept einer raum-zeitlichen
Ordnung als Realitätsunterbau bietet eine
Möglichkeit, das Einwirken der Umwelt zu erklären, und somit einen Ausweg aus Widersprüchlichkeiten eines systemtheoretischen
Kopplungskonzepts. Jorge Galindo (Universidad Autónoma Metropolitana, Mexiko) stellte
die These zur Diskussion, dass Luhmanns,
Bourdieus und Latours Theorien auf ein gemeinsames Referenzproblem zurückgeführt
werden können, nämlich durch die Frage, wie
die Kontingenz des Sozialen durch das Soziale
selbst eingeschränkt wird. Zum Schluss stellte
Ignacio Farías (WZB) die These auf, dass die
Systemtheorie eine soziologische Theorie des
Virtuellen ist, die dann durch eine Theorie des
Aktuellen vervollständigt werden muss. Anhand der Begriffe Selektion, Differenzierung
und Kultur skizzierte er, wie eine soziologische Perspektive, die dem Zusammenwirken
von virtuellen Systemen und aktuellen Gefügen Rechnung trägt, aussehen könnte. Die Organisatoren planen einen weiteren Workshop
für das erste Halbjahr 2012.
Interpretationen – kontinental
und angelsächsisch
Dorothea Kübler
Konferenz „Interpretation in the Arts and in
Economics: Exploring the Anglo-German Divide“, 10. und 11. November 2011, organisiert von
Sir Peter Jonas und Steffen Huck (University
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
57
College London) gemeinsam mit Michael Hutter
und Dorothea Kübler im Rahmen des WZB-Brückenprojekts „Kulturell bedingte Framing-Effekte in der experimentellen Spieltheorie“
Große Brückenschläge wurden in dem zweitägigen Workshop gewagt, um sich Antworten
auf die Frage zu nähern, ob sich zwischen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer
Tradition ein durchgängiger Interpretationsunterschied in der Kultur (Oper, Literatur und
Theater), aber auch in den Sozial- und Rechtswissenschaften finden lässt. Eingeladen waren
Kritiker, Intendanten, Regisseure und Wissenschaftler.
Anselm Heinrich (University of Glasgow) verglich die Theatertraditionen in England und
Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Schon damals stellten Kritiker die konzeptionelle, abstrakte, erzieherische und bloß nicht
allzu unterhaltsame Theatertradition in
Deutschland der englischen Tradition gegenüber, die auf kommerziellen Erfolg und damit
gerade auf Unterhaltung ausgerichtet war. Dan
Albright (Harvard University) zeigte mit Hilfe
von Filmaufnahmen von Operninszenierungen
die widerständige Natur zeitgenössischer,
überwiegend kontinentaleuropäischer Interpretationen und lobte „bad taste“ sowie Gewaltanwendung gegenüber dem historischen
Stoff als Zeichen ernstzunehmender Interpretation.
Perfekt illustriert wurde diese Gegenüberstellung durch Andreas Homoki (Intendant der Komischen Oper Berlin) sowie John Berry (künstlerischer Direktor der English National Opera):
Homoki hob die historisch gewachsene Tradition der Komischen Oper als Regietheater her-
58
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
vor. John Berry richtete seinen Blick dagegen
auf Gastregisseure, zum Beispiel bekannte
Filmregisseure, die neue Zuschauergruppen in
die Oper bringen. Für seine Darstellung spielten auch strukturelle Faktoren wie die differenzierte Altersstruktur der Besucher einzelner Aufführungen eine Rolle. Die Leiter der
beiden Häuser verkörperten damit den Gegensatz Konzept versus Zuschauererfolg in nahezu
idealtypischer Weise.
Auf der anderen Seite standen Beiträge aus der
Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, die den
Versuch unternahmen, narrative und konzeptionelle Elemente an den Rechtssystemen des
case law und des common law (Gerhard Dannemann, Humboldt-Universität zu Berlin; Oliver
Lepsius, Universität Bayreuth) und an den ökonomischen Forschungstraditionen empirischer versus theoretischer bzw. experimenteller Methoden festzumachen (Steffen Huck,
University College London; Matthias Klaes, University of Glasgow). Matthias Klaes argumentierte, dass die Berliner Schule der Statistik um
Ladislaus von Bortkiewicz dem Formalismus
und der Moderne zuzurechnen sei; Keynes sei
dagegen als Mitglied des Bloomsbury-Kreises
eher narrativen Ausdrucksformen zugeneigt
gewesen.
Steffen Huck entwickelte die Hypothese, dass
man Max Weber sozusagen auf den Kopf zu
stellen habe, da die Prädestinationslehre des
Protestantismus im Widerspruch zur Willensfreiheit stehe. Die Ansätze von Bernard Mandeville und Adam Smith zur wundersamen Vermehrung des Gemeinwohls durch die Verfolgung individueller Interessen stünden dagegen
fest auf dem Boden der Willensfreiheit.
Personen
Gastwissenschaftler
Professor Bernhard Ebbinghaus ist von Mitte Oktober bis
Mitte Dezember 2011 Gastwissenschaftler im Projekt
„Institutionelle Bedingungen
des Zusammenhangs von atypischer Beschäftigung und sozialer Ungleichheit in Europa“,
geleitet von Jutta Allmendinger. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Mannheim und war Direktor des
Mannheimer Zentrums für
Europäische Sozialforschung
(MZES). Ebbinghaus ist Leiter
mehrerer Forschungsprojekte zu Themen vergleichender
Wohlfahrtsstaatsforschung am
MZES und dem Mannheimer
Sonderforschungsbereich
„Political Economy of Reform“.
Am WZB wird er insbesondere
seine Forschung über Nichtbeschäftigung und familiäre
Risikogruppen in Europa weiterführen.
Philipp Hallenberger ist seit
September 2011 Doktorand
der Abteilung Transnationale
Konflikte und internationale
Institutionen und Stipendiat
an der Berlin Graduate School
of Transnational Studies. Seine
Dissertation schreibt er über
die Accountability-Mechanismen internationaler Organisationen. Am Beispiel des Inspection Panel der Weltbank
erörtert er, ob und inwiefern
dieses Sonderorgan zur Reduzierung des Demokratie- und
Accountability-Defizits der
Weltbank beigetragen hat.
Seit 1. Oktober 2011 ist Dr.
Bram Lancee Gast der Abteilung Migration, Integration,
Transnationalisierung. An der
Universität Amsterdam ist er
wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Institutions, Inequalities, Internationalization“ der Fakultät für
Soziologie. Als Stipendiat der
Alexander von Humboldt-Stiftung wird er in den nächsten
zwei Jahren in dem von Ruud
Koopmans geleiteten Projekt
„Sozialkapital und Arbeits­
markt­integration von Migranten in Europa: Der Einfluss
von Wohlfahrtsstaatregimen,
Integrationspolitik und Arbeitsmarktstruktur“ arbeiten
und zu ethnischer Diversität
und Vertrauen in Deutschland
forschen.
Berufungen
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D. wurde in die High
Level Economic Expert Group
„Innovation for Growth“ (I4G)
der Europäischen Kommission berufen. Die noch einzuberufende Expertenkommission
soll künftig die Forschungsund Innovationskommissarin
beraten.
Dr. Roland Habich, Leiter des
Zentralen Datenmanagements,
wurde von der Mitgliederversammlung des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften
GESIS in den Nutzerbeirat
von GESIS gewählt. Der Nutzerbeirat hat insbesondere
die Aufgabe, das Institut bei
der weiteren Entwicklung der
Serviceleistungen zu beraten.
[Foto: David Ausserhofer]
Dadurch sollen praktische Nutzerprobleme und -interessen
frühzeitig erkannt und berücksichtigt sowie die inhaltliche Ausgestaltung und Qualität
der Serviceleistungen verbes-
sert werden. Der Nutzerbeirat
besteht aus zehn Personen und
wird für drei Jahre gewählt.
PD Dr. Eugénia da ConceiçãoHeldt, seit April 2011 Heisenberg-Fellow und Gastwissenschaftlerin der Abteilung
Transnationale Konflikte und
internationale Institutionen,
hat einen Ruf an die Technische Universität Dresden auf
eine W3-Professur für Internationale Politik erhalten.
Professorin Marina Hennig,
Projektleiterin des DFG-Projekts „Versuch einer empirischen Rekonstruktion der
Habitus- und Feldtheorie von
Bourdieu durch die Netzwerkanalyse“ am WZB, lehrt seit
August als Professorin für
Netzwerkforschung und Familiensoziologie an der Universität Mainz. Ihr Schwerpunkt
am Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport ist
die Netzwerkforschung und
Familiensoziologie.
Professor Wolfgang Merkel,
Direktor der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen,
hat den Ruf auf die Position
des Präsidenten des LeibnizInstituts für Globale und Regionale Studien (GIGA) und auf
eine S-Professur für Politische
Wissenschaft an der Universität Hamburg abgelehnt.
Ehrungen / Preise
Professorin Jutta Allmendinger hat den Verdienstorden
des Landes Berlin erhalten.
Mit dem Orden zeichnet der
Senat von Berlin Personen
aus, die sich in hervorragender Weise um die Stadt verdient gemacht haben. Jedes
Jahr am 1. Oktober, dem Jahrestag des Inkrafttretens der
Berliner Verfassung von 1950,
empfängt der Regierende
Bürgermeister die Träger des
Verdienstordens und ernennt
gegebenenfalls neue. Die Zahl
der lebenden Ordensträger ist
auf 400 begrenzt.
Dr. Martin Binder wurde am
23. November mit dem Nachwuchspreis der Leibniz-Gemeinschaft
ausgezeichnet.
Er erhielt den Preis in der
Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften für seine
Dissertation über die Selektivität humanitärer Interventionen nach dem Ende
des Kalten Krieges. Für die
Arbeit verlieh ihm die Freie
Universität Berlin 2009 den
Doktortitel mit der Bestnote
„summa cum laude“. Mit dem
[Foto: privat]
Nachwuchspreis
prämiert
die
Leibniz-Gemeinschaft
jährlich zwei herausragende Doktorarbeiten aus den
insgesamt 87 Mitglieds-Institutionen. Der Politikwissenschaftler ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter
der Abteilung Transnationale
Konflikte und internationale
Institutionen.
Dr. Marc Helbling erhält den
Nachwuchspreis des Regierenden Bürgermeisters von
Berlin. Der mit 10.000 Euro
dotierte Preis wird zusammen
mit dem Berliner Wissenschaftspreis an junge Spitzenforscher vergeben. Er zeichnet „exzellente wissenschaftliche Leistung kombiniert
mit innovativen, kreativen
und praxisorientierten Forschungsansätzen aus“. Marc
Helbling leitet seit Mai 2011
am WZB die Emmy-Noether-­
Nachwuchsgruppe
Einwanderungspolitik im Vergleich.
Die Preisverleihung findet
am 15. Februar 2012 in Berlin
statt.
Professorin Chiara Saraceno wurde zum Honorary
Fellow des Collegio Carlo Al-
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
59
berto ernannt. Das Collegio
Carlo Alberto ist ein Gemeinschaftsprojekt der Compagnia
di San Paolo und der Universität Turin. Seine Aufgabe ist
es, Forschung und Ausbildung
in den Sozialwissenschaften
zu fördern. Carlo-AlbertoFellows sind hervorragende
Sozialwissenschaftler, die zur
Forschung des Collegio durch
ihre aktive Teilnahme an seinem akademischen Leben sowie ihren Bemühungen, das
Ansehen des Collegio innerhalb der internationalen Forschergemeinschaft zu stärken,
wesentlich beitragen.
Promotion
Udo E. Simonis ist für sein
Lebenswerk ausgezeichnet
wor­den. Für seine außergewöhnlichen Verdienste als
Umweltwissenschaftler und
erfolgreicher Vermittler umweltpolitischer Erkenntnisse
wird Professor Udo E. Simonis
mit dem UmweltMedienpreis
2011 der Deutschen Umwelthilfe (DUH) ausgezeichnet. Simonis war von 1981 bis 1987
Direktor des Internationalen
Instituts für Umwelt und Gesellschaft (IIUG) und von 1988
bis 2003 Forschungsprofessor für Umweltpolitik am
WZB.
Personalien
Dr. Holger Straßheim wurde
am 16. Juli 2011 in Tübingen
auf Vorschlag der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen
Fakultät der Promotionspreis
2011 der Eberhard-Karls-Universität verliehen. In seiner
Dissertation untersucht er die
Macht- und Konfliktdimension interorganisatorischer
Netzwerke. Straßheim arbei­
tet als wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Lehrbereich
Politische Soziologie und Sozialpolitik an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seit Mai
2011 koordiniert er zugleich
in der WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit das
von der VolkswagenStiftung
geförderte Projekt „Verwissenschaftlichung oder Vergesellschaftung? Der Wandel
der Wissensordnungen in
Deutschland, Großbritannien
und den USA“.
60
Mariya Chelova, Abteilung
Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen, hat am 4. Oktober
2011 erfolgreich ihre Promotion „,Divided We Stand‘.
Emergence and Viability of
Political Regimes in the Former Soviet Union: The Case
of Hybrid Regimes in Georgia,
Moldova and Ukraine“ am Institut für Sozialwissenschaften
an der Humboldt-Universität
zu Berlin verteidigt.
Im Rahmen der Kooperation
mit der Berlin Graduate School
of Social Sciences verbringt
Julian Brückner von November
2011 bis Januar 2012 einen
Forschungsaufenthalt in der
Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. In seiner Promotion beschäftigt er sich mit
der Rolle des Militärs im Prozess der demokratischen Transition und Konsolidierung in
den Ländern Lateinamerikas.
Marie-Pierre Dargnies, Abteilung Verhalten auf Märkten,
ist für drei Monate der Einladung von Muriel Niederle,
Economics Department der
Universität Stanford, gefolgt
und forscht dort von September bis Dezember 2011 zu
„Team Competition“ und Genderfragen in der experimentellen Verhaltensökonomik.
Dr. med. Anja Dieterich, MPH,
seit Februar 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin in
der Forschungsgruppe Public
Health, hat im Oktober 2011
das WZB verlassen und ist zu
einem großen gemeinnützigen Verein für soziale Arbeit
gewechselt. Zuletzt arbeitete
sie in dem EU-geförderten
Forschungsnetzwerk „Health
Systems and Long-term Care
for Older People in Europe“
an der Entwicklung von Analysemodellen für die kom-
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
plexen Zusammenhänge von
Langzeitpflege-Prozessen in
europäischen Ländern, dabei
besonders zu den Bedingungen ihrer Koordination und
Kontinuität.
Katrin Dribbisch, DiplomPolitologin, ist seit September 2011 wissenschaftliche
Mitarbeiterin in der Projektgruppe bei der Präsidentin
und betreut zusammen mit
Elisabeth Bunselmeyer die
Studie „Entscheidungsträger
in Deutschland: Werte und
Einstellungen“. Sie studierte Politikwissenschaft an der
Freien Universität Berlin und
der Uniwersytet Warszawski
in Warschau. Durch ihr Zusatzstudium an der HPI School of
Design Thinking in Potsdam
interessiert sie sich insbesondere für die Anwendung von
Design Thinking als nutzerzentriertem Innovationsansatz in Politik und Verwaltung
und möchte ihre Promotion
über diesen Themenbereich
verfassen.
Professorin Anette Fasang
Ph.D. leitet seit September
2011 als Juniorprofessorin
für Demografie an der Humboldt-Universität zu Berlin
die Projektgruppe Demografie
und Ungleichheit am WZB. Zuvor war sie Wissenschaftlerin
am Institute for Social and
Economic Research and Policy, Columbia University, New
York, nachdem sie von 2008
bis 2011 als Postdoktorandin
am Center for Research on Inequalities and the Life Course,
Yale University, New Haven,
gearbeitet hatte.
Benjamin Faude ist seit Oktober 2011 wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Abteilung
Transnationale Konflikte und
internationale Institutionen.
Zuvor war er im DFG-Graduiertenkolleg „Märkte und
Sozialräume in Europa“ in
Bamberg. In seiner Dissertation befasst er sich mit den
Wechselwirkungen zwischen
internationalen Institutionen
und den sich daraus ergebenden strukturellen Effekten im
[Foto: Udo Borchert]
Hinblick auf eine internationale Ordnungsbildung.
Claudia Finger arbeitet seit
August 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in
der Projektgruppe Nationales
Bildungspanel: Berufsbildung
und lebenslanges Lernen an
der Entwicklung von Erhebungsinstrumenten für Bildungsentscheidungen im Bereich Weiterbildung.
Johannes Gerschewski, Abteilung Demokratie: Strukturen,
Leistungsprofil und Herausforderungen, verbringt von
Oktober bis Dezember 2011
einen Gastaufenthalt am Department of Politics and International Relations der Universität Oxford. Dort wird er
neben der Arbeit für das DFGProjekt „Critical Junctures and
the Survival of Dictatorships“
unter der Leitung von Wolfgang Merkel an seiner Dissertation zur Stabilität von Autokratien in Ostasien arbeiten.
Sophie Grünwald ist seit Oktober 2011 wissenschaftliche
Mitarbeiterin der Abteilung
Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen. Sie entwickelt ihr
Promotionsprojekt in engem
Austausch mit dem von Wolfgang Merkel geleiteten DFGProjekt „Critical Junctures and
the Survival of Dictatorships“.
Rustamdjan Hakimov, Abteilung Verhalten auf Märkten,
hat zwischen Mitte Oktober
und Mitte November 2011
seinen einmonatigen Forschungsaufenthalt im Rahmen
des WZB/Sydney-Kooperationsprogramms der WZB-Nachwuchsförderung in Australien
verbracht, um mit den Ökonomen am Economics Department der dortigen Universität
über sein Forschungsthema
Matching Markets zusammenzuarbeiten.
Anna Marczuk arbeitet seit
September 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in
der Projektgruppe Nationales
Bildungspanel: Berufsbildung
und lebenslanges Lernen an
der Bearbeitung von Längs­
schnitt­analysen zu Bildungsund Erwerbsbiografien, Partnerbiografien sowie zum Weiterbildungsverhalten.
Sophie Mützel Ph.D. ist im Wintersemester 2011/2012 an die
Universität Wien, Fakultät Sozialwissenschaften, als Universitätsprofessorin für die
Bereiche „Soziologische Theorien sowie Kultur- und Wirtschaftssoziologie“ bestellt.
Dr. Justin J.W. Powell, wissenschaftlicher Mitarbeiter in
der Abteilung Ausbildung und
Arbeitsmarkt, vertritt im Wintersemester 2011/2012 die
Universitätsprofessur für Bildungssoziologie an der Leibniz Universität Hannover. Er
unterrichtet unter anderem
über den Vergleich von Bildungs- und Ausbildungssystemen und Disability Studies.
Marcel Raab forscht seit August 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe Demografie und
Ungleichheit unter der Leitung von Anette Fasang im
Projekt
„Intergenerationale
Transmission von Fertilität
und Familienbildung“. Zuvor
arbeitete er drei Jahre als
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bamberg sowohl an der Professur
für Bevölkerungswissenschaft
Psychologie an den Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung. Dort wird sie
ihre Promotion zu dem Thema
Kompetenz- und Identitätsentwicklung im Geschlechtervergleich schreiben. Dem WZB
wird sie als Gastwissenschaftlerin verbunden bleiben.
[Foto: Udo Borchert]
wie im Nationalen Bildungspanel (NEPS).
Julia Schorlemmer verabschiedete sich vom WZB. Von
Juni 2008 an war sie studentische Mitarbeiterin, seit März
2010 Forschungsassistentin
bei der Präsidentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Projekt „Lebensentwürfe
– junge Frauen und Männer
heute“. Sie wechselt an die FU
Berlin in den Fachbereich Erziehungswissenschaften und
Todd Sekuler, MPH, erarbeitet seit September 2011 als
wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe
Public Health eine Typologie
unterschiedlicher Lebensstile von Männern, die Sex mit
Männern haben und in einer
Beziehung mit einer Frau leben, in dem gleichnamigen
Projekt, das von der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung gefördert und von
Michael Bochow geleitet wird.
A.SK-Fellowships: Forschen für
­Reformen
Mit einem ASK-Fellowship wurden Thamy Pogrebinschi, Yaman Kouli und Martin Schröder bei
der Preisverleihung des A.SK Social Science
Award am 19. November 2011 im Roten Rathaus
in Berlin (siehe Seite 41-45) ausgezeichnet. Das
Stipendium, das von der Familie Chan gestiftet
wird, gibt jüngeren Sozialwissenschaftlern die
Möglichkeit, ein Jahr an einem Projekt zu arbeiten, das zur Entwicklung sozialer und politischer Reformen beiträgt. Neben dem Preisgeld
umfasst es die Einladung, am WZB zu forschen.
Dr. Thamy Pogrebinschi (links) ist Professorin
an der State University in Rio de Janeiro. Sie
untersucht, vor welchen neuen Herausforderungen Demokratien heute stehen – vor allem,
wenn diese sich mit wachsenden öffentlichen
Forderungen nach mehr Partizipation auseinandersetzen müssen. Dem Thema Knowledge as
Infrastructure und der Bedeutung von Wissen
für Innovation und Produktion in den moder-
[Foto: David Ausserhofer]
nen Industriestaaten geht Yaman Kouli (rechts),
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz, auf den
Grund. Dr. Martin Schröder, Gastwissenschaftler
am Minda de Gunzburg Center for European
Studies, Harvard University, fragt danach, wie
das Modell der Sozialen Marktwirtschaft seine
Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann, ohne dabei das in ihm verankerte Ideal sozialer Gerechtigkeit zu beschädigen.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
61
Nachlese Das WZB
im Dialog:
Medien, Podien und
Begegnungen
Paul Stoop
Das WZB führt auf vielfältige Weise den Dialog mit Politik, Gesellschaft, Medien. Von Januar 2012 an auch twitternd: 140 Zeichen pro Tweet.
Digital
Das Medienecho auf die Start-Konferenz des Instituts für Internet und Gesellschaft im Oktober war überwältigend: 1,45 Kilo
auf Papier.
Enquete
Jutta Allmendinger und Heike Solga berieten die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität über Geschlecht
bzw. Bildung.
Mitlese
Die vom WZB mit herausgegebene Zeitschrift Leviathan widmet
sich im Heft 4/2011 der Krise des Kapitalismus: www.vsjournals.de.
Unerwartet
Marcel Helbig und Tina Baier fanden heraus: 500 € Studiengebühren pro Semester haben keinen negativen Effekt auf die
Studierneigung.
Datenreport
Der Datenreport 2011 (Redakteur: Roland Habich) belegt: Armut
verfestigt sich in Deutschland: www.bpb.de/publikationen.
Vorsichtige Prognose
Die €-Krise kann nur durch „muddling-through“ gelöst werden,
nach Pieter de Wilde im National Public Radio – das ihn aber
„Peter“ nennt.
Neuheit
Die WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit betreibt einen eigenen Blog: www.culturalsourcesofnewness.net.
Ernte
Kontinuität
Das Buch, an dem SZ-Redakteur Felix Berth als Gastjournalist
am WZB gearbeitet hat, ist erschienen: Die Verschwendung der
Kindheit (Beltz).
Das WZB wird 2012 sein Journalist-in-Residence-Programm
fortführen. Die Ausschreibung kommt im März: www.wzb.eu.
Vorlese
Das Schwerpunktthema der WZB-Mitteilungen im März 2012 ist
„Vertrauen“.
62
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Twitterlese
Im nächsten Heft der WZB-Mitteilungen werden die Meldungen
der „Nachlese“ wieder länger sein als 140 Zeichen.
Vorschau
Veranstaltungen
6. Dezember 2011
23. und 24. Februar 2012
Jugend und Engagement WZB-Reihe Erfolgskulturen der Gegenwart. Neue
Zivilengagementforschung Vortrag von Perspektiven auf das Verhältnis von
Professor Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts, München. Das zivilgesellschaftliche Engagement Leistung, Anerkennung und Erfolg
wird im Zuge der neu entfachten Bildungsdebatte als BildungsTagung Keynotes: Professor Sighard Neckel (Goethe-Uniort und Lernfeld für junge Menschen behandelt. Das vielfältige
Engagement junger Menschen, das Möglichkeiten der Alltagsbildung und des Kompetenzerwerbs bietet, steht im Mittelpunkt
des Vortrags. Veranstalter: WZB; Informationen bei Marie Unger,
marie.unger@wzb.eu
10. Januar 2012
Bürgerengagement zwischen staatlicher Steuerung und Selbstregulierung WZB-Reihe Zivilengagementforschung Vortrag von Professorin Daniela Neumann,
Max-Weber-Institut für Soziologie an der Universität Heidelberg. Mit Blick auf die Nationale Engagementstrategie werden
aktuelle Entwicklungen im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches
Engagement (BBE) und Tendenzen der engagementförderlichen
Infrastruktureinrichtungen wie Freiwilligenagenturen vorgestellt. Veranstalter: WZB; Informationen bei Marie Unger, marie.
unger@wzb.eu
versität Frankfurt a.M.), Professorin Gabriele Wagner (Leibniz
Universität Hannover) und Dr. Stephan Voswinkel (Institut für
Sozialforschung, Frankfurt a.M.)
Die „Pflicht zum Erfolg“ (Neckel) scheint als gesellschaftliches
Leitmotiv einen veritablen Siegeszug zu feiern. Doch gilt das
für alle Diskursfelder, sozialen Institutionen und (beruflichen)
Akteurinnen und Akteuren gleichermaßen? Auf der Tagung
wird der Frage nach unterschiedlichen Erfolgskulturen der
Gegenwart aus sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Blickwinkeln nachgegangen. Sie findet im Rahmen des
Forschungsprojekts „Exzellenz und Geschlecht in Führungspositionen der Wissenschaft und Wirtschaft“ statt. Veranstalter: Dr.
Hildegard Matthies und Dr. Denis Hänzi, WZB-Forschungsgruppe
Wissenschaftspolitik; Informationen und Anmeldungen bei JanChristoph Rogge, rogge@wzb.eu
14. Februar 2012
Zivilgesellschaftliche Organisationen? WZB-Reihe Zivilengagementforschung Vortrag von Dr. Holger Krimmer, Stifterver-
band für die Deutsche Wissenschaft, Essen. Engagement findet
in zivilgesellschaftlichen Organisationen statt – das ist die
gängige Anschauung. Holger Krimme problematisiert diese
Auffassung: Sind Organisationen, in denen Engagement keine
Rolle spielt, nicht der Zivilgesellschaft zuzurechnen? Oder gilt
es zu differenzieren – und nach welchen Kriterien? Diese Fragen werden anhand neuer Daten des Projekts Zivilgesellschaft
in Zahlen behandelt. Veranstalter: WZB; Informationen bei Marie
Unger, marie.unger@wzb.eu
22. und 23. März 2012
Partizipation und Gesundheit
Tagung Die Forschungsgruppe Public Health
wird im
Frühjahr 2012 nach 33 Jahren die Arbeit am WZB beenden. Aus
diesem Anlass sollen die vielfältigen Beziehungen zwischen
Partizipation und Gesundheit in gesundheitsrelevanten Gesellschaftsbereichen diskutiert werden. Veranstalter: Professor Rolf
Rosenbrock, WZB-Forschungsgruppe Public Health; Informationen
bei Susanne Hartung, hartung@wzb.eu
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
63
Vorgestellt
Publikationen aus dem WZB
Migration und Rechtsstatus Janina Söhn
Migrantenkinder haben in Deutschland schlechtere Bildungschancen als einheimische Kinder, doch auch zwischen einzelnen Migrantengruppen gibt es
Bildungsungleichheiten. Dies wird nicht allein verursacht durch sozioökonomische und kulturelle Verschiedenheiten, sondern durch den unterschiedlichen rechtlichen Status der jeweiligen Gruppen. Denn der Status bestimmt
entscheidend über Teilhaberechte und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen und beeinflusst auch den schulischen Erfolg von Migrantenkindern.
Janina Söhn zeigt, dass Aussiedler aus Osteuropa im Vergleich zu anderen
Zuwanderern von günstigeren integrationspolitischen Regeln profitieren
konnten und Aussiedlerkinder seltener von Bildungsarmut betroffen sind
als Kinder aus anderen Migrantengruppen. Janina­Söhn:­Rechtsstatus­und­
Bildungschancen.­Die­staatliche­Ungleichbehandlung­von­Migrantengruppen­
und­ihre­Konsequenzen.­Reihe­Sozialstrukturanalyse.­Wiesbaden:­VS­Verlag­für­
Sozialwissenschaften­2011.
(K)eine Karriere im Doppelpack Alessandra Rusconi,
Heike Solga (Hg.) Bei Akademikerpaaren haben die Partner einiges an Engagement
und Geld in ihre Ausbildung investiert und sind grundsätzlich karriereorientiert. Dennoch sind
Doppelkarrieren – Konstellationen also, in denen beide Partner bildungs- und altersgemäße
Jobs haben – bei diesen Paaren nicht die Regel. Im Projekt „Gemeinsam Karriere machen“
haben WZB-Wissenschaftlerinnen um Heike Solga erforscht, was diese Karrieren blockieren
und was sie fördern kann. Ihre Erkenntnisse präsentieren sie nun in einem Sammelband.
Alessan­dra­Rusconi/Heike­Solga­(Hg.):­Gemeinsam­Karriere­machen.­Die­Verflechtung­von­Berufs­
karrieren­und­Familie­in­Akademikerpartnerschaften.­Opladen/Farmington­Hills,­MI:­Verlag­
Barbara­Budrich­2011.­
Der Leuchtende Pfad Sebastian Chávez Wurm
1980 startete der Leuchtende Pfad seinen Kampf gegen die junge peruanische Demokratie, an dessen Ende fast 70.000 Tote zu beklagen waren. Sebastian Chávez Wurm
zeigt, dass gängige Revolutionstheorien den Aufstieg des Leuchtenden Pfads vom
Studentenzirkel zum Guerillaverband nur unzureichend erklären können, wenn sie
nicht um eine akteursbezogene Dimension ergänzt werden. Er verbindet Makro- und
Mikroprozesse miteinander und beschreibt, wie der Leuchtende Pfad nicht nur Menschen, sondern auch materielle und ideelle Ressourcen mobilisierte und die Strukturen zu seinen Gunsten zu nutzen wusste. Sebastian­Chávez­Wurm:­Der­leuchtende­
Pfad­in­Peru­(1970­1993).­Die­Erfolgsbedingungen­eines­revolutionären­Projekts.­Köln/
Weimar/Wien:­Böhlau­Verlag­2011.
Komplexe Karrieren durch die Globalisierung?
Anette Fasang et al. Hat die Globalisierung Folgen für den individuellen Karriereverlauf? Schließlich ist weithin der Eindruck entstanden, dass heute
statt der stabilen Karriereverläufe der Vergangenheit komplexe Karrieren die
Regel sind – Karrieren also, die etwa gekennzeichnet sind durch häufige Wechsel
des Arbeitgebers. Anette Fasang und ihre Kollegen Daniela Grunow und Torsten
Biemann haben diese These anhand der Karriereverläufe von Einsteigern am Arbeitsmarkt in den ersten acht Jahren ihrer Berufstätigkeit überprüft. Und kommen
zu dem Schluss, dass Karrieren heute nicht signifikant komplexer sind als in der
Vergangenheit. Torsten­Biemann/Anette­Eva­Fasang/Daniela­Grunow:­„Do­Economic­
Globalization­and­Industry­Growth­Destabilize­Careers?­An­Analysis­of­Career­Com­
plexity­and­Career­Patterns­Over­Time“.­In:­Organization­Studies,­Vol.­32,­No.­12.
64
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Gestalter und Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde,
Dieter Gosewinkel Kein Partei- und kein Kirchenmann, wohl aber kritischer Sozial-
demokrat und engagierter Katholik – zu einem differenzierten Porträt fügt sich das biografische
Interview von WZB-Forscher Dieter Gosewinkel mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter
Ernst-Wolfgang Böckenförde. Gosewinkel spricht mit seinem früheren akademischen Lehrer
Böckenförde über dessen Zeit als Wissenschaftler und Richter, entlockt ihm aber auch viele Details
über seine Kindheit und seine biographischen Prägungen. Im ersten Teil des Bandes lassen sich
Böckenfördes lange vergriffene Aufsätze nachlesen: Ausführungen über Europa, Staat und Bürger,
soziale Gerechtigkeit, Parteien und Demokratie sowie Einwanderung und Integration.­Ernst­Wolf­
gang­Böckenförde/Dieter­Gosewinkel:­Wissenschaft,­Politik,­Verfassungsgericht.­Aufsätze­von­Ernst­
Wolfgang­Böckenförde,­Biographisches­Interview­von­Dieter­Gosewinkel.­Suhrkamp­Taschenbuch­
Wissenschaft­2006.­Berlin:­Suhrkamp­Verlag­2011.­
60 Jahre Urteile in roten Roben: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
wurde am 28. September 1951 offiziell eröffnet. Sascha Kneip legt in seinem
Aufsatz in der Politischen Vierteljahresschrift eine Bilanz der Tätigkeit des
obersten deutschen Gerichts vor. [Foto: picture-alliance/dpa]
Das Bundesverfassungsgericht – Gegenspieler
oder Mitspieler der Politik? Sascha Kneip Pünktlich zum 60. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts ist eine Bilanz der Tätigkeit
des obersten deutschen Gerichts erschienen. Sascha Kneips Fazit lautet: Obwohl
das Bundesverfassungsgericht immer mehr Klagen bearbeiten muss, hat es nicht
häufiger in die Politik hineinregiert – verfassungsgerichtliches Handeln führt also
nicht per se zur zunehmenden Justizialisierung der Politik. Verfassungsgerichte
sind demnach nicht grundsätzlich Veto- oder Gegenspieler der Politik, sondern
legitime Mitspieler in der Demokratie. Sie arbeiten mit an einem gemeinsamen
Ziel – der Ausgestaltung und Interpretation der Verfassungsordnung. Sascha­Kneip­
(2011):­„Gegenspieler,­Vetospieler­oder­was?­Demokratiefunktionales­Agieren­des­
Bundesverfassungsgerichts­1951­2005“.­In:­Politische­Vierteljahresschrift,­Jg.­52,­H.­
2,­S.­220­247.
Vertrauen für Wohlstand und Zufriedenheit Kenneth Newton
et al. Ein vertrauensvolles Klima unter den Bürgern lässt Gesellschaften prosperieren und macht Demo-
kratien lebendiger. Was Länder mit einem hohen Grad an general trust von Staaten ohne Klima des Vertrauens
unterscheidet, haben der WZB-Gastwissenschaftler Kenneth Newton und die ehemaligen WZB-Forscher Jan
Delhey und Christian Welzel untersucht. Erstmals präsentieren die Wissenschaftler eine Messmethode für
general trust, die echte Vergleiche zwischen Staaten ermöglicht. Demnach ist das allgemeine Vertrauen in der
Türkei, Ruanda und Trinidad und Tobago am schwächsten ausgeprägt – und am stärksten in Schweden, Norwegen und der Schweiz. Jan­Delhey/Kenneth­Newton/Christian­Welzel:­„How­General­Is­Trust­in­‚Most­People‘?­
Solving­the­Radius­of­Trust­Problem“.­In:­American­Sociological­Review,­Vol.­74,­S.­786­807.­
Weitere Publikationen unter:­www.wzb.eu/sites/default/files/publikationen/9­11.2011.pdf
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
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Zu guter Letzt
Architektur im sozialen Kontext
James Frazer Stirlings Werk in einer
Stuttgarter Ausstellung
Paul Stoop
Es wäre für manchen Berliner Vortragssaal
eine praktische Ergänzung, was James Frazer
Stirling in den 1960er Jahren für die Universität Leicester entwarf: eine Wendeltreppe, die
vom Campusrasen direkt zu den letzten Reihen
des hoch über dem Boden schwebenden Hörsaals der Ingenieurs-Fakultät führte. Der Noteingang ermöglicht es verspäteten Studenten,
so diskret in die Vorlesung zu gelangen, dass
sich die Störung in Grenzen hält. Leider hat
kein Architekt im notorisch verspäteten Berlin
den gewitzten Einfall übernommen. Aber diese
eine glasumhüllte Wendeltreppe gibt es immerhin – ein Beispiel für die Eigenwilligkeit,
den Sinn für Praktisches und den Humor des
schottischen Architekten James Frazer Stirling
(1926–1992), der mit seinem langjährigen
Partner Michael Wilford auch das GebäudeEnsemble des WZB entworfen hat.
Die Essenz von Stirlings Werk, seine Arbeitsweise und seine Inspirationsquellen werden
gerade in Stuttgart vorgestellt. Es ist nach New
Haven und London die dritte Station der Ausstellung, die der Stirling-Schüler und Architekturhistoriker Anthony Vidler (The Cooper
Union, New York) kuratiert hat. Vidler konnte
das jüngst vollständig erschlossene und katalogisierte Stirling-Archiv in Montreal nutzen.
Die Werkeinführung gastiert noch bis Mitte Januar 2012 in der Staatsgalerie Stuttgart, dessen Stirling-Anbau 1984 noch heftigere Kontroversen auslöste als der vier Jahre später
fertiggestellte, rosa-blau-gestreifte WZB-Bau.
[Foto: Adelheid Scholten]
Paul Stoop leitet das Referat Information und Kommunikation des
WZB.
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„Notes from the Archive“ heißt die Ausstellung
bescheiden. Sie könne erst ein vorsichtiger
Ansatz zu einer Gesamtschau sein, schreibt Kurator Vidler im Vorwort des Katalogs. Aber die
ausgewählten Zeichnungen, Modelle, Fotos sowie einige charakteristische persönliche Gegenstände bieten schon jetzt reizvolle Einblicke in den Stirling’schen Kosmos. Sie erleichtern es, die Entwicklung eines Gestalters zu
verstehen, den Robert Maxwell, Herausgeber
von Stirlings Schriften, kürzlich in einem
Stuttgarter Vortrag den „ersten globalen Architekten“ nannte, mit großen Projekten in Europa, den USA und Japan.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Stirling war ein genauer Beobachter und ein
exzessiver Sammler, der die räumliche Umgebung immer als Kontext für seine Bauten verstand. Sein erstes Übungsfeld war die Natur.
Penibel führte er als Schüler Buch über seine
vogelkundlichen Exkursionen in die ländliche
Umgebung Liverpools. Das in der Ausstellung
präsentierte, gemeinsam mit einem Freund erstellte Vogel-Buch aus den Jahren 1939 bis
1942 enthält Tagebuchnotizen, Zeichnungen
und Fotos; minutiös sind Nester, Eier, Ruheorte
und Wege dokumentiert und kommentiert. Architekturbeobachtung stand damals noch nicht
auf Stirlings Agenda, setzte aber beim Studium
am Liverpool College of Art umso heftiger ein.
Der Fotoapparat blieb ein treuer Begleiter.
Mappe um Mappe füllte Stirling mit urbanen
Eindrücken: Straßenzüge, Gebäude, Detailansichten. Jedes Foto ist genau beschriftet – eine
systematisch angelegte, im Einzelnen sehr heterogene Fundgrube.
Mit diesen Elementarteilchen spielte Stirling,
nicht beliebig (und nicht postmodern, wie er
als Etiketten-Allergiker betonte), sondern ausgestattet mit einem genau analysierenden und
liebevollen Blick auf die gesamte Architekturgeschichte und die zeitgenössischen Meister.
Wer Stirling vor allem mit den Stuttgarter und
Berliner Bauten in den 1980er Jahren mit ihren teils grellen Elementen verbindet, begegnet im „Archiv“ einem Architekten, der sich
zunächst der geradlinigen, proportionierten
Moderne eng verbunden fühlte. Le Corbusier
war ihm wichtig, Stirling setzte sich mit dem
Werk von „Corb“ in den 1950er Jahren produktiv auseinander.
Aber das lange Zeit beherrschende Thema
„Form und Funktion“ verlor nach dem 2. Weltkrieg für Stirling und viele seiner Generation
an Bedeutung. Für ihn spielten „Kontext und
Assoziation“ die entscheidende Rolle. Die Einbettung seiner Bauten in den gewachsenen sozialen Raum war ihm wichtig. Das zeigt sich
nicht zufällig in manchen der ausgestellten
Zeichnungen: Die Pläne sind voller Menschen,
wirken belebt. Der Blick des Architekten geht
ins Innere, sieht Bewegung, Begegnung und
Sammlung der Möglichkeiten.
Nachdem sich herauskristallisiert
hatte, dass die einzelnen WZB-Anbauten jeweils unterschiedliche
Formen aus der Architekturgeschichte haben sollten, stellte Stirling eine Liste der Möglichkeiten
zusammen: links eine Reihe vom
frühmodernen runden Turm (silo)
über das zeitgenössische Bürogebäude und den griechischen Tempel bis zum spätägyptischen Tempel; rechts eine knappere Auswahl,
bei der auch aktuelle Formen in
Betracht gezogen wurden: Frank
Lloyd Wrights Larkin-Bau in Buffalo, New York (1905, abgerissen
1950), und Mies van der Rohes
Crown Hall des College of Architecture, Planning and Design
(Illinois Institute of Technology,
Chicago), die am Ende nicht zu den
ausgewählten fünf Formen ge­
hörten.
Kommunikation im Bau. Die Perspektive verharrt aber nicht im Inneren, sondern ist gleichzeitig wieder nach außen gerichtet. Die Treppe
für die zu spät Kommenden in Leicester war so
eine Idee, die der räumlichen Alltagserfahrung
und der visionären Belebung der imaginierten
Architektur entsprungen ist.
Auch seine Zeichenweise belegt den Wert, den
Stirling dem Räumlichen beimaß. Wenn er eine
Idee entwickelte, war der erste große Schritt
zur Visualisierung für ihn die axonometrische
Darstellung; Stirling zeigte den Bau in jenen
Zeiten vor den digitalen 3D-Möglichkeiten in
der Draufsicht. Der Grundriss, mit dem viele
andere Architekten den ersten Schritt der Darstellung leisteten, entstand bei Stirling erst im
späteren Verlauf des Prozesses. Es ist mehr als
ein kleiner Gag, dass eine der Zeichnungen für
seine Abschlussarbeit ihn selbst in einem Helikopter zeigt, der das Werk, das Haus für einen
Ranger, von oben umkreist. Auch der spezielle
Reiz realisierter Stirling-Bauten, die Beziehungen der einzelnen Bauteile zueinander und zur
Umgebung, erschließt sich am besten aus der
Draufsicht, beim WZB etwa vom hohen Bibliotheksturm aus – für alle, die gerade keinen Helikopter zur Hand haben.
Die in Stuttgart präsentierten Zeichnungen
vermitteln beispielhaft Stirlings Schaffensprozess. Sie sind wohl noch nicht immer in der
exakten zeitlichen Reihenfolge, wie der Kurator anmerkt; dafür bräuchte es noch vieler
Jahre detaillierten Archivstudiums. Aber an
der Darstellung des WZB lässt sich nachvollziehen, wie Stirling zunächst alle möglichen Formen sammelte, manche gleich wieder ausschloss, dann wieder neue aufnahm, um mit
einer kleinen Auswahl favorisierter Formen
weiter zu spielen (siehe Abbildung). Die Strukturierung der Gebäudeteile leitete er nicht ab
von einer Großidee, einer Theorie oder von bedeutisierenden Zahlen- und Linienspielen, sondern entwickelte sie durch Probieren, Herumschieben, Kombinieren, dann den Austausch
einzelner Formen. So gelangte er schließlich zu
einer Anordnung, wie wir sie heute als WZB
kennen. Der manchmal als beliebig kritisierte
Stirling war kein Verbaltheoretiker, sondern
ein tief in der Tradition verwurzelter Theoretiker des praktizierenden Forschens.
Das Entscheidende war für Stirling dann aber
das Leben in den so assoziierten Formen und
Räumen. In Melsungen sagte er 1992, kurz vor
seinem Tod, bei der feierlichen Eröffnung der
gemeinsam mit Michael Wilford entworfenen
Braun-Fabrik: „Ich hoffe, dass alle, die hier arbeiten werden, diese Bauten als so leicht zu
besetzen empfinden wie die Falkenfamilien,
die sich ohne Weiteres in den von uns aufgestellten Vogelhäusern auf dem höchsten Gebäude niedergelassen haben.“ Hier sprach der
frühere birdwatcher, der Architekt mit dem
Auge für das wirklich Wichtige: die soziale Dimension dessen, was nur scheinbar leblose
Materie ist.
[Abbildung: James Stirling, Michael Wilford
and Associates , Wissenschaftszentrum,
Berlin: typological study, 1979-87
Canadian Centre for Architecture, Montréal.
James Stirling/Michael Wilford fonds, ink
and graphite on paper 20.9 x 29.9 cm.
AP140.S2.SS1.D57.P6.15]
Die Ausstellung James Frazer Stirling. Notes from the Archive ist bis
zum 15. Januar 2012 im Altbau der
Staatsgalerie Stuttgart zu sehen.
Der Katalog zur Ausstellung ist herausgegeben von Anthony Vidler
(erschienen 2011 bei Yale University Press, New Haven und London,
in Zusammenarbeit mit dem Canadian Centre for Architecture und
dem Yale Center for British Art,
303 Seiten).
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Zerbrechlich. Die Stuttgarter Staatsgalerie widmet sich in einer aktuellen Ausstellung dem Werk des Architekten James Frazer
Stirling. Dieses Modell des Wohnhauses für einen Architekten verpackte der junge Stirling umsichtig für den Postversand – gebaut
wurde das Haus nicht. Stirling, der gemeinsam mit Michael Wilford den Anbau der Staatsgalerie entworfen hat, gestaltete auch das
heutige Gebäude des WZB. In der Ausstellung „Notes from the Archive“ geben Arbeitsskizzen unter anderem Aufschluss über die
gestalterische Entwicklung der rosa-blauen Anbauten des WZB (siehe den Bericht über die Ausstellung auf den Seiten 66-67).
[Foto: James Frazer Stirling, Architektenhaus, Modell 1948 oder 1949, AP140.SS1.D3.P3, James Stirling/Michael Wilford fonds, Canadian Centre for Architecture, Montréal]