Fahren an der "Heimatfront"

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Fahren an der "Heimatfront"
Bauer, Hölscher, Knupfer, Niederich
| 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 | 2016 | 2017 | 2018 | 2019 | 2020 | 2021 | 2022 | 202
Fahren an der "Heimatfront"
Stuttgarts Straßenbahn im Krieg
Themen der Zeit
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
1
Straßenbahn,
Trümmerbahn und
Feldbahn
Lore auch von Hand schieben, und so machte
fast jeder, der damals auf der Welt war, früher
oder später Bekanntschaft mit den rustikalen
Vehikeln: sei es in einer Organisation, als Brot­
beruf, als Soldat, seien es die legendären Trüm­
merfrauen, die wohl oder übel Hand anlegen
mussten, oder auch die Lausbuben, die sonntags
verbotene Spritztouren auf den holprigen Gleisen
unternahmen.
Blickwinkel einer Sonder­
ausstellung
Titelseite: Links | Die Sonderausstellung in
der Straßenbahnwelt Stuttgart (2015) –
der als „Rohbauteil“ gezeigte Beiwagen
1255 der SSB gehört allerdings zu den
dauerhaften Exponaten. Rechts | In Feuer­
bach am 22. Oktober 1918, nach Niedergang
einer Fliegerbombe
Diese Seite | In den Neckarauen bei Ober­
türkheim um 1940: Auf hemdsärmeligen
Gleisen und Fahrleitung versieht die Stra­
ßenbahn den Kiestransport, im Hinter­
grund ein provisorisches Betonwerk
„Warum war das damals so?“ – das fragen vor
allem Kinder mit betroffener Miene, wenn sie
im Verkehrsmuseum der Stuttgarter Straßen­
bahnen AG (SSB), in der Straßenbahnwelt
Stuttgart, die elektrische „Trümmerlok“ von 1946
sehen. Denn dazu zeigt ihnen der Besucherführer
alte Fotos aus jener Zeit, als Stuttgarts Innenstadt
eine oft leere, flache Mondlandschaft voller
Schutt war – den die Loks mitsamt ihren
Muldenkippwagen wegführen halfen. Vor rund
70 Jahren wurden die Lokomotiven dieser Art
gebaut, speziell für Stuttgart, aus makabrem
Anlass. Jetzt hat die stabile E-Lok vorübergehend
„artgerechte“ Gesellschaft erhalten: einen so
genannten Feldbahnzug mit einer kleinen Diesel­
lok und Kipploren. Der Grund ist die aktuelle
Sonderausstellung, die der Verein Stuttgarter
Historische Straßenbahnen (SHB) erstellt hat:
2
„Fahren an der 'Heimatfront'“. Es geht um
die Straßenbahn im Krieg, und zwar in beiden
Weltkriegen, denn beider Beginn ist jetzt 100
und 75 Jahre her.
Der Verein hat eine Reihe von Originalexponaten
aus jenen Zeiten zusammengetragen, ergänzt
um historische Fotos. Das größte Relikt der
Sonderausstellung ist die besagte Feldbahn,
als Gegenstück zum Trümmerbahnzug der
Straßenbahn. Die Standard-Kipplore, die einen
Dreiviertelkubikmeter Inhalt fasste, kann als
neutrales technisches Symbol für damalige Bau­
vorhaben ebenso gesehen werden wie für die
Folgen der Zerstörung, Trümmerbeseitigung und
vor allem den Wiederaufbau. Kreuz und quer
verliefen die Gleise der Lorenbahnen seinerzeit
durch Stuttgart. Zwei Mann konnten solch eine
Die Ausstellung macht auch deutlich, was Krieg
und Nachkriegszeit für Straßenbahn, Straßen­
bahner und natürlich für die Kunden bedeuteten:
Die Straßenbahn musste Güterwagen schleppen,
Frauen übernahmen an vielen Stellen das Zepter
oder vielmehr die Kurbel, Rentner wurden für
ihren alten Beruf bei der SSB reaktiviert. Die
buchstäblich düsteren Seiten und die Zeitläufe
davor und danach werden nicht ausgespart:
Tarnung und Verdunkelung, Bombenangriffe,
Verwundetentransporte, Todesmeldungen von
Kollegen, Inflation, Besatzung. Solange die
Straßenbahn fuhr – und sie fuhr fast immer noch
irgendwie – war sie zwar Teil des Krieges,
gleichzeitig unabhängig davon vor allem aber
immer ein aufatmend wahrgenommenes kleines
Zeichen: für Normalität, Verlässlichkeit und
Bürgerlichkeit, selbst inmitten des Inferno. Die
Frage nach dem „Warum“ lässt sich noch
immer nicht mit einem Satz beantworten. Aber
die Ausstellung zeigt das „Wie“. Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Finstere Zeiten: 1940 wurde in Deutschland zum Schutz gegen nächtliche
feindliche Flugzeuge die „Verdunkelung“ angeordnet. Bei Dämmerung und
in der Nacht war nur noch spärlichstes Licht erlaubt, das nur gegen den
Boden strahlen durfte. Für die Straßenbahnen – nicht nur in Stuttgart –
zeittypisch war deshalb die halbschalenförmige Abdeckblende über Schein­
werfer (Mitte) und Schlussleuchte (rechts), hier am SSB-Motorwagen 300
Inhalt
Seite 4
Nikolaus Niederich
Fahren an der "Heimatfront"
Die Straßenbahn im Krieg
Seite 64
Hans-Joachim Knupfer
Kartoffeln, Kohlen, Krankenbahren
Der Erste Weltkrieg und die SSB
Seite 78
Gottfried Bauer
Die SSB während der Kriegs- und Nachkriegszeit
Stuttgarts Straßenbahn im Zweiten Weltkrieg
Die fünf Kapitel dieser Broschüre beruhen auf folgenden
Quellen und Anlässen: dem (unwesentlich gekürzten) Text
zur Sonderausstellung 2014/15 in der Straßenbahnwelt
Stuttgart, einem 1995 in der SSB-Mitarbeiterzeitschrift
„Über Berg und Tal“ erschienenen Artikel zum Zweiten
Weltkrieg, und einem Beitrag, der aktuell zur Jährung des
ersten Weltkrieges für „Über Berg und Tal“ komprimiert
erstellt wurde und hier in der Langfassung gedruckt wird.
Zwei weitere Ausarbeitungen sind spontan entstanden,
aufgrund aktueller Quellenfunde oder der vertiefenden
Befassung damit. Bewusst wurden die Beiträge nicht im
Detail aufeinander abgestimmt. Einzelne inhaltliche Überschneidungen sind daher unvermeidlich. Die Autoren
hoffen, dass die unterschiedlichen Schwerpunkte dennoch
für einen Roten Faden sorgen.
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Seite 91
Exkurs: Ein Kapitel Theorie
Fahrzeugtypen, die (doch) nicht gebaut wurden
Seite 102
Ralph Hölscher
Der Papier-Krieg
1939 bis 1945 bei der SSB: „Kunstwerke“ der Improvisation
Im April 2015
Gottfried Bauer, Bietigheim
Ralph Hölscher, Stuttgart
H.-J. Knupfer, Leonberg
Dr. Nikolaus Niederich, Stuttgart
3
Nikolaus Niederich
Unsere sehr oft nostalgisch-freundliche Sicht auf
die „gute alte Straßenbahn“ wird spätestens
dann sehr viel nüchterner, wenn man die Kriegsund Nachkriegszeiten näher beleuchtet.
Fahren an der
"Heimatfront"
Diese Ausstellung soll zumindest einen Eindruck
davon vermitteln, wie vielfältig die Straßen­
bahn und alles, was damit zusammenhängt, vom
Krieg betroffen war. Durch eine kurze Betrachtung
der Jahre vor und nach den beiden Weltkriegen
und die hier aufscheinenden Kontraste werden
die Auswirkungen des Krieges umso deutlicher.
Die Straßenbahn im Krieg
Wenngleich sich die Ausstellung auf Stuttgart
und die Stuttgarter Straßenbahnen konzentriert,
sind die Einsichten in diese düsteren Zeiten
durchaus verallgemeinerungsfähig.
Warum muss dieses Thema sein?
Eine Einführung
2014/15: Große Sonderausstellung des
Vereins Stuttgarter Historische Straßen­
bahnen. – Die oben auf dem Plakat ver­
wendete schnörkellos reduzierte Fraktur­
schrift ist im „Dritten Reich“ gerne zu
offiziösen Zwecken verwendet worden.
Tatsächlich ist diese so genannte Tannen­
berg-Frakturschrift jedoch ein gestalteri­
sches Kind der 1920er Jahre. Mitten im
Zweiten Weltkrieg wurde sie per „Füh­
rererlass“ verboten (offensichtlich eine
„kriegswichtige“ Angelegenheit) und
unzutreffenderweise als „Schwabacher
Judenschrift“ verhöhnt
Zur hundertsten Wiederkehr des Ersten Weltkriegs
und der fünfundsiebzigsten des Zweiten Welt­
kriegs haben Publikationen, die diese Themen
behandeln, Konjunktur. Diese Ausstellung hat
jenseits der allerorten begangenen Jubiläen
allerdings ein ganz eigenständiges Anliegen.
Sie soll zeigen, welche Bedeutung diese mili­
tärischen Konflikte der Jahre 1914 bis 1918
und 1939 bis 1945 auch weit entfernt von den
Schlachtfeldern hatten.
Bei diesem Blick aus der damals so genannten
„Heimatfront“ bietet sich die Straßenbahn als
Ausgangspunkt zur Darstellung städtischer
Alltagsgeschichte geradezu an. Zum einen war
4
die Straßenbahn damals tägliche Normalität der
meisten Menschen in vielen und nicht nur
größeren Städten. Zum anderen verbindet
das Thema Straßenbahn als Gesamtheit aus
Fahrgästen, Personal, technischer Ausstattung,
wirtschaftlichen Belangen und vielem mehr alle
Aspekte zum Verständnis der damaligen Zeit.
In diesem Zusammenhang ist auch ein anderer
Gesichtspunkt der ersten Hälfte des 20. Jahr­
hunderts wichtig: Aus heutiger Sicht erscheint
diese Zeit oft beschaulich und idyllisch und
wird entsprechend verklärt. Diese Sichtweise,
wäre den damaligen Zeitgenossen vollkommen
unverständlich gewesen. Sie empfanden ihre
Zeit und ihre Lebensverhältnisse mehrheitlich
nicht als romantisch, sondern als sehr modern
und schnelllebig.
Die Gesamtschau des Ersten und des Zweiten
Weltkriegs in einer einzigen Präsentation
macht die Gemeinsamkeiten, aber auch die
gravierenden Unterschiede beider Ereignisse
anschaulich. Auch in dieser Hinsicht ist die
Straßenbahn eine Art Mikrokosmos, in dem (fast)
alles enthalten ist, was die „große Geschichte“
zu bieten hat. Eine wirklich allumfassende
Behandlung des Themas „Straßenbahn im Krieg“
wird in einer solchen Ausstellung jedoch immer
ausgeschlossen sein.
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Links | Ernährung per Straßenbahn:
Kasten­loren mit Kartoffeln treffen am
Betriebshof Ostheim ein, um 1943
Rechts | Kokstransport vom Gaswerk
Stuttgart in die Stadtteile mit dem Güter­
triebwagen der SSB, um 1917
Die beiden Weltkriege
im allgemeinen Überblick
Abgesehen von den jeweils „geraden“ Jubiläen
der beiden Weltkriege ist die gemeinsame
Behandlung dieser das 20. Jahrhundert prägenden
Ereignisse auch inhaltlich geboten: In der
Geschichtswissenschaft gibt es, wie schon bei
vielen Zeitgenossen, eine breite Strömung, welche
die beiden Kriege als Einheit sieht. Bei diesem
Verständnis wären die Jahre zwischen 1918 und
1939 lediglich eine längere Pause zwischen den
eigentlichen Kriegshandlungen gewesen. So
nachvollziehbar und plausibel dieser Ansatz ist,
so sehr kann er dazu verleiten, Entwicklungen
und Sachverhalte gleichzusetzen, die vollkommen
unterschiedlich sind.
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Schließlich unterschieden sich die beiden
Kriege nicht nur in unmittelbar militärischen
Fragen, wie etwa der Bewaffnung und der
Kriegsführung, deutlich voneinander. Auch
die Wirkungen des Kriegsgeschehens auf die
Zivilbevölkerung waren trotz unverkennbarer
Gemeinsamkeiten im Ersten und Zweiten Welt­
krieg spürbar unterschiedlich.
für politisch und rassisch Verfolgte, aber auch
für Kriegsgefangene, Zwangs- und Fremdarbeiter
sowie für die deutsche Zivilbevölkerung.
Um den Gemeinsamkeiten und auch den Unter­
schieden trotz der notwendigerweise knappen
Darstellung gerecht zu werden, sind die beiden
Weltkriege in getrennten Kapiteln behandelt.
Ganz erhebliche Unterschiede gibt es bezüglich des
Regierungshandelns in Deutschland während
der beiden Kriege. Während sich dies im Ersten
Weltkrieg nur in Details von dem in anderen
kriegführenden Nationen unterschied, war dies
im Zweiten Weltkrieg völlig anders. Hier wurde
der Schrecken des Krieges massiv durch den Terror
und die Verbrechen der nationalsozia­lis­tischen
Regierung verschärft. Dies galt in erster Linie
5
Alt Cannstatt, Brückenstraße, 1916: Rein optisch deutet
nichts auf die Kriegszeit hin
Der erste Weltkrieg
Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts
Schon vor 1914 gab es immer wieder Konflikte
unter den damaligen Großmächten, nicht selten
ging es dabei um koloniale Interessen, wie z. B.
bei den Marokkokrisen. Ob allerdings einer oder
mehrere dieser Staaten bewusst und gezielt auf
einen Krieg hingearbeitet haben, ist bis heute
strittig und unklar.
Der tatsächliche Auslöser des Krieges, allerdings
nicht der Grund, war die Ermordung des öster­
reichischen Thronfolgerpaares am 28. Juni 1914
in Sarajevo. In Verbindung mit den damaligen
Bündnissen und dem diplomatischen Ungeschick –
oder Unwillen – einiger Beteiligter führte dieses
Verbrechen eines serbischen Nationalisten
6
schließlich zum Krieg. Knapp zusammengefasst
war die politische Konstellation so: Russland
sah sich als Schutzmacht des ebenfalls slawischen
Serbien und konkurrierte außerdem mit dem
Osmanischen Reich um die Vorherrschaft auf
dem Balkan. Die türkischen Osmanen waren
Verbündete des Deutschen Reiches und der
österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie,
Russland war Teil der Entente, also des Bünd­
nisses von Frankreich und Großbritannien. Die
Eskalation zwischen Österreich-Ungarn und
Serbien sowie Russland zog Deutschland in
diesen zunächst reinen Balkankonflikt. Dieser
wurde zusätzlich angeheizt durch den so
genannten „Blankoscheck“ des deutschen Kaisers
Wilhelm II. für die Habsburgermonarchie. Der
Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien
am 28. Juli 1914 folgte am 1. August die des
Deutschen Reichs an Russland und zwei Tage
später die an Frankreich. Nach dem am 4. August
folgenden Einmarsch der kaiserlichen Armee
ins neutrale Belgien kam postwendend die
Kriegserklärung Belgiens und Großbritanniens
an Deutschland.
Diese Abfolge resultierte nicht zuletzt aus ver­
meintlichen oder tatsächlichen militärischen
Sachzwängen auf deutscher Seite. Dort war
schon lange vor dem Krieg klar, dass das Reich
mit seinen eher schwachen Verbündeten den
vereint agierenden Ententemächte nicht würde
standhalten können. Aus dieser Erkenntnis und
der Erwartung, dass Russland deutlich länger
für seine Mobilmachung brauchen würde als
seine Verbündeten, wurde der Schlieffenplan
entwickelt. Benannt nach dem damaligen Chef
des Generalstabs sah der strategische Ansatz
vor, zunächst in einem schnellen, massiven
Angriff Frankreich zu besiegen und die Briten
zumindest zum Abzug zu zwingen. In diesen
wenigen Wochen sollte die Grenze zu Russland
nur durch schwache Kräfte gesichert werden.
Sobald die Truppen im Westen geschlagen
waren, sollte der größte Teil der Armee nach
Osten verlegt und damit die russischen Truppen
besiegt werden.
Zunächst schien es so, als ob die Pläne auf­
gingen, allerdings zeigte sich, dass Russland
wesentlich schneller mobilisieren konnte als
gedacht. Die Folge war eine militärische Besetzung
von Teilen Ostpreußens. Erst die Schlacht von
Tannenberg Ende August 1914, die den Ruhm
Hindenburgs begründete, warf die russischen
Truppen zurück. Trotz der deutschen Militärer­
folge auch in der Folgezeit blieben erhebliche
Truppenkontingente an der Ostfront gebunden.
Noch viel gravierender war die strategische
Fehleinschätzung im Westen. Der schnelle
Bewegungskrieg verlor schon nach wenigen
Wochen an Schwung und wurde zu einem
Stellungskrieg mit immer besser und subtiler
ausgebauten Stellungssystemen aus Laufgräben
und Kampfstellungen. Bei dieser für Europa
völlig neuen Kriegsführung ging es vor allem
um den Einsatz modernen Kriegsgeräts wie
Artillerie, Maschinengewehre, Panzer, Kampf­
flugzeuge und nicht zu vergessen auch Giftgas.
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Zwei der insgesamt mindestens 15 Kastenloren und
Güterwagen der SSB, die im Ersten Weltkrieg oder kurz
zuvor beschafft wurden. Wenigstens zehn Tonnen Anhän­
gelast dürfte der 1909 gebaute Motorwagen 306 mit sei­
nen 56 Kilowatt Leistung zu schleppen gehabt haben, hier
angeblich im Stadtteil Wangen
Kriegswirtschaft. Hinzu kamen steigende Men­
schenverluste in den großen Schlachten wie
Verdun sowie sichtbar schwindende Aussichten
auf einen militärischen Sieg. Etwa zur gleichen
Zeit etablierte sich die militärische Führung in
Gestalt der Dritten Obersten Heeresleitung unter
Hindenburg und Ludendorff zu einer faktischen
Militärdiktatur.
Bis Kriegsende Anfang November 1918 gelang
es an der Westfront keiner Seite, einen wirklichen
Sieg zu erringen. In Russland war schon im
Februar 1917 der Zar gestürzt worden, im Oktober
übernahmen die Bolschewiki unter Lenin die
Macht. Im März 1918 schloss die neugegründete
Sowjetunion einen Separatfrieden mit Deutschland.
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet die
Kriegsflotten, die vor dem Krieg als entscheidend
angesehen wurden und deshalb ein wesentlicher
Konfliktpunkt zwischen Deutschland und Groß­
britannien waren, praktisch nicht zum Einsatz
kamen. Von wenigen Seegefechten abgesehen,
gab es nur die Skagerrakschlacht Ende Mai
1916, die mit einem Patt endete und die britische
Seeblockade nicht brechen konnte. In der
Seekriegsführung spielte nur der U-Bootkrieg
gegen Handelsschiffe eine Rolle.
Auch in der Landkriegsführung im Westen
konnten keine entscheidenden Erfolge auf deut­
scher Seite erreicht werden. Stattdessen nutzten
sich die Streitkräfte beider Seiten in blutigen
Schlachten um selten mehr als einige Meter Ge­
ländegewinn ab, Millionen toter, verstümmelter
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und schwer traumatisierter Soldaten waren die
Folge. In dieser Lage brachte der Kriegseintritt
der USA am 6. April 1917 die entscheidende
Wende: Die schon damals führende Wirtschafts­
macht brachte hunderttausende frischer, hoch­
motivierter Soldaten und vor allem modernes
Kriegsmaterial in praktisch unbegrenzter Menge
auf die Schlachtfelder Flanderns.
Innenpolitisch gesehen begann der Krieg in
Deutschland mit dem „Burgfrieden“, also dem
engen Zusammenrücken der gesamten Bevölke­
rung unter Einschluss der von den herrschenden
Kreisen vielfach geschmähten SPD. Ab 1916
verschärften sich die gesellschaftlichen Konflikte
jedoch wieder. Ursächlich waren dafür die
immer schlechter werdende Versorgungslage
der Bevölkerung und die Überlastung durch die
Auch in Deutschland beendete das Kriegsende
die monarchische Regierungsform. Dem ging eine
eine kurze, schnell unterdrückte Revolution
voraus. Dabei gelang es den bisherigen Eliten,
gerade auch Ludendorff und Hindenburg, alle
Verantwortung für die militärische Niederlage
den neuen politischen Kräften zuzuschieben. Es
entstand die Legende vom „Dolchstoß“ der
sozialdemokratisch dominierten Heimat, welcher
die „Frontsoldaten“ um ihren Erfolg gebracht
hätte. Zur schrecklichen Bilanz des Ersten Welt­
kriegs gehörten nicht nur erhebliche Zerstörungen
weiter Landstriche, sondern auch rund 17
Millionen Tote. Was seine Stellung in der Welt
und auch den Wohlstand angeht, hat sich Europa
von diesem Krieg nie mehr wirklich erholt.
Dem deutschen Kaiserreich folgte die Weimarer
Republik, die während fast ihres gesamten
7
Der Zweite Weltkrieg
Der Kampf um die „germanische Weltherrschaft“
Rentner an die Kurbel! Mindestens doppelt
so alt wie der 1910 gebaute Wagen 347
war sein um 1942 aufgenommener
Betreuer. Dessen Bartmode trägt erkenn­
bar nicht der damals herrschenden Epoche
Rechnung, sondern der wilhelminischen
Zeit aus einer Generation zuvor
Beim Zweiten Weltkrieg, der am 1. September
1939 mit der Beschießung der Westerplatte
bei Danzig durch das deutsche Kriegsschiff
„Schleswig-Holstein“ begann, ist die Schuldfrage
eindeutig zu beantworten. Allenfalls wäre zu
fragen, ob nicht auch die Annexionen, die
schon vor dem Überfall auf Polen erfolgten, vor
allem der Tschechoslowakei, Teil der deutschen
Kriegshandlungen waren.
Bestehens politisch und wirtschaftlich instabil
blieb. Sie wurde von den meisten Menschen
allenfalls hingenommen. Von der ganz überwie­
genden Zahl der alten Spitzen aus Militär,
Verwaltung und Rechtspflege, sowie auch aus
der Wirtschaft, wurde das „System“ offen und
energisch bekämpft. Große Gebietsverluste im
Westen und Osten, die Inflation, die Belastungen
des Versailler Friedensvertrags sowie die Insta­
bilität der Wirtschaft, mit der Weltwirtschafts­
krise ab 1929 als Höhepunkt, schadeten dem
Ansehen der Republik von außen her. Nach der
Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch den
damaligen Reichspräsidenten Hindenburg am
30. Januar 1933 war die Machtübernahme der
NSDAP zwar nicht zwingend, aber erkennbar.
8
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht
auf Polen erklärten zunächst nur Großbritannien
und Frankreich Deutschland den Krieg, ohne
direkt militärisch einzugreifen. Auch nach
dem nur 26 Tage dauernden so genannten
„Blitzkrieg“ gegen Polen blieben Großbritannien
und Frankreich passiv. Dementsprechend lagen
sich die Truppen an der deutsch-französischen
Grenze im „Sitzkrieg“ oder „drole de guerre“
weitgehend friedlich gegenüber. Erst mit der
deutschen Offensive am 10. Mai 1940 endete
der „komische Krieg“. Der Operationsplan, der
im Kern eine Umgehung der stark befestigten
Maginotlinie unter Missachtung der nieder­
ländischen und belgischen Neutralität vorsah,
hatte zwei wichtige Effekte: Zunächst einmal
führte er dazu, dass Frankreich innerhalb von
sechs Wochen vollständig besiegt wurde.
Langfristig noch wichtiger war, dass dieser Sieg
den Nimbus Hitlers, der den Plan maßgeblich
unterstützt hatte, als „größten Feldherrn aller
Zeiten“ begründete.
Fast zeitgleich wie Frankreich wurden Dänemark
und Norwegen dem deutschen Machtbereich
einverleibt. Schweden konnte seine Neutralität
bewahren, allerdings – ähnlich wie die Schweiz –
um den Preis einer „wohlwollenden Neutralität“
gegenüber dem Deutschen Reich. Die geplante
Invasion Großbritanniens wurde jedoch aufge­
geben, nachdem die „Luftschlacht über England“
als faktische Niederlage des Deutschen Reiches
endete.
Da es den italienischen Verbündeten nicht gelang,
den südlichen Balkan, insbesondere Jugoslawien
und Griechenland, militärisch zu besiegen, wurde
auch hier die Wehrmacht eingesetzt. Seit April
1941 lebten beide Länder unter deutscher Besat­
zung, gegen die sie sich nicht zuletzt durch
intensive Partisanentätigkeit zur Wehr setzten.
Dies war mit erheblichen Opfern verbunden,
auch gerade auf Seiten der Zivilbevölkerung,
die besonders unter den deutschen Vergeltungs­
aktionen litt.
Ebenfalls als reine Unterstützungsaktion für die
militärisch schwachen Italiener gedacht war
die Entsendung eines deutschen „Sperrverbandes“
nach Nordafrika Anfang 1941. Daraus entwickelte
sich das Deutsche Afrikakorps und schließlich
die Heeresgruppe Afrika.
Die wahrscheinlich schwerwiegendste Entschei­
dung Hitlers, der sich ab 1940 zunehmend in
alle militärischen Belange einmischte, war der
Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941. Auch
hier sollte, wie zuvor vor allem in Polen und
Frankreich, der „Blitzkrieg“ eine schnelle Ent­
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Ungeachtet verschiedener Einzeloperationen der
Wehrmacht waren die deutschen Streitkräfte
seit dieser Zeit in der Defensive. Dies galt auch
für die bis dahin militärisch so erfolgreichen
U-Boote. Den letzten Akt des Zweiten Weltkriegs
in Europa läuteten die Landung der Westalli­
ierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und die
zeitgleich begonnene Offensive der sowjetischen
Streitkräfte ein.
Endschleife Neckarstadion 1942: Eine hohe
Dichte von Uniformträgern zwischen
wenigen Zivilisten. Hohe Zäune und
hölzer­ner Wachturm im Hintergrund sind
zeittypische Attribute
scheidung zugunsten des Reiches herbeiführen.
Es kam jedoch ganz anders.
Am 7. Dezember 1941 überfiel Japan, neben
Italien einer der wenigen deutschen Verbün­
deten, die amerikanische Pazifikflotte in Pearl
Harbour. Damit wurden auch noch die USA
zum Kriegsteilnehmer, zumal das Deutsche
Reich von sich aus den bis dahin zögerlichen
USA den Krieg erklärte. So entwickelte sich
zwischen September 1939 und Ende 1941 ein
militärischer Regionalkonflikt zu einem echten
Weltkrieg.
Lange Zeit spielte sich der Krieg praktisch voll­
ständig außerhalb des Reichsgebiets ab, erst
mit der zunehmenden Luftüberlegenheit der Alli­
ierten änderte sich ab 1942/43 die Situation.
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Seither wurden aus den bis dahin vereinzelten
Luft­angriffen der Briten und Amerikaner regel­
mäßige Bombardements auf strategische und
zunehmend auch auf zivile Ziele.
Auch in der Landkriegsführung brachte diese Zeit
eine entscheidende Wende auf dem europäischen
Kriegsschauplatz: Im Februar 1943 kapitulierte
in Stalingrad erstmals eine vollständige deutsche
Armee, die sechste, einschließlich rumänischer
und italienischer Verbände, vor den sowjetischen
Truppen. Bereits im Mai 1943 kapitulierte die
deutsch-italienische Heeresgruppe Afrika in
Tunesien vor den Briten und US-Amerikanern.
Kurz danach kündigte Italien, das inzwischen
Mussolini gestürzt hatte, das Bündnis mit dem
Reich und wechselte ins alliierte Lager.
Von da an dauerte es noch fast ein Jahr, bis
im Mai 1945 das Deutsche Reich bedingungslos
kapitulierte. In dieser Zeit starben deutlich
mehr Soldaten und Zivilisten als in den Vorjahren.
Die Bilanz dieses von Deutschland und Japan
bewusst ausgelösten und buchstäblich bis
zum Ende geführten Krieges war schrecklich:
Insgesamt verloren rund 50 Millionen Menschen
ihr Leben, darunter waren allein etwa sechs
Millionen europäische Juden, die Opfer der
deutschen „Rassenpolitik“ wurden. Etwa 20
Millionen Menschen verloren ihre Heimat,
davon die meisten Deutsche, aber auch viele
andere wie z. B. Polen.
Viele besetzte Länder hatten nicht nur unter der
Ausplünderung durch die deutsche Besatzung
und die Akquisition von Zwangsarbeitern zu
leiden, sondern auch unter Kriegszerstörungen.
Polen, Griechenland und die UdSSR sind nur
einige Beispiele.
Mehr oder weniger zerstört waren auch viele
größere und kleinere Städte: Was die deutsche
Luftwaffe in Rotterdam und Coventry 1940
begonnen hatte, wurde in Hamburg und Dresden
9
Links | Ein Straßenbahner sammelt für das Winterhilfs­
werk (WHW). Dies war keine Erfindung der Nazis, wurde
aber ab 1933 besonders öffentlichkeitswirksam eingesetzt
und die „Spenden“ letztlich zwangsweise eingetrieben.
Unter der Hand wurde die Abkürzung auch als „Wir hun­
gern weiter“ gedeutet.
Rechts | Schon zu Friedenszeiten, ab 1911/12, gab es den
Marktverkehr von den fruchtbaren Äckern und Wiesen der
damals selbständigen Gemeinde Wangen zur Stuttgarter
Innenstadt und Markthalle
Entwicklung der gewerblichen Wirtschaft in Stuttgart
um die Jahrhundertwende
Betriebe in Industrie, Bergbau und Baugewerbe
18827.104
18958.668
190710.273
durch die britische und die amerikanische Air­
force vollendet.
„Der Platz an der Sonne“*
Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg
Von diesen unmittelbaren Kriegsfolgen abgese­
hen war die nachhaltigste Wirkung des Zweiten
Weltkriegs wohl die Teilung der Welt, Europas
und Deutschlands in Ost und West. Erst mit
den Umbrüchen der Jahre 1989/90 konnte diese
Kriegsfolge überwunden werden.
Auch für die SSB war die Zeit vor 1914 ein „Platz
an der Sonne“. Das damals noch mehrheitlich
in privater Hand befindliche Unternehmen ex­
pandierte und profitierte dabei von der allge­
meinen Entwicklung in Stuttgart. Sichtbarstes
Zeichen dieser Entwicklung war der Aufbau
eines Vorortstraßenbahnnetzes ab 1908/09.
Damit erhielten nach dem bis 1905 noch selb­
ständigen Cannstatt, das seit 1898 über eine
Straßenbahn verfügte, auch eine Reihe anderer
Vororte eine Anbindung an das damals hoch­
moderne Verkehrsmittel. Im Laufe weniger
Jahre bekamen Münster, Feuerbach und Zuffen­
hausen, 1909, sowie Wangen, Hedelfingen und
Untertürkheim, 1910, Kaltental im Jahr 1911
10
Zahl der
Beschäftigten
Beschäftigte
je Betrieb
22.645
39.202
74.263
3,19
4,52
7,23
und Botnang noch 1914 Straßenbahnanschluss.
Damit war es möglich, dass Menschen aus
diesen teilweise noch dörflichen Gemeinden
ohne Umzuziehen oder lange Wegezeiten in
Kauf nehmen zu müssen, in Stuttgart arbeiten
konnten. Diese Möglichkeit entlastete überdies
den traditionell stark angespannten Wohnungs­
markt der Haupt- und Residenzstadt Stuttgart.
Umgekehrt konnten auch stark industrialisierte
Vororte wie z. B. Feuerbach und Zuffenhausen
leichter auf das Arbeitskräftepotenzial im
gesamten Raum Stuttgart zugreifen. Hinzu kam
die Möglichkeit, Güter nach Stuttgart zu beför­
dern, was die SSB mit ihrem Marktverkehr seit
1911 unterstützte.
*Bernhard v. Bülow, deutscher Außenminister (1897), zur
Rechtfertigung deutscher Kolonialpläne
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Die Nachbarstadt Esslingen nutzte 1912 die
Gelegenheit, um eine eigene städtische Straßen­
bahn zu gründen, die einen direkten Anschluss
an den großen Nachbarn hatte und durch­
gehenden Betrieb vom Schlossplatz in Stutt­gart
bis nach Oberesslingen bot. Die bis dahin
dampfbetriebene Filderbahn, einschließlich der
dazugehörigen „Zacke“, wurde schon kurz nach
der Jahrhundertwende ausgebaut und vor allem
durch die Elektrifizierung grundlegend moder­
nisiert. Damit war aus der ländlichen „Bimmel­
bahn“ praktisch eine moderne Überlandstraßen­
bahn geworden, zumal am Bopser seit dem Bau
der Neue-Weinsteige-Linie 1904 eine direkte
Umsteigemöglichkeit auf das Stadtnetz der SSB
bestand.
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Der erste Weltkrieg und die SSB
Zwar gab es bei Straßenbahnbetrieben kriegs­
bedingte Besonderheiten und Anforderungen,
wie noch gezeigt werden wird. Aber anders als
in der Industrie gab es bei Straßenbahnbetrieben
keine „Kriegsproduktion“ und „Kriegswirtschaft“
im eigentlichen Sinne. Insofern sind grund­
legende betriebliche Daten und Sachverhalte
in Friedens- und Kriegszeiten zunächst einmal
vergleichbar. Allerdings war ab einem gewissen
Zeitpunkt kaum mehr von einem „normalen“
Betrieb zu sprechen, zu stark waren die materiellen
und personellen Engpässe. In jedem Fall jedoch
war der Erste Weltkrieg auch für die SSB eine
völlig neue Herausforderung, deren Auswir­
kungen zuvor sicher niemand hatte abschätzen
können.
Die Materialschlachten an der Maas, in Verdun
und anderswo im Westen wirkten bis weit hinein
in die „Heimatfront“.
Der „normale“ Betrieb im Ersten Weltkrieg
Die nüchternen Zahlen der Verkehrsleistungen
der SSB während des Ersten Weltkriegs, mit dem
letzten Friedensjahr 1913 als Bezugspunkt, sind
bei näherer Betrachtung sehr aufschlussreich.
Betrachtet man zunächst die Zahl der beförderten
Personen, zeigt sich ein erster Sprung in den
Anstiegen von 1915 zu 1916, diese Dynamik
nimmt in den Folgejahren deutlich zu. Die
annähernde Verdoppelung der Fahrgastzahlen
zwischen dem „Boomjahr“ 1913 und 1916 wird
mit dem fast unveränderten Fahrzeugpark
11
der unter schwierigen Versorgungsbedingungen
von der Substanz zehrte.
Nicht zuletzt bei der Würdigung der Entwicklung
der Fahrgastzahlen muss man sich klar machen,
dass von einem „friedensmäßigen Betrieb“ keine
Rede sein konnte. Immer wieder mussten Linien
ganz oder teilweise eingestellt werden, um
Kapazitäten freizumachen, die an anderer Stelle
dringender gebraucht wurden. Insofern haben die
An- und Ausführungszeichen in der Überschrift
ihren guten Grund.
Wirtschaftliche Situation
Links | Wagenführer und Schaffnerin: An
ein solches Gespann auch nur zu denken,
hätte einen gestandenen Straßenbahner
noch 1913 wohl sein Tabakspfeifchen
verschlucken lassen. Schon wenig später war
diese Kombination aber auch in Stuttgart
unverzichtbar, wie hier vor dem „Vierer“ am
Hölderlinplatz
Rechts | Für noch größere Marktkarren,
fast schon richtige Gespanne, dienten die
Flachwagen mit stirnseitiger Rampe
bewerkstelligt. Noch drastischer bilden die
gefahrenen Wagenkilometer die betriebliche
Situation ab: Sie waren 1915 und 1916 gegenüber
den beiden Vorjahren sogar rückläufig und
erreichten erst 1917 wieder den Stand von 1913,
allerdings bei einem mehr als eineinhalbfachen
Fahrgastaufkommen.
Bef. Pers. Wagen-km Trieb- Bei- Personal
(in Mio.) (in Mio.)
wagen wagen
1913122,5 14,851
1914135,5 14,999
1915145,0 13,811 1916158,0 13,960
1917180,0 14,851
1918187,0 15,445
12
267 171 1.642
2751881.650
2751881.445
2751881.560
2751881.675
2751881.954
Sehr interessant ist auch die Entwicklung des
Personalbestands. Für 1915 spiegelt sich die
verstärkte Einziehung wehrfähiger Männer nach
den ersten verlustreichen Schlachten an der
Westfront. Ab 1916 wurden diese Personalverluste
durch die verstärkte Einstellung von Frauen
und älteren Männern kompensiert. Der hohe
Personalbestand von 1918 dürfte allerdings
auch darauf zurückzuführen sein, dass entlassene
Soldaten wieder an ihre Arbeitsplätze zurück­
kehrten. Sie verdrängten zunehmend die Frauen
aus dem Betrieb. Durch die Einführung des
Acht-Stunden-Arbeitstags ab November 1918
und möglicherweise auch durch den zunehmenden
Anteil schlecht ausgebildeter Arbeitskräfte
stieg der Personalbedarf weiter. Insgesamt zeigt
sich in diesen wenigen Zahlenangaben das
Bild eines enorm stark belasteten Verkehrsbetriebs,
Eine Übersicht über die wirtschaftliche Lage
der SSB während des Ersten Weltkriegs gibt
eine Zusammenstellung der Betriebseinnahmen
und der Betriebsausgaben sowie der Erträge.
Dabei sind den Kriegsjahren 1914 bis 1918 drei
Friedens­jahre zum Vergleich vorangestellt, um
die anderen Zahlen verständlicher zu machen:
1908 war der Bau des innerstädtischen Straßen­
bahnnetzes ebenso abgeschlossen, wie die teure
und aufwändige Elektrifizierung. Bei den Jahren
1910 und 1913 schlägt hingegen der Aufbau
des Vorortsnetzes zu Buche, einschließlich der
damit verbundenen Fahrzeugbeschaffung. Die
Geldbeträge sind auf 1.000 Mark gerundet, bei
der Ermittlung des prozentualen Anteils wurden
die genauen Zahlenwerte herangezogen.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Wachstum, Fortschritt, Rationalisierung auch im Marktwarenverkehr: Die Platt­
formwagen mit Klapprampe waren der nächste Schritt. Jetzt konnten die Markthändler
ihren kompletten Verkaufskarren mitführen und auf ihm noch weitere Ware auftürmen
Rechts | Noch 1918 baute die SSB nochmals zwei Gütertriebwagen. Einer davon, Nummer 124,
ist am Westbahnhof mit Lebensmitteln beladen worden. Jetzt wird er hinab in die Stadt rollen
1908
1910
1913
1914
1915
1916
1917
1918
Betriebs- Betriebs- Ertrag* Anteil des Ertrags
einnahmen*Ausgaben*
an den Einnahmen
2,751
3,510
4,919
4,961
4,816
5,634
7,276
9,767
2,047
2,507
4,102
4,285
3,976
4,348
5,124
7,817
0,580
0,638
0,640
0,514
0,540
0,849
0,953
0,856
21,1 %
18,2 %
13,0 %
10,4 %
11,2 %
15,1 %
13,1 %
8,8 %
* in Mio. Reichsmark
Eine dritte tabellarische Übersicht differenziert
die Betriebseinnahmen und bringt sie in Bezug zu
den von der SSB erbrachten Verkehrsleistungen.
Dabei werden die gleichen Bezugsjahre gewählt
wie bei der vorhergehenden Tabelle.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Die in Klammern gesetzten Indizes mit dem
Bezugsjahr 1913, dem letzten vollständigen
Friedensjahr, zeigen die Entwicklung der Ein­
nahmen bezogen auf Fahrgäste und Wagen­
kilometer. Für beide Tabellenspalten spielen,
vor allem was die Betriebseinnahmen angeht,
natürlich die Beförderungszahlen bei der SSB
eine entscheidende Rolle.
Beim Vergleich der bis 1917 rückläufigen Ein­
nahmen je Fahrgast, nicht zuletzt wegen des auf
die Hälfte des Normalfahrpreises vergünstigten
Militärtarifs, und der kontinuierlich steigenden
Einnahmen je Wagenkilometer wird dies be­
sonders deutlich: Im letzten Kriegsjahr sind die
Einnahmen je Wagenkilometer fast doppelt so
groß wie 1913, bei fast gleichen Einnahmen je
Fahrgast.
Einnahmen je beförderte Person
Einnahmen
nach Wagen-km
1908
1910
1913
1914
1915
1916
1917
1918
9,01 Pfennige (99 %)
9,44 Pfennige (104 %)
9,11 Pfennige *
8,86 Pfennige (97 %)
8,48 Pfennige (93 %)
8,71 Pfennige (96 %)
8,66 Pfennige (95 %)
9,74 Pfennige (107 %)
37,58 Pfennige (113 %)
38,86 Pfennige (117 %)
33,12 Pfennige *
33,13 Pfennige (100 %)
34,94 Pfennige (105 %)
40,22 Pfennige (121 %)
49,11 Pfennige (148 %)
63,04 Pfennige (190 %)
* Bezugsjahr
13
Links | Auf den Umladegleisen am West­
bahnhof, um 1916: Zivile Fracht ist per
Eisenbahn angekommen und wird mit
einem transportablen Aufzug auf einen
offenen Güterwagen der SSB umgeschlagen.
Im Hintergrund der stationäre Portalkran
Rechts | Zwischen West- und Nordbahn­
hof pendelt dieser Zweier. Für eine formalrespektable Dienstkleidung reicht es bei
dieser Schaffnerin offenbar nicht mehr.
Die Versorgungslage wurde ab Mitte des
Ersten Weltkriegs zunehmend prekär
aufgeschlagen und direkt abgeführt. Bei der
SSB führte das dazu, dass „der bei Kriegsaus­
bruch gültige Tarif, der seit 1899 in Kraft war,
[…] erstmals am 1. Juli 1918 erhöht werden
[musste]“, wie es im Rückblick des Jahres 1928
hieß. Konkret bedeutete dies, dass der Preis des
billigsten Einzelfahrscheins von 10 Pfennig
auf 15 Pfennig stieg. Diese durchaus beträchtliche
Tariferhöhung um 50 Prozent entsprach aber
keinesfalls den seit 1914 zunehmenden allge­
meinen Preissteigerungen.
Bei all diesen Zahlen ist zu beachten, dass es
sich um rein nominale Angaben handelt. Rech­
nete man die Preissteigerung von zirka 300
Prozent zwischen 1913 und 1918 mit ein, ergä­
be sich ein dramatisches Bild. Dabei würde klar,
dass der Erste Weltkrieg Verkehrsunternehmen
wie die SSB auch ohne materielle Kriegszerstö­
rungen ruinieren konnte und ruiniert hat.
Entsprechend den steigenden Lebenshaltungs­
kosten stiegen auch die Betriebskosten, dabei
spielten die Personalkosten eine herausragende
Rolle. Beim Vergleich der letzten Vorkriegsjah­
re mit dem Zeitraum 1914 bis 1918 zeigt sich
allerdings, dass der Anteil der Personalaufwen­
dungen an den Betriebskosten mit rund einem
Drittel konstant blieb.
14
Zu einer erheblichen Steigerung der Betriebs­
kosten führte die am 29. März 1917 vom Deut­
schen Reichstag verabschiedete und am 1. August
1917 in Kraft getretene Reichskohlensteuer.
Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen
belastete die Steuer sämtliche in- und auslän­
dischen Kohlenprodukte, die in Deutschland
verbraucht wurden, mit 20 Prozent des Waren­
werts. Da ein wesentlicher Teil des Stroms aus
Kohlekraftwerken kam und die Stromkosten
einen erheblichen Teil der Betriebsausgaben
ausmachten, war dieser Steuerzuschlag durchaus
spürbar.
Noch in den letzten Kriegsmonaten, am 1. Juli
1918, trat die Reichsverkehrssteuer in Kraft.
Sie war ebenfalls als Verbrauchssteuer angelegt
und wurde unmittelbar auf die Fahrscheine
Auch wenn dieses Ereignis nur sehr mittelbar
mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hat, sei es auf­
grund seiner Bedeutung für die Geschichte der
SSB doch genannt: Es geht um die faktische
Übernahme der SSB-Aktienmehrheit durch die
Stadt Stuttgart. 1918 verständigte sich die Hauptund Residenzstadt mit der Daimler Motoren­
gesellschaft und Bosch - und zwar Robert Bosch
persönlich - auf einen gemeinsamen Kauf aller
SSB-Aktien. Bisherige Eigentümerin war die
Gesellschaft für elektrische Unternehmungen –
kurz Gesfürel – in Berlin. Bei diesem Zusammen­
wirken von Kommune und Privatwirtschaft
handelte es sich praktisch um die Kommunali­
sierung der SSB, denn die Stadt Stuttgart
übernahm gegen eine feste Zinszusage das
alleinige Stimmrecht. Somit endete für die SSB
mit dem Ersten Weltkrieg nicht nur eine Epoche
wirtschaftlicher Prosperität, sondern auch der
Status als Privatunternehmen, ungeachtet der
Firmierung als Aktiengesellschaft.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Betriebsmittel
Anders als z. B. Belgien und Frankreich sowie
weite Teile Ost- und Südosteuropas war
Deutschland nicht unmittelbar vom Kriegs­
geschehen betroffen, dies galt natürlich auch
für Stuttgart. Insofern gab es auch keine
Zerstörungen von Fahrzeugen, Gleisanlagen
oder anderen Infrastruktureinrichtungen der
SSB. Dennoch wirkte sich der Krieg negativ auf
die Betriebsmittel der SSB und anderer öffent­
licher Verkehrsmittel aus, und zwar wegen des
Mangels an Material.
Dieser Mangel verhinderte nicht nur die Er­
weiterung des Streckennetzes im Bereich der
Stuttgarter Vororte und die Beschaffung neuer
Fahrzeuge zur Bewältigung des steigenden
Verkehrs. Auch reine Instandhaltung und der
Ersatz verschlissener Teile wurde zunehmend
schwieriger, denn es fehlte „an Material wie
Öl, Fett, Kupfer usw. Das vorhandene Kupfer“ –
vor allem für die Fahrleitungen – „mußte sogar
abgeliefert, eingebautes Kupfer mußte abmontiert
und durch Eisen ersetzt werden. So häuften
sich die Schwierigkeiten unseres Betriebs vier
Jahre lang immer mehr“, wie es ein Zeitzeuge
in der Betriebszeitschrift „Über Berg und Tal“
1937 schilderte.
Besonders drastisch wirkte sich der Material­
mangel während des Krieges bei der damals
noch nicht zur SSB gehörenden Zahnradbahn,
der „Zacke“, aus. Dort hatte die Westdeutsche
Eisenbahngesellschaft und ihre württember­
gische Tochterfirma Württembergische Neben­
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
bahngesellschaft – WN- nach der Übernahme
der Filderbahn den gesamten Betrieb grund­
legend saniert. Ins­besondere hatte die neue
Eigentümerin zwischen 1902 und 1904 das
gesamte Streckennetz und dabei auch die „Zacke“
auf elektrischen Betrieb umgestellt.
Mit dem zunehmenden Mangel an Betriebs­
stoffen und Ersatzteilen aus so genannten
„strategischen Rohstoffen“, wie z. B. Kupfer,
entschloss sich die WN zu einem drastischen
Schritt: An die Stelle der erst wenige Jahre
alten elektrischen Zahnradbahntriebwagen traten
noch im letzten Kriegsjahr 1918 gebraucht
beschaffte Zahnradbahndampfloks. Diese waren
nach der Elektrifizierung der schweizerischen
Brünigbahn entbehrlich geworden und standen
zum Verkauf. Trotz des Einsatzes wertvoller
Devisen war der Rückgriff auf Fahrzeuge, die
mit dem heimischen Rohstoff Kohle betrieben
wurden, offenbar die einzige Möglichkeit zur
Aufrechterhaltung des Betriebs.
Die Kombination aus fehlendem Material und
Fachkräftemangel zur Wartung und Pflege
bei gleichzeitiger Überlastung durch steigende
Transportleistungen war verheerend: Sämtliche
Betriebsmittel der Straßenbahn waren bei
Kriegsende stark abgewirtschaftet und dringend
erneuerungsbedürftig. Aber auch nach dem
Ende der Kampfhandlungen standen dafür die
erforderlichen Finanz- und Sachmittel nicht
zur Verfügung. Der Raubbau an Menschen und
Material sowie die immer mehr zunehmende
Geldentwertung zehrten jeglichen „Friedens­
bonus“ auf.
15
Elf Stück Plattformwagen für den Markt­
warenverkehr beschaffte die SSB zwischen
1914 und 1926, dazu kam später ein
gleichartiger Wagen der Esslinger Straßen­
bahn, der von dort ebenfalls bis ins Herz
Stuttgarts rollte. Abbildung aus Loercher,
in Elektrische Bahnen, Heft 1/1918
Bei der Filderbahn war der Zustand so schlecht,
dass sich die Eigentümerin WN gezwungen sah,
die gesamte Bahn zu verkaufen. Der größte Teil
des Netzes sowie der dazugehörigen Fahrzeuge
und Anlagen kam ins Eigentum der Stadt Stutt­
gart, ein kleinerer Teil in das der Deutschen
Reichsbahn.
Güterverkehre unter Kriegsbedingungen
In Stuttgart betrieb die SSB oder deren Tochter­
gesellschaft, die Stuttgarter Vorortstraßenbahnen
GmbH, schon seit 1911 einen Marktverkehr.
Dabei ging es um eine Erleichterung bei der
Versorgung der städtischen Märkte mit Obst,
Gemüse, Eiern und anderen verderblichen
Lebensmitteln. Es war eine Dienstleistung für
16
die Marktbeschicker aus den Vororten mit Stra­
ßenbahnanschluss.
Der 1916 eingeführte Güterverkehr war hin­
gegen kein Luxus, sondern den Bedingungen
einer unter immer knapper werdenden Res­
sourcen leidenden Kriegswirtschaft geschuldet.
Dieser Mangel bezog sich im Transportwesen
in geringerem Umfang auf die im zivilen Einsatz
ohnehin eher wenigen Lastkraftwagen. Sehr
viel schwerwiegender war der im Kriegsverlauf
immer größer werdende Mangel an Zugpferden.
Dabei ist zu bedenken, dass trotz des Einsatzes
moderner Technik im Ersten Weltkrieg wie in
den Jahrhunderten zuvor Pferde eine große
Rolle spielten. Zwar hatte die traditionelle
Kavallerie weitgehend ausgedient, aber beim
Ziehen von Geschützen, Nachschubfahrzeugen
oder Sanitätswagen waren die Tiere unverzicht­
bar. Millionenfach wurden sie ebenfalls Opfer
der Materialschlachten. Doch auch die in der
Heimat verbliebenen Pferde standen für zivile
Transporteinsätze nur bedingt zur Verfügung,
weil auch ihre Verpflegungsmöglichkeiten immer
schlechter wurden.
Insoweit bot sich der Einsatz von elektrischen
Straßenbahnen an, da die Stromerzeugung neben
Wasserkraft in erster Linie durch den heimi­
schen Rohstoff Kohle erfolgte. Dabei bezieht sich
„heimisch“ nicht auf das „revierferne“ Stuttgart,
sondern auf das Deutsche Reich insgesamt.
Dementsprechend weitverbreitet war der Straßen­
bahngüterverkehr: 1918 betrieben ihn 118
deutsche Straßenbahnbetriebe, 1914 hatten aller­
dings bereits 61 Unternehmen Güterverkehre.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Schon bevor 1914 die Stuttgarter Markthalle fer­
tiggestellt wurde, rollten die Marktwarenzüge mit ihrer
nahrhaften Fracht von Zuffenhausen, Botnang, Wangen
und Esslingen zum Marktplatz der Landeshauptstadt. Die
Verkäuferinnen konnten im Motorwagen mitfahren.
Diese Art der Lebensmittellogistik erklärt mit das Inter­
esse der Landeshauptstadt und der (damals noch priva­
ten) SSB an einer Anbindung der damals überwiegend
eigenständigen Randgemeinden um Stuttgart. Die rasch
wachsende Zentral­stadt war schlicht immer mehr auf die
Zufuhr aus den umliegenden Anbaufläche angewiesen,
nachdem diese im Talkessel zunehmend überbaut wurden.
Rechts | In der Straßenbahnwelt Stuttgart ist heute einer
der einstigen Marktwagen, Nummer 2051, Baujahr 1914,
erhalten und demonstriert mit (künstlichem) Gemüse sei­
nen einstigen Gebrauchszweck.
Transportiert wurden bei der SSB alle anfal­len­den
Massengüter. Dazu zählten Brenn­material, vor
allem Kohle, Lebensmittel, wie z. B. Kartoffeln
oder die „berüchtigten“ Steck­rüben ebenso wie
Baustoffe, insbesondere Sand und Kies.
Um diese Leistungen erbringen zu können,
musste die SSB sowohl ihre Infrastruktur als
auch ihren Fahrzeugpark entsprechend ergänzen.
Da es außer dem Marktverkehr bislang keine
Warenverkehre bei der SSB gab, mussten Be- und
Entladegleise neu gebaut werden. Zum einen
war dies für den Übergang von der Eisenbahn
auf die Straßenbahn erforderlich, zum anderen,
um die Feinverteilung der Waren im Stadtgebiet
durchzuführen. Neben dem Hauptgüterbahn­
hof Stuttgart wurden beispielsweise auch am
Westbahnhof Umladeeinrichtungen bzw. Straßen­
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
bahnanschlüsse neu gebaut. Außer der SSB
erstellten auch größere Industriebetriebe auf
eigene Kosten Anschlussgleise für den Güter­
transport mit der Straßenbahn. 1917 drängte
die Militärverwaltung auf eine Ausweitung
des Güterverkehrs, weshalb auch am Bahnhof
Cannstatt eine Umladestation errichtet werden
sollte. Hier weigerte sich die SSB allerdings,
die Kosten zu übernehmen, diese sollten „von
den am Transport Beteiligten getragen werden“.
Was die Fahrzeuge betrifft, so wurde zunächst
ein offener Gütertriebwagen selbst gebaut.
Aus altbrauchbaren Untergestellen wurden
Hochbord­güterwagen, was den geringen Anfor­
derungen des vorgesehenen Ladeguts entsprach
und den Transport sehr effizient machte. Die
Zahl dieser Fahrzeuge nahm bis Kriegsende
deutlich zu. In den Jahren 1916 und 1917
waren es ein Gütertriebwagen und acht Güter­
beiwagen, 1918 waren es drei Trieb- und 16
Beiwagen. In diesem Jahr transportierte die SSB
mit 200.000 Wagenkilometern 55.000 Tonnen
an Gütern.
Kriegsende und die Folgen
Ebenso wie im gesamten Reich war auch in
Württemberg das Kriegsende im November 1918
gleichbedeutend mit dem Ende der Monarchie.
Die „Haupt- und Residenzstadt“ Stutt­gart war
davon naturgemäß in besonderer Weise betroffen.
Trotz der schon vor dem Krieg abnehmenden
Bedeutung des königlichen Hofes spielte er
17
Links | 1915 ließ die SSB zwei Verwundetenwagen für den Liegendentransport bauen.
Das Gleiten auf glatten Schienen war für die Schwerverletzten sicherlich um Klassen
angenehmer als das Geholper auf dem Katzenkopfpflaster. Dennoch werden die
Wagenbegleiter manchem ihrer Schutzbefohlenen die Augen für immer zugedrückt
haben, weil diese eines der Krankenhäuser oder Lazarette in der Stadt nicht mehr lebend
erreichten. Das Bild zeigt eine Überstellung vom Westbahnhof zum Marienhospital
gleichwohl noch eine Rolle und gab der Stadt
ein repräsentatives Gepräge. Abgesehen vom
deutlich nüchternen Selbstverständnis von
Republiken im Allgemeinen und der Weimarer
Republik im Besonderen fehlten nach 1918
schlicht die Mittel zur Repräsentation. Mehr
als vier Jahre „totaler Krieg“, dieser Begriff
entstammt dem Ersten Weltkrieg, hatten nicht
nur rund 20 Millionen Tote und noch viel mehr
Verwundete gefordert, sie hatten die kriegfüh­
renden Länder Europas auch arm gemacht. Der
„Freistaat Württemberg“ und seine Hauptstadt
Stuttgart bildeten dabei keine Ausnahme. Ganz
im Gegenteil war es gerade die schon damals
sehr stark exportorientierte Stuttgarter Industrie,
die unter der militärischen Niederlage besonders
zu leiden hatte und mit ihr die dort beschäf­
tigten Menschen. Die Siegermächte der Entente
18
Rechts | Für die Verladung der Tragbahren in normale Beiwagen des Personenverkehrs
umgebaut. Diese Transportweise erwies sich aber als umständlich, personalaufwändig
und für den Kranken auch nicht gerade als schonend. In Ostheim wurde für den Foto­
graf diese Szene vermutlich gestellt
schlossen ihre Märkte für deutsche Waren,
enteigneten dauerhaft Produktionsstätten und
Patentrechte in ihren Ländern. Von beidem
waren auch die schon damals für Stuttgart
überragend bedeutenden Firmen Bosch und
Daimler betroffen.
Aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar sind
die Massen an schwerkriegsbeschädigten, zwangs­
läufig jüngeren Männern. Sie waren bein- oder
armamputiert, blind, dauerhaft von Giftgas ge­
schädigt oder nachhaltig trauma­tisiert, und nicht
selten hatten sie mehrere dieser schrecklichen
Verwundungen. Abgesehen von den damit verbun­­
denen Einzelschicksalen standen damit hunder­
tausende Menschen für den wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Aufbau der Nachkriegs­jahre
nicht mehr oder nur eingeschränkt zur Verfügung.
Die Kriegsversehrten, die überall in den Städten
und Gemeinden sichtbar gegenwärtig waren,
verkörperten nicht nur buchstäblich die militä­
rische Niederlage des Reiches.
Darüber hinaus wurden die „Kriegskrüppel“ auch
als eine Art Symbol für den Zustand der neuen
deutschen Republik betrachtet und z. B. auch in
der Kunst so dargestellt.
Nachkriegszeit im Zeichen von Milliarden
Eine vor allem für die Bezieher von Löhnen,
Gehältern, Renten und Pensionen entsetzliche
Kriegsfolge war die Inflation. Sie hatte bereits
mit Kriegsbeginn eingesetzt und sich bis Ende
1918 weiter gesteigert, weil die steigenden
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Ab 1924 erhielten neu beschaffte Wagen
der SSB erstmals den gelb-schwarzen
„städtischen“ Anstrich, um die relativ
neue kommunale Zugehörigkeit des vor­
mals privaten Verkehrsunternehmens zu
betonen. Albert Sauer (1902 – 1937) mal­
te im Augst 1923 – mitten in der Phase
der Hyperinflation – diese Szene mit
einem Triebwagen aus der allerersten Zeit
der Elektrifizierung des Stuttgarter Net­
zes von 1895. Deshalb zeigt der Wagen
die bis 1924 bei der SSB übliche Farbge­
bung blau-weiß. Für einen Laib Brot
musste man zu dieser Zeit in Deutschland
etwa 500 000 Mark zahlen
Kriegskosten durch eine beschleunigte Tätigkeit
der Notenpressen bezahlt wurden. Bei Kriegsende
entsprach der reale Wert der deutschen Währung
nur noch rund 30 Prozent des Vorkriegsstandes.
Jedoch war die Inflation der Kriegsjahre nur
ein leichter Vorgeschmack dessen, was in den
folgenden Jahren auf die Menschen in Deutsch­
land zukommen sollte. Ursächlich war auch hier
das Handeln der deutschen Notenbank. Um die
Reparationen für die Siegermächte bezahlen zu
können, blieb nur die Herstellung von Papier­
geld. Dabei entsprach diese Geldvermehrung in
keiner Weise der Wirtschaftskraft der jungen
Weimarer Republik: Das Geld war bald praktisch
wertlos.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Im Rückblick von fast vier Jahrzehnten, im März
1957, hat der langjährige Technische Vorstand
der SSB, Paul Loercher, die Auswirkungen der
Inflation auf die SSB-Tarife geschildert:
„Der Preis für den ersten Einzelfahrschein betrug
bis zum Jahr 1919 15 Pf und mußte am 15. April
desselben Jahres auf 20 Pf und im August auf
25 Pf erhöht werden. Im folgenden Jahr trat eine
4malige Steigerung auf 55 Pf ein und im Jahr
1921 eine 3malige auf 1,50 Reichsmark (RM).
Das nächste Jahr brachte es auf 16 Erhöhungen,
bis auf 60 RM und im Jahr 1923 folgten 40
Erhöhungen bis zuletzt auf 35 Milliarden Mark.
Am Ende dieses Jahres wurden alle 3 bis 4 Tage
die Tarife erhöht. Diese sprunghaften Maßnah­
men fanden ihr Ende am 17. November 1923,
an welchem Tag für den Einzelfahrschein 10
Goldpfennig gefordert wurden.“
Diese knappe Schilderung eines damals verant­
wortlichen Zeitzeugen bedarf wohl keiner wei­
teren Kommentierung und verdeutlicht in kon­
kreten Zahlen den Begriff der „galoppierenden
Inflation“. Die Menschen reagierten darauf,
indem sie so weit wie möglich und vor allem
so schnell wie möglich Geld in Sachwerte oder
Devisen tauschten.
Wer konnte, legte das Geld in Immobilien an,
was in den frühen 1920er Jahren einen Bau­
boom auslöste. Auch die SSB baute z. B. ihren
Betriebshof in Ostheim in dieser Zeit um.
19
20
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Linke Seite | Mitten im Ersten Weltkrieg
erstellte die SSB am Stuttgarter West­
bahnhof Umladegleise für den Güterum­
schlag. Sie schlossen an die damals noch
eingleisige, später zweigleisige Strecke
Westbahnhof – Bismarckeiche/Charlot­
tenbuche an, heute besser bekannt als
Birkenkopf. Eine Ausweiche dieser Strecke
lag – links im Plan zu erkennen – direkt
über dem Tunnelportal der Gäubahn am
Hasenberg (die Gleise der Gäubahn sind
nicht dargestellt). In der Notzeit nach
dem Krieg bezahlte die Stadt Stuttgart
den Bau eines weiteren Gleises (gelb dar­
gestellt - links unterhalb der Bildmitte),
das über eine kleine Drehscheibe erreich­
bar war. Daher datiert dieser Plan vom
Herbst 1921
Diese Seite links | 1915 beschaffte die
SSB beim damaligen Hauslieferant Her­
brand & Co., Köln, zwei „Verwundetenbei­
wagen“, welche die Nummern 5 und 6
erhielten. Zur Schonung der „Fahrgäste“ –
und wohl auch des Gemüts zufälliger
Betrachter - besaßen diese Wagen einen
Aufbau mit Zeltdach und seitlichen Pla­
nen. Nach dem Krieg ließen sich diese
Wagen gut für den Marktverkehr nutzen.
Diese Transportaufgabe ging mit dem
Aufkommen des Lkw aber bis auf weite­
res verloren. Die beiden Wagen schieden
daher 1926 schon wieder aus
Diese Seite rechts | Probeweise hängte
man die Tragbahren in den Personen­
beiwagen auf, damit die Kranken mög­
lichst wenig durchgeschüttelt wurden.
Dieses Verfahren erwies sich aber als zu
umständlich, schon wegen des Passierens
der engen Stirntüren
Verwundetentransporte im Ersten Weltkrieg
Ganz unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen
hängen die Verwundetentransporte zusammen,
welche die Straßenbahn während des gesamten
Ersten Weltkriegs durchführte. Dank des in den
Friedensjahren bis 1913 entstandenen dichten
Straßenbahnnetzes war es möglich, die im ge­
samten Stadtgebiet eingerichteten Lazarette und
Hilfslazarette vom Stuttgarter Hauptbahnhof
aus zu erreichen. Zur Verwundetenversorgung
wurden in der Regel nicht nur Krankenhäuser
genutzt, sondern vor allem auch andere geeignete
Gebäude wie z. B. Schulen, Turnhallen oder
Festsäle.
Die Straßenbahn bildete während des Ersten
Weltkriegs vielfach das letzte Glied einer langen
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Transportkette, die von der unmittelbaren
Frontlinie über die Etappe bis ins Hinterland
führte. Im Falle Stuttgarts dürfte es sich in
allererster Linie um Verwundete der Westfront
gehandelt haben, aufgrund der Schwerpunkte
der Kampfhandlungen vor allem aus Flandern
und Ostfrankreich. Auch wenn davon auszuge­
hen ist, dass nur diejenigen Verwundeten ins
Hinterland gebracht wurden, die transportfähig
waren, handelte es sich doch stets um Schwer­
verletzte. Leichtere Verletzungen wurden in
der Regel relativ nah bei dem Kampfgebiet be­
handelt, um die genesenen Soldaten möglichst
schnell wieder einsetzen zu können.
Insofern konfrontierten die Verwundetentrans­
porte der SSB relativ große Teile der Stuttgarter
Bevölkerung mit den schrecklichen Folgen des
räumlich so weit entfernten Krieges. Ein Zeit­
zeuge, der als Straßenbahner ganz offenbar an
den Verwundetentransporten beteiligt war, be­
schreibt es 1937 in der SSB-Betriebszeitschrift
„Über Berg und Tal“ folgendermaßen: „Oft
führten wir halbe und ganze Nächte hindurch
Verwundete von dem in der Kronenstraße für
diesen Zweck eingelegten Gleis aus in die Laza­
rette nach verschiedenen Stadtteilen. Man
konnte oft erschütternde Bilder sehen und ich
mußte manchmal Tränen verbeißen.“
Wie den zeitgenössischen Fotos zu entnehmen
ist, wurden für den Verwundetentransport
sowohl Personenwagen benutzt, als auch Flach­
wagen, wie sie die SSB insbesondere für den
Marktverkehr vorhielt. Bei den Personenwagen
ersetzte man für den Einsatz als Verwundeten­
21
transporter die Sitzbänke durch Halterungen für
Krankentragen. Bei den Flachwagen wurden die
Tragen direkt auf den niedrigen Wagenboden
gestellt. Zum Schutz vor Witterungseinflüssen,
vor allem Regen und Schnee, wurden diese
Wagen mit flachen Planen ausgestattet. Inwieweit
hier auch die Überlegung eine Rolle spielt,
die vielfach sichtbar von ihren Kriegsverwun­
dungen gezeichneten Männer abzuschirmen, ist
Spekulation.
Die vermeintlich bequemeren Personenwagen
waren für Verwundetentransporte eher ungeeig­
net, weil die Enge der Fahrzeuge die Arbeit der
Sanitäter erschwerte. Auch war damit sicher
mancher Schmerz für die auf den Tragen lie­
genden Verwundeten verbunden. Demgegenüber
waren die Flachwagen für diese Zwecke wesent­
lich besser geeignet, auch wenn es sich um
Güterwagen handelte. Daher war der Einsatz von
Flachwagen später die Regel beim Verwundeten­
transport, bei Kriegsende 1918 waren statt der
ursprünglichen zwei schließlich acht solcher
Wagen im Fahrzeugbestand. Möglicherweise
handelt es sich bei den Darstellungen mit den
umgebauten Personenwagen sogar nur um reine
Übungs- bzw. Versuchsfahrzeuge, die für den
„echten“ Einsatz gar nicht verwendet wurden.
Schriftlich überliefert ist jedenfalls, dass die
zuständigen Ärzte häufig die Flachwagen an­
forderten, da sie die ursprünglich vorgesehenen
Personenwagen offenbar für weniger geeignet
hielten.
Für die primäre Verwendung der Flachwagen
sprach außerdem die ab 1916 sprunghaft
22
steigende Zahl von Fahrgästen, ohne dass in
nennenswerter Zahl neue Wagen beschafft wer­
den konnten. Dabei ist allerdings zu beachten,
dass auch der Marktverkehr der SSB, für den
die Flachwagen ursprünglich beschafft worden
waren, während des Krieges stark zunahm, da
Gespanne für den Kriegseinsatz requiriert wurden.
Eine Mehrfachnutzung der Flachwagen erscheint
aber insoweit möglich, als die Marktverkehre
hauptsächlich in den frühen Morgenstunden in
Richtung der Innenstadt abgewickelt wurden
und die Wagen für diese Dienste nicht über den
gesamten Tag gebunden waren. Wegen der
Auslastung der Waggonfabriken mit Rüstungs­
aufträgen erbaute die SSB einen großen Teil
der Wagen selbst. Neben diesen Neubauten
behalf man sich für den Marktverkehr, der in
den Kriegsjahren ebenfalls anstieg, auch mit
gebrauchtem Wagenmaterial, das z. B. von der
Oberrheinischen Eisenbahn-Gesellschaft ange­
kauft und entsprechend den Betriebsverhältnis­
sen der SSB angepasst wurde. So konnten die
Flachwagen für die Verwundententransporte
freigesetzt werden.
In der Erinnerung des damaligen SSB-Direktors
Loercher, dargelegt in einem Jubiläumsband
zum 60-jährigen Bestehen des Unternehmens
1928, liest sich der Einsatz für den Verwunde­
tentransport so:
„Sofort nach Kriegsausbruch wurden auf
Verlangen der Heeresverwaltung Vorbereitungen
für die Beförderung Kriegsverwundeter vom
Hauptbahnhof“ [damals noch an der heutigen
Bolzstraße] „nach den Krankenhäusern getroffen
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Seite 22 und 23: Eine buchstäblich doppel­
bödige Sache waren die ersten beiden
Marktwagen von 1911/12 von Herbrand
mit den SSB-Nummern 1 und 2, ab 1928
dann 2041/42 genannt und ab 1934 als
2086/87 verzeichnet. Die Bodenetage
diente voluminösen Marktbehältnissen,
die obere Ebene mochten Körbe mit
kleinteiligen empfindlichen Erzeugnissen
wie Obst und Beeren füllen. Wagen 2086
verbrannte 1944, sein Kompagnon diente
bis 1957 dem Gleisbau
Unten | Vermutlich auf der Rückfahrt
nach Gaisburg mit den leeren Transport­
behältnissen und Marktkarren ist diese
Fuhre verewigt worden. Als Einsatzwagen –
daher die „Linien“kennzeichnung „E“ – dient
einer der von Herbrand zwischen 1908
und 1910 erbauten rund 20 Motorwagen
und hierfür Anschlußgleise in der Kronenstraße
sowie an mehreren Stellen der Stadt gelegt und
für den Transport geeignete Wagen erbaut. In
vielen Zügen und zu allen Tageszeiten führte
die Straßenbahn die Transporte aus, und es
war möglich, diese mit größerer Schonung der
Insassen zu bewirken, als es manchmal mit den
Autos geschah.“
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
23
Einer der markantesten Punkte im SSBNetz: das obere Ende der Königstraße am
Wilhelmsbau. Die Beflaggung verweist auf
das Deutsche Turnfest im Sommer 1933.
Motorwagen 429 entstammt der 1925
beschafften Serie von 30 gleichartigen
Wagen, ist also erst acht Jahre alt. Solche
Fahrzeuge bestimmten damals das Erschei­
nungsbild der SSB
„Gute braune Zeit“
Die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg
Als der damalige Reichspräsident von Hindenburg
den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, am 30.
Januar 1933 zum Reichskanzler einer Koalitions­
regierung mit dem Vizekanzler Franz von Papen,
vordem Mitglied des Zentrums ernannte, hatte
dies auch für Stuttgart unmittelbare Folgen.
Auf der kommunalpolitischen Ebene wurde der
Gemeinde­rat und die Stadtverwaltung „gleich­
geschaltet“. Zug um Zug wurden die anderen
Parteien verboten oder von der Selbstauflösung
„überzeugt“. Etliche Vertreter der von den Nazis
so bezeichneten „Systemzeit“, also der Weimarer
Republik, kamen in Polizeigewahrsam oder in
sogenannte Schutzhaft, d. h. eine willkürliche
Inhaftierung ohne zeitliche Begrenzung und
ohne Gerichtsverfahren. Das wohl prominenteste
Stuttgarter Opfer dieses Terrors war der württem­
bergische Staatspräsident Eugen Bolz.
Der seit 1911 amtierende Oberbürgermeister Karl
Lautenschlager, der während seiner Dienstzeit
maßgeblichen Anteil am allgemeinen Aufschwung
der Stadt hatte, trat kurz nach der „Machter­
greifung“ am 9. Mai 1933 von seinem Amt zurück.
Dabei wurde der hoch angesehene Lautenschlager
nicht einfach abgesetzt. Vielmehr konnte man
den Oberbürgermeister, der wenige Monate später
altershalber hätte ausscheiden müssen, zu einem
früheren Amtsverzicht bewegen. An seine Stelle
trat mit Karl Strölin ein altgedientes NSDAPMitglied, das 1931 erfolglos gegen Lautenschlager
als OB-Kandidat angetreten war. Anders als in
vielen anderen Städten wurde der frühere Ober­
24
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Ebenfalls ein Stimmungsbild aus der Zeit
des Turnfestes 1933. Noch tritt das Haken­
kreuzsymbol eher zurückhaltend in
Erscheinung. Der „Schupo“ (Schutzpolizist)
ganz rechts, mit Pickelhaube als
Dienst“mütze“, bemüht sich um die Rege­
lung des „brodelnden“ Straßenverkehrs am
Hauptbahnhof. Der Autoverkehr wurde
seinerzeit an solchen Stellen durchaus als
„Notzustand“ und „Katastrophe“ empfun­
den. Städte waren damals noch weniger
als heute für den massenhaften Autover­
kehr gemacht – Mobilität fand effektiv
vor allem per Straßenbahn statt
bürgermeister nach dessen Amtszeit mit einem
gewissen Respekt behandelt. Lautenschlager be­
hielt sogar noch das Ehrenamt des Vorsitzenden
des Aufsichtsrats der SSB.
Obwohl Strölin ganz sicher kein „guter Nazi“ war,
hatte er gegenüber vielen seiner Amtskollegen,
die mit der „nationalen Revolution“ Bürgermeister
oder Oberbürgermeister wurden, einen Vorzug:
Er war schon vor 1933 in der Stuttgarter Stadt­
verwaltung tätig und hatte als studierter Rechtsund Staatswissenschaftler auch eine einschlägig
qualifizierte Berufsausbildung.
Was die Einwohnerzahlen angeht, so zeigt die
nachfolgende Übersicht über einige wenige
Jahre, dass die Bevölkerung Stuttgarts auch
in den 1930er Jahren kontinuierlich und recht
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
massiv zunahm. Die Gegenüberstellung von
Einwohnerzahl und Gemarkungsgröße zeigt
jedoch auch, dass ein großer Teil des Zuwachses
durch Eingemeindungen erreicht wurde, einige
davon schon vor 1933. In den ersten Jahren
nach der nationalsozialistischen Regierungs­
übernahme wurden schon 1933 Feuerbach,
Mühlhausen und Zazenhausen mit zusammen
25.700 Einwohnern eingemeindet. 1937 kamen
7.500 weitere „Neu-Stuttgarter“ aus Heumaden,
Rohracker, Sillenbuch und Uhlbach hinzu.
Allerdings war die Bevölkerungsentwicklung
auch durch einen starken Geburtenüberschuss
verursacht, vor allem in den letzten Jahren bis
1939. Dies wiederum hängt mit der zunehmend
besseren wirtschaftlichen Situation und dem
Rückgang der Arbeitslosigkeit bis zur Vollbe­
schäftigung zusammen.
Einwohner im Jahresmittel Fläche
1929
1933
1938
1939
362.879
408.106
452.390
456.545
87,95 km²
135,23 km²
148,18 km²
148,18 km²
Zur Beschreibung der wirtschaftlichen Lage
und Entwicklung Stuttgarts in den Jahren bis
1939 werden wiederum die Firmen Bosch und
Daimler-Benz als Indikatoren herangezogen.
Zunächst jedoch sollen einige Zahlen zur Arbeits­
losigkeit die Situation vor 1933 kurz beschreiben.
Schon Anfang 1929, also noch vor der Welt­
wirtschaftskrise, gab es in Stuttgart etwa 10 000
Arbeitslose. Nach Einsetzen der Krise nahm die
Zahl der Erwerbslosen massiv zu: 1930 waren
25
Links | Die Machthaber im „Dritten Reich“
legten Wert auf Pomp und Gehabe. Zwi­
schen den – provisorisch errichteten –
„Triumphsäulen“ vor dem Bahnhofsplatz
nimmt sich der SSB-Zug schon fast
schüchtern aus. Die Plattform links ist
einer der damals üblichen Aufstell- und
Schutztürme für die Verkehrspolizisten.
Verkehrsampeln gab es noch kaum
Rechts | Eine Lehrtafel für den Schulun­
terricht, um 1935. Obwohl man rechts
oben keinen Königsbau sieht, ist die Szene
ansonsten offensichtlich stilistisch Stutt­
gart und dem Schlossplatz nachempfun­
den. Damals üblich waren die roten Tele­
fonzellen und die roten Omnibusse der
Reichspost sowie der Verkehrspolizist in
seiner weißen Uniform. Wie selbstver­
ständlich hat der Zeichner wenigstens drei
uniformierte Angehörige der Wehrmacht
mit ins Bild platziert. Zu erkennen, zu wel­
chem Heeresteil diese Personen gehörten
und zu welchem militärischem Ranggrad,
war grundlegendes Schulwissen und wur­
de bevorzugt abgefragt
es im Jahresdurchschnitt 18 812, 1931 bereits
31 087 und 1932 erreichte die Krise mit 37 594
Beschäftigungslosen ihren Höhepunkt.
Im ersten Jahr der NSDAP-geführten Regierung,
also 1933, sank die Zahl der Arbeitslosen in
Stuttgart auf 31 594 Arbeitslose. Im Jahre 1934
war mit 10 718 Erwerbslosen etwa wieder das
Vorkrisenniveau von 1929 erreicht, nur ein Jahr
später sank die Erwerbslosenzahl in Stuttgart
auf 4 767. Allein diese Zahlen machen ver­
ständlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung
und nicht nur die unmittelbar Betroffenen mit der
nationalsozialistischen Politik weitgehend ein­
verstanden waren.
Von der Hochkonjunktur der zweiten Hälfte der
1930er Jahre konnte auch Stuttgart besonders
26
profitieren, was sich nicht zuletzt im weiteren
Rückgang der Arbeitslosigkeit zeigte. Dement­
sprechend hoch war die Zahl der Beschäftigten
in den Stuttgarter Betrieben. Für das Beispiel
Daimler-Benz stellt sich dies so dar, dass deren
Mitarbeiterzahl zwischen 1934 und 1939
von 22 600 auf 42 776 zunahm, sich also fast
verdoppelte. Bei der Robert Bosch AG war die
Entwicklung ähnlich, allerdings nicht ganz so
spektakulär. Hier waren 1938 23233 Menschen
beschäftigt, 1934 waren es lediglich 15 216 und
im Krisenjahr 1930 nur 8 367 gewesen.
Trotz dieser auf den ersten Blick durchaus
positiven Entwicklungen zeigte sich auch
zunehmend das hässliche Gesicht des Dritten
Reichs. Besonders spektakulär und auffällig
war dabei sicher die so genannte „Reichskristall­
nacht“, heute meist als Reichspogromnacht
bezeichnet, vom 9. auf den 10. November 1938
als Einzelereignis. Insgesamt nahm die Zahl der
Konzentrationslager zu und ihre Nutzung ver­
änderte sich. Waren sie anfangs noch als
„Umerziehungslager“ gedacht und boten Aus­
sicht auf Entlassung nach dem Ende der Haft,
wandelten sie sich bis zum Kriegsende zu Sam­
mel- und Vernichtungslagern von jüdischen,
behinderten oder dem Regime unangenehmen
Bürgern und schließlich zum Symbol der Nazi­
herrschaft schlechthin. Überschattet wurdeden
die späten 1930er Jahre außerdem dadurch,
dass seit der Sudetenkrise im Sommer 1938 die
Zeichen mehr und mehr auf Krieg hindeuteten.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Das Dritte Reich feiert
Abgesehen von den politischen Ereignissen und
Umwälzungen, die 1933 als solche durchaus
nicht von allen so wahrgenommen wurden,
war das Jahr vor allem von einem Fest geprägt:
dem Deutschen Turnfest vom 21. bis 30. Juli
1933 in Stuttgart. Ähnlich wie drei Jahre später
die Olympischen Spiele, wurde auch das
Stuttgarter Sportereignis von den neuen Herren
propagandistisch genutzt. Stuttgart zeigte sich
den vielen Besuchern, um es mit dem Motto
der Turnerbewegung zu sagen, „frisch, fromm,
fröhlich, frei“ als guter Gastgeber im bunten
Fahnenschmuck. Interessant ist zu sehen, um
welche Fahnen es sich dabei handelte, die
überall auf den Straßen zu sehen waren: Neben
denen der Turnerschaft waren es die schwarzStuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
weiß-roten Fahnen des Kaiserreichs – in der
Weimarer Republik waren die Reichsfarben
Schwarz-Rot- Gold – und die Hakenkreuzfahne.
Die erste, weitgehend friedliche Hälfte des
„Tausendjährigen Reiches“ endete in Stuttgart,
wie sie begonnen hatte: mit einem Fest. Im
letzten Friedensjahr 1939 war Stuttgart Aus­
tragungsort der Reichsgartenschau. Dazu hatte
man mit großem Aufwand den spektakulären
Höhenpark Killesberg neu geschaffen. Wieder
strömten unzählige Menschen in die „Stadt
der Auslandsdeutschen“ und Stuttgart zeigte sich
erneut von seinen schönsten Seiten.
Dennoch wurde die Veranstaltung vorzeitig
abgebrochen, und zwar wegen des Beginns des
Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Nur
zwei Jahre später dienten die Ausstellungshallen
der Reichsgartenschau als Sammellager zur
Deportation Württembergischer und Stuttgarter
Juden.
Die am 22. April 1939 eröffnete Reichsgarten­
schau war ein riesiger Erfolg, nicht nur
kommer­ziell, sondern auch propagandistisch.
27
Links | Ab 1935 verfügte die SSB auch über einen „mariti­
men“ Betriebszweig: den Bootsbetrieb im sommerlichen
Ausflugsverkehr mit drei niedlichen Schiffchen zwischen
Bad Cannstatt und dem Max-Eyth-See. Diese Aktivität
war von städtischer Seite verordnet worden und schon
wegen des vorgeschriebenen, bewusst niedrigen Fahrprei­
ses defizitär. Mit Kriegsbeginn wurden die Fahrten sofort
eingestellt und durch die SSB nie wieder aufgenommen
Rechts | Zur „Reichsausstellung des Deutschen Garten­
baues“, die 1939 in Stuttgart stattfand, zeigte sich das
„Dritte Reich“ nochmals und letztmals betont zivilistisch
Die SSB im Dritten Reich
blieb ein Trümmerfeld, in materieller und in
moralischer Hinsicht.
Der Zweite Weltkrieg hatte in mehrerlei Hin­
sicht sehr viel größere Auswirkungen auf die
Straßenbahnbetriebe als der Erste Weltkrieg, das
gilt auch für die SSB.
Personelle und organisatorische Gleich­
schaltung
Die normalen Aufgaben, vor allem die Beför­
derung von Personen, wurden zunehmend
überlagert von den Bedingungen des Krieges,
aber auch von Vorgaben und Anforderungen
der seit 1933 regierenden Nazis. Diese Einflüsse
auf das Verkehrsunternehmen SSB waren schon
deutlich vor Beginn des Krieges spürbar und
sichtbar. Während des Krieges spiegelte sich
dessen Fanatisierung und Zuspitzung auch im
vom Kampfgeschehen weit entfernten Stuttgart
und seiner Straßenbahn. Am Ende des Krieges
Die unmittelbar nach der Ernennung Hitlers
zum Reichskanzler einsetzende Durchdringung
aller Lebensbereiche durch die NSDAP im
gesamten Reich, die so genannte Gleichschal­
tung, machte auch vor der SSB als städtischem
Unternehmen nicht halt. Schon 1933 wurden
zahlreiche Mitarbeiter entlassen und Führungs­
positionen mit „politisch zuverlässigen“
Personen besetzt. Das prominenteste Beispiel
war der Technische Vorstand der SSB, Dr.-Ing.
e.h. Paul Loercher, der seit 1906 im Amt war
28
und seinen Posten aufgeben musste. Allerdings
kamen wie beim Stuttgarter Oberbürgermeister
auch beim SSB-Vorstand keine unternehmens­
fremden „Parteibonzen“ ins Amt. Die ab 1933
amtierenden Vorstände Ling und Dr. Schiller
waren schon seit 1925 und seit 1927 im SSBVorstand.
Besonders schwer hatten es die SSBler, deren
politische Aktivitäten den neuen Machthabern
ein Dorn im Auge waren, also Mitglieder der
Gewerkschaften, der SPD und besonders der KPD.
Nach einem Aufsichtsratsprotokoll der SSB
vom Oktober 1933 wurden 77 Mitarbeiter ent­
lassen, von denen 66 eine „Zugehörigkeit zur
KPD oder einer Ersatzorganisation“ hatten. Die
Entlassung der verbleibenden elf Mitarbeiter
wurde mit deren „nationale[r] Unzuverlässigkeit“
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
begründet. Darüber hinaus sprach die SSB 287
Verwarnungen aus. Zug um Zug wurde die SSB
nach dem nationalsozialistischen Führerprinzip
umgebaut, bei dem der Vorstand nun zum
„Betriebsführer“ und die Mitarbeiter zur „Gefolg­
schaft“ wurden. An die Stelle der Gewerkschaften
trat die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF), in der
Unternehmer und Beschäftigte gleichermaßen
organisiert waren.
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die
„Machtergreifung“ der Nazis im Kleinen ist das
Waldheim. Das 1925 von den Straßenbahnern
selbst geschaffene „Straßenbahnerwaldheim“
stand im Akazienwäldchen am Killesberg und
musste der Reichsgartenschau weichen. Der
Neubau entstand auf der Degerlocher Waldau,
nannte sich nun „Gefolgschaftsheim der Stutt­
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
garter Straßenbahnen AG“ und war im Eigentum
der SSB. Selbstverständlich verfügte das neue
Waldheim neben vielen anderen Ausstattungs­
elementen auch über eine Ehrenhalle mit Haken­
kreuzfahnen und Führerbüste.
Links | Nachmittägliche Stoßzeit auf dem Schlossplatz,
um 1935. Es „herrscht“ eine der vielfältig üblichen Beflag­
gungen und Schmückungen, im Volksmund „Lametta“
genannt. Das Symbol auf dem Flaggenmast in Bildmitte,
ein hölzernes Schiff mit geblähten Segeln, war das
Zusatzlogo für Stuttgart als „Stadt der Auslandsdeut­
schen“. Die vielfältigen Aktivitäten deutscher Auswanderer
auf der ganzen Erde sollten damit betont werden
Rechts | Um am touristischen Vorzeigeeffekt Stuttgarts
teilzuhaben, nicht zuletzt im Hinblick auf die Reichsgar­
tenschau 1939, „schnitzte“ sich die SSB 1938 aus einem
1913 (!) erbauten Motorwagen diesen Aussichtswagen.
Den Impuls gab sicherlich der 1935 von der Reichsbahn in
zwei Exemplaren in Dienst gestellte, so genannte „Gläser­
ne Zug“. Der eigens herausgebrachte Prospekt betont das
Panorama Stuttgarts eingedenk des Nazi-Slogans „Groß­
stadt zwischen Wald und Reben“. Die glutrote Darstellung
des Weinbergs erscheint wie ein Fanal: Der Sonderwagen
endete 1944 im Feuersturm
29
Links | Da für den „Gläsernen Stuttgarter“
ein Neubauwagen wegen der politischen
Verhältnisse nicht in Frage kam, blieb nur
der Umbau, der zu einem bemerkenswert
modern wirkenden Fahrzeug führte. Mit
Kriegsbeginn bekam das Vehikel neue Auf­
gaben: Anstatt Touristen waren nun leicht
verwundete Soldaten, die zur Genesung
nach Stuttgart kamen, die „Zielgruppe“.
Solche Aktionen hatten doppelten Sinn:
Nicht nur die Moral der kämpfenden Trup­
pe sollte gestärkt werden. „Zaungäste“
sollten auch mitbekommen, wie fürsor­
gend – nach außen hin – der Staat für die
Einberufenen auftrat. Aufnahme vor der
Moltke-Kaserne in der Schwabstraße
Rechts | Von den kupfernen Feuerbüchsen
der Dampfloks über Kirchenglocken bis
zum Erbschmuck: Die Rüstung „fraß“
buchstäblich die Bunt- und Edelmetalle,
sei es für Waffen, Munition oder techni­
sches Kriegsgerät. „Gold gab ich für Eisen“
lautete der dazu eingeführte Werbespruch.
Auch die SSB musste allerlei Zubehör und
Beschlagteile – wie Handgriffe und Schalt­
hebel - aus Kupfer und Messing abliefern.
Oft wenig habhaftes Ersatzmaterial gab es
aus Stahl und Eisen, teils mit Kunstharz
ummantelt. Die Sonderausstellung
2014/15 zeigt einige solcher Tauschteile in
beiden Versionen. Für die „guten“ Versio­
nen kam schnell das geflügelte Wort „Frie­
densware“ auf
Betriebliche Belange in den Vorkriegsjahren
Was die eigentlichen betrieblichen Belange angeht,
waren die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg in
erster Linie geprägt von der Vergrößerung des
Unternehmens im Jahr 1934. Dabei handelte
es sich zum einen um die Übernahme der städti­
schen Filderbahn in das Eigentum der SSB,
allerdings führte die SSB dort den Betrieb bereits
seit 1920. Zum anderen musste die Städtische
Straßenbahn Feuerbach (SSF) in die SSB einge­
gliedert werden, nachdem Feuerbach zum 20.
April 1933 nach Stuttgart eingemeindet worden
war.
gekauft hatte, wurden erst kurz vor dem Krieg,
1939, neue Fahrzeuge in größerer Stückzahl
beschafft; hierbei handelte es sich um Wagen
mit Stahlaufbauten, die so genannten Garten­
schauwagen. An Beiwagen wurden lediglich
zwei Leichtstahl-Probewagen erworben. Die
Zahnradbahn erhielt 1935 zwei neue Triebwagen.
Einen deutlichen Modernisierungsschub erlebte
der Busverkehr; dennoch gab es weder grund­
legende Erweiterungen noch nennenswerte
Erneuerungsbestrebungen, wie es vor dem Ersten
Weltkrieg zu beobachten gewesen war.
In technischer Hinsicht tat sich in den 1930er
Jahren wenig. Da die SSB erst 1926 bis 1929
große Fahrzeugserien für die Straßenbahn
30
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Unten | 1942/43 schuf Oberbaurat Hermann Waßer für
seinen Enkel Hartmut Waßer diesen „Bodenläufer“, unver­
kennbar ein Zug der SSB. Während der vielen Stunden, die
man bei Fliegeralarm im Keller verbrachte, musste man ja
etwas tun ... Siebzig Jahre später stellte ihn der Beschenk­
te für die Sonderausstellung zur Verfügung
Rechts | Ein Teil der kriegszeitlichen Produktpalette der
SSB an Spielzeug für die Kinder der Mitarbeiter, fotogra­
fiert um 1940
Kinderspielzeug im Krieg
Kinderspielzeug ist zu allen Zeiten und in
allen Kulturen ein wichtiger Indikator für das
Alltags­leben der Menschen, dies gilt auch in
diesem Fall.
Um den durch die Kriegswirtschaft verursachten
Mangel an fabrikmäßig hergestellten Spielwaren
wenigstens zum Teil auszugleichen, produzierte
man bei der SSB diese Artikel für die Kinder
„Gefolgschaftsmitglieder“. Wer über solche
Quellen nicht verfügte, musste im Zweifelsfall
selbst handwerklich tätig werden, wie die
Modelle in der Vitrine veranschaulichen. Dass
dabei wahre Kunstweke entstanden, die in
ihrer Ausführung zum Teil die Qualität der
Fabrikware übertrafen, darf nicht über die Not
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
hinwegtäuschen, aus der heraus sie geboren
wurden.
Betrachtet man das relativ große Sortiment,
das bei der SSB hergestellt und immer wieder
in der Betriebszeitschrift „Über Berg und Tal“
gezeigt wurde, fällt dessen Vielfalt auf:
Neben den zur erwartenden Holzstraßenbahnen
als Bodenläufer, also ohne Gleise, gibt es dort
auch „Klassiker“. Hierzu gehören Tierfiguren,
Holzhäuschen und Puppenwiegen. Zeittypisch
werden jedoch auch Kampfflugzeuge und
Panzer angeboten, an denen unübersehbar das
Balkenkreuz als deutsches Hoheitszeichen zu
sehen ist.
Elastolin wird der Krieg damit zum (Kinder-)
Spiel. Tägliche Lebenserfahrung und gesell­
schaftlich gewünschte Prägung wirken hier
Hand in Hand.
Zusammen mit den vielleicht noch aus Frie­
denszeiten vorhandenen Soldatenfiguren von
31
Links | Zwei Monate nach dem schweren Angriff von Ende
Oktober 1944, der die grün markierten Netzteile außer
Betrieb setzte, fuhr die SSB wieder auf rund 70 Prozent
ihres Netzumfanges. Diese Übersicht wurde täglich aktua­
lisiert. Auf dem grün gepunkteten Abschnitt am Nordrand
von Gaisburg zog tatsächlich ein Traktor die Straßenbahn­
anhänger. Durch den Schwabtunnel fuhr zu dieser Zeit
längst keine Straßenbahn mehr: Seine Portale waren ver­
mauert, er diente als Luftschutzraum
Rechts | Der Busbetrieb der SSB war von den Kriegsfolgen
besonders betroffen: Einen Gutteil der Fahrzeuge griff
sich die Wehrmacht – Offiziere reisten gerne auf Polster­
sitzen an die Front. Ersatzkraftstoffe zwangen zu aufwän­
digen Umbauten der Technik. Der tatsächliche Mangel an
Treibstoff und Reifen brachte den Kraftfahrzeugverkehr
schließlich fast zum Erliegen. Die Buslinie N Stuttgart –
Degerloch – Nürtingen hielt als eine der ganz wenigen bis
zum Schluss durch, allerdings mit minimalem Angebot an
Fahrten
32
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Ein besonderer Fall
Die Omnibusse der SSB
handelte, die einen mittlerweile völlig unwirt­
schaftlichen Vergasermotor besaßen.
Der seit 1926 bestehende Omnibusbetrieb der
SSB war vom Zweiten Weltkrieg ebenfalls spürbar
betroffen.
Der Fahrzeugpark aus 39 Omnibussen und drei
Omnibusanhängern bestand also 1939 überwie­
gend aus neuen modernen Wagen.
Dabei hatte dieser Betriebsteil gerade in den
Jahren nach der Weltwirtschaftskrise einen
starken Aufschwung erfahren: Zwischen 1934
und 1940 wurden 34 neue Fahrzeuge beschafft,
überwiegend von Daimler-Benz, aber auch
von Büssing und Magirus. Zwei dieser neuen
Omnibusse stammen sogar noch aus dem
Kriegsjahr 1940. Die aus den ersten Jahren des
Betriebs stammenden Fahrzeuge der Baujahre
1926 bis 1938 wurden überwiegend abgestellt,
nicht zuletzt weil es sich dabei um Fahrzeuge
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Busse an die Front
Speziell diese Fahrzeuge waren jedoch auch
für militärische Verwendungszwecke bestens
geeignet, was natürlich nicht nur für die
Omnibusse der SSB zutraf. Die Teilstreitkräfte
der Deutschen Wehrmacht setzten Omnibusse
z. B. bei Gefechtständen größerer Militärverbände,
in Fernmeldeeinheiten oder als Sanitätsfahr­
zeuge ein. Wie bei den eingezogenen zivilen
Lkw und Pkw war die Wehrmacht auch bei den
Omnibussen durchaus wählerisch: Gefragt
waren vor allem moderne, möglichst neue
Fahrzeuge. Dementsprechend ware die neueste
Fahrzeuggeneration besonders von Kriegsver­
lusten betroffen. Betrachtet man die Omnibus­
bestände der SSB nach den einzelnen Fahrzeug­
typen, zeigt sich jedoch eine nicht unerhebliche
Abweichung von dieser Grundregel: Fünf der
gleich zu Beginn des Krieges an die Wehrmacht
abgegebenen sieben Omnibusse waren schon
1928 und 1929 gebaut worden.
Ungeachtet ihres Alters von rund zehn Jahren,
hatten diese Fahrzeuge aber immerhin schon
Dieselmotoren von Maybach. Mit einer Leistung
von 100 PS gehörten die Wagen außerdem zu
den gut motorisierten Omnibussen jener Zeit.
33
Links | Zur Reichsgartenschau 1939 gab
die SSB einen ansprechenden Touristen­
prospekt heraus. Er bewarb auch die Aus­
flugsfahrten mit den Buslinien der SSB.
Die Farbgebung der Busse war grün-weiß,
nicht etwa gelb-schwarz. Damit wurde
betont, dass die Buslinien ursprünglich kein
rein städtischer Betrieb der Landeshaupt­
stadt waren, sondern von den umliegenden
Kommunen und Kreisen mitgetragen wurden
Rechts | Nur von 1940 bis zum Einzug
durch die Wehrmacht 1943 besaß die SSB
zwei dieser hoch modernen, stromlinien­
förmigen Pullman-Busse in der so genann­
ten Tram-Bus-Form. Dabei ragte der Motor
nicht mehr in Gestalt einer „Schnauze“
nach vorne, sondern war (als hervorste­
hender Kasten) in den Fahrgastraum ein­
bezogen. Das sorgte für Lärm und Gerüche
im Innenraum – aber es sah elegant aus ...
Auch das machte die Wagen für die Wehrmacht
sicher attraktiv.
Weitere Omnibusse der SSB wurden in den
Folgejahren, vor allem 1943, von der Wehrmacht
eingezogen. Insgesamt wurden 14 SSB-Busse
im Krieg eingesetzt. Bei Kriegsende waren noch
18 Fahrzeuge vorhanden. Die Verluste von mehr
als der Hälfte des Vorkriegsbestands entstanden
in etwa gleicher Höhe durch Kampfhandlungen
an den Fronten wie durch Zerstörungen im Luft­
krieg, also in Stutttgart.
Während des Krieges war es immer schwieriger
geworden, Kraftstoff für den zivilen Busverkehr
zu bekommen. Daher stellte die SSB, wie viele
Betriebe, einige Wagen auf Leuchtgas- und
ab 1943 sogar auf Holzgas-Antrieb um. Neben
34
dem Kraftstoffmangel trug auch das Fehlen von
Gummireifen zur Einschränkung des Omnibus­
betriebs und der Einstellung von Linien bei.
Der „normale“ Betrieb im Zweiten Weltkrieg
Noch mehr als im gleichlautenden Beitrag für
den Ersten Weltkrieg sind hier die An- und
Ausführungszeichen bei „normal“ zur korrekten
Bezeichnung unerlässlich. Dabei sind es nicht
nur die äußeren, unmittelbar mit dem Krieg
zusammenhängenden Aspekte gewesen, die
für den SSB-Betrieb zwischen 1939 und 1945
bestimmend waren. Vielmehr spielten auch die
inneren Verhältnisse der nationalsozialistischen
Herrschaft eine Rolle, die Verfolgung von Men­
schen aus rassischen, religiösen und politischen
Gründen. Aber auch das vielfältige System von
Zwangsarbeit muss hier mit einbezogen werden.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Die verordnete Einsparung an
Treibstoff für Straßenfahrzeuge sorgte für
eine Neuauflage des Güterverkehrs auf
Schienen der SSB. Sogar schlichtes Bau­
holz musste nun wegen weniger Kilometer
Transportlänge extra auf Flachwagen
umgeschlagen werden. Der zusätzliche
Aufwand an sowieso schon knappem Per­
sonal, Fahrzeugen und Arbeitszeit spielte
sozusagen keine Rolle. Wer es gewagt hät­
te, daran eine womöglich betriebswirt­
schaftlich fundierte Kritik zu äußern, hätte
nicht mehr lange am zivilen Leben teilge­
nommen. Aufnahme am Stöckach, um
1940
Rechts | Tabelle zu Beförderungs- und
Verkehrsleistungen der SSB während des
Zweiten Weltkrieges
Verkehrsleistungen
Trotz aller Lückenhaftigkeit ergeben die An­
gaben zu den Verkehrsleistungen der SSB ein
recht gutes Bild von den betrieblichen Verhält­
nissen des Unternehmens im Zweiten Weltkrieg.
Beim Verhältnis von beförderten Personen,
gefahrenen Wagenkilometern, Fahrzeugbestand
und Personalbestand sind die Ähnlichkeiten mit
dem Ersten Weltkrieg offensichtlich.
Dies gilt allerdings nur bis zum Jahr 1943, bis
zu dieser Zeit nahm die Zahl der Fahrgäste
ab dem ersten Kriegsjahr um fast 40 Prozent
zu. Gleichzeitig sank die Zahl der Wagenkilo­
meter 1943 auf unter 90 Prozent des Wertes
von 1939. Einen massiven Einbruch bis an die
Grenze des Zusammenbruchs des Betriebs zei­
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
gen die Zahlen für 1944. Dabei verschleiert der
Stichtag 1. Januar beim Fahrzeugbestand die
starken Kriegsverluste bei Trieb- und Beiwagen.
Die Anzahl der unmittelbar nach Kriegsende
erfassten einsatzfähigen Straßenbahnen zeigt,
dass deren Schäden noch größer waren, als die
unmittelbaren Verluste.
durch Ausbau von Sitzplätzen für eine höhere
(Steh-) Platzkapazität hergerichtet.
Abgesehen von den in immer kürzeren Fol­
gen bei Luftangriffen zerstörten Bahnanlagen
erklärt allein schon die Reduzierung des Fahr­
zeugparks die Restriktionen des Verkehrsange­
bots: Verschiedene Linien wurden ganz oder
teilweise, vorübergehend oder dauerhaft ein­
gestellt. Darüber hinaus erfolgten weitere Ein­
schränkungen des „friedensmäßigen Betriebs“.
Es wurden z. B. die Fahrplantakte von 7,5 Mi­
nuten auf 15 Minuten gestreckt und Fahrzeuge
Ein im Vergleich zum Ersten Weltkrieg interes­
santes Detail betrifft die Beschäftigtenzahl im
letzten Kriegsjahr im Vergleich zum Jahr davor.
Sie nimmt von 1944 zu 1945 weniger stark zu,
als von 1917 zu 1918. Hierin zeigt sich, neben
anderen Einflüssen, der Umstand, dass die deut­
schen Soldaten des Zweiten Weltkriegs auch
nach Kriegsende in großer Zahl in Gefangen­
schaft blieben.
Beim Personalbestand kann trotz der Unvoll­
ständigkeit der Zahlen von einem in etwa
stabilen Wert ausgegangen werden, allerdings
nicht von gleichbleibenden Personen.
35
Oben | Die drei Gütermotorwagen von 1916/18 – hier der
Erstling Nummer 123 – taten auch im Zweiten Weltkrieg
nochmals gute Dienste. Die beiden Exemplare von 1918
(Nummer 124/125) verbrannten 1944. Der Senior 123
leistete als Wagen 2011 auch viel später noch interne Ein­
sätze als gedeckter Bremssandwagen und verabschiedete
sich erst 1969. Obwohl die SSB damals schon erste Muse­
umswagen aufbewahrte, hatte an einem solch rustikalen
Vehikel wie dem 2011 offenbar noch niemand kulturhisto­
risches Interesse
Unten | Fortschrittlich war der Bau einer Wendeschleife
vor dem Eingang zur Gartenschau am Killesberg 1939,
aber auch der Bau der „Gartenschauwagen“, von denen
Wagen 721 sich links zeigt. Der Unterschied zum 15 Jahre
älteren Wagen 411 ist offensichtlich. Jener entstand 1924
als Teil der ersten neuen Wagenserie der „städtischen“ SSB
nach dem Ersten Weltkrieg
36
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links und rechts | Abendlicher Spitzenver­
kehr auf dem Schlossplatz, 1940
Tarifwesen
Während des Krieges blieben die Einnahmen
der SSB im Straßenbahnbetrieb, bezogen auf
den einzelnen Fahrgast, mit rund 20 Pfennigen
relativ konstant. Die Einnahmen pro Wagen­
kilometer stiegen von rund 60 Pfennigen im
Jahr 1939 auf etwa 1,20 Mark 1945. Dafür
verantwortlich war die Abnahme der gefahrenen
Wagenkilometer bei gleichzeitig steigenden
Fahrgastzahlen. Entsprechend der Beförderungs­
zahlen stiegen auch die Gesamteinnahmen der
SSB.
Für die Tarife ist grundsätzlich festzustellen,
dass sie zunächst auf ein Teilstreckennetz mit
einer seit 1927 geltenden Teilstreckenlänge von
jeweils 750 Meter aufbauten. Innerhalb dieses
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Rasters galten zu Kriegsbeginn neue Tarife für
Einzelfahrscheine (siehe Tabelle rechts).
Ab 29. September 1941 wurde das Tarifsystem
vereinfacht und für weitere Strecken verbilligt
(siehe Tabelle rechts unten). Nicht zuletzt um den
Fahrscheinverkauf und dessen Kontrolle zu er­
leichtern, wurde ab 1. Januar 1943 ein Einheits­
tarif eingeführt. Damit wollte man dem immer
schlechter ausgebildeten und unerfahreneren Per­
sonal, den oft schlechten Lichtverhältnissen und
dem häufigen Flieger­alarm Rechnung tragen. Der
Einheitstarif kostete 20 Pfennige und galt ohne
Teilstrecken- und Umsteigebeschränkungen.
1939
bis
bis
bis
bis
bis
1941
bis 4 Teilstrecken
bis 8 Teilstrecken
bis 12 Teilstrecken
mehr als 12 Teilstrecken
Der Einheitstarif wurde erst 1950 zugunsten
des ursprünglichen Teilstreckensystems wieder
aufgegeben.
37
4 Teilstrecken
8 Teilstrecken
12 Teilstrecken
16 Teilstrecken
20 Teilstrecken
Links | Die Metall“spenden“ für die Rüs­
tung – de facto eine durch vielfältigen
Druck erzwungene Abgabe – wurden
öffentlichkeitswirksam demonstriert. Keine
Frage, dass staatliche oder kommunale
Mitarbeiter wie Straßenbahner hierzu
besonders beispielwürdig in Szene gesetzt
wurden. Hier schleppt man offenbar den
Bestand an Wanderpokalen der Straßen­
bahner-Sportgemeinschaft oder ähnliche
Auszeichnungen aus dem Betriebshof
Rechts | Auf dem halbseitig dreischienigen
Abschnitt zwischen Degerloch und
Möhringen bei Sonnenberg: Ein Garten­
schau-Triebwagen mit Verdunkelung kommt
dem Betrachter entgegen
Wirtschaftliche Situation
Betriebsmittel
Bei den Betriebsmitteln, neben den Fahrzeugen
war das die gesamte Infrastruktur einschließlich
der Gebäude, spielte wie schon im Ersten Weltkrieg
der Rohstoffmangel eine große Rolle. Betroffen
waren auch hier praktisch alle Materialien von
Stahl über Kupfer und Kautschuk bis hin zu jeder
Art von Baustoffen wie z. B. Zement oder Glas.
Der ab 1943 zunehmende Luftkrieg verschärfte die
Probleme mit den Betriebsmitteln in mehrfacher
Hinsicht. Zum einen waren die Fahrzeuge und
Anlagen der SSB unmittelbar betroffen und
wurden beschädigt oder vollständig zerstört. Zum
anderen musste die SSB bei der Bereitstellung
von Material zur Beseitigung der Schäden mit
38
anderen Betroffenen konkurrieren, z. B. der in
Stuttgart besonders stark vertretenen kriegs­
wichtigen Industrie.
Auch insoweit war der Substanzverlust des
Verkehrsunternehmens im Zweiten Weltkrieg
wohl deutlich größer als im Ersten Weltkrieg.
Hinzu kam, dass die starke Zunahme von
Bomben­angriffen nur ein Teilaspekt des 1943
eingetretenen Wendepunkts im Zweiten
Weltkrieg war. Mit der Niederlage der Sechsten
Deutschen Armee in Stalingrad und der
Landung der West­alliierten auf Sizilien geriet
das Deutsche Reich endgültig in die Defensive.
Die für neues Kriegsgerät und Munition, aber
auch für Schutz- und Kampfbunker erforder­
lichen Ressourcen standen für zivile Einrich­
tungen, wie z. B. Straßenbahnen, einfach nicht
mehr ohne weiteres zur Verfügung. Dieses
reichsweite Phänomen galt natürlich auch für
Stuttgart und damit auch für die SSB.
Eine unmittelbar aus den Anforderungen des
Krieges entwickelte Rechtsnorm ist das „Gesetz
über Sachleistungen für Reichsaufgaben“, kurz
Reichsleistungsgesetz. Es wurde folgerichtigerweise
am Tag des Kriegsbeginns erlassen, also am 1.
September 1939. Das Reichsleistungsgesetzt
galt auch für Straßenbahnfahrzeuge und sollte
sicherstellen, dass der Betrieb trotz der Zerstö­
rungen des Luftkriegs aufrechterhalten werden
konnte. Zwar hatte es schon in den ersten
Kriegsjahren bis 1942 Verlegungen von Fahr­
zeugen nach Polen und in das Sudetenland
gegeben. Einen deutlich größeren Umfang nahm
die Umsetzung von Straßenbahnfahrzeugen
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Auch die Filderbahn als Eisenbahn-Betriebszweig der SSB unterlag den Vorschrif­
ten zur Verdunkelung. Neben dem obligatorisch abgedunkelten Scheinwerfer erkennt
man die dunkel übermalten seitlichen Fensterscheiben mit den schmalen „Sehschlitzen“
im oberen Drittel
jedoch ab 1943 mit den zunehmenden Bomben­
schäden ein. Die abgebenden Betriebe waren
sowohl solche in den von der Wehrmacht be­
setzten Ländern, zu denen ab 1943 auch Italien
zählte, als auch solche aus dem Reichsgebiet,
einschließlich der ab 1938 annektierten Gebiete.
Die SSB wurde bereits 1943 zur Abgabe von
Fahrzeugen herangezogen, zunächst gelangten
zehn Trieb- und fünf Beiwagen nach Essen und
dann noch fünf Triebwagen nach Mannheim.
Rechts | Ebenfalls ein kurioses Produkt der Treibstoffeinsparung war der Klärschlamm­
transport zwischen Mühlhausen und dem Neckartal bei Obertürkheim. Auf der Verlade­
rampe in Mühlhausen waren Feldbahngleise bereitgelegt, was wohl auf die Absicht hin­
weist, zwischen dem städtischen Hauptklärwerk in Mühlhausen und der Verladeanlage
bei der Endschleife Mühlhausen der SSB eine Gleisverbindung mittelst Feldbahn herzu­
stellen. Denn eine solche wurde im Klärwerk selbst bereits eingesetzt. Ob es noch zu die­
ser Verbindungsstrecke kam, ist nicht bekannt. Jedenfalls pendelte zwischen Klärwerk
und dem Verladegleis der Straßenbahn ein Kessel-Lkw
noch Ende 1944 mit der Requirierung fast
des gesamten Fuhrparks der niederländischen
Großstädte, der so bezeichneten „Holland-Aktion“,
einen Durchbruch. Doch selbst diese massive
Aktion scheiterte unter den Bedingungen des
vom Deutschen Reich heraufbeschworenen
„totalen Kriegs“. Sobald die Umstände es zuließen,
wurden die Fahrzeuge aus den kriegsbesetzten
Ländern wieder zurückgebracht, soweit sie den
Krieg überstanden hatten.
In den offiziellen Bestandslisten der SSB wurden
jedoch die Fahrzeuge auch weiterhin geführt,
obwohl sie tatsächlich dem Betrieb bis nach
Kriegsende nicht mehr zur Verfügung standen.
Je mehr der Luftkrieg an Heftigkeit zunahm,
desto unwirksamer waren die Umsetzungen
einzelner Fahrzeuge. Stattdessen versuchte man
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
39
Typisch für die Zeit des Zweiten Weltkriegs –
und überlebenswichtig – waren die fluo­
reszierenden, spricht selbstleuchtenden
Warnanstriche an Bauwerken, vor allem in
Gestalt der großen weißen Pfeile an Häuser­
wänden. Denn wie soll man sich in einer
stockdunklen Stadt sonst orientieren? Oft
mit dem Zusatz „LSR“ versehen, wiesen sie
auf die nächstliegenden Luftschutzräume
im Keller hin und zeigten den Helfern
nach Bombenangriffen den Weg zu den
Verschütteten. Hier wird gerade jeder
zweite Randstein der Haltestelleninsel der
SSB mit der Leuchtfarbe versehen, so dass
sich ein auffälliges Muster ergibt. Alle
Hilfsmittel konnten nicht verhindern, dass
die Verdunkelung auch in der Heimat
beträchtliche Opfer an Gesundheit und
Menschenleben forderte: Viele Arbeits­unfälle
passierten; etliche Passanten, Verkehrsteil­
nehmer oder Fahrgäste wurden zu spät
erkannt, stiegen – besonders bei der Eisen­
bahn, die mit überlangen, verspäteten
Zügen plötzlich irgendwo in der Dunkelheit
hielt - zu früh, zu spät oder an falscher
Stelle aus, sprangen in Eile und Verzweiflung
ab oder auf, stolperten an ungünstiger
Stelle oder glitten ab. Mancher kam so
selbst in der eigenen vertrauten Umgebung
buchstäblich unter die Räder
Fahrgäste unter Kriegsbedingungen
In beiden Weltkriegen änderte sich ungeachtet
des „normalen Betriebs“ die Zusammensetzung
der Fahrgäste mit Kriegsbeginn sehr deutlich:
Die Anzahl der jungen, wehrfähigen Männer
nahm sichtbar ab, zumindest als Zivilisten,
während umgekehrt auch im Hauptverkehr
Frauen und ältere Männer dominierten. Natürlich
trugen auch die vermehrt auftretenden Soldaten
in Uniform zu einem veränderten Erscheinungs­
bild der Fahrgäste bei. Neben den eigenen, also
den deutschen Soldaten, benutzten auch kriegs­
gefangene Soldaten die Straßenbahn auf dem
Weg zwischen den Lagern und den Arbeitsplätzen.
In beiden Kriegen wurden Kriegsgefangene für
unterschiedliche Arbeiten eingesetzt.
40
Ein Spezifikum des Zweiten Weltkriegs waren
die diversen Formen von Zwangsarbeiterinnen
und –arbeitern aus den von der Wehrmacht
besetzten oder beherrschten Ländern. Einen
konkreten Hinweis auf die Beförderung von
Zwangsarbeitern gibt es z. B. in Form einer
Anfrage der Stuttgarter Firma Hansa. Von dort
wurde der Wunsch vorgetragen, die Haltestelle
dichter an den Betrieb zu legen, um den ohnehin
schlecht versorgten Menschen lange Wege von
und zur Arbeitsstelle zu ersparen.
schließlich auch der Einsatz der Straßenbahn
bei der Deportation jüdischer Deutscher. Aus
dem Stadtgebiet, soweit es sich um jüdische
Stuttgarter handelte, oder vom Hauptbahnhof
aus, für die anderen jüdischen Württemberger,
fuhr die SSB die Menschen zu den Sammellagern
am Killesberg. Vom ehemaligen Reichsgarten­
schaugelände aus ging es dann weiter in die
Konzentrations- und Vernichtungslager.
Noch schlechter ging es den während des Krieges
ebenfalls zu den SSB-Fahrgästen zählenden KZHäftlingen. Sofern sie nicht in unmittelbarer
Nähe der Betriebe untergebracht waren, wo
sie arbeiten mussten, wurden auch sie mit der
Straßenbahn befördert. Nicht zu vergessen ist
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
„Freizeitgestaltung“ in den 1940er Jahren:
Der „Kartoffelzug“ von Seite 5 hat nun im
Betriebshof Ostheim auf einem Nebengleis
Stellung bezogen, dort stört er nicht den
planmäßigen Linienverkehr. Gegen Lebens­
mittelkarten, die man per Schlange stehen
erworben hat, folgt nun nach neuerlichem
Anstehen – unter dem wachen Auge von
Gesetz und Straßenbahnern - die Ausgabe
des begehrten Grundnahrungsmittels. Das
motorisierte Dreirad rechts, vom Typ Goliath,
gehörte zur üblichen Erscheinung im Liefer­
verkehr auf der Straße
Besondere Verkehre
Güterverkehre
Wie bereits im Ersten Weltkrieg musste die SSB
auch im Zweiten Weltkrieg Leistungen im Güter­
verkehr übernehmen, um damit kriegswichtige
Ressourcen zu ersetzen. Nun ging es allerdings
nur noch nachrangig um den Ersatz von Pferden,
obwohl diese auch im Zweiten Weltkrieg eine
große Rolle spielten. Viel wichtiger waren
jedoch der Ersatz von Kraftfahrzeugen und die
Einsparung von Kraftstoff und anderen kriegs­
wichtigen Rohstoffen wie Kautschuk. Ein aus­
führlicher Bericht in „Über Berg und Tal“ vom
März 1942 vermittelt einen guten Eindruck vom
Straßenbahngüterverkehr während des Zweiten
Weltkriegs. Zum Zeitraum des Artikels gab es noch
so gut wie keine Kriegszerstörungen in der Stadt.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Durchaus zeittypisch ist der insgesamt sehr
unaufgeregte, Normalität suggerierende, Grund­
ton des Artikels von Helmut Seeger, später
Technischer Vorstand der SSB. Nur an einigen
Stellen wird der Zusammenhang zwischen dem
Güterverkehr bei der SSB mit den kriegsbedingten
Restriktionen genannt. Konsequent wird daher
auch zunächst der bereits vor 1939 bestehende
Markt- und Postverkehr erwähnt.
„Zu diesen längst bekannten und jetzt“, 1942,
„nur besser ausgenützten Beförderungen traten
inzwischen neue Aufgaben an die Güterstelle
heran.“ Aufgeführt sind dann der Baustellen­
verkehr für Erdaushub und Baumaterial, dafür
wurden mit altbrauchbarem Gleismaterial Lade­
einrichtungen gebaut. Desweiteren ist der beim
Personal gewiss sehr „beliebte" Klärschlamm­
transport von der Kläranlage Mühlhausen zur
Verwendung in der Landwirtschaft und im
Gemüsebau genannt. Kriegsbedingt wurden
außerdem Zeitungen befördert sowie Sand für
Luftschutzzwecke, wohl zum Löschen und für
Sandsäcke, Lebensmittel für die Lazarette und
„Kartoffeln für geschickt gelegene Verbraucher
u. a. m.“.
Hinzu kamen alle SSB-internen Transportleis­
tungen, z. B. Baumaterial und Betriebsmittel.
„[…] für fremde Rechnung“ wurden 1942, wie
es in „Über Berg und Tal“ heißt, „193 451
Kilometer gefahren und damit viel kriegswichtiger
Betriebsstoff und Gummi eingespart“.
Das Resümee des Artikels lautet: „So hat unsere
Güterstelle heute eine erhöhte Bedeutung erlangt
41
Ein Marktzug wird von der Planie auf den
Karlsplatz geschoben. Rechts das Alte Wai­
senhaus. Auch die Bäume tragen eine wei­
ße Warnmarkierung aus Kalkfarbe. Die
Hausfrauen übernehmen das Abholen der
gekauften Früchte in einer seit Jahrhun­
derten üblichen Transportweise: auf dem
Kopf
und sie erfüllt im Rahmen unseres großen Betriebs,
wenn auch am Rande unserer eigent­lichen
Aufgaben, doch kriegswichtige und notwendige
Arbeit zum Nutzen der Einwohner Groß-Stutt­
garts, die ja auch unsere Fahrgäste sind.“
Verwundetentransport besonderer Art
Worauf man im Zweiten Weltkrieg verzichtete,
war die Verwendung der Straßenbahn für den
innerstädtischen Verwundetentransport vom
Hauptbahnhof in die Lazarette. Dennoch beför­
derte die SSB während des Krieges verwundete
Soldaten der Deutschen Wehrmacht. Hinter
diesem vermeintlichen Widerspruch verbirgt
sich der Einsatz des für die Reichsgartenschau
1939 gebauten oder umgebauten „Gläsernen
42
Triebwagens“ für genesende Verwundete. In
unzähligen Bildern festgehalten sollte mit diesen
„Fahrten ins Blaue“ ein Stück normale Idylle
mitten im Krieg suggeriert werden. Auffällig
ist hier der Unterschied zwischen den beiden
Kriegen, vor allem aber das propagandistische
Geschick der Nazis: In Straßenbahnwagen
öffentlich sichtbare Verwundete des Ersten Welt­
kriegs waren in erster Linie Jammergestalten,
deren Anblick die Zivilbevölkerung Stuttgarts
erschütterte. Im Zweiten Weltkrieg handelte
es sich allem Anschein nach um Männer, die
sich bis zur Ausheilung ihrer Verwundung
ein paar schöne Tage in Stuttgart gönnten, um
anschließend erneut in den Krieg zu ziehen.
An dieser Diskrepanz in der grundsätzlichen
Wahrnehmung ändert auch der Umstand nichts,
dass es schon im Ersten Weltkrieg solche
Ausflugsfahrten für Verwundete gab, allerdings
eben bei weitem weniger plakativ als im Zweiten
Weltkrieg. Diese Inszenierung einer heilen Welt
wurde durch die ab 1943 immer stärker werdenden
und in ihren Folgen unübersehbaren Luftan­
griffe immer unglaubwürdiger. Insofern war es
folgerichtig, dass die Fahrten mit dem „Gläsernen“
1944 endeten – weil das Fahrzeug selbst durch
Bombentreffer vollständig zerstört wurde.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Mit dem Verkauf des so genannten
Abtrittdüngers – im Klartext: der mensch­
lichen Exkremente, die über die Abfluss­
kanäle der Landeshauptstadt anfielen –
machten Stadtverwaltung und Eisenbahn
schon zu Königs Zeiten aus einer Notwendig­
keit ein gutes Geschäft. Die anrüchige
Fracht wurde bis weit ins Remstal, ins Gäu
oder den Nordschwarzwald verschickt, wo
die Bauern froh um den zusätzlichen,
preisgünstigen (und damals „gesunden“)
Naturdünger waren. Mit der Professiona­
lisierung der Abwasseraufbereitung ab den
1930er Jahren fiel die Gülle nun im Haupt­
klärwerk Mühlhausen in komprimierter Form
an. Für den Transport Richtung Obertürkheim
dienten die nicht der SSB, sondern der Stadt
gehörenden beiden vormaligen Wasser­
sprengwagen 2127/2128, beide 1923/1925
von Schörling in Hannover erbaut. Mit
dem Übergang von gewalzten Kiesstraßen
zur Asphaltdecke war das sommerliche
Bespritzen der Straßen im Stadtbereich
mit Wasser – um den lästigen Staub zu
binden – nicht mehr nötig, so dass diese
Fahrzeuge neue Aufgaben erhalten konnten.
Die kleine Bilderserie von schlechter Qualität
zeigt um 1940 das „Springenlassen“ der
Jauche in einen kleinen „See“ im Neckartal.
Von dort konnten Kleingärtner die einge­
trocknete Masse vermutlich kostenlos
übernehmen und ihrerseits eimerweise
auf ihr „Gütle“ tragen. Ob die Aufnahme
rechts unten, an der vergleichbaren Stelle
aufgenommen, den Transport trockenen
Klärschlamms zeigt oder eine andere Ver­
sandaufgabe, ist nicht angegeben. Wie
auch immer: In jedem Fall leistete die
Straßenbahn die unentbehrliche Hilfe bei
der Fortbewegung
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
43
Ein weiterer interkommunaler Massen­
transport, der selbstverständlich und
zwangsläufig der SSB übertragen wurde,
war das Wegführen des Aushubs für den
Wagenburgtunnel. An sich als neue Achse
für den Straßenverkehr geplant, begann
dessen Bau 1940 schließlich deshalb, weil
man die entstehende Röhre sehr gut als
geräumigen Luftschutzraum für die Bevöl­
kerung vor allem des Stuttgarter Ostens
brauchen konnte. Fertiggestellt und für
den Autoverkehr nutzbar gemacht wurde
der Tunnel deshalb erst etliche Jahre nach
dem Zweiten Weltkrieg. Eine Grubenbahn
befördert das Erdreich aus dem Stollen,
um es von einer Sturzrampe in die Kasten­
kippwagen der SSB zu leeren. Mit den
Fahrzeugen begegnen wir sozusagen alten
Bekannten: Motorwagen 2013 ist der drit­
te der schon auf Seite 36 vorgestellten
Gütertriebwagen von 1916/18, der hier
nun gut zwanzig Jahre später als Schlepp­
fahrzeug auftritt. Auch die Kastenkipper,
namentlich Wagen 2073, gehören zu der
schon 1916 beschafften Serie. Auch dieses
Schüttgut rollte gegen Obertürkheim, wo
man die Auen und Altarme des begradig­
ten Neckars verfüllte und das Bodenniveau
höherlegte, im Hinblick auf den geplanten
Neckarhafen und seine Nutzflächen
44
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Am 5. Mai 1942 erfolgte einer der
ersten Bombenangriffe auf Stuttgart, speziell
auf den Nordwestteil der Stadt. Die ober­
flächlichen Schäden auf die Anlagen der
SSB – hier einige zerdrückte Fensterscheiben
am Betriebshof – wurden noch pflichtgemäß
und penibel fotografisch festgehalten, sogar
mit der Uhrzeit
Rechts | 2. November 1942: Bomben
haben Bahnhof und Betriebshof Möhringen
schwer getroffen. Eine Kommission der SSB
besieht die Lage
Stuttgart im Bombenkrieg
Feuersturm und Trümmerwüsten
Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte es
Luftangriffe auf Städte gegeben, die bekanntesten
Fälle waren die Bombardierungen Londons
durch deutsche Zeppeline. Im Gegenzug war
z. B. auch Karlsruhe von britischen Flugzeugen
bombardiert worden.
Die Geschichte des flächenhaften Luftkriegs
begann im spanischen Bürgerkrieg 1936 bis
1939 mit der Zerstörung der Stadt Guernica
im spanischen Baskenland. Hier erprobte die
zur Unterstützung Francos entsandte deutsche
Legion Condor die Wirkung moderner Kampf­
flugzeuge. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs
war es dann auch die deutsche Luftwaffe, die
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Bomberflugzeuge zur Zerstörung von Städten
einsetzte. Mit diesen Angriffen z. B. auf Warschau,
Rotterdam, Coventry und London begann eine
völlig neue Dimension des Krieges, in dem
die Grenzen zwischen Front und Heimat ver­
schwammen.
Bei der flächenhaften Bombardierung frontferner
Gebiete durch relativ große, speziell dafür
eingerichtete Flugzeuge ging es nicht nur um
strategische bzw. militärische Ziele. Neben der
Zerstörung von z. B. Bahnanlagen, Fabriken
oder Militärdepots spielte auch die Demoralisie­
rung der Zivilbevölkerung eine wichtige Rolle.
Insbesondere der britische Luftwaffengeneral
Harris, genannt Bomber-Harris, war aus diesem
Grund ein konsequenter Verfechter von Flächen­
bombardements gegen deutsche Städte.
Im Luftkrieg gegen das Deutsche Reich teilten
sich die britische Royal Airforce (RAF) und die
US-Airforce (USAF) ihre Aufgabenbereiche:
Die RAF griff nachts in erster Linie zivile Ziele
an, um den Widerstand der Bevölkerung zu
brechen, was ihr aber ebenso wenig wie zuvor
der Deutschen Luftwaffe bei den Briten gelang.
Demgegenüber flog die USAF mit ihren Bom­
bern die Tagesangriffe, die sich vor allem gegen
kriegswichtige Ziele richteten.
Die Luftangriffe auf Stuttgart begannen im
Herbst 1940, forderten aber nur einige wenige
Tote und Verwundete, dies galt auch noch für
die Angriffe vom Mai und August 1942. Wirklich
ernst wurde der Luftkrieg für die Stuttgarter
Bevölkerung ab dem 22. November 1942, als
erstmals rund 200 britische Bomber die Vororte
45
Links | Die Schäden an der Wagenhalle
Möhringen (November 1942) mochten auf
die Betroffenen heftig wirken. Aus späterer
Sicht handelte es sich um eine eher
geringfügige Beeinträchtigung, die mit
überschaubarem Aufwand zu beseitigen war
Rechts | Dem Angriff vom 5. Mai 1942
auf Zuffenhausen fielen in der Adestraße
punktuell einige Wohngebäude völlig zum
Opfer, während die Umgebung (bis hin zu
Betriebshof und Wohnhäusern der SSB)
lediglich mit eingedrückten Fenstern und
verschobenen Dachziegeln fertigzuwerden
hatte: gelinde Vorboten der Katastrophe,
die das Stadtgebiet vor allem im Zentrum
noch treffen würde
Vaihingen, Rohr und Möhringen sowie den
Hauptbahnhof angriffen. Ab März 1943 wurde
die Stadt mehr oder weniger regelmäßig zum
Ziel britischer und amerikanischer Bomber, die
systematisch Industrieanlagen, Verkehrswege
und Wohngebiete bei Tag und Nacht zerstörten.
Dabei kamen regelmäßig hunderte von alliierten
Kampfflugzeugen zum Einsatz, denen die deut­
sche Luftabwehr immer weniger entgegenzusetzen
hatte.
In zwei Nachtangriffen am 2. sowie in der Nacht
vom 15. auf den 16. März 1944 wurde die
Innenstadt besonders schwer getroffen. Mehr als
200 Menschen verloren dabei ihr Leben, über
700 wurden verwundet, Tausende verloren ihre
Wohnung sowie ihr Hab und Gut. Der Angriff
vom 15./16. März 1944 war zugleich derjenige,
46
mit den meisten feindlichen Flugzeugen, näm­
lich 863.
Insgesamt sechs Tag- und Nachtangriffe gab es
zwischen dem 16. und dem 29. Juli 1944 mit
fast 900 Toten und knapp 2000 Verwundeten.
Zu dieser Zeit hatten die Alliierten bereits
ihre Invasion in der Normandie erfolgreich
abgeschlossen und konnten ihre Flugzeuge von
Frankreich aus gegen das Reichsgebiet einsetzen.
Hinzu kam, dass die deutsche Luftwaffe längst
nur noch über schwache Kräfte verfügte, ins­
besondere wegen des Mangels an ausreichend
ausgebildeten Piloten.
Wenige Wochen später, am 5. und am 10.
September 1944, gab es Tagangriffe auf einige
Stadtbezirke mit hohem Industrieanteil.
Der größte Luftschlag gegen die Innenstadt und
den dicht besiedelten Stuttgarter Westen erfolgte
kurz darauf in der Nacht des 12. September
1944. Obwohl nur etwas mehr als 200 Bomber
beteiligt waren, war die Zerstörungswirkung
verheerend, die Zahl der Opfer mit fast 1 000
Toten und 1 600 Verwundeten immens.
Die letzten großen Angriffe auf Stuttgart
erfolgten in zwei Wellen an einem Tag, dem
28. Januar 1945, hierbei starben 119 Menschen,
78 wurden verwundet. Nur zwei Tage vor der
kampflosen Übergabe Stuttgarts an die franzö­
sischen Truppen, am 21. April, gab es noch
einen nächtlichen Angriff mit einem Toten und
sieben Verwundeten.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Gablenberg am 25. August 1940:
Offenbar traf dieses Bombardement auch
die Wohnhäuser von Straßenbahnern, weil
sich eine Bilderserie im Archiv der SSB
befindet. Noch war die Wirkung der
Angriffe äußerst punktuell und von eher
zufälliger Art
Rechts | Eine hohle Ruine blieb von der
Hauptverwaltung der SSB in der Friedrich­
straße 53. „Trotz aller Bemühungen in der
Nacht der Zerstörung gelang es nicht einmal,
die in den unterirdischen Tresors eingela­
gerten Akten und Requisiten zu erhalten,
sie verkohlten zur völligen Unbrauchbarkeit“,
notierte Alt-SSB-Chef Paul Loercher 1963.
Die Verwaltung zog in die Büroräume des
Betriebshofs Marienplatz und diverse
Außenstellen. Erst ab Mitte der 1970er
Jahre konnten wieder fast alle Dienststellen
im damals neuen SSB-Zentrum in Möhringen
zusammengefasst werden
Die zahlenmäßige Bilanz von rund viereinhalb
Jahren Luftkrieg stellte sich für die „Stadt der
Auslandsdeutschen Stuttgart“ folgendermaßen
dar: Als Folge von insgesamt 53 Angriffen bei
Tag und bei Nacht starben 4 562 Menschen, von
denen 770 Ausländer und davon wiederum
die meisten Zwangsarbeiter waren. 8908 Men­
schen wurden verwundet, 85 blieben dauerhaft
vermisst. 39125 Gebäude, das entspricht einem
Anteil von 57,5 Prozent der Gesamtzahl, wurden
zerstört oder schwer beschädigt, in der Innen­
stadt betrug der Zerstörungsgrad 68 Prozent der
vorher bestehenden Bausubstanz. Der Luftkrieg
und die damit verbundenen Zerstörungen
hatten auch Einfluss auf die Einwohnerzahl
Stuttgarts, weil immer mehr Menschen Stuttgart
verließen, z. B. nach dem Verlust der Wohnung
durch Bombentreffer. Dementsprechend sank
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
die Zahl der Bevölkerung von rund 498 000
am 1. April 1942 auf etwa 266 000 am 30. April
1945.
Für einen Straßenbahnbetrieb wie die SSB hatte
der Luftkrieg eine Reihe von Folgen unter­
schiedlicher Art. Zunächst einmal war durch die
Flächenbombardements nahezu zwangsläufig
auch die Infrastruktur der Straßenbahn betroffen.
Es wurden z. B. Gleise, Oberleitungen und
Betriebsgebäude in den jeweils angegriffenen
Teilen der Stadt beschädigt oder zerstört. Sofern
z. B. die Gleisanlagen nicht direkt getroffen
wurden, genügten unter Umständen auch schon
die Trümmer zerstörter Anliegergebäude, um den
Betrieb zeitweilig zu unterbrechen.
Es ist unter diesen Umständen fast schon er­
staunlich, dass der Straßenbahnbetrieb dennoch
bis zum Kriegsende aufrechterhalten werden
konnte, wenn auch eingeschränkt. Erst die
Sprengung nahezu aller Neckarbrücken durch
deutsche Pioniere in den letzten Tagen vor der
Kapitulation führte zu einer nachhaltigen
und länger andauernden Beeinträchtigung des
Straßen­bahnverkehrs.
Was die Betriebsmittel angeht, waren die
Angriffe vom 25. bis zum 29. Juli 1944 für die
SSB besonders schlimm. Hierbei wurden nicht
nur die Betriebshöfe Vogelsang, Feuerbach und
Ostheim vollständig zerstört, sondern auch die
ebenfalls in Ostheim gelegene Hauptwerkstatt.
Und natürlich waren auch die Gleisanlagen massiv
betroffen.
47
Links und rechts | Die Schäden am SSBDienstwohngebäude in Zuffenhausen, in
der Nacht zum 5. Mai 1942 entstanden,
waren ärgerlich, aber überschaubar. Auch
die Rückfront der Wagenhalle Zuffenhau­
sen (rechts) verschaffte den Glasereien
Arbeit
Abgesehen von den Opfern an Menschenleben,
die auch bei den SSB-Angehörigen zu beklagen
waren, traf dieser Angriff die Substanz der
SSB, nicht zuletzt, weil rund ein Viertel des
SSB-Fahrzeugbestandes zerstört wurde: 78
Triebwagen und 101 Beiwagen wurden in den
Depots und in der Hauptwerkstatt mit einem
Schlag zerstört.
Am 10. August 1944 schilderte Oberbürgermeister
Strölin vor seinen Ratsherren die Situation
mit folgenden Worten: „Nach den neuesten
Meldungen der Stuttgarter Straßenbahnen beträgt
ihre Verkehrsleistung mit rund 21 500 Wagen­
kilometern etwa 32 Prozent der fahrplanmäßigen
Leistung. Befahren werden außerdem ungefähr
45 Prozent des Stuttgarter Bahnnetzes und
außerdem der größte Teil der Filderbahn.“
48
Ganz sicher ohne eine Vorstellung von den tat­
sächlichen Dimensionen eines modernen Luft­
kriegs zu haben, entwickelte die SSB Dienst­
anweisungen zum Verhalten bei Fliegeralarm.
Dazu gab es schon vor und zu Kriegsbeginn
mehrere Bekanntmachungen, deren Inhalt von
der Betriebsabteilung in „Über Berg und Tal“
vom Mai 1940 zusammengefasst wurden. Dabei
sei ein kleiner Auszug zitiert, dessen Inhalt
man sich vor dem Hintergrund der Großangriffe
der Jahre 1943/44 vor Augen führen sollte.
Dazu muss man noch wissen, dass den dort
beschriebenen Handlungen bereits einige
Arbeitsschritte vorausgehen mussten und bereits
Fliegeralarm herrschte. Dabei betrug die Zeit
zwischen Alarm und Angriff nur wenige Minuten:
„Die Schaffner lassen die Fahrgäste aussteigen
und schließen ihren Wagen ab. Der Triebwagen­
führer muß außerdem den Stromabnehmer
abziehen und festbinden.
Daraufhin begibt sich das gesamte Fahrpersonal
in den nächstgelegen Sammelschutzraum und
bleibt dort, bis wieder entwarnt wird. Dabei ist
darauf zu achten, daß das Personal der einzelnen
Züge beisammenbleibt. […]
Nach der Entwarnung (gleichbleibender Sirenen­
ton oder mündlich durch Melder) begibt sich
das Fahrpersonal wieder zu seinen Wagen, und
nimmt den Verkehr auf.“
Was hier als nüchterne Routine beschrieben
wird, entpuppte sich wenige Jahre später ganz
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Die bereits gezeigte Lage in Gab­
lenberg vom August 1940. Noch galten zu
diesem frühen Zeitpunkt die nur vereinzel­
ten Schadenstellen als eine Art makabre
Sehenswürdigkeit, deren „Reiz“ vor allem
darin bestand, dass die Vorfälle außeror­
dentliche waren und den allermeisten
Betrachtern die angenehme Genugtuung
verschafften, nicht selbst betroffen zu
sein. Dies änderte sich bald
Rechts | Bereits 1937 – der Krieg kündigte
sich schrittweise, aber unübersehbar an –
fanden Übungen statt, um das richtige
Verhalten bei „Luftgefahr“ einzustudieren.
Auf der menschenleeren Planie stehen
zwei verlassene Straßenbahnzüge mit vor­
schriftsmäßig abgezogenem Bügel; der
eine Zug ist der Dienstanweisung entspre­
chend noch in die Haltestelle gefahren
worden. Der frühe Zeitpunkt der Aufnah­
me ist daran erkennbar, dass die Fahrzeuge
noch keine Verdunkelungsmaßnahmen
zeigen
Unten | Als betriebsführende Verwaltung
für die Straßenbahn Esslingen und die
Straßenbahn Esslingen – Nellingen – Den­
kendorf (END) war die SSB auch für die
Organisation dieser Betriebe zuständig.
Wegen des kriegsbedingt stark zunehmen­
den Verkehrs, auch zu den Rüstungsbetrie­
ben im Neckartal, musste die END noch
1942 einen weiteren Motorwagen
beschaffen, der als Nummer 10 eingereiht
wurde. Wegen der bekannten Zeitumstän­
de wurde keine fortschrittliche Neukon­
struktion bewilligt, sondern der „neue“
Wagen exakt nach den alten Plänen der
Wagen von 1926 mit Holzaufbau
beschafft, also ein Rückschritt um 15 Jah­
re. Auch auf diesem Fahrzeug versieht eine
junge Schaffnerin ihren Dienst
sicher als sehr viel dramatischer. Neben der
besonderen Verantwortung für ihre Fahrgäste
und den Straßenbahnbetrieb war das SSBPersonal natürlich auch denselben Bedingungen
ausgesetzt, wie alle anderen Menschen in der
Stadt. Hier ist zunächst das beim Fahrpersonal
besonders hohe Risiko zu nennen, bei einem
Luftangriff zu sterben; immerhin 53 Straßen­
bahner kamen bei Luftangriffen ums Leben.
Hinzu kam nahezu jeden Tag die Sorge um die
Familie und die Wohnung.
Dieser Alptraum endete für die Straßenbahner,
wie für alle anderen noch in der völlig zer­
bombten Stadt ausharrenden Menschen am
21. April 1945, dem Kriegsende, zumindest für
Stuttgart.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
49
Links | Gleich zwei Schaffnerinnen haben
sich um 1916 vor diesem Einser postiert,
der zwischen Cannstatt (das noch nicht
das Prädikat „Bad“ trug) und „Karlsvor­
stadt“ pendelte, also Heslach. Weiter nach
Süden führte die Strecke damals noch
nicht. Bei aller Herabwirtschaftung des
Wagenmaterials brachte der Erste Welt­
krieg für die SSB zumindest keine Zerstö­
rung und Totalschäden an den Fahrzeugen
mit sich. Rechnet man die Güterfahrzeuge
mit ein, nahm der Bestand der Wagen in
der Kriegs- und Notzeit vor und nach Ende
der Monarchie sogar zu
Rechts | Im Zweiten Weltkrieg kam die SSB
nicht umhin, auf breiter „Front“ Ruhe­
ständler des Unternehmens wieder um
Mitarbeit zu bitten. Zwang wurde nicht
ausgeübt, denn es waren nur wirklich
taugliche Kräfte gefragt. Im April 1941
kümmert sich der „aktive Rentner“ Martin
Hobuch um die Weichenpflege in einer
interessanten Verladestelle mit wenigstens
drei Anschluss- oder Nebengleisen
Straßenbahner im Krieg
Frauen und Rentner als „Ersatzarbeitskräfte“
Neben den persönlichen Sorgen und Nöten
gehört auch die Sicherstellung des Betriebs in
den Zusammenhang mit den Straßenbahnern
während der beiden Weltkriege. Abgesehen von
einer allgemeinen Übersicht zur Personalsituation
der SSB im Ersten und im Zweiten Weltkrieg
soll dieser persönliche Aspekt durch drei reale
Einzelschicksale fassbar gemacht werden.
Mit der Einziehung von immer mehr wehrfähigen
Männern ab August 1914 stellte sich trotz
erheblicher Bemühungen zur Rationalisierung
des Betriebs zunehmend die Frage nach der
Deckung des Personalbedarfs.
50
Als stille Reserve standen potenziell zwei Gruppen
zur Verfügung: Zum einen waren dies die nicht
mehr wehrfähigen Männer, also vor allem
Rentner, die schon nicht mehr aktiv tätig waren
oder Angehörige „rentennaher“ Jahrgänge, die
ihre Lebensarbeitszeit verlängerten.
nicht anzutreffen und bei den damaligen
Wertvorstellungen kaum vorstellbar. Dabei muss
man sich bewusst machen, dass Frauen zu
dieser Zeit z. B. kein aktives und passives
Wahlrecht hatten; dieses erhielten sie erst 1919
durch die Weimarer Reichsverfassung.
Zum anderen waren dies Frauen, die den Vorteil
boten, dass es hier keine Altersbeschränkung
nach unten gab, weil Frauen – damals und
noch viele Jahrzehnte lang – vollständig vom
Militärdienst ausgeschlossen waren.
Entsprechend zurückhaltend war man seitens
der Unternehmensleitung der SSB auch beim
Einsatz von Frauen. Zunächst wurden sie ab
Mai 1915 als Wagenreinigerinnen eingesetzt
und in geringerer Zahl auch im Fahrdienst,
allerdings nur als Schaffnerinnen. Erst mit der
weiter steigenden Zahl eingezogener Straßen­
bahner gab es auch mehr Schaffnerinnen,
Anfang 1916 waren es 214, mit steigender
Tendenz. Die Tätigkeit als Fahrerin blieb ihnen
bei der SSB, im Gegensatz zu manch anderen
Vor dem Ersten Weltkrieg waren bei der SSB
nur einige wenige Frauen beschäftigt und zwar
vor allem als Schreibkräfte oder Sekretärinnen.
Innerhalb des eigentlichen Geschäftsbetriebs,
gar im Fahrdienst, waren Frauen damals fast
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Ihren dienstwilligen Rentnern widmete die
SSB 1940 eine ganze Fotoserie. Links zeigt
sich „Schaffner Christian Würth II“ (es gab
also bereits einen Namensvetter bei der
SSB) im vollen Einsatz ab dem „Bahnhof
Platz der SA“, also dem Betriebshof Mari­
enplatz. In der Mitte ist Wagnermeister
Karl Beckbissinger mit 70 Jahren an seinen
Arbeitsplatz zurückgekehrt (ein Wagner –
ein heute ausgestorbener Beruf, ein Zweig
des Schreinerhandwerks – baut Wagen,
nämlich solche aus Holz, ob für Straßen
oder Schienen). Rechts ist Oberkontrolleur
Hasenforther, über 65 Jahre alt, zum – wie
es wörtlich heißt – „Kriegsdienst“ im fried­
lichen Stuttgart angetreten
Betrieben, fast verwehrt, hier griff man in der
Personalnot lieber auf alte Männer zurück.
Sehr häufig ersetzten Frauen buchstäblich ihre
Männer, Brüder oder Väter. Dies war keines­
wegs Ausdruck eines besonderen Patriotismus,
sondern ein Zwang, der aus der völlig unzurei­
chenden finanziellen Unterstützung der Soldaten­
familien folgte: Um die Existenz der Familie
zu sichern, mussten die Frauen arbeiten und
die Firmen, so auch die SSB, boten ihnen die
Gelegenheit dazu.
Während des Zweiten Weltkriegs war der Ein­
satz von Frauen, vor allem von verheirateten
Frauen, auch aus ideologischen Gründen proble­
matisch, weil die NS-Entscheidungsträger
auf diese Weise mit dem eigenen Frauenbild
brachen: Bis dahin war, nach Auffassung der
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
NSDAP, der alleinige und natürliche Wirkungs­
kreis der „deutschen Frau“ Heim, Herd und
Familie. Nun musste dieses unumstößliche
Weltbild den Bedingungen des Krieges geopfert
werden und Frauen sollten in vielen Bereichen
„ihren Mann“ stehen, auch bei der Straßenbahn.
Mit dem Fortschreiten des Krieges und der
immer weitergehenden Einziehung des Fahr­
personals zum Dienst an der Waffe mussten
zunehmend weibliche Arbeitskräfte eingesetzt
werden. Zwar gab es hierunter auch „echte“
Schaffnerinnen, die, z. B. als Zulassungsvoraus­
setzung für einen Studienplatz, hier einer Arbeit
im Sinne des „Dienstes am Volk“ nachgingen.
Der größte Teil aber rekrutierte sich ab 1942
aus den Arbeitsmaiden, die während ihrer
Dienstverpflichtung von in der Regel einem
halben Jahr unter kasernenartigen Umständen
untergebracht wurden. Dazu wurde z. B. das
erst 1938 eingeweihte „Gefolgschaftsheim“ auf
der Waldau entsprechend umgebaut.
51
Links | Der Elektromechaniker Adolf
Schmitt, selbstverständlich ein Rentner, bei
der höchst wichtigen Tätigkeit in der
Ankerwicklerei für die Elektromotoren der
SSB-Triebwagen
Rechts | Schlosser August Rauser, auch er
aus dem Kreis der über 65-jährigen, bei
der Feilarbeit am Schraubstock. In dieser
Zeit war der Techniker Helmut Seeger
Betriebsleiter der SSB. Als über zwei Jahr­
zehnte später der Gemeinderat anregte,
die SSB möge historische Wagen bewah­
ren, womöglich betriebsfähig erhalten und
zu ihrer Betreuung allenfalls auf rüstige
Rentner des Unternehmens zurückgreifen,
resümierte Seeger, inzwischen technischer
Vorstand der SSB, mit solchen Kräften sei­
en zur Kriegszeit „ganz schlechte Erfah­
rungen“ gemacht worden
Frauen und Rentner als „Ersatzarbeitskräfte“
Nicht zuletzt die relativ kurze Dienstzeit der
Schaffnermaiden zwang zu einer Vereinfachung
des komplizierten Teilstreckentarifs, um die
Ausbildungszeit zu verkürzen. Nach einer ersten
Vereinfachung des Teilstreckensystems ging
die SSB schließlich zum Einheitstarif über: Nun
kostete jede Fahrt gleich viel, unabhängig von
der Länge der Strecke.
Die Gesamtzahl der bei der SSB im Zweiten
Weltkrieg eingesetzten Frauen unterlag starken
Schwankungen. Allerdings ist ein deutlicher
Sprung zwischen den Jahren 1941 und 1942
erkennbar, wo die bisherige Anzahl von unter
300 auf knapp 400 und mehr Frauen zunahm.
Im Zweiten Weltkrieg war die Akquise weiblichen
52
Personals wesentlich schwieriger als im Ersten;
als Folge der großzügigen Unterstützung der
Soldatenfamilien durch die nationalsozialistische
Regierung fehlte schlicht die Notwendigkeit zur
Arbeit. Die umfassenden Dienstverpflichtungen
waren insofern eine konsequente Reaktion auf
diese Randbedingung. Keinen Unterschied zur
Situation 25 Jahre zuvor gab es bezüglich des
Einsatzes älterer oder aus anderen Gründen
nicht mehr militärdienstfähiger Männer. Diese
wurden zum Teil aus dem Ruhestand heraus
wieder zur SSB zurückgerufen oder sie verlän­
gerten ihre Dienstzeit über die Ruhestandsgrenze
hinaus. In der Betriebszeitschrift „Über Berg
und Tal“ wurden sie für ihren besonderen Einsatz
regelmäßig gewürdigt. Anders als bei anderen
Straßenbahnbetrieben gibt es bei der SSB keine
Hinweise auf den Einsatz von Zwangsarbeitern,
Ostarbeitern, Kriegsgefangenen oder gar KZHäftlingen. Allerdings waren zu Beginn des
Krieges einige Fremdarbeiter bei der SSB ein­
gesetzt, wenn auch nur für kurze Zeit. Diese
Tatsache war sicher nicht moralischen Skrupeln
geschuldet, sondern hatte seinen Grund darin,
dass die in Stuttgart geballt vorhandene Rüstungs­
industrie oberste Priorität beim Zugriff auf
solche Arbeits­kräfte hatte.
Schließlich sei noch ein Aspekt erwähnt, der für
das gesamte SSB-Personal im Ersten Weltkrieg
noch keine Rolle spielte: die unmittelbare und
praktisch tägliche Lebensgefahr durch alliierte
Luftangriffe. Allein in der Angriffskampagne
von Ende Juli 1944 wurden sechs SSB-Angehörige
durch Fliegerbomben getötet.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links oben | Rentner Friedrich Nussbaum, Oberschaffner,
1940
Rechts oben | Nochmals Alt-Wagnermeister Beckbissinger;
aufschlussreich der Blick in die Wagnerei
Unten | Der Geschäftsbericht der SSB für 1942 nennt für
die Heidenklinge Heslach bei der dortigen Abstellanlage
die Errichtung einer Wohnbaracke „für ausländische
Arbeiter“ – die einzige Erwähnung eines solchen Perso­
nenkreises in den Annalen. In der Zeit des Wiederaufbaues
und des Wirtschaftswunders war die SSB über diese
Unterkunftsmöglichkeit weiterhin sehr froh. Im Juni 1954
rollt dieser Einser an dem bescheidenen Bauwerk vorbei.
Seit 1969 erstreckt sich dort der SSB-Betriebshof Heslach
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
53
Wohl fast jeder heutige Fahrgast der SSB
kennt die halb unterirdische Haltestelle
Waldau der Stadtbahn. Doch wer weiß
noch, dass dort einst entlang des Georgii­
weges eine Straßenbahnstrecke entlang­
führte, die sich zwischen Ruhbank und
einer Wendeschleife am Königsträßle in
Sichtweite des Wasserturmes Degerloch
erstreckte? Diese als Linie 9 oder Linie „Sp“
wie Degerloch/Spielplätze bezeichnete
Verbindung diente schließlich nur noch
dem innerdienstlichen Zubringerverkehr
zum „Kameradschaftsheim“ Degerloch der
SSB, dem neuen Straßenbahner-Waldheim
von 1939. Denn dort waren die „Schaff­
nermaiden“ einquartiert, sprich die dienst­
verpflichteten oder freiwillig angeworbe­
nen Schaffnerinnen, die hier dienstfertig
ausrücken
mich haben sie als Unterkunftsleiterin bei einer
Firma beim Marienhospital eingesetzt. Während
der Zeit habe ich versucht, an der Technischen
Hochschule anzukommen. Erst hieß es überhaupt
nein, als Frau war das außergewöhnlich, dann
war ich ein paar Wochen an einem Institut als
Angestellte, nicht als Studentin. Dann habe ich
im Frühjahr 1943 doch die Zulassung gekriegt,
mit der Verpflichtung zum Arbeiten.“
Wie sind Sie denn in den Schaffnerdienst bei
der SSB gekommen?
Lebensläufe
Schaffnerin Inge B.
Eine Geschichte aus dem Krieg
Wer im Zweiten Weltkrieg studieren wollte,
musste nebenbei arbeiten. Die Architekturstudentin
Inge B. erinnerte sich 60 Jahre nach Kriegsende
in einem Gespräch an ihre Zeit bei der SSB.
Frau B., sind Sie in Ihrer Kindheit oft mit der
Straßenbahn gefahren?
„In der Familie hatten wir keinen Straßenbahner.
Doch wir sind fast jeden Sonntag an die Stelle
gekommen, am Dürrbachtäle gewesen. Das war
damals ein Naherholungsgebiet — früher konnte
man noch die schönsten Ausflüge machen.
Aber als Kinder sind wir viel gelaufen. Ein
54
Kinderfahrschein hat damals zehn Pfenning
gekostet. Wenn wir nach Vaihingen ins Freibad
wollten, oder sogar an den Stausee, sind wir
manchmal von der Hohenheimer Straße gelaufen,
wo wir zuerst gewohnt haben, damit wir das
Zehnerle sparen. Dafür konnten wir uns dann
ein Eis kaufen.“
Was haben Sie vor Ihrer Zeit bei der Straßenbahn
gemacht?
„Im Frühjahr 1942 habe ich Abitur am Katha­
rinenstift gemacht. Dann wurde ich zum Ar­
beitsdienst eingezogen. Sieben Monate war ich
im Einsatz auf Bauernhöfen, da haben wir die
volle Arbeit mitgemacht. Im zweiten Halbjahr
hatte ich Einsatz in der Industrie. Das nannte
man Kriegshilfsdienst. Ich hatte Riesenglück,
„Ich war drei Semester bei der SSB. Der Dienst
war mit dem Studium gut zu vereinbaren. Die
haben das natürlich gewusst, daher hatten wir
oft die Abendschichten bekommen oder die
ganz frühen. Während der Semesterferien war
es dann voller Einsatz — wenn die Ablösung
nicht kam, hat es sein können, dass man 14
Stunden am Tag auf dem Zug gestanden ist.
Ich bin vom Depot Ostendplatz gefahren.
Wenn ich da morgens um vier Uhr sein musste,
bin ich jede Nacht die Haußmannstraße hoch­
gelaufen. Damals war ich gut zu Fuß. Vier
Wochen lang hatte ich beispielsweise eine Tour
zum Westbahnhof in der Frühe. Daran kann
ich mich noch gut erinnern: Ein Wagen war
Raucher. Und der Fahrer hat jeden Tag seine
Pfefferminz-Pfeife geraucht.“
Haben Sie sich von den Betriebskollegen und
Fahrgästen respektiert gefühlt?
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Aus heutiger Sicht fast unverständ­
lich heiter, angesichts der Kriegszeiten,
und mit sichtbarem Stolz präsentiert sich
die damals knapp 20jährige Inge B.
Rechts | Der Keller des StraßenbahnerWaldheims in Degerloch wurde von
Anfang an als offizieller Luftschutzraum
geplant
Aber sicher. Natürlich kam mal einer und hat
ei­nen blöden Spruch gemacht. Sie kennen doch
sicher das Lied von der ›süßen kleinen Schaff­
nerin‹? Jedesmal, wenn jemand dieses Lied an­
gefangen hat, da sind wir stocksauer geworden,
denn wir waren keine süße kleine Schaffnerin, wir
haben ja schließlich eine richtige Arbeit gemacht.
Wir sind von der Schneiderei nach Maß ein­
gekleidet worden und haben eine Jacke gekriegt
und ein Schiffle. Wir waren stolz darauf, weil
wir ja ernst genommen werden wollten. Von
den Vollkräften haben wir uns nur durch einen
ganz schmalen Streifen auf dem Ärmel unter­
schieden. Meine Mutter hat mir dann einen
grünen Rock gegeben, der hat hervorragend
zu der Jacke gepasst. Wir waren damals ja jung,
und haben auch auf unser Aussehen geachtet.“
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Wie haben Sie damals die Stimmung im Wagen
wahrgenommen?
heute noch eine Gänsehaut, das war ja extrem
gefährlich.
„Urlauber oder überhaupt Soldaten gab es nur
ganz selten, hier und da. 1943, das war ja in
der schlimmsten Zeit vom Krieg. Gelegentlich
hat man dann etwas erfahren können, da hat
einer etwas rausgelassen, was er sonst nicht
erzählt hätte. Er wusste ja, wenn er wieder weg
ist, dann war das halt irgendjemand.
Es war überhaupt eine ziemliche Tristesse: Die
Angst vor der ungewissen Zukunft, die Angst
vor der Gegenwart, und natürlich die Angst
vor den Spitzeln, die diese Angst nicht merken
durften.“
Woran ich mich noch gut erinnere, sind die
hoffnungslos überfüllten Züge. Wenn die Leute
auf den Trittbrettern standen, das ging ja noch.
Das Schlimmste war, wenn sie auf der Kupplung
gestanden sind. Die Leute haben gesagt, ich
muss zur Arbeit — die habe ich nicht runter­
gekriegt. Bei dieser Vorstellung kriege ich
55
Links | Genesende Soldaten auf der Fahrt
im „gläsernen“ Straßenbahnwagen durch
Stuttgart. Uniformierte Aufsicht fährt
ebenso mit wie eine Krankenschwester.
Aufnahme in der Schwabstraße
Rechts | Die Verbindung der SSB zu „ihren“
Soldaten war nicht nur ideell, wie die
Feldpostpaketsendung von 1940 zeigt
Archiv SSB
Im Kampfeinsatz
Straßenbahner an der Front
In allen kriegführenden Nationen wurde vor
Beginn der Kampfhandlungen mobil gemacht,
d. h. es wurden Reservisten eingezogen, die das
stehende Heer verstärkten. Zumindest in den
ersten Jahren beider Weltkriege waren es in
erster Linie jüngere Männer bis etwa 30 Jahre,
die einberufen wurden.
SSB-Direktor Loercher fast 75 Prozent der
damaligen Gesamtzahl der Fahrer und Schaffner
entsprach. Bezogen auf das gesamte Personal
waren es rund 50 Prozent und damit weit mehr,
als bei vergleichbaren Verkehrsbetrieben, von
denen nur etwa 20 Prozent des Personals 1914
eingezogen wurden. Dieser hohe Anteil ist
möglicherweise der Grund, dass schon Anfang
September 1914 immerhin 75 Betriebsangehörige
wieder zur SSB zurückkehren konnten.
Für den Ersten Weltkrieg lauten die nüchternen
Zahlen der SSB-Beschäftigten so, dass insgesamt
1 509 Männer eingezogen wurden, davon sind
165 Straßenbahner gefallen oder blieben vermisst.
In den Folgejahren wurden aber dennoch weitere
Straßenbahner zum Militärdienst einberufen,
allein 1916 waren es 130, 24 SSB-Mitarbeiter
sind allein in diesem Jahr gefallen.
Schon bei Kriegsbeginn wurden 836 Fahr­
bedienstete eingezogen, was laut Aussage von
Während des gesamten Zweiten Weltkriegs
waren 994 SSB-Mitarbeiter bei der Wehrmacht,
56
vermutlich einschließlich der Waffen-SS. Bezogen
auf den Personalbestand von 2 869 Männern
im letzten Friedensjahr 1939 entspricht dies einem
Anteil von knapp 35 Prozent Diese Angaben
aus der ersten Nachkriegsausgabe der SSBBetriebszeitschrift „Über Berg und Tal“ vom Juni
1949 sind noch weiter differenziert. Demnach
waren am 1. Mai 1945, also kurz vor Kriegsende,
879 „Gefolgschaftsmitglieder“ in Gefangen­
schaft, von denen im Juni 1949 noch immer
104 Männer in Gefangenschaft waren. Die Zahl
der gefallenen „Betriebskameraden“, wie es dort
heißt, wird mit 168 angegeben. Dabei führt
die alphabetisch geordnete Namensliste „zu ihrem
ehrenden Gedenken“ auch diejenigen auf, die
Opfer von Bombenangriffen wurden. Rein
rechnerisch ergibt sich bei diesen Angaben eine
Zahl von 115 gefallenen SSB-Angehörigen.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Bemerkenswert ist an dieser Todesanzeige
vom März 1944 die Schaffnerin als Bombenopfer
unter den Gefallenen
Über Berg und Tal 9. Jahrgang Nr. 2
Rechts | Im Sommer 1940 erscheint der Krieg fast
wie ein großes Abenteuer, nur ein Beitrag hat
einen ernsten Unterton
Über Berg und Tal, 5. Jahrgang, Nr. 6/7
Über eine besondere Betreuung der zum Kriegs­
dienst eingezogenen SSB-Mitarbeiter ist für
den Ersten Weltkrieg nichts bekannt, die Unter­
stützung der „Kriegerfamilien“ ist ein anderes
Kapitel. Im Zweiten Weltkrieg stellte sich dies
völlig anders dar, hier wurde praktisch vom
ersten Kriegstag an die Verbindung zwischen
der Front und der Heimat hochgehalten. Die SSB
versorgte „ihre“ Soldaten regelmäßig mit
„Liebesgaben“. In allen Kriegsausgaben von „Über
Berg und Tal“, bis zur Einstellung des Blattes
Mitte Dezember 1944, erschien die Rubrik „Die
Front grüßt die Heimat“. Und natürlich ließen
sich dort auch die Opfer des Krieges nicht
verheimlichen, hier wurde allerdings zwischen
denen, die für „Führer, Volk und Vaterland“
den „Heldentod starben“ und jenen, die Opfer von
„Terrorangriffen“ wurden, fein unterschieden.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
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Links | Das kleine Gruppenbild vom Karlsplatz (um 1942) demonstriert Fröhlichkeit.
Es kann nicht verhehlen, dass die Transporttechnik Deutschlands, die seinerzeit
längst hochmoderne Schnellbahnen mit
automatischen Türen, Zugfunk, Hochgeschwindigkeitsverkehr und rationelle Verladetechnik hervorgebracht hatte, in Fällen
wie dem Straßenbahn-Güterverkehr wieder auf das technische Niveau der Jahrhundertwende zurückgesunken war
Rechts | Der Große Saal im neuen SSBWaldheim Degerloch diente nicht lange
den Jubiläumsfeiern oder Bunten Abenden
der Straßenbahner. Für die Dutzenden von
Jungschaffnerinnen wandelte er sich zur
Massenunterkunft. Rasch eingezogene
Trennwände teilten die Fläche in enge
Schlafkabinen mit Stockbetten ein. Nach
oben waren die Gelasse offen, statt Türen
gab es Vorhänge
Straßenbahnerfamilien in Not
In beiden Weltkriegen waren die meisten eingezogenen SSB-Betriebsangehörigen Ehemänner
und Väter und in der Regel die einzigen oder
zumindest die Hauptverdiener in der Familie. 1914
z. B. waren von den insgesamt 761 eingezogenen
Straßenbahnern 529 verheiratet. Inso­fern war
der Kriegsdienst nicht nur mit der Angst um Leben
und Gesundheit des Mannes verbunden, sondern
auch mit der Sorge um die wirtschaftliche
Existenz der Familie. Hinzu kam im Zweiten Weltkrieg spätestens in den letzten Kriegsjahren auch
die Angst vor Bombenangriffen.
Bei den Angaben zur Einkommenssituation der
Straßenbahnerfamilien ist zu bedenken, dass es
keine Lohnfortzahlung der Beschäftigten durch
58
die SSB gab. Stattdessen erhielten die Soldaten
selbst nur ihren Wehrsold, die Familien bekamen
staatliche Leistungen, die gesetzlich geregelt
waren. Im Selbstverständnis des Staates handelte
es sich dabei um Almosen.
Im Ersten Weltkrieg stellte sich diese staatliche
Unterstützung folgendermaßen dar, die Angaben
beziehen sich jeweils auf den Monat:
Bei durchschnittlichen Lebenshaltungskosten
von rund 34 Mark für eine Frau mit drei Kindern
im Jahr 1914, reichten die staatlichen Gelder
nicht aus. Daher gewährten vor allem größere
Unternehmen den Familien ihrer Beschäftigten
zusätzliche Unterstützungen. Im Falle der SSB
waren dies bei Kriegsbeginn 15 M für die Ehefrau
und 5 M für jedes eheliche (!) Kind, für die
Kinder jedoch maximal 25 M. Im Fall der
Soldatenfamilie mit drei Kindern wären dies
also 40 M pro Monat gewesen. Mit insgesamt
70 M im Monat war also für die Straßenbahner­
familien in den ersten Kriegsjahren ein auskömmliches Leben möglich. Dies änderte sich aber
mit zunehmender Kriegsdauer, als sich die
massive Teuerung aller Güter des täglichen
Bedarfs immer mehr verstärkte. Ende 1915 wurde
die staatliche Familienunterstützung in mehreren
Schritten massiv erhöht. Demgegenüber blieb
der Zusatzbetrag lange Zeit gleich und wurde
erst im März 1918 um 50 Prozent erhöht. Bei den
aktiven Betriebsangehörigen wurden während
des gesamten Krieges durch prozentuale Zuschläge oder Zulagen und Zuschüsse die Nominal­
einkommen erhöht.
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Ein Mindestmaß an funktionierendem
Straßenbahnverkehr gehörte zur „Reichsverteidigungsaufgabe“, die auch „Verkehrs­
zwecke“ umfasste. Etliche Mitarbeiter, vor
allem technische Fachkräfte, erhielten
deshalb – wenn sie Glück hatten – die so
genannte UK-Stellung, sprich die Bescheinigung der Unabkömmlichkeit vom Zivilberuf, de facto die Zurückstellung vom
oder Entlassung aus der Pflicht zum Wehrdienst. Hier betreuen einige Werkstattleute
1940 den Probetriebwagen 300 (am rechten Bildrand) und nutzen dazu den verdunkelten Motorwagen 325
Trotz dieser Transfers verschlechterte sich die
Lebenssituation der Soldatenfamilien im Laufe
des Krieges deutlich, weil die sich immer mehr
beschleunigende Inflation die Zuschläge mehr
als wett machte; das galt in ähnlicher Weise
auch für die SSB-Beschäftigten.
Zu den bescheidenen finanziellen Verhältnissen
kam schon ab 1916 der Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoffen hinzu. Von der
Lebensmittelknappheit waren keinesfalls nur
hochwertige Produkte wie Fleisch oder Eier
betroffen, sondern auch Grundnahrungsmittel.
Der berüchtigte „Steckrübenwinter“ 1916/17
steht hierfür beispielhaft. Die teuren Lebensmittel
und die damit verbundene Not der Straßen­
bahner war ab Herbst 1917 auch Gegenstand
von Aufsichtsratssitzungen der SSB.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Während des Zweiten Weltkriegs achteten die
Nationalsozialisten sehr penibel darauf, dass
die Angehörigen eingezogener Soldaten über
ausreichende Einkommen verfügten. In einer
zeitgenössischen Chronik heißt es dazu im
Zusammenhang mit der Tätigkeitsbeschreibung
der Verwaltung bei Kriegsbeginn 1939:
„Zunächst müssen die vielen Anträge auf
Familien­unterstützung aufgenommen werden.
Man kann sagen, dass diese vom Staat sehr
wohlwollend behandelt werden; die Unterstützung
ist so reichlich bemessen, dass die Familie
eines zur Wehrmacht Einberufenen keine Not
zu leiden brauchte. Man wollte die Leute zufriedenstellen.“
Was hier für eine kleine hessische Gemeinde
beschrieben wird, gilt auch für Stuttgart, tatsächlich litten die Familien von Soldaten keine
materielle Not. Bei Betrieben wie der SSB
waren sie zudem in das enge soziale Netz der
betrieblichen Fürsorge eingebunden.
Was die Lebensmittelversorgung angeht, war es
im Zweiten Weltkrieg so, dass bei Kriegsbeginn
diesbezüglich erhebliche Probleme bestanden.
Sie waren nicht zuletzt organisatorischen Fehlern
und bürokratischen Schwergängen geschuldet,
aber auch echtem Mangel an Ressourcen. Diese
Phänomene waren auch in Stuttgart vorhanden
und wurden von der Bevölkerung teils heftig
kritisiert.
59
Oben | Buchstäblich von heute auf morgen wurden der SSB im Sommer 1944
nicht weniger als 80 Schaffnerinnen entzogen. Wie das Unternehmen damit fertig
wurde, war seine Sache
Unten | Zu allen Belastungen der Kriegsund Nachkriegszeit kamen mehrere besonders harte Winter, die für zusätzliche Ausfälle bei Menschen und Material sorgten.
1941 plagen sich diese SSB-Mitarbeiter in
der Ostendstraße mit einem besonderen
Frachtgut ab: gefrorenem Wasser
Auf den ersten Blick erscheint es paradox,
dass die Lebensmittelversorgung im Laufe des
Krieges für längere Zeit deutlich besser wurde.
Dies wurde durch die systematische und rücksichtslose Ausplünderung der von den deutschen
Armeen besetzten Länder erreicht. Erst als
diese Quellen Schritt um Schritt versiegten,
verschlechterte sich auch die Versorgungslage.
Unabhängig davon bemühten sich die Nazis
so lange wie möglich, dem Alltag in der Heimat
zumindest einen friedensmäßigen Anschein zu
verleihen.
Diese Form der Sozialpolitik, die bei der SSB wie
in vielen größeren Betrieben umgesetzt wurde,
resultierte aus den Erfahrungen des Ersten
Weltkriegs: Eine möglichst große Zufriedenheit
der Angehörigen der Soldaten sollte die Moral
der Truppe stärken. Der von den Nationalsozia­
listen immer wieder zitierte „Dolchstoß“ in den
Rücken der Armee, der angeblich zur Niederlage im Ersten Weltkrieg geführt hatte, sollte
unbedingt verhindert werden.
60
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
In dieser „Stadt“ lebte in diesem Zustand
immer noch eine Viertelmillion Menschen:
Die Lage in der Stuttgarter City, Ecke
Marktstraße/Esslinger Straße, 1947. Der
Zug der Trümmerverwertungsgesellschaft,
einer städtischen Tochter, an der auch die
SSB beteiligt war, kurvt Richtung Neckartal, wo nunmehr nach Aushub und Klärschlamm auch Trümmerschutt abgekippt
wird
Stunde „Null“
Restaurierung und Neubeginn
April 1945 war die Bevölkerung gegenüber Mai
1939 um über 40 Prozent geringer.
Für Stuttgart endete der Krieg am 21. April
1945, einen Tag nach dem letzten Geburtstag
des „Führers“ und knapp drei Wochen vor der
bedingungslosen Kapitulation des Deutschen
Reiches. Der 1933 von der NSDAP ins Amt
eingesetzte Oberbürgermeister Strölin hatte sich
geweigert, Stuttgart zur „Festung“ zu erklären
und zu verteidigen. Stattdessen übergab er im
Gasthaus „Zum Ritter“ in Degerloch die Stadt
kampflos den aus Süden vorrückenden französischen Truppen.
Noch unmittelbar vor dem Einmarsch der französischen Armee sprengten deutsche Pioniere
alle Brücken über den Neckar, mit Ausnahme
des Berger Stegs. Diese Flussquerung wurde
vor allem wegen der in der Brücke liegenden
Hauptwasserleitung geschont.
Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt nach 53
Bombenangriffen weitgehend zerstört und nur
noch sehr eingeschränkt bewohnbar. Am 30.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Der Straßenbahnbetrieb konnte zwar weitergeführt werden, da die Betriebsmittel auf die
beiden Neckarseiten verteilt waren; noch in der
Nacht vor den geplanten Brückensprengungen
hatte man hierzu die Wagen entsprechend aufgeteilt.
Trotz der spätestens seit den großen Bombenangriffen des Jahres 1944 immer stärkeren
Beeinträchtigungen des Streckennetzes und
des Betriebsablaufs lief der Gesamtverkehr den
gesamten Krieg über. Der Straßenbahnbetrieb
wurde erst nach dem Ende des Krieges in Stuttgart
und dann nur für kurze Zeit, nämlich vom
21. April bis zum 10. Mai 1945, vollständig
eingestellt. Bereits Ende Mai 1945 konnte die
SSB an französische Militärbehörden melden,
dass rund 71 Prozent des Netzes von zirka 140
km Gesamtlänge wieder befahrbar seien.
Was das Personal angeht, so kehrten vor allem
ab 1946 wieder viele der eingezogenen SSBAngehörigen, die den Krieg überlebt hatten und
aus der Gefangenschaft entlassen waren, wieder
zurück. Einige davon werden in der Heimatstadt
61
Heute warten hier an der Stadtbahnhaltestelle Berliner Platz/Hohe Straße die Fahrgäste. Im April 1948 kippt dort der Lorenzug,
der auf der Feldbahn-Standardspurweite
von 600 Millimetern fährt, seine Ladung in
die Muldenkippwagen der meterspurigen
Straßenbahn. „Ungehindert“ durch Gebäude geht der Blick Richtung Wilhelmsbau
beschaffen war. Der Fahrzeugmangel war daher
zunächst nur mit dem Einsatz von Wagen aus
Pforzheim und Würzburg zu lindern. Dennoch
waren die eingesetzten Straßenbahnzüge hoffnungslos überfüllt: Zum einen gab es keine
Alternative zur Bahn und zum anderen war
bereits Ende 1945 die Einwohnerzahl Stuttgarts
wieder auf 359000 gestiegen. Zwei Jahre später
war der Vorkriegsstand beinahe wieder erreicht
und wurde 1950 erstmals überschritten. Auch
der Straßenbahnbetrieb hatte sich wenige Jahre
nach dem Krieg wieder normalisiert, wenn man
von dem erst in den 50er Jahren abnehmenden
Fahrzeugmangel absieht. Schon 1946 beförderte
die SSB 188,1 Millionen Fahrgäste bei 28,8
Millionen Wagenkilometern und einem Gesamtpersonal von 3 359 Beschäftigten.
keine Wohnung oder keine Familie mehr vorgefunden haben, manche sicherlich weder Familie
noch Wohnung.
Wie nach der so genannten Machtergreifung im
Januar 1933 wurden nun wegen der politischen
Vergangenheit auch wieder Personen ausgetauscht,
allerdings weitaus geringer und milder, als dies
die Nazis mit ihren politischen Gegnern taten.
Manch einer, der 1946 oder 1947 als politisch
Belasteter von der SSB entlassen wurde, war
kurze Zeit später wieder in den Diensten des
Unternehmens.
Diese Großzügigkeit war jedenfalls zum Teil
dem Umstand geschuldet, dass man für den
anstehenden Wiederaufbau oder Neuaufbau auf
keine Hand verzichten wollte.
62
Dies galt natürlich nicht nur für die SSB, sondern
in fast allen Bereichen z. B. der Wirtschaft,
des Verkehrswesens und der Verwaltungen und
zwar mehr oder weniger in allen vier Besatzungszonen.
Tatsächlich waren die Aufgaben auch beim
öffentl­ichen Nahverkehr in Stuttgart gigantisch.
Abgesehen von den festen technischen Anlagen
litt die SSB vor allem unter massivem Fahrzeugmangel, weil der Luftkrieg hier besondere
Schäden verursacht hatte. Für den Aufbau
noch brauchbarer Fahrzeugreste oder gar die
Neubeschaffung von Fahrzeugen standen gleich
nach dem Krieg keine Mittel zur Verfügung.
Selbst die denkbar einfachen „Pappendeckelwagen“ konnten erst 1947/48 fertiggestellt
werden, weil die Fahrzeugelektrik nicht zu
Eine originäre Aufgabe der Nachkriegszeit war
die Beseitigung der Trümmer, die durch den
Luftkrieg entstanden waren und während des
Krieges nur teilweise entfernt werden konnten.
Neben den für Bauzwecke regelmäßig und
häufig eingesetzten Feldbahnen mit kleinen
Dampf- oder Diesellokomotiven kamen in Stuttgart dazu auch elektrische Züge zum Einsatz.
Im Auftrag der „Gemeinnützigen Gesellschaft
für Trümmer-Verwertung und Beseitigung in
Stuttgart mbH“ ( TVB) beschaffte die SSB mit
ausdrücklicher Zustimmung der mittlerweile
amerikanischen Besatzungsmacht 12 zweiachsige
Elektroloks bei der Maschinenfabrik Esslingen.
Mit diesen robusten, aber leistungsstarken
Maschinen konnten große Mengen Schutt aus der
Stadt transportiert werden. Allmählich wurden
für diese Zwecke auch verstärkt Lkw eingesetzt.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Die Reste des Betriebshofs Ostheim nach ersten Aufräumungsarbeiten: Mit nichts als den eigenen Händen, ohne
Unterkunft, Heizung und bei weniger als schlechter
Ernährung, müssen die Straßenbahner – und die Einwohner – wieder fast bei Null anfangen. In den Ländern und
Städten, in denen Deutschland Bomben abgeworfen hat,
ist es aber genau so
Bereits deutlich schneller als geplant, schon
1948, war der meiste Trümmerschutt in Stutt­gart
aufgeräumt. Offiziell endete die Trümmerbeseitigung bzw. das Trümmerrecycling von rund
5.000.000 m³ Material am 31. Oktober 1953
und kostete fast 18 Mio. DM. Der Neuaufbau
und teilweise auch Wiederaufbau Stuttgarts
hatte zu dieser Zeit längst begonnen. Dabei war
neben vielem anderen vor allem auch Wohnraum zu schaffen. Die immensen Bombenschäden
hatten den seit Jahrzehnten knappen Wohnraum weiter deutlich verringert. Dabei mussten
nicht nur die „Alteingesessenen“ wieder eine
Bleibe bekommen, sondern zusätzlich auch die
Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, die neu
nach Stuttgart kamen. Diese Menschen stammten
überwiegend aus dem Osten des untergegangenen Großdeutschen Reiches, aber auch aus
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Siedlungsgebieten, die nach Kriegsende unter
den Einfluss der UdSSR gekommen waren.
Ab 1949 entstand angrenzend an eine bereits
bestehende Siedlung der 1920er und 1930er Jahre
der spätere Stadtteil Stuttgart-Rot speziell für
diesen Teil der Bevölkerung. Es war die erste
komplette Siedlung, die in Stuttgart nach dem
Krieg gebaut wurde. Die Straßenbahnanbindung
war von Anfang an mit dabei.
Was bei allen Aufbaubemühungen bei den meisten
Menschen, nicht nur in Stuttgart, zu kurz
kam, waren die Fragen, wer und was für die
Menschenopfer und Zerstörungen des Zweiten
Weltkriegs verantwortlich war.
63
H.-J. Knupfer
Kartoffeln, Kohlen,
Krankenbahren
Stuttgarts Straßenbahn im
Ersten Weltkrieg
Links | Mit Gewehr in der Straßenbahn:
Die Bühnen des erst 1912 gebauten Triebwagens 291, der hier 1915 an der Lenzhalde steht, sind bereits verlängert worden,
damit mehr Fahrgäste unterkommen,
wenigstens im Stehen. Ein Trupp Soldaten
demonstriert dies augenscheinlich; selbst
den Fahrer – der rechts neben der korrekt
uniformierten Schaffnerin steht – haben
sie für die Dauer der photographischen
Aufnahme von seinem Platz verdrängt.
Ganz rechts im Wagen ein Sanitäter mit
Rotkreuzbinde, was für einen Genesendentransport spricht: Schließlich fahren Militärs
für gewöhnlich nicht per Tram, sondern
marschieren
Rechts | Ludwigsburger Straße in Feuerbach, 22. September 1918: Noch sind
Kriegsflugzeuge eher tollkühne Kisten als
richtig ernstzunehmende Bedrohungen,
noch erzeugt das Auftauchen eines solchen
Luftmobils – noch dazu in der Heimat –
eher heimliche Bewunderung als Furcht.
Ein erster kleiner Schaden – eher eine Art
Nadelstich – ist dennoch entstanden
Jener große Krieg von 1914 bis 1918, der später
der Weltkrieg genannt wurde und noch später
der „Erste“, war nicht überraschend gekommen.
Nationalistische Säbelrassler, geltungssüchtige
Militärs und geschäftstüchtige Waffenfabrikanten
in mehr als einem oder zwei Ländern Europas
bekamen endlich, was sie seit langem unverhohlen
angestrebt hatten: Vermeintliche Vorherrschaft,
Einsatz herrlicher technischer Männerspielzeuge,
persönliche Karriere, satten wirtschaftlichen
Erfolg. Doch je länger der „Waffengang“ dauerte,
umso mehr verschärften sich die Probleme in
der so genannten „Etappe“: in den Heimatgemeinden weit weg von der Front - ein Umstand,
den die Strategen hinten und vorne nicht
einkalkuliert hatten. Das betraf nicht minder
die Straßenbahnen – auch in Stuttgart.
64
Zerstörung, Trümmer, Not und Elend – das
bringt man, wenn es um die Geschichte Stuttgarts geht, sofort mit dem Zweiten Weltkrieg
in Verbindung. Doch wie sah es damit vor 100
Jahren aus, im Ersten Weltkrieg? Lagen da
die Städte im Heimatland nicht mehr oder
weniger im Frieden, während weit weg jenseits
der Grenzen, im Westen und zunächst auch
im Osten, gekämpft wurde? Tatsächlich hielt
sich die direkte Feindeinwirkung damals sehr
in Grenzen: Als im Herbst 1918 eine leibhaftige
Fliegerbombe auf eine Straße in Zuffenhausen
plumpste, schickte man sogar eigens einen
Fotograf, um das ulkige Ereignis gebührend
festzuhalten.
Lustig war jene Kriegszeit deshalb aber ganz
sicherlich nicht: Die Toten von der Front,
Familien ohne Vater und Ernährer, Mangel an
Lebensmitteln und Medizin, Brennstoff und
Kleidern, Teuerung und Armut, das traf auch
die Württemberger und Stuttgarter genauso.
Und die SSB? Bei Kriegsbeginn im August 1914
musste das Unternehmen zunächst über 800
Mitarbeiter, somit drei Viertel des Personals, zur
Fahne ziehen lassen, so dass bis auf weiteres
der Betrieb auf den meisten innerstädtischen
Strecken eingeschränkt oder aufgelassen wurde,
bis neu eingestellte Nachfolger, ob Industrie­
arbeiter, Handwerker oder Kaufmann von
Beruf, eilends provisorisch als Straßenbahner
ausgebildet worden waren. Nach vorübergehender Verdichtung des Fahrplans in den ersten
Kriegswochen, im Zentrum im Drei- statt im
Fünf-Minuten-Takt, dafür mit Ausdünnung
auf den Außenstrecken, musste auf Geheiß der
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erstmals bis zur Oberen Ziegelei und zur Payerstraße.
Für Schüttgüter beschaffte die SSB 1915
vier Kastenkipper, Wagennummern 15 bis
18, auf einem typischen Straßenbahnanhänger-Fahrgestell. Die Erklärung dafür ist
einfach: Die SSB baute diese vier eher
lorenartigen Gefährte selbst in eigener
Werkstatt auf gebrauchten Untergestellen.
Die Vehikel schieden schon 1926 wieder aus
Stadt aber noch Ende 1914 zum Normalbetrieb
zurückgekehrt werden.
Der Ausbau des Streckennetzes kam zum
Erliegen. Die letzte Eröffnung betraf am 6. Juni
1914 den kaum bekannt gewordenen, rund
600 Meter langen eingleisigen Ast in Feuerbach
von der heutigen Gabelung Stuttgarter Straße/
Hohewartstraße/Feuerbacher-Tal-Straße bis kurz
vor den Friedhof Feuerbach, der von der Linie
12 befahren wurde. Dieser Wurmfortsatz hielt
alsbald den traurigen „Rekord“ der SSB, was die
Dauer der Betriebszeit anging: Schon im Jahr
darauf, im Sommer 1915, wurde der Betrieb
wieder eingestellt, sicherlich um Mitarbeiter
einzusparen – und dabei blieb es, das Gleis
verschwand später auch. Wandrosetten künden
noch heute von dieser Verbindung, die bei
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fortgesetzter Friedenszeit wohl nach Botnang
verlängert worden wäre. Dazu kam es nie mehr.
Gleise ohne Züge
Zur Streckenchronik 1914 gehörten auch die
beiden je 400 bis 500 Meter langen Abschnitte
vom Bubenbad zum „Platz B“, womit die
heutige Vielfachkreuzung „Spinne“ an der Payer­
straße gemeint sein dürfte, und das Stück in
Cannstatt von der Schmidener Straße bis auf
Höhe vom damaligen Haus 144. Schicksal dieser
beiden Baustellen: Das Gleis wurde vollends
eingebaut, doch, wie es ausdrücklich heißt,
„ohne Fahrdraht.“ Hier fuhr also nichts. Selbst
der Weiterbau, endlich Mitte der 1920er
Jahre, zog sich wegen der Wirtschaftskrisen
nochmals hin. Erst 1925/26 kam die Elektrische
Zurück ins Jahr 1914 und zur Wiedereinführung
des Normalfahrplans: Das ging nur, indem die
SSB ab Mai 1915 erstmals weibliche Mitarbeiter
„versuchsweise“ als Schaffnerinnen und zur
Wagenreinigung einsetzte. Wählte man zunächst
gezielt die Ehefrauen oder volljährigen Töchter
eingezogener oder im Krieg umgekommener
Straßenbahner aus, musste die Direktion schon
ab 1916 nehmen, was Füße besaß, unabhängig
vom Beruf des Partners. Hieß es im Geschäftsbericht zunächst, dass „naturgemäß an die
Leistung der Frauen ein anderer Maßstab anzulegen“ sei – welcher, wurde nicht genannt -, so
kam die Geschäftsführung schon bald zu dem
günstigen Ergebnis, dass der „Versuch doch
befriedigend“ verlaufe. Leisteten schon 1916
bereits rund 250 Schaffnerinnen ihren Dienst
auf dem Wagen, während 22 Damen in der
Wagenhalle die Vehikel putzten, so stieg dieser
Anteil wohl oder übel munter, so dass die
Statistik 1917 bereits rund 500 Damen mit der
Schaffnerzange und 60 im Reinigungsdienst
verzeichnete, gegenüber gut 1000 männlichen
Kollegen. Anfangs war den Schaffnerinnen
der Beiwagen vorbehalten, später mussten sie
auch den Begleitdienst auf dem Triebwagen
übernehmen.
Damen an die Kurbel
Nicht genug damit, eine kleine Bastion ward
im selben Jahr auch gebrochen: Man sah sich
bei der SSB gegen Ende 1917 „genötigt, auch
65
Ein Produkt der Vorkriegs-Friedenszeit in
der Monarchie waren die Marktwagen der
SSB. Auf dem Hof der Herstellerfirma Herbrand, Köln-Ehrenfeld, zeigt sich 1911
oder im Folgejahr einer der beiden
gedeckten „Doppelstockwagen“ 1 und 2.
Die helle Stange direkt über dem Erdboden, vor den Wagenachsen, deren unterster Teil gerade von der Sonne angestrahlt
wird, ist eine Art Unterfahrschutz, ein für
Straßenbahnwagen gebräuchliches Requisit, um zu verhindern, dass jemand unter
den Wagen rutscht
Rechts | Das Kriegsprodukt Gütertriebwagen
2011 von 1916, ehemals 123, hielt sich
tapfer über 60 Jahre und schied erst 1969
aus. Rund zehn Jahre zuvor hat er im
Betriebshof Ostheim Ruhe
für den Wagenführerdienst weibliche Hilfskräfte
auszubilden und zu verwenden.“ 19 Fahrerinnen
also standen nunmehr auch am Fahrschalter –
eine fürwahr starke Leistung auf den steilen
Stuttgarter Strecken, wo die Züge außer der
Elektrobremse ausschließlich durch Muskelkraft
an der Bremskurbel vollends zum Stehen gebracht
werden mussten, „Schwerarbeit“, wie ein Zeitzeuge berichtete, denn von der Einführung der
Druckluftbremse war man Jahrzehnte entfernt.
Dass dieser Körpereinsatz im Stehen am ungeheizten Fahrerplatz erbracht werden musste,
während es längst nur noch schlechtes Brot,
dünne Suppen und kaum Vitamine gab, und
buchstäblich weder Fisch noch Fleisch, während
daheim eine kaum geheizte Wohnung wartete
und die Kinder mit dem Überschuss des Nichts
versorgt werden mussten, sei dazu erwähnt.
66
Wer krank wurde, tat gut daran, sein Haus zu
bestellen: Für die geschwächten Körper konnten
Infektionen lebensgefährlich werden, Grippe
und Lungenentzündung bildeten alltägliche
Todesursachen. Es war nicht schwer, mitten im
heimeligen Stuttgart Vollwaise zu werden.
Dazu kam, dass die Fahrgastzahlen während
des Krieges ständig stiegen: Wurden im letzten
vollständigen Friedensjahr 1913 noch 53
Millionen Beförderungsfälle verzeichnet, waren
es 1916 schon 64 Millionen, im Jahr darauf
nochmals 20 Millionen mehr. Die Spitze war
1918 erreicht mit etwas mehr als 100 Millionen
Menschen – man hatte also eine Verdoppelung
des Aufkommens bewältigt, mit dem gleichen
Fahrpark auf dem gleichen Streckennetz von
etwa 73 Kilometer Ausdehnung, doch mit weniger
Personal, so dass die Geschäftsberichte die
„Ueberfüllung der Wagen“ beklagten. Das erklärt ein Stück weit, weshalb die Frauen, die
Fahrdienst verrichteten, dies angenehmer
empfanden als die Schaffnertätigkeit – weil es
dort, gerade in den druckvollen Wagen, verstärkt
zu unerwünschtem Körperkontakt kam. Es fällt
auf, dass die Geschäftsberichte der SSB die
Tätigkeit der Damen eindeutig dokumentieren,
während Paul Loercher hingegen, seit der
Jahrhundertwende für Jahrzehnte technischer
Chef und Direktor der SSB, in seinem Rückblick
von 1928 lediglich den Einsatz bei Schaffnerdienst und Wagenpflege erwähnt. Dabei war
Loercher während dieser ganzen Epoche hautnah aktiv dabei und hatte vielleicht sogar die
Fahrerprüfungen „seiner“ Straßenbahnerinnen
abgenommen.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Güter auf der Straßenbahn
An der Zufahrt zum Betriebshof Ostheim
wird für den Fotograf die Funktion der
Kastenkipper gezeigt, 1915/16
Die Perrons etlicher Wagen wurden alsbald in
aufwändigen Umbauten verlängert, um mehr
Stehplätze zu schaffen. Doch verschärften sich
die Rahmenbedingungen weiter: Die Fahrleitungen aus Kupfer mussten auf Geheiß der
militärischen Nachschuborganisation ebenso
durch Eisen ersetzt werden wie das Buntmetall
in den Wagen, seien es bei Achslagern oder
Haltegriffen – die Front „fraß“ die raren Metalle
für die Funktion von Munition und Waffen.
Das gleiche betraf Isolationsstoffe für die Elektrik
ebenso wie Verbrauchsmaterial wie Schmieröl
und Petroleum. Sie mussten durch unerprobte
Pflanzenfette ersetzt werden, die weder Hitze noch
Kälte standhielten.
Die Ersatzmaterialien waren nicht nur von
geringerer Eignung und Lebensdauer, sie hätten
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
vor allem einen wesentlich schonenderen Umgang
im Betrieb erfordert, etwa sehr behutsames
Schalten der Fahrstufen, um Abbrände an
den Schalt­elementen und dem Fahrdraht zu
verhindern. Im Zweifel war aber das Gegenteil
gegeben, die „häufig ordnungswidrige Ausübung des Fahrdienstes“, bedingt durch die
hastig eingestellten, zunehmend ausgemergelten
Ersatzkräfte und den Dauerstress durch übervolle Züge. Die Werkstatt konnte dem nichts
entgegensetzen, sie hatte weder Tauschstoffe
noch genügend Leute, wie überhaupt der Kranken­
stand im Gesamtbetrieb auf bis zu 20 Prozent
anstieg. Kein Wunder, dass die Berichte „sehr
häufige Defekte“ angeben, namentlich wegen
Schäden an den Achslagern und gebrochener
Fahrleitung.
Zu allem Überfluss – nein: zu allem Mangel –
kam 1918 die verordnete Begrenzung des
Stromverbrauchs wegen Kohlenknappheit:
Deutschland warf die letzten Reserven an Menschen und Material an die militärische Front,
während die Inflation um sich griff. Für die
Bedürfnisse der Heimat blieb da nicht viel übrig. Die Mehranforderungen an die SSB waren
aber schon mit Kriegsbeginn noch größer
geworden: Um Pferde zu sparen – diese griff
sich das Heer -, musste sich die Straßenbahn
erheblich stärker als vordem im Güterverkehr
einbringen. Bis dahin, seit 1912, hatte die SSB
nur zwei gedeckte Marktwagen für den Transport von Gemüsekörben und Obst, die aus den
Neckar­auen bei Wangen Richtung Markthalle
reisten, im Bestand gehabt. 1914, wohl direkt
vor dem Krieg, kam eine Reihe einfachster
Flachwagen dazu, auf denen komplette Handkarren ebenfalls Richtung Marktplatz geführt
wurden, was Zugtiere oder Menschenkraft
einsparte. Entgegen landläufiger Meinung wurde
allerdings die Markthalle nie direkt angefahren,
auch später nicht, trotz des vorsorglich in die
Halle eingefügten Rillengleises, das heute noch
liegt. Vielmehr lag das entsprechende „Rettich­
gleis“ auf der Westseite des Alten Waisenhauses,
entlang dem Karlsplatz.
1916 erweiterte die SSB den Güterwagenbestand
um zehn voluminöse Kastenloren, von denen
vier kippbar ausgeführt wurden. Am Westbahnhof entstanden nämlich auf Rechnung der
67
Der „Rettichexpress“ ist da, das Abladen
kann beginnen
Stadt Nebengleise zur Umladung von Fracht,
die von dort aus auf kürzestem Weg – und
bergab, was Strom sparte – in die Innenstadt
gelangte. Entladegleise wiederum wurden am
Wilhelmsplatz, in der Schickhardtstraße und
Rosenbergstraße, an der Gewerbehalle und am
Artilleriedepot Wangen angelegt, dann auch
von der Talstraße zur „Gasfabrik“ und für andere
„industrielle Unternehmungen.“ Schließlich
kam noch ein Stumpfgleis zum Kraftwerk Münster
dazu, um Asche wegzuführen. Über diese insgesamt acht Verladegleise, die zusammen rund
einen Kilometer maßen, rollten Lebensmittel
und „Coks“. Für letzteren waren die Kipploren
im Einsatz. Bewegt wurden diese „Güterzüge“
von einem eigens gebastelten Gütertriebwagen,
außerdem von den ältesten Personentriebwagen,
die man den Fahrgästen nicht mehr zumuten
68
wollte. Rund 150 Tonnen – das waren 20 bis 30
beladene Wagen oder Loren – dieser lebenswichtigen Ware rollten täglich auf diese Art
durch die Stadt. Somit hingen nun selbst Wohl
und Wehe der Einwohner der Landeshauptstadt,
Ernährung und Schutz vor dem Erfrierungstod,
mehr oder weniger von der Straßenbahn ab.
Zum Schluss, 1918, wurden im Frachtverkehr
mit 200 000 Wagenkilometern 50 000 Gütertonnen bewegt – das ist eine Jahresleistung, mit
der heute eine regelspurige moderne regionale
Eisenbahn mit Großraumgüterwagen genug
zu tun hätte. Es ist beinahe ein Rätsel, wie die
SSB und ihre Mitarbeiter(innen) ein solches
Volumen bewältigten, obwohl zunehmend Kohle­
knappheit auftrat, also auch noch mit dem
Strom sparsamer umgegangen werden musste.
Damit der Aufgaben noch immer nicht genug:
„Sofort nach Kriegsausbruch“ kam der Straßen­
bahn kraft Auftrag der Heeresverwaltung die
humanitäre Aufgabe zu, verwundete Soldaten
vom Hauptbahnhof zu den städtischen Krankenhäusern zu bringen. Wahrscheinlich diente dazu
bald auch der Westbahnhof als Umladestelle,
liegt und lag er doch an der Gäubahn aus
Richtung Freudenstadt, Rheintal und Frankreich.
Für den Transport nutzte man zunächst die
normalen Triebwagen, in deren Innenraum
man die Tragbahren zunächst provisorisch
aufhängte, so dass die Kranken möglichst wenig
durchgeschüttelt wurden. Alsbald, 1915, entstanden weitere Flachwagen, die einen hölzernen
Spriegelaufbau mit vollständiger Abdeckung
aus Segeltuch erhielten. Clever konnten diese
Wagen nach dem Krieg ebenfalls als Marktwagen
dienen. Der heute im Straßenbahnmuseum in
Bad Cannstatt vorhandene graue Marktwagen
vom Baujahr 1912 entspricht genau der beschrie­
benen Bauart. Zur Verteilung der Verwundeten
in die städtischen Lazarette diente ein Entlade­
gleis in der Kronenstraße und an weiteren –
nicht näher bezeichneten – Stellen. Die Fahrten
wurden „zu allen Tageszeiten“ durchgeführt
und bewirkten „eine größere Schonung“ der
Betroffenen, „als es mit den Autos geschah“,
wie Loercher vermerkt.
In die Mitte des letzten Kriegsjahres, auf den
Juli 1918, fiel das 50-Jahre-Jubiläum der Straßen­
bahn in Stuttgart: Für die abkömmlichen
Angestellten gab es eine kleine Feier, die Wagen
wurden, wie es heißt, „sinnig geschmückt“;
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Die Waggonbaufirma Herbrand bediente
um die Jahrhundertwende als preisgünstiger
und flexibler Erzeuger den Eisenbahnsektor
für Privat-, Klein- und Schmalspurbahnen
ebenso wie die Straßenbahnbranche.
Marktfrachtwagen waren eine spannende
Mischung aus klassischem Eisenbahnwagen
in gedeckter und offener Ausführung und
den speziellen Details des Straßenbahn- und
Marktwarenverkehrs
die Direktion stockte den Sozialfonds für die
Mitarbeiter großzügig auf, was ihr mit den
reichlichen Fahrgeldeinnahmen um so leichter
fiel, als der Geldwert rasch zu verfallen begann.
Nichts mehr nützte die Zuwendung den rund 150
Mitarbeitern, die im Krieg umgekommen waren,
freundlich als „Heldentod“ bescheinigt. Das war
rund jeder Zehnte aller Kollegen des Vorkriegsbestandes an Straßenbahnern in Stuttgart.
Die allgegenwärtigen Versorgungslücken, der
aufopfernde Einsatz von Frauen, Kindern und
Alten in der Etappe und der Kriegswirtschaft
riefen bei den Militärs nicht etwa Beachtung
hervor. Im Gegenteil: Als der Krieg verloren
war, wiesen die Strategen jede Verantwortung
von sich und behaupteten, die Niederlage sei
lediglich eingetreten, weil die Zivilisten zu weStuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
nig Einsatz gezeigt hätten. Damit war die so
genannte „Dolchstoßlegende“ in die Welt
gesetzt – und mit ihr ein habhafter Teil der
geistigen Grundlage für eine Gesinnung, die
zwei Jahrzehnte später, als Produkt angestauter
Ent- (und Selbst-) Täuschung, wieder zu einer
Eruption führte: zum nächsten Krieg. „Kommunalisierung“ durch die Hintertür
Mit dem Kriegsende im Spätherbst 1918 fanden
nicht nur in Deutschland und auch in Stuttgart
Revolutionen statt, die Kaiser und König den
Boden wegzogen. Auch in Sachen SSB hatte
es in aller Stille schon im Vorjahr, 1917, eine
Art kleine „Revolution“ gegeben, nämlich eine
„bedeutsame Aenderung im Besitz der Aktien-
mehrheit“: Der Hauptaktionär, die Gesellschaft
für elektrische Anlagen in Berlin, hatte gut 7000
Aktien der bis dahin hauptsächlich ihr gehörenden SSB „an die Stadtgemeinde Stutt­gart
und zwei hiesige Großindustrielle“ verkauft.
Das waren niemand anderes als die DaimlerMotorengesellschaft und der Privatmann Robert
Bosch. Diese standen „ihrerseits hinsichtlich
ihrer Straßenbahnaktien in einem Vertragsverhältnis mit der Stadtgemeinde“. Im Klartext:
Die Stadtverwaltung besaß nun endlich sowohl
über den Aktienbesitz wie über ihre Stimmrechte
im Aufsichtsrat die Entscheidungshoheit über
die SSB. Was die Stadt seit über 30 Jahren
versucht hatte, zuletzt 1903, nämlich die private
Straßenbahngesellschaft, die vor allem Dividende
für ihre Aktionäre abliefern sollte, zu einem
gemeinwirtschaftlichen Instrument der kommu­
nalen Daseinsvorsorge zu wandeln, war ihr
nun überraschend zugefallen, sozusagen durch
die Hintertür.
Freilich dürften Daimler und Bosch kaum aus
persönlicher Zuneigung zu Stadt oder Schienen­
verkehr gehandelt haben: Beide Firmen hatten
durch die Kriegsaufträge prächtige Gewinne
einfahren können. Doch wer nicht ganz blind
war – Bosch und Daimler waren das offensichtlich auch 1916 oder ‘17 nicht, etliche Zeit vor
Kriegsende, im Gegensatz zum Militär -, konnte
absehen, dass die Schlacht verloren war, die
Rüstungsaufträge bald ausbleiben würden und
die vom Staat selbst massiv befeuerte Inflation
zunahm. Kurz, es war an der Zeit, sein Geld
in einen bleibenden Sachwert zu stecken, den
die Menschen auch ohne Krieg brauchen würden:
69
Links | Stückwerk statt Netzwerk: Der
Substanzverlust durch den Ersten Weltkrieg
und seine Folgen verhinderte das mögliche
Entstehen eines großräumigen Geflechtes
an Überlandstraßenbahnen in der Metropol­
region Stuttgart, sprich an regionaler Elektromobilität. Ob alle einstmals kommunalbehördlich zeitweise angestrebten Linien
Sinn ergeben hätten und ob es sie heute
noch gäbe, wenn sie gebaut worden wären,
ist eine andere Frage
Rechts | Schon früh nutzte die SSB gerne
dieses Foto zur repräsentativen Darstellung
ihrer Leistungen im Marktwarenverkehr.
Der ganz rechte Wagen ist der Marktwagen E 1 der Straßenbahn Esslingen, der
exakt der Stuttgarter Bauart entsprach.
Hier rollt er mit einem Stuttgarter Kompagnon von Zuffenhausen nach Stuttgart die
Pragstraße hinunter. Solche freizügigen
Einsätze wurden im Wege des „Naturalausgleichs“ vergütet – dafür kamen Stuttgarter
Wagen bis Esslingen
eben eine Straßenbahn. Boschs Beteiligung
bestand übrigens nicht lange, er verkaufte
seinen Anteil weiter an die Stadt. Daimler zog
sich erst nach Jahrzehnten zurück. An der erfolgreichen Kommunalisierung der SSB änderte
das nichts mehr. Stolz prangten ab 1924, als
man nach überstandener Hyperinflation endlich
auch Geld für neuen Lack aufwenden konnte,
erstmals die Wappenfarben der Landeshauptstadt
auf den Straßenbahnwagen Stuttgarts: Gelb und
Schwarz.
Die neue soziale Komponente des Unternehmens
brachte nun eine buchstäblich naheliegende
Symbiose in der Beschaffungspolitik der SSB
hervor: Hatte sie vordem ihre Fahrzeuge bei
allerlei mehr oder weniger namhaften Lieferanten
im Deutschen Reich eingekauft, so setzte sie ab
70
jetzt für mehr als viereinhalb Jahrzehnte so gut
wie ausschließlich auf einen einzigen Hersteller:
die Maschinenfabrik Esslingen (ME). Die wiederum, zuvor ein „Global Player“, musste nach
1918 sehr viel kleinere Brötchen backen, weil
ihre Auslandsmärkte zunächst verlorengegangen
waren, nicht zuletzt der wichtige russische
Lokomotivmarkt. So ließ sich die ME nun herab,
beinahe erstmals auch Straßenbahnwagen zu
fertigen – jedoch sozusagen exklusiv nur für
die SSB. Nur die ersten und frühen Pferdebahnwagen Stuttgarts hatte Esslingen bereits erzeugt,
sich dann jedoch wieder ganz dem lukrativeren
Eisenbahnsektor zugewandt. Lediglich für die
regionalen Straßenbahnbetriebe Feuerbach und
Esslingen machte die ME sonst noch eine
Ausnahme, natürlich auch für die 1926 folgende
Straßenbahn Esslingen – Nellingen – Denkendorf
(END). Mit der stetigen Vergabe von Aufträgen
nach Esslingen sicherte die SSB auch während
der Zeiten wirtschaftlicher Not und bescheidenen
Aufschwungs in den 1920er Jahren regionale
Arbeitsplätze – ein Akt kommunaler Verantwortungsbereitschaft.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links und rechts | In Stuttgart-Wangen
befand sich diese Umladeanlage für Koks,
der per Straßenbahn vom Gaswerk anrollte.
Kastenkipper 16 (rechts) trägt die Kennzeichnung des Stadtreinigungsamtes
Die zerstörte Zeit-Schiene
Als indirekte Folge des Krieges kam die Stadt
Stuttgart 1920 zu einem teuren „Geschenk“:
Das Netz der Filderbahn, das dem privatwirtschaftlichen Mitbewerber Württembergische
Nebenbahnen (Wüna) gehörte, war abgewirtschaftet. Um den Zusammenbruch der Wüna
zu vermeiden, deren Bahnstrecke aus dem
Strohgäu nach Stuttgart nicht weniger wichtig
für die Landeshauptstadt war wie die Filderbahn, kaufte die Stadt die Filderbahnstrecken
und drückte den Betrieb ihrer nunmehrigen
„Tochter“ SSB aufs Auge – auch das wäre vier
Jahre vorher noch nicht gegangen. Mit dem
Erlös konnte die Wüna die Strohgäubahn und
ihre beiden anderen Betriebe vorläufig retten.
Auch die leidigen Themen Modernisierung der
Zahnradbahn und vor allem Durchbindung
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
der Weinsteigelinie zwischen Degerloch und
Stuttgart konnte die Stadt nun mit Elan angehen: Kaum zu glauben, dass bis dahin am
Bopser, einer Bedürfnisanstalt mit einem Gleisdreieck herum, sämtliche Fahrgäste bei Wind
und Wetter die Wagen der Filderbahn verlassen
mussten, um in jene der SSB umzusteigen –
und das, obwohl beide die selbe Spurweite und
praktisch das gleiche Stromsystem besaßen, wie
zum Hohn.
Auf den ersten Blick mag die Bilanz der Folgen
jenes Krieges für die SSB nicht so schlimm
erscheinen: Von Zerstörungen, wie sie knapp
dreißig Jahre später verheerend eintreten
sollten, konnte keine Rede sein. Die friedensmäßige Produktion lief bald wieder an, die
Männer kehrten an die Kurbel zurück – und
die Frauen an den Herd. Schlechtes Material
wurde wieder gegen besseres getauscht, der
nach Kriegsbeginn eingestellte Weiterbau des
Streckennetzes in die Vororte und der zweigleisige Ausbau kamen allmählich wieder in
Fahrt, neue Wagen hielten Einzug. Doch all das
musste die Straßenbahngesellschaft, wenn auch
nunmehr städtisch, aus eigenem Ertrag aufbringen, während den Ausbau des Straßennetzes,
oft als Notstandarbeit vorgenommen, Stadt
und Staat aus der Steuerkasse zahlten. Von
diesem Substanzverlust, an Geld, an Zeit und
an wirtschaftlicher Bedeutung, erholten sich die
Straßen­bahnbetriebe – und die Eisenbahnen –
nicht mehr: Auch in Stuttgart und Umgebung
blieb der großzügige Weiterbau der Straßenbahn
zu einem interregio­nalen Überlandnetz im Wesentlichen auf dem Papier und verzögerte sich
auch in den Ansätzen um ein Jahrzehnt oder
mehr. „Die Straßenbahn … sieht sich unter der
Ungunst der Zeit bedauerlicherweise auf das
bescheidenste Maß zurückgeschraubt, so dass
geplante Netzerweiterungen unterlassen oder
verschoben werden müssen“, klagte noch eine
Schrift von 1929 über das lokale Bahnwesen um
Stuttgart.
Die Anbindung von Kornwestheim und Ludwigs­
burg, obwohl noch lange verfochten, kam nicht
mehr zustande, die Projekte zur Solitude oder
von Esslingen nach Wäldenbronn versandeten
damals ebenso wie das vom Stuttgarter Osten
nach Ruit und Nellingen; die Verbindung von
Stuttgart/Möhringen über Waldenbuch nach
Tübingen kam nur bis Leinfelden. Die Verlängerung der vorhandenen Strecke Westbahnhof
71
Links | In der Heusteigstraße wurde 1918 diese Koksfuhre verewigt. Jeder Wagen ist mit
einem Bremser besetzt. Der Triebwagen steht auf einer Weiche, von der nach rechts ein
Zweiggleis ausgeht. Eine Blech- oder Papptafel rechts neben dem Einstieg verweist vermutlich darauf, dass es sich um eine Dienstfahrt handelt und in den Wagen niemand
einzusteigen hat. Auf den oft steilen Straßen und Strecken Stuttgarts war die Beförderung
solch schwerer Wagen – ohne Luftbremse, nur von Hand gebremst – eine Aktion, die viel
Umsicht, Geschick, gutes Zusammenspiel der Mitarbeiter und Erfahrung brauchte
– Charlotten­buche, letztere heute als Birkenkopf
oder Monte Scherbelino bekannt, zur Solitude,
wo im Waldgebiet dazwischen eine neue
Wohnsiedlung entstehen sollte, blieb ebenfalls
eine Skizze auf dem Papier. Auch das Vorhaben
der Standseilbahn zum Waldfriedhof wurde
indirekt und vorläufig ein „Opfer“ des Krieges:
Die fertigen Pläne von 1914, eine charmante
Jugendstilbahn mit hübschen schlösschen­
artigen Stationsgebäuden zu bauen, direkt vom
Südheimer Platz bis vor das Tor des Friedhofs,
wanderten ins Archiv. Fast 15 Jahre mussten
sich die Stuttgarter zu Fuß den steilen Hang
hinauf plagen, bis endlich 1929 doch die Seilbahn
entstehen konnte: nun aber als minimalistische
Sparlösung mit mehr als einfachen Gebäuden,
schmucklosen Wagen und nur gerade so lang
wie unbedingt nötig, vom Ortsende Südheim
72
Rechts | Wieder hat sich der Fotograf am Westbahnhof eingefunden. Hinten – parallel
zur Rotenwaldstraße - die Güterhalle der Staatsbahn für den Umschlag von Stückgut.
Der Straßenbahnwagen zieht zwei der offenen Güterwagen Nummer 7 bis 12 (siehe S. 75).
Mit dem Umladen der Eierkohle per Forke wird der Arbeiter noch hübsch zu tun haben,
bis der offene SSB-Wagen gefüllt ist. Die Verwendung eines gedeckten Güterwagens, der
eigentlich für hochwertige Kaufmannfracht vorgesehen ist, für lose Kohle weist auf
Wagenmangel seitens der Staatsbahn hin: eine typische Erscheinung der Kriegswirtschaft
bis zur Oberkante Abhang, vom Friedhof
noch etliche Meter entfernt. Die Straßenbahn
Esslingen hatte sogar ein reales Kriegs"opfer"
zu beklagen: Ihre Innenstadtlinie wurde nach
Kriegsbeginn 1914 ausgelassen und später nicht
mehr aktiviert.
Der Geist aus der Flasche
Der eigentliche Kollateralschaden für die Bahnen
entstand subtil, aber umso „nachhaltiger“: Im
Krieg, wegen des Krieges, mit reichlich Forschungsgeld aus den Rüstungsgewinnen, waren
Benzinmotor und Kraftfahrzeug, zuvor eher
belächeltes High-Tec-Gerät einiger vermögender
Mitbürger, wie in einem Zeitraffer zu alltags­
tauglichen Maschinen entwickelt worden.
Ähnlich verhielt es sich beim Luftfahrtwesen.
Mehr noch, nach Kriegsende verscherbelten die
Heeresämter Hunderte vom Kriegseinsatz übrig
gebliebener Lastkraftwagen nun an Gewerbebe­
triebe und Privatleute, die Arbeit suchten und
nicht selten Fuhrunternehmen eröffneten, mangelte es doch auch noch an Gäulen. Wie die
Straßenbahn eine Kommunalisierung erfahren
hatte, so erfuhr der Kraftwagen seine Sozialisierung: Tausende Männer hatten beim Kommiss
den Umgang mit dem Kraftfahrzeug – Fahren
und Reparieren – gelernt und standen mit dem
neuen Element sozusagen auf Du. Nicht mehr
der Chauffeur in feiner Dienstuniform beförderte
hohe Herren, das Volk – gestandene Arbeits­
leute aus Stadt und Land – hatte das Steuer selbst
und direkt in die Hand genommen: Also noch
eine Revolution; der Motor wurde bürgerlich.
Sozusagen über Nacht erfolgte die mehr oder
weniger flächendeckende Motorisierung des
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Die Streckengabelung der SSB in Feuerbach: Links ging es nur bis zum Ortsrand,
nicht weiter bis Botnang, und schon ein gutes Jahr später fuhr auf dem linken Ast kein
Straßenbahnzug mehr, nie mehr ...
Landes, wenn auch noch sehr milde. Spontane,
„wilde“ Omnibuslinien mit Arbeiterbeförderung
auf der notdürftig verkleideten Pritsche der
Lkw entstanden, verkehrsgefährlich genug. Die
Straßenbahn konnte sich bei der Obrigkeit zwar
beklagen, aber die Ämter waren froh um jede
neue Beförderungsmöglichkeit. Der Geist des
schienenlosen Verkehrs, ob als Linie oder als
Individualverkehr, war aus der Flasche.
Damit hatte sich die Lage der Bahnbetriebe
völlig gewendet: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges stand das öffentliche Verkehrswesen
in höchster Blüte. Die Arbeitsteilung zwischen
Straßenbahn, Eisenbahn und Lokalbahnen
funktionierte bestens; Anschlussgleise, Feldbahnen und Schrägaufzüge schlossen Fabriken,
Steinbrüche und Hofgüter an das weltweite
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Rechts | Wo immer diese Entladung von Schutt oder Asche in Stuttgart-Münster erfolgt
sein soll, es müsste in direkter Nähe zur Eisenbahn gewesen sein, deren Güterwagen parallel stehen. Rechts bewacht ein mit Pickelhaube versehener Soldat oder Gendarm die
Szene - vielleicht um Kohlenklau oder Diebstahl sonstiger Güter aus den Eisenbahnwagen vorzubeugen, ein in zwei Kriegen und Notzeiten vertrautes Phänomen
Schienen­netz an. Der Benzinmotor spielte kaum
eine ernsthafte Rolle, den Dieselmotor gab es
nur als Versuchsobjekt. Der elektrische Antrieb –
auf Schiene und Straße (!) – hatte beachtliche
Anteile gewonnen (der erste Porsche war
selbstverständlich ein Elektroauto), elektrische
Lokomotiven standen vor ihrem Siegeszug;
elektrische Straßenbahnen, Omnibusse und
Lastkraftwagen, ganze Straßen-Güterzüge, ob
über Leitungsnetz oder Batterien angetrieben,
waren hoch entwickelt und im Begriff, das
Verkehrswesen landesweit zu einem weitgehend
lautlosen und abgasfreien System zu machen.
Welche Aussicht!
Die Spätfolgen des Krieges gaben diesen viel­
versprechenden Chancen den Todesstoß.
Geldentwertung und Hochinflation verhinder-
ten den Bau der meisten geplant gewesenen
Straßenbahnstrecken. Stattdessen bot sich der
rasch solide und komfortabel weiterentwickelte
Omnibus als Ersatz an, ohne allerdings – bis
heute - die hochwertigen Strukturwirkungen
von Schienenverkehrslinien zu entfalten und
ihre Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit
zu erreichen. Zu der praktischen Umorientierung
kam eine psychologische: Deutschland mochte
den Krieg militärisch verloren haben, an seinem
industriellen „Sieg“ in Gestalt technischer
Errungenschaften etwa bei Technik und Chemie
war kaum zu zweifeln. Automobil und Luftfahrt,
der Rausch der Schnelligkeit und Unabhängigkeit – als „Betäubungsmittel“, um im Alltag
Armut und Demütigung durch die (Auslands-)
Politik zu ertragen -, standen nunmehr in
höchstem Ansehen. Der Schienenverkehr
73
Hermann Freudenberger die Zeit des Ersten
Weltkrieges später treffend beschrieb. Zwar waren
etwa die Damen als Straßenbahnfahrerinnen
bei der SSB bald wieder Geschichte, sobald die
Männer erneut das Zepter oder vielmehr die
Kurbel übernommen hatten. Doch die Frauen
hatten in jenen letzten Jahren der Monarchie
erstmals sozusagen global bewiesen, dass sie in
Industrie, Produktion und Technik, in Organisation
und Führung ihren „Mann“ stehen können. Im
Krieg hatten sie – auch das wohl oder übel,
aus Mangel an Kleidung, Kosmetik und Zeit,
und schlicht, weil es praktisch war – buchstäblich die Hosen angezogen, ihre Frisuren
radikal pflegeleicht und burschikos verändert,
und wenn es nichts zu essen gab, das Rauchen
angefangen.
Diese Aufnahme soll im Zusammenhang
mit der Zuckerfabrik (Stuttgart-Münster)
am Hallschlag entstanden sein. Das hieße,
dass es dorthin früh eine provisorische
Strecke gegeben hätte oder man sich –
wahrscheinlicher – ab dem linksufrigen
Cannstatt, im Bereich der Brückenstraße,
als nächstliegendem Punkt des SSB-Netzes
der Straßenbahn als Transportmittel für
die süße Fracht bediente. Im Gegensatz
zum offenen Gütertriebwagen 123 von
1916 besaßen die Folgemodelle 124 und
125 von 1918 ein durchgehendes Dach,
gleich oder später auch mit herablassbaren
Planen, so dass auch wetterempfindliches
Stückgut verfrachtet werden konnte.
Demnach ist dieses Bild frühestens Ende
1918 entstanden, wahrscheinlich später
kam nun unter „ferner liefen“, von ihm hatte
man im Krieg, im „Felde“, genug bekommen,
hautnah genug. Für die Bahnen war unter
solchen Umständen gleich zweimal kein Geld
da. Schlecht für die Eisenbahn hieß aber auch
schlecht für die Straßenbahn. Der weit gediehene Ansatz zu einer energetisch effektiven,
volkswirtschaftlich sinnvollen und ökonomisch
finanzierbaren Verkehrspolitik wurde so völlig
deformiert – durch den Ersten Weltkrieg.
Hosen und Bubikopf
Im Zweiten Weltkrieg wiederholte sich die
Entwicklung ähnlich, doch noch viel entscheidender. Dazu trat die von den großen Ölerzeugern und ihren Herkunftsländern gewollte
Abhängigkeit vom Mineralöl, Automobil und
Straßenbau, die auch die Politik darin verstricken
74
sollte und es schließlich auch tat und tut. Viele
Straßenbahnbetriebe konnten dem nicht standhalten und gingen ein. Umso erstaunlicher ist
es, dass sich die SSB nicht aus dem Schienenverkehr zurückzog, sondern schließlich – wenn
auch viel später und mit einigen „Klimmzügen“ –
ihr Stadtbahnprogramm verwirklichen konnte,
auf dem Weg zu einem höchst aktuellen Verkehrs­
dienstleister. Ohne den Übergang in städtische
Hand hätte sich das wohl kaum so gefügt. Aber
für diesen Übergang hätte es wohl ebenfalls
kaum Anlass gegeben ohne die militärische
Niederlage im Ersten Weltkrieg.
Und auch diese Errungenschaften wanderten
nicht mehr in die Schublade der Geschichte:
Die Mode der 1920er Jahre, mitsamt saloppem
„Bubikopf“, die neue, durchaus auch dominante
Rolle der Frau, sei es mit Schlips und Sakko,
sei es als männerverschleißender „Vamp“, durch
Film und Kunst bestätigt und überhöht, sprachen
Bände. Zwar war die gesellschaftliche oder gar
berufliche Gleichstellung der Frauen noch weit
entfernt. Doch die radikale arbeitsteilige und
in gewissem Maß soziale Gleichschaltung der
Geschlechter im Ersten Weltkrieg gab gewissermaßen die kollektive Generalprobe dafür ab.
Noch an einer ganz anderen Stelle aber kehrte
der einmal aufgestiegene Geist nicht in das
kriegsbedingt entkorkte Behältnis zurück: „Die
Männerwelt zerbröselte“, wie der Chronist
Im nächsten Krieg, 25 Jahre darauf, brauchte
man zwar die Frauen wieder dringend im öffentlichen Dienst, doch diesmal, der Ideologie
entsprechend, nur als Hilfskräfte. „Führende“
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links und rechts | Mit hochliegendem
Rahmen, nach unten verstrebten Achsgabelstegen und Blattfederung besaßen die
1915 von der Firma Herbrand gekommenen sechs offenen Güterwagen 7 bis 12
eher die Anmutung von zierlichen Kleinbahngüterwagen als von Straßenbahnfahrzeugen. Später mit den Nummern
2068 bis 2073 versehen, standen die letzten noch 1969 im internen Dienst der SSB
Tätigkeit - selbst als „Führerin“ eine Straßen­
bahn­wagens - war selbiges Mal verpönt. So
brauchte es sehr lange, bis 1972, bis sich die
SSB entschließen konnte, wieder – und diesmal
auf Dauer angelegt – Frauen auch für den
Fahrdienst auf der Schiene auszubilden. An der
SSB wäre es nicht gelegen, ein erster Vorstoß
kam 1963, doch die noch gültige Rechtslage
aus der NS-Zeit war das Problem. Zu jener Zeit
schließlich, Anfang der 1970er, waren die
wenigen SSB-Fahrerinnen von 1917 längst hoch
betagt, wenn sie noch lebten. Doch Frauen
am Fahrschalter: Das war 1972 zunächst ungewohnt, aber wohl kaum mehr ungewöhnlich.
Ob es mit oder ohne Krieg(e) soweit gekommen
wäre, und so „bald“, das lässt sich kaum beurteilen.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Und noch eine Form der Demokratisierung
brachten Krieg und Revolution mit sich: die
Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben. Hatte es schon gegen Ende des Krieges
Arbeiter- und Soldatenräte gegeben, in der
Industrie und an der Front, die die Gewaltigen
in den „Bureaus“ den „starken Arm des kleinen
Mannes“ spüren ließen, so verfestigte sich
diese neue Form bürgerlicher Macht im wiedergewonnenen Zivilleben in Gestalt des Betriebsverfassungsgesetzes. Im Klartext: Seit 1922 gibt
es in allen größeren Unternehmen Anspruch
auf Einrichtung eines Betriebsrates. Deshalb
findet sich diese Institution seither auch bei der
SSB, mit Folgen bis zur Zusammensetzung des
Aufsichtsrates: Biedere Schaffner und Schlosser
saßen auf einmal gleichberechtigt neben „hohen
Tieren“ aus öffentlicher Verwaltung und Finanz­
welt – ein Vorgang, den es bis dahin in einem
Gesang- oder Faschingsverein gegeben haben
mochte, der aber noch ein halbes Dutzend Jahre
zuvor in einem offiziellen Gremium öffentlicher
oder gewerblicher Art undenkbar gewesen wäre.
Dieses System hat sich bewährt und erhalten,
bis heute.
Plastischer lässt sich kaum zeigen, wie die
„Verbürgerlichung“ der vormals herrschenden
Klassen Fuß fasste. So hatte sich die Hautevolée,
die 1914 wähnte, in wenigen Wochen einen
glänzenden Sieg zur Mehrung ihrer Macht (und
ihres Geldes) davonzutragen, den Gang der
Dinge gewiss nicht vorgestellt. Gründlicher hat
kaum ein Krieg in den Ländern, die ihn auslösten,
das gesellschaftliche Schema umgekrempelt.
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung,
75
die wir heute für so selbstverständlich nehmen,
baute auf diesem Geist auf, der sich 1918
erstmals in voller Größe zeigte, leider noch
ungelenk, angreifbar und unbeständig – eine
schwere Geburt um einen hohen Preis, dafür
von unschätzbarem Wert.
Links | Glänzende Zeiten, durch eine Politik beschränkter Habsucht und Arroganz verspielt: Der Erste
Weltkrieg und sein Ausgang brachten Europa in eine Schlingerphase, die wenigstens mehr als drei Jahrzehnte andauerte
Rechts | 1909 baute die SSB die zunächst sehr großzügig erscheinende Anlage von Betriebshof und
Hauptwerkstatt Ostheim, mit einem Hauch des Jugendstils versehen. Vierzig Jahre später wäre eine neue
Anlage an anderer Stelle dringend gewesen, schlicht um wirtschaftlichere Wagen einzuführen. Zwei
Kriege, eine mühsame Zwischen- und eine noch mühsamere Nachkriegszeit schufen ein Geldproblem, ein
Werkstattproblem und damit einen Flaschenhals, der die SSB beinahe erdrosselt hätte
S. 77 oben, links und rechts | In der „autogerechten“ Stadt hätte eine Ausflugslinie wie der Südwestast
des Zweiers zwischen Westbahnhof, der Aussichtsplattform Bismarckeiche (Foto rechts) und dem Birkenkopf wohl so oder so nicht mehr lange bestanden. Der Metallhunger des Kriegs sorgte für ein noch viel
früheres Ende dieses Streckenteils (Dokument links)
S. 77 unten, links und rechts | Schon zu Kriegsbeginn 1939/40 waren die Anlagen und Wagen der Esslinger Straßenbahn, seit der Eröffnung 1912 nicht saniert, so stark abgewirtschaftet, dass die SSB auf
Ersatz drängte, wohl wissend, dass es keinen „frischen“ Stahl gab. Die sofort angestrebte Umstellung auf
elektrischen O-Bus-Betrieb – der brauchte keine Schienen, konnte aber den Fahrdraht nutzen - zog sich
bis 1944 hin. In dieser Spätphase des Krieges war die Einführung dieses „Gummi“-Verkehrsmittels ein
gewaltiger, reichsweit einmaliger Kraftakt
76
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
77
Gottfried Bauer
Betriebsangehörigen beim Personal entstanden.
versuchte die SSB mit der Einstellung von
Frauen auszugleichen, die zu Schaffnerinnen
und Hallenpersonal ausgebildet wurden. Vom
verbliebenen männlichen Personal wurden etliche
zu neuen Wagenführern umgeschult. ln den
sogenannten Schwachverkehrszeiten schränkte
die SSB den Fahrplan ein, setzte dafür aber –
wie auch in den Hauptverkehrszeiten – gegenüber
den Friedensjahren vermehrt Anhänger ein.
Die SSB während
der Kriegs- und
Nachkriegszeit
Stuttgarts Straßenbahn im
Zweiten Weltkrieg
Vollwerbung auf öffentlichen Verkehrsmitteln ist keine Erfindung der 1980er Jahre.
Nach der vorhersehbaren technisch-logistischen Winterkatastrophe des deutschen
Heeres 1941 vor Moskau gehörte im wortwörtlichen Sinne viel Unverfrorenheit
dazu, weiterhin für das „Winterhilfswerk“
zu trommeln, dessen Aufgabe es doch
gewesen wäre, schlichten Erfrierungstod
an der Front zu verhindern
8. März 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende.
Dieses Datum war 50* Jahre später nicht nur ein
Tag des Gedenkens der schrecklichen Ereignisse,
der Schuld und Verantwortung, sondern auch
der Auswirkungen des Krieges in der Region.
ln Stuttgart war das Kriegsgeschehen bereits
am 21. April 1945 mit dem Einmarsch der französischen Truppen auf der linken Neckarseite
und der US-amerikanischen rechts des Neckars
beendet. Die nachfolgenden Zeilen erinnern
an die SSB-Betriebsangehörigen, den Frauen
und Männern jener schwierigen Zeit, die es
ermög­lichten, dass der Straßenbahnbetrieb
in Stuttgart trotz Bombeneinwirkung und der
herannahenden Front- von wenigen Unterbrechungen abgesehen - ständig aufrechterhalten
werden konnte.
78
Die ersten Kriegsjahre
Im letzten Friedensjahr 1938 beförderte die
SSB 122 566 111 Personen, wozu die täglich
eingesetzten 272 Trieb- und 414 Beiwagen eine
Jahresleistung von über 18 bzw. 16 Millionen,
zusammen 34 347 904 Wagenkilometer erbringen
mußten. Um diese Arbeit zu bewältigen, beschäftigte die SSB 3094 Betriebsangehörige,
in der Hauptsache Männer. Mit dem Ausbruch
des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939
requirierte die Wehrmacht einen Großteil der
privateh Personen- und Lastkraftwagen für
den Kriegseinsatz. Dadurch und durch die auf
Hochtouren laufende Kriegsindustrie wuchs der
Personen- und Güterverkehr bei der SSB sofort
sehr stark an. Die Lücken, die durch die zum
Dienst an der Front eingezogenen männlichen
Am 20. November 1939 stellte die SSB das
Teilstück Westbahnhof - Charlottenbuche (unter­
halb des Birkenkopfs) der damaligen Linie 2,
das nur dem Ausflugsverkehr diente, ersatzlos
ein. Im Kriegsjahr 1940 stiegen die Fahrgastzahlen erneut stark an. Gleichzeitig musste die
SSB den Fahrbetrieb weiter straffen, unter
anderem durch Einstellung der Rundlinie 3 am
26. Februar, um das verstärkt zum Kriegsdienst
eingezogene Personal (das übrigens in den
PersonalIisten der SSB weitergeführt wurde)
auszugleichen. Weitere Frauen traten in die
Dienste der SSB. Auch auf dem Sektor des Güter­
verkehrs hatte die SSB neue und zusätzliche
Aufgaben erhalten, so etwa den Transport von
Speisekartoffeln.
Diese wurden am Westbahnhof von Güterwagen
der Deutschen Reichsbahn auf die Marktwagen
der SSB umgeschlagen und teils zum Betriebshof
Ostheim transportiert, wo sie verkauft und
von der Bevölkerung mit Handwagen abgeholt
wurden.
* Dieser Beitrag erschien erstmals 1995
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links und rechts | Der 1929 gebaute Triebwagen 300 diente 1939/40 als Versuchsträger für verschiedene Neuerungen. Die
großflächige, ein- statt vormals dreiteilige
Frontscheibe verbesserte die Sicht für den
Fahrer und gab dem Fahrzeug ein moderneres Aussehen, der elektrische Scheibenwischer (statt Handbetrieb) erleichterte
ebenfalls die Arbeit. Auffällig war die erstmalige Ausrüstung mit Mikrofon für den
Fahrer (in Bildmitte deutlich erkennbar).
Konsequent betrachtet, hätte dies den
Verzicht auf den Schaffner im Triebwagen
ermöglichen können, dennoch verbunden
mit einer besseren Orientierung der Fahrgäste in der dunklen Stadt und einer
rascheren Abfertigung der Kunden im Beiwagen, also eine Rationalisierung durchaus
auch im Sinne der Kriegswirtschaft. Fotos
1940 offenbar in der Augsburger Straße –
die Wagenserie lief auf der Gemeinschafts­
linie 26 Stuttgart – Esslingen von SSB und
Städtischer Straßenbahn Esslingen
Das Geschäftsjahr 1941 brachte der SSB einen
Anstieg der Beförderungsfälle um 9,38 Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Jeder Einwohner Stuttgarts, vom Säugling bis zum Greis, benutzte die
Straßenbahn nach der Statistik 317 Mal und
das bei einer um 1,18 Prozent gesunkenen Wagen­
kilometerleistung. Auch beim Autobusverkehr
konnten die vielen Fahrgäste nur befördert
werden, weil zwei neue Omnibus-Personenanhänger im Berufsverkehr mitgeführt wurden.
1942 zeigte sich ein ähnliches Bild: Die Beförderungsfälle waren um 13,73 Prozent gegenüber
1941 weiter gestiegen und die Wagenkilometer
sanken dagegen nochmals um 2,89 Prozent.
Anhand dieser Zahlen läßt sich leicht vorstellen,
welche drangvolle Enge seinerzeit in den Straßenbahnen und Omnibussen der SSB herrschte
und welche Arbeit die Wagenführer und vor
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
allem die Schaffner, die sich durch die Menschenmengen zwängen mussten, zu leisten hatten.
Weitere männliche Betriebs­angehörige der SSB
wurden zur Wehrmacht eingezogen. Um die
fehlenden Arbeitskräfte zu ersetzen, erhielt die
SSB vom Reichsarbeitsdienst dienstverpflichtete
junge Frauen als „Schaffnermaiden" zugewiesen.
Für diese Kräfte richtete die SSB seinerzeit im
Straßenbahner-Waldheim in Degerloch einfache
Übernachtungsmöglichkeiten ein. Besondere
Personal-Straßenbahnwagen brachten die
jungen Schaffnerinnen vom Waldheim zu den
verschiedenen Depots und zurück.
Der Krieg forderte immer mehr Nachschub an
Waffen, Munition, Transportmitteln und Ersatzteilen, so dass die Industrie in der Stuttgarter
Region Höchstleistungen erbrachte. ln vielen
Betrieben musste sogar rund um die Uhr, auch
an den Wochenenden, gearbeitet werden. Durch
die Beförderung der Schichtarbeiter/innen
von ihren Wohnungen zu den Arbeitsstätten
und wieder zurück und durch den verstärkten
Transport von Gütern mit der Straßenbahn
stiegen die Zahlen der Personen- und Güterbeförderung im Jahr 1943 auf Rekordhöhe. Da die
Kraftstoffzuteilung für die SSB stark gekürzt
wurde, musste der größere Teil der Omnibusse
auf Flüssig- oder Stadtgasbetrieb umgestellt
werden, um den Personenverkehr aufrecht­
erhalten zu können. Aufgrund des „Reichsleis­
tungsgesetzes" von 1939 musste die SSB im
Juni 1943 an die Stadt Mannheim, die wegen
Luftangriffen schon viele ihrer Straßenbahnfahrzeuge verloren hatte, fünf Triebwagen der
Reihe 500 (585 - 589) und an die Stadt Essen,
die ebenfalls schwer getroffen worden war,
zehn Triebwagen (590 - 599) und 11 Beiwagen
der Reihe 1100 (1171 - 1181) zur Aufrechterhaltung
des dortigen Verkehrs ausleihen.
Trotz Bomben und Granaten ... die Straßenbahn fährt!
Blieb Stuttgart in den ersten Kriegsjahren von
feindlicher Bombeneinwirkung weitgehend
verschont. so änderte sich dies ab Herbst 1943
schlagartig. Die württembergische Hauptstadt
wurde durch ihre kriegswichtige Industrie nun
zu einem bevorzugten Ziel für britische und
amerikanische Bomberflotten. Zum Schutz der
Bevölkerung vor den Fliegerangriffen wurden
Luftschutzstollen in die Berghänge getrieben.
79
an den Fahrzeugen zu beklagen waren. Damit
die hell leuchtenden, gelb-weiß lackierten Straßenbahnfahrzeuge den Tieffliegern nicht als
augenfällige Zielscheibe dienen konnten, ließ
die SSB zahlreiche Trieb- und Beiwagen mit
einem grau-braunen Tarnanstrich versehen und
die Seitenscheiben wegen des Lichtaustritts bei
Dunkelheit blau einfärben. Lediglich ein kleiner
Sichtschlitz blieb frei, damit sich die Fahrgäste
über die Strecke orientieren konnten. Auch die
Frontscheinwerfer erhielten eine Abdeckkappe,
die nur einen winzig kleinen Lichtstrahl auf die
Straße leuchten ließ.
Links | Die Schaffnerinnen streben dem
SSB-Waldheim zu. Der Sonder- oder Pendelwagen der Spielplatzlinie, der sie
gebracht hat, macht sich Richtung Ruhbank auf den Weg. Auch der weiße
Anstrich des Fahrleitungsmastes ist eine
Folge der Verdunkelung
Rechts | Privatsphäre fand im Schlafsaal
der Schaffnermaiden im Waldheim keinen
Platz. Dennoch oder gerade deshalb mochten
viele Nutzerinnen ihre anstrengende wie
rasch vorübereilende Dienstzeit als eine Art
spannendes Jugendlager empfinden
Auch der Schwabtunnel wurde zum Luftschutzraum umgestaltet, daher musste die SSB die
Endstation der Linie 6 ab dem 1. November
1943 von der Schreiberstraße zur Schwab-/
Augustenstraße zurückverlegen. Um trotzdem
eine Straßenbahnverbindung zwischen Heslach
und dem Westen anbieten zu können, ging
dafür die Linie 3 auf dem Teilstück zwischen
dem Marienplatz und der Schloss-/Silberburgstraße wieder in Betrieb. Um ein paar Straßenbahnzüge einzusparen, führte die SSB die Linie
25 ab dem 28. Oktober von Obertürkheim her
kommend nicht mehr über den Schlachthof
zum Schießplatz, sondern im Zuge der Linie 4
über den Ostendplatz und Charlottenplatz zum
Hölderlinplatz, wodurch diese entfallen konnte.
80
Bei Fliegeralarm mussten alle Straßenbahnen
anhalten. Die Fahrgäste wurden angewiesen,
die nächstgelegenen Luftschutzräume aufzusuchen.
Das Straßenbahnpersonal hatte die Fahrzeuge
zu sichern, das heißt alle Handbremsen anzu­
ziehen, alle Türen zu öffnen, den Rollenstromabnehmer (das „Stängle") abzuziehen und
am Puffer festzubinden und der Wagenführer
musste das Fahrbesteck an sich nehmen.
Danach hatte auch das Straßenbahnpersonal
umgehend Luftschutzräume aufzusuchen. ln der
Regel schaltete die SSB bei Fliegeralarmen den
Fahrstrom ab. Bei Entwarnung wurde der
Fahrstrom wieder zugeschaltet, das Personal
hatte zu seinen Fahrzeugen zurückzukehren
und die Fahrt fortzusetzen, sofern der Fahrstrom
eingeschaltet war und keine Zerstörungen an der
Strecke und Fahrleitung oder Beschädigungen
Bei den nun folgenden, zahlreichen Luftangriffen
wurden auch die Einrichtungen der SSB wie
Fahrleitungen und Gleise, Betriebshöfe und
Fahrzeuge durch Bombentreffer stark beschädigt
oder total zerstört. Um die dadurch entstandenen
Betriebsunterbrechungen so kurz wie möglich
zu halten, musste das SSB-Personal oftmals
improvisieren und zu unkonventionellen Abhilfemaßnahmen greifen. Nachdem fast alle
Reserven bei den Abteilungen Gleisbau und
Stromversorgung aufgebraucht oder zur Wieder­
herstellung zerstörter Streckenteile verwendet
worden waren, ließ die SSB die Teilstrecke der
Linie 2 vom Westbahnhof zur Charlottenbuche,
die stillgelegte Strecke in der Wildunger Straße
in Bad Cannstatt und die Schleife zum Bahnhof
Zuffenhausen demontieren und auf den beschädigten Strecken in der Stadt wieder einbauen.
Später mussten sogar die zerstörten Gleise und
Fahrleitungen stückweise geborgen, hergerichtet
und wiederverwendet werden. Immer wieder
gelang es den SSB-Mitarbeitern, trotz immer
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Schlimm erwischte es auch den „Dreizehner",
der ab Frühjahr 1944 nur noch etappenweise
verkehren konnte und zeitweise sogar in fünf
Streckenabschnitte unterteilt war. Aber .... er
fuhr! Durch die Bombardierung des Depots
Vogelsang sowie des Betriebshofs und der Haupt­
werkstatt in Ostheim erlitt die SSB ihre größten
Verluste. Um weitere hohe Einbußen an Fahrzeugen zu vermeiden. ordnete die Direktion an.
die Trieb- und Beiwagen nachts nicht mehr alle
in den verbliebenen Wagenhallen unterzubringen, sondern auf dem Streckennetz zu verteilen.
Anzeige aus dem Stuttgarter „NS-Kurier“
vom 27. Februar 1941. Es wurden nicht nur
dienstverpflichtete junge Damen, die parallel zum Wehrdienst der Männer ihren
zivilen Beitrag zur Dienstleistung für den
Staat erbringen mussten, aus dem ganzen
Reichsgebiet nach Stuttgart - und anderswo hin – verfügt. Das – durchaus ansprechende – Inserat zeigt, dass die SSB auch
anderweitige, örtlich ansässige Frauen zur
freiwilligen und bezahlten Tätigkeit als
normale Arbeitskraft suchte
größerer Ausfälle an Fahrzeugen und Material
den Betrieb binnen kürzester Frist wieder flottzubekommen. Als die entstandenen Lücken
(etwa wegen Bombenkratern im Gleisbereich,
auf die Schienen gestürzter Trümmer der
zerstörten Häuser) nicht mehr so schnell ge­
schlossen werden konnten, wurde der Straßen­
bahnverkehr einfach auf den beschränkt
verbliebenen oder wieder befahrbar gemachten
Streckenteilen aufgenommen und in der Innenstadt über Umleitungsstrecken gefahren.
Die Mitarbeiterfrage wurde zusehends prekärer,
immer mehr Männer des SSB-Personals mussten
zur Wehrmacht einrücken, so daß die SSB
bereits im Ruhestand befindliche Fahrer und
Schaffner im Alter zwischen 65 und 70 Jahren
in den Dienst zurückholte und auf die wenigen,
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nicht evakuierten Gymnasiasten/innen zurückgriff, die – nach kurzer Einweisung – in
unterrichtsfreier Zeit für Schaffneraufgaben
dienstverpflichtet wurden. Um den schwierigen
Schaffnerdienst für diese ungelernten Hilfskräfte zu erleichtern, führte die SSB ein neues,
einfaches Tarifsystem ein: Geradeausfahrschein
(ohne Umsteigeberechtigung) für 20 Reichspfennig und einen Fahrschein mit Umsteigeberechtigung für 30 Reichspfennig.
Nach einem schweren Luftangriff auf das Gebiet
der Rosenbergstraße und den Hegelplatz sowie
der Landhaus-/Sängerstraße musste der Betrieb
der Linie 6 am 24. Juli 1944 und das Teilstück
Neckarstraße - Werfmershalde - Ost­endplatz
der Linie 2 ersatzlos eingestellt werden. Beide
Strecken waren daraufhin jahrelang stillgelegt.
Trotz der immer näherrückenden Front fuhren
die Straßenbahnen in Stuttgart bis einen Tag
vor dem Einmarsch der französischen Truppen.
Auf Befehl der obersten Heeresleitung wurde
(auch) in Stuttgart durch den Gauleiter Murr
angeordnet, dass vor dem Einmarsch fremder
Truppen sämtliche Neckarbrücken zu sprengen
seien. Diesem Befehl wurde kurz nach der
Flucht des Gauleiters aus Stuttgart gefolgt,
lediglich die für die Wasserversorgung Stuttgarts
lebenswichtigen Neckarübergänge Gittersteg
und Mühlsteg konnten wegen des beherzten
Widerstands einiger mutiger Männer (darunter
auch der damalige Oberbürgermeister Strölin)
verhindert werden. Bei Bekanntwerden dieses
unsinnigen Sprengbefehls arbeitete die zuständige
SSB-Wagenabteilung einen Verteilungsplan für
den Fahrzeugbedarf des künftig zweigeteilten
Netzes aus und ließ in den Nächten 19./20. und
20./21. April entsprechend umrangieren. Am
21. April rückte kein Fahrzeug der SSB mehr aus.
81
Links | Gegensätze: Schaffnerinnen und
Schaffner bei der Abrechnung im Betriebshof, um 1942. Die Dame in Bildmitte
gehört sicherlich nicht zur Zielgruppe der
„KHD-Maiden“, die Kollegin links von ihr
vielleicht eher. Der Herr rechts entstammt
offensichtlich der Anwerbeaktion für hilfswillige Rentner. Es liegt auf der Hand, dass
dieser kurzfristige und massive Umbruch in
der (SSB-) Arbeitswelt manches Erfreuliche
bot, aber vor allem auch Anlass für zwischenmenschliche Spannungen und Konflikte – nicht nur, weil die SSB mit zu
Gunsten der neuen Mitarbeiterinnen das
komplizierte Tarifwesen vereinfachte
Rechts | Um zu verhindern, dass weitere
Wagen in der Stadt oder den Betriebshöfen
ein Opfer der Bomben würden, verfügte die
SSB im Herbst 1944 die „Außenabstellung“
der Züge – verbunden mit Einschränkungen
der Spät- und Frühfahrten, weil die Wagen
logischerweise dann die Strecke blockierten
Betriebsergebnisse und Bestände der SSB in der Kriegs- und Nachkriegszeit
Jahr Fahrzeugbestand
Tw Bw 1938 368 460 1939 392 460 1940 1941 1942 1943 1944 255 311 1945 171 225 2)
1946 179 239 3)
1947 1948 1949 289 372 1950 312 426 82
Beförderungfälle
122.556.111 135.502.236 145.122.726 158.741.074 180.543.421 187.896.867 126.491.465 96.794.090 188.164.180 206.656.070 202.447.738 171.864.323 165.607.529 Betriebsleistungen Personalbestand
Wagen-km Tw-km Bw-km 34347904 18.238.652 16.109.252 3094
34935568 18.075.772 16.859.796 3146
33598092 16.318.430 1.727.966 3003
33200708 16.011.822 17.188.886 2941
32268692 15.318.418 16.950.224 1)
30669618 14.572.676 16.084.942
1)
20770847 9.830.711 10.940.136 1)
16038623 6.913.845 9.118.623 2740
28894768 12.627.868 16.266.900 3075
25322625 10.573.625 14.748.716 3114
26898056 11.086.006 15.812.050
3211
30818917 13.750.235 17.068.682
3390
33627408 15.435.250 18.187.158 3536
1) Kriegsbedingt keine Angaben veröffentlicht.
2) Eingesetzt werden konnten nur 107 Triebund 192 Beiwagen, alle anderen waren wegen
Kriegsschäden abgestellt.
3) Einschließlich der aus Pforzheim und Würzburg geliehenen Fahrzeuge.
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Blick aus der Holzgartenstraße nach Südosten über die
Kreuzung Schloss-/Büchsenstraße, um 1955. Rechts entsteht die Liederhalle, links das Vermessungsamt. Fast frei
geht der Blick Richtung Innenstadt – wo bis 1944 dicht an
dicht Häuser standen, zeigen sich auch zehn Jahre nach
Kriegsende oft nur verwilderte Trümmergrundstücke
Die erste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
Aufgrund militärbehördlicher Anordnung musste
der Straßenbahnbetrieb in Stuttgart sowohl im
französisch besetzten Teil links des Neckars wie
auch in der amerikanischen Zone rechts des
Neckars auf unbestimmte Zeit eingestellt werden.
Die betriebslose Zeit verstrich jedoch nicht
ungenutzt, im Gegenteil, die SSB-Mitarbeiter
krempelten ihre Ärmel hoch und räumten
verschüttete Ortlichkeiten, an denen zuvor Häuser
gestanden hatten, um die Fahrleitung provisorisch aufzuhängen und setzten die Strecken und
Fahrzeuge instand, so gut es eben ging. So war es
möglich, dass am 11. Mai 1945 nach intensiven
Bemühungen des von der Militärregierung
eingesetzen Oberbürgermeisters Dr. Arnulf Klett
die Straßenbahnen wieder fahren durften. Als
erste verkehrten die Linien 1 (Kaltental – Berg),
2 (Westbahnhof – Schlossplatz – Vogelsang –
Botnang), 5 (Degerloch – Möhringen), 10
(Geroksruhe – Hauptbahnhof) und 26 (Hedelfingen – Ostendplatz – Schlossplatz) und bedienten
damit etwa 20 Prozent der 1938 befahrenen Netze,
ferner die Zahnrad- und Filderbahn. Dafür
standen gerade noch 107 Trieb- und 192 Beiwagen zur Verfügung (gegenüber 392 Triebund 460 Beiwagen vor dem Kriege). Die ersten
Wagen durften ab 6.30 Uhr aus den Betriebshöfen
ausrücken und die letzten mussten abends
spätestens 20 Uhr wieder eingerückt sein.
Da für die einheimische Bevölkerung ein nächtliches Ausgehverbot zwischen 20 Uhr und 6.30
Uhr bestand, wurde für die Straßenbahn mit der
Militärbehörde folgende Vereinbarung getroffen:
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„Straßenbahner des Fahrdienstes in Uniform
werden von 6 - 21 Uhr nicht beanstandet, so
dass für den Weg zum Dienst morgens eine halbe
Stunde und für den Nachhauseweg abends
eine Stunde zur Verfügung steht.'' Ab dem 13.
Mai verkehrte auch rechts des Neckars wieder
die Straßenbahn, und zwar die Linie 1 von der
König-Karls-Brücke nach Fellbach und Linie 12
vom Bahnhof Bad Cannstatt zur Oberen Ziegelei.
Außerdem konnte die Linie 5 von Degerloch
aus weiter bis Zuffenhausen fah­ren, Linie 16
von Degerloch nach Feuerbach, Linie 18 von
der Heidehofstraße nach Gablenberg und Linie
21 von Berg nach Heslach. Fast täglich kamen
neue, wieder instandgesetzte Strecken­teile hinzu.
Da die Hauptwerkstatt in Ostheim durch Bomben­
treffer total zerstört war, musste die SSB deren
Aufgaben auf die verschiedenen Wagenhallen
auslagern und zu Fremdfirmen verlegen (unter
anderem zu Firma Karosseriefabrik Reutter & Co.
mit deren Werken in der Augustenstraße und
auf dem heutigen Gelände der Firma Porsche
in Zuffenhausen).
Die Instandsetzung und die Instandhaltung der
Fahrzeuge war sehr mühsam und verlangte viel
Improvisationstalent von sämtlichen Mitarbeitern,
da an allen Ecken und Enden Ersatzteile und
Werkstoffe aller Art fehlten und kaum zu be­
kommen waren. So wurden etwa wegen Glasmangels die vielen kriegsbedingt zerbrochenen
Glasscheiben in den Türen und Seitenfenstern
der Straßenbahnwagen im wahrsten Sinne des
Wortes mit Brettern „vernagelt". Lediglich
ein kleines Guckfensterchen konnte die SSB in
den einen oder anderen Fensterbretterverschlag
83
Die „Enttrümmerung“ in voller Aktion, in
der Rosenbergstraße, 1947/48. Die gezeigten Häuser haben nicht nur den Bombenkrieg halbwegs überstanden, sondern auch
die Zeiten der „autogerechten“ Stadtplanung
einbauen lassen. Man war sogar gezwungen,
intakte Seitenfensterscheiben auszubauen, um
daraus Glas für die Frontfenster von Triebwagen
herzustellen. Mangels Ersatzteilen konnten auch
die defekten Fahrmotoren teilweise nicht mehr
repariert werden, so dass der eine oder andere
Triebwagen mit nur einem Fahrmotor eingesetzt
werden mußte, wodurch natürlich weitere
Motorschäden vorprogrammiert waren und es zu
zahlreichen Totalausfällen kam.
ln den ersten Nachkriegsmonaten wurde in den
verkehrsschwachen Zeiten und vor allem an
Sonntagen tagsüber der Straßenbahn (und den
Privathaushalten) der elektrische Strom abgeschaltet, um diese kostbare und knapp gewordene
Energie zu schonen und einzusparen und der
gerade wieder auflebenden Wirtschaft, dem
84
Handel und dem Gewerbe zur Verfügung zu
stellen. Dadurch ruhte der Straßenbahnverkehr
des öfteren stunden- oder gar halbtageweise. Aber
auch die häufigen Sieges- und sonstigen Paraden
der französischen und amenkanischen Truppen
in der Innenstadt und in manchen Stadtteilen
führten häufig zu Betriebsunterbrechungen
oder Linienumleitungen. Täglich fanden auf
verschiedenen Plätzen zu unregelmäßigen Zeiten
„Flaggenparaden" statt. Dazu musste die
Betriebs­abteilung der SSB am 5. Juni 1945 die
„Bekanntmachung Nr. 33 an alle Bahnen"
herausgeben: „Während der Flaggenhissung oder
Niederholung darf' über die betreffenden Plätze
nicht gefahren werden. Die Fahrer müssen also
ihr Augenmerk hierauf richten und wenn sie
bemerken, daß solche Flaggenparaden stattfinden,
anhalten bis zur Beendigung der Feierlichkeit."
Manche der Schwierigkeiten, die die SSB in jener
Zeit zu bewältigen hatte, und im Nachhinein
unverständlich erscheinen, geben heute Anlass
zum Schmunzeln. So ließ beispielsweise die
französische Militärregierung, die ihren Sitz
im Feuerbacher Rathaus hatte, mitten auf dem
Wilhelm-Geiger-Platz für die französische
Nationalflagge einen Fahnenmast aufstellen
und zwar genau mittig in das Gleis der Linien
13 und 16, so dass ein durchgehender Verkehr
unmöglich war. Die beiden Linien mussten
daher vom Pragwirtshaus kommend bereits an
der kleinen Schleife in der Nähe des Feuerbacher
Bahnhofs zur Rückfahrt wenden. Der aus
Gerlingen kommende Dreizehner setzte bereits
am Feuerbacher Hochhaus zur Rückfahrt um.
Zwischen dem Bahnhof Feuerbach und dem
Wilhelm-Geiger-Platz sowie vom WilhelmGeiger-Piatz bis zum Hochhaus pendelten
einzelne Wagen hin und her. Die Fahrgäste
mussten immer vor dem Hindernis die Fahrzeuge
verlassen, über den Platz gehen, um in den
dahinter zur Weiterfahrt wartenden Wagen zu
gelangen. Beim Überqueren des Platzes hatten
sämtliche männliche Personen die dort wehende
Trikolore zu grüßen!
Zwar konnte die Direktion der Stuttgarter
Straßenbahnen AG zusammen mit Oberbürgermeister Dr. Klett nach ein paar Wochen bei der
französischen Militärregierung erreichen, dass
der Fahnenmast versetzt wurde und die Linien
13 und 16 endlich wieder durchfahren konnten.
Die Fahrgäste mussten jedoch weiterhin bereits
vor dem Platz aussteigen und ihn zu Fuß über­
queren, um dahinter,dann in den zwischenzeit-
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Der Bereich Berliner Platz um 1955:
Zugunsten von mehr Autoverkehr und zu
Lasten der grünen Parkanlage hat man die
Schlossstraße bereits verbreitert und verschwenkt. Noch prägen Ruinenreste und
verkohlte Grundmauern die Anliegerseite
lich leer über dert Platz gefahrenen Straßen­
bahnzug zu gelangen (wobei die Männer nach
wie vor die Trikolore zu grüßen hatten!). Glücklicherweise wurde diese Anordnung dann bald
aufgehoben.
Vaihingen, Gablenberg, Sillenbuch, Bot­nang,
Feuerbach und Zuffenhausen.
Wer etwas dorthin zu transportieren hatte,
musste sein Transportgut spätestens eine Stunde
vor Abfahrt am Karlsplatz anliefern.
Da es in Stuttgart nach dem Zweiten Weltkrieg
kaum private Kraftfahrzeuge und nur wenige
Pferde-Transportunternehmer gab, mangelte es
an Transportmöglichkeiten für Güter aller Art,
vor allem für Lebensmittel. Aus diesem Grunde
organisierte die Speditionsfirma Barr, Moering &
Co. in Stuttgart ab dem 19. Juli 1945 zusammen
mit der SSB einen Gütertransport mit SSBMarktwagen. An jedem Dienstag, Donnerstag und
Samstag rollten vom Gütergleis am Karlsplatz
(das entlang dem Alten Waisenhaus lag) um
9.30 Uhr SSB-Güterzüge nach Möhringen und
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
85
1937 bastelte die SSB aus zwei betagten
Motorwagen von 1912 diesen als Nummer
501 geführten Zwillingstriebwagen. Durch
den entstandenen „Großraum“ hätte ein
Schaffner pro Einheit eingespart werden
können. Vordergründig eine Maßnahme zur
Kostensenkung, wäre damit vor allem eine
Einsparung von Personal erzielt worden –
interessant, wenn man bald viele Soldaten
braucht. Auch ein Laie konnte ahnen, dass
Fahreigenschaften und Übersichtlichkeit
dieser „Ziehharmonika“ vor allem in Gegenbögen wenig vorteilhaft gewesen sein müssen. Die Aktion wurde deshalb in dieser
Form nicht mehr weiter verfolgt
retten können. Da aber dort infolge der Zerstörungen zunächst kaum ein öffentlicher Nahverkehr
möglich war, zeigten sie sich bereit, Stuttgart
auszuhelfen. So konnten im Herbst 1945 von
Würzburg sieben beige lackierte Trieb- und
acht Beiwagen nach Stutt­gart entsandt und
wenige Wochen darauf aus Pforzheim 13 blau
angemalte Motorwagen des Baujahres 1926,
fünf von 1939 sowie 15 Anhängewagen übernommen werden.
Permanenter Fahrzeugmangel
Auch für den wieder erwachten Personenverkehr
standen weitgehend nur die Fahrzeuge der
Straßen- und Filderbahn zur Verfügung. Durch
die aus der Evakuierung zurückkehrenden
Stutt­garter/innen und die hinzugekommenen
Heimatvertriebenen und Flüchtlinge und durch
den Wiederbeginn der Arbeit bei der Industrie,
Handel und Gewerbe stieg das Fahrgastauf­
kommen sehr schnell und stark an. Doch auch
außerhalb des Berufsverkehrs hatte die SSB
hohe Fahrgastzahlen, was insbesondere auch
auf die seinerzeit üblichen „Hamsterfahrten" in
die umliegenden. damals noch ländlich strukturier­
ten Stadtteile zurückzuführen war. Hamstern
war zwar verboten, es konnte aber bei der
hungernden Bevölkerung nicht unterbunden
86
werden. Auch dafür war damals die Straßenbahn
für die Menschen lebenswichtig, trotz mancher
Tragödie, die sich ereignete, wenn die Straßen­bahn
unterwegs von der Polizei angehalten wurde,
um die Fahrgäste nach Hamstergut zu durchsuchen, das dann beschlagnahmt wurde.
Aus vorgenannten Gründen herrschte in den
Fahrzeugen der SSB seinerzeit tagtäglich ein bis
dahin noch nie dagewesener Platzmangel. Daher
bemühte sich der von den Militärbehörden aus
dem Ruhestand zurückgeholte SSB-Direktor
Loercher schon im Sommer 1945, von anderswo
Fahrzeuge nach Stuttgart zu holen. Seine
Bemü­hungen führten schließlich in Würzburg
und Pforzheim zum Erfolg. Beide Städte, obwohl
fast völlig zerstört, hatten wie durch ein Wunder
fast ihren gesamten Wagenpark über den Krieg
Die Fahrzeuge wurden auf Flachwagen der
Eisenbahn nach Kornwestheim und von dort
mittels eines Tiefladers zum Betriebshof Zuffenhausen gebracht und abgeladen. Während die
etwas schwächer motorisierten Würzburger und
die älteren der Pforzheimer Wagen von Anfang
an auf der Linie 1 E zwischen Berg und Heslach
(später auch auf der Linie 14 Heslach – Berg –
Münster) eingesetzt waren, fuhren die formschönen Pforzheimer Wagen von 1939 auf der
Linie 10 (Am Kochenhof – Sillenbuch). Doch es
stellte sich bald heraus, dass diese Wagen, die
in Pforzheim kaum Bergstrecken zu bewältigen
hatten, für den „Zehner" nicht geeignet waren.
Dies zeigte sich besonders schmerzlich, als am
11. Februar 1946 bei dem Pforzheimer Triebwagen
Nummer 40, der von Sillenbuch kommend die
steile Alexanderstraße hinabfuhr, die Bremsen
versagten und der Zug mitten in den an der
Haltestelle Olgaecke stehenden Triebwagen 320
hineinfuhr. Dieser Unfall mit mehreren Toten
und Verletzten war Anlass, diese Wagenreihe nun
ebenfalls nur noch auf den Tallinien 1 E und 14
einzusetzen.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Von Gleisen unabhängige Turmwagen in
motorisierter Form waren in Deutschland
vor dem Zweiten Weltkrieg noch nicht sehr
verbreitet. Mit Wonne setzte die SSB daher
diese Turm-Lkw ein, um ihre Fahrleitungsanlagen in der zunehmend zerstörten Stadt
rasch wieder instandzusetzen. Die Wehrmacht hatte die Fahrzeuge in Frankreich
erbeutet. Ordnungsgemäß wurde an ihnen
das vorgeschriebene deutsche Zeichen für
die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit
angebracht. Aufnahme in der Schlossstraße
Für den Betrieb der Linie 13 E, die zwischen
Gerlingen und Bahnhof Feuerbach verkehrte.
setzte die SSB die Filderbahntriebwagen 126
bis 129 und die etwas breiteren Filderbahnbeiwagen 161 bis 163 zum Depot Feuerbach
um. Dafür gab die Straßenbahn EsslingenNellingen-Denkendorf GmbH (END) je zwei
Trieb- und Beiwagen an die Filderbahn ab und
ihren Triebwagen Nummer 20 zur Wagenhalle
Bad Cannstatt. Der letztgenannte, der frühere
SSB „Königswagen" Nummer 300, verkehrte
zunächst auf dem Teilstück der Linie 25 Untertürkheim – Obertürkheim (links des Neckars).
Später dann pendelte er auf dem Teilstück der
Linie 14 zwischen der gesprengten Aubrücke
in Münster und der Hofener Neckarbrücke.
Glücklicherweise gaben die Städte Essen und
Mannheim die ihnen seit 1943 ausgeliehenen
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Trieb- und Beiwagen wieder zurück (soweit sie
dort nicht durch Kriegseinwirkung zerstört
wurden). Doch auch die Würzburger und Pforz­
heimer sowie die anderen Aushilfen waren
nur ein Tropfen auf einen heißen Stein, denn
die SSB hatte mit permanenten Wagenaus­
fällen wegen Überlastung zu kämpfen. Zudem
benötigten die beiden Städte ihre Fahrzeuge
Ende 1946 und Anfang 1947 wieder für ihren
eigenen Straßenbahnbetrieb und verlangten sie
zurück. Es mussten dringend zusätzliche Fahrzeuge zur Bewältigung des täglichen Verkehrs
beschafft werden. Das für den Erwerb von Neubaufahrzeugen erforderliche Kapital hätte zwar
vorgelegen und die notwendigen Kapazitäten
wären bei verschiedenen Fahrzeugherstellern
vorhanden gewesen. Der Bau neuer Fahrzeuge
mußte aber deshalb ausscheiden, weil Eisenund Nichteisenmetalle durchweg rationiert oder
kontingentiert und nur mit militärbehördlicher
Genehmigung zu beschaffen waren. So machten
die Ingenieure und Techniker der SSB aus der
Not eine Tugend: ln den eigenen Werkstätten
ließen sie die Fahrgestelle von 15 kriegsbeschädigten Triebwagen der Reihen 200, 400
und 600 wieder soweit instandsetzen, dass
darauf neue Holzwagenkästen nach den alten
Bauplänen und drei Exemplare der Reihe 300
nach Plänen für die Reihe 600 durch die Karos­
seriefabrik Reutter & Co. und Maschinenfabrik
Esslingen (ME) aufgebaut werden konnten. Diese
Fahrzeuge gingen zwischen 1946 und 1949 in
Betrieb.
Vor diesem Hintergrund kann es als besonderer
Glücksfall bezeichnet werden, dass die Heidel-
berger Waggonfabrik H. Fuchs AG, die während
des Zweiten Weltkriegs den so genannten
„Kriegsstraßenbahnwagen" (KSW) in großen
Stückzahlen für viele deutsche Straßenbahnbetriebe fertigte, im Sommer 1946 der SSB 15
fast fertiggestellte Exemplare dieser robusten,
dreifenstrigen Triebwagenreihe anbot, allerdings
ohne die dazugehörigen Motoren. Die SSB griff
trotzdem sofort zu und lieferte an Fuchs aus
ihrem Fahrzeug-Motorenfundus (den sie über
den Zweiten Weltkrieg retten konnte) 18 AEGMotoren des Typs US 533a (mit je 50 Kilowatt
Leistung) und 12 des Typs US 523a (mit 52,5
Kilowatt) zum Einbau in diese Wagen, die den
Fahrgästen nur 12 Einzelsitzplätze auf Holzbänken, dafür aber 78 Stehplätze boten. Im
Spätherbst tauchten die ersten Vertreter der
neuen Wagenreihe 726 bis 740 auf der Linie 25
(Hölderlinplatz – Charlottenplatz – Stöckach –
Ostendplatz – Wangen, Neckerbrücke – linkes
Ufer) auf, quasi als erstes Signal für den beginnenden Wiederaufbau des SSB-Wagenparks.
Um den Fahrzeugengpass bei den Beiwagen zu
lindern, ließ die SSB ebenfalls zwischen 1946
und 1949 auf 15 Fahrgestelle kriegszerstörter
Anhänger der Reihe 1100 von der Karosseriefabrik Reutter & Co. neue Wagenkästen nach
Plänen der Beiwagenreihe 1400 aufbauen. Die
ME erhielt den Auftrag, von 1946 bis 1948 auf
insgesamt 50 Fahrgestellen kriegszerstörter
Beiwagen der Reihe 800 und 1400 so genannten „Notaufbauwagen" zu fertigen. Bei diesen
Anhängern, die der Beiwagenreihe 1400 äußerlich ähnelten, wurden all jene Bauteile, die
für einen sicheren Fahrbetrieb nicht unbedingt
87
Auferstehend aus Ruinen: Vom Rotebühlplatz
kommend, biegt 1948 am Wilhelmsbau dieser
Zug mit dem voluminösen KS-Wagen an der
Spitze in die von der Königstraße kommenden
Gleise Richtung Querspange ein. Der sichtbare Gebäuderest, an dem noch das Werbe­
emblem der Brauerei Leicht prangt, wurde
alsbald beseitigt und die Straße begradigt:
Die Bomben hatten innerhalb von drei Jahren
die planerischen „Grundlagen“ für eine
Neugestaltung der Stadt bewirkt, die sonst
ein oder zwei Generationen gedauert hätte –
ob zu ihrem Vor- oder Nachteil, lässt sich
nicht beurteilen
notwendig waren, entweder einfachst ausgeführt
(z. B. Seitenwände und Dach aus Pressspanplatten statt aus Stahlblech und Holz, Griffleisten
und Fensterrahmen aus Holz statt aus Metall)
oder ganz weggelassen (wie lnnentüren, lnnenfenster. Innenwandverkleidungen), weshalb sie sowohl beim Personal wie auch bei
den Fahrgästen den treffenden Spitznamen
„Pappendeckelwagen" erhielten. Trotz ihrer
primitiven Ausstattung und spartanischen Einfachheit waren sie zum Teil bis 1959 auf dem
Stuttgarter Straßenbahnnetz anzutreffen. Der
letzte dieser Anhänger mit der Nummer 950 ist
noch im Straßen­bahnmuseum Zuffenhausen,
heute Straßenbahnwelt Stuttgart, Bad Cannstatt
zu bewundern.
88
Langsam wieder aufwärts
Es ist bewundernswert, wie die Mitarbeiter der
SSB und der von ihr beauftragten Firmen sich
unablässig bemühten, mit oftmals primitivsten
Mitteln und Improvisation die Straßenbahn am
Fahren zu halten. So entstand bereits im Laufe
des Jahres 1946 auf dem Gelände der Hauptwerkstatt in Ostheim wieder eine Montagehalle
mit 1400 qm Grundfläche, auf der ein Großteil
der seither ausgelagerten Werkstattbereiche
wieder zusammengeführt werden konnten. Zwar
musste zunächst noch mit mehr oder weniger
„antiquierten" Maschinen und Geräten gearbeitet
werden, doch langsam konnte alles erneuert
werden. Der Wiederaufbau der übrigen zerstörten
Betriebsgebäude schritt kontinuierlich fort, so
dass die verschiedenen Betriebszweige nach und
nach wieder an ihre ursprünglichen Örtlichkeiten
zurückkehren konnten. Durch den Bau einer
Behelfsbrücke über den Neckar in der Nähe des
Berger Stegs trat beim Fahrbetrieb eine große
Erleichterung ein. Die Linie 1 fuhr ab dem 17.
August 1946 von Stuttgart kommend in Berg
durch die Nißlestraße, kreuzte die damalige Ulmer
Straße (heute Poststraße), um dann über eine
Rampe auf die Notbrücke über den Neckar zu
gelangen. Auf weiteren Rampen ging es jetzt
hinunter auf den Cannstatter Wasen, der rechtwinklig überquert wurde, und über eine dritte
Rampe (parallel zur Mercedesstraße) hinauf zum
rechten Brückenkopf der gesprengten König-KarlsBrücke und auf die alte Strecke zum Wilhelmsplatz Bad Cannstatt (und weiter nach Fellbach).
Auch der „21er" erhielt zum gleichen Tag wieder
seine alte Linienlage vom Leipziger Platz über
den Schlossplatz – Berg und die Notbrücke über
den Neckar zum Bahnhof Bad Cannstatt und
weiter über den Kursaal zur Oberen Ziegelei. Auf
dem Weg nach Münster und zum Hallschlag
übernahmen anstelle der Linien 1 und 21 die
Linien 14 und 12 von Heslach aus die Bedienung
dieser Stadtteile.
Nach wie vor war die Bereitstellung von ausreichend betriebsfähigem Rollmaterial – allen
Anstrengungen bei der Wiederherstellung und
allen Neubeschaffungen zum Trotz – täglich die
größte Sorge. So ging der Bestand einsatzfähiger
Triebwagen von 179 im Januar 1947 bis Dezember
1947 auf 163 zurück. Der ständige Fahrzeugmangel zwang die SSB am 17. Februar 1947
sogar, den bisherigen zehn-Minuten-Grundtakt
auf 12 Minuten zu strecken. Erst nach der
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
1946 am Marienplatz: Einer der aus Pforzheim ausgeliehenen Straßenbahnwagen in
Stuttgart, sofort erkennbar an der charakteristischen blau-weißen Lackierung mit den
beidseitigen Zierlinien. Die „Guckfenster“ sind
diesmal kein Produkt einer gewollten Verdunkelung, sondern des Mangels an Glas. Der
Mitarbeiter in der Mitte hat offensichtlich
den Krieg nicht ohne dauerhafte körperliche
Schäden davongetragen
Währungsumstellung von der Reichsmark auf die
Deutsche Mark am 20. Juni 1948 entspannte sich
die Lage, zum einen wegen der jetzt spürbar
rückläufigen Fahrgastzahlen, zum anderen wegen
der verstärkt hinzukommenden, neu aufgebauten
oder wiederinstandgesetzten Trieb- und Beiwagen.
Auch die seither üblichen langen Abstellzeiten
ausgefallener Fahrzeuge konnten wesentlich
verkürzt werden, da die Ersatzteilbeschaffung nun
bedeutend weniger Probleme bereitete. Bevor
an den Wiederaufbau der zu über 80 Prozent
zerstörten Innenstadt Stuttgarts gedacht werden
konnte, mussten zuerst die zum Teil einsturzgefährdeten Ruinen beseitigt und die Trümmer­
berge weggeschafft werden. Da aber keine
ausreichenden Lastwagenkapazitäten dafür zur
Verfügung standen, hatte die Straßenbahn
auszuhelfen. Gemeinsam mit der Stadt Stuttgart
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
gründete die SSB zu diesem Zwecke die
„Gemeinnützige Gesellschaft für Trümmerverwertung und -beseitigung in Stuttgart GmbH"
TVB. Diese GmbH beschaffte sich von der ME
zwischen 1946 und 1947 insgesamt zwölf
zweiachsige Meterspur-Lokemotiven und von
Fuchs, Heidelberg, 50 zweiachsige Anhänger
mit jeweils drei Kippmulden. ln der Innenstadt
transportierten kleine Feldbahnen mit Dampflokomotiven und Kipploren die Trümmer zu
verschiedenen Umladestellen. Eine davon befand
sich in der Fritz-Eisas-Straße an der Stelle, an
der heute die Stuttgarter Musikschule steht. Dort
wurden die Trümmer von den kleinen Loren in
die TVB-Muldenkipper geleert. Mit jeweils drei
dieser Anhänger fuhren die Trümmerlokomotiven
zum so genannten „Flaschenhals", ein tief­
liegendes Gelände am Neckar zwischen Gaisburg
und Wangen, etwa in Höhe des heutigen Großmarkts. Dort befand sich eine Schredderanlage,
die die noch brauchbaren Trümmersteine zu
einem Riesel zermahlte, aus dem die TVB eine
Art Hohlblocksteine fertigte, die für die ersten
Wiederaufbaumaßnahmen in Stuttgart Verwendung
fanden. Mit den verbleibenden Resten wurde
das „Fiaschenhalsgelände" aufgefüllt. Am 31.
August 1948 stellte die SSB den Trümmertransport ein. Sechs der insgesamt zwölf Lokomotiven
konnten an andere Straßenbahnen verkauft
werden. Die verbliebenen sechs reihte die SSB
unter den Nummern 2021 bis 2026 in ihren
Arbeitswagen­park ein. Als letzte war die Loko­
motive 2023 bis Mitte 1994 in Betrieb. Mit
eigener Kraft rollte sie als Zeuge jener schwierigen
Zeit ins (damalige) Straßenbahnmuseum in
Zuffenhausen. Die 50 Muldenkippanhänger
wurden anfangs der fünfziger Jahre verschrottet.
Ab dem 18. Juli 1948 konnten auf dem ehema­
li­gen „Westring", der früher von der Linie 6
be­fah­ren wurde, von der Schreiberstraße durch
den Schwabtunnel und über die Rosenbergund Kriegs­bergstraße wieder Straßenbahnen
zum Haupt­­bahnhof fahren. Dieses Streckenstück
verband die SSB mit dem am 13. September
1948 dem Betrieb übergebenen Reststück
Hauptbahnhof – Werfmershalde – Ostendplatz
des früheren „Ostrings" und setzte darauf die
neue Linie 20 ein. Nun befuhr die SSB bereits
95 Prozent ihres 1938 betriebenen Netzes.
Die neugebaute König-Karls-Brücke, über die
ab dem 27. September 1948 die Linien 1 und
21 wieder fahren konnten, brachte eine weitere
Erleichterung für den Straßenbahnbetrieb.
89
konnte. Mit der Anschaffung von 20 farbrikneuen Trieb- und 50 Beiwagen im Sommer 1950
war die Nachkriegszeit bei der SSB weitgehend
überwunden, man konnte jetzt beinahe wieder
von „Normalbetrieb" sprechen.
Für die Herkulesaufgabe, Millionen Kubikmeter von Trümmerschutt aus der Stadt
abzufahren, war es nicht mehr mit dem
Einsatz betagter Straßenbahnwagen als
Zugmaschinen getan, schon wegen deren
geringer Antriebsleistung. Mit Sondergenehmigung der Alliierten durfte die SSB
daher bei der Maschinenfabrik Esslingen
zwölf Stück einer kurzfristig neu konstruierten, höchst massiven und wendigen
kleinen E-Lok bestellen, die noch 1946 die
Werkhallen verließen. Die Verwendung von
Panzerplatten ergab ein sehr willkommenes hohes Adhäsionsgewicht. Während Lok
2023 längst in der Straßenbahnwelt Stuttgart zu bewundern ist (Foto), steht ein
Exemplar dieser unkaputtbaren Type noch
heute bei der Straßenbahn Würzburg im
Bauzugdienst, wohin sie schon vor Jahrzehnten verkauft wurde
Im Jahr 1949 normalisierte sich der Verkehr
bei der Straßenbahn merklich. Zum einen
fielen die häufigen Hamsterfahrten weg, zum
anderen machten Fahrradfahrer und die neu
zugelassenen Personen- und Lastkraftwagen der
Straßen­bahn spürbare Konkurrenz. Darüber­
hinaus ließ die nach der Währungsreform
festzustellende Geldknappheit viele Bürger wieder
preisbewusster und sparsamer werden, so dass
auf manche Straßenbahnfahrt verzichtet wurde,
was sich bei den Beförderungszahlen deutlich
zeigte. Da gleichzeitig aber wiederinstandgesetzte
und neu aufgebaute Fahrzeuge hinzukamen,
entspannte sich die Lage zusehends und die ständig
überbesetzten Fahrzeuge mit Menschentrauben
auf den Trittbrettern, wie sie nach dem Kriege
gang und gäbe waren, gehörten bald der
Vergangenheit an. Als schließlich ab dem 24.
90
Oktober 1949 auch die Linie 3 zwischen Marien­
platz – Schloss-/Silberburgstraße – Hauptbahnhof –
Charlottenplatz – Olgastraße – Heusteig­
straße – Marienplatz wieder ihre „Runden"
drehen konnte, war fast das ganze Vorkriegsnetz
der SSB in Betrieb. Lediglich die kurzen
Strecken vom Westbahnhof zur Charlottenbuche
und vom Neckarstadion zum Schlachthof wurden
noch nicht oder nicht mehr befahren. Dafür
kamen aber mehrere neue Omnibuslinien zu
verschiedenen Wohngebieten hinzu. Trotz der
rückläufigen Fahrgastzahlen sah die Bilanz der
SSB – auch wegen des wieder eingeführten
Zonentarifs – gar nicht schlecht aus. Man war
jetzt sogar in der Lage, für das kommende Jahr
1950 den Bau der neuen Straßen­bahn­strecke
nach Stammheim in die Wege zu leiten, die
dann bereits am 13. Mai 1950 eingeweiht werden
„In der Nacht vom 20./21. April 1945 befand sich
der Verfasser in Cannstatt, um in der Erwartung
der drohenden Brückensprengungen einen selbstän­
digen Straßenbahnbetrieb rechts des Neckars
vorzubereiten und zu diesem Zweck die noch
betriebsfähigen Straßenbahnwagen und Autobusse
sinnvoll auf beide Neckarseiten zu verteilen. Als
er dann in der Nacht durch die verdunkelte Stadt,
die nur durch einzelne Brände erhellt wurde, nach
Hause fuhr, hätte er auf die Frage, wie er sich
den Betrieb zehn Jahre später vorstelle, sicherlich nur ein resigniertes Achselzucken gehabt.“
Betriebsleiter Helmut Seeger zitiert in Loercher,
Paul: Die Geschichte der Stuttgarter Straßenbah­nen
AG von 1928 – 1958. Stuttgart 1963, S. 34
Hinweis: Die Sprengungen der zahlreichen Eisen­
bahn- und Straßenbrücken in Deutschland in den
letzten Kriegstagen 1945 in Deutschland wurden
nicht vom Feind vorgenommen, sondern von den
deutschen Truppen, gemäß Hitlers Befehl vom 19.
März 1945 über ‚Zerstörungsmaßnahmen im
Reichs­gebiet‘, wonach die allgemeinen Infrastruk­tur­
bauwerke Deutschlands nur zerstört in die Hände
des Feindes fallen sollten. Die Verkehrs- und
Versorgungsbedürfnisse des eigenen Volkes – ob
vor oder nach Ende des Krieges - spielten bei diesem
so genannten „Nero-Befehl“ keine Rolle mehr.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Exkurs: Ein Kapitel
Theorie
Fahrzeugtypen, die (doch) nicht
gebaut wurden
Ohne jede Angabe liegt dieses Werkfoto
der Maschinenfabrik Esslingen (ME) vor. Es
lässt sich zeitlich ohne Zweifel auf 1940
datieren und zeigt offensichtlich das
Gestaltungsmuster für einen geplanten
Beiwagen der SSB. Beide Seiten, Verkehrsbetrieb und Hersteller, beschäftigten sich
also zu dieser Zeit noch mit einem solchen
Entwurf. Gebaut wurden diese Fahrzeuge nie
„Wenn wir den Krieg gewonnen hätten“, so
heißt ein bitteres Gedicht von Erich Kästner.
Wenn es keinen Krieg gegeben hätte, ab 1939,
wie hätte dann und schon während der Jahre
zuvor, als die Zivilwirtschaft bereits eingeschränkt
wurde, die Fahrzeugentwicklung bei der SSB
ausgesehen? Mit der Übernahme der SSB durch
die Stadt Stuttgart 1917 und überstandener
Inflation 1924 konnten Aufträge über neue Wagen
vergeben werden. Die Vorgänger stammten teils
aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, der
ersten Generation der Elektrifizierung in Stuttgart.
So tauchten zwischen 1924 und 1930 rund
zweihundert Neubau-Motorwagen in Stuttgart
auf, speziell für die Landeshauptstadt entwickelt.
Es war bis zum Kriegsbeginn im Prinzip noch
immer die neueste Serie für die SSB. Eine
Ausnahme machten nur die so genannten
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Gartenschauwagen, bei der SSB einfach „GS“
genannt. Diese 24 Exemplare erschienen im
Frühjahr 1939 rechtzeitig zum Beginn der
Reichsgartenschau auf dem Killesberg. Gut zehn
Jahre lang hatte die SSB also keine Neubauten
mehr beschafft, während die Fahrzeugbautechnik
mit komplettem Stahlbau und dem Einzug der
elektrischen Schweißung mit selbsttragenden
Aufbauten und Leichtbau gewaltige Fortschritte
gemacht hatte. Diese Progressivität ging an der
SSB weitgehend vorbei, weil nach dem großen
Schub in den 1920er Jahren zunächst kein
direkter Bedarf an neuerem Fahrzeugmaterial
bestand, zumal bei den Beiwagen auch Uraltgut
aus der Königszeit noch geziemend aufgebraucht
oder gar fleißig umgebaut wurde. Nur an
den beiden Beiwagen 1321 und 1322 von
1936 demonstrierte die SSB, wie zeitgemäßer
Stahl-Leichtbau aussah, um auf den langen
Steigungen Fahrzeit und Strom zu sparen.
Diese beiden Anhänger besaßen den „Luxus“
von Polstersitzen, den es bis dahin allenfalls
in wenigen Triebwagen für die langen Vorortstrecken gab. Immerhin befand man sich Mitte/
Ende der 1930er Jahre in Konkurrenz zu gut
gefederten, komfortablen Stromlinienbussen in
Stahlbauweise. So stand Stuttgarts Kommunalverkehrsbetrieb mit einem Fahrpark aus Wagen
mit hölzernen Aufbauten und teils klassisch
in Längsrichtung eingebauten Holzlattensitzbänken zwar solide, aber gewiss nicht modern
da. Ob die SSB ab Mitte der 1930er Jahre mit
Neubauten liebäugelte, ist nicht überliefert.
Ab 1937 jedenfalls war es wegen der Rüstungsvorbereitung schon schwierig für Straßenbahnbetriebe, an neue Wagen zu kommen. Dass die
SSB 1939, als die Militärs schon mit den Hufen
scharrten, doch die 24 Neubauwagen bekam,
dürfte nur auf den konkreten Mehrbedarf
wegen des Gartenschauverkehrs zurückzuführen
sein und auf ein gewisses Repräsentations­
bedürfnis der Stadt – zumal Nazi- OB Strölin
als Hobby-Stadtplaner gute Kontakte zu
diversen Reichsstellen bis Berlin hielt und
Stuttgart als so genannte „Stadt der Auslands­
deutschen“ eine Sonderrolle beanspruchen durfte.
Die Gartenschauwagen waren auf Grundlage
des etwa ab 1935 entwickelten „deutschen
Einheitsstraßenbahnwagens“ geschaffen worden,
der eigentlich reichsweit zum Universalfahrzeug
der Verkehrsbetriebe hätten werden sollen – soweit
das bei den jeweiligen städtischen Gleisnetzen
möglich war. Auch in Stuttgart bestanden
91
Links | Eine der „Trümmerloks“ für die SSB
auf dem Werkhof der Esslinger Fabrik,
1946. Noch sind keine Stromabnehmer
montiert, vermutlich wegen des Transports
oder weil erst die SSB vor Ort in Stuttgart
diese wichtigen Teile bereitstellte
Rechts | Von Dutzenden Wagen der SSB
blieben nach den Kriegszerstörungen
letztlich nur die robusten Fahrgestelle
übrig. Diese wurden Stück für Stück nach
Esslingen überstellt, wo die ME ab 1946
mit einfachsten Mitteln relativ einheitliche
Notaufbauten darauf setzte, obwohl es
sich bei den Untergestellen um wenigstens
ehemals vier verschiedene Wagentypen
gehandelt hatte. Bis 1949 erhielt die SSB
so 50 Stück dieser dringendst benötigten
Vehikel, von Personal und Fahrgästen rasch
„Pappdeckelwagen“ genannt (Pappendeckel ist der schwäbische Ausdruck für Kartonplatten, und die Wandflächen dieser
Wagen bestanden aus dünnen Pressholzlagen). Mehr durch Zufall hat ein einziges
Exemplar, Wagen 950, überlebt. Auch ihn
findet man als Relikt einer besonderen
Epoche nun im Cannstatter Straßenbahnmuseum
Einschränkungen beim Ausschwenken im Bogen
sowie besonders hohe Ansprüche an die Antriebsleistung und die Bremsen. Immerhin besaß
der GS-Typ erstmals Hydraulikbremsen, trotz
Handbetätigung eine große Erleichterung für
die Fahrer, die in diesen Wagen zudem erstmals
sitzen durften. Auch die pneumatisch angetriebenen Teleskoptüren waren am Neckar neu,
wenn auch beim Einheitswagen technischer
Standard. Die 24 GS-Wagen – von der SSB
zutreffend als „Ganzstahlwagen“ bezeichnet –
hätten nicht alleine bleiben sollen: „Für 10
weitere Wagen erhielten wir das Kontingent
von der Reichsstelle für Wirtschaftsausbau“,
hieß es im Geschäftsbericht 1940. Diese Reichsstelle war aber de facto, soweit es nicht um die
Rüstung ging, eine Einrichtung zur Behinderung
der zivilen Wirtschaft. Davon ahnte man wohl
92
noch wenig, denn man frohlockte 1940, die
SSB sei „im Typisierungsausschuss für Einheitsstraßenbahnwagen der Reichsverkehrsgruppe
Schienenbahnen vertreten“. Vom Reichsverkehrs­
ministerium habe man daher die Zustimmung
„zur Beschaffung eines vierachsigen und
zweier zweiachsigen Probezüge für Meterspur
erhalten.“ Die Zweiachser sollten „die neue
Stuttgarter Bauart“ bilden, nachdem die ReichsEinheitstype „infolge der besonderen Betriebsverhältnisse in Stuttgart“ nicht ohne Abweichungen verwendet werden könne. Anders war
es bei dem Vierachser vorgesehen: Dieser und
die dazugehörigen zwei Beiwagen sollten ohne
Änderung „nach Einheitsbauart angefertigt“
werden. Denn „der vierachsige Probezug wird
auf der oberen Filder eingesetzt“ [sprachlich
korrekt: auf den oberen Fildern]. Dort gab es
ebene Strecken und keine Profileinschränkungen.
Der Wagenpark der Filderbahn, so der Bericht,
solle „dringend erneuert werden“, was durchaus
richtig war.
Alu-Draht und Betonklötze
Zu welchen Kuriosa die Verinselungspolitik
Deutschlands ab 1933 auch auf dem Straßenbahnsektor führte, belegen auch Beispiele aus
Stuttgart: So erwähnt der Geschäftsbericht der
SSB für 1939, dass auf der Neuen Weinsteige
ein Versuch mit „Stahlaluminiumfahrdraht“
gemacht worden war, den man allerdings nach
anderthalb Jahren abbrach – den Kommentar
„erfolglos“ hat man sich dazu zu denken.
Der Bericht 1943 erwähnt „Versuche mit Beton­
bremsklötzen“, die zwar noch liefen, aber bereits
„bei den Triebwagen zu keinem brauchbaren
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Am Schlossplatz um 1947: Einer der Pforzheimer Züge
(rechts), erkennbar an der abgerundeten Front mit der
„Bauchbinde“, tummelt sich inmitten von Stuttgarter Wagen
Ergebnis geführt“ hätten. Auch die GS-Wagen
von 1939 blieben nicht von Experimenten
verschont: Um für den Anstieg gegen den
Killesberg das nötige Reibungsgewicht zu erreichen, waren sie ab Werk mit Ballastgewichten
aus Stahl versehen. Diese ersetzte die SSB
bald darauf durch solche aus Beton. Man muss
kaum erwähnen, dass der Beton – vielleicht
weil er Feuchtigkeit zog – nach 1945 wieder
solidem Stahl weichen musste, als es allmählich
wieder welchen gab. Auch bei ihren Omnibuslinien
zeigte sich die SSB ab 1939 notgedrungen
experimentierfreudig: Fast jeder der wenigen
noch vorhandenen Wagen – die meisten hatte
die Wehrmacht abgezogen – lief mit einer anderen
Antriebsart, ob Klärgas, Stadtgas (Leuchtgas)
oder Holzgas.
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Und nun ging es der SSB wie manchem Volksgenossen jener Zeit, der treulich seine Beiträge
zugunsten der Zuteilung eines „Volkswagens“
leistete, den er nie bekam. Denn ein Bericht von
1943 vermerkt, dass die SSB noch im Vorjahr
beträchtliche Anzahlungen geleistet hatte, einmal
für die elektrische Ausrüstung mit 77 000
Reichsmark „für 2 Einheitstriebwagen“ und
zum anderen für die Fahrzeugsubstanz selbst
72 000 Mark für „2 Einheitstriebwagen und 2
Einheitsbeiwagen“. Konkrete Lieferleistungen,
so heißt es in dem Vermerk vielsagend, „waren
im Zeitpunkt unserer Prüfungen noch nicht zu
erwarten.“ * Das blieb auch später so: Stuttgart
sah diese Wagen nie und das dafür ausgeworfene
Geld nie mehr. Als 1945 dann der braune
Schwindel vorbei war, wurde schon im Oktober
vom Aufsichtsrat die „sofortige Beschaffung“
von 50 Triebwagen „nach unserer Type 200“
beschlossen, also ein Nachbau der Stuttgarter
Serien von 1926. Lieferant sollte die Maschinen­
fabrik Esslingen (ME) sein. Ferner erhielt Fuchs,
Heidelberg, den Auftrag über 15 Stück des
so genannten Kriegsstraßenbahnwagens (KS).
Fuchs konnte dieses so stark voluminöse wie
wenig komfortable Produkt liefern, weil dafür
noch vorgefertigte Grobteile auf Lager waren.
Den Bezug dieses Wagens hatte man zuvor in
Stuttgart nicht erwogen, weil auch diese Wagen
in den Stuttgarter Radien zu weit ausschwenkten.
*Prüfbericht für 1942 der Schwäbischen Treuhand AG,
Stuttgart 1943, S. 19 (Stadtarchiv Stuttgart)
93
Links | Die Stuttgarter GartenschauWagentype (GS) von 1939 orientierte sich
am Entwurf des deutschen Einheitswagens,
nahm aber vom Grundriss her auf das
Stuttgarter Netz mit seinen engen Bögen
Rücksicht, damit sich begegnende Züge
auch dort reibungslos aneinander vorbei
kamen
Rechts | Der reichseinheitliche Kriegsstraßen­
bahnwagen (KS) konnte zwar auch in
Stuttgart fahren, blockierte aber durch
seinen großen Überhang in vielen Kurven,
in denen er zu weit ausschwenkte, den
Gegenverkehr. Angesichts des großen
(Steh-) Platzangebotes dieser Wagen – und
weil sie überhaupt zusätzlich verfügbar
waren – musste die SSB ab 1946 mit diesen
Fahrzeugen leben
Genau das hatte man mit dem GS-Wagen mit
seinem eigens eingezogenen Grundriss aus
gutem Anlass vermieden. Doch die KS-Wagen,
1946 in Stuttgart erschienen, waren sowieso
nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Dass man von Pforzheim und Würzburg gut
40 Wagen ausleihen konnte – in diesen stark
bis völlig zerstörten Städten fehlte vorläufig
niemand eine Straßenbahn, man erwog in
Pforz­heim sogar die völlige Verlegung der Siedlung an einen anderen Ort -, machte die Lage
in Stuttgart nicht viel besser, fehlte es doch an
Erfahrung und Unterhalt für diese ganz anderen
Typen. Das und wohl auch ungenügende Bremsen für die steilen Stuttgarter Gefälle führten
1946 zu einem entlaufenden Zug beim Olgaeck,
der umkippte. Die Toten dieses Vorfalls dürfen
94
zu den zahlreichen indirekten Opfern gezählt
werden, die der Krieg noch forderte, als die
Waffen längst schwiegen. Die SSB versetzte
die Pforzheimer Wagen aufgrund dessen auf
„flache" Linien. Doch auch im Juli 1947 konnte
der Aufsichtsrat nur schulterzuckend feststellen,
dass die ME für die „1945 bestellten Wagen“
nun Bezugsscheine „für Eisen, Holz und dergleichen“ verlange. Die konnte die SSB aber bei
den amerikanischen Freunden nicht auftreiben,
sprich die wollten nicht. Ob unter Diktator oder
Besatzer, wer eine Großpackung mit Straßenbahnwagen einkaufen wollte, hatte schlechte
Karten, argwöhnten die Sieger doch, dass die
Deutschen aus dem neuen Stahl heimlich gleich
wieder Kanonen gießen würden. Dabei war es
nicht so, dass die Amerikaner die SSB gar nicht
berücksichtigt hätten, im Gegenteil: Schon
1946 bewilligten die Alliierten den Stuttgartern
etliche Tonnen Stahl für neue Fahrzeuge. Doch
daraus waren die – mehr als stabilen – zwölf
E-Loks als Zugmaschinen für die Trümmerzüge
entstanden. Das war zunächst wichtiger gewesen
als die Frage, ob die Bürger zu Fuß gehen oder
Straßen­bahn fahren sollten.
„Mit der Lieferung der Wagen ist vorläufig
nicht zu rechnen“, hieß es also 1947 ohnmächtig.
Direkt vor der Währungsreform, im Mai 1948,
erneuerte die SSB zwar die Bestellung bei der
ME, doch von dort kamen schlechte Nachrichten:
„Die Ausführung des Auftrags“ – zunächst mit
einem Jahr Lieferfrist – „ist heute nicht in
Angriff genommen und auch in absehbarer Zeit
nicht zu erwarten.“ Zwar hätten die schweize­
rischen Hersteller Séchéron und in Pratteln
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Alte Konstruktion in aufgefrischtem
Gewand: Der Nachbau der 1920er-JahreType „200“ ab 1950 war kein wirklicher
Schritt zur Modernität. Wenigstens handelte es um einen schon in Stuttgart
bekannten und bewährten Typ
Vierachser liefern können, mit „doppelt so viel
Fassungsvermögen“ wie die Stuttgarter Zweiachser, aber mit fast zwei Jahren Lieferzeit, und
zu astronomischen Beträgen. Produkten aus
Belgien oder USA war der gemeinsame Mangel
eigen, zu schwach motorisiert zu sein für Stuttgarts Berge. Dann kam die Hiobsbotschaft aus
Esslingen, die SSB werde auf ihre bestellten
Wagen zwei Jahre warten müssen statt einem.
Inzwischen, schon vor der Währungsreform
1948, war der Straßenbahnverkehr in Stuttgart
mit 208 Millionen Personen schon doppelt so
stark wie die Höchstziffer der Vorkriegszeit.
Was sich schon in der unmittelbaren Vorkriegsund Kriegszeit angedeutet hatte, verstärkte
sich nun noch enorm: Nicht nur die Zahl der
Fahrgäste explodierte, sondern zusätzlich die
Reiseweite. Diesmal war der Grund die Zuweisung
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
der Heimatvertriebenen auch nach Stuttgart, die
zunächst in vorhandenen Wohnungen mit einquartiert wurden, bis mit der neuen Währung sofort der Bau der ersten Siedlungen „auf der grünen Wiese“ begann – vor der Stadt, Hauptsache
an der Straßenbahnlinie oder in deren Nähe.
Es lebe das Provisorium
1949 dann waren vierachsige Großraumwagen –
„nach dem amerikanischen PCC-Wagen“ –
vorgesehen, also mit Fahrgastfluss, aber frühestens
für Mitte 1951 absehbar. Man war darüber mit
der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN)
im Gespräch. „Solange dürfen wir nicht warten“,
hieß es. Daher bestellte die SSB „als Zwischenlösung“ für den dringendsten Bedarf 20 Triebwagen „der bewährten vorhandenen Typen der
Linie 1 in modernisierter Form“, dazu zehn
passende Beiwagen. Das war also die erneute
Bestellung der schon 1946 vergebenen „Zweihun­
dertertype“ von 1926, also einem „Holzwagen“,
obwohl seit über 15 Jahren die Stahlbauweise
im Fahrzeugbau bewährt war. Doch vom „Einheitswagen“ hatte man sich völlig verabschiedet,
Holz war immer noch billiger als Stahl, die
Pläne für die „200er“ lagen zugelassen vor. Und
für jede Art von Neu- oder Weiterentwicklung
liefen der SSB die Zeit und vor allem die Kosten
davon, weil sich durch das beginnende Wirtschaftswunder – und den Zwang des Wiederaufbaues – die Preise für Rohstoffe drastisch
erhöhten. Die SSB betonte, die Nachbestellung der
Alt-Bauart sei „kein Vorgriff auf die Beschaffung
der modernen Großraumfahrzeuge“, somit keine
Konkurrenz.
95
Oben | Alfred Bockemühl, Chef der Dresdner Straßenbahn,
hatte für dort bereits 1947 als „Vision“ einen Straßenbahn-Doppelstockwagen als Vierachser mit Niederflureinstieg skizziert. Sein Sohn, der Architekt Gundolf Bockemühl, ließ sich kurz danach in Stuttgart nieder. Dort
fertigte er Mitte 1949 diesen konstruktiven näheren Entwurf für einen solchen Wagentyp. Sein Vater Alfred
Bockemühl flüchtete aus der Sowjetzone und wurde 1950
technischer Vorstand der SSB. Im selben Jahr legte Alfred
Bockemühl unter dem Stichwort „Neue Fahrzeuge für
Stuttgart“ eine Zeichnungsmappe vor, welche neben dem
tatsächlich dann 1953 in Stuttgart verwirklichten Sechsachser GT 6 auch den Doppelstock-Aufriss seines Sohnes
enthält
Unten | Nicht weniger spannend ist – als ergänzendes
Dokument – der Bockemühlsche Entwurf eines Doppelstock-Sattelauflieger-Anhängers für den Omnibusverkehr
(Abbildung unten), der also ebenfalls für Stuttgart
gedacht war. Wirklich neu war dieses Prinzip nicht:
Bockemühl hatte bereits vor dem Krieg für seinen Dresdner Betrieb den Prototyp eines solchen Fahrzeugs
geschaffen und eingesetzt, auf der Grundlage eines Lkw
vom Typ Opel Blitz. Wegen der damals noch schwachen
Motorleistung der Lkw-Zugmaschinen überzeugte der
Sattelschlepper-Bus nicht. Für Stuttgart mit seiner
anspruchsvollen Topografie hätte sich das gleiche Problem
gestellt. Bockemühls Impuls blieb dennoch nicht ohne
Wirkung, wenn auch auf ganz andere Weise: Der Sylter
Kapitän Ruy Prahl stellte ab 1953 Borgward-Lkw auf die
Meterspurgleise der Inselbahn Sylt und fertigte passende
Auflieger für den Passagierbetrieb dazu, wenn auch nicht
doppelstockig. Das Konzept bewährte sich bestens. Das
letzte Exemplar jenes Typs befindet sich bei der Museumsbahn Selfkantbahn bei Aachen in Aufarbeitung
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Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Oben | Kein großer, aber sozusagen ein fruchtbarer Entwurf war der ebenfalls 1953 bei der SSB erschienene
Wagentyp 700, heute als T 2 bekannt. Schon 1954
erschienen Beiwagen im gleichen Design, „Schiffle“
genannt, die als Stuttgarter Reihe 1500 auftraten. Gerne
werden diese als konstruktive Einheit angesehen. Doch der
eigentliche Beiwagentyp, mit dem die 700er sozusagen
auf die Welt kamen und lange Zeit häufig fuhren, waren
die von 1950 bis 1953 gebauten, filigranen Anhänger der
1300er-Serie. Auf der Türlenstraße kommt uns um 1960
solch ein Gespann entgegen. Straßenbahn, Haltestellensäule, das Flugdach der Tankstelle links und die Hochhäuser
im Hintergrund verkörpern wie gemalt die Zeit des Wirtschaftswunders
Unten | Warum setzte die SSB nicht schon ab 1950 auf
vier- oder mehrachsige Großraum- oder Gelenkwagen?
Dazu muss man kaum mehr wissen, als dieses Bild aus der
Hauptwerkstatt Ostheim aussagt. Diese Schiebebühne, der
Hauptverteiler auf die Werkstattgleise, war das Maß der
Dinge. Wagen zu beschaffen, die bei Achsstand oder Aufbau auch nur eine Handbreit länger gewesen wären, hätte
sozusagen bedeutet, die halbe Werkstatt abzureißen und
neu zu bauen – mit welchem Geld? Heute ist die Ausgangslage ähnlich: Die Schiebebühne in der SSB-Hauptwerkstatt Möhringen, ab 1969 angelegt, wurde dem 1959
in Dienst gestellten Wagentyp GT 4 angepasst, mit rund
20 Metern Länge. Die Stadtbahnwagen von 1985 orientierten sich am doppelten Maß – 40 Meter -, damit ein
geteilter Halbzug weiterhin auf die Schiebebühne passt.
Auf dieser Grundlage werden auch heute die Züge
beschafft und das Meterraster aller Abstellflächen, Aufstellgleise, Wagenhallen, Haltestellenlängen und Gleisblock­
abschnitte der SSB entworfen, damit es einheitlich und
rationell ist. Das dürfte auf Jahrzehnte so bleiben, weil es
sich bewährt hat und auch die Gleisgeometrie in den
Bögen daran angepasst ist
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
97
Links | Auf der kleinen Straßenbahnausstellung 1947 im Cannstatter Kursaal wurde dieses Modell eines Vierachsers „für
Stuttgart“ präsentiert. Der Hersteller MAN
wollte darüber mit der SSB ins Geschäft
kommen, man war sich sogar handelseinig.
Im Gefolge der Währungsreform kam der
SSB aber das Vermögen abhanden, mit
dem sie die Wagen bezahlen hatte wollen
Rechts | Auch mit Herstellern aus der
Schweiz verhandelte die SSB schon bald
nach dem Krieg. In der SSB-Mitarbeiterzeitschrift „Über Berg und Tal“ wurde 1950
dieser Wagentyp als Beispiel für damals
aktuelle Vorbilder vorgestellt. Doch weil
die SSB nicht die Einnahmen am Markt
erzielen durfte, die den steigenden Ausgaben, Leistungen und Preisen angepasst
gewesen wären, konnte die SSB auch keine „harten Franken“ mehr aufbringen
Diese 20 Triebwagen erschienen tatsächlich
1950. Mit Fahrersitz, Teleskopschiebetüren und
Polstersitzen – wie die GS-Wagen von 1939 –
brachten sie immerhin einen Hauch der Modernisierung nach Stuttgart. Sie waren noch nicht
recht da, als bekannt wurde, dass Stuttgart 1952
Veranstaltungsort des Deutschen Kirchentages
werde. Eilends bestellte die SSB also – was
wohl? – nochmals zehn Stück vom Typ 200.
Immerhin bekamen diese Wagen nun auch die
für die steilen Strecken äußerst erwünschte
Druckluftbremse, außerdem hielten Leuchtstoffröhren Einzug. Auch diese Wagen riss der Betrieb
dem Hersteller förmlich aus den Händen, denn
im Herbst 1952 beförderte die SSB 477 000
Personen im Monat statt – wie noch im Sommer –
430 000. 1938 waren es noch 336 000 gewesen
bei einer Beförderungsleistung von 122 Millionen
98
pro Jahr und 576 Personenkilometer, 1952 waren
es 165 Millionen und 892 Personenkilometer. Man
bewältigte also eine Steigerung der Produktivität
um mehr als die Hälfte mit weniger Wagen,
nämlich 785 Fahrzeugen statt (wie 1938) 838
Gefährten.
in Ganzstahlbauweise, besaßen diese Wagen
das abgerundete Äußere des GT 6, weil in Gestalt
des neuen SSB-Chefs Alfred Bockemühl ein
Antroposoph bei der SSB wirkte. Konstruktiv
übernahm man Druckluftanlage mit –türen und
–bremsen, Fahrersitz und gepolsterte Fahrgast­
sitze. Noch immer hieß es zu dieser Zeit, die SSB
besäße „eine große Anzahl alter Wagen, die
eigentlich längst verschrottet sein müssten.“
Daher schlug der 700er ein wie eine Bombe:
Innerhalb von vier Jahren, bis einschließlich 1957,
ließ die SSB über 120 Stück davon bauen.
Wirklich modern war die SSB damit aber nicht:
Stuttgart war einer der wenigen Betriebe, der
somit nach dem Krieg noch Zweiachser bauen
ließ, dazu auch noch so viele. Als Begründung
lieferte die SSB, diese Wagen seien vom Raumvolumen her gemeinsam mit ein oder zwei
vergleichbaren Beiwagen optimal, um die
Zuglänge an wechselndes Fahrgastaufkommen
anzupassen.
Im Folgejahr 1953 stellte die SSB den ersten
der Prototypen der sechsachsigen Gelenkwagen
GT 6, bei denen von vorne herein klar war, dass
sie ohne aufwändigen Umbau der Gleisanlagen
fast nur auf einer Strecke fahren könnten. Die
SSB brauchte aber dringend ein weiteres für alle
Linien geeignetes Fahrzeug. Ebenfalls 1953 tauchte
daher diskret wieder ein neuer Wagentyp auf,
der eine technisch-gestalterische Mischung
aus Einheitswagen, 200er und GT 6 bildete: die
damalige Type 700, später T 2 genannt. Endlich
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Kein drolliger Einfall eines Künstlers, kein
fahrendes Kasperletheater für Kinder: Die
Gucklöcher in den Seiten“fenstern“ dieses
Zweihunderters sind Ausdruck purer Materialnot. Immerhin: Man schreibt 1947.
Man kann wieder einem Beruf und Broterwerb nachgehen. Es fallen keine Bomben
mehr vom Himmel und man muss nicht
mehr beim schaurigen Geheul von Sirenen
in Keller und Stollen flüchten. Vielleicht
holt einen die Besatzungsmacht zum Ernteeinsatz aufs Land oder zum Holzfällen in
den Schwarzwald. Aber es erscheinen
nicht mehr morgens um sechs Herren in
Ledermänteln, die einen hinter Stacheldraht bringen. Man darf (fast) wieder
sagen, was man denkt. Es gibt (meistens)
wieder Strom. Und: Es fahren wieder Straßenbahnen
Der Tarifkampf
Das mochte stimmen. Es verhüllte, dass die
SSB nicht nur ein Fahrzeugproblem, sondern
vor allem ein Werkstattproblem besaß: Mit
elf Meter Kastenlänge und knapp drei Meter
Achsstand war man beim T 2 nicht nur an die
Grenze des geometrisch bei einem Zweiachser
Machbaren gegangen. Beides waren auch fast
die Gesamtmaße der Länge der Schiebebühne
in der Hauptwerkstatt Ostheim und der lichte
Raum zwischen den nächsten Hallenpfeilern
vorne und hinten. In Wahrheit hatte man also
einen Wagentyp sozusagen in den Werkstatt­
raum hinein konstruiert. Schon der GS von
1939 war mit zehn Meter Aufbaulänge und fast
gleichem Abstand beinahe an die Grenzen (der
Werkstatt) gestoßen. Das noch zentralere Problem
der SSB lag aber wieder woanders: beim Geld.
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Mit dem Zuzug der Heimatvertriebenen beschloss
die Stadt, die SSB dürfe trotz ihres sprunghaft
gestiegenen Aufwandes diesen kaum auf den
Fahrpreis umlegen. Die Stadt wollte also den
Tarif künstlich niedrig halten, um die oft noch
fast mittellosen Neubürger nicht zu stark zu
belasten. Monatelang tobte öffentlich ausgetragen
der Streit zwischen der Stadt und der SSB, der
„Kampf um den Tarif.“ Bei der SSB – bis dahin
einem nicht üppig, aber durchaus solide ertragreichen Unternehmen mit bescheidener Verzin­
sung der Aktien – sah man sehr wohl, dass das
Unternehmen durch diesen hoheitlichen Eingriff
erstmals in ein Defizit laufen werde. Und mit
dessen Abdeckung hatte es die Stadt nicht so
eilig. Um es kurz zu machen: Die Stadt setzte
sich durch. Seit diesem Zeitpunkt erwirtschaftet
die SSB wohl oder übel ein Defizit, das die
Eigentümerin ausgleichen sollte. Bis heute trägt
die SSB also soziale Lasten, die Kosten ihres
Netzes mitsamt Unterhalt und zahlt an die Stadt
trotzdem ein Straßenbenutzungsentgelt, also
eine Maut. Dieser historisch entscheidende
Bezug ist wichtig zu wissen, wenn man über den
aktuellen Zuschussbedarf der SSB diskutiert.
Zurück zur einstigen Flottensituation der SSB:
Schon der Kauf der neuen Wagen seit 1950
konnte nur über Kredite finanziert werden.
Der Bau einer neuen Hauptwerkstatt war zwar
dringend geplant, ab Anfang der 1950er kaufte
die SSB dafür die ersten Baumwiesen bei
Möhringen. Doch Geld dafür war keines in Sicht:
Wagen oder Werkstatt, nicht beides. Wirklich
wirtschaftliche, größere Wagen – der Personal­
mangel und der Personalabfluss in die Wirtschaft
99
Zwillingswagen, nächster Versuch, 1958:
Der „Tatzelwurm“ 201 wirkte schon viel
fortschrittlicher als sein Vorgänger von
1937. Doch modern und zukunftsweisend
war er auch nicht. Erst nochmals später,
ab 1964, verwirklichte die SSB das Prinzip
„Doppelwagen mit schwebendem Mittelteil“ dann beim Umbau der 700er-Type in
den bärenstarken Doppeltriebwagen DoT 4,
diesmal wirklich in Serie
kündigten sich an – konnten aber nur beschafft
werden, wenn eine großzügigere Werkstatt in
Sicht war. In ihrer neuen Not – der Personalnot –
stellte die SSB 1958 einen Gelenkwagen vor,
der aus zwei alten Vorkriegswagen gebastelt
worden war, dazu einen gleichartigen DoppelBeiwagen. Das war gut gemeint, stieß aber
auf Widerstand: Der „Vorrat“ an altbrauchbaren
gleichartigen Vorkriegswagen hierfür beschränkte
sich auf gut 40 Stück, so dass nicht einmal
zwei Dutzend dieser behäbigen, gewiss nicht
modern wirkenden Ungetüme – Spitzname
Tatzelwurm – hätten gebaut werden können.
Ein Schaffner und Betriebsrat brachte es auf
den Punkt: „Die SSB braucht für ihre Wagenbeschaffung endlich ein Konzept!“ Die Lösung
kam nicht von der SSB: Die Maschinenfabrik
Esslingen entwickelte von sich aus ein Mittelding,
einen kurzen Gelenkwagen, der – physikalisch
zunächst kaum zu glauben – mit vier statt
sechs Achsen auskam. Dieser GT 4 wurde 1959
„geboren“ und zum nächsten großen Erfolgsmodell
der SSB, diesmal für lange Zeit. Wieder stand
die Firma aber vor gravierenden Geldproblemen,
wieder musste man die Werkstatt auf die lange
Bank schieben. Mit dem Ablauf der ersten
Untersuchungsfristen der ersten GT 4 nach acht
Jahren, 1967, droht ultimativ die Werkstattfrage.
Wegen eines matschigen Winters und massiver
Erhöhung beim Stahlpreis wurde die neue
Hauptwerkstatt Möhringen dann erst 1971 fertig,
vier Jahre zu spät, ein verborgenes finale
furioso: Mit zwei zugedrückten Augen bei der
Aufsichtsbehörde, dann mit der Vergabe von
Hauptuntersuchungen an die Waggonfabrik
Rastatt überbrückte die SSB diese Hängepartie.
100
Um zum eigentlichen Thema zurückzukommen:
Wohin sich im „Dritten Reich“ die Lage der SSB
entwickelt hätte, weiß man nicht. Zumindest
hätte man den Betrieb kaum auf die Schnelle
auf Omnibusse verlagern können. Somit stand
die SSB 1939/40 mit dem GS und dem zweiachsigen Einheitswagen (Version „Stuttgart“),
dem wohl früher oder später ein Gelenkwagen
gefolgt wäre, und den Vierachsern für die
Filderbahn endlich vor dem Schritt zu einem
damals zeitgemäßen, vor allem weitgehend
einheitlichen, wirtschaftlichen Fahrzeugpark.
Stattdessen handelte sie sich innerhalb von 15
Jahren wenigstens vier zusätzliche Bauarten
ein, denn selbst die Nachbau-200er von 1950
ff unterschieden sich ja in den einzelnen Serien
reichlich. Hinzu wäre – auch nur aus der Not
geboren – der unglückliche Tatzelwurm von 1958
gekommen. Das Fazit ist delikat: Während die
Autobranche ab 1948 bei Fahrzeugen und
Infrastruktur nahtlos auf der Vorkriegsentwicklung
aufsetzte und von der Weiterentwicklung im
Krieg profitierte, musste die Straßenbahn – weil
man sie ihre Probleme selber bezahlen ließ und
ihr zusätzliche Aufgaben aufbürdete – etliche
Rückschritte nacheinander hinnehmen, nicht
nur beim Disakkord zwischen Fahrzeugbedarf
und Werkstattausstattung. Bei langlebigen
Wirtschaftsgütern wie Straßenbahnwagen
wirkten sich aber – zumindest in Stuttgart –
fatalerweise sogar noch die Folgen des Ersten
Weltkrieges und der Inflation aus: Weil man
erst ab 1924 die damals alten Wagen ersetzen
konnte, das aber auf breiter Front, waren diese
am Vorabend des nächsten Krieges noch nicht
ersatzreif. So erfuhr die SSB in den 1930er Jahren
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Oben | Nicht weniger als 50 Stück Muldenkippwagen orderte die formal 1946
gegründete Trümmerverwertungsgesellschaft für Stuttgart in Esslingen. Die ersten wurden – wohl im Auftrag der SSB –
schon Ende 1945 nach Stuttgart geliefert,
das Gros folgte 1946/47. Ein gutes Dutzend davon übernahm die SSB nach dem
Ende der Trümmerräumung in ihr Eigentum – der Gleisbau konnte diese Wagen
zunächst gut brauchen. Mit der Verfügbarkeit von Lkw nahm der Bedarf an den
Kippwagen ab, bis 1961 wurden sie ausgeschieden. Um 1958 sehen wir eine Reihe
von ihnen auf dem Gleisbauhof der SSB in
Wangen hinterstellt (rechts vor dem
Lagerhaus). Vorschriftsmäßig sind die
Kippmulden so umgeklappt, dass Wind
und Regenwasser sich nicht darin fangen
können
Unten | Noch 1959 konnten vier der
ursprünglich fünfzig Schüttgutwagen der
Stuttgarter „Trümmerbahn“ in Diensten
der SSB angetroffen werden, hier in
Möhringen. Um eine gemeinsame Nummernserie zu bilden, erhielten die verbleibenden Wagen zum Teil die Nummern der
bereits ausgeschiedenen. Daher verbergen
sich hinter den Nummern der beiden
Wagen 2502 und (dahinter) 2501 die
ursprünglichen Bezeichnungen 2515 und
2510. Wagen 2527 verdingte sich ab 1955
bei der Straßenbahn Esslingen – Nellingen
– Denkendorf, wurde dort 1963 zum
Flachwagen umgebaut und endete um
1995 in Schönau/Odenwald
nicht einmal ansatzweise eine Modernisierung
auf den damals neuesten technischen Stand,
bei den sparsamen Stuttgartern sowieso nicht.
Dieser Umstand wieder – im Schauspiel würde
man vom „retardierenden Moment“ sprechen,
sprich das dicke Ende kommt hinterher – und
der kuriose künstliche Stahlmangel bewirkten
zum zweiten Mal, dass die Zeitläufe gegen die
SSB arbeiteten. Die Einspannung der SSB zur
sozialen Abfederung der Nöte der Neubürger –
an sich sicherlich richtig – ergab zum dritten Mal
in 20 Jahren eine entscheidende Substanzhemmnis: ohne große Werkstatt keine leistungs­
fähigen Wagen. -upf
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
101
Ralph Hölscher
Der Papier-Krieg
1939 bis 1945 bei der SSB:
„Kunstwerke“ der Improvisation
Links | Alles voller Straßenbahnen – aber
keine Menschen? Auch diese Aufnahme
entstand bei einer der Luftschutzübungen
schon 1937
Rechts |“Pst – Feind hört mit“: Das war
nicht nur eine auf Plakaten ausgehängte
Warnung und Parole im „Dritten Reich“,
die vor Spionen warnen sollte. Wer immer
den Mund auftat, musste gewärtig sein,
dass auch Spitzel unter den eigenen
Landsleuten – vielleicht auch Kollegen –
unerwünschte Wahrheiten weitermeldeten, mit oft höchst unangenehmen Folgen
für den unvorsichtigen oder vielmehr
schlicht zu aufrichtigen Zeitgenossen
Wie organisiert man den Straßenbahnbetrieb in
einer Großstadt, wenn ein Gutteil der Mitarbeiter
fehlt und schließlich auch die Wagen; wenn
es Grundstoffmaterial wie Stahl oder Kupfer
sozusagen nur noch auf Rezept gibt und in
buchstäblich homöopathischen Mengen? Was
tun, wenn Trümmer die Gleise versperren, der
Fahrdraht überall herumhängt, nur nicht mehr
über den Schienen? Kann man einen solchen
Zustand noch logisch organisieren, geschweige
denn pflichtgemäß dokumentieren? Das
„Kriegstagebuch“ der SSB – eine Sammlung
erhaltener Verwaltungsdokumente aus der Zeit
des Zweiten Weltkriegs - belegt, wie die Verwaltung versuchte, solche Zustände zu bewältigen.
Die Auswirkungen der gut ersten beiden Jahre
des Krieges ab 1939 mochten sich in der
102
heimat­lichen Stadt noch wie bei einer Art
vergrößertem Betriebsausflug äußern, bei
dem das Leben der Zurückbleibenden einen
eingeschränkten und eigenartig gedämpften,
aber zivilisierten Gang beschrieb. Doch etwa ab
1942 begannen sich auch vor den Augen der
Stuttgarter substanzielle Umbrüche abzuspielen.
Mit Winde und Pickel holten Bauarbeiter nicht
mehr benötigte Gleise der SSB aus dem Straßen­
pflaster, sei es in Zuffenhausen die alte Schleife
beim Bahnhof Zuffenhausen in der Lothringerund Burgunderstraße, die nach der Verlängerung
der Linie 5 bis zum Westrand des Siedlungs­
gebietes an der Wimpfener Straße nicht mehr
gebraucht wurde. Schmerzlicher war der Eingriff
im Stuttgarter Westen: Auch die beliebte Strecke
Westbahnhof – Charlottenbuche der Linie 2, an
schönen Ausflugssonntagen reichlich bevölkert,
aber wegen des Personalmangels schon mit
Kriegbeginn aufgelassen, musste ihre Schienen
abgeben. Mit dem Material besserte die SSB
ihre dringendsten abgefahrenen Gleise an anderer
Stelle aus. Denn Stahl war schon seit 1937
kontingentiert – auf den Beständen „saß“ Wirt­
schaftsdiktator Hermann Göring - und spätestens
seit Kriegsanfang allenfalls noch bei besonderer
Dringlichkeit zu erhalten, auf hoheitlichen
Antrag im fernen Berlin. Dringlich waren im
Zweifelsfall die Rüstung, die Eisenbahn oder
die Kriegsgüter produzierende Industrie, aber
gewiss keine Straßenbahn. Immerhin ließ sich
die SSB solche Arbeiten noch ordnungsgemäß
beim Innenminister in Stuttgart genehmigen,
mit Beschreibung, Begründung und Lageplan.
Zeitzeugen dürften geahnt haben, dass diese
herrliche Panoramastrecke später nie mehr
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Ob an den NS-Polizeipräsident oder
an den französischen Militärkommandant:
Die Zuständigen und die Titel wechselten,
die Aufgabenstellung für die SSB blieb die
gleiche, nämlich das Netz in Betrieb zu
halten und darüber ständig Berichte zu
erstatten
Rechts | Der östliche Halbring der Linie 3
durch die Heusteig- und Olgastraße musste
am längsten auf seine Wiederinbetriebnahme warten: Das lag weniger an Gleisschäden als am Mangel an Wagen – und
an der viel wichtigeren, parallelen Linie 1.
Diese „Aussicht“ auf „blühende“ (Trümmer-)
Landschaften – dort blühte immerhin das
Unkraut – bot sich den Mitfahrenden auch
noch lange Zeit. Aufnahme in der Wilhelm-/
Olgastraße
wiedererstehen würde, und so war es denn
auch. Hätten sie gewusst, dass der Birkenkopf
an der Charlottenbuche schon wenige Jahre
später mit Tausenden von Kubikmetern Trümmerschutt der Stuttgarter Häuser zu einem
Aussichtsberg aufgefüllt würde – allerdings das
letzte Stück per Lkw herangebracht, nicht per
Straßenbahnstrecke, denn die war ja ironischerweise nicht mehr da – wäre ihnen das sicherlich
nicht einmal ein makabrer Trost gewesen.
Auch über die „Luftschäden“ aufgrund der
„Luftangriffe“ wurde ein penibles Berichtswesen
geführt.* Zumindest anfangs jedenfalls, als die
offiziell „Terrorangriffe“ genannten Bombardements noch große Seltenheiten waren, verstieg
sich etwa die Betriebsleitung der Filderbahn
nach dem dortigen ersten schweren Angriff
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
vom 22. November 1942 auf Möhringen noch
zu Verwaltungslyrik: „Gleis 11, hochgerissen;
stand auf den Kopfenden der Schwellen. Es war
in der Mitte um 180 Grad gedreht; Trieb- und
Anhängewagen in einer Wüste von Glasscherben,
über 1000 Scheiben zerstört.“ Schlechter zu
beschreiben waren aus diesem Anlass die spärlichen Reste zweier junger Männer, die mitten
auf dem Gleis der Filderbahn in Echterdingen
von einer Sprengbombe zerfetzt worden waren,
als sie während des Angriffs versucht hatten,
ein scheuendes Pferd – eine Kostbarkeit in jener
Zeit, als Kraftfahrzeuge bereits eingezogen
worden waren – einzufangen. Allen Ernstes
wurde damals ausführlichst erwähnenswert
gehalten, dass die Schadensmeldung nicht
über den zerstörten Bahnfernsprecher, sondern
den Privatanschluss des Bahnhofswirts hatte
abgegeben werden müssen. Aus solchen Zeilen
spricht noch die sozusagen frische „moralische“
Empörung darüber, dass nicht nur deutsche
Flugzeuge über Nachbarländern Bomben abwarfen, sondern die damit Bedrohten ihrerseits
den umgekehrten Weg beschritten.**
*Die beschönigende Sprachregelung hatte ihren tieferen
Sinn: Der Schriftsteller Werner Bergengruen zog sich den
Unmut des Regimes zu, als er darauf hinweisen wollte, dass
es nicht die Luft war, die Schäden anrichtete, sondern
Bomben. Siehe: Die Bombengaudi; in: Bergengruen, Von
Riga nach Anderswo. Zürich 1992
**Immerhin hatte der „Reichsgoldfasan“ Göring noch einige
Zeit zuvor den Deutschen versprochen, er wolle Meier heißen,
wenn auch nur ein einziges feindliches Flugzeug über dem
Deutschen Reich erscheine.
103
Links | 25. Mai 1940: Kleiner Sensationstourismus zu einem der ersten über
Stuttgart abgestürzten feindlichen Flugzeuge. Auch von der oder für die SSB wurde dieses halboffizielle Foto gemacht.
Während überlebende feindliche Piloten
seitens des deutschen Militärs zumeist auf
respektvolle, nicht zuletzt „kollegiale“
Behandlung hoffen konnten, waren die
Reaktionen seitens mancher Teile der
Bevölkerung nicht immer friedlich
Rechts | Dieser Betriebssekretär wurde
ebenfalls als „aktiver SSB-Rentner“ fotografisch verewigt. Das Parteiabzeichen –
am Revers getragen – schützte vor mancher Arroganz der Machthabenden und
oft auch vor ehrlichen Antworten der Kollegen oder Mitbürger
Hauptverwaltung als Ruine
Zwei Jahre später, Mitte 1944, hatte sich die
Lage bereits dramatisch gewandelt: Anfang
August 1944, nach wiederholten Großangriffen
auf Württembergs Landeshauptstadt, sah man
sich offenbar zeitweise nicht mehr in der Lage,
Bombentrichter auf der Neuen Weinsteige zeitnah
zu schließen, geschweige denn das Gleis wieder­
herzustellen. Penibel regelte SSB-Betriebsleiter
Helmut Seeger die Betriebsabwicklung: Ein
Straßenbahnwagen aus der Halle Degerloch war
per SSB-Omnibus, den man von der Linie N (nach
Nürtingen) abgreifen sollte, auf das Aufwärtsgleis
der Steilstrecke zu schleppen, wo es dann offenbar
wieder Strom gab. Der Einzelwagen hatte
dergestalt den Pendelverkehr bis zum Bombentrichter „bei Haus 61“ zu versehen, von wo ab
demzufolge ein Fußmarsch für die Fahrgäste in
104
die Stadt anstand. Ausdrücklich war ein Aufsichtsposten bei Haus 61 zu stationieren, der
„unter allen Umständen“ zu verhindern habe,
dass – wohl bei Dunkelheit – „die Wagen zu
weit talwärts fahren.“ Von den Buslinien der
SSB waren zu jener Zeit übrigens noch fünf
stark eingeschränkt in Betrieb, also die Hälfte
des Netzes. Denn auch Kraftstoff gehörte zu
den massiv rationierten Gütern – mit ihm sollten
Panzer angetrieben werden.
Die Situation war jedoch sozusagen noch glän­zend
gegenüber dem Zustand, der zum Monats­ende
August 1944 eintrat: Nach dem Bombardement
Stuttgarts durch alliierte Flugzeuge an drei fast
zusammenhängenden Tagen waren Innenstadt
und dortige Anlagen der SSB schwerst betroffen.
Betriebshof Ostheim mitsamt der lebensnot­
wendigen Hauptwerkstatt, die Depots Vogelsang
und Feuerbach und ein halbes Dutzend Dienstwohngebäude waren zerstört oder unbenutzbar.
Vor allem aber war schon zuvor, gegen Ende
Juli 1944, auch der organisatorische Lebensnerv
der SSB voll getroffen worden, die damalige,
seit Jahrzehnten in der Friedrichstraße 55
untergebrachte Hauptverwaltung. Sie brannte
völlig aus. Da ein Straßenbahnbetrieb vor Ort
verwaltet werden muss, hatte man nur den
kleinsten Teil der Akten zuvor auslagern können.
Aus dem verkohlten Tresor konnten nur einige
von der Hitze gebräunte Aktien gerettet werden.
Die waren unter jenen Umständen weniger von
Nutzen als unbedrucktes Papier oder gar dienstliche Formulare. Um deren Vorhaltung sorgte
sich angesichts der zerstörten Druckereien
noch sage und schreibe im Dezember 1944 ein
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Gleich zwei „Werbe“wagen für Ziele der
NS-Politik gondeln hier die Königstraße
hinauf. Zugfahrzeug ist ein verkleideter
Arbeitswagen, hinter dem Anhänger verbirgt sich ein Beiwagenveteran aus der
Pferdebahnzeit
„erneuten“ Hinweis auf die „Verpflichtung zur
Tragung des Parteiabzeichens“, die demzufolge
auch von den betreffenden SSBlern nachlässig
gepflogen wurde. Als wenig später, Ende August
1944, Reichsminister Dr. Goebbels, zuständig
„für den totalen Kriegs­einsatz“, mit „sofortiger
Wirkung“ eine Urlaubs­sperre für die „schaffende
Heimat“ verfügte, damit in „dieser für den
Endsieg so entscheidenden Zeit“ kein einziger
Arbeitstag ungenutzt verlorengehe, war dies
Grund für Schiller, diesen Erlass unver­züglich
nochmals eigens den Mitarbeitern der SSB
wörtlich bekanntzugeben. Der Krieg hatte nun
auch an dieser Stelle die „Heimatfront“ eingeholt.
Rundschreiben der SSB „an alle Dienststellen“.
Die sollten jeweils Musterstücke – notfalls „ein
nicht mehr benötigtes ausgefülltes Exemplar“ –
an die Hauptverwaltung der SSB einreichen, die
inzwischen teils im Betriebshof am Marienplatz
(damals offiziell „Platz der SA“), teils in einem
gutbürgerlichen Wohnhaus im Degerlocher Villen­­
viertel, Waldstraße 10, Unterschlupf gefunden
hatte. Der Aufsichtsratsvorsitzende der SSB, der
von den Nazis aus dem Amt geschobene Ober­
bürger­meister Dr. Karl Lautenschlager, residierte
da schon in einem Notwohnsitz bei Münsingen.
Von viel mehr grundsätzlicher Art war die
Bekanntmachung, die SSB-Vorstand Dr. Schiller
am 12. August 1944 „an alle Bahnen“ erließ –
die SSB war auch betriebsführende Verwaltung
der Straßenbahn Esslingen am Neckar und der
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Ostfilderstraßenbahn Esslingen – Nellingen –
Denkendorf. „Gerüchtemacher“ hieß der Bezug:
Kritisiert wurden von Schiller die angeblich
„stark übertriebenen Behauptungen“ über
Umfang und Schäden der „Terrorangriffe“ auf
die Neckar­metropole. „Besonders beliebt“, so
der damalige SSB-Chef und "Betriebsführer",
„sind solche Erzählungen bei Straßen­bahn­
fahrten.“ Derartige Übertreibungen hülfen
„letztendlich dem Feind.“ Schiller schärfte den
„Gefolgschaftsmitgliedern“ – die Straßenbahner
hatten blind zu folgen – ein, falls nötig, müssten
„die Schwätzer festgestellt oder deren Festnahme
veranlasst werden.“ Das war nichts als die offene
Aufforderung anderer zur Denunziation – mit
allen Konsequenzen für Leib und Leben der
Kollegen. Die Parteigenossen erhielten aus diesem
Anlass in schönster Bürokratenprosa den
105
Links | Keine wirklich anheimelnde Szene:
Die Kartoffelzufuhr in Stuttgart Ost
Rechts | 1942 sehen wir vor dem kleinen
Esslinger Depot einen Wagen der
Ursprungsausführung (rechts) und den
Beiwagen 80, der wegen der bis nach
Stuttgart führenden Durchgangslinie
längst die SSB-Lackierung trägt. Der Beiwagen hat nach kuriosem Lebenslauf bis
heute durchgehalten und ist – in den Esslinger Frühzustand mit Lackierung in
creme-rot versetzt – in der Straßenbahnwelt Stuttgart zu finden
„Gefolgschafter“ tragen die Folgen
Fast schwerwiegender – die „Super“lative gehen
bei einem solchen Thema allmählich aus – war
die schlichte Mitteilung von Betriebsleiter Seeger
ebenfalls von Mitte August 1944, einem der
Monate, in dem sich Ereignisse, Folgen und
Systematik offensichtlich überschlagen sollten:
„Alle Bahnhofsvorsteher“ – das sind im Sprachgebrauch einer Straßenbahn, die bekanntlich
keine Bahnhöfe aufweist, die Chefs der Betriebs­
höfe – wurden informiert, dass „männliche
Schaffner“, hier „Gefolgschafter“ genannt, ab
Jahrgang 1884 und jünger nicht mehr nur als
Schaffner, sondern „unter allen Umständen“ –
eine zeitbedingt gerne verwendete Bedingungsform – auch als Fahrer zu verwenden seien.
Von einer Einarbeitung für diese zusätzliche
Qualifikation war nicht die Rede. Argumentiert
106
wurde mit den üblichen vielsagenden „besonderen
Gründen“, die keiner Erläuterung bedurften.
Konsequenterweise verhieß schon ein Dutzend
Tage später, am 24. August 1944, die nächste
Mitteilung der Direktion, dass ab 28. August
„80 KHD-Maiden“ aus dem Dienst der SSB
zu nehmen seien – gemeint waren damit die
zum „Kriegshilfsdienst“ verpflichteten, zumeist
jungen Frauen, parallel zur Wehrpflicht der
Männer, die bis dahin als Schaffnerinnen bei
der SSB tätig gewesen waren. Diese Summe
dürfte zumindest ein wesentlicher Teil des SSBBestandes dieser Damen gewesen sein. „Die
Abgabe erfolgt an die Rüstung“, vermerkte
die Anordnung bündig – statt Fahrscheine zu
knipsen, stand den Frauen nun Akkordarbeit
in einer dumpfen Werkhalle bevor, wo es
Patronenhülsen zu füllen oder Dichtungsringe
zu stanzen galt. Auch die Restlohnzahlung
und die Abgabe der Schaffneruniformen waren
genau geregelt, ebenso der weitere Verbleib
im „Gefolgschaftsheim“ der SSB in Degerloch.
Dessen großzügiger Keller war bereits beim
Bau 1938 „vorausschauend“ als Luftschutzraum
angelegt und betoniert worden.
Schon am 28. August 1944 kündigte eine weitere
Bekanntmachung einen Zustand an, der – je
nach Sichtweise – für eine vorausschauende
Planung, für die Auflösung sinnvoller Ordnung
oder für beides stand. Ab dem Folgetag mussten
die Fahrgäste hinnehmen, dass abends ab
21 Uhr und morgens bis 6 Uhr auf jeweils den
„hinteren“ Abschnitten der Linien 2, 5, 13 und
14 kein Zug mehr fuhr. Der Grund: „Aus Luftschutzgründen“ stellte die SSB ihre kostbaren
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Bitte herrichten! In solchem Zustand befanden sich nicht wenige der
Wagen, welche die SSB ab 1945 bei der Maschinenfabrik Esslingen zur
Instandsetzung einlieferte. Damit die Vehikel überhaupt überführt werden
konnten, waren zunächst verbogene, gesplitterte, hinausragende Teile
entfernt worden. Im vorliegenden Fall ergab die nähere Untersuchung
aber offenbar, dass das Objekt nur noch als Teilespender lohne: Wagen 595,
anno 1912 von Herbrand erbaut und 1944 in seinen unglücklichen Zustand
geraten, erstand nicht mehr neu, sondern wurde als Kriegsverlust verbucht
Wagen – soweit es noch einsatzfähige gab –
lieber nicht mehr in den teils sowieso zerstörten
Depots der Innenstadt ab, sondern lieber auf den
etwas weniger „luftgefährdeten“ Außenstrecken.
Zwischen Feuerbach und Gerlingen wurde
deshalb gar ganztägig auf eingleisigen Betrieb
umgestellt und dafür das altbewährte Stabsystem
eingeführt, dass nur jeweils der Fahrer in den
Abschnitt einfahren durfte, der – sozusagen
als handgreiflichen Ausweis – einen Signalstab
in der Hand hatte. Der Stab musste jeweils an
den Gegenzug übergeben werden, ein immerhin
ohne Mechanik, Strom, Technik oder Papier
funktionierendes Sicherungsverfahren, das der
Frühzeit des Schienenverkehrs entstammte.
Ohne offensichtlich gute Beziehungen der SSB
zu Dienststellen der Reichsbahn und Ämtern bis
nach Berlin hätte aber der Straßenbahnbetrieb
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
in Stuttgart, ob ein- oder zweigleisig, auch
nicht funktioniert. Denn Durchschläge von
Bahndienstfernschreiben zeigen, dass die SSB
zumindest in Breslau und Regensburg etwa
mal 20 Tonnen kupfernen Fahrleitungsdraht
(„Ri 100 qmm“), mal 300 Holzmasten loseisen
konnte – Gegenstände, die im Herbst 1944
weitaus „wertvoller“ waren als Gold oder Silber.
Die Masten wurden Richtung Stuttgart in Gang
gesetzt, als nach dem Bombardement vom 19.
und 20. Oktober 1944 praktisch alle Strecken
der SSB betriebsunfähig waren, 97 Prozent der
gesamten Netzlänge, nachdem es schon zuvor
zu „empfindlichen Einschränkungen“ des SSBVerkehrs gekommen war. Das war umso fataler,
als die Transportaufgabe der SSB mit zunehmender
Kriegsdauer immer größer wurde: Nicht nur
viele Betriebe, vor allem die Bewohner der Stadt
selbst quartierten sich zunehmend und notdürftig
in den Vororten, den Streusiedlungen und im
direkten Umland ein, um nicht vom Bombentod
ereilt zu werden. Dadurch viervielfachten sich
aber – neben der Fahrgastzahl – auch noch die
Transportweiten. Wie es in der Stadt nach
dem neuerlichen Großangriff aussah, lässt sich
(kaum) vorstellen. Und doch gelang es Leitung
und Mitarbeitern des Stuttgarter Verkehrsbetriebs,
innerhalb eines Tages zehn Prozent wieder in
Betrieb zu nehmen, nach drei Wochen die Hälfte
des Netzes. Zum Weihnachtstag 1944 – ein
denkwürdiges „Fest“ in einer aus Ruinen bestehenden Stadt, in der es schon etliche Hunderte
von Toten gab – hatte man 73 Prozent erreicht.
Dass es überhaupt noch Strom, die Kraftwerke,
die Speiseleitungen und den Kohlenachschub
107
Links | Wagenhalle Ostheim, 1945: Es
brauchte viel Vorstellungskraft, Phantasie,
Fleiß, Beharrlichkeit, Geschick, Beziehungen
und Glück, um aus einer solchen Ansammlung ausgeglühten Stahls wieder einen
funktionierenden Verkehrsbetrieb zu machen
Rechts | Papier ist geduldig: Über den
Umfang der nicht mehr befahrbaren
Strecken­abschnitte konnten zwar beeindruckende Listen angelegt und verteilt
werden. Auch an der Festlegung der
Zuständigen, dem Problem abzuhelfen,
fehlte es nicht. Wirklich weiter führte all
das aber auch nicht ...
gab, erscheint schon fast als Wunder. Stichwort
Strom und Leitungen: Eine besonders „originelle“
Form der Antriebsart für ihre Straßenbahn­
wagen – genauer gesagt die Beiwagen – hatte
sich die SSB da allerdings inzwischen für
den Streckenabschnitt Hackstraße – Wangen
einfallen lassen: „Schlepper“, also Traktoren,
auf schwäbisch ein Bulldog, zogen die gelben
Hänger – so viel zum Stand des städtischen
Beförderungswesens der Kulturnation Deutschland gegen Ende des „Großdeutschen Reiches“.
Das Problem waren sogar meist weniger der
Strom oder Kabel: Es standen oft schlicht die
Häuser nicht mehr, an denen vormals die
Wandhaken für die Fahrleitung angeschraubt
gewesen waren.
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Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Links | Als ob die SSB nicht schon genug
eigene Probleme gehabt hätte, musste sie
über das „Reichsleistungsgesetz“ auch
noch helfen, anderswo welche zu lösen.
Bei der Straßenbahn in Essen, um 1943,
zeigt sich ein dorthin ausgeliehener
Beiwa­gen der SSB neben einem aus Erfurt
requirierten Zug
Rechts | Frühjahr 1946: Reger Betrieb zwischen Ruinen
Billigtarif „dank“ dem Krieg
Auch nach solchen Kollateralereignissen funktionierte die Verwaltung der SSB offensichtlich
noch erstaunlich präzise: Täglich musste die
Betriebsleitung sowohl dem Polizeipräsident
als auch dem Oberbürgermeister – dem Nazi
Karl Strölin – genau schriftlichen Bericht
erstatten über den Stand des Betriebsumfanges,
der Schäden, der Probleme und Aussichten.
Angesichts solcher Erschwernisse gab es noch
genügend Gelegenheit zu ausführlichen schriftlichen Disputen zwischen den beteiligten Stellen
und Ämtern: Die SSB hatte zu beklagen, dass
die Aufräumtrupps von Stadt, Wehrmacht und
Technischer Nothilfe mal die Straßenfahrbahnen
von den Trümmern freilegten, aber nicht die
mitunter bis zu den Fahrleitungen intakten
Gleisanlagen. Wurden als erstes die Gleise
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frei­geräumt, blockierten Lkw und andere Verkehrsteilnehmer wiederum den Schienenverkehr,
wurde durch die zu hohe Ladung der Laster oft
sogar der Fahrdraht heruntergerissen. Schlimmer
noch, immer wieder schnitten die Räummann­
s­chaften „rücksichtslos“ die zwar tief herunter­
hängenden, aber noch durchgehenden Spannoder sogar Fahrdrähte durch, um nicht behindert
zu werden – was wieder die SSB in „größte
Schwierigkeiten“ brachte.
Einige Schlaglichter aus der Verwaltung der
SSB in der Zeit von November bis Jahresende
1944 sollen weiter erwähnt werden: Da wurde
eine Maschinenfabrik in Stuttgart-Wangen
besichtigt, um dort vielleicht einige Abteilungen
der zerstörten Hauptwerkstatt unterzubringen, doch
die wohl noch intakte Fabrik war ausgenützt
bis unters Dach und schied somit aus. Mit der
Rheinbahn Düsseldorf stand man im Kontakt
wegen des dort eben eingeführten Einheitstarifs,
ähnlich wie man ihn in bei der SSB schon
zuvor verwirklicht hatte. Das war kein Service
zur Steigerung der Kundenzufriedenheit, sondern
eine Notmaßnahme, die man in Stuttgart schon zu
Jahresbeginn 1943 eingeführt hatte, schon wenige
Monate später gefolgt von einer „einfacheren,
verbilligten Preisordnung“ bei den Zeitkarten
mit dem Ziel einer „schnelleren Abfertigung der
Fahrgäste.“ Zudem ging es auch um die Einsparung von Papier (!), einem ebenfalls immer
knapperen Rohstoff in diesem „modernen“
Krieg. Als nicht minder wichtig galt der Vorgang
vom Vorsilvestertag 1944, in dem man die
„bargeldlose Beförderung von Kriegsgefangenen
auf Beförderungsschein“ aufhob. Angeordnet
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Links | Dieser Arbeitswagen 2092 – in der
Straßenbahnwelt Stuttgart gezeigt – wirkt
relativ modern und zeitlos. Doch er entstand 1944 bei der Waggonfabrik Rastatt
(nicht bei der Maschinenfabrik Esslingen)
gemeinsam mit den Kompagnons 2091
und 2093, als Sandtransportwagen. Das
ursprüngliche, 1944 fabrikneue Fahrgestell
der Reichs-Einheitsbauart für solche Einfachfahrzeuge wurde in den 1960er Jahren
durch ein solches eines 1300er Beiwagens
ersetzt. Auch die Aufbauten sind wahrscheinlich modernisiert. Diese Wagen wurden kriegsbedingt mit Bremsklötzen aus
Beton (!) geliefert statt mit solchen aus
Stahlguss
Rechts | Auch ein „Straßenbahn-Zug“ der
SSB: Ende 1944 erfolgt die planmäßige
Beförderung der Kunden im Stuttgarter
Osten mit diesem Gespann
wurde die Abrechnung zum normalen Tarif,
ebenso für den Wachmann, da der Soldatentarif
„nur für Privatfahrten des Soldaten“ gelte.
Ordnung zwischen Trümmern! Bargeldlos zu
regeln war jedoch weiterhin die Fahrt für die
„Facharbeiter-Kompagnie gefangener Franzosen“,
die das zweifelhafte Vergnügen besaßen, zwischen
Gerlingen, Feuerbach und „Danziger Freiheit“ –
so hieß „zeitgemäß“ der Charlottenplatz – in
Sonderwagen befördert zu werden. Einen Platz
der französischen Freiheit gab es nicht!
Dem städtischen Luftschutzleiter gegenüber
beklagte die SSB die Erschwernis, ihre Gleisbaustellen aus Mangel an intakten Petroleumlampen und dem Brennstoff dazu nachts noch
beleuchten zu können, damit niemand in die
Löcher falle. Ähnliches gelte für die Einhaltung
110
der Verdunkelungsvorschriften bei den Straßenbahnwagen, deren Fensterscheiben bekanntlich
bis auf einen schmalen Schlitz bläulich anzumalen
waren: Eine Reihe von Wagen müsse „trotz
Fehlens der Scheiben verwendet werden“, heißt
es da. Es sollten zwar dann nächtens die
Vorhänge zugezogen werden, doch seien auch
jene meist „entweder zerstört oder entwendet“.
Die Fensterverglasung fehlte komplett, weil
Glas das erste ist, was in einem Bombenkrieg in
tausend Splitter geht und sofort zur dauerhaften
Mangelware wird.
am Beginn oder Ende eines Zehn-StundenArbeitstages, zu jeder Zeit unterbrochen durch
die regelmäßige Flucht in den nächsten Luftschutzstollen.
Sie dürfte wenig „romantisch“ gewesen sein,
die Fahrt in einem total überfüllten, ausgeleierten
Straßenbahnwagen mit völlig offenen Fenstern
und wehenden Vorhängen, im kalten Spätherbst
durch die verdunkelte und zerstörte Stadt,
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1947 am Neckartor: Der Zug von Seite 61
poltert mitsamt Fotograf Richtung
Stöckach. Rechts ein Trupp französisches
Militär, den es zu „grüßen“ gilt: Noch
immer bestimmen Soldaten mit das Stadtbild, doch Nationalität und Farben haben
gewechselt
Illusion auf Rädern
Günstig fielen Mitte November 1944 die Verhandlungen mit der „Gauwirtschaftskammer“
aus, mit dem für die SSB erfreulich erscheinenden
Ergebnis, die Firma Robert Schenk, Fahrzeugbau
in Feuerbach, werde 20 „Straßenbahngüterwagen“
für Lebensmitteltransporte – natürlich in Stutt­
gart! – fertigen, dies auf Fahrgestellen zerstörter
Beiwagen der Reihe 800 und alles „im Hinblick
auf die ‚schwierige’ Versorgungslage“. Man stand
also vor dem schlichten Problem, die Versorgungsgüter, die per Eisenbahn nach Stuttgart
kamen, in die Ladengeschäfte zu bringen, und
das ging nicht mehr ohne Straßenbahn, oder
vielmehr ohne den bisherigen Park an Güterwagen
der SSB, die bereits fast alle im Laufe der Vormonate zerstört worden waren. Die Pläne für
die Wagenaufbauten sollte die Maschinenfabrik
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Esslingen fertigen, die ihrerseits mit Reparaturen
von (kriegsbeschädigten) Triebwagen der
SSB ausgelastet sei. Die Anteile von SSB und
Schenk am Arbeitsablauf über die Arbeitskräfte
bis hin zur Frage der Überstellung der Fahrgestelle „per Schlepper“ waren bereits genau
festgelegt, die Freigabe der so wichtigen,
bis auf das einzelne Kilo genau berechneten
„Eisenbezugsrechte“ und „Holzscheine“ (was
galten da läppische Geldscheine?) bereits erteilt.
Überflüssig zu erwähnen, dass das papierene,
sauber maschinenschriftliche Protokoll das
einzig Habhafte dieses Vorganges blieb: Keine
Feuerbacher Fabrik baute bis Kriegsende noch
Wagen, keine SSB erhielt bis dahin noch Fahrzeugzugänge – woher auch, mit was? Die
gesamte Neuerung im SSB-Wagenpark im Jahre
des Herrn 1944 bestand aus drei Güterloren der
Reichseinheitsbauart für Straßenbahnen, gefertigt
von der Waggonfabrik Rastatt, die man für
untergeordnete Zwecke wie Transporte von
Bremssand verwenden konnte. Ein Exemplar
davon ist heute in der Straßenbahnwelt Stuttgart
unter der Nummer 2092 als Gleisbauwagen zu
bewundern.
Gegenstand angeregter Verhandlungen und
Schriftsätze zwischen SSB, Aufsichtsbehörde
und „dem Herrn Polizeipräsidenten“ von Stutt­gart
war schließlich Ende 1944 – die Amerikaner
hatten Aachen eingenommen und die Sowjets
standen vor der Reichsgrenze – die Frage des
„Wegfalls der Fahrtrichtungslampen“ (sprich:
der Blinker) an den Triebwagen der SSB. Grund
war die Unmöglichkeit, noch entsprechende
Birnchen aufzutreiben. Die Behörden stimmten
111
Der Verlauf der grundsätzlich fertiggestellt
gewesenen Umgehungsbahn durch den
Rosensteinpark. Mit Kriegsende brauchte
man derlei „strategischen“ Unfug nicht
mehr, die nie befahrenen Gleise wurden
sofort wieder abgetragen
dem Wegfall der Blinker zu, verbunden mit der
Anweisung an die Fahrer, „noch vorsichtiger als
bisher“ (!) zu fahren. Keine Entscheidung ohne
deutsch gründliche Konsequenz: Betriebsleiter
Seeger ordnete peinlich genau an, dass bis zum
4. Dezember 1944 sowohl die Schalthebel wie
die verbliebenen Lämpchen zu entfernen seien.
Das Jahresende 1944 schließlich beschlossen
detailliert getippte Aufstellungen der im Kalender­
jahr zerstörten Objekte der SSB, also „Fliegerschäden“ (es waren wohl wieder nicht Bomben
die Ursache?), mitsamt Wertangabe – wichtig
für die Meldung an das „Kriegsschädenamt“.
Jenes Amt konnte keinen krummen Nagel
auftreiben, aber die emsige Verwaltungstätigkeit
sicherte auf ihre Art Arbeitsplätze: Wer
Verwendung hinter einem Schreibtisch fand,
musste nicht an die wirkliche Front. Um nicht
112
missverstanden zu werden: Alle Verwaltungstätigkeit seitens der SSB, aller Papier-Krieg
(übrigens nicht selten schon getan von Menschen,
denen die Front bereits einen Körperteil oder
ein Sinnesorgan genommen hatte, für ihr
ganzes restliches Leben), war immer noch ein
reflexhafter Versuch, dem Zerfall, Chaos und
Wahn eine gelinde Ahnung von Ordnung und
Beherrschbarkeit zu geben - im Interesse der
Fahrgäste, und aller Einwohner der schwäbischen
Hauptstadt.
Eisenbahn „frisst“ Straßenbahn
Eine regelrecht bizarre Feststellung findet sich
im Protokoll der Sitzung des Aufsichtsrates der
SSB vom 19. Februar 1945, der inmitten der
Trümmerwüste, die Stuttgart und das SSB-Netz
einmal gewesen waren, ordnungsgemäß tagte.
„Teileinstellung der Straßenbahnlinie 15 infolge
einer neuen Reichsbahnanlage“, heißt es da. Die
Umgehungsbahn Stuttgart-Bad Cannstatt – Feuerbach nämlich „schneidet die Straßenbahnlinie
15 in der Nordbahnhofstraße höhengleich.“
Es würde große Probleme bereiten, wenn eine
Kreuzung der Fahrleitung der Reichsbahn mit
jener der SSB eingerichtet werden müsse, wegen
der unterschiedlichen Spannungen von 15 000
zu 650 Volt. „Im Notfall“, so ist festgehalten,
würden über diese Strecke „sämtliche Züge der
Reichsbahn umgeleitet.“ Die SSB habe „auf
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Links | Am 15. März 1945 dokumentierte
das Stuttgarter Innenministerium per
Amtsstempel den Eingang dieses Schreibens
in Sachen Umgehungsbahn. Viereinhalb
Wochen später erschienen die Franzosen
in der Stadt
Rechts | Plan der Überschneidungsstelle
der Straßenbahngleise der Linie 15 durch
die vorbereitete Umgehungsstrecke der
Reichsbahn in der Nordbahnhofstraße, auf
der Nordseite der Eisenbahnbrücken. Die
den Plan verfassende Reichsbahndirektion
Stuttgart war zu dieser Zeit längst ausgebombt, sie residierte notdürftig von einem
„Befehlszug“ aus, der sich auf abgelegenen
Bahnhöfen auf der Schwäbischen Alb versteckte
Einlegung einer Kreuzung vorläufig [!] verzichtet.“ Doch war ein weiterer Fall geregelt: „Sollte
durch Luftangriffe die Heilbronner Straße für
den Straßenbahnverkehr auf unbestimmte Zeit
ausfallen“, - hier war wohl an einen Treffer auf die Brücke über den Nordbahnhof zu
denken – „wird nachträglich diese Kreuzung
eingebaut, sodass die Straßenbahnwagen über
die Reichsbahngleise hinweggeschleppt werden
können“ – mit Traktoren? Selbstverständlich
gab der Aufsichtsrat zu diesem ‚Zukunftsvorhaben‘ seine Zustimmung, „die einer Stilllegung
der Linie 15 von Nordbahnhof bis zum RobertBosch-Krankenhaus gleichkommt“, wie man
immerhin ausdrücklich festhielt. Jeder Beteiligte hätte lebensmüde sein müssen, um auch
nur den Hauch eines Widerspruches zu zeigen.
Festgehalten war ferner „die Erklärung, dass
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
die Umgehungsbahn mit Kriegsende wieder aufgelassen wird.“
Diese Not-Umgehungsbahn wurde tatsächlich begonnen und bis direkt vor Kriegsende
gleismäßig hergestellt, wie Luftbilder zeigen
sollen und Zeitzeugen ausgesagt haben. Sie
ist auch – deutsch gründlich – als Lageplan
aktenkundig. Sie führte vom Neckarviadukt
um den Rosensteinpark und entlang der Ehmannstraße bis auf Höhe Nordbahnhof, wo sie
gegen den Pragtunnel wieder in die Hauptbahn
einmündete. Trotz der enorm engen Radien und
den großen Steigungen war sie offenbar als
„Vollbahn“ vorgesehen. Ihre letzten Spuren im
Gelände wurden zur Gartenschau 1977 beseitigt. Die verbreiterten Pfeiler und Widerlager
des Neckarviaduktes der Eisenbahnstrecke von
Bad Cannstatt her, auf der in Fahrtrichtung
linken Seite, sind verbliebene Zeugen dieser
„Verzweiflungsbahn“ – denn was hätte zu was
wohin umgeleitet werden sollen, wenn nicht
einmal der Hauptbahnhof der Landeshauptstadt
mehr intakt war? Vermutungen gehen dahin,
Materialtransporte zwischen der Industrie zu
sichern, etwa zwischen Daimler Untertürkheim
und Sindelfingen. Das immerhin hätte durch
diese Bahn noch funktioniert, nachdem die
Güterum­gehungsbahn nach Kornwestheim durch
Bombardement des Münster-Viaduktes zu dieser
Zeit bereits unterbrochen war. -upf
113
Links | Sehen so „Gewinnerinnen“ aus? Für die Frauen
brachte der Ausgang des Ersten Weltkriegs letztlich eine
habhafte gesellschaftliche Aufwertung, auch wenn dies
noch seine Zeit brauchte
Rechts | Der 6. September 1943 hätte über Stuttgart ein
freundlicher Frühherbsttag werden können. Nach diesem
Bombenabwurf über der Schlossstraße hat der Krieg
spätestens nun auch den Stuttgarter Westen, auch diesen
Straßenbahnzug und seine Besatzung erreicht: Fahren an
der „Heimatfront“
114
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Ein schwäbischer Straßenbahner wirft nichts weg: Ein Dutzend Jahre wankte
dieses einstmals knallrote Emailleblech als Zielschild auf dem Dach eines
SSB-Wagens durch die Stadt. Danach durfte man den „Platz der SA“ wieder
„Marienplatz“ nennen. Und für das Schild begann seine wesentlich längere
„Dienstzeit“ als Einfassung eines Gemüsebeetes in einem Schrebergarten, nicht
ohne dass zuvor die peinliche Inschrift abgeschlagen worden wäre. Die
Sonder­ausstellung 2014/15 gab den Anlass, auch diese „Karriere“ aufzuzeigen
Impressum
Herausgeber Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB), 2015
Schockenriedstraße 50, 70565 Stuttgart
Telefon 0711 / 78 85-26 87
Redaktion: H.-J. Knupfer, SSB-Pressestelle (VPR)
Gestaltung: Ylva Brinker-Schulz/Brinker Arts
Bildnachweis:
Sammlung Eckehart Alt (†): S. 7; S. 23 unten; S. 66; S. 67
Sammlung Gottfried Bauer: S. 81
Sammlung Udo Becker: S. 28 links; S. 29 rechts; S. 73 links
Günter Dittus, Slg. Gottfried Bauer: S. 114 rechts
Werkfoto Maschinenfabrik Esslingen, Bestand Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, StuttgartHohenheim: S. 91 (Bestand Y 500, Fotokartei 18, Bild 7999)
Werkfoto Maschinenfabrik Esslingen, Bestand Archiv Verein SHB: S. 92 links
Werkfoto Maschinenfabrik Esslingen, Archiv SSB AG: S. 92 rechts; S. 107
H.-J. Knupfer/SSB AG: Titel links; S. 30 rechts; S. 31 links; S. 70 links; S. 90; S. 110 links; S. 112; S.
115
Peter Letulé: S. 66 rechts; S. 101 unten
Sammlung Thomas Moser: S. 59; S. 79 beide
Joachim von Rohr: S. 53 unten; S. 94 rechts; S. 95; S. 97 beide; S. 100
Willy Rupp: S. 26; S. 29 links
Stadtarchiv Stuttgart, vormals Bestand SSB AG: S. 20; S. 113 links
Archiv Verband Deutscher Verkehrsamateure (VDVA): S. 36 unten; S. 49 unten; S. 106 rechts; S.
109 links
Archiv Verein Stuttgarter Historische Straßenbahnen (SHB): S. 6; S. 9; S. 10; S. 24; S. 27; S. 28
rechts; S. 29; S. 31 rechts; S. 32; S. 47 rechts; S. 55 links; S. 57 beide; S. 60 oben; S. 77 links oben
und links unten; S. 82 beide; S. 87; S. 88; S. 89; S. 94 links; S. 103 beide; S. 105; S. 108 rechts
Archiv SSB AG: Titel rechts; S. 3; S. 5 beide; S. 8; S. 11; S. 12 beide; S. 13 beide; S. 14; S. 15; S.
17; S. 18; S. 19; S. 21 beide; S. 22, S. 25; S. 30 links; S. 33; S. 34 beide; S. 35; S. 37 beide; S. 38
beide; S. 39 beide; S. 40; S. 41; S. 42; S. 43 alle; S. 44 alle; S. 45 beide; S. 46 beide; S. 47 links;
S. 48 beide; S. 49 oben links und rechts; S. 50 beide; S. 51 alle; S. 52 beide; S. 53 oben links und
rechts; S. 54; S. 55 rechts; S. 56 beide; S. 58 beide; S. 60 unten; S. 61; S. 62; S. 63; S. 64 beide;
S. 66; S. 68; S. 69; S. 70 rechts; S. 71 beide; S. 72 beide; S. 73 rechts; S. 74; S. 75 rechts; S. 76
beide; S. 77 rechts oben und rechts unten; S. 78; S. 80 beide; S. 83; S. 84; S. 85; S. 86; S. 93; S.
96; S. 98 beide; S. 99; S. 101; S. 102 beide; S. 104 beide; S. 106 links; S. 108 links; S. 109 rechts;
S. 111; S. 114 links; Rücktitel
Sammlung Gert-René Trück: S. 113 rechts
Erhard Weidelt, Slg. Ralph Hölscher: S. 110 rechts
Stuttgarter Straßenbahnen AG | Themen der Zeit | Fahren an der "Heimatfront"
Verwendete und weiterführende Quellen
Bauer, Gottfried: Die Trümmerbahn half beim Wiederaufbau. In: Über Berg und Tal 1/75
Geschäftsberichte der SSB AG, 1913 – 1919, 1939 - 1946
Loercher, P. [Paul]: Straßenbahnwagen für die Güterbeförderung [in Stuttgart]. In: Elektrische
Kraftbetriebe und Bahnen. Berlin, Heft 1/1918
Frick, K.: Aus der Geschichte der Stuttgarter Straßenbahnen. [Enthält u.a.: Marktwarentransport
ab 1911; Unser Betrieb während des Krieges 1914 – 18]. In: Über Berg und Tal, Jahrgang
1937 (Heft 7)
Seeger [Helmut]: Aus der Arbeit der Güterstelle. In: Über Berg und Tal, Jahrgang 1943 (Heft 2)
I.H.: Frauen als Straßenbahnfahrerinnen – Schon im Ersten Weltkrieg gab es sie bei den
Stuttgarter Straßenbahnen. In: Über Berg und Tal, Jahrgang 1963 (Heft 5)
Generelle Literatur
Bardua, Heinz: Stuttgart im Luftkrieg 1939 – 45. Stuttgart 1985/1997
Müller, Roland: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1988
Zelzer, Maria: Stuttgart unterm Hakenkreuz. Stuttgart 1983
Kotzurek, Annegret; Redies, Rainer: Stuttgart von Tag zu Tag 1900 – 1949. Tübingen 2009
Dauerausstellung zu den Schutzbauwerken des Zweiten Weltkrieges in Stuttgart: Verein
Schutzbauten Stuttgart e.V. www.schutzbauten-stuttgart.de
Straßenbahnwelt Stuttgart, Veielbrunnenweg 3, Bad Cannstatt. Geöffnet Mi, Do, So 10 - 17
Uhr. Sonderausstellung „Fahren an der Heimatfront – Die Straßen­bahn im Krieg“, bis
Sonntag, 28. Juni 2015. Telefon 0711 / 78 85-77 70. www.strassenbahnwelt.com
115
98 | 1999 | 2000 | 2001 | 2002 | 2003 | 2004 | 2005 | 2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 |
Stuttgarter Straßenbahnen AG
Pressestelle
Postfach 80 10 06
70510 Stuttgart
www.ssb-ag.de
m 6043761 [ID 15057 | 05.2015]
Wenn es ein öffentliches Symbol für Bürgerlichkeit und Zivilisation gibt, dann ist es eine Straßenbahn.
Die Eisenbahn ist notwendiges technisches Mittel zum Zweck, um Entfernungen zu überwinden.
Die Straßenbahn ist eine technisch-kulturelle Errungenschaft: Sie zeigt, das Gemeinwesen ist so hoch
entwickelt, dass man es sich auch in der Stadt leisten kann, nicht zu Fuß zu gehen.
Wenn aber Not und Barbarei einmal so weit kommen, dass selbst die Straßenbahn zum Teil einer
Notversorgung wird, dass sie – und die Straßenbahner – schließlich selbst betroffen sind von Angriff
und Zerstörung, dann ist der Krieg in der tiefsten Heimat angekommen: Fahren an der Heimatfront.
Wie dies am Beispiel von Stuttgart in zwei Kriegen aussah, auch davor und danach, das schildert diese
Broschüre.
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