Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten 1945-48
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Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten 1945-48
Växjö universitet Institutionen för humaniora Tyska Handledare: Thomas Marten TYC160 HT 2005 23/01/06 Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten 1945-48 Verbrechen oder Kollektivschuld ? Steffen Harmel INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung 2. Fragestellung 3. Methode, Begriffserklärungen und Quellenkritik 4. Vorgeschichte 4.1 Die deutsche Ostbesiedlung 4.2 Preußen - die Polnischen Teilungen 4.3 Erster Weltkrieg - die Folgen des Versailler Vertrages 4.4 Zweiter Weltkrieg - der Vernichtungsfeldzug im Osten 4.4.1 Der Mustergau Wartheland 4.4.2 Das „SS-Sonderlaboratorium“ Zamosc 4.5 Die Konferenzen der Großen Drei 5. Flucht 5.1 Nemmersdorf – Der Startschuss zur Flucht 5.2 Die Übernahme der Ostprovinzen 5.3 Vertreibungen der Sudetendeutschen 5.4 Gesamtzahl der Vertriebenenopfer 6. Neuanfang 6.1 Politisierung der Vertriebenenfrage 6.2 Die Vertriebenenfrage heute 7. Analyse 2 4 5 5 6 6 7 8 10 10 12 14 16 16 18 21 24 25 25 27 29 Am 23. Januar 1945 packte die 22-jährige Ursula Wendemuth die notwendigsten Sachen und begab sich, wie Tausende Andere auch, auf die vereisten Straßen, um sich und ihre Kinder, zwei Jungen, die drei Monate bzw. fast zwei Jahre alt waren, vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Sie verließ ihre Heimat im Landkreis Stolp im östlichen Hinterpommern aus Angst vor den zu erwartenden Rache -und Vergeltungstaten. Ursula W. berichtet von Flugblättern, die die Rote Armee abgeworfen hatte: Die deutsche Frau ist euer Preis! Dieser Satz, der in den von der Roten Armee eroberten Gebieten eine tragische Bestätigung finden sollte, war Anlass genug, sich den Strapazen einer Flucht im winterlichen Pommern auszusetzen. Ihr Ehemann befand sich an der Ostfront und ihr Vater, der sich als Güterdirektor u.a. für die Versorgung der polnischen Kriegsgefangenen eingesetzt hatte, war Weihnachten 1944 als Volkssturmmann gefallen. Zwei Schwestern von ihr flüchteten einen Monat später; ihre Mutter wurde im März 1945 auf der Flucht von russischen Panzern erschossen. Ursula W. meint, dass sie damals den Krieg als eine große Sünde betrachtet habe und dass der christliche Glaube ihr eine große Stütze gewesen sei. Sie hatte das Abitur gemacht und die Absicht, Medizin oder Chemie zu studieren. Der Krieg stoppte jedoch ihre Zukunftspläne. Aufgrund des allgegenwärtigen Arbeitskräftemangels wurde sie in den Arbeitsdienst beordert, wo sie zusammen mit Kriegsgefangenen bei landwirtschaftlichen Arbeiten aushelfen musste. Auf die Frage, was sie während der Flucht gedacht habe, welche Gedanken ihr durch den Kopf gegangen seien, antwortet sie, dass sie kaum nachgedacht habe. Sie war in Sorge, besonders wegen ihres erst drei Monate alten Jungen und wollte nur weiter. Nur weg vor der allseits gefürchteten russischen Rache. Die Flucht endete in Hamburg. Die erste Zeit in der neuen Heimat gestaltete sich schwierig. Wie das übrige Reichsgebiet war auch Hamburg überfüllt mit Flüchtlingen aus dem Osten. Lebensmittel waren knapp, die Unterkünfte eng und kalt und überall fehlte es am Notwendigsten; Tauschgeschäfte an der Tagesordnung. Dennoch gab es kein Ausruhen. Trotz allen Leidens und aller Verluste: Für Ursula W. und die vielen anderen Flüchtlinge galt es, sich dem Leben zu stellen und die Schwierigkeiten und Probleme zu meistern. Und das hat sie getan. 3 1.Einleitung Würde man heute einen Durchschnittsbürger nach der größten Schiffskatastrophe der Geschichte fragen, bekäme man wohl die Antwort: Der Untergang der Titanic. Eine weitere Frage nach der größten Völkervertreibung, die jemals stattgefunden hat, würde mit einiger Wahrscheinlichkeit mit der Vertreibung der indianischen Urbevölkerung auf dem nordamerikanischen Kontinent durch die weißen Siedler beantwortet werden. Beide Ereignisse sind gut dokumentiert und, was am wichtigsten ist, sie wurden durch die Unterhaltungsindustrie einem großen Publikum zugänglich gemacht. Damit existieren sie und sind im gedanklichen Allgemeingut breiter Bevölkerungsschichten verankert. Jeder, der sich mit der in diesem Aufsatz zu behandelnden Thematik auseinandergesetzt hat, weiß, dass die o.g. Fragen mit dem Untergang der „Wilhelm Gustloff“ und der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten beantwortet werden müssten. Es drängt sich somit die Frage auf, warum diese Ereignisse selbst in breiten Bevölkerungsschichten so wenig bekannt sind, oder allgemeiner: Warum haben bestimmte historische Ereignisse eine so große Resonanz gefunden und andere nicht ? Die Beantwortung dieser Frage soll nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein; vielmehr soll durch den Vergleich von einschlägiger Literatur ein Bild der realen Ereignisse vermittelt werden, das zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellung akzeptabel und ausreichend ist. Dabei muss festgehalten werden, dass das Thema Vertreibung für eine Arbeit dieses Ausmaßes eigentlich zu komplex und umfassend ist. Eine erschöpfende Darstellung aller relevanten Ereignisse, die mit dem Thema in einem kausalen Zusammenhang stehen, kann hier nicht vermittelt werden und vieles muss ungesagt bleiben. Adolf Hitler soll einmal gesagt haben „Wer redet heute noch von den Armeniern“?1 Seine Feststellung hatte glücklicherweise nur eine zeitlich begrenzte Richtigkeit. Dennoch hatte man diesen größtenteils unbekannten Völkermord beinahe vergessen. Erst im Zusammenhang mit den geplanten EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei kam das Thema wieder in die öffentliche Diskussion.2 Der Vorgang zeigt, dass ein demokratisches Land nicht ohne Bewusstsein seiner eigenen historischen Vergangenheit auf Dauer funktionieren kann. Es muss sich allen geschichtlichen Aspekten widmen, den Erlittenen aber auch den selbst Ausgeführten. Im vorliegenden Fall bedeutet es, dass bei der Vertreibungsproblematik immer das 1 Zwischen 1915-18 wurden im Türkischen Reich ca. 2 Millionen Armenier ermordet. Besondere Aufmerksamkeit erlangte dabei der Prozess gegen den türkischen Journalisten Orhan Pamuk, der eine offene Diskussion in der türkischen Gesellschaft hinsichtlich des von den Türken begangenen Völkermordes gefordert hatte. Er wurde deswegen des „Verrats an der türkischen Identität“ angeklagt. 2 4 Verhältnis von Ursache und Wirkung beachtet werden muss, aber auch die Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit der Mittel. 2. Fragestellung Kann man die Vertreibung der Deutschen nach 1945 aus angestammten Siedlungsgebieten im Osten vor allem als Sühne für die Taten der Nationalsozialisten rechtfertigen oder muss sie eher als Verbrechen an unschuldigen Zivilisten gesehen werden? 3. Methode, Begriffserklärungen und Quellenkritik Methode Um der zu behandelnden Thematik Gesicht und Stimme zu geben, wurde eine Rahmenhandlung gewählt, in der eine von Flucht und Vertreibung persönlich betroffene Deutsche ihre eigenen Gedanken zum Thema formuliert. Die Einbindung einer Zeitzeugin verschafft dem Aufsatz ein Mehr an Authentizität. Im Übrigen wurde eine beschreibende und vergleichende Methode gewählt, bei der die Inhalte aber auch die Aussagen verschiedener Autoren aus der deutschen Nachkriegszeit aufgegriffen und verglichen wurden. Im abschließenden Resümee werden die Aussagen und Geschehnisse zusammengefasst und die aufgeworfene Fragestellung beantwortet. Begriffserklärungen3 Im Zusammenhang Bevölkerungsverschiebungen mit diesem beschrieben, Aufsatz die einer werden näheren verschiedene Definition Formen von bedürfen. Alle verschiedenen Bezeichnungen haben jedoch eines gemeinsam: Sie umschreiben den unfreiwilligen Auszug von Menschen aus ihren Heimatgebieten. Flucht: Wird definiert als das Ausweichen von Nichtbeteiligten vor Kampfhandlungen, häufig unter großer Gefahr für Leib und Leben. Die Flüchtenden verbinden damit stets die Aussicht bzw. die Hoffnung, in ihre Heimat zurückzukehren. 5 Vertreibung: Im weitesten Sinne Bezeichnung für Vorgänge, bei denen Personen ihre Wohn -und Heimatgebiete zwangsweise und längerfristig verlassen müssen. Wilde Vertreibung: Oft mit einem hohen Maß an Gewalt bzw. Brutalität verbundene spontane Vertreibung, bei der die Menschen in kürzester Zeit mit einem Bruchteil ihrer Habe verjagt werden. Zwangs-Aussiedlung: Durch völkerrechtliche Abkommen, z.B. dem Potsdamer Abkommen, sanktionierte Aussiedlungen, unter Massgabe der Ordnungsmäßigkeit und Humanität. Deportation: Zwangsweise Umsiedlung ganzer Völker oder Bevölkerungsgruppen (Minderheiten) als Strafe oder aus politischen, rassistischen, militärischen oder wirtschaftlichen Gründen. Quellenkritik Bei den verwendeten Quellen handelt es sich ausschliesslich um Buchpublikationen bekannter deutscher Historiker, die einerseits in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges publiziert wurden sowie andererseits im wiedervereinigten Deutschland erschienen sind. Einige Werke dienten dabei als Grundlage bzw. Ausgangspunkt für Fernsehdokumentationen. Sie können somit als glaubwürdig und verwendungsfähig betrachtet werden. Auf im Bezug zum Thema vorkommende subjektive Meinungsäusserungen von Seiten der Autoren wurde Rücksicht genommen. Aus Gründen der Belegbarkeit und auch Glaubwürdigkeit wurde auf die Verwendung von Internetquellen verzichtet. 4. Vorgeschichte Die Vertreibungen aus den angestammten deutschen Siedlungsgebieten dürfen und können nicht einseitig betrachtet werden. Die Komplexität im Beziehungsgeflecht zwischen Deutschen und Polen hat jahrhundertealte Gründe; ohne einen Blick auf die Geschehnisse früherer Jahrhunderte zu werfen, läuft man Gefahr, die Vertreibungen in ihrer emotionalen Tiefe misszuverstehen. Es ist darum wichtig zu wissen, warum und seit wann Deutsche in diesen Gebieten lebten und welche 3 Franzen, S. 18 6 politischen Ereignisse die Beziehungen zu ihren östlichen Nachbarn beeinflussten. Ausgangspunkt soll hierbei die deutsche Ostbesiedlung sein. Es beginnt mit den Abschnitten über Preußen und die Polnischen Teilungen, setzt sich fort über den Ersten Weltkrieg und die Folgen des Versailler Vertrages schließlich zum Zweiten Weltkrieg und dem Vernichtungsfeldzug im Osten, welcher gleichzeitig als Endpunkt dieses kurzen historischen Exkurses als auch als Ausgangspunkt für die nachfolgende Schilderung fungiert. Vervollständigt wird das Kapitel durch einen kurzen Abriss der Konferenzen der Großen Drei, den USA, England und der Sowjetunion, da auf ihnen die europäische Nachkriegsordnung geregelt wurde und sie insofern von Wichtigkeit für die Thematik waren. 4.1 Die deutsche Ostbesiedlung Das kontinuierliche Wachstum der Bevölkerung führte vom 11. Jahrhundert an zu einer umfangreichen Siedlungsbewegung vor allem in West -und Zentraleuropa. Die technologische Rückständigkeit in der Landwirtschaft war ein Grund dafür, dass der stetig steigenden Bevölkerung kein adäquates Lebensmittelangebot gegenüberstand. Ähnlich wie bei den großen Auswanderungswellen nach Amerika im 19. Jahrhundert waren es unzufriedene und landlose aber tatkräftige und entschlossene Bürger, Handwerker und Bauern, die ihr Glück in den Gebieten östlich der alten Reichsgrenze an Elbe und Saale suchten. Gleichzeitig verbesserten sich die sozialen Verhältnisse im angestammten Reichsgebiet; die Siedlungsbewegung gen Osten fungierte somit als eine Art von Ventil, ein Fluchtweg, der aufkommende innere Spannungen entschärfte. Und die deutschen Siedler waren durchaus willkommen. Die kulturelle und soziale Rückständigkeit der Polen zu dieser Zeit war derart prägnant und offenbar, dass der polnische Adel die Einwanderung mit allen Mitteln unterstützte; sowohl aus wirtschaftlichen Gründen als auch zur Festigung der eigenen Herrschaft. So entstanden Kirchen und Rathäuser in Städten mit deutschem Stadtrecht, die Deutschen brachten Bildung und Kultur, rodeten, modernisierten die Landwirtschaft und führten das Handwerk ein. Dass es bei dieser Form der Kolonisation keineswegs immer rücksichtsvoll und tolerant zuging ist offenkundig. Ein beredtes Beispiel dafür ist das Wirken des Deutschen Ordens. Im Jahre 1190 als Spitalbrüderschaft unter dem Namen „Brüder vom Deutschen Haus Sankt Marien in Jerusalem“ in Akkon gegründet, war er neben den Templern und Johannitern der drittgrößte Ritterorden. 1198 wandelte sich der Orden zu einer ritterlichen Schutzgemeinschaft zum Schutz der Pilger. Nach dem endgültigen Verlust des Heiligen Landes konzentrierte sich der Orden im 13. Jahrhundert auf den preußisch-baltischen Raum. Unter dem Vorwand der christlichen Mission unterwarf man nach und 7 nach den gesamten Küstenstreifen bis in das heutige Estland, 1201 wurde Riga, 1255 Königsberg gegründet. Viele deutsche Städte schlossen sich dieser religiös motivierten Ostkolonisation an; es entstand ein Bund, der später den Namen Hanse erhielt. Bedeutende deutsche Handelsstädte wie Lübeck, Hamburg und Rostock, sowie später auch Visby und Riga, betrieben und bestimmten den Handel vornehmlich im Ostseeraum, als die „maritime Ergänzung des Deutschen Ritterordens“.4 Mit der Ostbesiedlung begann somit eine von deutscher Kultur und machtpolitischem Einfluss geprägte Epoche, die erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den damit verbundenen Grenzverschiebungen beendet werden sollte. 4.2 Preußen – die Polnischen Teilungen Inwieweit die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verschiedenen politischen Machtkonstellationen und militärischen Bündnissen unterworfen waren, lässt sich anhand der drei Polnischen Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795 verdeutlichen. Nach dem Ende des siebenjährigen Krieges 1763, in dem Preußen sich gegen eine Koalition aus u.a. England, Russland und Österreich durchgesetzt hatte, geriet Schlesien endgültig und vollständig unter preußische Kontrolle. Der russische Einfluss auf Polen unter der deutschstämmigen Zarin Katharina II., die später als Katharina die Große in die Geschichte eingehen sollte, wuchs in den nachfolgenden Jahren stetig an. Katharina II. installierte in Polen einen ihr folgsamen König, woraufhin sich polnische Verbände bildeten, die in Opposition zum russischen Einfluss standen. Preußen und Österreich betrachteten die russischen Expansionsbestrebungen mit Misstrauen, Russland dagegen fürchtete eine Koalition der Beiden. Der Friede sollte dadurch gesichert werden, indem man sich auf Kosten Polens einigte. Am 5. August 1772 kam es somit zur ersten Polnischen Teilung. Der Teilungsvertrag sah vor, dass die russischen Grenzen erheblich nach Osten verschoben wurden, Österreich bekam Gebiete im Südosten Polens, die unter dem Namen Galizien und Lodomerien zusammengefasst wurden, und Preußen erhielt durch die Inbesitznahme von Westpreußen und Ermland ohne Danzig und Thorn, die seit langem angestrebte Landverbindung zwischen Ostpreußen und Brandenburg/Pommern. Das Königreich Polen hatte somit ca. ein Drittel seines Gebietes und seiner Bevölkerung verloren. Die zweite Polnische Teilung (1793) stand ebenso wie die dritte (1795) unter dem Eindruck der Französichen Revolution und den damit verbundenen Kriegen der arrivierten Grossmächte 4 Freund, S. 215 8 gegen das junge revolutionäre Frankreich. Polen wurde zum Spielball der Mächte. Gab es nach der zweiten Teilung, bei der Preußen Danzig und Thorn sowie die Region Posen bekam, noch einen selbständigen Teil Polens, verschwand das Land nach der dritten Teilung vollkommen von der Landkarte. Der polnische Staat hatte damit nach 800jähriger Existenz aufgehört zu bestehen. 4.3 Erster Weltkrieg – die Folgen des Versailler Vertrages Bei der Bewertung der thematischen Relevanz des ersten Weltkrieges fällt insbesondere ins Gewicht, dass es nicht so sehr die militärischen Kampfhandlungen im Osten waren, die für die deutsche Reichswehr, im Gegensatz zur Westfront, durchaus erfolgreich verliefen, sondern vielmehr die Ereignisse und Beschlüsse nach Kriegsende, die das weitere Verhältnis zwischen Deutschen und Polen beeinflussten. Eingebunden in die Pariser Friedenskonferenz, an der sich in der Zeit vom Januar 1919 bis Januar 1920 bis zu 32 Staaten beteiligten, beinhaltete der am 7. Mai 1919 veröffentlichte Versailler Vertrag tief greifende Einschnitte für Deutschland und Österreich. Da die o.g. Staaten nicht an der Konferrenz teilnehmen durften, empfanden sie die Beschlüsse eher als Diktat als ein Resultat von Verhandlungen. Der Versailler Vertrag wurde von großen Teilen der deutschen Bevölkerung als „Schandfrieden“ angesehen, so dass in Folge dessen Forderungen nach Änderungen oder Aufhebung des Vertrages laut wurden. Ungewollt trug der Vertrag somit zur Stärkung der nationalistischen Bewegung der folgenden Jahre bei, in dessen Folge sich die Nationalsozialisten mit ihrer revisionistischen Haltung am deutlichsten profilieren konnten. Im Hinblick auf die ostdeutschen Gebiete ergaben sich umfassende territoriale Veränderungen. Die Regionen Westpreußen und Posen gingen an das neuentstandene Polen, das Memelgebiet wurde dem ebenfalls neugegründeten Staat Litauen zugesprochen; Danzig bildete man in eine Freie Stadt unter Kontrolle des Völkerbundes um. Im südlichen Ostpreußen und in Oberschlesien, die durch den Versailler Vertrag an Polen fallen sollten, regte sich Protest in der mehrheitlich deutschen Bevölkerung, so dass es 1920/21 zu Volksabstimmungen über die zukünftige Staatszugehörigkeit kam. Im Falle des südlichen Ostpreußens wurde die gesamte Region nach einem deutlichen Wahlausgang zugunsten Deutschlands wieder an Ostpreußen angegliedert. Oberschlesien wurde in Folge des Abstimmungsergebnisses 1922 vom Völkerbund geteilt. Der westliche Teil von Oberschlesien blieb bei Deutschland, der östliche ging an Polen. Durch die territoriale Abtretung verlor Deutschland etwa zehn Prozent seiner Gesamtbevölkerung, d.h. ca. sechs Millionen Menschen. Ein Grossteil der Eisenerz- und Steinkohleproduktion ging verloren, insbesondere die oberschlesische Industrieregion, die sich nach 9 dem Ruhrgebiet zur zweitgrößten Industrieregion Deutschlands entwickelt hatte, und auf dem agrarischen Sektor musste man auf ein gutes Sechstel seiner Kartoffel - und Getreideanbauflächen verzichten. Die Kombination aus menschlichen, materiellen und territorialen Verlusten, verbunden mit den übrigen, in den Augen des deutschen Volkes, unwürdigen Bedingungen des Versailler Vertrages, legte den Grundstein für die revisionistisch-nationalistische Bewegung der Weimarer Republik und zum Aufkommen und Erstarken der Nationalsozialisten. 4.4 Zweiter Weltkrieg – der Vernichtungsfeldzug im Osten Der von Hitler in den 30er Jahren militärisch und politisch vorbereitete Krieg sollte dem deutschen Volk „Lebensraum im Osten“ bringen. Begründet mit der „Weltverschwörung des Judentums und der Bolschewiken“ sollte der Krieg die Überlegenheit der „germanischen Rasse“ gegenüber den „minderwertigen“ slawischen Völkern Osteuropas offenbaren. Deren künftige Aufgabe sollte es sein, als billige und rechtlose Arbeitskräfte im Dienste des „Endsiegs“ zu stehen. Diese „rassenideologischen Grundsätze“ kamen in dem 1942 initiierten „Generalplan Ost“ zur Anwendung. Dessen Zielstellung war eine wesentliche Veränderung der Bevölkerungsstruktur Polens. Kurzgefasst bedeutete er die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, die gewaltsame Deportation der Polen und die dauerhafte Ansiedlung von Volksdeutschen. Die Vorhaben nach dem „Endsieg“ gingen von einer Deportation von bis zu 31 Millionen Menschen5 nach Sibirien aus, wo diese Zwangsarbeit leisten oder verhungern sollten. Eine noch weitergehende Ansiedlung von deutschen Siedlern sollte das „Großgermanische Reich deutscher Nation“ begründen, mit Grenzen weit in den Osten Europas hinein. Wie die Verantwortlichen die Vorgaben des Generalplans Ost umzusetzen versuchten, lässt sich anhand von zwei Gebieten exemplifizieren; dem Wartheland und dem „SS- Sonderlaboratorium“ Zamosc. 4.4.1 Der Mustergau Wartheland Unmittelbar nach dem für Deutschland erfolgreichen Blitzkrieg gegen Polen wurden die westlichen und nordwestlichen Gebiete Polens dem deutschen Reich angeschlossen sowie die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland gegründet. Basierend auf der nationalistischen 5 Franzen, S. 71 10 Ideologie von der Überlegenheit der germanischen Herrenrasse sollte insbesondere das Reichsgau Wartheland zu einem Mustergau werden. Zu diesem Zweck wurde das Gebiet einer umfassenden „Umstrukturierung“ unterworfen. Deutsch wurde die einzige erlaubte Sprache; der Gebrauch des Polnischen war unter Strafandrohung verboten. Den Polen wurde der Besuch von Gaststätten, Kinos oder Theatern untersagt; sie mussten deutsche Uniformträger grüßen und ihnen auf dem Bürgersteig Platz machen. Ihre vollkommene Rechtlosigkeit wurde jedoch durch das „Sonderstrafrecht für Polen“6 zementiert. Durch dieses Recht waren sie der deutschen Willkür bedingungslos ausgesetzt. Privates Vermögen konnte jederzeit ohne Angabe von Gründen beschlagnahmt werden, auf „deutschfeindliche Äußerungen“ stand die Todesstrafe und Todesurteile wurden zur Abschreckung häufig in der Öffentlichkeit vollstreckt. Es galt die Maxime Hitlers, das Wartheland innerhalb von zehn Jahren „einzudeutschen“, im internen Sprachgebrauch der SS war von „rassischer Flurbereinigung“ die Rede. 7 Welchen Stellenwert den Polen zugewiesen wurde, zeigt auch die strikte Trennung von Deutschen und Polen in der Schulpolitik. So beinhaltete der Lehrplan für die polnischen Kinder u.a. folgende Punkte: 1. Ziel der Beschulung der Polenkinder ist in erster Linie die Erziehung zur Sauberkeit, zum anständigen Benehmen und zum Gehorsam gegenüber den Deutschen. 2. Die Unterrichtssprache ist Deutsch. 3. Die Schule vermittelt den Kindern ein genau umrissenes Wissen, das auf spätere Arbeitsnutzung bestimmt ist. Darüber hinaus durften nur deutsche Lehrer unterrichten und der Unterricht sollte nicht mehr als zwei Stunden am Tag dauern.8 Der von Himmler eingesetzte und nach dem Krieg zum Tode verurteilte „Reichsstatthalter“ Greiser beeinflusste persönlich die Arbeit der Schulbehörden. Die Schulen wurde angehalten „ Deutsch nur so weit zu lehren, als es notwendig ist, dass der polnische Arbeiternachwuchs ... sich in deutscher Sprache verständlich machen kann, d.h. die deutsche Sprache wird vokabelmäßig gelernt, darf aber grammatikalisch nicht richtig gesprochen werden.“9 Auch gegen die Arbeit der Katholischen Kirche ging „ Reichsstatthalter“ Greiser rigoros vor. Gottesdienste wurden überwacht, Kirchen und Gemeindehäuser geschlossen. Den sich daraufhin steigernden Unmut innerhalb der polnischen Geistlichkeit, in einer Protestnote Papst Pius 6 Urban, S. 59 Ebd., S. 54 8 Ebd., S. 54 7 11 XII. im Juni 1940 gipfelnd, beantworteten die Nazis mit roher Gewalt. Sie führten eine „ Aktion zur Zerschlagung der polnischen Kirche“ durch, in deren Folge 39 polnische Priester ermordet und 1523 verhaftet wurden, 1141 kamen in Konzentrationslager, 682 überlebten die Haft nicht.10 Ein wesentlicher Aspekt bei der „ Eindeutschung“ war die Massenvertreibung der Polen und die Ansiedlung von Volksdeutschen. Bei Ersteren gingen die deutschen Besatzer mit äußerster Brutalität vor. Dörfer und Ortschaften wurden umstellt, den Bewohnern 30 Minuten Zeit zum Packen gegeben, mitnehmen durften sie oft nur 30 Kilogramm Gepäck. Ihr gesamtes Eigentum wurde zu „ Polenvermögen“ erklärt und beschlagnahmt. Wer Widerstand leistete oder flüchten wollte wurde erschossen oder erschlagen. Die Vertriebenen wurden auf Züge verladen und ins Generalgouvernement11 gebracht. Bei einem Versuch der Rückkehr konnten sie auf der Stelle erschossen werden. Laut Berechnungen von polnischen Historikern wurden auf diese Weise ca. 63000012 nichtjüdische Polen aus dem Wartheland vertrieben, die zuerst in Ghettos zusammengepfercht und später in Arbeits -und Vernichtungslager abtransportiert wurden. Parallel zu den Vertreibungen wurden Volksdeutsche in die „ freigewordenen“ Höfe einquartiert. Mit der rassenideologischen Begründung von der „ Hereinholung deutschen Blutes“ vollzog sich ein grundlegender Umbau in der Bevölkerungsstruktur des Warthelandes. Durch die Ansiedlung von Baltendeutschen aus Lettland, Wolhyniendeutschen aus der südlichen Ukraine sowie Bukowina- und Bessarabiendeutschen änderte sich die Bevölkerungszusammensetzung beträchtlich. Der Anteil Volksdeutscher an der Gesamtbevölkerung stieg von ca. 7% (1939) auf ca. 20%(1944).13 4.4.2 Das „SS-Sonderlaboratorium“ Zamosc Das „SS-Sonderlaboratorium“ Zamosc ist ein Beispiel dafür, wie die theoretischen Gedankenspiele des vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler konzipierten Generalplans Ost in die Praxis umgesetzt werden sollten. Der Kreis Zamosc, im Distrikt Lublin im östlichen Generalgouvernement gelegen, sollte einer „intensiven Germanisierung“ unterzogen werden. Es 9 Ebd., S. 55 Ebd., S. 61 11 Das von der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs okkupierte polnische Territorium mit zwölf Millionen Einwohnern. Es war ein bevorzugter Schauplatz nationalistischer Bevölkerungsexperimente. Alle zentralen Vernichtungslager befanden sich im „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“ (offizielle Bezeichnung). 12 Urban, S. 64 13 Ebd., S. 68 10 12 galt, das Gebiet zu „entjuden“ und die ansässige polnische Bevölkerung zu vertreiben. Zum Zwecke der „Entjudung“ entstanden die Vernichtungslager Majdanek, Treblinka, Sobibor und Belzec, in dem erstmals stationäre Gaskammern getestet wurden. Belzec existierte nur zehn Monate, von Februar bis November 1942; in dieser Zeit wurden schätzungsweise 500000 bis 60000014 Menschen ermordet, vor allem Juden und Sinti und Roma. Insgesamt wurden in der Zeit von März 1942 bis Oktober 1943 mehr als 1,6 Millionen Juden15 in den o.g. Vernichtungslagern ermordet. Die „Entjudung“ im Distrikt Lublin war bis Ende 1942 fast abgeschlossen als man beschloss, die zweite Phase des Generalplans Ost zu starten: die Kolonisation; nach den Juden sollten die Polen das nächste Opfer sein. Die polnische Bevölkerung wurde einer „rassischen Musterung“ unterzogen, die Ergebnisse bildeten die Beschlussgrundlage für die weitere „Verwendung“. Es erfolgte eine Einteilung in „Wertungsgruppen“. Polen, die in die Wertungsgruppe I oder II eingeteilt wurden, wurden zusammengefasst und einer „Eindeutschung“ unterzogen. Bei der Zuordnung zu den Wertungsgruppen III bzw. IV spielte ausschließlich der Faktor Arbeitsfähigkeit eine Rolle. Arbeitsfähige Polen ab 14 Jahren wurden in die 3. Gruppe eingeteilt, sie waren für den Arbeitseinsatz im Reich vorgesehen und sollten dort Juden ersetzen, die in die Vernichtungslager gebracht wurden. Die Wertungsgruppe IV schließlich beinhaltete nicht arbeitsfähige Polen von 14 bis 60 Jahren, die direkt in das Konzentrationslager Auschwitz zu bringen waren. Darüber hinaus wurden Kinder von Angehörigen der Wertungsgruppen III und IV und Ältere in sogenannte „Rentendörfer“ verbracht. Dort sollten sie einem „beschleunigten Absterbeprozess“ unterworfen werden.16 Die „rassische Katalogisierung“ machte auch vor Kindern nicht halt. Ihre Körper wurden vermessen; zusammen mit äußeren Erscheinungsmerkmalen wie Haar -und Augenfarbe wurden sie verschiedenen Kategorien zugeordnet. Die Kategorie I stand dabei für „wünschenswerte Bereicherung der deutschen Bevölkerung“, Kategorie II für „annehmbare Bereicherung“ sowie letztendlich Kategorie III für „unerwünscht“.17 Kinder der ersten Kategorie wurden in sogenannte Lebensborn-Heime gebracht, dort sollte die zukünftige Elite der „nordischen Rasse“ herangezogen werden. Das Schicksal der dritten Kategorie bestand darin, Zwangsarbeit zu leisten und nach „vollständiger Gewinnung“ der Arbeitskraft in ein Vernichtungslager transportiert zu werden. Allein im Kreis Zamosc wurden auf diese Weise ca. 30000 Kinder ihren Eltern entrissen, ca. 13000 14 Urban, S. 72 Ebd., S. 72 16 Ebd., S. 74 15 13 kamen um, ca. 4500 wurden zur „Eindeutschung“ ins Reich gebracht. Nur ein Bruchteil sah nach Kriegsende seine Eltern wieder.18 Der letzte Schritt in der „Germanisierung“ des Kreises Zamosc beinhaltete die Ansiedlung von Volksdeutschen aus den versprengten deutschen Siedlungen Osteuropas. Vor allem deutsche Siedler aus Bessarabien und Rumänien zogen in die verlassenen Dörfer und Ortschaften Zamoscs ein. Im Gegensatz zum o.b. Wartheland kam es hierbei jedoch zu vielfältigen Konflikten mit polnischen Untergrundeinheiten. Infolgedessen verbreitete sich Unruhe unter den neuen Siedlern und die Versorgungslage verschlechterte sich. Die deutschen Besatzer gingen mit äußerster Härte gegen die Aktionen der polnischen Partisanenbewegung vor. Es kam zu öffentlichen Exekutionen und Massakern an der Zivilbevölkerung, in deren Folge ganze Dörfer mit ihren Einwohnern vernichtet wurden. Gleichzeitig mit den polnischen Widerstandsbewegungen kam es zu Rückwanderungen jener Polen, die in „Rentendörfer“ deportiert worden waren. Die Lage wurde so chaotisch, dass das „Germanisierungsmodell Zamosc“ im August 1943 eingestellt werden musste. Bis dahin wurden 171 Dörfer „entpolonisiert“, mehr als 100000 Polen waren deportiert oder vertrieben worden. 4.5 Die Konferenzen der Großen Drei Die drei wichtigsten Konferenzen der Alliierten, England, USA und Sowjetunion, bestimmten vor allem die politischen Konstellationen und neuen Grenzziehungen nach Abschluss des Zweiten Weltkrieges. Sie beeinflussten damit wesentlich das Leben und Schicksal von Millionen Menschen. Das erste Treffen fand im November 1943 in Teheran statt. Nach der deutschen Katastrophe in Stalingrad und den gescheiterten Großoffensiven im Sommer 1943 (Schlacht bei Kursk) war die militärische Niederlage Deutschlands absehbar. Den Alliierten, die keinen Zweifel am endgültigen Sieg hatten, erschien es erstmals notwendig, einen Dialog über die Nachkriegsordnung zu führen. Bereits bei diesem ersten Treffen entstand eine Diskussion über die Verschiebung Polens von Ost nach West auf Kosten des deutschen Reiches. Streitpunkte dabei waren die zukünftigen Grenzen Polens. Der britische Ministerpräsident Churchill schlug die sogenannte Curzon-Linie19 vor, Stalin verhielt sich dem gegenüber jedoch ablehnend. Es zeigte sich somit bereits bei diesem ersten 17 Urban, S. 77 Ebd., S. 77 19 Benannt nach dem britischen Außenminister Curzon, der 1920 den Polen diese Grenzziehung zwischen der jungen Sowjetunion und Polen zur Bedingung für englische Hilfe im polnischen Kampf gegen die Bolschewiken machte. 18 14 Treffen, dass der zukünftige Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen sich nur schwer am Verhandlungstisch finden lassen würde. Darüber hinaus wurden von allen Seiten die ersten Entwürfe für eine Aufteilung Deutschlands in verschiedene Besatzungsgebiete offen gelegt sowie die weitere Vorgehensweise im militärischen Kampf erläutert. Die zweite Konferenz in Jalta auf der russischen Halbinsel Krim im Februar 1945 fand bereits unter dem Eindruck der totalen militärischen Niederlage Deutschlands statt. Seit der Konferenz von Teheran hatte sich die gesamte militärische Lage extrem verändert. Die USA und England waren im Juni 1944 in der Normandie gelandet und hatten damit die seit langem von den Sowjets geforderte zweite Front eröffnet. Der ehemalige Verbündete Italien hatte sich seines Diktators Mussolini entledigt und war auf die Seite der Alliierten gewechselt. Die Rote Armee schließlich kontrollierte fast das gesamte Polen in seinen Vorkriegsgrenzen; darüber hinaus war sie im Januar 1945 in die nordöstlichen Gebiete Deutschlands vorgedrungen und rüstete sich zum finalen Sturm auf die deutsche Reichshauptstadt. Die Sowjetunion hatte militärische Fakten geschaffen, die es ihr ermöglichten, aus einer Position der Stärke zu verhandeln. Roosevelt glaubte Stalins Zusicherungen, in den befreiten osteuropäischen Ländern freie Wahlen und ein Mehr-Parteien-System zu garantieren, „im übrigen intressierte ihn Mittel -und Osteuropa nur wenig.“ 20 Stalin lancierte erstmals den „historischen Anspruch Polens auf die Oder-Neisse-Grenze“21, eine endgültige Einigung darüber sollte auf einer späteren, jedoch nie stattgefundenen Friedenskonferenz erreicht werden. Konkreter wurde man in Fragen der zukünftigen Zoneneinteilung und administrativen Gewaltenteilung. Es wurde beabsichtigt, Deutschland in vier Zonen einzuteilen (Frankreich sollte als vierter Alliierter mitbedacht werden), die oberste administrative Gewalt in Deutschland sollte gemeinsam von den vier Mächten ausgeübt werden. Zum letzten Treffen der Großen Drei im Juli 1945 in Potsdam kam Stalin als der absolute militärische Sieger. Die amerikanische Seite wurde von Präsident Harry S. Truman vertreten, der den im April 1945 verstorbenen Präsidenten Roosevelt nachgefolgt war. Churchill verlor die Wahlen zum britischen Unterhaus, die zeitgleich mit der Potsdamer Konferenz stattfanden; er wurde daraufhin durch den neuen britischen Ministerpräsidenten Attlee ersetzt. Im Zentrum der Verhandlungen stand die Frage der deutschen Ostgrenzen. Die westlichen Alliierten vertraten die Ansicht, dass die Grenzen Deutschlands von 1937 gelten müssten, Stalin widersetzte sich dem jedoch erfolgreich. Er setzte sich dahingehend durch, dass die Oder-Neisse-Grenze unter Vorbehalt 20 Urban, S. 107 Ebd., S. 107 21 15 als deutsche Ostgrenze akzeptiert wurde, sämtliche östlich davon gelegenen ehemaligen deutschen Gebiete kamen unter polnische Verwaltung, mit Ausnahme von Teilen Ostpreußens einschließlich Königsberg, das der Sowjetunion zugeschlagen wurde. Im Potsdamer Abkommen initiierten die Siegermächte de facto die Vertreibung von Millionen Deutschen aus Osteuropa: „Die drei Regierungen haben die Frage von allen Seiten erwogen und sind zu der Ansicht gelangt, dass eine Überführung der deutschen Bevölkerung oder deutscher Bevölkerungselemente, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn geblieben sind, nach Deutschland vorgenommen werden muss. Sie sind sich darüber einig, dass die Überführung auf eine geregelte und menschliche Weise erfolgen soll ...“22 Der Beschluss legitimierte die Aussiedlung von Millionen Deutschen, eine tausendjährige Epoche deutscher Kultur ging auf grausame Weise ihrem Ende entgegen. 5. Flucht 5.1 Nemmersdorf – Der Startschuss zur Flucht Bei der der Beschreibung der Ereignisse in der damaligen Provinz Ostpreußen gibt es einen bis heute existierenden Fixpunkt, der für die nachfolgenden Geschehnisse von großer Bedeutung war: die Gräueltaten der Roten Armee in Nemmersdorf. Den dortigen Ereignissen fallen gleich mehrere Bedeutungen zu. Zum Einen sind es die ersten dokumentierten Verbrechen der Roten Armee auf deutschem Boden und zum Anderen bildeten die von der nationalsozialistischen Propaganda aufgebauschten Ereignisse den Startschuss für die Massenflucht aus den ostdeutschen Gebieten. Die von der Roten Armee in Nemmersdorf verübten Verbrechen sind hinsichtlich ihres Ausmaßes bis zum heutigen Tag umstritten. Unstrittig ist, dass wehrlose Zivilisten, die meisten Ältere, Frauen und Kinder, kaltblütig ermordet wurden. Dagegen existieren unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Anzahl der Opfer, der Art und Weise wie sie ermordet bzw. geschändet wurden und wie viel der nationalsozialistischen Propaganda zuzuschreiben war. Was also geschah wirklich ? Nemmersdorf war mit ca. 650 Einwohnern eines von sechs Dörfern im Landkreis Gumbinnen, welcher im Südosten Ostpreußens lag. Am 19. Oktober 1944 wurde Gumbinnen zusammen mit dem Nachbarkreis Goldap von der Roten Armee erobert. Zwei Tage später rückten 22 Freund, S. 1536 16 russische Truppen in Nemmersdorf ein; für das, was dann geschah gibt es keine Augenzeugen. Die meisten Dorfbewohner waren einen Tag vorher geflohen, nur wenige hatten sich entschlossen zu bleiben. Die Deutsche Wehrmacht eroberte den Ort kurz darauf zurück, über den genauen Zeitpunkt existieren unterschiedliche Angaben. Knopp gibt an, dass dies bereits am nächsten Tag, also dem 22. Oktober 1944, geschah23, wohingegen Franzen die deutsche Rückeroberung auf Anfang November legt24. Nawratil legt sie, ohne die Angabe zu präzisieren, auf den 5. November 194425. In einem Bericht des ehemaligen Landrates der Nachbargemeinde Angerapp, Uschraweit, ist von einer Befreiung bereits am 21. Oktober die Rede26, also an dem Tag, den die o.g. Quellen als den Tag der Verbrechen halten. Auch bei der Anzahl der Toten gehen die Angaben weit auseinander. Die in der „Dokumentation der Vertreibung“ aufgeführten Berichte sprechen von 6227 bzw. 7228 Toten, wobei angenommen werden kann, dass es sich dabei um die Gesamtzahl von Toten des Landkreises Gumbinnen handelt29. Bezogen auf die Ortschaft Nemmersdorf ist es wohl wahrscheinlicher von 26 Toten zu sprechen, einer Zahl, die auch vom „Völkischen Beobachter“ und der sich anschließenden NS-Propaganda verwendet wurde30. Unabhängig davon, wann Nemmersdorf zurückerobert wurde, bot sich den Deutschen ein grausames Bild. Überall in den Häusern fanden sie Tote vor, zum Teil grausam hingerichtet. Die russischen Soldaten hatten keinen Unterschied zwischen Jung und Alt gemacht. Kinder waren mit stumpfen Gegenständen erschlagen worden, Ältere wurden teilweise mit Genickschüssen hingerichtet und einer jungen Frau war der Schädel gespalten worden31. Der Volkssturmmann Karl Potrek, der zu Aufräumarbeiten in Nemmersdorf abkommandiert war, gab an, dass er sechs unbekleidete, an Scheunentore genagelte Frauen gesehen habe32, eine bis zum heutigen Tag bezweifelte Aussage, die jedoch u.a. vom Kriegsberichterstatter Hanns-Joachim Paris33 und vom amerikanischen Völkerrechtler und Historiker de Zayas34 bestätigt wurde. Karl Potrek weiter: „Weiter fanden wir dann in den Wohnungen insgesamt 72 Frauen einschließlich Kinder und einen alten Mann von 74 Jahren, die sämtlich tot waren. ... Diese Leichen mussten wir auf den 23 Knopp, S. 41 Franzen, S. 41 25 Nawratil, S. 30 26 Dokumentation der Vertreibung, S. 4 27 Dokumentation der Vertreibung, a.a.O., S. 5 28 Dokumentation der Vertreibung, a.a.O., S. 8 29 Knopp, S. 48 30 Ebd., S. 40 31 Dokumentation der Vertreibung, S. 8 32 Dokumentation der Vertreibung, a.a.O., S. 8 33 Knopp, S. 45 34 Nawratil, S. 32 24 17 Dorffriedhof tragen, wo sie dann liegen blieben, weil eine ausländische Ärzte-Kommission sich zur Besichtigung der Leichen angemeldet hatte. So lagen diese Leichen dann 3 Tage, ohne dass diese Kommission erschien. ... Am 4. Tag wurden dann die Leichen in zwei Gräbern beigesetzt. Erst am nächsten Tag erschien die Ärzte-Kommission, und die Gräber mussten noch einmal geöffnet werden. ... Einstimmig wurde dann festgestellt, dass sämtliche Frauen wie Mädchen von 8-12 Jahren vergewaltigt waren, auch die alte blinde Frau von 84 Jahren.“35 Andere Augenzeugen halten die Vergewaltigungen für zum Teil arrangiert. So berichtet Helmut Hoffmann, der bei der Rückeroberung dabei war,: „So wie sie dalagen, so wie sie fotografiert wurden, so hatte man sie im Nachhinein hingelegt. Man hatte ihnen die Kleider hochgeschoben und die Schlüpfer heruntergezogen.“36 Dass es in den ostdeutschen Gebieten zu Massenvergewaltigungen durch die russischen Truppen kam, ist unbestritten und durch zahlreiche Aussagen und Dokumentationen belegt.37 Im Falle Nemmersdorf liegt es jedoch nahe, dass an den Leichen nachträglich manipuliert wurde, denn die NS-Propaganda betrachtete Nemmersdorf als ein über die Grenzen des Reiches hinausgehendes Propagandamittel.38 Der deutschen Bevölkerung sollte gezeigt werden, „was das deutsche Volk zu erwarten hat, wenn der Bolschewismus tatsächlich vom Reich Besitz ergreift.“39 Der Propagandafeldzug verfehlte jedoch seine Wirkung. Der Widerstandswille der Bevölkerung sollte gestärkt werden, erzeugt wurde blanke Panik. Nemmersdorf hatte sich zu einem Fanal entwickelt. Hunderttausende beschlossen, ihr Leben und ihr transportierbares Hab und Gut vor den heranrückenden Russen zu retten. 5.2 Die Übernahme der Ostgebiete Der Vormarsch der Roten Armee bedeutete für die Bevölkerung der deutschen Ostprovinzen, dass sie den Übergriffen der Rotarmisten schutzlos ausgeliefert war. Der ersten Welle von Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen folgte die Zweite: die von der polnischen Seite betriebenen Vertreibung. Die kommunistisch dominierte provisorische polnische Regierung, die am 26.07.1944 einen Geheimvertrag mit der Sowjetunion über die Oder-Neisse-Grenze als die zukünftige polnische Westgrenze abgeschlossen hatte40, war bestrebt, schnellstmögliche Fakten zu schaffen. Noch vor einer gemeinsamen Entscheidung der Siegermächte sollten vollendete Tatsachen geschaffen werden: Deutsche Vorkriegsgebiete sollten möglichst rasch in den neuen 35 Dokumentation der Vertreibung, S. 8 Knopp, S. 43 37 Nawratil, S. 32 38 Knopp, S. 44 39 Ebd., S. 43 36 18 polnischen Staat eingegliedert werden.41 Der Aufbau der polnischen Verwaltung, und damit einhergehend die sukzessive Ausweisung der Deutschen, begann ab März 1945, nachdem die sowjetische Militärkommandantur Schlesien, Pommern, Danzig und den südlichen Teil Ostpreußens den polnischen Behörden offiziell übergeben hatte.42 Die polnische Führung stellte zur Durchsetzung ihrer Vorhaben Polizeieinheiten zusammen, die nach sowjetischem Vorbild „Miliz“ genannt wurden. Die Milizionäre bekamen freie Hand im Umgang mit den Deutschen43; diese betrachteten die neuen polnischen Polizeieinheiten mehr als Diebes -und Räuberbanden44. Dokumentiert sind mehrere tausend Berichte über Übergriffe auf deutsche Zivilisten, wie Raubmord, Totschlag und Vergewaltigungen.45 In einer Reihe von Dekreten, die z. T. schon vor der Konferenz von Jalta gültig wurden, wurde den Deutschen ihre rechtliche Position zugewiesen. So fiel durch das Dekret vom 02.05.1945 sämtliches deutsches Eigentum in den „wiedererlangten Gebieten“46 in die Hände des polnischen Staates, auch das von Flüchtlingen und Vertriebenen gezwungenermaßen zurückgelassene Hab und Gut. Darüber hinaus wurde angeordnet, dass Deutsche eine weiße Armbinde mit einem großen N für Niemiec-Deutscher zu tragen hätten. Einigen deutschen Zwangsarbeitern wurden große Hakenkreuze auf den Rücken gemalt. Derart gekennzeichnet, wurden sie zahlreichen Berichten zufolge Ziel von spontanen Gewalttaten.47 Während bis zum Frühsommer 1945 die wilden Vertreibungen vorherrschten, so wurden allein in diesem Zeitraum ca. 520000 Deutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, wovon schätzungsweise ca. 185000 ums Leben kamen48, begannen ab dem Sommer 1945 die systematischen Vertreibungen. Diese folgten stets demselben Muster: Ein Trupp Soldaten umstellte in der Nacht ein Haus, die Bewohner wurden geprügelt, ausgeplündert und mussten zu Fuß losziehen. Die tagelangen Fussmärsche zur Oder und Neisse überlebten vor allem Kranke und Alte nicht. An der Oder oder Neisse angelangt, mussten sie eine Erklärung unterschreiben, wonach sie freiwillig gegangen seien, keine Ansprüche an den polnischen Staat hätten und versprachen, niemals zurückzukommen.49 Eine wichtige Funktion beim Vertreibungsprozess spielten die Arbeitslager, in denen 40 Urban, S. 113 Ebd., S. 113 42 Urban, S. 113 43 Franzen, S. 151 44 Urban, S. 114 45 Nawratil, S. 43 ff. 46 Polnische Bezeichnung für die ehemals deutschen Gebiete Pommern, Schlesien und das südliche Ostpreußen 47 Urban, S. 121 48 Ebd., S. 117 49 Ebd., S. 118 41 19 überwiegend Deutsche, aber auch Juden und Autochthone50 interniert wurden. Die polnischen Behörden benutzten häufig dieselben KZs, die vorher von der SS betrieben wurden. Die Gesamtzahl dieser Lager ist unbekannt, die Angaben variieren von einigen Hundert51 bis zu ca. 120052. Insgesamt rechnet man mit ca. 200000 Deutschen in polnischen Lagern, von denen ca. 60000 ums Leben kamen.53 Eines der bekanntesten Arbeitslager war das Lager Lamsdorf (Lambinowice) in Oberschlesien, in dem ca. 8000 Personen interniert waren, wovon ca. 6000 ums Leben kamen.54 Die Insassen, häufig politisch unbelastete Bauern -und Arbeiterfamilien sowie Lehrer, Beamte und Angestellte die meist durch Denunziation verhaftet wurden, waren vielfältigen Repressalien ausgesetzt. Unter Anwendung von Folter und Misshandlung wurden oft Geständnisse erpresst, in denen die Zugehörigkeit zur NSDAP entgegen der Tatsache zugegeben wurde; die so „Geständigen“ wurden ausnahmslos ermordet.55 Der Lagerarzt Hans Esser beschreibt Lamsdorf mit den Worten: „Aushungerung, Seuchen, harte Arbeit, körperliche Misshandlungen, Erstickung der Lebendbegrabenen, Erschießungen. [...] Sie wurden geschlagen und getötet, nur weil sie Deutsche waren.“56 Esser veröffentlichte in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik die Broschüre „Die Hölle von Lamsdorf“, in der er seine Erfahrungen vom Lagerleben schildert. Von den Polen als Altnazi diffamiert, Esser selbst war nie Mitglied der NSDAP, löste die Broschüre doch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Hagen aus. Der Prozess jedoch wurde Hinblick auf die deutsch-polnischen Beziehungen eingestellt.57 Erst nach der politischen Wende von 1989/90 kam es auch in Polen zu Prozessen gegen ehemalige Lagerkommandanten, darunter auch gegen den Kommandanten von Lamsdorf, Czeslaw Geborski. Zu einer Verurteilung kam es jedoch nicht, da die Angeklagten einen schlechten Gesundheitszustand besaßen und die begangenen Taten verjährt waren.58 Nach dem Potsdamer Abkommen nahmen die Ausweisungen einen mehr kontrollierten Charakter an. Trotzdem kam es weiterhin zu Übergriffen auf deutsche Zivilisten, die auch den westlichen Ländern nicht verborgen blieben. Winston Churchill kommentierte 1946 die Geschehnisse folgendermaßen: „Die von den Russen gegängelte polnische Regierung ist ermutigt worden, sehr umfassende und widerrechtliche Übergriffe gegen Deutschland zu unternehmen, und jetzt finden Massenvertreibungen von Deutschen in einem bedrückenden und ungeahnten Ausmaß 50 Alteingesessene mit sowohl deutscher als auch polnischer Identität. Urban, S. 128 52 Nawratil, S. 50 53 Urban, S. 128 54 Nawratil, S. 50 55 Urban, S. 130 56 Hans Esser: Die Hölle von Lamsdorf. Dokumentation über ein polnisches Vernichtungslager. Dülmen 1968, S. 13-14 57 Urban, S. 130 58 Ebd., S. 131 51 20 statt.“59 Andere Quellen sprechen davon, „dass am Zielort [in Deutschland] Wagen mit Leichen statt mit lebenden Menschen ankommen“, dass „Kinder, die unterwegs sterben, aus dem Fenster geworfen werden“ und dass „Strafe im Übermaß [verübt wird], aber nicht an Parteibonzen, sondern an Frauen und Kindern, an Armen und Kranken.“60 Der Vertreibungsprozess der Deutschen war Ende 1949 so gut wie abgeschlossen. Polnische Experten gehen von 3,6 Millionen Deutschen aus (zum Vergleich: Die Gesamtzahl der betroffenen Deutschen liegt bei ca. 16,5 Millionen), die seit Errichtung der polnischen Verwaltung ihre Heimat verlassen mussten. Deutsche Historiker rechnen mit 4,5 Millionen aus den deutschen Ostgebieten sowie weiteren 650000 aus dem früheren Polen und der Freien Reichsstadt Danzig.61 5.3 Vertreibungen der Sudetendeutschen Die wohl umfangreichsten Gewaltverbrechen an deutschen Zivilisten sind mit einiger Wahrscheinlichkeit an den Sudetendeutschen62 begangen worden. Politisch und programmatisch von der tschechischen Exilregierung lange vorbereitet, erreichte die Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung nach Kriegsende eine ungeahnte Qualität.63 Die Sudetendeutschen waren zu keiner Zeit eine homogene, stammesmäßige Einheit. Die deutschen Wurzeln waren bis zum Anfang des 20. Jahrhundert nicht ausschlaggebend, betont wurde vielmehr das böhmische Gemeinschaftsgefühl.64 Zu nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten kam es erst mit dem Entstehen der Tschechoslowakei infolge des Versailler Vertrages (1919).65 Politisch organisierten sich die Sudetendeutschen u.a. in der Sudetendeutschen Partei (SdP)66, die mit Parolen wie „Heim ins Reich“ die innenpolitischen Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen noch verschärften.67 Hitler benutzte die deutschnationale Politik der SdP für seine Zwecke. Sein erklärtes Ziel war es „... die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.“68 Die sich zuspitzende Lage endete 59 Ebd., S. 124-125 Ebd.., S. 124 61 Urban, S. 125 62 Nachkommen von deutschen Siedlern, die ab dem 12. Jahrhundert aus Bayern, Franken, Sachsen und Schlesien auswanderten und die Randgebiete des böhmisch-mährischen Kessels besiedelten. Ab 1902 gemeinsamer Name für alle Deutschen in Böhmen und Mähren. 63 Nawratil, S. 92 64 Franzen, S. 180 65 Ebd., S. 180 66 Aus der „Sudetendeutschen Heimatfront“ hervorgegangen, vom Lehrer Konrad Henlein 1933 gegründet. 67 Knopp, S. 377 68 Franzen, S. 179 60 21 schließlich in der Aufteilung der Tschechoslowakei durch das Münchner Abkommen69, der Bildung des „Protektorates Böhmen und Mähren“70 und dem Entstehen des deutschen Satellitenstaates Slowakei. Während der deutschen Okkupation litten die Tschechen, wie andere besetzte Länder auch, unter der nationalistischen Diktatur. Grausamer Höhepunkt war zweifellos das Massaker von Lidice71, das durch seine weltweite Publizität die Schaffung eines positiven Klimas im Hinblick auf die spätere Aussiedlung der Sudetendeutschen begünstigte.72 In Hitlers Planungen war dem Protektorat eine Sonderstellung zugedacht worden; es sollte „Luftschutzkeller und Waffenschmiede des Reiches“73 sein. Das hatte zur Folge, dass den Tschechen der verheerende Massenterror, wie ihn die Nazis vor allem in Polen praktizierten, erspart blieb.74 Infolge der Freistellung vom Wehrdienst gab es einen Bevölkerungszuwachs und Partisanenkämpfe sowie Bombenangriffe waren praktisch unbekannt.75 Den Startschuss für die wilden Vertreibungen gab der Prager Aufstand 194576, in dessen Folge es zu den ersten Übergriffen auf deutsche Zivilisten kam. In den nächsten Monaten häuften sich die Übergriffe. Eine unrühmliche Rolle spielten dabei die „Revolutionsgarden“, die sich in ihrer Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit besonders hervortaten.77 Diese, selbst von den Tschechen als „Räubergarden“, „Goldgräber“ und „Fünf-Minuten-Partisanen“78 bezeichneten „Partisanen“, waren aus ehemaligen Widerstandkämpfern hervorgegangen. Zu den wenigen Partisanen, die schon während der deutschen Okkupation aktiv waren, gesellten sich jetzt Abenteurer und Glückssucher, die ihre patriotischen Gefühle erst nach der deutschen Kapitulation entdeckt hatten79. So schrieb eine tschechische Zeitung: „Heute ist jedermann >Partisan<. Der eine deshalb, weil er einen Partisanen gesehen hat, der andere deshalb, weil er von ihnen etwas gehört hat, der dritte deshalb, weil er sie angeblich unterstützt hat, der vierte erhielt im Mai eine Flinte in 69 Am 29.9. 1938 von A. Hitler, B. Mussolini, A.N. Chamberlain und É. Daladier abgeschlossen, Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland durch die Tschechoslowakei. Ausweisung von ca. 200000 Tschechen. 70 Am 15.3.1939 auf Druck Hitlers gegründete „Rest-Tschechei“ unter deutscher Verwaltung 71 Aus Rache für das tödliche Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich wurden am 10.6. 1942 alle 172 männlichen Bewohner des Dorfes Lidice erschossen, Frauen und Kinder kamen ins KZ und der Ort wurde dem Erdboden gleichgemacht. 72 Franzen, S. 192 73 Ebd., S. 192 74 Nawratil, S. 87 75 Ebd., S. 87 76 Am 05.05.1945 erhoben sich tschechische Widerstandskämpfer, unterstützt von einer russischen Kriegsgefangenendivision (Wlassow-Truppen), gegen die deutschen Besatzer und verübten grausame Rache auch an deutschen Zivilpersonen. Bis zum Ende des Aufstandes am 09.05.1945 kamen ca. 900 Deutsche ums Leben. 77 Knopp, S. 368 78 Nawratil, S. 85 79 Knopp, S. 369 22 die Hand gedrückt, der fünfte arbeitete den ganzen Krieg über gegen die Deutschen usw.“80 Es waren überwiegend Mitglieder der Revolutionsgarden, die jetzt, auf zum Teil grausame Art, in den einzelnen Regionen die öffentliche Macht ausübten.81 Dokumentiert sind Fälle von Plünderungen, Folter und Massenerschießungen.82 Deutsche Zivilisten konnten wahllos aus der flüchtenden Menge herausgegriffen und erschossen oder bei lebendigem Leib angezündet werden83, an früheren Vertretern des Naziregimes rächte man sich, indem man sie u.a. lebendig einmauerte84 oder ihnen brennende Hölzchen unter die Fingernägel trieb85. Gemeinsam war allen Opfern dass sie Nemec – Deutsche waren, erkennbar an der Stoffbinde mit einem aufgenähtem „N“.86 Alle im Sommer 1945 durchgeführten Progrome und Straftaten, begangen u.a. beim „Todesmarsch von Brünn“87 und beim Massaker in Aussig88, wurden nachträglich unter Straffreiheit gestellt. Durch das Retributionsgesetz89 vom 19.06.1945 wurde die juristische Grundlage für kollektive Maßnahmen gegen alle Deutschen geschaffen. Vermögensrechtliche Weichenstellungen legten die „Beneš-Dekrete“90 fest, mit denen alle Deutschen in der Tschechoslowakei entschädigungslos enteignet wurden. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass ca. 2,8 Millionen91 Sudetendeutsche ihre Heimat verlassen mussten. Umstritten ist die Zahl der Opfer, die im Verlaufe der Vertreibungen und Exzesse ihr Leben lassen mussten. Nachweislich ums Leben gekommen sind 1945292, darüber hinaus rechnet man mit ca. 100000 Menschen, die infolge der Vertreibung an Krankheiten und Unterernährung in der damaligen US-Zone gestorben sind.93 In der „Heimortskartei“ der Caritas sind die Namen von 225133 Sudetendeutschen registriert, deren Schicksal auch nach über 50 Jahren noch ungeklärt ist.94 Andere Quellen geben die deutschen Vertreibungsverluste in der Tschechoslowakei mit ca. 272000 an.95 Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass in den ehemaligen Sudetendeutschen Gebieten ca. 1000 Ortschaften verfallen oder gänzlich vom Erdboden 80 Ebd., S. 395 Ebd., S. 369 82 Ebd., S. 393 83 Ebd., S. 393 84 Knopp, S. 390 85 Ebd., S. 393 86 Gemäss einer Anordnung des tschechischen ”Nationalen Sicherheitsrates” mussten alle Personen mit deutscher Nationalität eine weisse Binde mit einem aufgenähten ”N” auf der linken Brustseite tragen. 87 Nawratil, S. 58 88 Franzen, S. 201 89 Knopp, S. 398 90 Ebd., S. 399 91 Ebd., S. 409 92 Ebd., S. 411 93 Ebd., S. 411 94 Ebd., S. 411 95 Nawratil, S. 73 81 23 verschwunden sind.96 5.4 Gesamtzahl der Vertriebenenopfer Die Gesamtzahl der von Flucht und Vertreibung betroffenen Deutschen wird sich niemals exakt feststellen lassen. Die Verluste durch Vertreibung sind niemals registriert worden, so dass sich deren Höhe nur nachträglich schätzen lässt. Erschwerend kommt hinzu, dass es während des Krieges zu massiven Bevölkerungsverschiebungen kam. So wurden allein aus Berlin infolge der Alliierten Bombenangriffe ca. 1,5 Millionen Menschen evakuiert.97 Indirekt errechnen lässt sich die Zahl der Vertriebenen und ums Leben gekommenen durch die Differenz zwischen der Bevölkerungsanzahl derjenigen Deutschen, die vor 1945 in den östlichen Gebieten lebten, und die Zahl derer, die später in der BRD und der DDR registriert wurden. Die „Dokumentation der Vertreibung“ errechnete allein für die Reichsgebiete jenseits von Oder und Neisse eine Anzahl von 10087000 Deutschen, wovon 7085000 als Vertriebene die alliierten Besatzungszonen erreichten. Abzüglich der in der ehemaligen Heimat verbliebenen ergibt sich eine Differenz von 2167000 Personen, die als Verluste durch Kriegseinwirkung und Vertreibung in diesen Gebieten betrachtet werden können.98 Bezieht man Danzig, Memel, das Sudetenland und die versprengten deutschsprachigen Regionen Osteuropas mit ein, so ergibt sich eine Anzahl von 16,5 Millionen einheimischen Deutschen vor 1945.99 Diese vom Statistischen Bundesamt ermittelte Zahl deckt sich mit der des kirchlichen Suchdienstes in München, welcher 18367957 Personen aus den Vertreibungsgebieten namentlich erfasst hat (Stand 31.12.1980).100 Hinzuzurechnen sind die ca. 1,5 Millionen Russlanddeutschen (Mindestschätzung), die zum überwiegenden Teil während des Krieges in den asiatischen Teil der Sowjetunion deportiert wurden; ihre Verlustrate wird mit ca. 350000 angegeben.101 Bei der Berechnung der Opfer wurden gefallene Soldaten, Opfer der Bombardierungen und Hinzugezogene102 ausgeschlossen. Danach ergibt sich eine Zahl von ca. 2,2 Millionen. Die prozentualen Verluste an der deutschen Bevölkerung der einzelnen Regionen reichen von ca. 8% (Sudetenland) bis zu ca. 35% (Ostbrandenburg).103 96 Ebd., S. 88 Nawratil., S. 72 98 Dokumentation der Vertreibung, S.158 99 Nawratil, S. 71 100 Ebd., S. 74 101 Ebd., S. 74 102 Zum Beispiel hinzugezogene Arbeitskräfte oder evakuierte Zivilpersonen aus Grossstädten, die häufig bombardiert wurden. 103 Nawratil, S. 73-74 97 24 Es kann somit zusammenfassend festgestellt werden, dass ca. 18 Millionen Deutsche von Flucht, Vertreibung und Deportation betroffen waren; ca. 2,5 Millionen kamen dabei ums Leben. 6. Neuanfang 6.1 Die Politisierung der Vertriebenenfrage Die Behandlung der Vertriebenenfrage unterschied sich beträchtlich in den beiden deutschen Staaten. Gemeinsam war, dass Bereiche wie Vertreibung, Heimatverlust, Unrecht und Wiedergutmachung übergeordneten politischen Zielstellungen und Gegebenheiten unterworfen waren: die Vertriebenenfrage wurde politisiert. Beide deutsche Staaten verwendeten dabei verschiedene Methoden. In der Bundesrepublik war die Vertriebenenfrage ein wichtiges innenpolitisches Thema. Für die politische Führung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer galt es, die Vertriebenen gesellschaftlich zu assimilieren damit diese einerseits sich nicht in politisch einflussreichen Organisationen zusammenschlossen sowie andererseits damit sie am wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren konnten. Außenpolitisch vertrat man die Forderung der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, wohl wissend, dass die junge Bundesrepublik über keine rechtlichen Machtmittel verfügte, um diese Forderungen durchzusetzen. Dass die Bundesregierung die bestehenden Grenzen bereits in den 50er Jahren insgeheim akzeptiert hatte, zeigen Ausschnitte aus den „Teegesprächen“ Adenauers, wo er 1957 hinter verschlossenen Türen einräumte, dass die Ostgebiete unwiderruflich verloren seien.104 Durch die öffentlichen Forderungen nach Rückgabe dieser Gebiete gelang es Adenauer jedoch, große Wählergruppen an sich zu binden. Um die Integration der Vertriebenen zu fördern wurde ein Vertriebenenministerium eingerichtet und 1952 das Lastenausgleichsgesetz verabschiedet. Es sah eine finanzielle Entschädigung für nachgewiesene Vermögenswerte vor, die den „Vertreiberstaaten“105 in die Hände gefallen waren. Ferner gab es Beihilfen für Hausbau und Hausrat sowie Steuervorteile und Kredite für Firmengründungen. Neben dem Lastenausgleichsgesetz wurde 1953 das Bundesvertriebenengesetz ins Leben gerufen, wonach der Bund finanzielle Mittel für kulturelle Belange der Vertriebenen zur Verfügung stellte. Auch wurde ein Vertriebenenstatus definiert, der 104 Urban, S. 168 In der Bundesrepublik verwendete Bezeichnung für die Länder, die für die Vertreibung der Deutschen verantwortlich zeichneten, vor allem Polen und die Tschechoslowakei. 105 25 alle Deutschen umfasste, die vor der Roten Armee geflüchtet waren und der auch Flüchtlinge aus der DDR berücksichtigte. Der sogenannte Lastenausgleich wurde 1992 abgewickelt, bis dahin waren 123 Milliarden Mark an Geschädigte geflossen.106 Die o.g. Gesetze sind im Zusammenhang mit der Bildung von verschiedenen Flüchtlingsorganisationen zu sehen. Den größten politischen Einfluss erlangte dabei in den 50er Jahren der „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), der bei zahlreichen Landtags und Bundestagswahlen erfolgreich war und auch an Regierungen beteiligt war. Darüber hinaus gründeten sich 1950 die „Sudetendeutsche Landsmannschaft“, die vor allem in Bayern Einfluss auf die Landespolitik bekam, sowie 1957 der „Bund der Vertriebenen“ (BdV), der aus einzelnen Vertriebenenverbänden hervorgegangen war. Obwohl die Vertriebenen sich organisierten und einen gewissen politischen Einfluss gewannen, so ist doch festzustellen, dass die auf Integration und Einbindung ausgerichtete Politik der Bundesregierung erfolgreich war. Eine grundlegende Veränderung trat mit der von Bundeskanzler Willy Brandt 1969 erklärten „Neuen Ostpolitik“ ein. Innenpolitisch bedeutete sie den weitgehenden Abschluss der Integrationspolitik, so wurde u.a. das Vertriebenenministerium aufgelöst. Außenpolitisch führte sie zu einem umfassenden Vertragswerk mit der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, der DDR und Polen. Der Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau, anlässlich der Unterzeichnung der deutschpolnischen Verträge, polarisierte die westdeutsche Gesellschaft und wurde von der Opposition und den Vertriebenenverbänden als „unannehmbare Demutsgeste“ angesehen. Die im Vertrag genannte „Unverletzlichkeit der Oder-Neisse-Grenze, die die Westgrenze der Volkrepublik Polen bildet“ 107 wurde von ihnen aufs Schärfste abgelehnt. Die innenpolitische Auseinandersetzung kulminierte in einem konstruktiven Misstrauensvotum, welches jedoch scheiterte. Willy Brandt blieb Bundeskanzler, 1972 bekam er für seine Ostpolitik den Friedensnobelpreis. Die politischen Probleme hinsichtlich des Status der Oder-Neisse-Grenze blieben ungelöst bis zum Zusammenbruch der osteuropäischen Diktaturen 1989/90. Die von Bundeskanzler Helmut Kohl vorangetriebene Frage der deutschen Einheit konnte aus völkerrechtlichen Gründen nur im Einklang mit den vier Siegermächten geklärt werden. In den sogenannten 2+4-Verträgen verpflichtete sich die Bundesrepublik, nach der Vereinigung von BRD und DDR aus dem Grundgesetz die Passage über die Grenzen von 1937 zu streichen und mit Polen einen Grenzvertrag zu schließen. Im November 1990 erkannte das wiedervereinigte Deutschland im Grenzvertrag mit Polen vorbehaltlos die Oder-Neisse-Grenze als die Westgrenze Polens an. 106 Urban, S. 167 Ebd., S. 172 107 26 In der SBZ/DDR versuchte man das Thema der Vertriebenenfrage zu tabuisieren. Die ca. 4,3 Millionen Vertriebenen (1948), die immerhin einen Anteil von 24% an der Gesamtbevölkerung ausmachten108, wurden offiziell als „Umsiedler“ bezeichnet. Im Gegensatz zu Westdeutschland vertrat man die Ansicht, dass diese aufgrund des Verlustes ihrer Heimat und ihres Eigentums nicht zu Ausgleichszahlungen berechtigt wären; man vermied somit finanzielle Forderungen von seiten der Vertriebenen. Frühzeitig erkannte die DDR die Oder-Neisse-Grenze als die Westgrenze Polens an. Im „Görlitzer Vertrag“ verzichtete die DDR auf die Gebiete östlich der beiden Flüsse; die Grenze wurde als „Friedens -und Freundschaftsgrenze“ tituliert. Der Vertrag löste heftige Kontroversen mit der Bundesrepublik aus, die das Übereinkommen ablehnte und in verschiedenen Verlautbarungen für nichtig erklärte.109 Ein erster Ansatz, die Vertriebenen zu integrieren, waren die 1945-50 durchgeführten Bodenreformen, bei denen frühere Grossgrundbesitzer enteignet und das Land an interessierte Neubauern verteilt wurde. In dieser Zeit erhielten ca. 350000 Vertriebene Neuland zur landwirtschaftlichen Nutzung.110 Eine weitaus größere Auswirkung auf die Vertriebenenintegration brachte der in den 50er Jahren durchgeführte Aufbau der Schwerindustrie. Der Bau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) im Odergebiet südlich von Frankfurt/O. beinhaltete ein Miteinander von Bauern, Handwerkern, Umsiedlern und ehemaligen Kriegsgefangenen, bei dem die Frage Einheimischer oder Umsiedler unwesentlich war. Gebaut wurden nicht nur eine gigantische Industrieanlage, sondern auch Schulen, Wohnungen und Straßen und die Vertriebenen sahen in diesem Projekt eine Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs. Für die SED-Führung war die Integration der Vertriebenen Anfang der 50er Jahre offiziell abgeschlossen. Im Gegensatz zur Bundesrepublik vollzog sich die Integration der Vertriebenen in der DDR weniger durch ein pluralistisches politisches System, als durch die Einbindung in wirtschaftliche Aufbauprozesse und den damit verbundenen Kontakten mit der einheimischen Bevölkerung durch Schule, Freizeit und Arbeit; eine gesellschaftliche Diskussion erfolgte jedoch nicht. 6.2 Die Vertriebenenfrage heute In Übereinstimmung mit anderen gesellschaftspolitischen Fragen so unterlag auch die Frage 108 Franzen, S. 267 Urban, S. 165 110 Franzen, S. 271 109 27 der Bewertung der Vertreibungsgeschehnisse den machtpolitischen Zwängen der Nachkriegszeit. Das kommunistische Polen z.B. war bestrebt, die „wiedererlangten Gebiete“ möglichst schnell von all dem zu befreien, was an die deutsche Vergangenheit erinnerte. Alle Orte bekamen polnische Namen, Aufschriften auf Fassaden wurden beseitigt und Straßen -und Firmenschilder ausgetauscht; auch der Gebrauch der deutschen Sprache wurde verboten.111 Der polnische Staat propagierte die „Repatriierung der Deutschen“112 als einen Akt der historischen Gerechtigkeit. Der Begriff „Vertreibung“ wurde als ein antipolnischer Begriff der westdeutschen Propaganda verstanden.113 Auch die kommunistische Tschechoslowakei versuchte in ähnlicher Weise, das Erbe der, in diesem Fall, sudetendeutschen Vergangenheit loszuwerden.114 Der Zusammenbruch der osteuropäischen kommunistischen Diktaturen 1989/90 ebnete den Weg für eine mehr differenzierte Betrachtung der Vertriebenenfrage, auch in den sogenannten Vertreiberstaaten. In Polen erschienen Fernsehberichte und Zeitungsinterviews, in denen deutsche Heimatvertriebene zu Wort kamen, und man publizierte Literatur, in der das deutsche Erbe vieler jetzt polnischer Städte beschrieben wurde.115 Anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes erkannte auch die polnische Regierung eine Mitschuld an der Vertreibung an.116 Im wiedervereinigten Deutschland erschienen, neben anderen Themen aus der NS-Zeit, neue Dokumentationen und Buchpublikationen zum Thema Vertreibung, z.B. Guido Knopps Dokumentation „Die große Flucht“, in der u.a. die größte Schiffskatastrophe der Menschheitsgeschichte, der Untergang der „Wilhelm Gustloff“, geschildert wird, und die dreiteilige Fernsehserie „Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer“, die vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) produziert wurde. Der frühere SPD-Generalsekretär Peter Glotz und die Vorsitzende des BdV, Erika Steinbach, entwickelten 1998 zusammen ein Projekt für ein Zentrum gegen Vertreibungen. Die damalige Rot-Grüne Regierung unterstützte das Projekt, wollte sich jedoch nicht auf den Ort und Träger festlegen. In Polen löste die Idee eines derartigen Zentrums heftige Widersprüche und Entrüstung aus. Aus polnischer Sicht bestehe die Gefahr, dass sich „der Henker nun selbst als Opfer darstellen wolle.“117 Das Thema Vertreibung sorgt somit auch nach sechs Jahrzehnten noch für heftige Emotionen, die nur versachlicht werden können, wenn auf beiden Seiten eine vorurteilsfreie und selbstkritische Diskussion zugelassen wird. 111 Urban, S. 181 Offizielle Bezeichnung für die Rückführung der Deutschen aus den „wiedererlangten Gebieten“ nach Deutschland. 113 Urban, S. 182 114 Zum Beispiel ließ man ca. 1000 Ortschaften verfallen bzw. zerstören, Nawratil, S. 88 115 Urban, S. 191 116 Der frühere polnische Außenminister Bartoszewski erwähnte im Bundestag „dass zu den Tätern auch Polen gehörten“, Ebd., S. 191 112 28 7. Analyse In diesem Aufsatz wurden grundlegende Fakten zum Thema Vertreibung der Deutschen beschrieben. Eingegangen wurde insbesondere, neben den historischen und politischen Geschehnissen, die für ein grundlegendes Verständnis für das Verhältnis zwischen Deutschen und den osteuropäischen Völkern unablässig sind, auf die Ereignisse in den damaligen deutschen Ostgebieten, auf die Ausweisungen der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei sowie auf die unterschiedliche Integration der Vertriebenen in den beiden deutschen Staaten. Der im Aufsatz aufgenommene zeitliche Bogen, von der deutschen Ostbesiedlung im 12. Jahrhundert bis zur Neubewertung der Vertriebenenproblematik nach den Ereignissen 1989/90, verdeutlicht die Tiefgründigkeit und Komplexität in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Es ist gerade diese Komplexität, die eine abschließende Antwort auf die aufgeworfene Fragestellung – war die Vertreibung ein Verbrechen oder ein kollektives Schuldanerkenntnis – so schwierig macht. Betrachtet man einzig die Gesamtzahl der von Flucht und Vertreibung betroffenen (ca. 18 Millionen) und die dabei ums Leben gekommenen ( ca. 2,5 Millionen), so kommt man unzweifelhaft zu der Erkenntnis, dass es sich dabei um ein Verbrechen an unschuldigen Zivilisten gehandelt hat. Sowohl der Umfang, als auch die Art und Weise wie an Kindern, Frauen und Alten Rache für die Taten der Nationalsozialisten genommen wurde, lässt an dieser Feststellung keinen Zweifel aufkommen. Ob es sich dabei, wie von verschiedenen Historikern behauptet, um die größte Zwangsaussiedlung von Menschen handelt, ist nicht nur in diesem Zusammenhang unwesentlich. Eine derartige Rangfolge würde zu einem Wettlauf um Opferzahlen führen und letztendlich eine Aufrechnung von Opfern zur Folge haben. Gerade bei dem auch heute noch so emotionsgeladenen Thema Vertreibung muss jedoch die Kausalität der Ereignisse beachtet werden. Ohne die rassistische Politik der Nationalsozialisten, der Rede vom „Lebensraum im Osten“, der „germanischen Herrenideologie“ und der geradezu industriellen Vernichtung von menschlichem Leben wäre die Gegenreaktion, der aufgestaute Hass und die Rachegefühle gegenüber allem Deutschen wohl nicht so radikal gewesen. Die Ausweisung der Deutschen ist auch somit zu rechtfertigen, als dass man zum damaligen Zeitpunkt eine Wiederholung der Hitlerischen Politik verhindern wollte. Dieser hatte außerhalb des Deutschen Reiches lebende Volksdeutsche für seine aggressive, auf Krieg ausgerichtete Außenpolitik missbraucht. Die Vertreibung verstand man als Maßnahme, dieses latente Konfliktpotential, das Miteinander von verschiedenen Völkern in einem Nationalstaat, endgültig zu beseitigen. Dass dabei 117 Urban, S. 193 29 die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt wurden, dass es zu durch nichts zu rechtfertigende Übergriffe auf unschuldige Personen kam, ist offenkundig. Der polnische Protest gegen ein vom Deutschen Bundestag beschlossenes Zentrum gegen Vertreibungen kann nur so gedeutet werden, als dass die polnische Regierung der Meinung ist, sich in einer ausschließlichen Opferrolle zu befinden. Das Land, das neben der Sowjetunion am meisten unter dem nationalistischen Terror zu leiden hatte, sieht in dem o.g. Zentrum eine Verdrehung der Geschichte; aus Tätern würden Opfer werden. Wie bei vielen geschichtlichen Ereignissen spielen auch beim Thema Vertreibung viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle, die eine definitive Beantwortung der Fragestellung erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Die Frage nach der Bewertung der Vertriebenenfrage, also Verbrechen an Unschuldigen oder Kollektivschuld für begangenes Unrecht, ist somit auch eine Frage nach der nationalen Identität und nach dem persönlich erfahrenen Leid. Ein Pole, der von den Deutschen als ein Mensch zweiter Klasse behandelt wurde, der menschlich erniedrigt und deportiert wurde, sah in der Vertreibung sicherlich eine gerechte Ausweisung des Tätervolkes. Ein Deutscher, dessen Familie seit Jahrhunderten in Schlesien oder Pommern ansässig war und der nie politisch aktiv war, empfand den Verlust der Heimat und den Tod von Familienmitgliedern als ein Verbrechen an unschuldigen Zivilisten. Beide vereint, dass die Ereignisse einen tief greifenden Einschnitt in das weitere Leben darstellten. Es muss somit abschließend konstatiert werden, dass es eine definitive Antwort nicht geben kann. So vielschichtig die Ereignisse jedes einzelnen Betroffenen sind, so unterschiedlich ist das Urteil. Es ist abhängig von der Identität des Fragenden, eine ausschließliche Wahrheit gibt es nicht. 30 Viele Jahre sind vergangen seitdem Ursula Wendemuth auf den kalten und vereisten Straßen Hinterpommerns nach Westen flüchtete. Der kalte Krieg folgte dem Zweiten Weltkrieg, Völker wurden vertrieben und geteilt, Mauern erbaut und wieder eingerissen. Aus ehemaligen Feinden sind, wenn nicht Freunde, so doch Verbündete geworden. Wie bewertet Ursula W. heute, nach über 60 Jahren, die damaligen Ereignisse? Sie meint, dass es nun mal das Recht des Stärkeren gibt und dass die Besiegten immer die Rache der Sieger zu fürchten haben. Zu allen Zeiten habe immer nur ein Teil des Volkes für den Krieg bezahlen müssen und dieses Mal waren eben die Deutschen dran. Ursula W.s Einstellung lässt keinen Raum für eine etwaige Identitätssuche in der alten Heimat. Für Heimattourismus hat Sie nichts übrig. Was gäbe es schon zu sehen? Die Polen haben dem Land ihren Stempel aufgedrückt und die deutschen dörflichen Strukturen sind verschwunden. Der Heimattourist ist somit auf der Suche nach etwas Imaginärem, seine Suche ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, verloren in der unmöglichen Gleichung von Erinnerung und heutiger Realität. Und die Wurzeln der eigenen Identität? Das Recht auf Heimat? Ursula W. sagt, dass es ein solches Recht nicht gibt. Sie empfinde keinen Verlust, auch wenn die tragischen Schicksale in der eigenen Familie stets präsent sind. Ihrer Meinung nach muss sich jeder seine eigene Heimat aufbauen, Sie habe Ihre hier in Schweden gefunden, wo Land, Leute und Vegetation ähnlich wie in Hinterpommern seien. Was also bleibt übrig von diesen Ereignissen? Sie werden wohl den Weg aller historischen Geschehnisse gehen: Ihrer Zeitzeugen beraubt, welche allen historischen Ereignissen Gesicht und Stimme geben, werden sie zu anonymen geschichtlichen Augenblicken, die nachfolgende Generationen mit steigender Distanz wahrnehmen werden. Alle Betroffenen der Vertreibungsbewegungen, gleich welcher Nation, werden jedoch auf ewig als Mahnmale für die Grausamkeit und letztendliche Sinnlosigkeit von Kriegen dienen. 31 Literaturverzeichnis Franzen, K. Erik, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, Ullstein Taschenbuchverlag, 2002 Freund, Michael, Deutsche Geschichte, C. Bertelsmann Verlag, 1979 Knopp, Guido, Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen,Ullstein Taschenbuchverlag, 2003 Golo Mann, Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Propyläen-Verlag, 1961 Nasarski, Peter E., Wo wir einst zu Hause waren. Gespräche und Begegnungen in einem anderen Land, Westkreuz Verlag, 1990 Nawratil, Heinz, Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit, Universitas Verlag München, 2005 Nordin, Svante, Nittonhundratalet. En biografi, Atlantis Stockholm, 2005 Schneiss, Wolfgang, Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland, Lang, 1996 Urban, Thomas, Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, C. H. Beck München, 2004 Vogt, Martin, Deutsche Geschichte. Von den Anfängen bis zur Wiedervereinigung, Verlag J.B. Metzler, 1994 32