Die Internationale Kontrollkommission Albaniens und die
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Die Internationale Kontrollkommission Albaniens und die
Krisztián Csaplár-Degovics: Die Internationale Kontrollkommission Albaniens und die albanischen Machtzentren (1913–1914): Beitrag zur Geschichte der Staatsbildung Albaniens Die wichtigsten Tendenzen, Interventionsforschungen Debatten entfalteten sich und die Terminologie grundsätzlich aus den der humanitären Erfahrungen und Interpretationen der Ereignisse von Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Ruanda, Somalia, OstTimor und Afghanistan nach 1990.1 Das grundsätzliche Problem der humanitären Interventionsforschungen ist, dass sie theorie- und nicht praxiszentrisch ist, bzw. dass sie sich an die historischen Erfahrungen kaum anlehnt.2 Man muss an die wenigen bezüglichen historischen Forschungen auch Kritik üben.3 Einerseits, da sie in das Forschungsfeld vor allem aus der Sicht der ehemaligen, vom West-Europa geprägten Völkerrechts, Politik und Philosophie angehen; sie vernachlässigen die Darstellung der Länder, wo die Interventionen stattgefunden waren. Andererseits, da sie die Forschungen der ehemaligen Osteuropa-Reiche ignorieren. Die historischen Vergangenheit der humanitären Interventionen sind nicht vollständig und enthüllbar ohne die Kenntnisse der Interventionspolitik der Habsburgermonarchie / Österreich-Ungarns und Russlands gegen das Osmanische Reich. Im 19. Jahrhundert wurde die Betrachtung in der europäischen Rechtspraxis dominant, dass die Grossmächte in die inneren Angelegenheiten anderer souveränen Staaten einmischen dürfen und sollen, wenn die humanitären Rechte aus der Seite der Staatsmacht oder anderer Seite gefährdet waren. Ein französischer Rechtswissenschaftler des Völkerrechts, Antoine Rougier, fasste es anhand der Erfahrungen des 19. Jahrhunderts ab, dass die humanitäre Intervention nicht nur von einem Staat sondern auch von mehreren Staaten in Form einer Zusammenarbeit realisiert sein kann. Unter den Zielsetzungen und Gründen der humanitären Interventionen befanden sich ‚die Verteidigung der Christen‘ gegen die ‚barbarische‘ muslimische Staatsmacht (es bezog sich damals auf das Osmanische Reich), das Verhindern von (Massen)Massakern gegen Christen und die Wiederherstellung des Ordens dort, wo der 1 Diese Studie entstand mit der Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Hans KÖCHLER, Humanitarian Intervention in the Context of Modern Power Politics. Is the Revival of the Doctrine of the „Just War” compatible with the International Rule of Law? [International Progress Organization. Studies in International Relations XXVI.] Vienna 2001, 1–47, 2–7, 3 Davide RODOGNO, Against Massacre. Humanitarian Interventions int he Ottoman Empire, 1815–1914. The Emergence of a European Concept and International Practice. Princeton 2012. 2 1 Staat unfähig war, seine Untertanen gegen Gewalttätigkeiten zu verteidigen. Wenn es nötig war, waren die Grossmächte berechtigt, ihre Zielsetzungen auch mit militärischer Kraft durchzusetzen.4 Die beste Garantie der Verteidigung der Christen gegen die muslimische Staatsmacht in dem ausgehenden 19. Jahrhundert war nichts anderes, als die Gründung von zahlreichen unabhängigen Nationalstaaten, wo die Christen unabhängig von dem Osmanischen Reich leben konnten. Die Einrichtung der autonomen, später unabhängigen Balkanstaaten, ausgenommen Serbien und Montenegro, wurde von Vertretern der Grossmächte (Fachexperten, Juristen, Offizieren und Ökonomen als Ratgeber oder wirkliche Beamten des neuen Staates) aktiv unterstützt. Das heisst, dass eine Form der humanitären Interventionen des 19. Jahrhunderts die von aussen instruierten oder geholfenen Stadtbildung wurde. Warum kann man die albanische Staatsgründung als humanitäre Intervention betrachten? Eine grosse Erfahrung der Balkankriege 1912-1913 war, dass die christlichen Balkannationen, die die Grossmächte durch humanitäre Interventionen gegen die osmanische Staatsmacht früher beschützten, auch fähig sind, Genozidien und Massenmassaker gegen Christen anderer Nationalitäten anzurichten. Im Fall Albanien erkannten die Grossmächte es ebenso, dass man auch die Muslimen gegen Massaker verteidigen soll. Diese letzte Erkenntnis führte teilweise dazu, dass die Grossmächte in Shkodra eine internationale Verwaltung einrichteten (1913-1914) und dass die Monarchie Serbien ein Ultimatum am 18. Oktober 1913 stellte. Da das Osmanische Reich zerfiel und die albanische Gesellschaft nicht fähig war, einen eigenen Staat selbständig zu organisieren, die Einrichtung eines unabhängigen Albaniens wurde die gemeinsame Aufgabe der Grossmächte. (Die nötigen Beschlüsse darüber wurden in der Londoner Botschafterkonferenz am 29. Juli 1913 gefasst.) Mit der gemeinsamen Staatbildung versuchten die Grossmächte verhindern, dass die Balkankriegen zu einen grossen ‚europäischen Krieg‘ führen (1); sie versuchten weitere Massaker gegen die Albaner und andere Flüchtlingen, die nach Albanien geflohen waren, zu vorbeugen (2); sie wollten mit der allgemeinen Anarchie bzw. dem Bürgerkrieg, der in Albanien zwischen den zwei mächtigsten Politikern Süd- und Mittel-Albaniens, Ismail Qemali und Pascha Esat Toptani tobte, aufzuräumen (3). Der Bürgerkrieg hatte nämlich auch konfessionelle Tendenzen, die die Möglichkeit der Restauration des Osmanischen Reiches auch in sich mitbrachte. Das wichtigste Organ der Staatbildungsbestrebungen der 4 Antoine ROUGIER, La théorie de l’intervention d’humanité, Revue Generale De Droit International Publique 17, n.1. Paris 1910. 468–526. 2 Grossmächte wurde die Internationale Kontrollkommission, die ihre Tätigkeit in Albanien ausübte. Die Internationale Kontrollkommission hat bei der Etablierung des albanischen Staates und für dessen Steuerung von außen eine zentrale Rolle gespielt. Aber auch für das Wechselspiel der Großmächte innerhalb des gerade noch existierenden „Konzerts der Mächte“ vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist sie ein bedeutsames Beispiel. In diesem letzten Sinne ist sie bislang in der Historiographie vorrangig beschrieben worden, gleichsam als eine lokale Fallstudie zur Politik der Großmächte, und dies in der internationalen wie auch von der albanischen Forschung beschrieben. Westlicherseits haben jüngst Analysen Löhr und Guy das Thema behandelt, die dabei vor allem anhand deutscher bzw. britischer Aspekte und Archivquellen vorgegangen sind.5 Während Guy die Geschichte der Kommission insgesamt nur auf zwei Seiten vorstellt, widmet Löhr der Frage ein eigenständiges Unterkapitel. Anhand der deutschen Archivquellen hat er in erster Linie die Anfänge der Kommissionstätigkeit, die Konflikte zwischen den Kommissionsmitgliedern und die durch die IKK zu lösenden Probleme in Betracht gezogen. Über die Tätigkeit Italiens in Albanien in den Jahren zwischen 1912 und 1914 entstand anhand unveröffentlichter Archivquellen aus Rom keine Monographie mit einem derart schmalen Querschnitt. Dies ist auch hinsichtlich Frankreich und Russland der Fall. Allerdings wurden zahlreiche Teilfragen der Rolle der Österreichisch– Ungarischen Donaumonarchie anhand der reichen Wiener Archivquellen in verschiedenen Publikationen oder Doktorarbeiten von Schwanda, Krause, Gostentschnigg und Deusch dargelegt.6 Als erster unter den albanischen Historikern hat sich Arben Puto mit der Geschichte der IKK beschäftigt. Er hat unter anderem die Protokolle der Kommission in einer kritischen Ausgabe (und in albanischer Übersetzung) veröffentlicht.7 Im Jahre 1976 hat Puto in der Studime Historike vorgeschlagen, dass sich die albanische Geschichtsschreibung mit der 5 Hanns Christian LÖHR, Die Gründung Albaniens. Wilhelm zu Wied und die Balkan-Diplomatie der Großmächte 1912–1914. Frankfurt am Main 2010, 151–157; Nicola GUY, The Birth of Albania. Ethnic Nationalism, the Great Powers of World War I and the Emergence of Albanian Independence. London, New York 2012, 66–68. 6 Herbert P. SCHWANDA, Das Protektorat Österreich-Ungarns über die Katholiken Albaniens. Phil. Diss., Wien 1965; Albert Gottfried KRAUSE, Das Problem der albanischen Unabhängigkeit in den Jahren 1908–14. Phil. Diss., Wien 1970; Kurt GOSTENTSCHNIGG, Zwischen Wissenschaft und Politik. Die österreichisch-ungarische Albanologie 1867-1918. Phil. Diss., Graz 1996; Engelbert DEUSCH, Das k.(u.)k. Kultusprotektorat im albanischen Siedlungsgebiet. Wien 2009. 7 Arben PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare të periudhës së imperializmit: përmbledhje dokumentesh me një vështrim historik. Vëll. II. Tiranë 1987, 309–610. 3 Geschichte der Kommission befassen sollte.8 In dieser Studie hat der Autor in erster Linie die Behauptungen aus den Protokollen der IKK denen der Provisorischen Regierung in Vlora gegenübergestellt. In seiner zwei Jahre später veröffentlichten Monographie hat er auch bereits einen Teil der Archivquellen der Großmächte untersucht.9 Er behandelte die Gründe für die Entstehung der Kommission, ihre Geschichte und Tätigkeit in chronologischer Reihenfolge. Der Autor war grundsätzlich zwei Fragen nachgegangen: Einerseits, was die IKK in Albanien von den Großmächten aus gesehen vertreten hatte. Andererseits, welche Verantwortung diese Organisation für die Ereignisse der Jahre 1913–1914 in Albanien zu tragen hat. Die im Jahre 2003 veröffentlichte Monographie von Puto zeichnet bereits ein viel toleranteres Bild der Internationalen Kontrollkommission.10 Im betreffenden Unterkapitel des Buches zählt der Autor einerseits auch jene unlösbaren innenpolitischen Probleme auf, mit denen die IKK zu kämpfen hatte, andererseits erkennt er auch an, dass die Mitglieder der IKK zu einem bedeutenden Teil dazu beigetragen haben, die Fundamente des albanischen Staates zu legen (unter anderem durch die Schaffung des ersten Entwurfes der Landesverfassung). Das Buch von Puto aus dem Jahre 2009 hat dann als Rückkehr zur früheren Sichtweise des Autors, die Tätigkeit der IKK in erster Linie anhand ihrer Beziehung zur Provisorischen Regierung in Vlora (PR) dargestellt.11 Bylykbashis Studien über die IKK werden von der albanischen Geschichtsschreibung ungerechterweise außer Acht gelassen. Der Autor aus dem Kosovo hat jedoch als Erster den Versuch unternommen, die Tätigkeit der Kommission der inneren Funktionsordnung entsprechend, anhand der zu lösenden Aufgaben und der Antworten darauf, zu interpretieren und zu analysieren.12 Die Konflikte zwischen den Kommissionsmitgliedern bewertet Bylykbashi anhand der einzelnen Problemkomplexe (welche Position soll die IKK zu den albanischen Machtzentren einnehmen; Fragen der Staatsordnung und der Aufrechterhaltung der Ordnung; Aufgaben der Ausarbeitung der Verfassung; Finanzielle Bedingungen des Staatsbetriebes) als die Anzeichen der Inkompatibilität bzw. Funktionsunfähigkeit des Großmächte-Bündnissystems. Er hat auch behandelt, wie die Großmächte mithilfe der Tätigkeit der IKK ihren Wirtschaftseinfluss in Albanien sichern wollten. 8 Arben PUTO, Qeveria e Vlorës përballë komisionit Ndërkombëtar të Kontrollit, Studime Historike 30 [=13] (1976), H. 1, 51–90. 9 Arben PUTO, Pavarësia shqiptare dhe diplomacia e fuqve të mëdha (1912–1914). Tiranë 1978, 448–503. 10 Arben PUTO, Historia diplomatike e çështjes shqiptare. Tiranë 2003, 185–205. 11 Arben PUTO, Shqipëria politike 1912–1939. Tiranë 2009, 97–118. 12 Zija BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit (KNK) dhe veprimtaria e tij (1913-14), Gjurmime Albanologjike. Seria e shkencave historike 7 (1977), 281–304 und 8 (1978), 229–255. 4 Zu den kritischsten Historikern der Epoche nach der Wende gehört Romeo Gurakuqi, der sich in seinen Werken über die Geschichte Albaniens zwischen 1912 und 1914 am weitesten von den Traditionen der Nationalhistoriographie und der ethnozentrischen Sichtweise der Geschichte auf dem Balkan entfernen konnte. Zur Analyse der Geschichte der IKK hat er neben der bereits verwendeten Quellenbasis auch einen Großteil der einschlägigen unveröffentlichten Quellen aus London benutzt.13 Hinsichtlich seiner Untersuchungen über die IKK ist auf jeden Fall hervorzuheben, dass er nicht auf eine Schwarz-Weiß-Darstellung der Geschichte abzielt. Er behauptet weder, dass die Tätigkeit der Kommission „schlecht“, noch dass die der Provisorischen Regierung in Vlora „gut“ gewesen sei. Er versucht, die politischen Motivationen, die Gründe für einzelne Taten der Mitglieder der IKK und der PR aufzudecken und ist nicht bestrebt, diese anhand der Gesichtspunkte der Nachwelt zu beurteilen. Eine weitere Tugend von Gurakuqi ist, dass er es auch wagt, an der Tätigkeit der albanischen Politiker aus der Epoche Kritik zu üben. Bezüglich der Tätigkeit der IKK ist zuletzt noch der Name von Aurela Anastasi zu erwähnen: Sie hat das Bestehen der Kommission in verschiedene Perioden unterteilt. Die Geschichtsprofessorin legte fest, dass die erste Periode der Tätigkeit der Kommission, „die Zeit des Kondominiums der IKK und der PR“, von Oktober 1913 bis zum 22. Januar 1914 (der Abdankung von Qemali) dauerte. Darauf folgte zwischen dem 22. Januar 1914 und dem 10. April 1914 (der Fertigstellung des Verfassungsentwurfes) die zweite Periode, die sogenannte „Zeit der Xenokratie“14. Es ist wichtig zu betonen, dass sowohl die internationale, als auch die albanische Geschichtsschreibung die Tätigkeit der IKK anhand vereinfachter Schemen darstellt. Laut Löhr und Krause wurden zum Beispiel die heftigen Auseinandersetzungen der Londoner Botschafterkonferenz (17. Dezember 1912 – August 1913) auch bei den Sitzungen der IKK immer wieder neu abgewickelt, was bedeutete, dass die Kommission über keine Eigendynamik verfügte. Guy suggeriert, dass die albanische Tätigkeit der IKK die Charakteristika einer solchen Konfrontation der Entente und des Dreibundes trägt, die in jeder Ecke der Erde ebenso abgewickelt worden wäre. Andererseits besagt fast die gesamte albanische Geschichtsschreibung grundsätzlich, dass die Tätigkeit der IKK einen erfolgreichen Ausbau der Staatlichkeit in den Jahren 1913–1914 vereitelt hat.15 13 Romeo GURAKUQI, Principata e Shqipërisë dhe mbretëria e Greqisë 1913–1914. Tiranë 2011, 104–107 und Romeo GURAKUQI, Shqipëria 1911–1914. Tiranë 2012, 593–621. 14 Aurela ANASTASI, Vështrim bashkëkohor i së drejtës shqiptare të viteve 1912–1914, Studime Historike 40 [=57] (2003) H. 1–2, 163. 15 U. a. siehe PUTO, Shqipëria politike, 97–151. 5 In Anbetracht der Tatsache, dass die IKK von den (internationalen und heimischen) Körperschaften, die an der Staatsbildung beteiligt gewesen waren, nur eine war, wenn auch eine der bedeutendsten, bleiben zahlreiche Fragen offen, die weder von der internationalen noch von der albanischen Historiographie untersucht oder gar gestellt worden sind. In den Jahren 1913 und 1914 entstanden in Albanien zahlreiche internationale Machtzentren. Die Großmächte entsandten ihre Delegierten in vier internationale Kommissionen: In zwei Grenzziehungskommissionen, in die Behörden der „Internationalen Administration von Skutari”, sowie in die IKK. Wenn man auch noch den Fürstenhof von Fürst Wied, der zu Beginn des Jahres 1914 organisiert worden war, und die von niederländischen Offizieren geleitete Gendarmerie hinzuzieht, dann findet man noch weitere Akteure und Gremien, die den Prozess der Staatsbildung beeinflussten. Parallel zur internationalen Präsenz waren auch zahlreiche albanische Machtzentren tätig. Ismail Qemal Vlora (der am 28. November 1912 die Unabhängigkeit proklamiert hatte), war der Kopf der Provisorischen Regierung und regierte über die Hafenstadt Vlora und ihre unmittelbare Umgebung. Das bedeutendste Machtzentrum in Mittelalbanien wurde mit Tirana und Durrës von Pascha Esat Toptani ausgebaut. Daneben waren Elbasan, Lezha, Shëngjin und Mirdita kleinere autonome Verwaltungseinheiten unter der Leitung von lokalen Vorstehern. Shkodra (im Jahre 1913) und das von griechischen Truppen okkupierte ‚Nord-Epirus‘ (in den Jahren 1913–1914) gehörten nur dem Namen nach zu Albanien. Sie stellten beide Enklaven dar, die keine albanische Führung hatten und wo der Ausbau des neuen, einheitlichen Staates aus unterschiedlichen Gründen nicht einmal beginnen konnte. Anhand des oben Dargelegten ist festzuhalten, dass sich die bisherigen Publikationen über die Tätigkeit der Internationalen Kontrollkommission selbst hinsichtlich Albanien in erster Linie auf die Beziehungen zwischen den Großmächten konzentrierten. Die grundsätzlichen Fragen der Staatsorganisation, der Staatsbildung wurden mit Ausnahme des Verfassungsentwurfes der IKK und der Veränderung der Kompetenzen der Kommission nicht untersucht. Solche grundsätzliche Fragen sind: 1. Anhand welcher Anweisungen war die IKK genau tätig, und was waren die über die Anweisungen hinausgehenden Erwartungen gegenüber der Kommission; 2. Wie hat die IKK als Behörde funktioniert (Institutionsgeschichte); 3. Die individuelle Rolle der Kommissionsmitglieder; 4. Die Beziehung zwischen der IKK und der internationalen Administration in Shkodra; 5. Die Entstehungsgeschichte des Verfassungsentwurfes (Debatten, Rechtsgrundlagen); 6. Die inneren Konflikten der IKK und der Großmächte um die albanischen Märkte (die Frage der Albanischen Nationalbank); 7. Die Beziehung der IKK zu den albanischen Machtzentren; 8. 6 Die IKK und die sogenannte Epirus-Frage; 9. Welche Kompetenzveränderungen brachte im Leben der IKK der Putsch von Beqir Grebena, die Ankunft von Fürst Wied und die Konstituierung der albanischen Regierung mit sich; 10. Die Beziehungen zwischen der IKK und dem mittelalbanischen Aufstand von 1914; 11. Die Beziehung der IKK zu Fürst Wied und der albanischen Regierung; 12. Die IKK und die Flüchtlingsfrage; 13. Die Tätigkeit der IKK während des Weltkrieges. Da der Rahmen einer Studie begrenzt ist, beschäftigt sich dieser Aufsatz mit drei der oben genannten Fragen: Anhand welcher Anweisungen hat die Kommission ihre Tätigkeit begonnen; wie war die Beziehung der IKK zu den süd- und mittelalbanischen Machtzentren; wie haben sich die Kompetenzen der Kommission während ihrer Tätigkeit erweitert ( Fragen 1, 7 und 9). Die Untersuchung konzentriert sich auf Mittel- und Südalbanien, das von den serbischen16 und griechischen Armeen nicht besetzt worden war, weil der Prozess der Staatsbildung nur in diesem Gebiet beginnen konnte. In der vorliegenden Studie wird anhand nach Anastasi die Geschichte der IKK in folgende Abschnitte periodisiert. Periode I: die Konstituierung der IKK und das Kennenlernen des Landes (August 1913 bis 2. Januar 1914). Periode II wird durch die Vereitelung des Putsches von Beqir Grebena zwischen dem 2. Januar und dem 12. Februar 1914 gekennzeichnet (den Schlussakkord bildet hier die Abdankung von Esat Toptani). Periode III ist die Zeit der selbständigen Regierung der IKK: 22. Januar/12. Februar bis 7./17. März 1914. (Den Schlusspunkt kann hier einerseits der Tag der Ankunft von Fürst Wied, andererseits die Formierung der Regierung von Pascha Turkhan bilden.) Periode IV ist die Phase der Verfassungsentstehung vom 7./17. März bis zum 19–22. Mai 1914 (die Verhaftung von Pascha Esat Toptani). Periode V, die Phase der totalen Anarchie, begann mit der Verhaftung von Pascha Esat beziehungsweise mit dem Ausbruch des mittelalbanischen Aufstandes (22. Mai – 1. September 1914). Schließlich ist die Zeit nach der Flucht von Fürst Wied (Periode VI) bereits die Zeit des Weltkrieges (nach dem 1. September 1914). Formal wurde die Kommission nie aufgelöst. Als Endpunkt der Periode VI könnte das Wiener Archivdokument, das die letzte Meldung über die Kommission enthält, angesehen werden (14. Mai 1915).17 Die vorliegende Studie untersucht nur die Perioden I bis IV, da die aus dem Gesichtspunkt der Staatsbildung bewertbaren Schritte in diesen Phasen vorgenommen 16 Bis der zweiten Hälfte von Oktober 1913 stand das linke Ufer des Schwarzen Drins und ungefähr ein-drittel der nordalbanischen Stammesgebieten unter serbischen Okkupation. 17 Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Politisches Archiv (ÖHHStA PA), XIV/54/L/2, Telegramm von Mayrhauser, Valona, 14.5.1915, No. 3952. 7 wurden. Der Aufsatz stützt sich neben den veröffentlichten Quellen in erster Linie auf bislang nicht publizierte österreichisch–ungarische Archivmaterialien. I. Erwartungen gegenüber der Internationalen Kontrollkommission Die Großmächte mussten sich in Albanien Herausforderungen stellen, für die es keine früheren Beispiele gab. Die einschlägigen Vereinbarungen und ähnlichen Kommissionen von Ostrumelien (1878) und Mazedonien (Mürzsteg, 1903) können anhand einzelner Gesichtspunkte als Vorläufer der IKK angesehen werden, da die Großmächte das Innenleben des formal unabhängigen, eine muslimische Mehrheit vorweisenden Osmanischen Reiches den europäischen Erwartungen entsprechend umstrukturieren wollten (Verwaltung, Rechtspraxis, Ordnungskräfte). Aus dem Gesichtspunkt der Großmachtkontrolle über die Staatsfinanzen und des unmittelbaren Einflusses kann die im Jahre 1897 wegen des finanziellen Zusammenbruchs von Griechenland entstandene internationale Finanzkontrollkommission ebenfalls als ein Vorläufer der IKK betrachtet werden. Aber im Vergleich zu diesen Kommissionen stellte Albanien etwas Neues dar. Albanien war eigentlich ein herausgerissener Teil des Ostens, der erste unabhängige Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, dessen Einwohner mehrheitlich dem Islam angehörten. (Das heisst, dass Albanien das erste Land mit muslimischer Mehrheit war, wo die internationale Gemeinschaft einen neuen Staat nach europäischen Mustern einrichten versuchte.) Diese Region, also die Ostküste der Adria, gehörte vor 1912 hinsichtlich der Wirtschaft und Infrastruktur zu den eher vernachlässigten Provinzen des Osmanischen Reiches. Hier musste im Grunde aus dem Nichts ein Staat geschaffen werden. Dafür gab es vorher noch kein Beispiel. Im Nachhinein erscheint es sonderbar, dass bei den Großmächten zahlreiche Fragen gar nicht erst aufkamen, die anhand der Erfahrungen, die von den oben genannten Kommissionen erworben worden waren, hätten emporkommen müssen. Wie stellten sich die Großmächte, die über unterschiedliche Kolonisationstraditionen- und Erfahrungen verfügten, die Einrichtung dieser Gebiete vor? Anhand des Statutes vom 29. Juli 1913 wohl gar nicht. Der Wirkungsrahmen der IKK war in Wahrheit gänzlich ungeklärt.18 Bei der Londoner Konferenz hat sich hinsichtlich Albanien bereits herausgestellt, dass die Großmächtediplomatie in der Praxis kaum funktionierte. Die Teilnehmer der Konferenz waren nicht in der Lage, in den wichtigsten Fragen Entscheidungen zu treffen: Wo sollen die nördlichen und südlichen Grenzen Albaniens verlaufen, beziehungsweise wie soll 18 Eva Anne FRANTZ, Prinz Wilhelm zu Wied und Albanien. Der Versuch einer Herrschaft von außen. Magisterarbeit. München 2003, 73. 8 die Einrichtung Albaniens aussehen. Um diese Fragen zu klären, wurden mehrere Kommissionen der Großmächte aufgestellt, die vor Ort Lösungen auf die in London ungelösten Fragen zu finden versuchten. Die Teilnehmer der Konferenz haben jedoch die Beziehungen der in Albanien tätigen internationalen Kommissionen zueinander nicht geregelt. Es blieb ebenfalls ungeklärt, in welchem Verhältnis die Großmacht-Kommissionen zu Fürst Wied und der unabhängigen albanischen Regierung stehen sollte. (Während Österreich–Ungarn den Fürsten als den höchsten Machthaber ansah und Albanien als ein souveränes Land betrachtete, sahen die Entente-Mächte in Albanien ein Kondominium der Großmächte, wo die oberste Behörde die IKK zu sein hatte.) Hinsichtlich der konkreten Aufgaben der IKK konnten die zeitgenössischen Journalisten ihre interessierte Leserschaft nur über allgemeine Dinge unterrichten.19 Das ist auch kein Wunder, denn sie hatten außer den vier diesbezüglichen Punkten (4-7.) des Statutes, das am 29. Juli 1913 in London verabschiedet worden war, keine weiteren Informationen über die zukünftige Kommission.20 Sicher war, dass die Kommission neben den Delegierten der sechs Großmächte noch aus einem Vertreter Albaniens bestand. Anhand der Punkte 4 und 6 des Statutes wurde die IKK konstituiert, um die Finanzen Albaniens (staatliche Ausgaben und Einnahmen) sowie die Zivilverwaltung zu kontrollieren beziehungsweise zu beaufsichtigen. Während der ersten sechs Monate ihrer Tätigkeit hatte die IKK ihr detailliertes Organisationsstatut auszuarbeiten, das neben den Einrichtungen der staatlichen Verwaltung auch die Grundregeln der Verfassung beinhalten sollte. Es war ebenfalls ihre Aufgabe, in allen Verwaltungs- oder Finanzfragen den Regierungen der Großmächte Ratschläge zu erteilen. Bis zum Eintreffen des neuen Fürsten und der Konstituierung der neuen landesweiten Exekutiv-Regierung, etwa sechs Monate nach der Unterzeichnung, hatte die Kommission die Kontrolle über die Gendarmerie und die lokale (albanische) Verwaltung zu führen (Punkt 7). Die Mitglieder der Kommission erhielten von den Großmächten gemeinsam keine weiteren oder detailreicheren Anweisungen hinsichtlich ihrer allgemeinen Aufgaben. Gemäß den wichtigsten albanischsprachigen Zusammenfassungen über die Geschichte Albaniens hielten die Großmächte die Entstehung des albanischen Staates für das Ergebnis ihrer eigenen Bestrebungen und sie sahen aus diesem Grund auch in der Organisation der Staatsverwaltung eine internationale Aufgabe. Der wichtigste Grund für die 19 Constantine A. CHEKREZI, Albania. Past and Present. New York 1919, 126 und Leo FREUNDLICH, Die Albanische Korrespondenz. Agenturmeldungen aus Krisenzeiten Juni 1913 bis August 1914. Hrsg. von Robert ELSIE. München 2012, 120. 20 Amadeo GIANNINI, La questione albanese. Roma 1925, 95. 9 Aufstellung der IKK war daher, dass sie im Namen der Großmächte und gemäß ihren Vorstellungen den neuen albanischen Staat vor Ort organisieren sollte.21 Arben Puto merkt an, dass die Aufgabe der Kommission nichts anderes gewesen wäre, als die lokalen Machtzentren zu liquidieren und einen einheitlichen Staat zu organisieren.22 In der Interpretation von Bylykbashi hat die Londoner Großmächtekonferenz die Lösung aller Fragen an die IKK übertragen, die von den Botschaftern (und den hinter ihnen stehenden Außenministerien) nicht gelöst werden konnten. Kurzum: Die Außenminister entledigten sich der unmittelbaren Verantwortung der Großmächte für die albanische Staatsorganisation dadurch, dass sie deren Bürden der Kommission auferlegten.23 Romeo Gurakuqi sieht in der IKK ein „staatsformendes, beobachtendes, überwachendes und kontrollierendes“ Organ, das über Charakteristika verfügte, die nur einer verwaltenden und exekutierenden Regierung zustehen würden. Unter dem Strich ist er auch der Meinung, dass die Hauptaufgabe der Kommission die Organisation des Staates,24 die Aufstellung der Gendarmerie und die Ausarbeitung der Verfassung beziehungsweise die Liquidierung der verschiedenen lokalen Zentren gewesen ist. In der Interpretation von Gurakuqi war die IKK ebenfalls dafür verantwortlich, als eine Interimsorganisation die Trennung Albaniens vom Osmanischen Reich (durch die zu schaffende Verfassung) zu vervollständigen und als oberstes Lokalorgan die anarchischen Zustände im Land zu beseitigen.25 II. Die Beziehung zwischen der IKK und den albanischen Machtzentren im Jahre 1913 Die Mitglieder der IKK nahmen ihre Arbeit in der zweiten Oktoberhälfte des Jahres 1913 in Vlora auf. Die Mehrheit der Außenministerien hatte ihre Kommissare nicht ordentlich auf ihre Aufgaben vorbereitet. Deswegen herrschte lange Zeit Verwirrung um die Frage, was bis zum Eintreffen des designierten Fürsten mit den albanischen Machtzentren geschehen sollte. Die Kommissare der Großmächte mussten in Albanien feststellen, dass die Verwaltungseinheiten des Landes, die in den Händen der Albaner verblieben waren, in zahlreiche kleine Machtzentren zersplittert waren. Zwischen ihnen gab es jedoch weder 21 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, 100–101; PUTO, Historia diplomatike, 186; Kristaq PRIFTI / Gazmend SHPUZA (Red. Shk.), Historia e Popullit Shqiptar III. Periudha e Pavarësisë (28. nëntor 1912 – 7. prill 1939). Tirana 2007, 54. 22 PUTO, Historia diplomatike, 186–187, 191. 23 BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit 1977, 283–284. 24 GURAKUQI, Shqipëria 1911–1914, 593. 25 GURAKUQI, Shqipëria 1911–1914, 593–594, 597 und GURAKUQI, Principata e Shqipërisë, 104–105. 10 scharfe Grenzen, noch Anzeichen von Zusammenarbeit und regelmäßigen Kontaktes. Sie standen vielmehr in bewaffnetem Konflikt miteinander und strebten die Aufstellung einer ganzheitlichen Administration auf ihrem Gebiet an. Eine landesweite albanische Verwaltung existierte nicht. Die Diplomaten der IKK unterbreiteten, anhand ihrer persönlichen Rollenauffassung, Vorschläge zur Verwirklichung der provisorischen Staatseinheit. In Anbetracht der Tatsache, dass die Adria-Mächte (Österreich–Ungarn und Italien) und die Vertreter der Entente sich dies auf unterschiedliche Weise vorstellten, wurde die IKK schon im Oktober 1913 in die Fehden der albanischen Machtzentren verstrickt.26 Die heftigste Grundsatzdebatte entwickelte sich um die Frage, wie die Beziehung der IKK zur Provisorischen Regierung in Vlora (PR) und zu den anderen Machtzentren aussehen sollte. Die Vertreter der Adria-Mächte, und somit die Vertreter des Dreibundes, appellierten dafür, dass die internationale Kommission das Kabinett von Qemali als eine gesamtalbanische Regierung anerkennen sollte. Falls dies nicht möglich sei, dann sollte zumindest ein Weg gefunden werden, diesem Kabinett eine größere Legitimität als den anderen albanischen Machtzentren zuzusprechen.27 Die Vertreter der Entente haben diese Vorstellung strikt abgelehnt. Der russische Kommissar, Aleksandr Petriajev, hat dafür plädiert, dass die IKK gegenüber allen albanischen Machtzentren ihre Unparteilichkeit bewahren müsste. Dies begründete er nicht mit politischen, sondern mit praktischen Gründen: Dadurch würde die Position der IKK gegenüber den führenden albanischen Politikern gestärkt. Der Vertreter Frankreichs, Leon Krajewski, meinte aufgrund der aus Paris erhaltenen Instruktionen, dass die PR nichts anderes sei, als ein „Instrument“ der Österreichisch–Ungarischen Monarchie. Der britische Kommissar Henry Lamb betrachtete die Qemali-Regierung als eine italienische Kreatur.28 26 Arkivi i Institutit të Historisë të Akademisë të Shkencave të Shqipërisë (AIHASS), FO 320, A 48/2, Brief von Lamb an Grey, Valona, 21.10.1913, No. 5; PUTO, Historia diplomatike, 191; LÖHR, Die Gründung Albaniens (2010), 154; GURAKUQI, Principata e Shqipërisë, 105 und GURAKUQI, Shqipëria 1911–1914, 595–597. 27 ÖHHStA PA XII/454/26b, Telegramm von Petrovic, Valona, 23.10.1913, No. 4526 und Ebenda XII/454/26c, Telegramm von Petrovic, Valona, 16.11.1913, No. 2334; George P. GOOCH / Harold W. TEMPERLEY (Hgg.), The Near and the Middle East on the Eve of War, Bd.10.1: British Documents on the Origins of the War 1898–1914. London 1936, No.73. Brief von Grey an Dering, London, 4.11.1913, FO 50658/13799/13/44 (No. 270.), 61–62; PUTO, Historia diplomatike, 189 und PUTO, Pavarësia shqiptare, 456–463 und 482–483. 28 ÖHHStA PA XII/454/26b, Telegramm von Czernin, Sanktpetersburg, 10.11.1913, No. 61/49 und Telegramm von Berchtold an Petrovic, Wien, 13.11.1913, No. 56; PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.nr.73. Seanca e pestë, Vlora, 23.10.1913, 434–435;GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the eve of war, No.51. Instruktion von Grey an Cartwright, London, 22.10.1913, F.O. 48826/30271/13/44. (No. 191.), 44–45; Friedrich STIEVE (Hg.), Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911–1914. Aus den Geheimakten der Russischen Staatsarchive. Im Auftrage des Deutschen Auswärtigen Amtes in dt. Übertr., Bd.3. Berlin 1925, Nr. 1080. Bericht von Sewastopulo an Neratow, Paris, Nr. 492, 25.9/8.10.1913, 303–304; Friedrich THIMME / Johannes LEPSIUS / Albrecht MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Liquidierung der Balkankriege: 11 Die Mitglieder der IKK haben schließlich beschlossen, mit den verschiedenen albanischen Machtzentren identisch zu verfahren. Parallel mit dem Einblick in die innenpolitischen Verhältnisse haben sie jedoch eingesehen, dass aus den zahlreichen Machtzentren die lokalen Verwaltungen „mit Zolleinnahmen“ herausragten (Vlora, Durrës, Lezha). Zwar wollten sie die führenden Politiker dieser Zentren, Ismail Qemali, Pascha Esat Toptani und Ded Coku zu keinen besonderen Vorteilen verhelfen, aber es wurde mit ihnen eine intensivere Kommunikation seitens der IKK ausgebaut. Sie wurden von den Entscheidungen und Beschlüssen der Kommission schriftlich benachrichtigt, beziehungsweise den Anfragen und Ersuchen dieser Anführer wurde besondere Beachtung geschenkt.29 Die Mitglieder der IKK waren der Meinung, dass das Eintreffen des Fürsten und die Aufstellung der Gendarmerie der Anarchie bald ein Ende setzten würde. Solange dies nicht geschehen war, durfte an den bestehenden albanischen Machtverhältnissen nicht weiter gerüttelt oder diese gar weiter polarisiert werden. Die Kommissare entschieden, dass sie sich nur so weit in die Konflikte der Albaner untereinander einmischen würden, dass ihre Gegensätze in geregelte Bahnen geleitet wurden.30 Der Wahrheit halber muss festgestellt werden, dass in der Praxis die Regierung in Vlora doch etwas begünstigt wurde. Denn einerseits residierten die Kommission und die Regierung in derselben Stadt, andererseits war die Regierung von Qemali seit mehr als einem Jahr im Amt. Das von der IKK ausgearbeitete System funktionierte, da jedes lokale Machtzentrum die Autorität der Kommission akzeptierte und ihre „Bitten“ als „Befehle“ auffasste.31 Laut den Kommissionprotokollen wurde bei den Sitzungen der IKK beschlossen, dass zur Beendigung des Bürgerkriegszustandes die Kommissare der Grossmächte Ismail Qemali und Pascha Esat Toptani miteinander befriedet werden sollten. Dies wurde vor allem von den Vertretern der Adria-Mächte forciert. Obwohl mehrmals längere Dispute zu der 1913 – 1914, Bd. 36.1: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Berlin 1926, Nr. 14069. Bericht von Winckel, Valona, 22.10.1913, Nr. 46, 303–305 und LÖHR, Die Gründung Albaniens (2010), 154. 29 THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14069. Bericht von Winckel, Valona, 22.10.1913, Nr. 46, 303–305 und Nr. 14081. Bericht von Nadolny, Valona, 23.11.1913, Nr. 3, 311–313 und PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.77. Seanca e nëntë, Vlora, 30.10.1913, 440–442 und Dok.87. Seanca e nëntëmbëdhjetë, Vlora, 20.11.1913, 461–462; BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit 1977, 290. 30 ÖHHStA PA/XII/454/26c, Telegramm von Berchtold an Petrovic, Wien, 18.11.1913, No. 66; Telegramm von Petrovic, Valona, 21.11.1913, No. 29/3; Telegramm von Ambrózy, Rom, 23.11.1913, No. 3503 und AIHASS, FO320/A48, Bericht von Lamb an Grey, Valona, 21.10.1913, No.5. 31 ÖHHStA PA/XII/454/26c, Bericht von Petrovic an Berchtold, Valona, 16.12.1913, No. 9. 12 Frage entstanden, wurde in dieser Sache keine konkrete Entscheidung getroffen.32 Es ist aber wichtig zu erwähnen, dass in den Interessen der beiden Verbündeten in dieser Frage immer deutlichere Brüche zu Tage kamen: Zwar drängten im Monat Oktober sowohl Alessandro Leoni (Italien), als auch Aristoteles Petrović (Österreich–Ungarn) auf eine Schlichtung des Konfliktes zwischen Ismail Qemali und Pascha Esat, aber das italienische Außenministerium, die Consulta, vertraute immer mehr auf Pascha Esat, der Wiener Ballhausplatz hingegen sah weiterhin die Provisorische Regierung in Vlora als wichtigstes zu unterstützendes Machtzentrum an.33 Der Gegensatz der beiden Großmacht-Bündnissysteme hat die Befriedung der beiden albanischen Politiker behindert. Während Wien im Konflikt der beiden Parteien eine der größten Bedrohungen der Sicherheit des neuen Staates sah, war Krajewski gerade daran interessiert, die Frontstellungen weiter zu vertiefen. Der französische Kommissar wollte nämlich dadurch die Positionen der IKK gegenüber den lokalen albanischen Verwaltungen verstärken. (Krajewski ging bereits in der ersten Oktoberhälfte so weit, Pascha Esat zu warnen: Er solle so lange gegen Qemali vorgehen, bis die IKK ihre erste Sitzung abgehalten hatte, da danach sein Spielraum viel kleiner sein würde.)34 Die Einstellung der Großmächte gegenüber den beiden albanischen Rivalen wurde ab Dezember durch die politische Vorbereitung des Eintreffens von Fürst Wied bestimmt. Wir wissen nicht, ob es auf Anweisung von zu Hause erfolgte, aber es war Leoni, der als Erster die Möglichkeit der Abdankung Qemalis eröffnete. Die Vorstellung des italienischen Delegierten war, dass im Falle einer Abdankung Esat Toptani ähnlich verfahren würde. Krajewski ergänzte dies später mit folgenden Elementen: Nach der Abdankung der beiden Regierungschefs müsste die IKK Statthalter für Vlora, Durrës (und Shkodra) ernennen, die ihre Macht bis zum Eintreffen Wieds ausüben würden (das heißt formal wäre die getrennte Verwaltung von Süd-, Mittel- und Nord-Albanien beibehalten worden.35 Die wichtigsten Symbole der allgemeinen Hoheit der IKK über die albanischen Machtzentren waren der Versuch, die finanzielle Kontrolle über die Selbstverwaltungen 32 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.70. Seanca e dytë, Vlora, 18.10.1913, 431; Dok.71. Seanca e tretë, Vlora, 20.10.1913, 432–433. und Dok.73. Seanca e pestë, Vlora, 23.10.1913, 434–435. 33 ÖHHStA PA/XII/454/26c, Telegramm von Petrovic, Valona, 16.11.1913, No. 2334; PUTO, Pavarësia shqiptare, 450 und 458. 34 ÖHHStA PA/XII/424/6y, Bericht von Hornbostel an Berchtold, Durazzo, 26.10.1913, No. 274; PUTO, Pavarësia shqiptare, 459 und BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit 1977, 292. 35 ÖHHStA PA/XII/454/26c, Telegramm von Berchtold an Petrovic, Wien, 18.11.1913, No. 66 und Telegramm von Petrovic, Valona, 19.11.1913, No. 2920; bzw. PUTO, Pavarësia shqiptare, 457–458. 13 auszubauen und die Behandlung der Flüchtlingsfrage. Ersterer bezog sich vor allem auf die bereits früher erwähnten Zentren mit eigenen Zolleinnahmen.36 Im Sinne der Londoner Beschlüsse hatte die Kommission ihre finanzielle Kontrollmacht in ganz Albanien auszubauen. Bis zum Eintreffen von Fürst Wied und bis zur Konstituierung seiner Regierung bedeutete dies auch die Ausweitung der Kontrollen auf die Verwaltungen mit provisorischem Charakter. In der Praxis konnte dies dadurch verwirklicht werden, dass die Kommissare der IKK die finanzielle Rechnungslegung, die Rechnungen und Statistiken der Verwaltungen von Vlora, Durrës-Tirana, Lezha und Shkodra über ihre Einnahmen (besonders über die Zolleinnahmen der Häfen) und auch über die Ausgaben einforderten. Neben der Verstärkung der Machtposition der IKK wollte man dadurch auch die finanziellen Möglichkeiten des Landes erschließen. Aus den Teildaten sollten dann für die Großmächte die Statistiken über die Gesamteinnahmen und Gesamtausgaben Albaniens zusammengestellt werden. Danach sollte eine Zentralisation der Einnahmen vorbereitet werden. Zur Kontrolle der Finanzen und zur potentiellen Rechenschaftsforderung wurde eine eigene Unterkommission mit der Teilnahme von Lamb, Krajewski und des albanischen Delegierten Bey Myfit Libohova aus den Mitgliedern der IKK aufgestellt.37 Nachdem die Diplomaten in Vlora ihren Sitz genommen hatten, belastete die finanzielle Kontrolle in erster Linie die Qemali-Regierung, denn jeder ihrer Schritte konnte unmittelbar inspiziert werden. Die Kontrolle über Pascha Esat und Ded Coku blieb hingegen nur symbolisch. Die Behandlung der Flüchtlingsfrage38 hing mit dem Versuch zusammen, die finanzielle Kontrolle über die albanischen Machtzentren auszubauen. Die Versorgung der Flüchtlinge hielten nämlich die Kommissare nicht nur für die Aufgabe der Großmächte, sie sahen darin auch eine Verpflichtung des albanischen Staates. Es ist charakteristisch, dass die Lösung der Flüchtlingsversorgung für die IKK viel mehr ein Mittel zur strengeren Kontrolle der albanischen Verwaltungen war, als eine aus humanitären Gefühlen inspirierte Politik. Die Delegierten erhielten schon nach ihrer Ankunft regelmäßig Berichte, unter anderem über die 36 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.84. Seanca e gjashtëmbëdhjetë, Vlora, 14.11.1913, 457–458; Dok.87. Seanca e nëntëmbëdhjetë, Vlora, 20.11.1913., 461–462; Dok.88. Seanca e njëzet, Vlora, 21.11.1913, 462–464 und Dok.98. Seanca e tridhjetë, Vlora, 8.12.1913, 478–480; BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit 1978, 240–241 und PRIFTI/SHPUZA, Historia e popullit shqiptar III, 54. 37 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.86. Seanca e tetëmbëdhjetë, Vlora, 18.11.1913, 459– 461. 38 Anhand der österreichisch-ungarischen Archivquellen befanden sich ca. 120-150.000 Flüchtlinge aus dem Mittel-Balkan in Albanien (Albaner und Mazedonen, Muslimen und Christen gemischt). ÖHHStA PA, XII/422/6n, Bericht von Rudnay an Berchtold, Durazzo, 31.3.1913, Nr.109. 14 Anzahl und verzweifelte Situation der vor den serbischen Truppen flüchtenden Menschen. Obwohl die Adria-Mächte bestrebt waren, genügend humanitäre Hilfe vor Ort zu befördern, erwartete ein bedeutender Teil der Albaner die Lösung dieser Situation von den Mitgliedern der IKK.39 Ab Mitte November begannen die Kommissare der IKK wegen der aussichtslosen Situation eine eigene selbständige humanitäre Mission in die Wege zu leiten. Die Hilfsmittel waren in erster Linie für die Flüchtlinge um Shkodra gedacht, da man befürchtete, dass die Gelder, die für die Heimatlosen gesammelt worden waren, von den Anführern der albanischen Machtzentren für den Kampf gegeneinander verwendet werden könnten.40 Der Prozess begann damit, dass Leoni von zu Hause die Instruktion erhielt, die Frage der Flüchtlinge von Shkodra wieder vor die Kommission zu bringen. Am 26. Sitzungstag der IKK (am 4. Dezember 1913) stellte der italienische Vertreter demgemäß folgenden Antrag: Die Kommission sollte die Summe, die zur Versorgung der Flüchtlinge notwendig wäre, von den Regierungen von Qemali und Pascha Esat einfordern. Zu dieser Zeit waren nämlich die ersten Finanzberichte der beiden Verwaltungen eingetroffen. (Anhand dieser Berichte schätzten die Kommissare, dass Qemali über etwa 4.000, Esat Toptani über etwa 20.000 türkische Lire an Jahreseinnahmen verfügte.) Die Kommissare forderten in einem gemeinsamen Brief die beiden Regierungschefs auf, die Hälfte ihrer Einnahmen zur Versorgung der Flüchtlinge von Shkodra zur Verfügung zu stellen. (Mit diesem Schritt wollten sie gleichzeitig auch die Summen vermindern, die von den beiden Politikern für den politischen Bürgerkrieg aufgewendet werden konnten.)41 Ismail Qemali begann sofort, die eingeforderte Summe zu sammeln. Pascha Esat Toptani zeigte jedoch in einer Depesche an, dass er entgegen der Schätzung der Kommission nur über eine Einnahme von etwa 14.000 türkischen Lire verfügte. In ihrer Antwort nahmen die Diplomaten dies zur Kenntnis und wiesen den Anführer des mittel-albanischen Senates an, 7.000 türkische Lire einzusenden. Der Pascha hielt jedoch noch selbst diese Summe für zu viel. Auf den Vorschlag von Petrović antworteten die Kommissare auf diese Mitteilung, dass sie auf der Summe von 7.000 Lire bestünden. Der Pascha sollte die Hälfte dieser Summe 39 AIHASS, FO 320, A 48, Bericht von Lamb an Grey, Vlora, 21.11.1913, No. 31; Hanns Christian LÖHR, Die albanische Frage. Konferenzdiplomatie und Nationalbildung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Außenpolitik. Phil. Diss., Bonn 1992, 209; LÖHR, Die Gründung Albaniens (2010), 154 und GURAKUQI, Shqipëria 1911–1914, 614–615. 40 ÖHHStA PA/XII/422/6z, Telegramm von Petrovic, Valona, 31.12.1913, No. 4510; ebenda PA/XII/424/6y, Bericht von Mayrhauser an Berchtold, Skutari, 14.11.1913, No. 175, 3–5 und PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.105. Seanca e tridhjeteshtatë, Vlora, ?.12.1913, 489–490. 41 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.95. Seanca e njëzeteshtatë, Vlora, 4.12.1913, 474. 15 sofort zusenden, die zweite Hälfte innerhalb von zwanzig Tagen sammeln. In seiner Antwort verpflichtete sich Esat zur Aufbringung der Summe, bat jedoch darum, dass sich die IKK in Zukunft mit ähnlichen Forderungen nicht an ihn wenden sollte, da auch seine Gebiete mit Flüchtlingen überfüllt seien.42 Qemali überreichte am 13. Dezember die erste Hälfte der ihm aufgetragenen Summe (500 türkische Lire), die von der Kommission sofort nach Shkodra gesandt wurde. Pascha Esat sandte am 18. Dezember die ersten 3.500 türkischen Lire unmittelbar an Oberst Phillips, dem Leiter der internationalen Verwaltung Shkodras.43 Zusammenfassend kann man über die Beziehungen der IKK zu den albanischen Machtzentren im Jahre 1913 feststellen, dass die Vertreter der Großmächte versuchten, ihre alleinige Hoheit durch die albanischen Machtzentren anerkennen zu lassen. Die Kommissare hörten und untersuchten zwar jede Beschwerde, gaben Ratschläge und vermittelten, verfuhren in einigen Fragen einer Regierungsmacht ähnlich, aber sie versuchten gar nicht erst eine wirkliche Zentralmacht auszubauen. Die Kommission verfügte nämlich über keine eigenen Beamten oder bewaffnete Macht und war deswegen gezwungen, die Verwaltungssysteme, die von den lokalen Machtzentren aufgebaut worden waren, in Anspruch zu nehmen. Doch gerade weil die Kommissare keine Zentralmacht aufzubauen versuchten, waren die Politiker des Landes bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten und die Mehrheit der Wünsche der IKK zu erfüllen. Österreich–Ungarn wollte ursprünglich den Sitz der IKK in Vlora wissen, um die internationale Anerkennung der Qemali-Regierung zu erreichen. Das Ergebnis war jedoch, dass die Vertreter der Großmächte von den lokalen Machtzentren in erster Linie die „erste nationale Regierung“ Albaniens belasteten. Ismail Qemali versuchte alles gegen den politischen Druck der Kommissare zu unternehmen. Er verlor jedoch schrittweise politischen Einfluss, die IKK hatte darin wirklich eine bedeutende (wenn auch nicht ausschließliche) Verantwortung. Zudem muss betont werden, dass der alte Regierungschef sich nicht gegen die Präsenz der Großmächte erhob. Die Delegierten übernahmen selbst Regierungsfunktionen von der Provisorischen Regierung. Sie hätten dies auch im Falle anderer Machtzentren getan, wenn sie die Mittel dazu gehabt hätten. Damit wurde in den letzten Monaten des Jahres 1913 die IKK selbst zu einem der Machtzentren in Albanien (primus inter pares). Die IKK war ein 42 ÖHHStA PA/XII/422/6z, Telegramm von Petrovic, Valona, 18.12.1913, No. 2470; PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.96. Seanca e njëzetetetë, Vlora, 5.12.1913, 475–477; Dok.99. Seanca e tridhjetenjëtë, Vlora, 9.12.1913, 480–481 und Dok.100. Seanca e tridhjetedytë, Vlora, 12.12.1913, 482–483. 43 ÖHHStA PA/XII/422/6z, Telegramm von Berchtold an Halla, Wien, 11.12.1913, No. 278 und Telegramm von Petrovic, Valona, 13.12.1913, No. 1728; PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.102. Seanca e tridhjetekatërt, Vlora, 15.12.1913, 486 und Dok.104. Seanca e tridhjetegjashtë, Vlora, ?.12.1913, 487–489. 16 Machtzentrum, das dem Anschein nach über den anderen stand, aber in Wirklichkeit hatte es keine Mittel zu Ausübung seiner Macht. Die Grundlage seiner Tätigkeit war, dass die Albaner die Präsenz dieses Großmächteorgans akzeptierten.44 Im Allgemeinen benahm sich die IKK wie eine Kommission, die komplexe Regierungs-, Kontroll- und Legislativaufgaben verrichtet. Die Vertreter der Großmächte (Entente-Mächte und Deutschland) betrachteten Albanien als ein Kondominium der Mächte. Sie verhielten sich den albanischen Machtzentren gegenüber als Vorgesetzte und nicht als Partner.45 III. Die Wirkung des Putschversuches der Jungtürken unter Beqir Grebena auf die Tätigkeit der IKK Der Putschversuch der Jungtürken, der mit dem Namen von Beqir Grebena charakterisiert wird, hat in der albanischen Historiographie große Aufmerksamkeit erhalten. Die Frage des Putschversuches, deren praktische Bedeutung von der zeitgenössischen Diplomatie und Publizistik etwas überbewertet wird, birgt tatsächlich reale Gefahren in sich. Es kam zum ersten Mal seit den Balkan-Kriegen vor, dass das Osmanische Reich einen bewaffneten Versuch zur teilweisen Wiederherstellung seines Einflusses auf dem Balkan wagte. Ziel der jungtürkischen Regierung war es, einen muslimischen Herrscher auf den Thron Albaniens zu setzen und das Land ins entstehende türkisch–bulgarische Bündnis einzubinden. Dieses Bündnis wollte Mazedonien mit Waffengewalt von Serbien und Griechenland zurückgewinnen (die VMRO war vom Putschversuch auch betroffen). Zwar erlitten die nach Albanien gesandten jungtürkischen Agenten eine Niederlage, aber infolge des Putschversuchs fasste die IKK zwei bedeutende Beschlüsse mit schwerwiegenden Folgen: Es kam zur Abdankung von Ismail Qemali, und man traf einen Ausgleich mit Esat Toptani. Arben Puto untersucht in seinen Schriften diese Frage in erster Linie von der Seite der Staatsorganisation und beschäftigt sich vor allem mit den Folgen des Putschversuchs.46 Die erzwungene Abdankung Qemalis hatte für ihn zwei schwerwiegende Folgen. Einerseits ging die Lenkung Kontrollkommission des über, Staates die im vollständig in die Hände Interesse der Schaffung der Internationalen einer provisorischen Landesregierung das relativ stabile System der lokalen Verwaltungen liquidieren wollte. 44 LÖHR, Die Gründung Albaniens (2010), 155 und GURAKUQI, Principata e Shqipërisë, 106. Koli XOXI, Ismail Qemali, Tiranë 1983, 386–394; PRIFTI/SHPUZA, Historia e popullit shqiptar III, 55; CHEKREZI, Albania, 127 und LÖHR, Die albanische Frage, 210. 46 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, 110–111; PUTO, Historia diplomatike, 195–197 und PUTO, Shqipëria politike, 111–116. 45 17 Andererseits konnte die IKK Esat Toptani nur dadurch zur Abdankung bewegen, dass der Pascha seine politische und militärische Macht weiterhin behalten konnte; er hatte sogar die Möglichkeit, im Namen des albanischen Volkes jene Delegation zusammenzustellen, die Fürst Wied um die Annahme des albanischen Thrones ersuchte. Gurakuqi ist der Ansicht, dass die Aktion von Beqir ein verspäteter Militärputsch war, der erst sechs Monate nach Ende der Londoner Konferenz durchgeführt wurde. Anhand der untersuchten Quellen kommt der Historiker zu der Feststellung, dass aus dieser fehlgeschlagenen Militäraktion die niederländischen Oberoffiziere, Willem de Veer und Lodewijk Thomson, einen Skandal schufen, die internationalen Nachhall auslösen sollte. Die IKK nutzte einfach diese Chance und brachte Ismail Qemali zu Fall. Von den zwei wichtigsten albanischen Politikern nahm Grebena zuerst mit Pascha Esat Toptani Kontakt auf. Erstens gab seit Juli 1913 Esat zahlreiche Signale ab, dass er sich selber immer noch für einen jungtürkischen General hielt. Zweitens war gerade er jener Politiker, der noch in einer Depesche vom 13. Oktober 1913 die Intervention der Jungtürken in die albanischen Fragen im Interesse der Einsetzung eines muslimischen Herrschers erbat. Drittens schürte der Toptani Pascha seit dem Sommer 1913 immer wieder den muslimischen Fanatismus in Mittel-Albanien und Shkodra, um seine Machtsphäre ausdehnen zu können.47 Der Plan, der von bisher nicht genau identifizierbaren Politikerkreisen von Istanbuler Jungtürken stammte, war, dass die jungtürkischen Agenten und Militäroffiziere, mit der Unterstützung des Großherrn von Toptani, die konfessionellen Spannungen in Albanien weiter schüren sollten. Daneben würden die Jungtürken aus Istanbul verkleidete Soldaten beziehungsweise Waffen und Munition in Richtung der albanischen Häfen auf den Weg schicken. Die Aufgabe der Soldaten würde es sein, in Durrës, Vlora oder Shëngjin zu landen und Pascha Izzet, einen Oberbefehlshaber des osmanischen Heeres mit albanischer Abstammung, zum Fürsten auszurufen.48 Bislang gibt es leider keine Archivquellen darüber, welche Abmachung Aga Beqir Grebena und Esat Toptani in der zweiten Novemberhälfte getroffen haben. Es ist nur sicher, dass sie über irgendetwas eine Vereinbarung geschlossen haben.49 Die Gründe, warum Pascha 47 ÖHHStA PA XII/424/6y, Bericht von Hornbostel an Berchtold, Durazzo, 22.10.1913, No. 271. und Telegramm von Löwenthal, Pera, 29.10.1913, No. 5371.; bzw. XOXI, Ismail Qemali, 350. 48 Pascha Izzet berichtet in seinen Memoiren, dass Pascha Esat ihn in einem Brief um die Besteigung des albanischen Thrones ersucht hatte. IZZET Pascha, Denkwürdigkeiten des Marschalls Izzet Pascha. Ins Deutsche übersetzt von Karl KLINGHARDT. Leipzig 1927, 231. 49 ÖHHStA PA XII/452/25f, Telegramme von Pallavicini, Pera, 27.11.1913, No. 4088. und 4.12.1913, No. 537; Telegramm von Czernin, Bukarest, 10.12.1913, No. 1191; bzw. Telegramme von Hornbostel, Durazzo, 10.12.1913, No. 1245. und No. 1247. 18 Esat letztendlich mit Beqir Grebena gebrochen hat, sind vorerst nicht zu klären. Sicher ist, dass sich Esat um den 17. Dezember 1913 anders besonnen hat: Er brach die Verbindung zum Aga ab und wies ihn gemeinsam mit den weiteren Agitatoren und VMRO-Offizieren aus Durrës aus.50 In den letzten Tagen des Monats Dezember 1913 trat Aga Beqir in unmittelbare Verhandlungen mit Qemali. Der ursprüngliche Plan wurde insofern geändert, dass diesmal der Transport von mehreren Hundert Bewaffneten nach Albanien und die Sabotage der Thronbesteigung von Fürst Wied ohne die Unterstützung von Esat versucht werden musste. Im Falle eines Sieges wurden Albanien die Gebiete von Çamëria und Kosovo versprochen. Die innenpolitische Situation von Qemali war zu diesem Zeitpunkt verzweifelt. Er verlor nach den Großhäusern und Bey-Familien auch das Vertrauen der IKK. Er war gezwungen, durch eine Aufteilung des Bodenbesitzes eine neue Gesellschaftsschicht aus der bäuerlichen Bevölkerung als Unterstützer seiner Macht aufzubauen. Der Regierungschef verhandelte zwar mit Beqir, aber anhand der bekannten Quellen hat es den Anschein, dass er trotz seiner bedrängten Lage keine so engagierten Abmachungen getroffen hat, wie früher Pascha Esat. Qemali zeigte sich nur dazu bereit, sich im Falle eines jungtürkischen Putschversuches passiv zu verhalten.51 Die Internationale Kontrollkommission wurde von ihrem albanischen Mitglied Myfit Libohova auf den bevorstehenden Putschversuch aufmerksam gemacht.52 Der Bey unterrichtete die Kommissare bei der Sitzung am 2. Januar 1914 darüber, dass es eine jungtürkische Kommission in Istanbul gäbe, die einen muslimischen Fürsten auf den albanischen Thron zu setzen bestrebt sei.53 Die IKK hörte Ismail Qemali am 5. Januar 1914 an und erfragte, welche Rolle er im geplanten Putsch spielte. Bei der Anhörung wich der Regierungschef anfangs den Fragen aus; 50 ÖHHStA PA XII/452/25f, Telegramme von Hornbostel, Durazzo, 17.12.1913, No. 2264. und 18.12.1913, No. 2504; Telegramme von Berchtold an Pallavicini, Wien, 18.12.1913, Nr. 591. und Telegramm von Halla, Skutari, 20.12.1913, No. 3016. 51 Ismail KEMAL, The Memoirs Ismail Kemal Bey. Ed. by Sommerville Story. New York 1920 (Reprint 1997), 494; XOXI, Ismail Qemali, 382, 385–386; Basil KONDIS, Greece and Albania 1908–1914. Thessaloniki 1976, 121–122 und GURAKUQI, Principata e Shqipërisë, 111. 52 ÖHHStA PA XIV/58/11, Bericht von Petrovic an Berchtold, Valona, 14.1.1914, No. 11 und GOSLINGA, The Dutch in Albania, Shêjzat 15 (1971) H.7–9, 224-238, 226. 53 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok. 110. Seanza e Dyzetedytë, Vlora, 2.1.1914, 496–498; Valentina DUKA (përg.), Dokumente britanike për Shqipërinë dhe shqiptarët (janar – dhjetor 1914). Vëll. II. Tiranë 2012, II/2, Nr. 14. Telegramm von Lamb an Grey, Valona, 6.1.1914, Nr.2, 45. und LÖHR, Die albanische Frage, 211. 19 schließlich gab er jedoch zu, dass er Beziehungen zu Aga Beqir unterhielt.54 Die IKK erklärte daraufhin, dass sie infolge ihrer in London festgelegten Machtbefugnisse selbst Maßnahmen zur Verhinderung und Aufdeckung des Putschversuchs treffen werde.55 Die Vereitelung der Landung wurde zur Aufgabe der albanischen Gendarmerie, die von niederländischen Offizieren befehligt wurde. Die osmanischen Militäroffiziere und Soldaten, die zwischen dem 6. und 8. Januar 1914 in Vlora ankamen, wurden von den Holländern verhaftet. Bis Mitte Januar waren insgesamt 19 Offiziere in den Arrestzellen in Vlora.56 Der Gedanke, dass von der IKK ein Kriegsgericht aufgestellt werden sollte, wurde von Krajewski formuliert und in der Sitzung am 9. Januar 1914 angenommen. Die Delegierten waren sich einig, dass das Kriegsgericht sich infolge der Ermächtigung der IKK konstituieren müsse, aber keiner der Kommissare zum Mitglied derselben dürfen werde. Die IKK wollte formal nicht an der Arbeit des Gerichtes teilnehmen, aber bei der Aufstellung des Gerichtes wurde festgehalten, dass die Kommissare freien Zugang zu jedem Dokument des Prozesses haben sollten, da dies zu ihren in London festgelegten Aufgabenbereichen gehörte. Von diesem Recht machten die Diplomaten der IKK zwischen dem 10. und 19. Januar Gebrauch.57 Die IKK beauftragte General de Veer, den Anführer der Gendarmerie, mit der Aufstellung des Kriegsgerichtes. Es war zwischen dem 10. und 20. Januar in Vlora tätig.58 III.1. Die Folgen des Putschversuches Die missglückten Landungsversuche der Jungtürken hatten mittelfristig sehr schwere Folgen, die alleine zur Destabilisierung Albaniens gereicht hätten. Die IKK fasste infolge der Ereignisse nach dem Putsch zwei Entscheidungen, die die Zukunft der albanischen 54 ÖHHStA PA XIV/58/11, Telegramme von Petrovic, Valona, 5.1.1914, No. 819. und No. 932; THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.117. Bericht von Nadolny an Bethmann-Hollweg, Valona, 11.1.1914, Nr. 35, 340. und GOSLINGA, The Dutch in Albania, 227. 55 Heinrich SRBIK u. a. (Hgg.), Österreich–Ungarns Außenpolitik von der bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Bd. 7. Wien, Leipzig, 1938, Nr.9162. Telegramm von Petrovic, Valona, 5.1.1914, Nr. 5, 711–712 und Nr.9171. Telegramm von Mérey, Rom, 8.1.1914, Nr. 2, 719; bzw. GOSLINGA, The Dutch in Albania, 227. 56 ÖHHStA PA XIV/58/11, Telegramm von Petrovic, Valona, 10.1.1914, No. 1620 und GOSLINGA, The Dutch in Albania, 227. 57 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 115. Seanza e Dyzeteshtatë, Vlora, 9.1.1914, 507; FREUNDLICH, Die Albanische Korrespondenz, 289, 293, 297. und GOSLINGA, The Dutch in Albania, 227. 58 ÖHHStA PA XIV/58/11, Telegramme von Petrovic, Valona, 10.1.1914, No. 1620; 11.1.1914, No. 22/3; 20.1.1914, No. 3016. und 22.1.1914, No. 3484; FREUNDLICH, Die Albanische Korrespondenz, 336; GOSLINGA, The Dutch in Albania, 228 und GURAKUQI, Principata e Shqipërisë, 111. 20 Staatsorganisation unterminierten: Sie stürzte Regierungschef Ismail Qemali und erteilte Pascha Esat Toptani die Vollmacht. Die Ereignisse begannen damit, dass Pascha Esat den Augenblick ausnutzte, als die IKK, die Großmächte und die PR in Vlora mit der Beseitigung des Putschversuches beschäftigt waren, um sein Machtgebiet, ausgehend aus Mittel-Albanien, in jede Richtung auszudehnen. Eines seiner Hauptziele war die Kontrolle der Stadt Elbasan, was – statt des bisherigen, seit August andauernden kalten Krieges – zu einem offenen Bürgerkrieg zwischen Qemali und Esat führte. Der Putschversuch, der von Aga Beqir geleitet wurde und die Tatsache, dass Ismail Qemali im Konflikt um Elbasan die IKK umging beziehungsweise gegen deren Willen erneut zu politisieren begann, bot der Kommission eine hervorragende Möglichkeit, mit der Neutralisierung der albanischen Machtzentren zu beginnen.59 Selbst Qemali fühlte, dass seine Position endgültig unhaltbar geworden war. Praktisch blieben ihm keine innenpolitischen Verbündeten und der Putschversuch kompromittierte ihn auch vor der Außenwelt. Zwar unternahm er zwischen dem 9. und 11. Januar alles, um vor der IKK seine Loyalität und sein Engagement für die Großmächte unter Beweis zu stellen, aber die Kommissare bestanden auf seiner Abdankung.60 Die Annahme diese Abdankung erwies sich jedoch als bei weitem nicht so einfach. Zur Lenkung des Staates war nämlich auch eine aus Albanern bestehende Verwaltung notwendig. Zudem betraf diese Frage auch das Verhältnis der Großmächte untereinander, denn es bestanden große Meinungsunterschiede über die albanischen Vorstellungen der Großmacht-Regierungen. Letzteres bedeutete, dass die Entente-Mächte die Regierung Albaniens nicht in die Hände der Adria-Mächte kommen lassen wollten, während der Ballhausplatz sich nur schwer mit dem Gedanken anfreundete, dass die IKK auch Regierungsaufgaben versehen sollte.61 Schließlich sah der österreichisch-ungarische Außenminister Leopold Berchtold ein, dass es in der gegebenen Situation notwendig war, die Regierung Albaniens in die Hände der IKK zu übergeben. Er stellte jedoch diesbezüglich noch Bedingungen. Der Vorschlag 59 THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.122. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Valona, 16.1.1914, Nr. 55, 345 und Nr. 14.126. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Valona, 24.1.1914, Nr. 90, 350–351. 60 THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.122. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Valona, 16.1.1914, Nr. 55, 347; FREUNDLICH, Die Albanische Korrespondenz, 281 und 289. 61 GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the Eve of War, No.106. Privatbrief von de Bunsen an Nicolson, Wien, 16.1.1914, 90–91. 21 Berchtolds war, dass die IKK nur bis zum allernotwendigsten Maße Regierungsentscheidungen treffen sollte, beziehungsweise dass dies mit provisorischem Charakter zu verbinden wäre. Er schlug sogar vor, dass die Verwaltungsbeschlüsse der IKK nur bis zum Eintreffen von Fürst Wied wirksam bleiben sollten. Der Ballhausplatz konnte für seine Konzeption auch die Consulta gewinnen; die Kommissare der Entente akzeptierten die Vorschläge der Adria-Mächte.62 Bis zum Eintreffen von Fürst Wied gestalteten die Diplomaten folgendes Regierungs- und Verwaltungssystem: Sie übernahmen praktisch einen Teil der Minister aus der Provisorischen Regierung. Der Plan war, dass nach der Abdankung der PR, Bey Fejzi Alizoti, der Innenminister, mit der Beibehaltung jener Minister, die von den Kommissaren für zuverlässig befunden worden waren, die Arbeit nach dem von Qemali ausgearbeiteten System fortsetzen sollte. Es änderte sich nur so viel, dass die Regierung nunmehr als Generaldirektion bezeichnet wurde und die fünf beibehaltenen Ministerien Direktionen genannt wurden. (Damit wurden sinngemäß aus den Ministern Direktoren.) Damit kamen die bislang noch nicht besetzten Gebiete Süd-Albaniens unter die Verwaltungsmacht der IKK.63 Ismail Qemali und die erste Nationalregierung Albaniens reichten ihre Abdankung offiziell am 22. Januar 1914 ein. Die Macht des alten Politikers wurde formal von der IKK übernommen. Die Erklärung über die Abdankung wurde neben Qemali auch von den Vertretern der Großmächte in der IKK unterschrieben.64 Wenn man den Konflikt zwischen Qemali und der IKK im Nachhinein betrachtet, kann festgestellt werden, dass er tatsächlich nicht den idealen lokalen Politiker für die westlichen Diplomaten verkörperte. Aber von allen bedeutenden Machtzentren arbeitete er am meisten mit der IKK und den Großmächten zusammen. Zudem war Qemali der Einzige, der fähig war, die Machtambitionen von Pascha Esat Toptani nicht zu begrenzen, sondern gegebenenfalls auch zurückzudrängen. Qemali war der einzige albanische Politiker, der über diplomatische, parlamentarische und Regierungserfahrungen verfügte. Indem die IKK den Regierungschef stürzte, verhalf sie Pascha Esat praktisch zur vollständigen Macht. Wenn 62 ÖHHStA PA XIV/55/3, Instruktionen von Berchtold an Mérey nach Rom und an Petrović nach Vlora, Wien, 12.1.1914, Prot.Nr. 248–249. és 13.1.1914, Prot.Nr. 271–272 bzw. Telegramm von Mérey, Rom, 13.1.1914, No. 2094, GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the Eve of War, No.111. Bericht von Lamb an Grey, Valona, 22/31.1.1914, FO 4454/769/14/53 (No. 23), 96; THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.126. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Valona, 24.1.1914, Nr. 90, 350–351. 63 Carl BUCHBERGER: Erinnerungen aus meinen albanischen Jahren 1911–1914, Studia Albanica 10 (1973), 240 und LÖHR, Die albanische Frage, 212. 64 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 148. 22.1.1914, Vlora, die Deklaration von Qemali über die Machtübergabe, 567–568. 22 Albanien keine weiteren Probleme zu bewältigen gehabt hätte, hätte diese Tatsache an sich zur völligen Destabilisierung der Funktionen des Landes und der staatsschaffenden Bemühungen der Großmächte ausgereicht. Nach dem missglückten Putschversuch wollte ein Teil der IKK-Kommissare neben Ismail Qemali auch Pascha Esat loswerden. Obwohl Esat ständig Treuebekenntnisse abgab und bemüht war, seine Loyalität zum Ausdruck zu bringen, wurde während der Zusammenstöße von Elbasan offensichtlich, dass er seine eigene Macht ausbauen wollte. Wenn es ein außenpolitisches Ziel gab, dem er diente, dann war dies die Thronbesteigung eines muslimischen Fürsten. Die britischen und deutschen Mitglieder der IKK hielten ihn deswegen für einen noch gefährlicheren Politiker als Qemali.65 Es stellte sich aber früh heraus, dass er nicht so leicht beiseitegeschoben werden konnte, wie der Regierungschef aus Vlora. In Mittel-Albanien hatte die IKK keine Machtinstrumente, Pascha Esat Toptani hatte jedoch eine sehr starke Armee. Als die Kommission erkannte, dass Pascha Esat weder mit Gewalt noch mit politischen Mitteln zu besiegen war, unterbreiteten Lamb und Nadolny, der Winckel vertrat, einen neuen Vorschlag: Pascha Esat müsse aus Mittel-Albanien vorläufig entfernt werden, und während seiner Abwesenheit muss die IKK ihre Hoheit auch auf Mittel-Albanien ausdehnen und das Prestige des Paschas in der lokalen Bevölkerung zerstören.66 Der Vorschlag von Lamb und Nadolny wurde von den Kommissaren der IKK mit Erleichterung aufgenommen. Vor allem auch deswegen, weil Pascha Esat, nachdem er vom Sturz seines Rivalen, Ismail Qemali erfahren hatte, seine Truppen zurückrief und sich kompromissbereit zeigte.67 Die IKK-Kommissare beschlossen, mit dem einflussreichen 65 THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.110. Bericht von Mutius, Konstantinopel, 9.1.1914, Nr. 9, 335; Nr. 14.112. Bericht von Tschirschky, Wien, 12.1.1914, Nr. 8, 336 und Nr. 14.122. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Valona, 16.1.1914, Nr. 55, 346; weiterhin GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the Eve of War, No. 107. Bericht von Lamb an E. Crowe, Valona, 17/23.1.1914, FO 3291/769/14/53, 92–93. 66 ÖHHStA PA XIV/59/15, Telegramm von Petrovic, Valona, 18.1.1914, No. 2739; GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the Eve of War, No.111. Bericht von Lamb an Grey, Valona, 22/31.1.1914, FO 4454/769/14/53 (No. 23), 96; DUKA, Dokumente britanike II/2, Nr. 61. Bericht von Lamb an E. Crowe, Vlora, 12.1.1914, 88; Dhimitër KOTINI (red.), Qeveria e Përkohëshme e Vlorës dhe veprimtaria e saj – nëndor 1912 – janar 1914. Tiranë 1963, Nr. 365–392. Klagen der Elbasaner Behörden über die Tätigkeit der Esatisten, 217.1.1914, 303–324; PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, 110; GURAKUQI, Principata e Shqipërisë, 112 und 115. 67 ÖHHStA PA XIV/59/15, Telegramm von Hornbostel, Durazzo, 24.1.1914, No. 39. 23 Pascha eine Übereinkunft zu finden. Sie akzeptierten die politische und militärische Macht von Esat als Realität und kürten ihn „zum Hauptvertreter der albanischen Einheit“.68 Zwischen dem 30. Januar und dem 4. Februar 1914 willigte der Pascha in seine Abdankung ein und akzeptierte, dass bis zur Ankunft von Fürst Wied das Land von der IKK verwaltet werden sollte. Die Bedingung dafür war, dass die albanische Delegation, die Wied die Krone im Namen des albanischen Volkes anbieten sollte, von Esat angeführt und dass die Regierung Mittel-Albaniens nicht mit der Verwaltung von Vlora vereinigt werden sollte. Stattdessen sollte Mittel-Albanien unter einer eigenständigen Generaldirektion organisiert werden, die bis zur Aufstellung der fürstlichen Regierung ihre Tätigkeit ausüben sollte.69 Das Protokoll, das am 4. Februar 1914 unterzeichnet wurde, bedeutete im Grunde den vollen Erfolg von Pascha Esat. Die Abmachung erreichte das Gegenteil dessen, was die beiden Delegierten im Sinn hatten. Das Land wurde mittelfristig dem ungebändigten Pascha in die Hände gespielt. Im Gegenzug erhielt die IKK praktisch nichts. Die Macht von Esat blieb nicht nur weiterhin bestehen, sondern konnte in allen Aspekten weiter zunehmen.70 Die Beqir-Frage hatte eine noch schwerwiegendere Folge. Die Zusammenarbeit der Großmächte in Albanien brach praktisch zusammen. Der gemeinsame Staatsaufbau, der infolge der Londoner Kompromisse begonnen worden war und das Pfand zum Frieden bedeutete, scheiterte praktisch schon im Januar 1914. Das Vertrauen unter den Großmächten schwankte bei der ersten kleineren außenpolitischen Herausforderung. Den Entente-Mächten war von Anfang an verdächtig, dass der Ballhausplatz am besten über den jungtürkischen Putschversuch informiert war. Die Reaktionen der österreichisch–ungarischen Behörden und die im Hintergrund laufenden Absprachen zwischen Wien und Rom legten nahe, dass die beiden Adria-Mächte, aber vor allem die Doppelmonarchie, die militärische Besetzung Albaniens vorbereiteten und die anderen Großmächte aus dem Vollzug der Londoner Beschlüsse ausschließen wollten. (Diese Möglichkeit wurde in Wien nicht einmal erwogen.) Der Briefwechsel zwischen dem russischen, französischen und britischen Außenministerium belegt eindeutig, dass die Entente-Mächte der Meinung waren, dass der Ballhausplatz mit der Vorbereitung der Thronbesteigung von Fürst Wied versuchte, seine eigene Macht auszubauen. Die Uneinigkeit 68 ÖHHStA PA XIV/55/3, Instruktion von Berchtold an Mérey nach Rom und an Petrović nach Vlora, Wien, 12.1.1914, Protokoll-Nr. 248–249; PUTO, Historia diplomatike, 196 und PUTO, Shqipëria politike, 122. 69 THIMME / LEPSIUS / MENDELSOHN BARTHOLDY (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.127. Bericht von Nadolny, Durazzo, 31.1.1914, Nr. 20, 351–352 und DUKA, Dokumente britanike II/2, Nr. 137. Bericht von Lamb an Grey, Durrës, 31.1.1914, Nr. 25, 156–158. 70 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, 111; KRAUSE, Das Problem, 290. und PUTO, Shqipëria politike, 122. 24 zwischen den Großmächten wurde auch dadurch geschürt, dass die Entente-Mächte den albanischen Staatsaufbau für ein vollkommen hoffnungsloses Unterfangen hielten. Petriajew, der jahrzehntelang auf dem Balkan, vor allem in Mazedonien gedient hatte, erstattete dem russischen Außenministerium Bericht, dass in Albanien ein Chaos herrsche, das er zuvor noch nie gesehen habe. Selbst der russische Außenminister Sasonow äußerte, das Beste wäre wohl, Albanien zwischen Serbien und Griechenland aufzuteilen oder an die Spitze der Gebiete einen osmanischen Gouverneur zu stellen.71 Die Vertrauenskrise wurde dadurch vollständig, dass sich wegen Albanien auch das Verhältnis zwischen Österreich–Ungarn und Italien zu verschlechtern begann. Selbst die Consulta wurde davon überrascht, um wie viel besser die Monarchie über den Putsch informiert war.72 IV. Die Internationale Kontrollkommission als höchstes Regierungsorgan Albaniens IV.1. Die Kompetenz-Veränderungen der IKK Die Amtsordnung und die Tätigkeit der IKK veränderten sich unvermeidlich dadurch, dass sie mit der Genehmigung der Großmächte unmittelbare Regierungsaufgaben auf sich nahm. Die IKK wurde vom Kontrollorgan zum Regierungsorgan.73 Mit dem Sturz von Ismail Qemali und der vorläufigen Beseitigung von Pascha Esat aus Albanien ging der Prozess des Staatsaufbaus gänzlich in den Kompetenzbereich der Kommissare über. Deswegen bedeutete die Zeit zwischen dem 12. Februar und dem 7. März 1914 eine ganz neue Periode im Leben der Kommission. Während dieser Zeit konnten sich die Delegierten von den Aufgaben, die ihnen ursprünglich in London vorgeschrieben worden waren, mit der Ausarbeitung der Verfassung gar nicht beschäftigen und auch die Kontrollfunktion wurde nur teilweise ausgeübt (sie hätten sich ja nun selbst kontrollieren müssen). Ebenfalls in den Hintergrund rückte die Aufsicht über die Organisierung der Gendarmerie. 71 GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the Eve of War, No.107. Bericht von Lamb an E. Crowe, Valona, 17/23.1.1914, FO 3291/769/14/53, 92–93; THIMME u. a. (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/1, Nr. 14.130. Bericht von Pourtalés an Bethmann Hollweg, Sankt Petersburg, 31.1.1914, Nr. 33, 353; STIEVE (Hg.), Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis, Bd. 3. Nr. 1236. Telegramm von Sasonoff an Benckendorff, Sankpetersburg, 7/20.1.1914, Nr. 57, 33. und DUKA, Dokumente britanike II/2, Nr. 61. Bericht von Lamb an E. Crowe, Vlora, 12.1.1914, 88–89. 72 PUTO, Shqipëria politike, 123. 73 PUTO, Historia diplomatike, 195. 25 Die IKK begann mit der Organisation des Staates zu einem Zeitpunkt, als die BeqirAffäre das Vertrauen zwischen den lokalen Vertretern der Großmächte zerrüttet hatte. Die sieben Diplomaten politisierten nach sieben Gesichtspunkten Die Entente geriet häufig mit dem Dreibund in Konflikt, die Adria-Mächte mit den anderen vier. Das Gravierendste war, dass sich zwischen Österreich–Ungarn und Italien Schritt für Schritt eine immer ernstere Spannung, teilweise wegen den abweichenden albanischen Interessen, entwickelte. Diese Spannung eskalierte in Albanien nur deswegen nicht, weil die Kommissare der anderen Großmächte diese bis zu einem gewissen Grad begrenzen konnten (auch wenn die Vertreter der Adria-Staaten bei den Sitzungen der IKK offen stritten). Trotzdem kann unter dem Strich festgestellt werden, dass die IKK ihre Funktionsfähigkeit trotz aller internen Spannungen behielt und fähig war, als Behörde aufzutreten.74 Es scheint, das Generaldirektorat, das von Fejzi Alizoti geführt wurde, konnte die Arbeit der Provisorischen Regierung von Vlora ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Zumindest sind keine Quellen über eventuelle ernsthaftere Proteste seitens der Beamtenschaft erhalten. Im Grunde musste nur die Frage geregelt werden, wie die IKK die Tätigkeit von Fejzi lenken und kontrollieren sollte. Die Großmacht-Delegierten änderten selbst im Februar nichts am System, dass die gesamte Beamtenschaft unter die Hoheit von Generaldirektor Fejzi Alizoti beziehungsweise der einzelnen Direktoren gestellt war. Sie hatten nur den Anspruch, den Generaldirektor und die Direktoren zu ernennen und ihre Maßnahmen zu genehmigen. Veränderungen in der Organisation gab es nur dadurch, dass die Kommissare genau festlegten, welche Direktionen notwendig waren. So gab es Direktionen für die Innenpolitik, für Finanzen, für Schulwesen, für Post und für Justiz. Die Vertreter der einzelnen Ressorts erhielten alle einen zur Seite Sekretär gestellt. Wegen den Regierungsaufgaben hielten es die Kommissare für effizienter, die Gebiete des Staatsaufbaus untereinander aufzuteilen und die einzelnen Teilgebiete immer zu zweit zu beaufsichtigen. Die Verwaltungsaufgaben erhielten Petrović und Nadolny (Österreich–Ungarn und Deutschland). Die Justizfragen kamen an Leoni und Petriajew (Italien und Russland) Die Finanzen überwachten Krajewski und Lamb (Frankreich und Großbritannien). Diese Möglichkeit zur Sammlung neuer Erfahrungen erschien im Hinblick 74 THIMME u. a.(Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/2, Nr. 14.429. Bericht von Winckel an Bethmann Hollweg, Valona, 25.3.1914, 618 und Nr. 14.425. Privatbrief von Nadolny an Neurath, Skutari, 19.2.1914, 614–615; bzw. KEMAL, The Memoirs, 497. 26 auf die kommenden Aufgaben der Erstellung einer Verfassung als besonders vielversprechend.75 Die Kommissare wollten jedoch in der Übernahme der Regierungsaufgaben nicht nur eine passive Überwachungsrolle spielen. In den wirklich entscheidenden Fragen wollten sie persönlich die Entscheidung treffen. So war unter anderem eine politische Entscheidung, dass sich die Verwaltung der IKK in den Londoner Rahmen ständig erweitern sollte. Ebenso erwiesen sich einige Verfügungen über das Alltagsleben einzelner Konfessionen als politische Entscheidung. Ein solcher Fall war zum Beispiel, als der „Ober-Kadi“ der IKK anzeigte, dass zahlreiche Verwaltungszentren keine eigenen Kadis hätten und die Muftis deswegen gezwungen waren sich auch mit Religionsproblemen zu befassen. Der Ober-Kadi schlug vor, dass die IKK neue Kadis ernennen sollte (damit hätte die IKK also die diesbezügliche Dispositionsbefugnis des Osmanischen Reiches fortsetzen sollen). Die Kommission bewilligte den Antrag.76 Von den einzelnen Unterkommissionen war die aktivste die Finanzunterkommission von Krajewski und Lamb. Der französische und der britische Delegierte begannen ihre Arbeit besonders energisch, um endlich korrekte Daten über die Einnahmen und Ausgaben des Landes erhalten zu können. (Dies bedeutet, dass die Finanzkontrollen des Jahres 1913 von den einzelnen albanischen Machtzentren erfolgreich behindert wurden.) Das Ziel war festzustellen, ob die Einnahmen des albanischen Staates zur Ausführung der Staatsaufgaben ausreichten. Neben der Aufstellung der Finanzbilanz war ein anderes Ziel, im Nachhinein eine wahre Bilanz über die Einnahmen und Ausgaben der Qemali- und Esat-Regierungen aufzustellen. Zum Erreichen dieser Ziele musste mit Sicherheit auch die Hilfe von lokalen Beamten in Anspruch genommen werden. Lamb und Krajewski überwachten die Lage der Finanzen von Vlora (also SüdAlbaniens) persönlich. Dies war nicht nur wegen der Beseitigung von Qemali einfacher zu bewerkstelligen, sondern auch, weil sich die Beamtenschaft unter Fejzi durchwegs als kooperationsbereit erwies. Als Ergebnis der Untersuchung wurde am 3. März 1914 festgestellt, dass die Zölle von Vlora zwischen dem 24. April 1913 (also dem Ende der griechischen Blockade) und dem 23. Februar 1914 insgesamt einen Gewinn von 2.370.682 Piaster erbracht hatten. Nachdem die IKK einen Teil der bestehenden Schulden der PR 75 FREUNDLICH, Die Albanische Korrespondenz, 13.2.1914, 326. PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 134. Seanza e Gjashtëdhjetegjashtë, Vlora, 23.2.1914, 537; Dok.Nr. 138. Seanza e Shtatëdhjetë, Vlora, 2.3.1914, 548. und Dok.Nr. 136. Seanza e Gjashtëdhjetetetë, Vlora, 26.2.1914, 544. 76 27 bezahlt hatte, blieben aus dieser Summe am 26. Januar noch insgesamt 165.846 Piaster in der Kasse von Vlora. Wegen der Beqir-Affäre und der Ablehnung von Qemali unter den südalbanischen Bey- und Aristokraten-Familien konnten mehrere Steuerarten nicht eingetrieben werden. Dies bedeutete laut der Rechnung von Krajewski einen Verlust von etwa 8.000 türkischen Lire.77 Die Kontrolle der Rechnungen aus Durrës (also Mittel-Albanien) führte zu einem ähnlichen Ergebnis. Der erste Bericht Krajewskis vom 11. Februar 1914 war noch sehr optimistisch, da er prognostizierte, dass wegen der Einnahmen der Hafenstadt zu Beginn des Monats März etwa 200.000 Franken in der Kasse der IKK vorzufinden sein würden. Stattdessen stellte sich heraus, dass auch der Senat von Esat eine riesige Schuldenlast hinterließ. Deswegen verfügte die Kommission hier am 23. Februar nur über 18.000 Piaster.78 Alleine die Monatsbedürfnisse der Gendarmerie betrugen jedoch 234.437 Franken. Diese Summe konnte aus den Einnahmen von Vlora, Durrës und Shkodra nicht gedeckt werden.79 Zudem mussten auch die Staatsbeamten bezahlt werden. Gerichtssystem und das Schulnetzwerk mussten erst noch ausgebaut werden. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Einnahmen Albaniens überhaupt nicht ausreichend waren, um die Staatstätigkeit zu finanzieren. Deswegen konnte die Finanzpolitik der Diplomaten nichts anderes sein, als der Versuch die Staatskosten drastisch zu senken. Die veränderten Machtverhältnisse hatten auch eine weitere finanzielle Folge. Die Osmanische Direktion für Staatsschulden, die Dette Ottoman Publique, wandte sich mit ihren Bitten fortan anstelle der albanischen Machtzentren an die IKK. Die Direktion für Schuldenverwaltung (Düyun-u Umumiye-i Osmaniye Varidat-ı Muhassasa İdaresi) entstand im Jahre 1881, um die Schulden des Staates, die gegenüber den Großmächten zur Abwendung des Staatsbankrotts bestanden, zu behandeln. Die Direktion stand unter internationaler Aufsicht und hatte mehrere Hundert internationale Angestellte. Sie verfügte über einen eigenen Apparat und über eigene Steuereintreiber, auf die die 77 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 128. Seanza e Gjashtëdhjetë, Vlora, 28.1.1914, 525–527. 78 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 130. Seanza e Gjashtëdhjetedytë, Vlora, 11.2.1914, 529. und Dok.Nr. 134. Seanza e Gjashtëdhjetegjashtë, Vlora, 23.2.1914, 536–538. 79 Über die Einnahmen und über die Finanzbilanz siehe: PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 135. Seanza e Gjashtëdhjeteshtatë, Vlora, 24.2.1914, 538–541. und Dok.Nr. 137. Seanza e Gjashtëdhjetenëntë, Vlora, 28.2.1914, 544–547. 28 Staatsorgane keinen Einfluss hatten. Die Direktion besaß zahlreiche Staatsmonopole und war ein Staat im Staat.80 Mit der Unabhängigkeit Albaniens ergaben sich zahlreiche Fragen hinsichtlich der Schuldenverwaltungsdirektion. Da aus der Sicht der Großmächte alle Balkan-Staaten (auch die christlichen) als Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches galten, mussten alle einen Teil der osmanischen Staatsschulden übernehmen. Zur Tilgung dieser Schulden mussten die Nachfolgestaaten genehmigen, dass die Steuereintreiber der Staatsschuldendirektion ihre Tätigkeit provisorisch auch auf den neuen Staatsgebieten weiterführten. Die Direktion wandte sich am 5. Januar 1914 an die IKK, damit ihre Beamten nach Lezha und Shëngjin zurückkehren und ihre Tätigkeit fortsetzen konnten. Die Direktion hatte in den albanischen Häfen ein Salzmonopol. Die IKK verschob zu dieser Zeit jedoch die Besprechung der Frage wegen des jungtürkischen Putschversuches.81 Die Verwaltungsdirektion für Staatsschulden wiederholte die Bitte Ende Januar und erweiterte sie sogar um das Ersuchen, neue Steuern zur Rückzahlung der Kredite aus den Balkan-Kriegen erheben zu können. Die IKK entschied, Weisungen von den heimischen Vorgesetzten und auch von der Pariser Finanzkommission, die die Direktion für Schuldenverwaltung kontrollierte, darüber einzuholen, welche Beziehung Albanien zur Verwaltungsdirektion für Staatsschulden haben sollte. Dies war auch im Hinblick auf den zukünftigen Verfassungsplan wichtig.82 IV.2. Die Beziehung der IKK zu Mittel- und Süd-Albanien Nach der Beseitigung von Ismail Qemali und Esat Toptani glaubte die IKK, freie Hand auf dem Gebiet der Staatsorganisation erhalten zu haben. Sie hielt nämlich die Zersplitterung des Landes in autonome Verwaltungsbezirke für eines der Haupthindernisse. Nachdem die internationale Verwaltung in Shkodra ihren Einfluss mittlerweile erfolgreich auf die anderen nord-albanischen Hafenstädte (Lezha und Shëngjin) ausgeweitet hatte, blieb praktisch nur ein traditionelles Machtzentrum, das an den Ereignissen von 1913 entscheidend teilnahm: Die Stammesgebiete des Mirditen-Stammeschefs Prenk Bib Doda. Angesichts der Tatsache, dass die Region Mirdita geostrategisch gesehen keine Schlüsselpositionen in Albanien besaß, 80 Gábor DEMETER, Fejezetek a Balkán-félsziget és a Török Birodalom gazdaság- és társadalomtörténetőből (a 18.sz. végétől a 20.sz. közepéig). II. k. (Szerbia, Török Birodalom). Budapest 2014, 328–330. 81 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 112. Seanza e Dyzetekatërt, Vlora, 5.1.1914, 501– 502. 82 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 129. Seanza e Gjashtëdhjetenjëtë, Vlora, 29.1.1914, 527–528. 29 wurde die Notwendigkeit der Beseitigung von Doda in der IKK gar nicht erst thematisiert. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Bestrebungen der IKK zur Liquidierung der selbständigen albanischen Machtzentren scheinbar erfolgreich gewesen waren.83 Der Erfolg war deswegen nur ein scheinbarer, weil man nur die führenden Politiker der einzelnen Machtzentren beseitigen konnte. Der albanische Beamtenstab, der die Machtzentren eigentlich betrieb und auch gewisse Politiker blieben in ihren Positionen (Pascha Aqif in Elbasan, Fejzi Alizoti usw.). Dieser Beamtenstab akzeptierte die Autorität der IKK. Die Kommission war unter den Albanern jedoch nicht beliebt, unter anderem deswegen nicht, weil ihre Präsenz gegen die Unabhängigkeit sprach. Aber infolge des Fehlens einer anderen Autorität wurde die Kommission als Regierungsorgan mit landesweiter Bedeutung provisorisch bis zum Eintreffen des Fürsten anerkannt. Man kann sogar die Aussage wagen, dass mit der Beseitigung der führenden Politiker die IKK an Ansehen gewonnen hat. Aus Sicht der Weiterführung des Staatsausbaus und der Nationsbildung hatte die Frage, welche Beziehung die IKK, die die Staatlichkeit repräsentierte, zu den lokalen Notabeln verwirklichen konnte, eine Schlüsselrolle. Die Beziehung der lokalen albanischen Nobelmänner zur IKK war gleichzeitig ihre Beziehung zur Staatlichkeit. Von der Entwicklung dieser Beziehung hing ab, inwiefern die albanischen Notabeln an den Aufgaben der Staatsorganisation teilnehmen wollten, konnten und würden. Eine offene Frage war ebenfalls, inwiefern die Expansion des Staates alle Gesellschaftsschichten des Landes und die geographischen Peripherien erreichen können würde. Anders gesagt, inwiefern der Staat seine Präsenz auch physisch innerhalb der Grenzen von London würde manifestieren können. Zuletzt blieb die Frage, wie nach dem Ausbau des Staatsapparats weitere Schlüsselprobleme angegangen werden würden, etwa das Problem der Zentralisation-Dezentralisation, der Trennung der Amtskompetenzen, des Sprachgebrauchs, der Regelungen unter den Konfessionen usw. Diese Fragen konnten bis zur Ankunft von Fürst Wied mit Sicherheit nicht gelöst werden, aber mit einer geschickten Politikgestaltung konnte die IKK den Boden für den Staatsausbau von Wied vorbereiten. Das notwendige Vertrauen seitens der lokalen Bevölkerung war gegeben. Anhand der Quellen scheint es aber im Nachhinein, als ob die albanischen Notabeln die Regierung der IKK als eine provisorische Lösung ansahen. Sie setzten ihre Hoffnungen auf den zukünftigen Fürsten, Wilhelm von Wied.84 83 PUTO, Historia diplomatike, 196. Konrad CLEWING, Staatlichkeit und nationale Identitätsbildung: Dalmatien in Vormärz und Revolution. München 2001, 13. 84 30 Bevor Pascha Esat an der Spitze der von ihm geleiteten Delegation Albanien verließ, übergab er am 12. Februar 1914 in Durrës auch formal die Macht. Im Sinne der Abmachung mit dem Pascha hat die IKK die Verwaltung der mittel-albanischen Gebiete nicht mit der Administration von Vlora unter Bey Fejzi zusammengelegt, sondern separat organisiert. Die Residenzstadt Mittel-Albaniens blieb weiterhin Durrës. An die Spitze der regionalen Verwaltung Mittel-Albaniens wählte die IKK den einstigen Finanzminister der Provisorischen Regierung, Pascha Aziz Vrioni.85 Zu Beginn gab es nicht viele Veränderungen in der mittel-albanischen Amtsstruktur. Der von Esat geschaffene, aus Notabeln rekrutierte Senat blieb weiterhin bestehen, aber er hatte nunmehr keine Regierungs-, sondern nur noch Ratgeber-Funktionen. Da im Sinne des Protokolls vom 4. Februar die IKK die Rechnungslegung von Pascha Esat akzeptierte, gab es in Durrës keine solchen finanziellen Untersuchungen oder Konzessionsermittlungen, wie in Vlora. Hier musste im Grunde nur die Struktur der Einnahmen rationalisiert werden. Im Februar 1914 schien es, als ob die Einnahmen von Durrës im Großen und Ganzen die Ausgaben der lokalen Verwaltung decken würden.86 Ursprünglich hatte die IKK zwar nicht geplant, dass unter dem Generaldirektor von Durrës ein Staatsapparat ähnlich dem von Vlora ausgebaut werden würde, aber auf Ersuchen von Aziz Vrioni wurden am 18. Februar auch hier die einzelnen Direktorate organisiert. In Durrës wurden folgende (Spitzen-) Direktorate aufgestellt: Die Finanzdirektion (die die Postund Fernmeldeangelegenheiten und das Zollamt beinhaltete), an deren Spitze Efendi Nezir, der frühere Kaymakam von Ioannina, ernannt wurde. Die Direktion für Justiz- und Bildungswesen, an deren Spitze Efendi Mazhar aus Gjirokastra kam. Den für öffentliche Fragen zuständigen Beamten war der (orthodoxe) „Ingenieur Logori“ aus Korça, während der frühere Polizeioffizier Bey Hajdar aus Istanbul der Leiter der Polizei wurde. Diese Spitzenbeamten stammten alle ausnahmslos aus Süd-Albanien. Es gelang Aziz Vrioni, um die daraus resultierenden Spannungen zu mildern, auch Mehdi Bej Frashëri, der früher stark von Pascha Esat gefördert worden war, eine bedeutende Position zu sichern: Er wurde Mutesarif der Stadt Durrës.87 85 ÖHHStA PA XIV/59/18, Telegramme von Hornbostel, Durazzo, 12.2.1914, No. 13? (Nr.46.) und 13.2.1914, No. 1557; GOOCH / TEMPERLEY, The Near and the Middle East on the Eve of War, No.113. Bericht von Lamb an Grey, Valona, 12/28.2.1914, FO 7402/146/14/53 (No. 36.), 99–100 und PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 130. Seanza e Gjashtëdhjetedytë, Vlora, 11.2.1914, 529. 86 ÖHHStA PA XIV/59/18, Telegramm von Hornbostel, Durazzo, 13.2.1914, No. 1557. 87 ÖHHStA PA XIV/59/18, Bericht von Petrovic an Berchtold, Valona, 18.2.1914, No. 35/P; bzw. PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 134. Seanza e Gjashtëdhjetegjashtë, Vlora, 23.2.1914, 537. und Dok.Nr. 136. Seanza e Gjashtëdhjetetetë, Vlora, 26.2.1914, 544. 31 V. Die Monate der sogenannten „Doppelmacht“ Der März des Jahres 1914 brachte erneut eine ernsthafte Wende im Leben der IKK. Am 7. März kam in Durrës endlich der von den Albanern lang erwartete neue Fürst, der Deutsche Wilhelm von Wied an. Am 19. März ernannte der Herrscher seine erste Regierung. Die Ankunft des Fürsten und die Aufstellung der Regierung zwangen die IKK wieder zur Neubewertung ihrer Rolle und Aufgaben. Die Notwendigkeit der Machtübergabe wurde weder von den Regierungen der Großmächte, noch von den Delegierten in Frage gestellt. Seitens der Entente-Mächte wollte man vorher die meiste albanische Macht in den Händen der IKK konzentrieren, damit der Fürst diese so einfach wie möglich nach seiner Ankunft übernehmen könnte. Das heißt, er sollte seine Herrschaft nicht damit beginnen müssen, den Widerstand der albanischen Machtzentren zu brechen. Mit dem Sturz von Qemali und der „Gewinnung“ Esats dachten die Entente-Mächte die wichtigsten Hindernisse für die Machtübernahme Wieds aus dem Weg geräumt zu haben.88 Der ankommende Herrscher wurde im Hafen von Durrës von der IKK begrüßt. Die Kommissare übergaben in ihrer feierlichen Rede auch offiziell die Regierungsmacht. Zum ersten persönlichen Treffen zwischen der IKK und Wied kam es am 9. März, als die Diplomaten detailliert über die allgemeine Situation Albaniens, über die Finanzlage, über die Frage von Epirus, über die aktuelle Lage der Gendarmerie und über die dringendsten Aufgaben berichteten.89 Eine der wichtigsten Folgen der Ankunft des Fürsten und der Regierungsbildung im Leben der IKK war die bedeutende Veränderung des Personalstandes. Der Personalwechsel von geringerer Bedeutung war, dass Myfit Bey Libohova am 17. März 1914 Mitglied der langersehnten neuen Landesverwaltung, der ersten Regierung von Fürst Wied wurde. Seine Position als albanischer Kommissar übernahm in der IKK Mehdi Bej Frashëri. Eine viel größere Veränderung als die Wahl des neuen albanischen Vertreters bedeutete die Abberufung des „k.u.k. öst.-ung. Kommissars bei der Internationalen Kontrollkommission für Albanien“, Aristoteles Petrović. Unmittelbar bevor Fürst Wied in 88 STIEVE (Hg.), Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis, Bd. 4., Nr. 1214. Brief von Iswolski an Sasonoff, Paris, 25.12/7.1.1913, Nr. 619, 18–19 und DUKA, Dokumente britanike II/2, Nr.184. Brief von Grey an F. Bertie, London, 18.2.1914, Nr. 89, 192. 89 ÖHHStA PA XIV/52/1, Telegramm von Mayrhauser, Valona, 1.3.1914, No. 123; ebenda XIV/53/1, Telegramm von Hornbostel, Durazzo, 9.3.1914, No. 1110 und THIMME u. a.(Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/2, Nr. 14.423. Bericht von Pourtalés an Bethmann Hollweg, Sankt Petersburg, 24.2.1914, Nr. 68, 610–611. 32 Durrës gelandet war, entschied Berchtold, dass er die Kommission an ihrer Tätigkeit nicht weiter durch die Entsendung eines nicht passenden Diplomaten hindern wollte. Er entschied sogar, die Tätigkeit der IKK so ernst wie möglich zu nehmen und delegierte deswegen (am 6. März 1914) auf den Posten des k. u. k. Vertreters jenen Albanienexperten, der am besten vorbereitet war, den früheren Generalkonsul von Shkodra und Saloniki, August Kral.90 V.1. Die Frage der sog. „Doppelmacht“ Arben Puto ist der Meinung, dass die IKK wegen der Ankunft Wieds und der Regierungsbildung nur verbal von der Regierung zurückgetreten und zur ursprünglichen Kontrollfunktion zurückgekehrt ist. Dadurch entstand Puto zufolge eine „Xenokratie” oder „Doppelmacht“ (dypushtet), was zum schwerwiegendsten Problem Albaniens in dieser Zeit wurde. Er erkennt jedoch an, dass die IKK gewisse Gründe für die Entscheidung hatte, die Regierungsmacht nicht gänzlich aufzugeben. Die Delegierten befürchteten nämlich in der zweiten Märzhälfte, dass Wied und seine Regierung nicht fähig sein würde, die Machtambitionen von Pascha Esat im Zaum zu halten. Falls diese beiden Parteien sich in Machtkämpfe verstricken sollten, würden nicht genügend Kräfte zur Verwaltung des Landes, zur Behandlung der Frage von Eprius usw. bleiben.91 Die Beziehung der IKK zu Wied wurde aus der Sicht des Fürsten bislang am detailliertesten von Eva Anne Frantz untersucht. Frantz ist der Ansicht, dass Wied sich zur Kontrollkommission distanziert verhalten hat.92 Anhand deutscher diplomatischer Quellen und der Daten des Wied-Familienarchivs meint die Historikerin, dass Wied die Voraussicht missfiel, dass die IKK zehn Jahre lang neben ihm Pate stehen würde. Der Fürst glaubte, und zwar zurecht, die IKK wolle weiterhin aktiv an den albanischen Regierungsfragen mitwirken. Er befürchtete, dass er in den Vertretern der IKK statt eines kooperierenden Organs einen weiteren innen- und außenpolitischen Rivalen erhielt. Die Situation wurde weiter dadurch erschwert, dass die Adria-Mächte eigene Ratgeber an die Seite von Wied delegierten, die eine Zusammenarbeit mit der IKK ebenfalls nicht forcierten. Damit schien ein Konflikt um die 90 ÖHHStA PA XIV/54/L/2, Instruktion von Berchtold an den österreichisch–ungarischen Botschafter, Wien, 1.5.1914, Prot-Nr. 2586–2591. 91 PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, 119; PUTO, Pavarësia shqiptare, 564. und 582–583; PUTO, Historia diplomatike, 208–214. 92 FRANTZ, Prinz Wilhelm zu Wied, 74-75 33 Kompetenzen unausweichlich.93 Wie es Wied selbst in seinen Memoiren formulierte: „Die I.K. war überhaupt eine höchst unglückselige Schöpfung.”94 Die IKK rechnete ihrerseits bereits im Januar damit, dass sich mit dem Fürsten und dessen Regierung Konflikte ergeben würden. Deswegen begann man schon damals mit Rücksprachen darüber, wie diesen vorgebeugt werden könnte. In diesen Absprachen konnte sich auch der Fürst konstruktiv einschalten. Anhand der publizierten Archivquellen formulierten sowohl die Mehrheit der Großmächte (Großbritannien, Deutschland, Österreich– Ungarn und Italien) als auch der Herrscher, dass die Befugnisse und Wirkungsbereiche der IKK die Hände des Monarchen zu sehr binden würden. Das Problem entstand aber nicht nur aus den Entscheidungen, die in London getroffen worden waren, sondern auch daraus, dass die IKK ihre Kontroll- und Verwaltungsmacht auch in der Praxis ausgebaut hatte. Somit war neben ihr der Spielraum Wieds begrenzt.95 Die Frage der Kompetenzabgrenzung ergab sich jedoch zu einem Zeitpunkt, als die „albanische Seite“ selbst unsicher war, was für sie wirklich gut wäre. Im April 1914 verschlechterte sich die allgemeine Lage des Landes weiter. Obwohl das Kabinett von Pascha Turkhan Përmeti bereits seit Wochen im Amt war, konnte es nicht wirklich regieren. Der wichtigste Grund dafür war, dass Pascha Esat Toptani seit der Regierungsbildung die Regierungstätigkeit sabotierte und immer offener am Ausbau seiner eigenen Macht arbeitete. Eines seines wichtigsten Bestrebens war, die Ordnungskräfte und Militäreinheiten des Landes als Verteidigungsminister auch praktisch unter seine eigene Befehlsgewalt zu stellen. Dies wurde jedoch mit Berufung auf die Londoner Beschlüsse von den niederländischen Offizieren missbilligt. Die von De Veer und Thomson angeführten holländischen GendarmerieKommandanten nahmen den Konflikt mit dem mächtigen Pascha immer offener auf sich, was für die Zukunft nichts Gutes verhieß. Die innenpolitischen Spannungen wurden weiter verschärft, da sich die Lage in Epirus im Verhältnis zum März weiter zuspitzte. Die christlichen Mitglieder der albanischen Regierung schlugen Ministerpräsident Pascha Turkhan Përmeti vor, die Kommissare der IKK nach Durrës einzuladen und sich mit ihnen in den wichtigsten Organisationsfragen abzusprechen. Sie sollten sogar, wenn sich dazu die Möglichkeit bot, in die allgemeinen 93 THOPIA, Das Fürstentum Albanien, 246 und 269; PUTO, Pavarësia shqiptare, 573–574, 580. und 583; bzw. FRANTZ, Prinz Wilhelm zu Wied, 74–75. 94 Prinz zu WIED, Fürst von Albanien, Denkschrift über Albanien. Berlin 1917, 14. 95 THIMME u. a. (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/2, Nr. 14.409. Bericht von Tschirscky an Jagow, Wien, 28.1.1914, Nr. 16, 599–600 und Nr. 14.419. Bericht von Lichnowsky an Bethmann Hollweg, London, 19.2.1914, Nr. 71, 607; weiterhin PUTO, Çështja shqiptare në aktet ndërkombëtare II, Dok.Nr. 141. Seanza e Shtatëdhjetetretë, Vlora, 19.3.1914, 553. 34 Regierungsaufgaben eingebunden werden. Letzteres wurde jedoch von Pascha Turkhan und seinen muslimischen Ministern strengstens opponiert. Der Fürst war selbst der Meinung, dass die IKK grundsätzlich die Grenzen ihrer Kompetenzen nicht überschreiten sollte.96 Einige Diplomaten der IKK (Winckel, Krajewski und Petriajew) bereiteten jedoch angesichts der nicht beschränkbaren Machtambitionen von Esat Toptani und infolge der Berichte der holländischen Offiziere gerade dies vor. Parallel dazu entstand ein bedeutender Streit innerhalb der IKK darüber, ob die Kommission neben den Finanzen auch die Verwaltung des Landes unter ihre Kontrolle ziehen sollte. Zwar beharrten die AdriaDelegierten zunächst auf einer reinen Finanzkontrolle, aber am 24. April sahen sie ein, dass auch „eine Verwaltungskontrolle zu einem gewissen Maße notwendig“ sei – soweit diese auf den Beschlüssen von London und auf der Verfassung gründeten.97 V.2. Das wichtigste Mittel der IKK gegenüber dem Fürsten und der albanischen Regierung: die Frage des albanischen Kredits Gleichzeitig mit der April-Runde der Kompetenzstreitigkeiten brach zwischen den beiden Parteien auch ein symbolischer Krieg aus der die Frage des albanischen Kredites betraf. Unabhängig davon, wie weit sich der Zuständigkeits- und Wirkungsbereich der IKK offiziell erstreckte, ermöglichten es die Position, die aus der finanziellen Kontrolle entstand, der Kommission, den Herrscher und seine Regierung zu verunglimpfen. Der Grund dafür war, dass die albanischen Regierung in der zweiten Märzhälfte ohne jegliche Mäßigung neue Ämter schuf und die Zahl ihrer Beamten, die recht hohe Gehälter erhielten, ständig steigerte. Und all dies ohne die Tragfähigkeit des Landes ermessen zu haben. Diese Situation wurde dadurch verschlimmert, dass man den hohen Gehaltsforderungen der niederländischen Offiziere und den übertriebenen Ausgaben der Verwaltung von Shkodra keine Schranken setzten konnte. Die IKK hielt dies für eine Angelegenheit, in der sie auf jeden Fall intervenieren musste. Die wichtigste Waffe der Kommissare war, dass man die Auszahlung der Großmachtkredite für Albanien zurückhielt.98 Diese Entscheidung hatte besonders schwerwiegende Folgen. Die Delegierten beraubten den Fürsten des einzigen Mittels, das er überhaupt zur Herstellung der Ordnung 96 THIMME u. a. (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/2, Nr. 14.435. Bericht von Winckel an Bethmann Hollweg, Valona, 10.4.1914, 628–629 und Nr. 14.438. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Durazzo, 21.4.1914, Nr. 40, 634–639. 97 ÖHHStA PA XIV/54/2, Telegramm von Mérey, Rom, 24.4.1914, No. 7/3 und Telegramm von Kral, Valona, 24.4.1914, No. 3583; weiterhin THIMME u. a. (Hgg.), Die Große Politik, Bd. 36/2, Nr. 14.438. Bericht von Nadolny an Bethmann Hollweg, Durazzo, 21.4.1914, Nr. 40, 634–639. 98 ÖHHStA PA XIV/58/10, Bericht von Kral an Berchtold, Valona, 26.3.1914, No. 62/P. 35 gehabt hätte. Der Herrscher war nicht in der Lage, seine bewaffneten Kräfte und Beamten zu bezahlen. Zudem hatte die IKK gar keine Rechtsgrundlage zur Zurückhaltung der ersten Rate des Kredites, denn der Adressat war nicht sie, sondern Wied. Die IKK hätte die Finanzen laut den Londoner Beschlüsse nur kontrollieren können und war zur Geldverteilung nicht ermächtigt. Die Wochen des Kampfes um den Kredit gaben jedoch Pascha Esat wertvolle Zeit, seine Macht ungestört auszubauen. Die IKK erwies sich in Finanzfragen nach der Ankunft von Fürst Wied gänzlich unflexibel und behandelte Albanien wie ein westeuropäisches Land. Für die Mehrheit der Diplomaten war die Maßregelung des Fürsten und seiner Regierung wichtiger, als die Durchführung der Vorhaben der Londoner Beschlüsse. Diese hätten immerhin die effiziente Staatsbildung als Ziel hochgehalten.99 Die ursprüngliche Summe des Großmächtekredites für Wied betrug 75 Millionen Franken. Da es über die Detailsfragen der Auszahlung von Anfang an starke Auseinandersetzungen gab, wurde bei den Adria-Mächten erwogen, nicht auf die anderen Großmächte zu warten, sondern ihren Anteil schon im Voraus an Wied auszuzahlen.100 Hinsichtlich der Überweisung wurde auf französischen Vorschlag schon im Januar 1914 erörtert, dass die Großmächte den Kredit nicht unmittelbar an den Fürsten, sondern an die IKK leisten sollten. Auf den französischen Vorschlag antwortete der italienische Außenminister San Giuliano, dass im Falle einer Überweisung der Gelder an die IKK „diese sicherlich nicht verlorengehen“. Dies würde aber auch bedeuten, dass der Fürst nicht frei mit ihnen disponieren könnte. Deswegen wäre es richtiger, die Hälfte der Summe von den Großmächten an die IKK, die andere Hälfte an den Herrscher zu senden.101 In der Kreditfrage formulierte der Ballhausplatz Mitte Januar seinen neuen Standpunkt. Der Kompromissvorschlag von Berchtold war aus der Kreditsumme von 75 Millionen Franken 20 Millionen so schnell wie möglich zugänglich zu machen. Die Hälfte dieser Summe sollte von den Großmächten ausdrücklich zur Unterstützung der Wirtschaftsinvestitionen bereitgestellt werden. Zur Unterstützung dieser Investitionen sollte die IKK einen konkreten Handlungsplan ausarbeiten. Die anderen 10 Millionen Franken sollten der albanischen Regierung zur Konsolidation des Staates übersandt werden. Den 99 BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit 1977, 288 und FRANTZ, Prinz Wilhelm zu Wied, 76. ÖHHStA PA XII/418/6e, Telegramm von Trauttmann, London, 24.12.1913, No. 3523; bzw. STIEVE (Hrsg.), Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis, Bd. 4, Nr. 1201. Bericht von Iswolski an Sasonoff, Paris, 20.12.1913/2.1.1914.1.2, 11–12 und Nr. 1215. Bericht von Iswolski an Sasonow, Paris, 25.12.1913/7.1.1914, 19–20. 101 ÖHHStA PA XIV/57/9, Telegramm von Mérey, Rom, 11.1.1914, No. 1795 und Telegramm von Berchtold an Szécsen, Wien, No. 15, 18.1.1914. 100 36 Vorstellungen des österreichisch–ungarischen Außenministers zufolge sollten aus dieser Summe die Ausgaben der Gendarmerie in den ersten zwei Jahren gedeckt und die Ämter, die sich mit den Staatseinnahmen beschäftigen sollten, organisiert werden. Die Bezahlung der Gendarmerie und die Organisation der Einnahmen stellte sich Berchtold neben der Kontrolle der IKK vor.102 Die französische Regierung übermittelte ihren Standpunkt am 25. Januar. Demgemäß war eine Bedingung der Auszahlung des Kredites, dass die Adria-Regierungen die Gesetzgebungsrechte der IKK sowohl in Verwaltungs-, als auch in Finanzfragen anerkannte. Dies bedeutete, dass nach der Ankunft Wieds die IKK das Recht gehabt hätte, Vorschläge zu unterbreiten, die Geldverteilung zu überwachen und die Verwaltung zu kontrollieren. Paris verband also mit der Frage des Kredites die Ausweitung der Kompetenzen der IKK.103 Berchtold war vom französischen Vorschlag verblüfft. Die Ausweitung der Kompetenzen der IKK, das heißt die Revision der Londoner Beschlüsse hielt er für vollkommen unakzeptabel. Nach der Ablehnung aus Wien machten die Franzosen einen Rückzieher hinsichtlich ihres Vorschlages über die IKK und signalisierten, sie seien sich im Klaren darüber, dass ein solcher Schritt den Spielraum Wieds im bedeutenden Maße einschränken würde. Gleichzeitig erkannten sie auch an, dass der Hintergrund ihres Vorschlages nichts anderes war, als dass Russland die albanischen Verhältnisse für so anarchistisch hielt, dass es die Ausweitung der Kompetenzen der IKK für unvermeidlich ansah.104 Über die Kompetenzerweiterung der IKK hinsichtlich der Finanzen wurde innerhalb des Ballhausplatzes fortdauernd beraten. Ende April akzeptierte Wien, dass jede staatliche Kreditaufnahme an die Genehmigung der IKK gebunden sein sollte. Selbst für andere Finanzmanöver (Ausgabe von Staatsanleihen, Devisenfragen) wurde dieses Prinzip akzeptiert. In diesen Angelegenheiten musste laut dem österreichisch–ungarischen Standpunkt kein einstimmiger Beschluss gefasst werden, es reichte aus, wenn fünf Kommissare dem Vorschlag zustimmten. Diese fünfköpfige Mehrheit sei zu folgenden Finanzfragen notwendig: Die Aufnahme von Krediten (aller Art), Verkauf von Staatseigentum, Verpfändung oder Vermietung von staatlichen Einnahmen und Monopolen, Ausgabe von Staatsanleihen; Maßnahmen der Währungspolitik. Der albanischen Regierung müsse jedoch hinsichtlich der 102 ÖHHStA PA XIV/57/9, Telegramm von Berchtold an Szécsen, Wien, No. 15, 18.1.1914. ÖHHStA PA XIV/57/9, Telegramm von Szécsen, Paris, 25.1.1914, No. 3591. 104 ÖHHStA PA XIV/57/9, Telegramm von Berchtold an Mérey, Wien, 26.1.1914, No. 99 und Telegramm von Szécsen, Paris, 28.1.1914, No. 3991. 103 37 Verwendung der Kredite freie Hand gegeben werden. Gleichzeitig hielt es der Ballhausplatz für akzeptabel, wenn die IKK auch die Verwaltung kontrollierte. Dies bedeutete, dass die Kompetenzerweiterung der Kommission letztendlich auch in Wien akzeptiert worden war.105 VI. Bilanz der ersten halbjährigen Tätigkeit der Internationalen Kontrollkommission Mit der Fertigstellung des Verfassungsentwurfes (10. April 1914) beziehungsweise mit der Konstituierung der Regierung des Fürsten sahen die Diplomaten der IKK jene Übergangsphase als beendet an, während der sie komplexe Regierungs- und Kontrollaufgaben versehen mussten. Als Abschluss dieser Übergangsperiode beschlossen sie, einen Bericht über ihre Tätigkeit in den vergangenen sechs Monaten zu verfassen und in einem Statut ihre Amtstätigkeit zu regulieren. Nachdem die IKK ihre Tätigkeit nicht in der Verfassung geregelt hatte, sollte das Statut (Règlement pour l’organisation de la Commission Internationale de Contrôle en Albanie et l’exercice de ses fonctions) dies nachzuholen. Ursprünglich gab es bei den Sitzungen der Kommission Streitigkeiten darüber, ob die Tätigkeit der IKK in der Verfassung geregelt werden sollte oder nicht. Leoni sprach sich dafür aus, dass dies unbedingt notwendig sei. Die Paragrafen über die Tätigkeit der Kommission müssten ein integraler Teil der Verfassung sein. Demgegenüber argumentierte Kral (wieder in einem der Grundsatzfragen des italienisch–österreichisch-ungarischen Gegensatzes), dass die IKK ein provisorisches Organ sei und ihr Statut deswegen von der Verfassung getrennt werden müsste. Die Ansichten des österreichisch–ungarischen Vertreters wurden zuerst von Deutschland, dann auch von den Delegierten der Entente akzeptiert. So entstand das selbständige Kommissionsstatut.106 Das Statut, das von Petriajew und Leoni zusammengestellt wurde,107 bestand aus zwei Teilen: Die neun Punkte des ersten Teils regelten die innere Struktur der IKK (A. Organisation de la commission: 1-9.), während die weiteren sechs Punkte (B. Exercise du 105 ÖHHStA PA XIV/54/2, Erlass von Ippen an Mérey (Reaktion auf das Telegramm von Kral No. 3583), 29.4.1914, Nr. 1881. 106 ÖHHStA PA XIV/54/L/2, Bericht von Kral an Berchtold, Valona, 18.4.1914, No. 76/P. 107 DUKA, Dokumente britanike II/3, Nr.84. Bericht von Lamb an Grey, Durrës, 3.5.1914, Nr. 94, 404. 38 contrôle: 10-15.) die Modalitäten der Kontrolle über Albanien definierten. Die Punkte wurden in Anlehnung an die Prinzipen des Londoner Statutes erstellt.108 Die IKK plante die Kontrolle der Tätigkeit Albaniens auf folgende Art und Weise: Die Kommission wacht über der konstitutionellen Ordnung, über die Durchführung und Änderung der Verfassung. Sie warnt die albanische Regierung, wenn diese von den Verfassungsregeln abweichen sollte (10.) Die IKK empfängt Ersuche und vollzieht die notwendigen Schritte. Wenn sie es als notwendig erachtet, kann sie auch unmittelbare Untersuchungen durchführen (11.). Das albanische Staatsbudget wird von der Kommission kontrolliert, genehmigt und – erforderlichenfalls – modifiziert; die albanische Regierung hat über den aktuellen Stand des Budgets monatlich zu berichten (12.). In Anbetracht der Einnahmen, die im Staatsbudget erscheinen, genehmigt die IKK auf Ersuchen der albanischen Regierung den Abzug der ersuchten Summen aus den außerordentlichen Fonds (das heißt den internationalen Krediten) nach der Beurteilung der Ersuchen. Die IKK teilt die Erlaubnis in der Form einer Sondergenehmigung der albanischen Regierung mit, die von einem Kommissionsmitglied und dem Kommissionpräsidenten unterzeichnet wird (13.). (Dies bedeutete, dass die IKK genehmigte, welche Summen genau von der Regierung aus den internationalen Krediten für welche Zwecke aufgewandt werden durften.) Die Genehmigung der Kreditaufnahmen wird von der Kommission alle sechs Monate erteilt (14.). Die IKK behält sich das Recht vor, innerhalb des Budgetjahres hinsichtlich des Staatsbudgets die als notwendig erachteten Teildaten anzufordern, um die aktuelle Finanzlage des Landes (Ausgaben und Einnahmen) ständig klar überblicken zu können (15.). Das Statut bezeugt, dass die sechs Großmächte Albanien als gemeinsames Protektorat behandelten. Zwar gab es eine Verfassung, aber über diese wachten nicht der Fürst oder das Parlament, sondern die Großmächte. Laut Punkt 5 und 9 wollte die IKK zudem selbst jenen, nie genau definierten, praktischen, innenpolitischen Wirkungsbereich aufgeben, den sie sich im Herbst des Jahres 1913 angeeignet hatte. Wenn man die Zeit der doppelten Macht analysiert, kann festgestellt werden, dass die IKK zwar nur zur Kontrolle der Staatsfinanzen und der Verwaltung ein Mandat von den Großmächten erhielt, sie aber ihre Tätigkeitsbereiche nicht auf diese beschränkte. Bylykbashi zufolge vermehrten die Kommissare ihre Kompetenzen in den ersten Monaten des Jahres 108 ÖHHStA PA XIV/54/L/2, Bericht von Kral an Berchtold, Valona, 30.4.1914, No. 93/P, Beilag: Règlement pour l’organisation de la Commission Internationale de Contrôle en Albanie et l’exercice de ses fonctions und DUKA, Dokumente britanike II/3, Nr.84. Bericht von Lamb an Grey, Durrës, 3.5.1914, Nr. 94, 406–407. 39 1914 weiter auf Kosten des albanischen Staates.109 Diese Aussage ist jedoch übertrieben. Es kann viel mehr festgestellt werden, dass die IKK bis zum 7. März ihre ausgebauten Machtpositionen bewahrte und sich nur dort einmischte, wo sie den Staat als zu schwach beurteilte. Ebenfalls wichtig erscheint, dass diese „Eingriffe“ gerade Albanien, oder besser gesagt, dem Ziel der Staatsbildung dienten: Die Diplomaten traten entweder in Süd-Albanien gegen die griechischen/epirotischen Politiker und bewaffneten Gruppen, oder zur Beschränkung von Pascha Esat auf. Die wichtigste Charakteristik der ersten Frühlingsmonate war, dass sich die Arbeitsbeziehung der Kommissare weiter verschlechterte und die IKK zu Beginn des Monats Mai die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit erreichte. Die Gegensätze der Großmächte (der italienisch–österreichisch-ungarische Konflikt und der Gegensatz zwischen der Entente und des Dreibundes) konnten kaum noch vor Ort behandelt werden. Es hat trotz alledem den Anschein, dass diese Wochen eine Zeit des Optimismus und des Erfolges waren. Einerseits konnte sich die IKK bei den Albanern etwas Ansehen als Regierungsorgan sichern. Die Tatsache, dass man durch Bey Fejzi und durch Aziz Vrioni eine eigene Verwaltung für Süd- und Mittel-Albanien beibehielt, beziehungsweise dass man Albanien mithilfe von albanischen Beamten verwaltete, bedeutete noch nicht, dass die Albaner auch langfristig eine fremde Lenkung über ihr Land akzeptiert hätten. Die aktive Präsenz der IKK wurde von den Albanern als ein Kompromiss angenommen. Dies an sich war aber schon ein bedeutendes Ergebnis. Die gemeinsame Politikgestaltung der Großmächte und der unabhängige albanische Staat scheiterten aber gerade in diesem Augenblick. Pascha Esat wurde von niederländischen Offizieren verhaftet, in Mittel-Albanien brach ein Aufstand gegen die Macht von Fürst Wied aus und die griechischen bzw. epirotischen Truppen dehnten die Grenzen der unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete erfolgreich weiter aus. Die Macht des Fürsten brach Anfang Juni zusammen, die IKK wurde erzwungenermaßen erneut zum höchsten Regierungsorgan Albaniens. Im Sommer 1914 bestanden überhaupt keine Chancen mehr darauf, dass die Kommissare den Aufstand, der den Staat destabilisierte, und die Frage von Epirus lösen könnten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete dann das Ende dieser ersten bedeutenden Epoche der albanischen Staatsbildung. 109 BYLYKBASHI, Komisioni Ndërkombëtar i Kontrollit 1978, 248. 40 Aufgrund unserer heutigen Kenntnisse ist es im Augenblick nicht möglich, über die Staatbildungstätigkeit der IKK eine ausführlichere Bilanz zu ziehen. Einen genauen Überblick zu bekommen, sind die folgenden Probleme zu untersuchen: der Gründungsversuch einer Albanischen Nationalbank 1913–1914; die Ausarbeitung und Fertigstellung des Verfassungsentwurfes; die Geschichte der albanischen Gendarmerie 1913–1914; was für eine Rolle spielte die IKK in der sog. Epirus-Frage, bzw. die Beziehungen zwischen der IKK und der albanischen Regierung von Pascha Turkhan Përmeti (1914). Sobald diese Fragen geklärt sein werden, wird es auch möglich, die Albanienpolitik der Grossmächte 1912–1914 in die historische Vergangenheit der humanitären Interventionen einzubauen. Abstract The Albanian International Commission of Control and the Albanian power centres (1913–1914) – Contribution to the history of the state-building process in Albania The best guarantee of protecting the rights of Christian minorities on the European territory of the Ottoman Empire in the late 19th century was nothing else, but the establishing of own nation-states, where the Christian population could lead his life without being ruled or controlled by the Ottoman Empire. This process was aided and assisted by the Great Powers. It means, that one form of the humanitarian intervention was the state-building instructed or assisted from abroad. One of the unexpected experiences of the Balkan Wars 1912-1913 was that the members of the Balkan League committed genocides and other kinds of mass violence against other Nationalities and the Muslim population of the peninsula. Among other things the Albanian state-building project of the Great Powers aimed to prevent further genocide and other acts of violence against the Albanian population and other refugees from Macedonia and to put an end to the anarchy of the country. The main international organisation to directly represent the great powers in the new Albania and to be responsible for the state-building process was the International Commission of Control. 41