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Ein niederländischer Fall Präsentation DGPPN-Workshop Sportpsychiatrie und -psychotherapie Berlin, 5. September 2014 Drs. P.H.M. de Wit, Facharzt für Psychiatrie Übersicht Einleitung & zu meiner Person Kernfragen der Kasuistik Fallvorstellung Fragen an die Workshopteilnehmer Diskussion Zur Orientierung Zu meiner Person seit dem Jahr 2000 Psychiater/Facharzt für Psychiatrie allgemeine Psychiatrie, Schwerpunktbehandlung von Menschen mit Psychosen und Suchterkrankungen seit 2009 niedergelassen in eigener Praxis in Enschede Zusammenarbeit mit “FysioGym” (Sportphysiotherapie) seit 2012 DGPPN-Mitgliedschaft > 80% Praxis, daneben Unterstützung einer Psychologenpraxis, Vorträge (nicht industriebezogen) & individuelles Coaching aktuell: 176 Patienten, davon 13 “leistungssportbezogen” Kernfragen der Kasuistik Diagnostik: Gibt es bei Leistungssportlern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung andere Symptomkonstellationen bei psychischen Störungen und werden diese von Leistungssportlern anders eingeordnet? Psychotherapie: Kann es bei Leistungsportlern Gründe geben, von der üblichen Therapieplanung abzuweichen? Pharmakotherapie: Gibt es bei der Indikationsstellung bei Leistungssportlern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung abweichende Überlegungen? Fallvorstellung März 2012: 17-jährige Gymnasialschülerin, Feldhockey höchste Jugendliga (Auswahl für National-Jugendteam gerade gescheitert), Mutter und Physiotherapeut besorgt: „gestresst“, „es geht ihr nicht gut“, „aber sagt nicht, was los ist“ zuerst fast vollständige Abwehr der inneren Probleme Stress und emotionale Spannung. Ratlosigkeit. Starke Einsamkeitsgefühle, wenig Anschluss bei Mitschülern, hohe Zielsetzungen (Schule - zwei zusätzliche Schulfächer - + Sport), nicht leicht zugängliche, aber klar vorhandene depressive Stimmung. Viel Grübeln. Fast kein Spaß an Tätigkeiten, wenig Interessen außer Sport und Schule, (starke Identifikation mit ihren Erfolgen in Sport und Schule). Hintergrund aufgewachsen in stabiler Familie und Umgebung (keine sozialen Probleme, Vater Kriminalbeamter, Mutter Sekretärin im Krankenhaus, eine drei Jahre jüngere Schwester) mehrere Familienmitglieder mit „Perfektionismus“ oder „Stimmungsproblemen“ im Grundschulalter Sorgen über soziale Entwicklung und das soziale Funktionsniveau; Kollege diagnostiziert eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (DSM IVtm: Pervasive Developmental Disorder, PDD-NOS; 299.80) im Gymnasium von Anfang an (ab 12 Jahren) wenig Anschluss an Mitschülerinnen, zunehmende Einsamkeit, retrospektiv: jahrelanger Stress, depressive Stimmung fixiert sich mehr und mehr auf Sport und Schularbeit Auffällige Befunde sehr detaillierte Art zu reden, sehr rational, Hyperfokussierung und Hypervigilanz kaum Zugang zu oder in Kontakt mit Gefühlen kein Interesse an altersentsprechenden Aktivitäten wie Ausgehen oder an Beziehungen oder Kontakten zu Jungen oder Mädchen, überhaupt wenig Interesse an „Äußerlichkeiten“ oder „Mädchensachen“ leidet unter ihrem Zustand, versucht (mit ihrer hohen Intelligenz) zu erklären, was mit ihr los ist unsicher im Kontakt; versucht, ständig korrekte Antworten zu geben versucht, ihre Situation unter Kontrolle zu behalten Ausschlussbefunde keine physischen Probleme kein Alkohol- oder Drogengebrauch keine Denk- oder Wahrnehmungsstörungen keine Zwangsgedanken, -handlungen oder -impulse keine Suizid- (oder Selbstbeschädigungs-)Gedanken keine Traumatisierung keine Essstörungen (oder Körperbildstörungen) keine Merkmale von ADHS keine Verhaltensstörung oder Merkmale einer Borderline-, antisozialen oder schizoiden Entwicklung ihrer Persönlichkeit Diagnostik 17-jährige Gymnasialschülerin, Leistungssportlerin, vorbekannte tiefgreifende Entwicklungsstörung (PDDNOS, Asperger-Merkmale) zeigt Stresssymptome und Symptome einer depressiven Episode, rezidivierende depressive Störung, Belastungsreaktion auf Ausscheiden bei der Auswahl zur Jugendnationalmannschaft Feldhockey stark an Sport und Schulleistung orientiert, wenig Sozialkontakte, wenig in Kontakt zur eigenen Innenwelt/ Gefühlen, kaum Entspannung oder Freizeit, keine Wahrnehmung der Signale einer Stress-Überbelastung Klassifikation (1) DSM IVtm: „depressive Episode/Major Depression“ 1. depressive Stimmung oder Verlust an Interesse/Freude 2. Konzentration , Aufmerksamkeit , Selbstwertgefühl , Selbstvertrauen , Schuldgefühle, Gefühle der Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Schlafstörungen, Früherwachen, Morgentief, Tagesschwankungen der Symptome, psychomotorische Hemmung oder Unruhe, verminderter Appetit, Gewichtsverlust, Libidoverlust, sexuelle Interesselosigkeit, mangelnde/fehlende Reagibilität auf Erfreuliches, Gedanken über oder erfolgte Selbstverletzungen 3. Mindestdauer 2 Wochen 4. Ergänzungen: Schweregrad: leicht, mittel, schwer; Vorhandensein psychotischer oder somatischer Symptome, Melancholie; Verlauf: rezidivierend, chronisch, saisonal abhängig 5. Beschwerden nicht bedingt durch körperliche Erkrankung oder Suchtmittelgebrauch 6. Abgrenzung: bipolare affektive Störung, Zyklothymia, Trauerreaktionen Klassifikation (2) DSM IVtm: „Asperger-Syndrom/PDD-NOS“ 1. qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mehreren (mindestens 2) Bereichen (z.B. bei nonverbalem Verhalten, in der Beziehung zu Gleichaltrigen, in der emotionalen Resonanz) 2. beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster (z.B. in den Interessen, Gewohnheiten oder der Motorik) 3. klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen 4. kein klinisch bedeutsamer Sprachrückstand und keine klinisch bedeutsame Verzögerungen der kognitiven Entwicklung 5. Kriterien einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung nicht erfüllt Klassifikation (1) DSM IVtm: „depressive Episode/Major Depression“ 1. depressive Stimmung oder Verlust an Interesse/Freude 2. Konzentration , Aufmerksamkeit , Selbstwertgefühl , Selbstvertrauen , Schuldgefühle, Gefühle der Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Schlafstörungen, Früherwachen, Morgentief, Tagesschwankungen der Symptome, psychomotorische Hemmung oder Unruhe, verminderter Appetit, Gewichtsverlust, Libidoverlust, sexuelle Interesselosigkeit, mangelnde/fehlende Reagibilität auf Erfreuliches, Gedanken über oder erfolgte Selbstverletzungen 3. Mindestdauer 2 Wochen 4. Ergänzungen: Schweregrad: leicht, mittel, schwer; Vorhandensein psychotischer oder somatischer Symptome, Melancholie; Verlauf: rezidivierend, chronisch, saisonal abhängig 5. Beschwerden nicht bedingt durch körperliche Erkrankung oder Suchtmittelgebrauch 6. Abgrenzung: bipolare affektive Störung, Zyklothymia, Trauerreaktionen Therapieplanung Psychotherapie: – therapeutische Haltung: sich für die Patientin Zeit nehmen, ihr zuhören: Fokus Selbstakzeptanz – Verbesserung der Selbstwahrnehmung vor allem in Bezug auf Hyperfokussierung und Anspannungsniveau – Durchführung von Selbstbeobachtungsaufgaben und im Selbstmanagement Anwendung von Techniken der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Sitzungsfrequenz: +/- 1 Stunde /Monat + „Hausaufgaben“+ Emailkontakt), (erwiesen Wirkung bei Stimmungsstörungen), (kein klarer Fokus auf gezielter Psychotherapie) keine Psychopharmakotherapie (nicht ihr Wunsch & Nebenwirkungsrisiko bei Sport und Schule) keine Verminderung des Sports oder der Schulbelastung (Sport und Schulleistung überwiegend positive Erfahrungen im Lebensverlauf) Verlauf (1) zunächst positive Entwicklung, Stimmung bessert sich, Patientin entspannt etwas, Selbstakzeptanz und Selbstwahrnehmung entwickeln sich Juni: Aufnahme in das Erstliga-Team (Nijmegen): „wunderbar“, aber das heißt ab August mehrmals pro Woche pendeln, (135 km/ 2 Std. 40 Min. mit öffentlichen Verkehrsmitteln, einfache Strecke), neben ihrem Abitur noch Schularbeiten im Herbst: klare Zeichen der Überbelastung, kaum Kontakt mit Mitspielerinnen, zunehmende Stresszeichen, rezidivierende depressive Episode, nun auch mit häufigeren Zwangs- und Suizidgedanken keine Zeit für „Selbstwahrnehmung/Selbstentspannung“ Enschede - Nijmegen : 135 km, 2 Stunden 40 Minuten Utrecht - Nijmegen : 89 km, 1 Stunde 53 Minuten Enschede - Utrecht : 137 km, 2 Stunden 46 Minuten Was tun? Krisenintervention Fokus auf Abwendung einer depressiven Symptomexazerbation im Sinne einer erneuten Erkrankung an einer depressiven Episode ALSO: Überbelastung vermindern? ABER: Abitur/Schulleistung (mit Perspektive Medizinstudium) und Sportkarriere („Jetzt oder nie“) will die Patientin fortsetzen und sind die wichtigsten positiven und zentralen Themen in ihrem Leben Psychotherapie : (nun +/- 1x Monat + Emailkontakt) - maximale Autonomie / Selbstverantwortlichkeit - mit „Hotline-Abkommen“ bei Suizidgedanken - eigene Wege der Selbstentspannung suchen Pharmakotherapie: SSRI: Escitalopram 10 mg 1dd1 (EKG kontrolliert) (WADA gestattet) Verlauf (2) Befinden der Patientin bessert sich stetig, depressive Symptome rückläufig im Gesamtverlauf (dennoch auch Auftreten und Bewältigung kritischer Momente: z.B. „Fuchstaufe-Fest“ mit dem Team) äußert sich auch in ihrem Umfeld (z.B. ihrem Trainer gegenüber) über ihre psychische Situation zunehmend kreativ in Finden von Entspannungsmöglichkeiten (z.B. Häkeln, Stricken) gute Verträglichkeit von Escitalopram nach einer Woche Einnahmezeit gute sportliche Entwicklung (jedoch einige Verletzungen, (Fußgelenk, Handgelenk, Hämatome)) erfolgreiches Ablegen des Abiturs und Aufnahme des Medizinstudiums und erstes Jahr Studium Utrecht positiv Hockey Nijmegen auch gut, aber leider Abstieg Resultate der Selbstentspannungstherapie Aktuelle Befindlichkeit aktuell keine Psychopathologie grundsätzlich gutes Befinden, aber Schwierigkeiten im Umgang mit „Leerlauf“ in der Freizeit oder mit dem Ertragen von Kritik im Studium mehr Erleben von Spaß und Fröhlichkeit, mehr Entspannung mehr Selbstakzeptanz, verbesserte Selbstwahrnehmung in den psychischen Funktionen Zugehörigkeit zu einer Zweitliga-Mannschaft in der Nähe von Utrecht, Zufriedenheit damit: „erstmal mit Spaß Hockey spielen” zufrieden mit ihrem “Single-Dasein” realistische Perspektive in ihrem Studium Fortsetzung der Medikation mit Escitalopram bis zum Winter „Stricken fortsetzen, Achtsamkeitsübungen später“ Fragen an die Workshop-Teilnehmer (1) Diagnostik: Gibt es bei Leistungssportlern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung andere Symptomkonstellationen bei psychischen Störungen und werden diese von Leistungssportlern anders eingeordnet? - Zeigen sich depressive Symptome anders? Sind sie nur mit größerer Schwierigkeit festzustellen ? - Asperger-Symptome teils ich-synton und unter Umständen kompensiert durch Sport und Schulleistung? Fragen an die Workshop-Teilnehmer (2) Psychotherapeutische Behandlung: Kann es bei Leistungsportlern Gründe geben, von der üblichen Therapieplanung abzuweichen? - Wäre die Behandlung der Überbelastung in Form eines „erzwungenen” Abbaus von schulischen und sportlichen Aktivitäten kontraproduktiv gewesen ? Pharmakotherapie: Gibt es bei der Indikationsstellung bei Leistungssportlern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung abweichende Überlegungen? - Zusammenhang mit Verletzungen? Gibt es Argumente bei der Auswahl der SSRI ? Diskussion Und... ...vielen Dank! Drs. Pieter de Wit