Brennpunkt Arznei 4/2009
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Brennpunkt Arznei 4/2009
BRENNPUNKT ARZNEI Jhrg. 14, Nr. 4 – Dezember 2009 Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Betablocker für Herzinsuffiziente Dosis oder Reduktion der Schlagzahl – was ist für schwache Herzen wichtiger? Bei Herzinsuffizienz dosieren Sie viele Medikamente so, wie diese in den einschlägigen Studien erprobt wurden. Aber wie sieht es bei Betablockern aus? Hier hat eine Metaanalyse gezeigt: Die Dosis selbst spielt nur eine indirekte Rolle, entscheidend ist die Senkung der Herzfrequenz. Wer die Betablocker-Dosis anhand der Herzfrequenz individuell justiert, der kann die Mortalität seiner herzschwachen Seite 23 Patienten beachtlich reduzieren. Patient mit Gerinnungshemmung muss sich einem Eingriff unterziehen Wie mache ich es richtig? Im Praxisalltag taucht die Situation immer wieder auf: Ein Patient nimmt orale Antikoagulanzien oder Plättchenaggregationshemmer ein, muss sich nun aber einem diagnostischen oder therapeutischen Eingriff unterziehen. Kann die Gerinnungshemmung unterbrochen oder einfach fortgeführt werden? Kann oder muss ein „Bridging“ mit Heparin durchgeführt werden? Zu diesen Fragen gibt es unterschiedliche Antworten. Jetzt haben sich in einer Region Niedergelassene und Kliniker zusammengesetzt und Verfahrensweisen ausgearbeitet, die wir Ihnen in diesem Heft vorstellen. Seite 4 Patient misst Blutzucker selbst – ohne Insulinbehandlung meist nutzlos Blutzuckerselbstmessung – das Thema ist nicht gerade neu. Auch wir haben es in KVH aktuell schon behandelt. Jetzt hat auch das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) nach umfassender Sichtung der Literatur ein Fazit gezogen: Wenn Diabetiker nicht mit Insulin behandelt werden, bringt es Seite 17 nichts, wenn sie die Glukose im Blut oder im Urin messen. Demenz-Therapie mit Acetylcholinesterase-Hemmern Geringe Wirkung, beachtliche Risiken Die Alzheimer-Demenz lässt sich derzeit mit Medikamenten kaum aufhalten. Gemessen an der mageren Wirkung sind allerdings die Nebenwirkungen der Acetylcholinesterasehemmer beachtlich, wie eine große Kohortenstudie zeigt: Vermehrt stationäre Behandlungen wegen Synkopen, Notwendigkeit von Schrittmachern, vermehrt Hüftgelenksfrakturen – wobei letzteres bei dementen Patienten nahezu Seite 20 einem Todesurteil gleichkommt. Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen Seite 2 KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Es wird immer absurder ... Editorial Sehr geehrte Damen und Herren, stell’ Dir vor, es ist November und wir haben immer noch keine Arznei- und Heilmittelvereinbarung. Mit einer Variante dieses „Sponti-Spruchs“ könnte man das Jahr 2009 kommentieren. Denn trotz intensiver Bemühungen der KV Hamburg haben sich die Krankenkassen nicht auf einen gemeinsamen Verhandlungsvorschlag einigen können, geschweige denn einen verhandlungsfähigen Vertragsentwurf vorgelegt. Rein juristisch ist diese bundesweit einmalige Lage zunächst einmal kein Beinbruch, denn dann gilt die alte Vereinbarung aus 2008 weiter. Politisch gefällt uns dieser Zustand aber gar nicht, denn mit jedem Tag, an dem die alten Rahmenbedingungen einfach fortgeschrieben werden, sind diese noch ein wenig absurder geworden. Vor allem die Krankenkassen-bezogenen Rabattverträge machen es dem Arzt nahezu unmöglich, den Preis des verordneten Präparates im Auge zu behalten – er kennt ihn schlicht nicht mehr. Deshalb hat die KVH schon vor drei Jahren gefordert, den Arzt aus der Preisverantwortung zu entlassen. Im Frühjahr konnte diese Forderung Eingang finden in die „Wahlprüfsteine“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und nach dem (Teil-) Regierungswechsel bestehen nun erstmals realistische Aussichten, daß dies auch gesetzlich fixiert wird. Sollte es so kommen, verantwortet der Arzt nur noch den sachlichen Zusammenhang von Indikation und Verordnung sowie (gemeinsam mit dem Patienten) die Menge der verordneten Arzneimittel. Die Preise würden abschließend geklärt zwischen Krankenkasse und Pharmaindustrie. Damit gehörten auch die Richtgrößen der Vergangenheit an. Noch aber sind sie rechtliche Realität, und da nach der nun offiziell vorliegenden Statistik für 2008 die Ausgabenobergrenze in Hamburg deutlich überschritten wurde, droht eine Vielzahl von Regreßverfahren. Sollten Sie in eines verwickelt werden, bieten wir Ihnen an, den Service unserer Pharmakotherapieberatung in Anspruch zu nehmen. Politisch gilt: Daumen drücken! Mit freundlichen Grüßen Walter Plassmann Stellv. Vorsitzender KVH Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Editorial Seite 3 2 Patient mit oraler Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmung benötigt einen diagnostischen oder therapeutischen Eingriff Wie mache ich es richtig? 4 Prof. Dr. H-J. Rupprecht, Prof. Dr. D. Flieger, Dr. Dr. L. Magó, Dr. J. Fessler, Dr. J. Witzke-Gross Das Arzt-Handbuch für die Pharmakotherapie 9 Schrotschüsse oder gezielte Behandlung? Prof. Dr. med. Frank P. Meyer, Groß Rodensleben 10 Die epidemiologische „Superpille“: Zweifelhafter Ansatz Von Dr. med. Günter Hopf 14 Rezept des Monats: Wie viele Blutdruckmittel sind nötig? 16 Erneut: Blutzucker-Selbstkontrolle beim Typ-2-Diabetiker Dr. med. Klaus Ehrenthal 17 Inhaltsverzeichnis Praxis-Studie soll klären: Wie werden Multimorbide am sichersten behandelt? 19 Risiken bei der Demenzbehandlung mit Acetylcholinesterasehemmern Dr. med. Klaus Ehrenthal 20 IQWiG-Abschlussbericht: Das Aus für Memantin Dr. med. Klaus Ehrenthal 21 Betablocker-Dosis oder niedrigere Pulsfrequenz – was rettet schwache Herzen? Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Betablocker-Dosis anhand des Pulses festlegen 23 24 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Fragwürdige Testverfahren: Serum-IgG-Test bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten Methotrexat: Fehler bei Dosierung und verschleierte Infekte Risedronsäure: chronische Ösophagitis Allopurinol: Schwere Hautreaktionen Stimulantien: plötzliche Todesfälle bei Kindern Exenatid: Nierenversagen 25 26 26 26 27 28 Hausärztliche Leitlinie Geriatrie, Teil 1 Geriatrisches Assessment Seniorengerechte Praxis Ernährung im Alter 29 32 37 37 Von Kollegen für Kollegen: Ein Buch direkt aus der Praxis 42 Hausärztliche Leitlinine Psychosomatik Teil 1, Tischversion zum Ausschneiden 43 Impressum Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden (www.xtradoc.de) Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt (www.kvhessen.de) Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Feßler (verantw.), Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Cornelia Kur, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Fax Redaktion: 069 / 79502 8467 Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Seite 4 Beiträge der Redaktion KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Patient mit oraler Antikoagulation oder Thrombozyten aggregationshemmung benötigt einen diagnostischen oder therapeutischen Eingriff Wie mache ich es richtig? Ein Konsens zwischen Klinikern und Niedergelassenen Blutungsrisiko muss dem Risiko eines thromboembolischen Ereignisses gegenübergestellt werden Prof. Dr. H-J. Rupprecht, Prof. Dr. D. Flieger, Dr. Dr. L. Magó Dr. J. Fessler, Dr. J. Witzke-Gross In unserem Praxisalltag gibt es die uns allen gut bekannte Situation: Ein Patient mit oraler Antikoagulation oder Einnahme von Plättchenaggregationshemmern muss sich einem diagnostischen oder therapeutischen Eingriff unterziehen. Die Fragen, wann die orale Antikoagulation unterbrochen werden kann, wann und wie ein Bridging mit Heparin durchgeführt werden muss bzw. ob die Einnahme eines Thrombozytenaggregationshemmers ausgesetzt werden kann, werden zum Teil unterschiedlich beantwortet. Um im Ärztenetz Rhein-Main ein einheitliches Vorgehen zu ermöglichen, befasste sich der Zirkel Innere Medizin – Krankenhausärzte Rüsselsheim genau mit dieser Problematik. An der Zirkelsitzung nahmen niedergelassene Ärzte verschiedener Fachrichtungen und als Referenten Herr Dr. J. Fessler, niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin, Herr Prof. Dr. H.-J. Rupprecht, Chefarzt der kardiologischen Abteilung des GPR (Gesundheits- und Pflegezentrum Rüsselsheim), Herr Prof. Dr. D. Flieger, Chefarzt der gastroenterologischen Abteilung des GPR und Dr. med. Dr. med. dent. L. Magó, niedergelassener Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurg, teil. Das in dieser Sitzung zwischen Krankenhausärzten und Niedergelassenen erarbeitete Konsensuspapier soll hier vorgestellt werden. Im Vorfeld sind folgende Empfehlungen zu beachten: 1 Die Steuerung der oralen Antikoagulation soll nur über den INR-Wert erfolgen, da die Quickwertbestimmungen in Abhängigkeit von der Bestimmungsmethode starke Schwankungen aufweisen und somit ein Wertevergleich nicht möglich ist. 2 Im Patientenpass zur oralen Antikoagulation sollten, abgesehen von den Angaben zum Patienten, den ermittelten INR-Werten und der Dosis des VitaminK-Antagonisten auch die Indikation zur Antikoagulation, der Ziel-INR und die angestrebte Therapiedauer eingetragen sein. 3 Folgende Ziel-INR-Werte sollen je nach Indikation erreicht werden: tiefe Beinvenenthrombose: zwischen 2,0 und 2,5; Vorhofflimmern: zwischen 2,0 und 3,0; Zustand nach mechanischem Klappenersatz in aortaler Position: zwischen 2,0 und 3,0; Zustand nach mechanischem Klappenersatz in mitraler Position: zwischen 2,5 und 3,5; Zustand nach Klappenersatz mit Bioprothese: zwischen 2,0 und 3,0 für 3 Monate. 4 Zu beachten sind die unterschiedlichen Halbwertzeiten der oralen Antikoagulantien mit 96 bis 144 Stunden für Marcumar® (Phenprocoumon) gegenüber 35 bis 45 Stunden für Coumadinpräparate. 5 Das Procedere sollte interkollegial und mit dem Patienten diskutiert werden, unter Berücksichtigung folgender Fragen: Besteht noch eine eindeutige Indikation zur oralen Antikoagulation bzw.der Gabe von Plättchenfunktionshemmern und wenn ja, für wie lange? Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 5 Wie groß ist das thromboembolische Risiko für den Patienten ohne diese entsprechende Therapie? Wie hoch wird das Blutungsrisiko bei dem geplanten Eingriff geschätzt und wie dringend ist der geplante Eingriff, bzw. gibt es alternative Methoden? I. Vorgehensweise aus kardiologischer Sicht Abschätzung des Thromboembolierisikos aus kardiologischer Sicht bei: Patienten mit Vorhofflimmern Hier ist der CHADS-Score hilfreich: Jeweils einen Eine Bauchentscheidung ist nicht nötig. Punkt gibt es beim Vorliegen einer kongestiven Der CHADS-Score ist ausgesprochen einHerzinsuffizienz, einer arteriellen Hypertonie, einem fach und hilft, das Schlaganfallrisiko bei Alter über 75 Jahren und bei bestehendem DiabeVorhofflimmern einzuschätzen. Die Tabelle tes mellitus; 2 Punkte gibt es für einen stattgehabzeigt die Punkte, die für verschiedene Fakten ten Schlaganfall in der Anamnese. vergeben werden, die Beurteilung der PunktDas thromboembolische Risiko wird als hoch summe wird im nebenstehenden Text erklärt. eingeschätzt bei einem CHADS-Score von fünf bis Kongestive Herzinsuffizienz 1 Punkt sechs, einem stattgehabten Schlaganfall oder einer transitorischen ischämischen Attacke innerhalb Hypertonie 1 Punkt der letzten drei Monaten sowie beim Vorliegen Alter über 75 1 Punkt eines rheumatischen Vitiums. Von einem mittleren Diabetes mellitus 1 Punkt Thromboembolierisiko wird bei einem CHADS-Score Schlaganfall oder TIA 2 Punkte von drei bis vier und von einem niedrigen Risiko bei einem CHADS-Score von null bis zwei ausgegangen, Voraussetzung ist, dass es noch keine transitorisch-ischämischen Attacken oder einen Schlaganfall gegeben hat. Patienten mit mechanischer Herzklappe Von einem hohen Risiko wird bei einer Klappenprothese in mitraler Position ausgegangen, sowie bei einer alten Klappenprothese in aortaler Position. Mit einem mittleren Thromboembolierisiko ist bei neueren 2-Flügelprothesen in aortaler Position und einem CHADS-Score von 1 und höher zu rechnen. Bei einer 2-Flügel-Klappenprothese in aortaler Position und einem CHADS-Score unter 1 ist das Thromboembolierisiko niedrig anzusetzen. Patienten mit venöser Thrombose/Embolie Liegt die venöse Thrombose bzw. Embolie weniger als drei Monaten zurück und/ oder besteht eine schwere Thrombophilie ist von einem hohen Thromboembolierisiko ohne Antikoagulation auszugehen. Ein mittleres Thromboembolierisiko liegt vor bei Zustand nach venöser Thrombose bzw. Embolie in den letzten drei bis zwölf Monaten und/oder einer mäßigen Thrombophilie bzw. bei rezidivierenden Thrombosen/Embolien oder einem Tumorleiden. Liegt eine venöse Thrombose bzw. Embolie über zwölf Monate zurück und bestehen sonst keine anderen Risikofaktoren, kann von einem niedrigen Thromboembolierisiko ausgegangen werden. Aus der Abschätzung des Thromboembolierisikos bei Vorhofflimmern, mechanischen Klappenprothesen bzw. venöser Thrombose/Embolie ergeben sich folgende Verfahrensweisen: Hohes Thromboembolierisiko: Niedermolekulare Heparine in therapeutischer Dosis subkutan, gegebenenfalls unfraktioniertes Heparin in therapeutischer Dosis intravenös; Mittleres Thromboembolierisiko: Indikation zum Bridging variabel. Geringes Thromboembolierisiko: Kein Bridging oder niedermolekulare Heparine in low-Dose subkutan. Zu erwartendes Blutungsrisiko bei gewissen Eingriffen Von einem geringen Blutungsrisiko wird ausgegangen bei zahnärztlichen Seite 6 KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Eingriffen, dermatologischen kleineren Operationen, Gastroskopien und Koloskopien, Hand- und Fußchirurgie sowie infrainguinalen Gefäßoperationen. Ein mäßiges Blutungsrisiko wird erwartet bei Cholesystektomie, Appendektomie, Hernien-Operation, Knie-TEP, Hysterektomie und Mamma-Operation. Mit einem hohen Blutungsrisiko ist zu rechnen bei neurochirurgischen Eingriffen, Prostata-Operationen, Hüftgelenksersatz, Operationen an Herz und Aorta sowie bei einer Tonsillektomie. Dabei ist aber zu beachten, dass letztendlich nur der Operateur das Blutungsrisiko des von ihm geplanten Eingriffes abschätzen kann. Bei Zahnbehandlung ist Bridging eher selten erforderlich II. Vorgehensweise aus zahnärztlicher/kieferchirurgischer Sicht: Unter fortlaufender Antikoagulation mit einem INR im unteren Zielbereich können folgende Eingriffe durchgeführt werden: Zahnextraktionen bis zu drei Zähnen, Gingivachirurgie, Überkronungen, Brücken, Zahnsteinentfernung, chirurgische Entfernung eines Zahnes oder Einsetzen eines einfachen Zahnimplantats im Unterkiefer. Bei erhöhtem Thromboembolierisiko ist ein Bridging erforderlich bei notwendigen Erweiterungen des Knochenfaches, zum Beispiel wegen Zysten oder bei komplexen Zahnimplantaten. III. Vorgehensweise aus gastroenterologischer Sicht bei endoskopischen Prozeduren im Magen-Darm-Trakt: Damit thrombosegefährdete Patienten nicht durch wiederholte Koloskopien belastet werden: Bridging gleich bei Vorsorge-Koloskopie Unter fortlaufender oraler Antikoagulation können folgende Prozeduren mit geringem Blutungsrisiko durchgeführt werden: Diagnostische Gastroskopie mit/ ohne Biopsie, Wechsel einer PEG, diagnostische flexible Koloskopie mit/ohne Biopsie, diagnostische ERCP, sowie ERCP mit Stent-Implantation ohne Papillotomie, sowie Endosonografien. Bei Prozeduren mit hohem Blutungsrisiko einerseits und gleichzeitig mittlerem bis hohem Thromoboembolierisiko andererseits ist ein Bridging notwendig. Dies betrifft koloskopische Polypektomie, gastrale Polypektomie, Laserablation und Laserkoagulation, endoskopische Papillotomie, PEG/PEJ, Ballondilatation oder Bougierung von Stenosen, sowie Endosonografien mit Feinnadelpunktionen. Bei der Vorsorge-Koloskopie sollte möglichst bei hohem Thromboembolierisiko ein Bridging erfolgen, da bei dieser Untersuchung oft Polypen entdeckt werden, die abgetragen werden müssen. Bei Wunsch des Patienten oder bei medizinischer Notwendigkeit kann die Untersuchung auch unter fortlaufender Antikoagulation durchgeführt werden. Im Falle von größeren Polypen muss dann aber eine zweite Koloskopie mit einer erneuten unangenehmen Koloskopievorbereitung zur Polypektomie nach Bridging durchgeführt werden. Wie soll das Bridging durchgeführt werden?: Marcumar® soll in der Regel mehr als fünf Tage vor der Operation abgesetzt werden. Unterschreitet der INR-Wert den unteren Zielbereich, beginnt das Bridging mit niedermolekularen Heparinen. Je nach Risiko für eine Blutung einerseits bzw. eine Thromboembolie andererseits, sollte die letzte Dosis des niedermolekularen Heparins zwölf bis 24 Stunden vor Operation appliziert werden. Bei Hochrisikopatienten sollte gegebenenfalls unfraktioniertes Heparin bis vier Stunden vor der Operation appliziert werden. Je nach individueller Risikokonstellation des Patienten kann dann in der Regel zwölf bis 24 Stunden nach der Operation das Bridging mit niedermolekularen Heparinen wieder aufgenommen und gleichzeitig die Marcumaraufsättigung begonnen werden. Anmerkung der Redaktion: Keines der in Deutschland zugelassenen niedermoFortsetzung auf Seite 8 Anmerkung der Redaktion: Hier zur Erinnerung nochmals eine Seite aus Heft 1/2009. Diese Informationen über das Bridging sollte man unbedingt kennen. Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 7 Produkthaftung der Hersteller beim Bridging Niedermolekulare Heparine (NMHs) werden zur Überbrückung der oralen Antikoagulation eingesetzt, obwohl sie für diese Indikation nicht zugelassen sind (Off-Label-Use). Es gibt prospektive Kohortenstudien mit insgesamt fast 3.000 Patienten dazu. Das Bridging wird zudem in kardiologischen Leitlinien empfohlen und ist in wissenschaftlichen Fachkreisen anerkannt. Es stellt damit den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse dar. Einzelne Firmen haben die Produkthaftung für NMHs im speziellen Fall des Bridgings eigens angezeigt. Das ist aber nicht notwendig. Eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmens nach § 84 Arzneimittelgesetz (AMG) besteht, wenn das Arzneimittel bestimmungsgemäß gebraucht wird. Ein bestimmungsgemäßer Gebrauch liegt nicht nur dann vor, wenn ein Arzneimittel in seinem zugelassenen Indikationsbereich eingesetzt wird, sondern auch dann, wenn es entsprechend dem Stand der medizinischen Erkenntnis außerhalb seiner Zulassung angewendet wird. Der pharmazeutische Unternehmer haftet in diesem Fall also auch für einen Off-Label-Use. Der pharmazeutische Unternehmer würde dann nicht haften, wenn er in der Fachinformation von der Anwendung in diesem Off-Label-Bereich ausdrücklich abrät oder das Bridging als Kontraindikation aufführt. Dies ist derzeit bei keinem auf dem Markt befindlichen NMH der Fall. Die Kriterien für die Erstattungsfähigkeit von verordneten Arzneimitteln im Off-Label-Use wurden durch das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 festgelegt. Es muss sich um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung handeln, für die keine andere Therapie verfügbar ist und auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Bridging: Ganz unkompliziert! Schematische Darstellung zum zeitlichen Vorgehen im Rahmen einer Bridging-Strategie bei antikoagulierten Patienten vor einem operativen Eingriff (Bauersachs 2007) Schematische DarEingriff stellung der Überbrückung einer langfristigen Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten für einen 3 Heparin-Überbrückung geplanten Eingriff am Tag „0“ mit un- 2 INR fraktioniertem oder niedermolekularem 1 Heparin. Nach Ab-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 setzen des VitaminTag K-Antagonisten (in VKA X Deutschland zumeist Phenprocoumon) Einnahme von Vitamin-K-Antagonisten (VKA) etwa eine Woche vor X Vitamin-K-Antagonist vorübergehend abgesetzt dem geplanten Eingriff kommt es zu einem allmählichen Absinken der INR und des antikoagulatorischen Schutzes. Wird der therapeutische Bereich der oralen Antikoagulation verlassen, so erfolgt eine gerinnungshemmende Überbrückung („Bridging“) durch das unfraktionierte oder niedermolekulare Heparin (Bogen). Der Eingriff selbst wird während einer kurzen Unterbrechung der Heparinbehandlung durchgeführt und das Heparin – je nach Blutungsrisiko des Eingriffs und patientenindividuellen Bedingungen – nach dem Eingriff weiter appliziert. Postoperativ wird die orale Antikoagulation wieder eingeleitet und die Überbrückung mit Heparin so lange fortgesetzt, bis wieder ein Schutz durch die orale Antikoagulation sichergestellt ist. Seite 8 KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 lekularen Heparine hat eine explizite Zulassung für das Bridging. Die Anwendung erfolgt daher formal im Off-Label-Use. Dennoch geht die Produkthaftung nicht voll auf den Arzt über, wie der Kasten auf Seite 7 im Detail erläutert. Vorgehensweise bei Patienten unter Plättchenaggregationshemmer Allgemeine Vorbemerkungen Die Plättchenhemmung unter ASS und Clopidogrel ist irreversibel, d.h. die Wirkung entspricht der Lebensdauer der Thrombozyten (rund zehn Tage). Nach Absetzen der Therapie geht also jeden Tag durch neu gebildete Thrombozyten etwa zehn Prozent der Wirkung verloren. Die Wirkung der GPIIb/IIIa-Inhibitoren (siehe Fußnote1) ist reversibel. Die Halbwertszeit liegt für Abciximab (GPIIb/IIIa-Inhibitor) bei zwölf bis 14 Stunden. Zur Aufhebung der Wirkung von ASS, Clopidogrel und Abciximab werden Thrombozytenkonzentrate gegeben und/oder Desmopressin bei ASS/ Clopidogrel-Einnahme. Risiko für kardiale Ischämien bei Absetzen der Thrombozytenfunktionshemmer zwecks operativer Eingriffe Ein hohes Risiko liegt vor bei Stent-Implantation innerhalb der letzten vier Wochen, akutem Koronar-Syndrom innerhalb der letzten vier Wochen und bei stabiler Angina pectoris, ein mittleres Risiko bei bare-metall-Stent-Implantation innerhalb der letzten drei Monate, drug-eluting-Stent-Implantation innerhalb der letzten zwölf Monate und akutem Koronarsyndrom innerhalb der letzten drei Monate, sowie ein niedriges Risiko bei chronisch-asymptomatischer koronarer Herzerkrankung. Vorgehensweise bei operativen Eingriffen bei Patienten unter dualer Antiplättchentherapie: Hier ist auf der einen Seite das Blutungsrisiko im Rahmen der Operation gegenüber der Gefahr der Stent-Thrombose abzuwägen. Folgendes Vorgehen wurde empfohlen: bei hohem Risiko einer Stent-Thrombose und hohem Blutungsrisiko: Beide Plättchenhemmer 10 Tage vorher absetzen, Überbrücken mit GP IIb/IIIa oder Antikoagulation (UFH/LMWH, Bivalirudin) mittlerem Blutungsrisiko: Einen Plättchenhemmer fortführen, den anderen vier bis fünf Tage vor OP absetzen, Überbrücken mit GP IIb/IIIa oder Antikoagulation (UFH/LMWH, Bivalirudin) niedrigem Blutungsrisiko: Beide Plättchenhemmer fortführen bei mittlerem Risiko einer Stent-Thrombose und hohem Blutungsrisiko: Beide Plättchenhemmer zehn Tage vorher absetzen, Überbrücken mit GP IIb/IIIa oder Antikoagulation (UFH/LMWH, Bivalirudin) mittlerem Blutungsrisiko: Einen Plättchenhemmer fortführen, den anderen mindestens acht bis zehn Tage vor OP absetzen niedrigem Blutungsrisiko: Einen Plättchenhemmer fortführen, den anderen vier bis fünf Tage vor OP absetzen bei niedrigem Risiko einer Stent-Thrombose und hohem Blutungsrisiko: Beide Plättchenhemmer zehn Tage vorher absetzen. mittlerem Blutungsrisiko: Einen Plättchenhemmer mindestens acht bis 1 Anmerkung: GP IIb/IIIa-Inhibitoren sind eine neue Klasse von Thrombozytenfunktionshemmer, die spezifisch den thrombozytären Fibrinogenrezeptor hemmen. Durch die Besetzung/Blockade des GP IIb/IIIa-Rezeptors wird die Vernetzung der Thromobozyten verhindert. Sie sind bisher die wirksamsten Substanzen gegen aktive Thrombozyten. Eine Gruppe von GP IIb/IIIa sind monoklonale Antikörper wie Abciximab (Reopro®); Abciximab wird i.v. appliziert und ist zugelassen zur Vermeidung ischämischer Komplikationen i.R. von perkutanen Koronarinterventionen und bei instabiler Angina pectoris; die Thrombozytenfunktion normalisiert sich innerhalb von 48 Stunden. Bivalirudin: Hirudin-Analogon und direkter, reversibler Thrombininhibitor, wird i.v. appliziert, Halbwertszeit 25 Min.; zugelassen im Rahmen von Herzkatheterinterventionen. KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Seite 9 zehn Tage vor OP absetzen, den anderen vier bis fünf Tage vor OP absetzen. niedrigem Blutungsrisiko: Einen Plättchenhemmer fortführen, den anderen mindestens acht bis zehn Tage vor OP absetzen Vorgehensweise bei Endoskopien im Magen-Darm-Trakt Bei diagnostischen Gastroskopien ohne oder mit Biopsien brauchen ASS, Clopidogrel und nicht-steroidale Antirheumatika in der Regel nicht abgesetzt werden. Bei ambulanten Koloskopien empfiehlt sich ein Pausieren von Clopidogrel über vier bis fünf Tage, ASS kann in der Regel weiter gegeben werden, nicht-steroidale Antirheumatika sollten am Vortag abgesetzt werden. Bei hohem zu erwartendem Blutungsrisiko wie beispielsweise bei geplanter Polyp ektomie sollten ASS, Clopidrogel und nicht-steroidale Antirheumatika fünf Tage vor der Intervention unterbrochen werden. Es bleibt jetzt abzuwarten, inwieweit diese empfohlenen Verfahrensweisen im Ärztenetz Rhein-Main einheitlich umgesetzt werden. Interessenkonflikte: keine Literatur: The perioperative management of antithrombotic therapy. American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines (8th Edition). Chest Jun.2008; 133 (6Supl); 2099S-339S Schepke M, Unkrig C, Sauerbruch T: Endoscopy in patients at risk for bleeding. Z.Gastroenterol. 1997; 35:147-53 Schmelzeisen, R: Zahnärztliche Chirurgie bei Patienten mit Antikoagulanzientherapie. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde V 2.0 Stand 7/01. Das Arzt-Handbuch für die Pharmakotherapie Das Arzt Handbuch zur Rationalen Pharmakotherapie vermittelt kurz, übersichtlich und zielorientiert die Grundlagen für ein auf die Bedürfnisse des Patienten ausgerichtetes Vorgehen in der Praxis. Gerade im hausärztlichen Bereich mit seinen vielen multimorbiden Patienten ist ein ganz individuelles Abwägen der Medikation unumgänglich, um nicht in eine unübersichtliche und risikobehaftete Medikamentenzusammenstellung zu geraten. Dies erfordert Erfahrung, pharmakotherapeutische Kompetenz und Verantwortungsgefühl. Hier will das Buch, unter dessen insgesamt 36 Autoren auch die Autoren der hausärztlichen Leitlinien mitgewirkt haben, auf 160 Seiten Hilfestellungen geben. Behandelt werden die 30 wichtigsten Themen aus der hausärztlichen Praxis. Rationale Pharmakotherapie – Arzt Handbuch. Erschienen im Verlag Urban und Vogel, München; Preis: 49,80 €; ISBN: 978-3-9809457-5-2 Ergänzung In Heft 3/2009 hatten wir auf einige anzeigenfreie und damit industrieunabhägige Zeitschriften hingewiesen. Die Redaktion der Zeitschrift für Allgemeinmedizin weist uns darauf hin, dass auch ihr Blatt anzeigenfrei ist. Unsere Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, wir geben diesen Hinweis auf eine weitere deutschsprachige anzeigenfreie Zeitschrift gerne als wertvolle Ergänzung unserer Liste weiter. Erratum Auf der Titelseite des Heftes 3/2009 war in der Überschrift zu lesen „Statt Antiepileptikum Gerinnungshemmer gespritzt“. Es hätte statt „gespritzt“ natürlich „gegeben“ heißen müssen, denn es ging im zugehörigen Beitrag nicht um Heparin, sondern um Phenprocoumon. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen, auf den uns ein aufmerksamer Leser hingewiesen hat. Seite 10 Der Gastbeitrag KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Schrotschüsse oder gezielte Behandlung? Individuelle Pharmakotherapien und Behandlungen mit Kombinationen oder Polypillen müssen kein Widerspruch sein Prof. Dr. med. Frank P. Meyer, Groß Rodensleben Immer wieder bringen Pharmafirmen Kombinationspräparate auf den Markt, deren Wirkung auf harte Endpunkte zumindest fraglich ist. Seit einigen Jahren gibt es sogar Pläne für eine so genannte Polypill, die beispielsweise einige Herz-KreislaufMedikamente enthalten und von allen Menschen über 55 eingenommen werden soll. Für das Polypill-Unternehmen sicher ein Bombengeschäft – aber macht so etwas auch Sinn? Ist es nicht viel besser, die Therapie stärker zu individualisieren, statt mit der pharmakologischen Schrotflinte um sich zu schießen? Der Pharmakologe Professor Frank P. Meyer beleuchtet im nebenstehenden Beitrag in pointierter und bisweilen auch provokativer Weise die bisherigen Erfahrungen mit Kombinationen, Polypill und individualisierter Therapie sowie die Entwicklungen, die sich daraus ergeben. Die nachfolgenden Überlegungen wurden durch einige Publikationen angeregt, die Anfang 2009 erschienen. Einmal erfuhren wir, dass die Wirksamkeit von Clopidogrel genetisch determiniert ist, woraus eine sehr individualisierte Therapie abzuleiten wäre. Zum anderen wurde eine fixe Kombination aus fünf Wirkstoffen – eine „Polypill“ – vorgestellt zur Primärprävention kardio-cerebrovaskulärer Ereignisse, also eine „Schrotschusstherapie“ für gesunde Frauen und Männer ab 55 Jahren. Quo vadis Pharmakotherapie? Eine gute Pharmakotherapie war schon immer patientenorientiert Pharmakologie und Toxikologie sind primär stofforientierte Wissenschaften. Ob aber eine Pharmakotherapie dem Patienten eher nützt als schadet, ist – zumindest gleichrangig – auch eine Frage der Dosis. Das wissen wir spätestens seit Paracelsus! Und Scheler formulierte explizit: „Pharmaka sind biologisch wirksame Dosen von Stoffen“ [1]. Seit der Einführung von Digitalis in die Therapie durch Withering (1785) versuchen gute Ärzte, ihre Therapie auch quantitativ auf den individuellen Patienten zu beziehen: Dosierung nach dessen Körpermasse oder Körperoberfläche, nach der Nieren-, Leber- oder Herzfunktion, nach seinem Allgemeinzustand und dem Alter. Nachdem Dost 1953 seine umfassende Monografie „Der Blutspiegel“ publizierte, spielten pharmakokinetische Aspekte in der Therapie eine zunehmende Rolle – bis hin zu einer blutspiegelorientierten Pharamakotherapie (TDM, therapeutic drug monitoring). Nicht zuletzt können auch die Applikationszeiten eine Rolle spielen: Acetylsalicylsäure (ASS) morgens, Statine abends. Fixe Kombinationspräparate Fixe Kombinationspräparate haben eine relativ lange Tradition. So wurden zwischen 1945 und 1950 die so genannten Polysulfonamide entwickelt, wodurch das Risiko toxischer Nierenschäden vermindert werden sollte. 1968 wurde Co-trimoxazol, eine Chemokombination aus Sulfamethoxazol und Trimethoprim eingeführt. Später wurden auch andere Sulfanilamide als Kombinationspartner eingesetzt, die sich aber auf dem Markt nicht halten konnten. Im Laufe der Jahre wurde eine Vielzahl mehr oder weniger sinnvoller Kombinationspräparate entwickelt, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann. Besonders beliebt waren lange Zeit „Mischanalgetika“, vor allem mit der euphorisierenden Komponente Coffein. Eine sehr beliebte „Spielwiese“ sind derzeit Kombinationen von Antihypertonika, wobei auch drei Bestandteile, z.B. Propranolol, Triamteren plus Hydrochlorothiazid (HCT) keine Seltenheit sind. Gegenwärtig läuft eine Studie zur Entwicklung Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 11 einer Dreifachkombination von Aliskiren (300 mg) plus HCT (25 mg) plus Amlodipin (5 mg). Dass der Blutdruck durch solche Kombinationen stärker gesenkt wird als durch eine Monotherapie, ist einleuchtend. Bisher gab es jedoch keine klinischen Endpunktstudien auf diesem Gebiet, die den Nutzen einer solchen intensivierten Therapie für den Patienten belegen. Wie notwendig es ist, den Sinn einer intensiven Therapie im Vergleich zur Standardtherapie zu evaluieren, haben uns jedoch die Diabetes-Studien des letzten Jahres gezeigt. ACCORD (Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes Study Group) wurde nach 3,5 Jahren wegen erhöhter Mortalität in der Intensivtherapiegruppe vorzeitig abgebrochen [2]. In ADVANCE (Action in Diabetes and Vascular disease: preterAx and diamicroN-MR Controlled Evaluation), VADT (Veterans Affairs Diabetes Trial) and NICE-SUGAR (Normoglycemia in Intensive Care Evaluation – Survival Using Glucose Algorithm Regulation) hatten die intensiv behandelten Patienten keinen klinisch relevanten Nutzen [3, 4, 5]. Seit 2004 ist in Deutschland der Lipidsenker INEGY®, eine Kombination aus Ezetimib und Simvastatin im Handel. Trotz fehlender Nutzen- und Sicherheitsbelege hat das Präparat innerhalb weniger Jahre einen „Blockbuster-Status” erreicht. Es reicht nicht aus, dass das Lipidprofil verbessert wird. Ethisch relevant wäre es zu erfahren, ob die kardiovaskuläre Mortalität gesenkt wird, ob weniger Herzinfarkte oder Schlaganfälle auftreten, ob die Anzahl der Krankenhauseinweisungen wegen instabiler Angina pectoris reduziert wird. Das alles wissen wir nach fünf Jahren noch immer nicht! Mitte des Jahres 2003 überraschten Wald und Law [6] die Welt mit ihrer Idee der „Polypill“, einer Art moderner Panazee. Deren Bestandteile: Ein Statin, drei Antihypertonika, Folsäure und ASS (siehe auch Beitrag auf Seite 14). Der geplanten Marketingstrategie zufolge sollte jeder Patient mit einer kardiovaskulären Erkrankung (Sekundärprävention) und jeder Mensch ab 55 Jahre (Primärprävention) diese Pille täglich schlucken. In diesem Jahr nun wurde TIPS (The Indian Polycap Study) publiziert, eine Phase IIStudie über 12 Wochen, in die 2053 Personen ohne kardiovaskuläre Erkrankungen zwischen 45 und 80 Jahren rekrutiert wurden [7]. Polycap ist eine Kombination aus ASS (100 mg), HCT (12,5 mg), Ramipril (5 mg), Atenolol (50 mg) und Simvastatin (20 mg). Wegen der Kürze der Beobachtungszeit konnten nur Surrogatparameter gemessen werden: Blutdruck, Lipidprofil, Herzfrequenz und die 11-Dehydrothromboxan B2-Ausscheidung im Urin. Wie zu erwarten war, wurden diese Parameter entsprechend verbessert. Im Rahmen einer Primärprävention wäre ASS dabei aber nicht erforderlich gewesen. Man darf auf die weitere Entwicklung gespannt sein. Jeder Unsinn ist natürlich noch zu übertreffen. So wären verschieden gefärbte weitere Polypill-Varianten denkbar: gelb mit Zusatz von Ezetimib, grün mit einem Antidepressivum, rot mit einem Antidementivum, blau mit Sildenafil usw. Man könnte sich auch Polypill-Varianten für Herzinsuffizienz NYHA II/III und NYHA III/IV vorstellen. Rheumatologen denken über einen Cocktail aus verschiedenen Biologica nach. Die Lösung des eigentlichen Problems wäre Aufgabe der Galeniker der PharmaIndustrie, da innerhalb der Zubereitungen natürlich keine Inkompatibilitäten auftreten dürfen. Sorgfältig ausgewählte fixe Kombinationen werden wir auch in der Zukunft benötigen. Das trifft besonders für Regionen mit ärztlicher Unterversorgung zu – nicht nur in den Ländern der dritten Welt. Das betrifft auch Patienten mit unzureichender Compliance. Vielleicht gewinnen solche Mischungen aber in der Zukunft Bedeutung, wenn auch im Fach Medizin Bachelor-Studiengänge eingeführt werden sollten. Eine individuelle Pharmakotherapie, insbesondere eine patientenorientierte Jeder Unsinn ist noch zu übertreffen Seite 12 KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Dosierung, ist dann aber nicht mehr möglich, wodurch die Arzneimittel assoziierten Risiken für die Patienten erheblich zunehmen könnten. Im Rahmen einer Primärprävention sind fixe Kombinationen a priori nicht akzeptabel. Pharmakotherapie ist trotz aller Leitlinien individuell Individualisierte Pharmakotherapie Individualisierte Medizin, personalized medicine [8], nutzt genetische und molekularbiologische Informationen der einzelnen Patienten mit dem Ziel, die Zahl der Nebenwirkungen zu verringern und die Wirksamkeit der Pharmakotherapie zu verbessern. Nachfolgend können nur einige typische Beispiele genannt werden, um das Problem zu verdeutlichen. 1 Der Thrombozytenaggregationshemmer Clopidogrel (Iscover®, Plavix®) ist als „Prodrug“ selbst unwirksam. Die Aktivierung wird durch verschiedenene Cytochrom P450-Isoenzyme, z. B. CYP2C19, reguliert. Wie wir jetzt erfahren haben, sind aber etwa 30 bis 35 Prozent aller Menschen Träger eines funktionsreduzierten CYP2C19-Allels. Die Biotransformation zum aktiven Metaboliten 2-Oxo-Clopidogrel ist damit im Vergleich zu Nicht-Trägern des Allels um etwa 30 Prozent vermindert [9]. Diese Erkenntnisse sind fundamental und für Träger des funktionsreduzierten Allels bedrohlich, wie in einigen Studien an Herzinfarktpatienten gezeigt werden konnte. Unter der Behandlung mit Clopidogrel trat bei Trägern des funktionsreduzierten Allels der zusammengesetzte Endpunkt, z. B. Gesamtmortalität, nicht tödlicher Schlaganfall oder Herzinfarkt, häufiger auf als bei Nicht-Trägern: 12,1 Prozent versus 8,0 Prozent [9], 21,5 Prozent versus 13,3 Prozent [10] oder 20,5 Prozent versus 5,9 Prozent [11]. Auch Stentthrombosen traten bei Trägern häufiger auf (2,6 Prozent) als bei Nicht-Trägern (0,8 Prozent) [9]. Zur Zeit ist noch unklar, ob es gute Alternativen gibt, etwa den generellen Einsatz des anderen Thrombozytenaggregationshemmers Prasugrel (Efient®) oder die genetische Testung aller Patienten und eine individuelle Dosisanpassung oder den Wechsel zu einem anderen Präparat [12]. 2 In einer aktuellen Studie wurden Patienten mit metastasiertem Kolorektalkarzinom einer first-line-Behandlung mit Irinotecan, Fluorouracil und Leucovorin (FOLFORI) unterzogen. Die Hälfte der Patienten erhielt zusätzlich Cetuximab (Erbitux®) mit der Intention, eine mögliche Assoziation zwischen dem Mutationsstatus des KRAS (Kirsten-rat-sarcoma)-Gens und der Response auf Cetuximab zu ermitteln. Der Nutzen von Cetuximab beschränkte sich auf Patienten mit KRAS-Wildtyp-Tumoren. Das betraf sowohl das progressionsfreie Überleben als auch die Tumor-Response [13]. Dieselbe Differenzierung wurde auch schon für Panitumumab beschrieben. Beim metastasierten kolorektalen Karzinom ist die Bestimmung des Mutationszustandes des KRAS-Gens also ein zwingender Schritt. 3 Die TNF-α-Rezeptorblockade (destruktionshemmender Effekt) bei Rheumatoidarthritis durch Infliximab, Adalimumab und Etanercept ist gegenwärtig Goldstandard. Wir wissen jedoch, dass selbst bei der Kombination mit Methotrexat die Versagerquoten bei 20 bis 40 Prozent liegen, selbst wenn nur das ACR 20-Kriterium (Verbesserung um 20 Prozent entsprechend den Kriterien des American College of Rheumatology) zugrundegelegt wird [14]. So ist es naheliegend, dass jetzt Studien anlaufen, in denen durch DNA-basierte Untersuchungen klinisch relevante genetische Polymorphismen identifiziert werden sollen, um Therapie Non-Responder frühzeitig identifizieren zu können. 4 Summarisch sollen nur noch einige Beispiele angemerkt werden, zu denen allerdings noch größere klinische Studien fehlen: – Die Wirkung von Cholinesterasehemmern könnte bei Apolipoprotein E4-negativen Patienten mit M. Alzheimer intensiver sein als bei apo E4positiven [15]. – Genetische Polymorphismen scheinen auch eine Rolle zu spielen bei der Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 13 Wirkung von Ezetimib [16], Statinen [17] und Hydrochlorothiazid [18], was eindeutig gegen den Gebrauch einer Polypill sprechen würde. Einer individualisierten Pharmakotherapie wird wohl auf vielen Gebieten die Zukunft gehören. Bei der Therapie des Mammakarzinoms ist sie schon Gegenwart, z. B. Trastuzumab (Herceptin®) für die adjuvante Therapie des HER2/neu-positiven Karzinoms. Da sich genetische Eigenschaften lebenslang nicht ändern, reicht die einmalige Bestimmung therapierelevanter Mutationen. Wie rasch sich diese notwendige Entwicklung vollziehen wird, lässt sich schwer voraussehen: „Prediction is very difficult, especially about the future“ (Niels Bohr). In der ärztlichen Praxis werden sich wohl fixe Kombinationen und individualisierte therapeutische Optionen auf der Basis kontrollierter klinischer Studien mit patientenrelevanten Endpunkten nicht ausschließen, sondern – auch unter allokationsethischen Aspekten – sinnvoll ergänzen müssen. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Scheler W: Grundlagen der Allgemeinen Pharmakologie. Jena: Fischer 1989; 24. 2 Action of Control Cardiovascular Risk in Diabetes Study Group: Effects of intensive glucose lowering in type 2 diabetes. N Engl J Med 2008; 358: 2545-59. 3 Advance Collaborative Group: Intensive blood glucose control and vascular outcomes in patients with type 2 diabetes. N Engl J Med 2008; 358: 2560-72. 4 Duckworth W, Abraira C, Moritz T et al.: Glucose control and vascular complications in veterans with type 2 diabetes. N Engl J Med 2009; 360: 129-39. 5 NICE-SUGAR Study Investigators: Intensive versus conventional glucose control in critically ill patients. N Engl J Med 2009; 360: 1283-97. 6 Wald NJ, Law MR: A strategy to reduce cardiovascular disease by more than 80 %. bmj.com 2003; 326: 1419. 7 The Indian Polycap Study (TIPS): Effects of a polypill (Polycap) on risk factors in middle-aged individuals without cardiovascular disease (TIPS): a phase II, doubleblind, randomised trial. Lancet 2009; 373: 1341-51. 8 Ingelman-Sundberg M: Pharmacogenomic biomarkers for prediction of severe adverse drug reactions. N Engl J Med 2008; 358: 637-9. 9 Mega JL, Close SL, Wiviott SD et al.: Cytochrome P-450 polymorphisms and response to clopidogrel. N Engl J Med 2009; 360: 354-62. 10 Simon T, Verstuyft C, Mary-Krause M et al.: Genetic determinants of response to clopidogrel and cardiovascular events. N Engl J Med 2009; 360: 363-75. 11 Collet JP, Hulot JS, Pena A et al.: Cytochrome P450 2C19 polymorphism in young patients treated with clopidogrel after myocardial infarction: a cohort study. Lancet 2009; 373: 309-17. 12 Freedman JE, Hylek EM: Clopidogrel, genetics, and drug responsiveness. N Engl J Med 2009; 360: 411-3. 13 Cutsem EV, Köhne CH, Hitre E et al.: Cetuximab and chemotherapy as initial treatment for metastatic colorectal cancer. N Engl J Med 2009; 360: 1408-17. 14 Smolen JS, Aletaha D, Koeller M, Weisman MH, Emery P: New therapies for treatment of rheumatoid arthritis. Lancet 2007; 370: 1861-74. 15 Poirier J, Delisle MC, Quirion R et al.: Apolipoprotein E4 allele as a predictor of cholinergic deficits and treatment outcome in Alzheimer disease. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 1995; 92: 12260-4. 16 Rinninger F, Greten H: Neu entschlüsselte Mechanismen der Cholesterinhomöostase. Dtsch Arztebl 2005; 102: A 516-9 [Heft 8]. 17 Chasman DI, Posada D, Subrahmanyan L, Cook NR, Stanton VP, Ridker PM: Pharmacogenetic study of statin therapy and cholesterol reduction. JAMA 2004; 291: 2821-7. 18 Cusi D, Barlassina C, Azzani T et al.: Polymorphisms of alpha-adducin and salt sensitivity in patients with essential hypertension. Lancet 1997; 349: 1353-7. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. Frank P. Meyer Magdeburger Str. 29 39167 Groß Rodensleben Seite 14 Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Die epidemiologische „Superpille“ Errechnete Reduktion von ischämischen Herzerkrankungen um 88 Prozent und von Schlaganfällen um 80 Prozent erscheint zweifelhaft Von Dr. med. Günter Hopf Zwei Epidemiologen schlagen im British Medical Journal (BMJ) vor, dass alle Menschen über 55 Jahre und zusätzlich alle Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen eine so genannte „Polypill“ mit sechs Inhaltsstoffen einnehmen sollten, um schwerwiegenden Herzerkrankungen und Schlaganfällen vorzubeugen (siehe Tabelle 1) [1]. Dies war den Herausgebern sogar ein prinzipiell zustimmendes Editorial wert [2]. Bereits im Mittelalter wollten die Menschen länger leben, dabei aber nicht alt werden. Findige Pharmazeuten schufen damals das Allheilmittel „Theriak“, eine vielfältige, z.T. regional variierende Mischung gepulverter Pflanzenbestandteile mit Wirkung unter anderem auf Herz und Kreislauf, Magen, Leber und Galle, Niere und Dickdarm, zur Therapie und auch zur Vorbeugung. In vielen Herstellungsvorschriften von Theriak war auch Opium entTabelle 1: Zielvorstellungen und Inhaltsstoffe halten, das bei Patienten für den der geplanten „Superpille“: nötigen Abstand zur jeweiligen Cholesterinsenkung um 1,8 mmol/l (70 mg/dl) Erkrankung bzw. bei Gesunden zu ein Cholesterinsynthesehemmer („Statin“), angegeben einer entspannten Grundhaltung Atorvastatin 10 mg/d, Simvastatin 40 mg abends oder führte. Bis in die heutige Zeit exis80 mg morgens. tieren auf ähnlicher Basis in vie Blutdrucksenkung um 11 mmHg diastolisch len Apotheken selbst hergestellte Dreier-Antihypertensivakombination in halber StandardTinkturen, Elixire und arzneiliche dosierung (Auswahl aus den Stoffgruppen Thiazide, Weine als Eigenspezialitäten (z. B. Betablocker, ACE-Hemmer, Angiotensin II-Rezeptor „Elixier ad longam vitam“), wobei Antagonisten, Kalziumkanalblocker). heutzutage Ethylalkohol die Rolle Homocysteinsenkung um 3 μmol/l des Opiums übernimmt. Folsäure 0,8 mg/d. Nun sind mittelalterliche Mixtu Aggregationshemmung ren nicht direkt vergleichbar mit Acetylsalicylsäure in niedriger Dosierung 50 bis 125 mg/d. den theoretischen Erwägungen der beiden Epidemiologen, die immerhin Arzneistoffe in einer Pille zusammenmischen wollen, deren Wirksamkeit in vielen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurde (bis auf die Folsäuregabe, deren Effekt zumindest in der Primärprävention noch kontrovers beurteilt wird). Das verbessert den gewählten Ansatz jedoch nur wenig, Polypragmasie ist beides. Die statistischen Berechnungen der Autoren scheinen nur bedingt schlüssig, z. B.: a Statt der angegebenen hohen relativen Risiken wäre die Angabe von absoluten Risiken von Vorteil. b Der Anstieg des Blutdruckes und der auftretenden Todesfälle ist nicht linear korreliert. c Cholesterinsenkung bei Patienten mit hohen Spiegeln ist nicht vergleichbar mit der bei Gesunden. d Ein additiver Effekt der verschiedenen Arzneistoffe in Kombination ist nicht nachgewiesen. e Interaktionen zwischen den einzelnen Arzneistoffen machen eine Addition der in separaten Studien nachgewiesenen Risikoreduktion der Einzelsubstanzen wenig plausibel. Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 15 Die Präventionserwägungen bleiben Hypothesen und entsprechen nicht der Komplexität kardiovaskulärer Erkrankungen. Das Vorgehen ist vergleichbar mit dem jahrelang behaupteten theoretischen kardiovaskulären Benefit einer langjährigen Hormontherapie nach der Menopause und wohl auch mit dem derzeit theoretisch berechneten Benefit der Maßnahmen zur Früherkennung des Brustkrebses der Frau oder des Prostatakarzinoms beim Mann. Erfolgsraten von 88 Prozent (bei ischämischen Herzerkrankungen) beziehungsweise 80 Prozent (bei Schlaganfällen) allein durch eine medikamentöse Therapie scheinen selbst bei Personen mit Gefäßerkrankungen übertrieben, ganz zu schweigen von der Anwendung bei Gesunden über 55 Jahren. Erfahrungen in der Therapie des Diabetes Typ 2 mit multiplen gleichzeitigen Behandlungsansätzen sprechen von einer maximal möglichen Risikoreduktion um 50 Prozent [3]. Folgende allgemeine Erwägungen wurden zu wenig berücksichtigt: 1 Die berechneten Risikoreduktionen beziehen sich nur auf die jeweilige Studienpopulation, die mit der Zusammensetzung der Bevölkerung nicht identisch ist. 2 Anerkannter medizinischer Standard – zumindest in den Empfehlungen unabhängiger Sachverständiger – ist eine individuelle Arzneimitteltherapie, unter Berücksichtigung der Ausprägung der jeweiligen individuellen Risikofaktoren und des individuellen Ansprechens auf ein Medikament. Ärzte und Ärztinnen behandeln Patienten und nicht die Bevölkerung. 3 Die Compliance der Patienten wurde vorausgesetzt. Bei der Therapie von Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen ist das korrekte Einnahmeverhalten ein ungelöstes Problem. Bei gesunden Menschen ohne Krankheitssymptome wird Therapietreue noch seltener zu beobachten sein. 4 Schwerwiegende unerwünschte Wirkungen (UAW) sind bei den lange bekannten Wirkstoffen zwar selten, aber nicht auszuschließen. Die angegebenen Inzidenzen von leichten UAW wurden aus klinischen Studien hochgerechnet und berücksichtigen erhebliche Dunkelziffern und mögliche Reaktionen von Gesunden nicht. Als Beispiele seien der ACE-Hemmer-bedingte Husten oder die durch Betablocker bedingte Müdigkeit erwähnt: Jeder Gesunde wird sich bei Auftreten dieser Symptome weigern, die Superpille weiter einzunehmen. 5 Der generellen Behauptung, dass eine Dreier-Kombination niedrig dosierter Antihypertensiva weniger UAW zur Folge hat, muss deutlich widersprochen werden: beispielsweise Überempfindlichkeitsreaktionen sind unabhängig von der Dosis. 6 Die Einnahmeempfehlung einer Superpille zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen fördert das unkritische Pillenschlucken in der Bevölkerung und suggeriert, dass jeder ab einem Alter von 55 Jahren krank ist und eine Pille einnehmen muss. Alle Empfehlungen für eine gesunde Lebensweise werden relativiert. 7 Wann werden Forderungen nach Zusätzen zur Superpille laut? Senilen Demenzen, depressiven Verstimmungen, Diabetes, Knochenbrüchen, Knorpelschäden sollte ebenfalls medikamentös vorgebeugt werden – nicht zuletzt den Magenverstimmungen, verursacht durch die Einnahme unzähliger Arzneistoffe. Resümee In einem Leserbrief zu dieser Publikation wird die Möglichkeit einer zu 100 Prozent erfolgreichen Prävention der Mortalität erwähnt: nicht geboren zu werden. Für einige Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen könnte die „Superpille“ jedoch von Vorteil sein. Eine Kombination einzelner Komponenten gilt bereits heute als „State of the art“. Wenn jedoch jede Person über 55 Jahre diese Arzneistoffe einnehmen soll, so wäre ein Zusatz in der Nahrung des entsprechenden Personenkreises wie etwa in Altenheimen praktischer. Die Strategie erinnert an dirigistische Maßnahmen zur Erhöhung der „Volksgesundheit“, beschert den Shareholders der Hersteller ungeahnte Gewinne und widerspricht einer medizinisch sinnvollen Anwendung wirksamer Arzneimittel. Nur wer nicht geboren wird, kann nicht sterben KVH • aktuell Seite 16 Nr. 4 / 2009 Es könnte sein, dass die Herausgeber des angesehenen BMJ diese für die medizinische Praxis wenig hilfreiche und fraglich ernst zu nehmende Studie publiziert haben, um eine Vielzahl von kritischen Leserbriefen zu provozieren. Ihre Erwartungen wurden erfüllt. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 N.J.Wald: M.R.Law, A strategy to reduce cardíovascular disease by more than 80 % Brit. Med.J. 2003; 326: 1419 2 A. Rodgers: Editorial, A cure for cardiovascular disease? Brit. med. J. 2003; 326: 1407 3 P.Gaede et al.: Multifactorial intervention and cardiovascular disease in diabetes. N.Engl.J.Med 2003; 348: 383 Rezept des Monats Warum so viele Blutdruckmittel? Medikament morgens mittags abends HCT 25 1 0 1 Bisoprolol 5 1 0 1 Ramipril 5 1 0 1 Amlodipin 5 1 0 1 Torem® 10 1 0 0 Rasilez® 300 mg 1 0 0 Doxazosin 4 mg 1 0 1 Ebrantil® 90 ret. 1 0 0 Clonidin 250 ret. 1 zur Nacht Metamizol 500 1 1 1 Pantozol® 20 1 0 1 Trevilor® ret. 150 75 0 1 0 1 Tavor® 0,5 Mirtazapin 30 mg 1 zur Nacht Allopurinol 100 0 0 1 Movicol® Btl. 1 1 1 Calciumcarbonat Kautbl. 1 1 1 Magnesiumbrause 1 0 0 Patientin, 74 Jahre alt, nach Hemithyreoidektomie aus der chirurgischen Abteilung eines hessischen Krankenhauses entlassen. Primärer Hyperparathyreoidismus sowie Schilddrüsenkarzinom. Postoperative hypertensive Entgleisung bei bekannter hypertensiver Herzerkrankung. Chronisches HWS- und BWS-Syndrom bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen und Benzodiazepinabusus. Zustand nach rezidivierenden Synkopen, am ehesten psychogener Genese. Zustand nach Schrittmacherimplantation bei hypersensitivem Carotissinus. Diabetes mellitus Typ 2. Chronische Niereninsuffizienz bei benigner Nierensklerose. Hyperurikämie. Hyperlipidämie. Zustand nach Langzeitbeatmung bei Aspirationspneumonie vor vier Jahren. Periarthropathia humeroscapularis calcarea rechts. Acromioclaviculargelenks-Arthrose. Das Frühstück dieser Patientin besteht laut Entlassungsmedikation aus 15 verschiedenen Medikamenten. Die Compliance dürfte hier ganz schnell zusammenbrechen. Solange auf der Station die Schwester für die Zusammenstellung und Einnahme sorgt, mag die Medikamentenvielfalt noch funktionieren – obwohl man sich auch dabei fragen muss, ob die Patientin trotz einer postoperativen hypertensiven Krise wirklich für längere Zeit derart viele Antihypertensiva braucht. Hier wäre zu überlegen und zu testen, ob nichtmedikamentöse Maßnahmen dieses antihypertensive Spektrum deutlich reduzieren könnten. KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Seite 17 Erneut: Blutzucker-Selbstkontrolle beim Typ-2-Diabetiker Für Sie gelesen Dr. med. Klaus Ehrenthal Nachdem 2007 und 2008 im BMJ einige Arbeiten zum Nutzen der BlutzuckerSelbstkontrolle erschienen waren [1,2,3], hatten wir dazu Stellung genommen [4], da inzwischen auch in Deutschland die Kosten für die Teststreifen einer solchen Blutzucker-Selbstmessung erheblich angestiegen waren. Den medizinischen Nutzen einer Blutzucker-Selbstmessung hatten wir in Übereinstimmung mit Farmer et al. [1], O’Kane et al. [2] und Simon et al. [3] diskutiert und die Blutzuckerselbstkontrolle in Deutschland nur für besondere Fälle als sinnvoll angesehen: 1 bei Typ-1-Diabetikern (als GKV-Leistung) 2 bei Diabetikern, bei denen die Insulingabe von den Messwerten abhängt (als GKV-Leistung) 3 bei Neueinstellungen von Typ-2-Diabetikern (als GKV-Leistung in einigen KVen) 4 bei ausgewählten Patienten mit Diabetes Typ 2 als eine die Compliance fördernde Maßname (keine generelle GKV-Leistung). Verordnung Umsatz in Apoth.- Verkaufspr. (2008) Blutzucker-Teststreifen 62.240.589 € Insuline Gesamt 90.211.154 € A10C1 H-Insulin und Analoga, sofort wirksam 38.243.829 € A10C3 H-Insulin u. Analoga intermed. / sofort wirksam 17.296.326 € A10C5 Langzeit-Humaninsulin und Analoga 15.909.053 € A10E0 Insulinzubehör 9.436.326 € A10C2 H-Insulin und Analoga, intermediär wirksam 9.325.620 € Bald messen wir mehr, als wir behandeln: Die Kosten für Glukoseteststreifen liegen schon in der Nähe der Kosten der gesamten Insulinbehandlung (Tabelle links) und die Zahl der Verordnungen steigt immer weiter (Grafik unten). Die Daten stammen aus Hessen, die Relationen dürften aber überall ähnlich sein. 25.000.000 20.000.000 15.000.000 10.000.000 5.000.000 Q I/2 00 Q 6 II/ 20 0 Q III 6 /2 00 Q IV 6 /2 0 Q 06 I/2 00 Q 7 II/ 20 0 Q III 7 /2 00 Q IV 7 /2 0 Q 07 I/2 00 Q 8 II/ 20 0 Q III 8 /2 00 Q IV 8 /2 0 Q 08 I/2 00 Q 9 II/ 20 09 0 Blutzuckerteststreifen Insuline KVH • aktuell Seite 18 Nr. 4 / 2009 Da einige KVen unterschiedliche Grenzen zur definierten „Unwirtschaftlichkeit“ mit dem Arzt drohenden Regressverfahren wegen der Kosten der Teststreifen bei Typ-2-Diabetikern, die kein Insulin erhalten, formuliert haben, hatten wir versucht, soweit möglich, hierzu einige Informationen zusammenzutragen [4]. Inzwischen hat mit Datum vom 16.06.09 das IQWiG einen Vorbericht zur „Urinund Blutzuckerselbstmessung bei Diabetes Typ 2“ veröffentlicht [5]. Nach wie vor werden in Deutschland erhebliche Summen für eine Blutzucker-Selbstmessung für Typ-2-Diabetiker ausgegeben, weswegen hier noch einmal die übereinstimmenden Bewertungen unseres Berichtes zu den Untersuchungen aus Großbritannien und denen des IQWiG-Vorberichtes hervorgehoben werden sollen. Kein Nutzen der Selbstmessung für oral behandelte Typ-2-Diabetiker gefunden Bedeutung für unsere Praxis Bei der systematischen Literaturrecherche des IQWiG, bei der 15 Publikationen zu verschiedenen Studien mit teilweise unterschiedlichem Design und unterschiedlichen Patientengruppen untersucht wurden, konnten letztendlich fünf Studien gefunden werden, die Fälle mit Blutglukose-Selbstmessung solchen Fällen, die keine Blutglukose-Selbstmessung durchführten, gegenüberstellten. Das nach sorgfältiger Untersuchung der Studien gefällte Endurteil des IQWiG lautet auch hier im Fazit (S.77): „Weder für die Blutzuckerselbstmessung noch für die Urinzuckerselbstmessung gibt es einen Beleg des Nutzens bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, die nicht mit Insulin behandelt werden. Es gibt auch keinen Beleg für einen Zusatznutzen der Blutzuckerselbstmessung gegenüber der Urinzuckerselbstmessung oder umgekehrt. …“ Zurückhaltung ist gerechtfertigt Da somit jetzt eine offizielle Stellungnahme des IQWiG vorliegt, ist es für den behandelnden Arzt besonders wichtig, bei Typ-2-Diabetikern, die kein Insulin erhalten, mit Verordnungen von Teststreifen zurückhaltend umzugehen, um Regressanträge wegen „Unwirtschaftlichkeit“ zu vermeiden. Als Hilfestellung kann die eingangs aus unserer ersten Arbeit wiederholte Übersicht verwendet werden. Es gilt also auch weiterhin: Allen nicht mit Insulin behandelten Typ-2Diabetikern kann der Arzt guten Gewissens die Blutzuckerselbstkontrolle erlassen. Dies sollte auch bei den Diabetes-Schulungen berücksichtigt werden. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Farmer A, Wade A, Goyder E, Yudkin P, French D, Craven R, Kinmonth AL, Neil A.: Impact of self monitoring of blood glucose in the management of patients with non-insulin treated diabetes: open parallel group randomised trial. BMJ 2007;335:132-9, doi:10.1136/bmj.39247.447431.BE 2 O’Kane MJ, Bunting B, Copeland M, Coates VE on behalf of the ESMON study group. Efficacy of self monitoring of blood glucose in patients with newly diagnosed type 2 diabetes (ESMON study): randomised controlled trial. BMJ 2008;336:1174-7, doi:10.1136/bmj.39534.571644.BE 3 Simon J, Gray A, Clarke P, Wade A, Neil A, Farmer A on behalf of the Diabetes Glycaemic Education and Monitoring Trtial Group. BMJ 2008;336:1177-80 4 siehe auch: Ehrenthal K. Blutzucker-Selbstkontrolle beim Typ-2-Diabetes. KVH aktuell Pharmakotherapie 2008;13(Nr.4):24-27 5 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Urin- und Blutzuckerselbstmessung bei Diabetes Typ 2. Vorbericht A05-08 vom 16.06.2009, Köln 2009: S.77 Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Praxis-Studie soll klären: Wie werden Multimorbide am sichersten behandelt? PRIMUM – PRIorisierung von MUltimedikation bei Multimorbidität. Eine industrieunabhängige BMBF-geförderte Studie (Fkz: 01GK0702). In einer älter werdenden Bevölkerung tritt die Versorgung chronisch kranker, multimorbider Patienten* zunehmend in den Vordergrund. Mehr als anderswo werden Patienten in der Hausarztpraxis über einen langen Zeitraum betreut. Das erfordert langfristige Planung, Koordination und Überwachung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen unter Einbeziehung verschiedener Fachspezialisten. Gerade im Rahmen von Multimorbidität sehen sich Hausärzte* mit zusätzlichen Problemen konfrontiert: belastbare Evidenz aus klinischen Studien fehlt für diese Patienten weitgehend, heutige Leitlinien berücksichtigen Probleme von Ko- und Multimorbidität nicht angemessen, Fachspezialisten behandeln überwiegend krankheitsspezifisch, und für eine Priorisierung von Therapiezielen fehlen praktikable Instrumente. In der Folge werden Patienten häufig mit einer Vielzahl von Medikamenten therapiert, was mit relevanten Risiken verbunden ist. Wie internationale Studien belegen, nimmt mit der Zahl der eingenommenen Medikamente die Therapietreue der Patienten ab. Gleichzeitig steigt das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und -interaktionen sowie dadurch verursachte Krankenhauseinweisungen. Bisher gibt es nur wenige Studien zur Frage, wie diesen Problemen wirksam begegnet werden kann. Danach konnten mittels elektronischer Systeme, die Warnhinweise bei Arzneimittelinteraktionen anzeigen, die Angemessenheit medikamentöser Verordnungen und durch Vorgespräche zwischen nichtärztlichem Assistenzpersonal und Patienten deren Therapietreue verbessert werden. Die Interventionen dieser Studien zielten auf einzelne Phasen des Medikationsprozesses und zeigten demgemäß geringe bis mäßige Effekte. Um den gesamten Medikationsprozess zu verbessern, wurde von Mitarbeitern des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main in Kooperation mit Pharmakologen der Universität Heidelberg eine komplexe Intervention entwickelt, die verschiedene, schon als effektiv erwiesene Maßnahmen bündelt. Diese bezieht eine Medizinische Fachangestellte der Praxis sowie ein innovatives internetbasiertes Informationssystem ein. Damit sollen Hausärzte unterstützt werden, die Therapie bei älteren multimorbiden Patienten zu priorisieren und zu optimieren. Diese Intervention wird gegenwärtig in einer Pilotstudie in 20 hessischen Hausarztpraxen an insgesamt 100 Patienten getestet. Ziel der zwölfmonatigen Pilotstudie ist es, die Intervention für Hausarztpraxen so weit anzupassen, dass sie sich optimal in bestehende Praxisstrukturen und -abläufe einfügt. Erste Zwischenergebnisse werden derzeit ausgewertet, die Pilotstudie endet im Februar 2010. Nach deren Abschluss ist eine 24-monatige Hauptstudie in ca. 80 Hausarztpraxen an insgesamt etwa 400 Patienten vorgesehen. Darin soll untersucht werden, in welchem Ausmaß mit dieser Intervention die Lebensqualität und Therapietreue bei multimorbiden Patienten verbessert und Risiken durch potentiell unangemessene Verordnungen reduziert werden können. Sind Sie als Hausarzt / Hausärztin im Raum Frankfurt/M. (Umkreis bis ca. 200 km) tätig und fühlen sich von diesem Thema angesprochen? Können Sie sich mit Ihrem Team eine Studienteilnahme vorstellen? Dann nehmen Sie bitte mit uns Kontakt auf: Dr. med. Christiane Muth, MPH, Institut für Allgemeinmedizin Johann Wolfgang Goethe-Universität, Theodor-Stern-Kai 7, D-60590 Frankfurt eMail: muth@allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de http://www.allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de * Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wurde nur die männliche Form verwendet, es werden jedoch immer beide Geschlechter angesprochen. Seite 19 Der Gastbeitrag KVH • aktuell Seite 20 Für Sie gelesen Nr. 4 / 2009 Risiken bei der Demenzbehandlung mit Acetylcholinesterasehemmern Ergebnisse einer großen populationsbezogenen Kohortenstudie Dr. med. Klaus Ehrenthal Nur befristeter Behandlungsversuch erlaubt Bei Demenz vom Alzheimertyp werden derzeit besonders von Spezialisten vermehrt Behandlungen mit Acetylcholinesterasehemmern (ACEH) empfohlen. Das hat auch in Deutschland zu einer deutlichen Zunahme solcher Verschreibungen geführt [1]. Die Behandlung mit Antidementiva gilt als umstritten [2,3]. Für Rivastigmin, Galantamin und Donezepil gelten die Indikationen „leichte bis mittelschwere Demenz vom Alzheimer-Typ“, deren Diagnostik fachspezifisch erfolgt ist und deren Therapieversuch auch fachspezifisch zu überwachen ist. Für den Glutamatrezeptorhemmer (NMDA-Antagonisten) Memantin gilt derzeit trotz schlechter Datenlage [4] die Indikation für einen Therapieversuch: „mittelschwere bis schwere Demenz vom Alzheimer-Typ“ bei sonst gleichen diagnostischen und begrenzenden Maßnahmen wie bei der Behandlung mit ACEH. Die Behandlung ist in der GKV nur als befristeter Behandlungsversuch mit dokumentiertem Erstbefund (durch psychometrische Teste) und nachgehenden Kontrollen nach zwölf (ggf. nach 24) Wochen auf Therapieerfolg durchführbar. Bei Erfolglosigkeit oder Verschlechterung ist der Therapieversuch abzubrechen (siehe auch Arzneimittelrichtlinien [4, 6]). Inzwischen wurden zwar etliche UAW und Interaktionen beschrieben (u.a. gastrointestinale, hepatotoxische und cerebrovaskuläre Ereignisse, Unruhe, Kopfschmerz). Die Zunahme des Einsatzes von Antidementiva, die sicherlich häufig einer therapeutischen Ratlosigkeit der Behandler geschuldet ist, belegt jedoch, dass offenbar viele Ärzte sich des Risikos eines solchen Behandlungsversuches nicht bewusst sind. Große bevölkerungsbasierte Kohortenstudie aus Kanada zum ACEH-Risiko Um zu klären, wie das Risiko von Acetylcholinesterasehemmern (ACEH) sich auswirkt bei der Behandlung von Alzheimerpatienten, die im häuslichen Umfeld betreut werden, wurden kürzlich die Ergebnisse einer großen Kohortenstudie veröffentlicht [7], bei der besonders auf eine symptomatische Bradycardie und Synkopen mit deren Folgen geachtet wurde. Es wurden die Health-Care Daten des Bundesstaates Ontario in Kanada über zwei Jahre (vom 01.04.2002 bis zum 31.03.2004) durchgesehen. Dabei fanden sich 19.803 zuhause lebende ältere Patienten, denen wegen Demenzerkrankung Acetylcholinesterasehemmer verschrieben worden waren. Es erhielten dabei Donezepil 13.641 Fälle, Galantamin 3.448 Fälle und Rivastigmin 2.714 Fälle. Diese insgesamt 19.803 Demenz-Patienten wurden verglichen mit weiteren 61.499 älteren Demenzpatienten, die zuhause lebten ohne eine ACEH-Behandlung. Ergebnisse Dabei fanden sich bei den ACEH-Fällen vermehrte Krankenhausaufnahmen wegen Synkopen (31,5 versus 18,6 Ereignisse hochgerechnet auf 1.000 Patientenjahre – Hazard Ratio (HR) 1.76; 95%-Konfidenzintervall (KI) 1.57-1,98). Weitere im Zusammenhang mit Synkopen stehende Ereignisse waren ebenfalls bei mit ACEH behandelten Dementen häufiger: Krankenhausaufnahmen wegen Bradycardie (6,9 versus 4,4 per 1.000 Patientenjahre – HR 1.69; 95%-KI 1,32-2,15) wurden vermehrt erforderlich. Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Die Notwendigkeit der Implantation eines permanenten Schrittmachers fand sich ebenfalls bei ACEH-Patienten häufiger (4,7 versus 3,3 per 1.000 Patientenjahre – HR 1,49; 95%-KI 1,12-2,00). Ebenso wurden bei den ACEH-Patienten vermehrte Hüftfrakturen gefunden: (22,4 versus 19,8 per 1.000 Patientenjahre; HR 1,18; 95%-KI 1,04-1,34). Diese Ergebnisse blieben auch robust bei weiteren rechnerischen Analysen, bei denen die Patienten nach ihrer Komorbidität oder durch weitere Scores aufgeteilt worden waren. Therapie-Erfolg muss mit psychometrischem Test bewiesen werden Als Voraussetzung für einen eventuellen Therapieversuch bei einem DemenzPatienten vom Alzheimertyp mit Antidementiva sind nach den Arzneimittelrichtlinien [4] in der GKV die ordnungsgemässe Diagnostik und die spätere diagnostische Nachkontrolle nach zwölf (ggf. nach 24) Wochen durchzuführen (psychometrischer Test mit Dokumentation). Absetzen bei Nichterfolg der Therapie. Das Risiko von UAW und Interaktionen bei Polypharmakotherapie ist für die Therapieentscheidung besonders zu bedenken. Speziell ist mit vermehrten Komplikationen durch Bradycardien und Synkopen mit allen Folgemöglichkeiten (Stürzen, Hüftfrakturen usw.) zu rechnen, wie diese große Kohortenstudie eindeutig zeigte. Das sollte vor Therapiebeginn bedacht werden. Schrittmacherimplantationen können häufiger erforderlich werden. Kardial erkrankte Patienten sind dabei einem besonderen Risiko ausgeliefert. Seite 21 Wenig Wirkung, viel Nebenwirkungen – bis hin zur Hüftfraktur Bedeutung für unsere Praxis Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Schwabe U, Paffrath D. (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2009, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, S.309-320 2 Mitteilung des IQWiG: www.gesundheitsinformation.de/alzheimer-demenz-wie-gut-helfen-cholinesterasehemmer.511.html 3 Arzneimittelinformationsdienst arznei-telegramm. AKB Arzneimittelkursbuch 2007/08 15.Aufl 2007 A.V.I. Arzneimittel-Verlags-GmbH, Berlin S.1975 4 Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (GBA), neue Fassung vom 01.04.2009, Anlage III (Übersicht über Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse) Nr.10, 5 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Memantin bei Alzheimer Demenz. Vorbericht A05-19C. Köln IQWiG; 2008, S.76-91 6 Siehe auch: Ehrenthal K. Was bringt die nicht-medikamentöse Behandlung bei der Alzheimer-Demenz? KVH aktuell Pharmakotherapie 2009;14(Nr.3):4-6 7 Gill SS, Anderson GM, Fischer HD, Bell CM, Li P, Normand ST, Rochon PA. Syncope and Its Consequences in Patients With Dementia Receiving Cholinesterase Inhibitors. A Population-Based Cohort Study. Arch Intern Med 2009;Vol 169, (Nr.9):867-73 Das Aus für Memantin IQWiG-Abschlussbericht zur Wirksamkeit von Memantin bei Alzheimer-Demenz erschienen Dr. med. Klaus Ehrenthal Zur Behandlung einer Alzheimer Demenz (AD) werden außer den Acetylcholinesterase-Hemmern immer noch vereinzelt Präparate aus Gingko-biloba-Extrakten sowie Piracetammedikamente u.a. angewendet, wenn auch deutlich weniger als vor Jahren [1], denn die insgesamt mangelhafte Evidenz sowohl der Gingko-Produkte [2] als auch bei Piracetam hat enttäuscht [1,3]. Daneben geht die Suche nach robusteren Therapiemöglichkeiten weiter. Umso intensiver wird derzeit für die Behandlung Für Sie gelesen KVH • aktuell Seite 22 Offensichtlich ist dem Alzheimer mit Arzneimitteln bisher nicht beizukommen Bedeutung für unsere Praxis Nr. 4 / 2009 der AD mit dem nicht kompetitiven NMDA-Rezeptor-Hemmer Memantin geworben [4] unter Hinweis auf die Zulassung zur Behandlung der moderaten bis schweren AD durch das BfArM in Deutschland und auch durch die FDA in den USA. Dazu äußerte sich die Arzneimittelkommission 2004 [5] ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für Neurologie 2008 [6] positiv im Sinne einer multimodalen Behandlungsoption. Allerdings sind durch das kürzliche Erscheinen des IQWiG-Abschlussberichtes [7] zur Wirksamkeit von Memantin bei AD nun erneut einige Hoffnungen auf eine verbesserte Möglichkeit der Pharmakotherapie bei AD verflogen. Hierzu sind deswegen demnächst entsprechende Neubewertungen zu erwarten. Ich zitierte [7]: „Es gibt keinen Beleg für den Nutzen der Memantin-Therapie bei Patienten mit Alzheimer Demenz. Dies gilt für Patienten mit mittelschwerer und schwerer Alzheimer Demenz gleichermaßen. Auch für die Behandlung als Monotherapie sowie in Kombination mit anderen Antidementiva gibt es keinen Beleg für einen Nutzen.“ Individuell nichtmedikamentöse Alternativen testen Mit der älter werdenden Bevölkerung wird es zu einer Verdopplung der Patienten mit Alzheimer Demenz alle 20 Jahre kommen [8], die dann medikamentös nicht befriedigend behandelbar sein werden. Also sollten alle nichtmedikamentösen Therapiemöglichkeiten (Anleitung und Unterstützung der pflegenden Familie, Fachpflege, Ergotherapie, kognitives Training u.a.) ausgeschöpft werden – ggf. additiv zu Medikamenten, wenn diese (in jedem Einzelfall zu überprüfen) wirksam sind. Nach den Ergebnissen des IQWiG-Berichtes zur nichtmedikamentösen Behandlung der Alzheimer Demenz vom 13.01.09 [9] sollten also angesichts der meist nur marginalen Erfolge einer antidementiven Pharmakotherapie bei leichten oder mittelschweren AD-Erkrankungen individuelle nichtmedikamentöse Behandlungsbedürfnisse aufgespürt und versucht werden. Einzelheiten dazu finden sich in unserem letzten Heft von KVH aktuell Pharmakotherapie [10]. In vielen Fällen können so Patienten mit leichter und mittelschwerer AD und ihre Pfleger und Betreuer in den Familien Unterstützung erhalten. Es bleibt eine schwere hausärztliche Aufgabe, diese irreversibel Erkrankten mit ihrem Los nicht alleine zu lassen. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Schwabe U, Paffrath D. (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2009, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, S.314-316 2 Gingko biloba for cognitive impairment and dementia. Cochrane Database Syst Rev. (April 2006) 18;(2): CD003120 3 Flicker I, Grimley Evans G (2001). Piracetam for dementia or cognitive impairment. Cochrane Database Syst Rev. 2001;(2):CD001011 4 z.B. Alzheimer aufhalten – länger Freude erleben, ausführlicher Flyer in: Der Hausarzt 2009;17, Flyer-Seite 9 5 Demenz. Therapieempfehlung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 2004; 3.Aufl, S.10-15 6 Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Georg Thieme Verlag Stuttgart. 4.überarb. Aufl. 2008; S.654 ff. 7 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Dillenburger Str. 27, 51105 Köln. Memantin bei Alzheimer Demenz, Abschlussbericht 08.07.2009 Nr.59, Version 1.0, S.109 8 Alzheimer´s Disease International (ADI). 2009 World Alzheimer´s Report (21.Sept.2009). http://www.alz.co.uk/worldreport 9 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Dillenburger Str.27, 51105 Köln: Nichtmedikamentöse Behandlung der Alzheimer Demenz. Abschlussbericht 13.01.2009 Nr.41, Version 1.0 10 Ehrenthal K. Was bringt die nichtmedikamentöse Behandlung bei der Alzheimer-Demenz? KVH aktuell Pharmakotherapie September 2009;14(3): 4-6 Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 23 Betablocker bei Herzinsuffizienz Dosis oder Pulsfrequenz – was ist das entscheidende Kriterium? Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Bei Herzinsuffizienz hat sich die Behandlung mit Betablockern in vielen Studien als hilfreiche Therapie erwiesen [1, 2]. Die gelegentlich schädlichen Effekte einer Betablockade sind dosisabhängig [3]. Um die Frage zu klären, ob die verringerte Sterblichkeit bei Herzinsuffizienz durch Betablockade von der Senkung der Pulsfrequenz oder eher von der Dosierung des Betablockers abhängt, führten McAlister et al. [4] eine große Metaanalyse von 23 Studien durch mit insgesamt 19 209 Patienten. Nach gründlichen Recherchen in MEDLINE (1966-2008), EMBASE (1980-2008), CINAHL (1982-2008), SIGLE (1980-2008), Web of Science und dem COCHRANE Zentralregister nach kontrollierten Studien sowie nach weiterer Durchsicht verschiedener Bibliografien auf Studien und Metaanalysen sowie Leitlinien zu Betablockerbehandlung bei Herzinsuffizienz wurden 23 randomisierte Studien mit verschiedenen Betablockern in die systematische Untersuchung einbezogen. In diesen Studien war im Verumarm die Betablockertherapie mindestens für einen Monat durchgeführt und als ein Endpunkt die Todesrate ermittelt worden; außerdem mussten mindestens 50 Patienten in die Studie eingeschlosssen worden sein. Es wurden das Ausmaß der Pulsfrequenzsenkung und die Sterberate statistisch zuverlässig analysiert. Bei den untersuchten 19.209 Patienten lag die durchschnittliche linksventrikuläre Ejektionsfraktion zwischen 0,17 und 0,36. Mehr als 95 Prozent der Patienten hatten eine systolische Dysfunktion. Das Gesamtsterberisiko betrug 0,76 (95%-Konfidenzintervall (KI): 0,68-0,84). Fünf Schläge pro Minute weniger: Relatives Sterberisiko sinkt um 45 Prozent Nach sorgfältiger statistischer Auswertung berechneten die Untersucher, dass sich für jede Reduktion der Pulsfrequenz um fünf Schläge pro Minute das relative Sterberisiko um 45 Prozent (95%-KI: 6%-63%) verminderte. Die absolute Risikoreduktion der Sterberate betrug bei Pulssenkung um fünf Schläge pro Minute durchschnittlich 18 Prozent (95%-KI: 6%-29%). Dieser Zusammenhang von Pulsfrequenzsenkung mit dem relativen Sterberisiko bestand auch, wenn die Pulsfrequenzsenkung nur durch eine geringe Pulsabnahme vom Ausgangswert und nicht durch einen absoluten Pulsfrequenzwechsel beobachtet wurde (Die Reduktion (RR) des Sterberisikos verbesserte sich um 15 Prozent bei Pulssenkung um fünf Prozent (95%-KI: 5%-25%); p= 0.007). Es konnten keine weiteren Einflüsse auf die statistischen Ergebnisse des Benefits durch Pulssenkung mittels Betablocker bei zusätzlichen bivalenten und trivalenten Datenanalysen nach Geschlecht, Alter, ischämischen Ereignissen, linksventrikulärer Ejektionsfraktion, Digoxintherapie, Vorhofflimmern, NYHA-Klassikation gefunden werden. Die Ergebnisse (Benefit durch Pulsfrequenzsenkung) blieben signifikant (p ≤0,25). Ebenso fanden sich bei univariablen Meta-Regressions-Berechnungen keine Veränderungen des Überlebensbenefits der Pulssenkung mittels Betablocker Zusammenhang zwischen Pulsfrequenz und Überleben war eindeutig KVH • aktuell Seite 24 Nr. 4 / 2009 durch Geschlecht, Alter, ischämische Ereignisse, linksventrikuläre Ejektionsfraktion, NYHA-Klassifikation, Vorhofflimmern, Digoxintherapie, Ausgangspulsfrequenz oder Wechsel der Pulsfrequenz. Die Dosis allein bleibt ohne Einfluss Carvedilol, Bisoprolol und Metoprolol erscheinen bei Herzinsuffizienz gleichwertig Die Untersuchungen zur angewandten Dosierung des jeweiligen Betablockers erbrachten keinen Zusammenhang zur Reduktion der Gesamt-Mortalität (p=0,69). Die RR der Mortalität betrug 0,74 in den 15 untersuchten Studien, die eine Hochdosis-Betablockade erhalten hatten (95%-KI: 0,64-0,86), das bedeutet ≥ 50% der in Leitlinien empfohlenen Dosis, während in den sieben untersuchten Studien, in denen die Patienten eine niedrige Betablockade erhielten, die RR der Mortalität 0,78 betrug (95%-KI: 0,63-0,96). Eine der 23 untersuchten Studien enthielt keine Angaben zur Betablockerdosierung. Die Behandlung mit Betablockern senkt nach den Ergebnissen dieser Metaanalyse das Sterberisiko bei Herzinsuffizienz unabhängig von der Dosis ungefähr um ein Viertel. Die Autoren nehmen an, dass mit großer Wahrscheinlichkeit dabei Carvedilol, Bisoprolol und Metoprolol gleichwertig sind. Die Daten für Atenolol und Nebivolol fanden die Autoren nicht überzeugend. Geschlecht, Alter, ischämische Ereignisse, Digoxinbehandlung und linksventrikuläre Ejektionsfraktion haben keinen Einfluss auf den Benefit der Herzfrequenzsenkung gezeigt. Der positive Effekt auf die Überlebensrate bei Herzinsuffizienz war nicht durch die Dosierungen der Betablocker, sondern nur durch die erreichte Pulssenkung erkennbar. Dosis anhand des Pulses festlegen Auch die kritische Zeitschrift infomed-screen hat die Metaanalyse ausgewertet und kommt zu einem ähnlichen Ergebnis wie wir. Hier die Zusammenfassung aus infomed-screen: Der Einsatz von Betablockern verbessert die Lebenserwartung von Herzinsuffizienzkranken, führt aber oft zu Nebenwirkungen. Bisher ist nicht bekannt, ob die Herzfrequenzsenkung für die Verminderung der Sterblichkeit entscheidend ist. In dieser Meta-Analyse [1] wurden die Daten von placebokontrollierten Studien, in denen der Einfluss von Betablockern auf die Mortalität bei Herzinsuffizienz untersucht wurde, ausgewertet: Hängt der Behandlungsnutzen von der Senkung der Herzfrequenz bzw. von der Betablockerdosis ab? Anhand der Daten von 23 Studien mit insgesamt 19.209 Kranken konnten die Studienverantwortlichen zeigen, dass die Herzfrequenzsenkung durch die Betablockerbehandlung mit der Senkung der Mortalität korreliert. Eine Senkung der Ruhefrequenz um 5 Schläge pro Minute war mit einer um 18 Prozent niedrigeren Sterblichkeit assoziiert. Die verwendete Dosis des Betablockers hingegen hatte – nach Korrektur für die erreichte Frequenzreduktion – keinen Einfluss auf die Mortalität. Die gängige klinische Praxis, die Betablockerdosen anhand der erreichten Frequenzsenkung und der Nebenwirkungen zu titrieren, statt eine vordefinierte Dosis zu verwenden, wird durch die Ergebnisse dieser Meta-Analyse unterstützt. Trotzdem ist deren Aussagekraft limitiert, denn ursprünglich war keine einzige der untersuchten Studien auf diese Fragestellung hin ausgerichtet. Zusammengefasst von Rebekka Sterchi Literatur: 1 McAlister FA, Wiebe N, Ezekowitz JA et al. Meta-analysis: beta-blocker dose, heart rate reduction, and death in patients with heart failure. Ann Intern Med 2009 (2. Juni); 150: 784-94 Nachdruck der Zusammenfassung mit freundlicher Genehmigung der Infomed-Verlags-AG, Bergliweg 17, CH-9500 Wil aus infomed-screen September/Oktober 2009, Jahrgang 13, Nummer 5 Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 25 Zu den in den Studien beobachteten Todesfällen, die insgesamt zu mehr als 90 Prozent durch kardiovaskuläre Ereignisse ausgelöst worden waren, fanden sich keine Subgruppenanalysen. Eine Aussage zur optimalen Pulsreduktion blieb in der Studie offen. Puls muss im physiologischen Bereich liegen Herzinsuffizienz-Patienten profitieren von einer Pulsfrequenzsenkung durch Betablocker bezüglich ihres Sterberisikos unabhängig von Geschlecht, Alter, Zustand nach kardiovaskulären ischämischen Ereignissen, Digoxinbehandlung, linksventrikulärer Ejektionsfraktion, NYHA-Klassifikation. Die Dosierung des Betablockers hat darauf keinen nachweisbaren Einfluss. Wichtig ist, dass der Puls im physiologischen Bereich gesenkt wird, also Dosierung nach Wirkung! Wir müssen uns daher keine Gedanken machen, wenn wir wegen auftretender unerwünschter Wirkungen der Betablockertherapie nicht die gemäß der großen Studien zur Herzinsuffizienz empfohlene Zieldosis erreichen. Wahrscheinlich sind für die Betablockertherapie bei Herzinsuffizienz Carvedilol, Bisoprolol und Metoprolol am besten geeignet; für Atenolol und Nebivolol waren die Ergebnisse der Metaanalyse nicht überzeugend. Die optimale Herzfrequenz muss für jeden Patienten individuell ermittelt werden. Bedeutung für unsere Praxis Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Foody JM, Farrel MH, Krumholz HM. Beta-blocker therapy in heart failure: scientific view. JAMA. 2002;287:8839. (PMID: 11851582) 2 Brophy JM, Joseph L, Rouleau JL. Beta-blockers in congestive heart failure. A baysian meta-analysis. Ann Intern Med. 2001;134:550-60. (PMID: 112811737) 3 Ko DT, Hebert PR, Coffey CS, Curtis JP, Foody JM, Sedrakyan A, et al. Adverse effects of beta-blocker therapy for patients with heart failure: a quantitative overview of randomized trials. Arch Intern Med. 2004;164:1389-94. (PMID: 15249347) 4 McAlister FA, Wiebe N, Ezekowitz JA, Leung AA, Armstrong PW. Meta-analysis: beta-blocker dose, heart rate reduction, and death in patients with heart failure. Ann Intern Med. 2009;150:784-94 Methotrexat: Fehler bei Dosierung und verschleierte Infekte Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) teilt mit, dass eine korrekte Dosierung des Immunsuppressivums Methotrexat (MTX, viele Generika) sowohl Patienten als auch Ärzten Probleme bereitet. Bei rheumatischen und dermatologischen Erkrankungen wird einmal wöchentlich dosiert, und Patienten nehmen die Wochendosis versehentlich täglich ein. Auch Heilberuflern soll dieser Fehler unterlaufen sein. Geringe Dosen von 2 mg/d können bereits nach sechs Tagen zum Tod führen. Eine sorgfältige Aufklärung des Patienten ist dringend erforderlich. Eine Dauertherapie mit Methotrexat kann darüber hinaus klinische und/oder serologische Infektzeichen vermindern. Bei jungen Patienten mit rheumatischen Erkrankungen kam es zu einer Häufung Listeriose-bedingter septischer Gelenkentzündungen. Bei einem 68-jährigen Patienten mit schwerer Psoriasis (zusätzliche Risikokonstellationen: Splenektomie, toxische, vermutlich MTX-bedingte Leberzirrhose) entwickelte sich drei Wochen nach einer komplikationslosen Hämorrhoidektomie ein Hirnabzess mit Nachweis von Listeria monocytogenes. Quellen: www.aerzteblatt.de, Dt. med. Wschr. 2009; 134: 1218 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Seite 26 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Fragwürdige Testverfahren: Serum-IgG-Test bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten Fünf europäische Allergologenverbände bezeichnen den Nachweis von IgGAntikörpern zur Abklärung von Nahrungsmittelunverträglichkeiten als sinnlos. Ein hoher IgG-Spiegel zeige nur den Konsum des entsprechenden Nahrungsmittels an. Nahrungsmittelunverträglichkeiten als vermutliche Ursache chronischer Krankheiten oder Beschwerden können nur durch sorgfältige Analysen von Allergologen diagnostiziert werden. Chronische Erkrankungen wie Reizdarmsyndrome haben in der Regel vielfältige Ursachen, sogar eine wissenschaftlich belegte IgE-vermittelte Nahrungsmittelallergie ist selten. Bis heute mangele es an Studien, die einen Nutzen des Nachweises von Serum-IgG- oder IgG-Antikörpern gegen Nahrungsmittel bei entzündlichen Krankheiten nachweisen. Quelle: Pharm. Ztg. 2009; 154: 2328 Risedronsäure: chronische Ösophagitis Trotz korrekter Einnahme von Risedronsäure, Actonel® (mindestens 250 ml Wasser, aufrechte Körperposition, 30 min vor einer Mahlzeit) über zwei Jahre wegen manifester Osteoporose entwickelte sich bei einer 50-jährigen Patientin eine medikamentös induzierte Ösophagusläsion, die drei Tage nach Einnahme von Clindamycin (Sobelin®, viele Generika) wegen eines Nasenfurunkels exazerbierte. Im Unterschied zu einer zuvor diagnostizierten Refluxösophagitis waren distale Anteile des Ösophagus nicht beteiligt, und es konnte kristallines Material im entzündlichen Exsudat nachgewiesen werden. Bei protrahierten therapieresistenten Verläufen sollte an eine medikamentös induzierte Schädigung des Ösophagus gedacht werden, insbesondere bei Kombination mit anderen potentiell ulzerogenen Arzneistoffen (hier: Clindamycin). Alle Bisphosphonate können zu Schädigungen der Ösophagusschleimhaut führen, auch wenn Risedronat nach einer industriell unterstützten Metaanalyse im Vergleich zu Placebo keine signifikanten Unterschiede aufweisen soll. Trotz zusätzlicher Gabe eines Protonenpumpenhemmers konnten die Läsionen aufgrund der regelmäßigen Bisphosphonatexposition nicht ausheilen. Quelle: Dt. med. Wschr. 2009; 134: 1517 Allopurinol: Schwere Hautreaktionen Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) informiert über Ergebnisse einer multinationalen Fall-Kontrollstudie zu schweren Arzneimittelreaktionen an der Haut (Stevens-Johnson-Syndrom = SJS, und toxische epidermale Nekrolyse = TEN). Am häufigsten wurde Allopurinol (Zyloric®, viele Generika) mit diesen, mit einer hohen Letalität verbundenen, unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) in Zusammenhang gebracht (66 Fälle). Danach folgten Carbamazepin (Tegretal®, viele Generika), Cotrimoxazol (Eusaprim®, viele Generika), Nevirapin (Viramune®), Phenobarbital (Luminal®), Phenytoin (Phenhydan®, Generika) und Lamotrigin (Lamictal® viele Generika). Die Autoren und die AkdÄ leiten aus erhöhten Verordnungszahlen eine Tendenz zu unkritischer Behandlung mit diesem Arzneistoff ab. Sofern eine Diät nicht ausreicht, wird derzeit eine medikamentöse Therapie bei asymptomatischer Hyperurikämie ab Serum-Harnsäurewerten von 9 mg/dl empfohlen sowie möglichst KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Seite 27 niedrige Dosierungen von Allopurinol (SJS/TEN treten dosisabhängig auf). Patienten sollten über mögliche Symptome einer beginnenden schweren Hautreaktion aufgeklärt werden (Fieber, Augenbrennen, Schluckbeschwerden, Hautläsionen am Stamm). Zusätzlich sei darauf hingewiesen, dass sich unter den am häufigsten genannten Arzneistoffen mit diesen Nebenwirkungen drei derzeit eingesetzte Antiepileptika (und ein nur noch selten angewandtes) befinden. Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Quelle: Dt. Ärztebl. 2009; 106 (36): C 1477 Stimulantien: plötzliche Todesfälle bei Kindern Quelle: Dt.Apo.Ztg. 2009; 149 (26): 2930 Methylphenidat-haltige Arzneimittel bei ADHS: Zulassung wurde eingeschränkt Mit Wirkung zum 01.09.2009 hat das BfArM die Zulassung von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Methylphenidat (beispielsweise Ritalin®) eingeschränkt. Methylphenidat setzt zum einen die gesicherte, kriterienorientierte Diagnostik eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) und eine entsprechende Schwere und Dauer der Erkrankung voraus. Die Diagnose darf sich nicht alleine auf das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stützen. Zum anderen müssen erfolglose Behandlungsversuche mit anderen Therapieverfahren, wie Psychotherapie vorangegangen sein. Eine Behandlung mit Methylphenidat muss zudem im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie erfolgen. LH Quelle: KBV-Kompakt vom 29.07.2009 70.000 60.000 93.427 80.000 93.090 90.000 87.632 100.000 J 2007 J 2008 50.000 55.329 Anzahl Aufgrund einer retrospektiven Fallkontrollstudie will die amerikanische Überwachungsbehörde FDA nicht ausschließen, dass es unter einer Therapie mit fünf Stimulantien (vor allem Methylphenidat, z.B. Medikinet®, Ritalin® und andere) zu plötzlichen unerklärlichen Todesfällen bei Kindern kommen könnte. Derzeit geht eine große Studie dieser Frage weiter nach. In Hinblick auf die stark steigende Zahl an Verordnungen (z.B. Methylphenidat: fünf Mio Tagesdosen 1998, 46 Mio Tagesdosen 2007) scheint eine Indikationsausweitung für diese Arzneistoffe vorzuliegen, die deren mögliches Risiko zu wenig beachtet. 40.000 30.000 20.000 10.000 0 J 2006 Zeitraum Verordnungen von Methylphenidat am Beispiel Hessen: Die Substanz wird immer öfter verschrieben. Angesichts der Probleme, die dieses Mittel mit sich bringt, eine bedenkliche Entwicklung. Jan.- Jul. 2009 Seite 28 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Exenatid: Nierenversagen Die europäische Arzneimittelagentur EMEA hat auf Anfrage einer unabhängigen pharmakritischen Zeitschrift eine Liste unerwünschter Wirkungen des Inkretin-Mimetikums Exenatid (Byetta®) auf die Nierenfunktion erstellt. In einem Zeitraum von einem halben Jahr wurden 86 Verdachtsfälle über Nierenversagen oder Erhöhungen der Kreatininwerte unter der Gabe dieses neuen Therapieprinzips des Typ-2-Diabetes berichtet (Exenatid ist in Deutschland nur in Kombination mit Metformin oder einem Sulfonylharnstoff zugelassen, wenn mit maximalen Dosen beider Arzneistoffe eine angemessene Blutzuckerkontrolle nicht erreicht werden kann). Es bestanden jedoch, wie bei Berichten aus der Praxis üblich, bei 65 Patienten ein oder mehr zusätzliche Faktoren, die sich negativ auf die Nierenfunktion auswirken können (Diuretika, ACE-Hemmer, nicht-steroidale Antiphlogistika, Hypovolämie). Trotzdem sind die Autoren der Ansicht, dass sich das Risiko unerwünschter Wirkungen von Exenatid vergrößert und sein therapeutischer Stellenwert verringert. Zur Erinnerung: Neben häufigen Magen-Darm-Symptomen können unter Exenatid auch selten anaphylaktische Reaktionen und eine akute Panktreatitis auftreten, über deren Symptome die Patienten aufgeklärt werden sollten. Quelle: Prescrire internat. 2009; 18: 108 Exenatid: Empfehlungen zur Verordnung Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat sich in Kooperation mit der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft mit Exenatid beschäftigt und Empfehlungen zur wirtschaftlichen Verordnungsweise herausgegeben: Zu Exenatid fehlen Endpunktstudien zur Prävention diabetischer Komplikation ebenso wie Studien zu Effekten auf kardiovaskuläre Erkrankungen sowie Angaben zur Letalität. Aus diesen Gründen können zum jetzigen Zeitpunkt noch keine genauen Kriterien, für welche Patienten Exenatid geeignet sein könnte, angegeben werden. Vorstellbar wären Einzelfälle von Patienten mit starkem Übergewicht, deutlicher Gewichtszunahme nach Beginn einer Insulintherapie oder schwerer postprandialer Hyperglykämie. Bis heute fehlen Daten zur Langzeitsicherheit von Exenatid. Exenatid senkt die Nüchternglukose und die postprandialen Glukosewerte. Die Zusatztherapie mit Exenatid senkt das HbA1c bei oral behandelten Diabetikern um durchschnittlich 0,5 bis 1,5 Prozent ähnlich stark wie die Zusatztherapie mit Insulin. Auch nach mehrmonatiger Behandlung weisen mehr als die Hälfte der behandelten Patienten einen HbA1c von über sieben Prozent auf. Exenatid kann das Körpergewicht senken. Die Vorteile einer Gewichtsreduktion sind gegen die Mehrkosten der Therapie sorgfältig abzuwägen. In Kombination mit Sulfonylharnstoffen kann Exenatid bei der Behandlung des Typ-2-Diabetes zu schweren Hypoglykämien führen. Diese sind auf die Sulfonylharnstoffwirkung zurückzuführen und nehmen dementsprechend bei Niereninsuffizienz zu. Bei Kombination mit Metformin ist die Hypoglykämieinzidenz nicht erhöht. Die erhöhte Inzidenz von Übelkeit (50 vs. 27 Prozent bei Placebo) und Erbrechen (19 Prozent vs. 13 Prozent bei Plazebo) schränkt die Anwendung von Exenatid ein. Im Vergleich zu Insulin war die Therapieabbruchrate etwa doppelt so hoch. In drei placebokontrollierten Studien wurden bei 38 Prozent der Patienten niedrige Titer von Antikörpern gegen Exenatid nachgewiesen, bei sechs Prozent hohe Titer. Bei der Hälfte der Patienten mit hohen Titern zeigte Exenatid keine offensichtliche Verbesserung der glykämischen Stoffwechselkontrolle. Bei anhaltend schlechter Blutzuckereinstellung kann deshalb ein Wechsel auf einen anderen Wirkstoff notwendig werden. Quelle: KBV Wirkstoff aktuell, Ausgabe 06/2007 Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 29 Hausärztliche Leitlinie Geriatrie – Teil 1 Allgemeine Geriatrie Konsentierung Version 1.00 05. November 2008 Revision bis spätestens November 2011 Version 1.00 vom 17.11.2008 Hausärztliche Leitlinie Geriatrie – Teil 1 Allgemeine Geriatrie F. W. Bergert M. Braun H. Clarius K. Ehrenthal J. Feßler J. Gross K. Gundermann H. Hesse J. Hintze U. Hüttner B. Kluthe W. LangHeinrich A. Liesenfeld E. Luther R. Pchalek A. Schütz J. Seffrin G. Vetter H.-J. Wolfring U. Zimmermann Konsentierung Version 1.00 Anmerkung: 05. November 2008 Die Leitlinie Geriatrie, Teil 1, umfasst insgesamt 74 Seiten. Revision bisangesichts spätestens Wir veröffentlichen des Umfangs nur die wichNovember 2011 tigsten Aspekte. Die gesamte Leitlinie einschließlich der im Text erwähnten Anhänge und Literaturstellen (Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt sind, finden Sie im Internet Version 1.00 vom 17.11.2008 Auf dieser Webunter www.pmvforschungsgruppe.de. seite bitte den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken. Dann können Sie die gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDFDatei auf Ihren Computer herunterladen. Eine weitere Bezugsquelle finden Sie unter www.leitlinien.de. Dort auf Leitlinienanbieter klicken, dann Leitlinien aus dem ambulanten Bereich/vertragsärztliche Qualitätszirkel auswählen, anschließend führt der Link unten auf der Seite zu den hausärztlichen Leitlinien. F. W. Bergert M. Braun H. Clarius K. Ehrenthal J. Feßler J. Gross K. Gundermann H. Hesse J. Hintze U. Hüttner B. Kluthe W. LangHeinrich A. Liesenfeld E. Luther R. Pchalek A. Schütz J. Seffrin G. Vetter H.-J. Wolfring U. Zimmermann Seite 30 03 Kontext und Kooperation 04 Verantwortlichkeit 05 06 07 08 Allgemeine Geriatrie Gesundes Altern, Vorsorgeuntersuchungen Hausärztliche geriatrische Versorgung Ziele der Leitlinie Hausärztliche Schlüsselfragen Kooperation 09 10 11 Geriatrisches Assessment Bewertung zur Funktionalität Barthel-Index Sturzrisikoassessment Timed up and go Test Aufsteh-Test (chair rising Verfahren zur Beurteilung der Hirnleistung Psychometrische Tests Test zur Früherkennung von Demenz und Depressionsabgrenzung Arzneimittelanamnese 12 13 Seniorengerechte Praxis Maßnahmen in der Praxis Sozialmedizinische Hilfen 14 15 16 17 18 20 21 Ernährung im Alter Ernährungsprobleme im Alter Organveränderungen, Übergewicht, Untergewicht Empfohlene Zusammenstellung der Nahrung Definition Untergewicht nach WHO, Diagnostik Folgen und Behandlung der Mangelernährung Sondenernährung (PEG) Applikationstechnik, Medikamentengabe Probleme bei Sondenernährung Auswahl der Sondennahrung 23 24 25 26 Bewegung im Alter Körperliche Aktivität im Alter, Krafttraining Ausdauertraining Belastungstest Einsatz von körperlichem Bewegungstraining bei definierten Krankheitsbildern Risiken des körperlichen Trainings Zusammenfassende Empfehlungen 27 28 29 30 31 Sturz, Fraktur Sturz, Sturzfolgen Frakturen Risikoassessment Maßnahmen zur Sturzprävention, Risikofaktoren für Stürze Risiken und Präventionsmaßnahmen Geriatrische Rehabilitation 32 Soziale Isolation und Selbstwert-Verlust Soziale Isolation, Einsamkeit KVH • aktuell 33 34 35 Nr. 4 / 2009 Angst und Schlafstörungen Alter und Angst Alter und Schlafstörungen Maßnahmen Schlaf beeinträchtigende Faktoren 36 Literatur 44 45 46 Anhang 1 Geriatrisches Basisassessment Beispiel: Barthelindex PGBA, Selbständigkeits- und Funktionsprofil 47 Anhang 2 Ernährungstabellen 49 Anhang 3 Anamnesebogen zur Bestimmung des Ernährungszustandes älterer Menschen (MNA) 51 Anhang 4 Ratschläge zur regelmäßigen körperlichen Aktivität 53 Anhang 5 Medikamente, die im Alter zu akuter Verwirrtheit führen können 54 Anhang 6 Medikamente, die im Alter orthostatische Dysregulation, Blutdruckabfall, Schwindel und Synkopen verursachen können 55 Anhang 7 Medikamente, die zu einem gesteigerten Sturzrisiko im Alter führen können 56 Anhang 8 Schlafstörungen durch Medikamente 57 Anhang 9 Regeln der Schlafhygiene 58 59 60 63 Anhang 10 Patientenverfügung Grundsätze Betreuungsverfügung Patientenverfügung Ergänzung im Fall schwerer Krankheit 67 Anhang 11: Soziale Dienste in Hessen 68 Evidenzkategorien 69 Informationen zur Leitliniengruppe Hessen 71 Internetadressen Weiterführende Informationen Adressen 72 Disclaimer und Internetadressen Patienteninformationen, Disclaimer, Leitlinie im Internet Anmerkung: Die hier angegebenen Seitennummern beziehen sich auf die Seiten der Original-Leitlinie. Dieses Inhaltsverzeichnis soll hier zeigen, welchen Umfang die Leitlinie insgesamt hat und welche Details Sie darin erwarten können. Auf den folgenden Seiten finden Sie lediglich Auszüge aus der Leitlinie (siehe auch vorhergehende Seite). Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 31 Allgemeine Geriatrie Gesundes Altern, Vorsorgeuntersuchungen Physiologische Veränderungen im Alter bedeuten nicht Krankheit; allerdings gibt es altersassoziierte Erkrankungen (z. B. Arteriosklerotische Erkrankungen, Malignome). Zu berücksichtigen sind: Verlust von Muskelmasse und Zunahme der Fettmasse Verringerte Knochendichte Nachlassende Gefäßelastizität – Atherosklerose Abnahme von Hautdicke und Hautelastizität Verminderte Hormonbildung Nachlassen der Gedächtnisleistung Reaktionsträges Vegetativum Daraus ergeben sich folgende Empfehlungen: Regelmäßige Bewegung und Kraftraining (s. Abschnitt Bewegung). Sturzprophylaxe mit Training und Balanceübungen; Calcium, Vitamin D zur Osteoporoseprophylaxe. Ernährung mit hoher Nährstoffdichte und ausreichender Flüssigkeitszufuhr (s. Abschnitt Ernährung). Auf Mangelernährung sollte insbesondere bei Hochbetagten geachtet werden. Mentales Training und soziale Aktivitäten. Unterstützend sind Musik, Tanzen, Spiele. Abrechenbare regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bei geriatrischen Patienten Gesundheitsuntersuchung-Check: alle zwei Jahre Krebsfrüherkennung (gynäkologisch und Hämokult) bei Frauen: jährlich Krebsfrüherkennung von Männern (rektal-digitale Untersuchung und Hämokult): jährlich Präventive Koloskopie ab vollendetem 55. Lebensjahr, die zweite frühestens zehn Jahre nach Durchführung der ersten. Hautkrebsscreening: alle zwei Jahre Geriatrisches Assessment zur Untersuchung von allgemeinen Funktionen und Fähigkeiten, Mobilität und Sturzgefahr (z. B. timed-up & goTest sowie Demenztest): bis zu zweimal jährlich Demenztests: bis dreimal im Quartal, allerdings nicht neben dem Geriatrischen Assessment Hausärztliche geriatrische Versorgung Wodurch unterscheidet sich nun diese spezielle »Altersmedizin« von anderen Fachgebieten der Medizin? Bei der Versorgung älterer erkrankter Menschen sind zunächst die altersphysiologischen Veränderungen und deren Auswirkungen zu beachten. Im Alter kommt es häufig zu unspezifischen Symptomen (Nahrungsverweigerung, Schwäche, Abgeschlagenheit und Somnolenz) und einen atypischen Verlauf von Erkrankungen, die eine Diagnose erschweren (z. B. kein Fieber bei Pneumonie). Weitere Besonderheiten im Alter sind geringere physiologische Reservekapazität der Organe (z. B. Herz-Kreislaufversagen bei Pneumonie) und Schwächung des Immunsystems (z. B. keine Leukozytose bei Pneumonie [13]). Zugleich geht es bei der geriatrischen Versorgung um Hilfeleistungen in oftmals bedrängenden Lebenslagen und komplexen Situationen, die auch psychosoziale Kenntnisse erfordern [33]. Geriatrische Patienten können in ihrer Willensbildung gestört sein; sie bedürfen unseres besonderen Schutzes. Ein weiteres Kennzeichen geriatrischer Arbeit ist die Todesnähe. Der Patient wird in seinem irreversiblen Leiden fürsorglich begleitet, was die aktive Behandung weiterer auftretender Erkrankungen keineswegs auschließt (s. Leitlinie Palliativversorgung). Geriatrische Patienten sind multimorbid. Die damit verbundenen Funktionsstörungen können zumindest teilweise in ihrer Schwere mit Hilfe eines Risikoassessments eingeordnet werden. Multimorbidität erfordert ein Gewichten von Maßnahmen; die Einzelerkrankungen erhalten einen anderen Stellenwert (Hierarchisierung) [13]. Geriatrische Versorgung bedeutet immer auch Kooperation mit anderen Berufsgruppen und Koordination der verschiedenen Hilfsangebote. Idealiter erfolgt die Betreuung in einem multiprofessionellen geriatrischen Team [124]. Als langjährig betreuende Hausärzte kennen wir nicht nur die aktuellen Diagnosen und Behandlungen, sondern auch Teile der Biographie und des sozialen Umfeldes der Patienten. Geriatrische Versorgung sieht den Patienten in seiner individuellen Lebenssituation. Integraler Bestandteil ist deshalb möglichst die Zusammenarbeit mit den Angehörigen. Geriatrie ist immer ressourcenorientiert und Seite 32 KVH • aktuell beinhaltet auch die Wiederherstellung, Verbesserung und Erhaltung von Funktionen. Es besteht bei den Patienten meist eine beträchtliche »stille Reserve«, dennoch sind mit dem Alter mehr Verluste als Gewinne verbunden [7]. Bei der Betreuung geriatrischer Patienten gibt es Überschneidungen zur Betreuung chronisch Kranker. Hierfür wurde das Konzept des »Chronic Care Modells« entwickelt [38], das die fragmentarische Versorgung des Patienten überwinden will. Im Unterschied zum geriatrischen, in der Regel eingeschränkten, Patienten geht dieses Konzept von einem informierten, aktiven und mit dem Arzt gemeinsam entscheidenden Patienten aus. Das Chronic Care Modell zielt darauf ab, das Selbstmanagement des Patienten zu unterstützen und zu einer besseren Bewältigung der chronischen Er-krankung beizutragen. Hausärztliche Schlüsselfragen Wie koordiniere ich als Hausarzt zusammen mit den Angehörigen die Versorgung eines Patienten, der für sich selbst nicht mehr sorgen kann? Wann sehe ich den Zeitpunkt für gekommen, sozialmedizinische Maßnahmen anzuregen und ggf. einzuleiten? Ist meine Praxis auf den geriatrischen Patienten vorbereitet? Wie schätze ich die Leistungsfähigkeit der Patienten ein? Welche Assessment-Tests stehen zur Verfügung, wann setze ich sie ein? Wie belastbar sind die Ergebnisse? Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung, um Nr. 4 / 2009 dem Patienten die Selbständigkeit zu erhalten und bei Wunsch einen Verbleib im häuslichen Umfeld zu ermöglichen? Wie erkenne ich eine vorliegende Mangelernährung? Welche Ernährungsempfehlungen kann ich geben? Welche Empfehlungen zur Bewegung kann ich dem alten/geriatrischen Patienten geben? Wie vermeide und/oder reduziere ich Polypragmasie? Wie kontrolliere und reduziere ich die Selbstmedikation? Welche Medikamente sind im Alter mit erhöhtem Risiko behaftet? Wie erreiche ich eine effektive Sturzprävention? Wie kann ich ältere Patienten aktivieren und sozialer Isolation vorbeugen? Kooperationen/Schnittstellen Der Hausarzt übernimmt in der Regel das Management der Therapie. Schnittstellen bei der Versorgung der Patienten ergeben sich vor allem bei neu auftretender Pflegebedürftigkeit, der Medizin im Alten-Pflegeheim und am Lebensende mit intensiver medizinisch-pflegerischer Versorgung. Zu nennen sind u.a. Weitere niedergelassene Fachärzte Physiotherapeuten MDK Pflegedienste, Altenheime und Tageskliniken Krankenhaus/Rehabilitation Palliativversorgung Soziale Hilfsdienste Angehörige, Betreuer Geriatrisches Assessment Das geriatrische Basisassessement dient der Untersuchung und Dokumentation von Funktionsund Fähigkeitsstörungen mit Quantifizierung der Störung mittels standardisierter Testverfahren. Beurteilt werden: Fähigkeit zur selbstständigen Erfüllung der Kriterien der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) unter Berücksichtigung des kardiopulmonalen und neuromuskulären Globaleindrucks sowie der Kognition und Affekte, inkl. Sehen und Hören und der Abklärung von Ernährungszustand, Kontinenz und ggf. Depression. Sturzgefahr Hirnleistung (Demenz) Durch wiederholte Durchführung der jeweiligen Testverfahren lassen sich Verläufe dokumentieren sowie der Rehabilitationsbedarf begründen. Es lassen sich Risiken abschätzen und der Bedarf an Fremdhilfe quantifizieren (wichtig z. B. zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit). Es stehen verschiedene Testverfahren je nach Schwerpunkt der Störung zur Verfügung, sie können einzeln und auch kombiniert eingesetzt werden. Hausärztliches geriatrisches Basisassessment Verfahren zur Funktions- und Fähigkeitseinschätzung: Barthel Index (von Leitliniengruppe empfohlen) Nürnberger Altersinventar (NAI) Pflegegesetzadaptiertes Basisassessment (PGBA) Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Barthel-Index erfüllt Testgütekriterien, hoher nationaler und internationaler Verbreitungsgrad wissenschaftlich oft untersucht/eingesetzt einfache, zuverlässige Applikation Verlaufskontrolle durch Summenscore Vorsicht! Summenscore beschreibt bei gleichem Wert sehr unterschiedliche Patienten. Verfahren zur Beurteilung der Sturzgefahr Timed up & go Test Der Timed up & go Test besteht darin, dass ein Patient aus einem Stuhl mit Lehne aufsteht, drei Meter geht, sich umdreht, zurück zum Stuhl geht und sich wieder hinsetzt. Der Zeitbedarf dieser lokomotorischen Leistung ist in Sekunden zu messen (z. B. 10,4 Sek.). Durchführung in selbstgewählter, üblicher Gehgeschwindigkeit, ggf. mit üblichem Gehhilfsmittel. Aufstützen mit Armen beim Aufstehen erlaubt. Erhöhte Sturzgefahr bei mehr als zehn bis zwölf Sekunden. Aufsteh-Test (chair rising) Der Test besteht darin, dass eine Versuchsperson so schnell wie möglich fünfmal ohne Einsatz der Arme aus einem Stuhl üblicher Höhe aufsteht. Gemessen wird die Zeit in Sekunden. (z. B. 9,3 Sek.). Erhöhte Sturzgefahr bei mehr als zehn bis zwölf Sekunden. Link Assessment: http://www.afgib.de Link Sturzprophylaxe: http://www.betanet.de/ Verfahren zur Beurteilung der Hirnleistung Strukturierte Interviews und psychometrische Tests zur Quantifizierung kognitiver Defizite dienen zur Verifizierung des Demenzverdachts im Rahmen der Erstuntersuchung und der Schweregradbestimmung; sie sind zur Dokumentation des Verlaufs geeignet und obligat vor der Verordnung und zur Verlaufskontrolle antidementiver Pharmakotherapie. Die aufgeführten Verfahren sind seit vielen Jahren in der Anwendung und explizit in spezifischen Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften enthalten; sie können auch von geschultem Praxispersonal durchgeführt werden [5, 22, 86]: Basisteste sind Mini-Mental-Status-Test DemTect® Seite 33 Ergänzend können durchgeführt werden: Uhren-Test Test zur Früherkennung von Demenz und Depressionsabgrenzung (TFDD) Zahlenverbindungstest ZVT Hinweise zu weiterführenden Informationen zum Thema Geriatrie, Sammlung von Vordrucken oder Beispielen zu Assessment und Sturzprophylaxe: Ärztliche Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Geriatrie in Bayern e.V. (AFGiB) [1]: http:// www.afgib.de/Service_Downloads/service_ downloads.html Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI [23, 81]: http:// www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/ icd10/htmlgm2008/fr-icd.htm Medizinisches Wissensnetzwerk, Universität Witten/Herdecke evidence.de; Diagnose, Therapie und Versorgung bei Demenz [87] http:// www.evidence.de/Leitlinien/leitlinien-intern/ Demenz_Start/DemenzHintergruende/demenzhidemenzhintergruende1.html Mentale Leistungstests [86]: http://www.evidence.de/Leitlinien/leitlinien-intern/Demenz_ Start/DemenzText/demenztext.html http://www.betanet.de/ http://www.assessment-info.de http://www.testzentrale.de (kostenpflichtig) Mini-Mental-Status-Test (MMST) Mit dem MMST bestehen international breite Erfahrungen. Normwerte aus verschiedenen Altersgruppen sind vorhanden [5]. Der MMST dient als Screening-Instrument zur Erfassung von Patienten mit kognitiven Störungen. Die Interviewfragen und Handlungsaufgaben prüfen Orientierung, Aufnahmefähigkeit, Aufmerksamkeit, Sprache, Lesen, Rechnen, Schreiben, Gedächtnis, Ausführung einer Anweisung. Für die Antworten und Lösungen werden Punkte vergeben, die zur Auswertung addiert werden. Kognitiv beeinträchtigte Personen können die Aufgabenstellungen meist nicht vollständig beantworten und erreichen nur einen Teil der 30 maximal möglichen Punkte. Der MMST ist zur Verlaufskontrolle einer Demenzerkrankung geeignet. Bei leichter Störung eher wenig geeignet [5]. Testdauer etwa zehn Minuten. Demenz-Detections-Test (DemTect®) Einfach durchzuführender Test, der fünf Leistungsbereiche abbildet, die schon im Frühstadium einer Demenz beeinträchtigt sein können: Neuge- KVH • aktuell Seite 34 dächtnisbildung, mentale Flexibilität, Sprachproduktion, Aufmerksamkeit, Gedächtnisabruf. Auch bei leichter Störung geeignet. Durchführungsdauer zehn Minuten [5]. Uhrzeit-Zeichnen-Test (UZT, CCT=Clock Completion Test, CDT=Clock Drawing Test) Der Proband wird aufgefordert, das Zifferblatt einer Uhr mit Zahlen, Stunden- und Minutenzeiger laut einer vorgegebenen Uhrzeit, z. B. »zwanzig Minuten nach acht«, korrekt einzuzeichnen. Alltagspraktischer Test, der sich besonders gut zur Erfassung visuell-räumlicher und konstruktiver Defizite eignet. Durchführungsdauer: fünf Minuten. Ergänzend bei allen Schweregraden geeignet [5]. Test zur Früherkennung von Demenz und Depressionsabgrenzung (TFDD) [57] Kurztest zur Demenzdiagnostik und zur Abgrenzung von depressiven Syndromen. Fähigkeiten beim jeweiligen Aspekt des Alltags Essen Baden Waschen Ankleiden Stuhlkontrolle Urinkontrolle Toilettengang Nr. 4 / 2009 Unabhängig, benutzt Geschirr und Besteck Punkte 10 Braucht Hilfe, z.B. beim Schneiden 5 Völlig hilfsbedürftig 0 Badet oder duscht ohne jede Hilfe 5 Braucht Hilfe 0 Wäscht Gesicht, kämmt, rasiert, schminkt sich 5 Braucht Hilfe 0 Unabhängig, inkl. Schuhe anziehen 10 Hilfsbedürftig, kleidet sich teilweise selbst 5 Völlig hilfsbedürftig 0 Kontinent 10 Teilweise inkontinent (maximal einmal pro Woche) 5 Inkontinent (häufiger als einmal pro 24 Stunden) 0 Kontinent 10 Teilweise inkontinent (maximal einmal pro Woche) 5 Inkontinent (häufiger als einmal pro 24 Stunden) 0 Unabhängig inkl. Analreinigung 10 Braucht Hilfe, z.B. bei Kleidung, Reinigung 5 Kann Toilette/Nachtstuhl nicht benutzen 0 Bett-Stuhl-Transfer Völlig unabhängig hin und zurück Minimale Assistenz oder Supervision 15 10 Aufsetzen im Bett möglich, für Transfer jedoch Hilfe nötig 5 Bettlägerig (kann sich nicht alleine aufsetzen) 0 Gehen auf Ebene 50 m unabhängiges Gehen möglich (eventuell mit Gehhilfe) 15 oder 50 m gehen mit personeller Hilfe 10 Rollstuhlfahren (wenn nicht 10 oder 15 codiert) Treppensteigen 50 m Rollstuhl fahren inklusive Ecken und Türen 5 Kann sich nicht 50 m fortbewegen 0 Unabhängig (kann ggf. Gehhilfen benutzen 10 Braucht Hilfe oder Supervision 5 Kann nicht Treppen steigen 0 Der Barthel-Index bewertet die Basis-Aktivitäten des täglichen Lebens [98, 158, 159] und dient zur Verlaufskontrolle durch Bildung eines Summenscores. Doch Vorsicht! Der Summenscore kann bei gleichem Wert sehr unterschiedliche Patienten beschreiben. Die Höchstpunktzahl beträgt 100. Bei einer Punktzahl von 95-80 muss man bereits von einem erheblichen Hilfsbedarf bei den alltäglichen Verrichtungen ausgehen. Werte < 80 zeigen eine schwere Pflegebedürftigkeit an. KVH • aktuell Nr. 4 / 2009 Zweigeteilter Test: Neun Items des Früherkennungstestteils von Demenzen erfassen direktes und verzögertes Erinnern, Orientierung zum Datum und zur Jahreszeit, eine Anweisungsaufgabe, den Uhrentest und die Wortflüssigkeit. Die Items resultieren aus Voruntersuchungen zu besonders früh auftretenden Symptomen der Demenz. Dieser Teil umfasst 50 Punkte. Zwei Depressionsitems (Fremd- und Selbstbeurteilung, 20 Punkte) sollen die Abgrenzung von depressiven Syndromen er- Assessmentvariable Funktion Stufe 1 Normale Funktion Selbständigkeit Selbständig Seite 35 Anhang 1 möglichen. Der spezialisierte Test erreicht bei kurzer Geriatrisches Basisassessment Durchführungsdauer eine Sensitivität und Spezifi PGBA, SelbständigkeitsFunktionsprofil tät, die der umfassendererund Testbatterien wie der ADAS-K und der CERAD vergleichbar ist. Diagnosekriterium: Eine Punktzahl von 35 und weniger Punkten im Demenzteil weist auf eine Demenz hin. Punktzahlen von mehr als acht im Depressionsteil sprechen für ein depressives Syndrom. Durchführungsdauer zehn Minuten. Nur Stufe 2 Funktion mäßig eingeschränkt Stufe 3 Funktion schwer eingeschränkt Bedingt selbständig Teilweise unselbständig Keine Hilfsmittel Bereitstellung von Teilweise notwendig Hilfsmitteln, unselbständig, ärztliche aktive Supervision, handgreifliche Hilfe Medikamente notwendig Wichtig: Jede Funktion wird mit benutzten Hilfsmitteln bewertet. Stufe 4 Schwerstgestörte Funktion, Verlust der Funktion unselbständig Benötigt überwiegend professionelle Hilfe Arbeitsgemeinschaft Geriatrisches Basisassessment e.V. (AGBA); R. Tausche Solingen, B. Höltmann, Grevenbroich. Alle Rechte vorbehalten. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Im Pflegegesetzadaptierten Basisassessment sind die jeweiligen Punktwerte (Stufen 1-4) mit Hilfe der vierstufigen Assessmentskala zu ermitteln (s. Tabelle unter Schaubild) und in das Schema einzufügen. Nach Verbinden der Punkte durch eine Linie ergibt die Darstellung ein Profil, das zur Visualisierung der Schwerpunkte der Defizite und zur Dokumentation des zeitlichen Verlaufs dient. 46 Hausärztliche Leitlinie »Geriatrie Teil 1: Allgemeine Geriatrie« Version 1.00 I 17. November 2008 Seite 36 KVH • aktuell begrenzte Erfahrung über Breite der Anwendbarkeit [5]. Durchzuführen durch: Geschultes medizinisches Hilfspersonal. Depressionsitems durch den Arzt. Für den hausärztlichen Bereich ist der TFDD Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung nach Ansicht der Leitliniengruppe besonders geeignet und praktikabel. Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) aus dem Nürnberger Alters Inventar (NAI) Der ZVT dient der Erfassung der basalen, allen Intelligenzleistungen zugrunde liegenden, weitgehend milieuunabhängigen und genetisch bedingten kognitiven Leistungsgeschwindigkeit. Der ZVT ist ein spezifischer Intelligenztest, der zur Messung der »kognitiven Leistungsgeschwindigkeit« (speed-Test) dient. Er erhebt den Anspruch, durch die Messung kognitiver Leistungs- und Verarbeitungsgeschwindigkeit ein »spezifischer« Intelligenztest zu sein, wobei Intelligenz als Informationsverarbeitung definiert wird und die »kognitive Leistungsgeschwindigkeit« hoch mit der »allgemeinen Intelligenz« korreliert. Der Test weist einen breiten Anwendungsbereich auf (ab acht Jahre alle Altersstufen; vom Sonderschüler bis zum Hochschüler alle Bildungsbereiche). Durchführungsdauer zehn Minuten. Relativ spezifische Testanforderung [5]. [http://www.testzentrale.de/?mod=detail&id=200]. Arzneimittelanamnese Zum geriatrischen Assessment gehört neben der Durchführung standardisierter Testverfahren auch die umfassende Arzneimittelanamnese mit Erfassung aller Verordnungen und der Selbstmedikation. Multimedikation ist ein möglicher Indikator für Multimorbidität, und gleichzeitig der wichtigste Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelwirkungen, vor allem für Stürze und Verwirrtheitszustände im Alter [114]. Arzneimittelbezogene Probleme sind u.a. insbesondere zu erwarten [96] bei regelmäßiger Einnahme von fünf und mehr Medikamenten bei Einnahme von mehr als zwölf Tagesdosen bei Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite oder erforderlichem Monitoring bei Problemen in der praktischen Durchführung der Therapie (Sicherheitsverschlüsse, Tropfflaschen, Spritzen, Aerosole) bei kognitiver Überforderung in der Einhaltung des Therapieregimes durch die Patienten bei Patienten mit gleichzeitiger Konsultation verschiedener Ärzte/Verordner bei fehlendem Verständnis für die Therapie. Nr. 4 / 2009 Der Anhang enthält ergänzende tabellarische Übersichten zu Medikamentennebenwirkungen im Alter (Zur Pharmakotherapie siehe Teil 2: Spezielle Geriatrie): Problematische Arzneimittel bzw. Kombinationen im Alter (s. Geriatrie Teil 2) Anticholinerges Syndrom (s. Geriatrie Teil 2) Akute Verwirrtheit (Anhang 5) Orthostatische Dysregulation, Blutdruckabfall, Schwindel und Synkopen (Anhang 6) Gesteigertes Sturzrisiko (Anhang 7) Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft arbeitet gegenwärtig an einer Liste von Arzneimitteln, die in der Therapie älterer Patienten als nicht geeignet angesehen werden. Handlungsleitend sind hierbei u.a. UAWs, die zu einer Krankenhausaufnahme geführt haben. Priorisierung der Arzneitherapie Bei der Pharmakotherapie des alten und insbesondere des geriatrischen Patienten stellt sich aufgrund der physiologischen Veränderungen wie auch der mit der Multimedikation einhergehenden Gefahr von Interaktionen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen die Anforderung einer Priorisierung. Erste Voraussetzung hierzu ist eine vollständige Übersicht über alle Medikamente, die der Patient (inkl. Selbstmedikation) einnimmt. Leitfragen für eine individuelle Priorisierung der Therapie bzw. ein regelmäßiges Review der Verordnungen sind beispielsweise: Welche Erkrankung steht im Vordergrund? Welche Arzneimittelverordnung erfolgte aufgrund einer unerwünschten Wirkung eines anderen Mittels? (Cave: Verordnungskaskade) Sind neu auftretende Symptome möglicherweise Folgen einer bestehenden Therapie? Sind alle Arzneimittel aktuell noch indiziert? Auf welches Medikament kann ggf. verzichtet werden? Fehlen notwendige Arzneimittel? (Cave: Unterversorgung) Die Entscheidung für einen Verzicht auf eine Arzneimittelverordnung ist zusammen mit dem Patienten unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation abzuwägen. Die indikationsbezogenen hausärztlichen Leitlinien geben mit den im Konsens der Gruppe getroffenen Hinweisen: »unverzichtbar«, »abwägen«, »verzichtbar« hierzu erste Anregungen. Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Seite 37 Seniorengerechte Praxis Maßnahmen in der Praxis Im Hinblick auf die demographische Entwicklung sollten die räumlichen/organisatorischen Anforderungen an eine Praxis die Betreuung geriatrischer und behinderter Patienten erfüllen Zu nennen sind hier folgende Möglichkeiten: Eine gute, barrierefreie Zugänglichkeit (auch für Rollstuhlfahrer geeignet. Ein gut ausgeleuchteter Praxiseingangsbereich, die möglichst blendfreie und gleichmäßige Beleuchtung der Praxisräume. Gute Kennzeichnung und Beschriftung der einzelnen Räume, insbesondere für WC (das ausreichend groß und auch für Rollstuhlfahrer geeignet sein sollte). Sessel und Stühle mit einer hohen Sitzfläche, die das Aufstehen erleichtern, sind ein absolutes Muss. Garderobe und Ablagen sollten ebenfalls bequem erreichbar sein. Erinnerung an den nächsten Arzttermin durch ein Recall-System. Patienteninformationen, müssen in einem etwas größeren Schriftbild gehalten sein – möglichst auf einfarbigem, hell abgetönten Papier mit kontrastreicher Schrift. Dem reduzierten Hörvermögen älterer Patienten wird man durch langsames und lauteres Sprechen mit Blickkontakt gerecht. Schnelle und hohe Töne werden im Alter schlechter wahrgenommen. Medizinische Erklärungen sind einfacher zu verstehen, wenn man sie in möglichst bildhafter Sprache formuliert. Im Beratungsgespräch erleichtert anschauliches Material – Vorlagen, Modelle, Bilder – das Verständnis. Informationsblätter für Patienten und Angehörige bereithalten. Informationen zu lokalen Präventionsangeboten über Ernährung und Sport bereithalten. Adressen von (Tages-)Pflegeeinrichtungen, hauswirtschaftliche Unterstützung, Sozialstationen bereithalten. Umfassende Informationen zum sozialen Dienst in Hessen sind über den Informationsdienst »Sozialnetz Hessen« unter http://www.sozialnetz. de verfügbar. Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen können eine Vielzahl von ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen in Anspruch nehmen. Das Informationsangebot hilft pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen bei der Auswahl einer geeigneten Pflegeeinrichtung in ihrer Region. Informationen zur Pflegestufe: http://www.mdk-hessen.de/ Hinsichtlich der Verordnung von Hilfsmitteln zu Lasten der GKV oder Pflegeversicherung sind die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) [36, 37], das Hilfsmittelverzeichnis der GKV nach § 139 SGB V [42] (Link: http://db1.rehadat.de/ gkv2/Gkv.KHS) und ggf. der Abgrenzungskatalog der Spitzenverbände der Krankenkassen/ Pflegekassen zur Hilfsmittelversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen [133] zu beachten. Ernährung im Alter Ernährungsprobleme im Alter Empfehlungen auf Basis des kalendarischen Alters sind nicht sinnvoll, da sich das biologische Alter und damit die körperliche Fitness und Aktivität interindividuell sehr stark unterscheiden können. Bei Patienten bis 75 Jahre entsprechen im allgemeinen Nährstoffbedarf und Nährstoffzufuhr dem jüngerer Menschen. In dieser Altersgruppe ist eher Übergewicht das Problem. Bei Patienten über 75 Jahre kommt es häufiger zu Fehl- und Mangelernährung, die oft nicht erkannt wird. Ursachenabklärung ist notwendig. Die im Alter häufiger vorkommende Mobilitätsbeeinträchtigung durch Arthrose, Inkontinenz, kognitive Einschränkung erschwert Einkaufen, Zubereitung und Aufnahme der Nahrung. Psychosoziale Veränderungen im Alter (Verlust des Partners, Einengung des Freundeskreises) lassen die emotionale und soziale Befriedigung, die in jungen Jahren mit dem Essen verbunden war, nicht aufkommen [112]. Mangelernährung kann der Auslöser einer Dekompensation chronischer Krankheiten sein und zum Verlust der Selbständigkeit und zur Pflegebedürftigkeit führen. Im Alter verringert sich der Kalorienbedarf bei gleichbleibendem Bedarf an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen (hohe Nährstoffdichte). Seite 38 KVH • aktuell Physiologische Veränderungen im Alter Abnahme der Muskelmasse (reduzierter Grundumsatz, geringerer Kalorienbedarf) [95] Zunahme des Fettanteils abnehmender Wassergehalt Abbau von Knochenmasse Nachlassen der Immunfunktion mangelndes Durstempfinden [107] Grundumsatz Für Personen mit ausschließlich sitzender bzw. liegender Lebensweise und für alte, gebrechliche Menschen wird das 1,2fache des Grundumsatzes als Gesamtenergieverbrauch veranschlagt. Ernährung für den 65-jährigen Mann: ca. 1400 bis 1500 Kcal/Tag + zusätzlicher Energiebedarf entsprechend der körperlichen Aktivitäten: insgesamt 1750 bis 2300 Kcal/Tag; für die 65-jährige Frau: ca. 1150 bis 1200 Kcal/ Tag – bei evtl. entsprechender Aktivität: insgesamt ca. 1400 bis 1800 Kcal/Tag [145]. Trinkmenge überwachen: ca. 1,5 bis 2 l/Tag werden empfohlen Ausreichende Kalzium- und Vitamin-D-Zufuhr: ca. 1 g Kalzum/Tag Ausreichende Zufuhr von Vitaminen und Mineralien, evtl. auch als Supplemente [41] Organveränderungen Nachlassen der Nierenfunktion [62] (deswegen ausreichende Flüssigkeitszufuhr und keine übermäßige Eiweißzufuhr, ca. 0,8 g Protein/kg KG am Tag) verzögerte Magenentleerung, vorzeitiges Sättigungsgefühl verminderte Sekretion von Verdauungsenzymen Zahnverlust und Kaubeschwerden Abnahme des Seh-, Geschmacks- und Geruchsvermögens [125]. Fazit: Das Sättigungsgefühl stellt sich schneller ein, das Durstgefühl lässt nach. Eine Unterversorgung mit Flüssigkeit und Nährstoffen ist somit vorprogrammiert [54]. Übergewicht Übergewicht und höherer BMI haben im Alter (> 75 J.) einen geringen Stellenwert. Erhöhtes Mortalitätsrisiko besteht erst bei erheblichem Übergewicht (BMI> 30); daher keine drastische Gewichtsreduktion (Cave: Mangelernährung) anstreben. Nr. 4 / 2009 Untergewicht, Mangelernährung Entwickelt sich oft schleichend, wird daher häufig nicht rechtzeitig diagnostiziert. Bei ca. 10 bis 20 Prozent aller über 80-Jährigen finden sich Zeichen einer manifesten Malnutrition. Deutlich höher ist die Inzidenz der Mangelernährung bei Hospitalisierten (Alten-, Pflegeheim, Krankenhaus) mit 40 bis 60 Prozent [80]. Alarmzeichen ist ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als fünf Prozent in drei Monaten bzw. mehr als zehn Prozent in sechs Monaten. Viele ältere Patienten bevorzugen zwar energiereiche, aber relativ eiweiß-, vitamin- und mineralstoffarme Nahrungsmittel, so genannte »Puddingvegetarier« [147] Sie ernähren sich vorzugsweise mit Apfelmus, Weißbrot, in Kaffee oder Tee getunkten Keksen und Zwieback, sowie weichen Brötchen mit Konfitüre (niedrige Nährstoffdichte). Es kann auch bei einem normalen BMI bereits eine Fehlernährung vorliegen (z. B. bei Ödemen, Aszites). Empfohlene Zusammenstellung der Nahrung (angelehnt an Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung): Keine rigiden Ge- oder Verbote, Freude und Zufriedenheit an Essen und Trinken sollen erhalten bleiben! [27, 149]. Die Ernährung älterer Menschen sollte eine hohe Nährstoffdichte haben [12], d. h. bei niedriger Kalorienzufuhr sollten alle essentiellen Nährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente enthalten sein. Bei einem Gesamtkaloriengehalt von < 1500 Kcal/Tag ist dies nicht mehr gewährleistet. Energiezufuhr sollte dem Energiebedarf angepasst und durch regelmäßiges Wiegen (mindestens einmal pro Monat) kontrolliert werden. Ausreichend Obst und Gemüse (ca. fünf »handvolle« Portionen am Tag, Obst und Gemüse auch als Saft). Wenig zuckerhaltige Produkte wie Kuchen, Süßigkeiten; mehr Vollkornbrot (bei Kau schwierigkeiten evtl. als Grahambrot). Fettarme Milch und Milchprodukte (¼ Liter fettarme Milch, Buttermilch, Kefir oder Joghurt und zwei Scheiben mageren Käses sorgen für ausreichende Kalziumversorgung). Gelegentlich Fisch (zweimal pro Woche) und mageres Fleisch (zwei bis dreimal pro Woche, vor allem als Geflügel) Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Ca. 1,5 bis 2 Liter Flüssigkeit (am besten als Mineralwasser, Saftschorle oder ungesüßte Kräuter- und Früchtetees, Milch, wenig Alkohol d. h. < 10 g Alkohol für Frauen, < 20 g Alkohol für Männer). Suppen zählen zur Flüssigkeitsmenge [54]. Reichlich Kräuter und Gewürze benutzen (appetitanregend), wenig Kochsalz, kein Pökelfleisch. Sparsam mit Koch- und Streichfett umgehen. Bei Kau- und Schluckproblemen: evtl. Nahrung in wenig Wasser kurz garen und dann fein zerkleinern oder pürieren. Definition: Untergewicht Der von der WHO zur Definition von Untergewicht für Erwachsene weltweit empfohlene Grenzwert ist bei Älteren (> 65 J.) BMI < 20 [115]. Ursachen für Mangelernährung [138] chronische Krankheiten [122] Malignome [139] Medikamente (z. B. Analgetika, Serotoninantagonisten, Digitalis, Chemotherapeutika, Anticholinergika) [152] Kaubeschwerden (nicht passender Zahnersatz) [144] Schluckbeschwerden [135], nachlassender Appetit Soziale (inadäquates Essen auf Rädern) und psychische Probleme (Einsamkeit und Depression) [92] Heimaufenthalt mit häufiger Mißachtung individuellen Eßverhaltens [34] und fehlender Umgebungsgestaltung Insbesondere bei Alzheimer-Kranken ist oft ein Gewichtsverlust feststellbar als Folge des gestörten Essverhaltens (u. U. Nahrungsverweigerung) und oraler Dyspraxie (Kaustörung) [49, 91] Stufenweises Vorgehen bei Mangelernährung, modifiziert nach [79] Stufe Vorgehen Stufe 1 Evaluation und konsequente Therapie der individuellen Ursachen Stufe 2 Ernährungsmodifikation, -beratung, intensive Betreuung, individuelle Wunschkost, etablierte Algemeinmaßnahmen, Einsatz von Hilfsmitteln Stufe 3 Anreicherung der Nahrung (Maltodextrin. Eiweißkonzentrate) Stufe 4 Trink- und Zusatznahrung (Getränke, Suppen, Joghurt) Stufe 5 Supportive künstliche Ernährung (z.B. PEG-Sonde) Seite 39 Diagnostik MNA-Fragebogen (Mini-Nutrional-Assessment) Neben dem Ernährungszustand sollten Nahrungsmenge und mögliche Ursachen von Nahrungsverweigerung systematisch eruiert werden, z. B. durch einfache Fragebögen [45, 46, 97] (s. Anhang 3). Laborchemische Parameter Als Parameter zur Abschätzung des Ernährungszustandes wird die Serum-Albuminkonzentration herangezogen: Norm: Albumin 45 bis 35 g/l; Transferrin 3,0 bis 2,5 g/l (kann ergänzend bestimmt werden). Die jährliche Sterberate von Heimbewohnern mit Serumalbumin > 40 g/l liegt bei elf Prozent und steigt bei Werten < 35 g/l auf 50 Prozent [126, 127, 128]. Eine niedrige Serumalbuminkonzentration geht sowohl mit einem schlechten Ernährungsstatus (Verlust von Körperzellmasse) als auch mit einem hohen Krankheitsrisiko einher. Folgen der Mangelernährung Erhöhtes Infektionsrisiko, häufig auch begüns tigt durch Mangel an Spurenelementen, beispielsweise Zink [41] Erhöhtes Sturz- und Frakturrisiko durch Mangel an Muskelmasse und gleichzeitig erhöhter Knochenbrüchigkeit (Osteoporose) [20] Dekubitusgefahr: Ein kausaler Zusammenhang zwischen Entstehung eines Dekubitus und Mangelernährung ist nicht belegt, jedoch wahrscheinlich; durch Gabe einer proteinreichen Zusatznahrung (oder Sondenkost) ist eine beschleunigte Wundheilung bei mangelernährten Patienten belegt [68] Anämie [99] Dekompensation chronischer Krankheiten (beispielsweise Herzinsuffizienz). Stufenweises Vorgehen bei Mangelernährung (siehe auch Kasten) Zunächst diätetische Beratung – beispielsweise bei Kauproblemen Schlucktraining (Ergotherapie oder Logopädie) Lässt sich die Mangelernährung nicht beheben, sollten energiereiche Nahrungszusätze dem Essen beigemischt oder als Trinknahrung gegeben werden [69, 141], z. B. Gemüse- und Obstkonzentrate sowie Proteinkonzentrate Bei Schluckstörungen gilt die grobe Regel, Flüssiges einzudicken und Festes zu verflüssigen; ein etwas festerer Brei schluckt sich leichter KVH • aktuell Seite 40 Der Kopf sollte beim Schlucken in Geradeaushaltung leicht nach vorn gebeugt werden Erst wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen, kann ggf. auf eine Ernährung mit Magen- oder Darmsonden umgestellt werden. Nasensonden eignen sich nur kurzfristig für eine Ernährung, die akzeptable zeitliche Obergrenze liegt bei maximal 14 Tagen. Auf eine korrekte Plazierung der Sonde in den Magen ist zu achten. Die Gefahr von Druckulzera und Refluxösophagitiden ist gegeben. Exsikkose / Dehydratation Ab dem 60. Lebensjahr besteht in der Regel ein Flüssigkeitsdefizit von ca. 1 bis 1,5 l. Verschärft wird dieses Defizit im Alter durch Multimorbidität und Medikation, sowie Krankheiten (z. B. Diabetes, Fieber, Erbrechen, Durchfälle). Ältere Menschen reagieren auf Störungen im Wasserhaushalt heftiger als jüngere Menschen, wobei die Symptome nicht immer eindeutig sind (stehende Hautfalten helfen bei geriatrischen Patienten nicht weiter). Unruhe, Desorientiertheit, Obstipation, Sturzgefahr können darauf hinweisen, sind jedoch unspezifisch. Eine manifeste Dehydratation kann u.U. im Alter schnell auftreten, oft auch mit der Folge von Stürzen und Unfällen. Wichtig ist daher die Vorbeugung. Da das Durstempfinden bei älteren Menschen herabgesetzt ist, sollte man mit dem Trinken nicht auf das Durstgefühl warten. Hilfreich kann ein Trinkplan sein [2]. Empfohlen wird eine tägliche Flüssigkeitsmenge von 1500 ml, bei heißem Wetter besser von 2000 ml am Tag (Deutsche Gesellschaft für Ernährung). Evtl. kann man die Getränke auch schon am Morgen für den Tag bereitstellen. Es sollte auch So kann ein Trinkplan für einen Tag aussehen [2] nach dem Aufstehen: 1 Tasse warmer Tee mit Zitrone zum Frühstück: Eine zweite Tasse Tee zur Zwischenmahlzeit: 1 Glas Mineralwasser (mit wenig oder ohne Kohlensäure) zum Mittagessen: 1 Apfelsaftschorle (mit 1/3 Saft und 2/3 Wasser) zum Nachmittags kaffee: 2 Tassen Milchkaffee zum Abendessen: 2 Tassen Kräutertee am Abend: 1 weiteres Glas Mineralwasser Nr. 4 / 2009 zu den Mahlzeiten regelmäßig getrunken werden. Zu bedenken ist, dass urininkontinente Patienten häufig versuchen, dieses Problem durch verminderte Flüssigkeitsaufnahme zu lösen. Subkutane Flüssigkeitsapplikation Bei reinem Flüssigkeitsmangel hat sich in manchen Pflegeheimen die subkutane Flüssigkeitsapplikation als wenig patientenbelastend bewährt (Butterfly-Nadel, bis zu 1000 ml pro Tag, z.B. physiologische Kochsalzlösung über acht bis zwölf Stunden) [129]. Eine Nährstoffgabe ist subkutan nicht zulässig; weitere Hinweise zur Subkutaninfusion, siehe auch Hausärztliche Leitlinie Palliativversorgung [72]. Perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) Therapieziele: Überbrückung akuter Krankheitszustände Verringerung der Mortalität und Morbidität chronischer Erkrankungen, wenn die erzielbare Lebensqualität dem Patientenwillen entspricht. Sondenernährung kann indiziert sein bei Neurogenen Schluckstörungen (z. B. bei einem nicht komatösen Apoplexpatienten wäre es sinnvoll zur Überbrückung, bis ein Schlucktraining erfolgreich ist, eine PEG zu legen; eine nasoenterale Sonde würde den Schluckvorgang stören) [101] Mechanischen Behinderungen des Schluckens im oberen Gastrointestinaltrakt durch Tumore, Traumen, Operationen, Bestrahlungen, schwere Verbrennungen Konsumierenden Erkrankungen. Die Indikationsstellung zur Anlage einer PEGSonde muss – möglichst in Kenntnis des Patientenwillens – in der Hand des behandelnden Hausarztes bleiben (für einen ärztlichen Entscheidungsalgorithmus s. de Ridder [116]) Kontraindikationen für Sondenernährung (PEG) Fortgeschrittene Demenzerkrankung (laut Literatur keine Belege für eine Lebensverlängerung oder Verbesserung der Lebensqualität [31, 39, 77, 78] Schwere Gerinnungsstörung Peritonitis Ausgedehnte Peritonealkarzinose Massiver Aszites Schwere Psychosen Deutlich eingeschränkte Lebenserwartung Nr. 4 / 2009 KVH • aktuell Generelle Kontraindikationen für eine enterale Ernährung (z. B. Ileus). Nicht indiziert ist eine PEG-Sonde in der Regel am Lebensende in der Terminalphase. Hier empfindet der Patient meist kein Durst- oder Hungergefühl. Sinnvoll ist die häufige Befeuchtung des Mundraums und evtl. die orale Gabe von kleinen Mengen Flüssigkeit und Nahrung, s. auch Hausärztliche Leitlinie Palliativversorgung [71]. Nachbetreuung nach Anlegen der PEG Duschen nach ein bis zwei Tagen möglich Täglicher steriler Verbandwechsel in der ersten Woche nach PEG-Sonden-Anlage Später Verbandwechsel ein- bis zweimal pro Woche, in der Regel trockener Verband ausreichend, ggf. Abdecken der Wundränder mit Pasta zinci; PVP-Jod (Polyvinylpyrrolidon-Jod) vermeiden wegen Korrosionsgefahr des Sondenmaterials Sonde täglich kurz um 2-3 cm hineinschieben, um ein Verwachsen der inneren Halteplatte mit der Magenwand zu verhindern. Applikationstechnik Möglichst keine Pumpensysteme (teuer und meist nicht notwendig). Ausnahme: jejunale Sonde (begrenzte Darmkapazität). Bolusernährung ist nur bedingt geeignet. Cave: zu schnelle Zufuhr. Bei Erbrechen Reduktion auf ca. 100 ml pro halbe Stunde. Austausch der Sonde In der Regel kann die Sonde über Jahre verbleiben; ein routinemäßiger Austausch ist nicht notwendig [80]. Medikamentengabe über PEG-Sonde Flüssige Arzneimittel sind zu bevorzugen sowie Medikamente in Mikropellets (z. B. Morphin), anschließend Sonde durchspülen. Einfache Tabletten ohne Überzug können gemörsert werden, nicht jedoch magensaftresistente Tabletten. Probleme bei Sondenernährung Diarrhoen: Je nach Literaturquelle wird eine Diarrhoe in bis zu 25 Prozent der Fälle beobachtet. Breiige Stühle bis zu sechsmal/Tag sind unter Sondenkost häufig: 1 zunächst probatorisch Zufuhrgeschwindigkeit reduzieren 2 Portionsvolumina begrenzen Nahrungstemperatur auf Zimmertemperatur Seite 41 anheben Aspiration: Bei laufender Nahrung Oberkörper leicht erhöhen, wenn möglich ca. 45 Grad Wundinfektion am perkutanen Zugang: Granulationsgewebe am perkutanen Zugang (ggf. mit »Höllensteinstift« (=Silbernitrat) ätzen, Kontakt mit der Sonde vermeiden Verstopfung der Sonde: Auf regelmäßigen Wechsel zwischen breiiger und flüssiger Nahrung achten. Auswahl der Sondennahrung (in der Regel industriell gefertige Nahrung). Man unterscheidet: hochmolekulare Sondennahrung (ballaststoffreich oder ballaststoffrei und hochkalorisch) kann verabreicht werden, wenn die Nahrungsstoffe noch aufgespalten werden können. niedermolekulare Sondennahrung (nur mit Pumpe zu verabreichen) ist notwendig, wenn das Verdauungssystem gestört ist, z. B. beim Kurzdarmsyndrom und M. Crohn. Übliche Mengen: ca. 1500 bis 2000 ml Sondenernährung und 1000 ml Wasser/Tag. Ausreichender Energiegehalt bei Standardnahrung: 1 kcal/ml (4,18 kJ/ml) [26] Höchstens zwei evtl. drei Sondenkostformen sind sinnvoll: Normaldiät, ballaststoffreich und hochkalorisch (der Sinn anderer Diätformen, wie z. B. für Diabetiker ist fragwürdig und nach Kenntnis der Leitlinien-Gruppe nicht belegt). Verordnungsfähigkeit Seit Oktober 2005 werden die Kosten für enterale Ernährung ( Sondenkost und hochkalorische Trink-und Zusatznahrung) bei entsprechender Indikation von den Krankenkassen übernommen. Nicht übernommen werden die Kosten für krankheitsadaptierte Spezialprodukte, z. B. für Diabetes oder Dekubitusbehandlung. Arzneimittelrichtlinie zur enteralen Ernährung Absatz 15.3 Medizinisch notwendige Fälle (Auszug): Enterale Ernährung ist bei fehlender oder eingeschränkter Fähigkeit zur ausreichenden normalen Ernährung verordnungsfähig, wenn eine Modifizierung der normalen Ernährung oder sonstige ärztliche, pflegerische oder ernährungstherapeutische Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssituation nicht ausreichen. Enterale Ernährung und sonstige Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssituation schließen einander nicht aus, sondern sind erforderlichenfalls miteinander zu kombinieren [15]. Seite 42 KVH • aktuell Absatz 15.4.4 Nicht verordnungsfähige Spezialprodukte (Auszug) [15]: Die Verordnung von krankheitsadaptierten Spezialprodukten ist ausgeschlossen, soweit es sich um Produkte handelt, die speziell für die Indikationen angeboten werden: chronische Herz-Kreislauf- oder Ateminsuffizienz Dekubitusprophylaxe oder -behandlung Diabetes mellitus Geriatrie Stützung des Immunsystems Tumorpatienten. Schnittstelle Der Hausarzt sollte sich hier das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen! Häufig werden schon im Krankenhaus die Weichen für eine Sondenernährung mittels PEG gestellt. Firmenabhängige ErnährungsberaterInnen besuchen die Patienten zu Hause und bestimmen die Art der Ernährung und Nr. 4 / 2009 des Versorgungsmaterials. Der Hausarzt sollte bei der Entscheidung über eine eventuell notwendige Sondenernährung mit einbezogen werden, zumal er für den häuslichen Bereich Indikation und Verordnungen zu verantworten hat. Jährlich erhalten ca. 140.000 Menschen in Deutschland eine PEG-Sonde. Die Entscheidung zur PEG-Sonde ist folgenschwer und sollte kritisch hinterfragt werden. Keinesfalls sollte sie getroffen werden aufgrund des Mangels an Pflegekräften oder auf Wunsch der Pflegenden. Entscheidend ist der (mutmaßliche) Patientenwille (z. B. durch Patientenverfügung) bzw. die Abstimmung der Indikation mit dem gesetzlichen Betreuer, der über die Tragweite der Entscheidung ausführlich zu informieren ist. Von Kollegen für Kollegen Ein Buch direkt aus der Praxis Als Leser von KVH aktuell – Pharmakotherapie haben Sie sie schon kennengelernt: Die praxisnahen hausärztlichen Leitlinien. Jetzt sind die jeweils aktuellen Versionen in einem Buch zusammengefasst, das in der Praxis sicher gute Dienste leistet. Hausärztliche Schlüsselfragen sorgen für den praxisrelevanten Einstieg bei jedem Leitlinienthema, praktische Hinweise sowie die Bewertung und der Vergleich von Medikamenten liefern wertvolle Tipps. So können Sie sicherer und Budget schonender verordnen. Enthalten sind in diesem Buch folgende hausärztliche Leitlinien Antikoagulation Asthma bronchiale und COPD Chronische Herzinsuffizienz Diabetes mellitus Typ 2 Fettstoffwechselstörung Allgemeine Geriatrie Spezielle Geriatrie Hausärztliche Gesprächsführung Hypertonie Palliativversorgung Psychosomatik Schmerzen Stabile Angina pectoris Venöse Thromboembolien Leitliniengruppe Hessen, PMV forschungsgruppe (Hrsg.): Hausärztliche Leitlinien 21 x 29,7 cm, broschiert XIV + 851 Seiten, mit 115 Abbildungen und 210 Tabellen, mit CD-ROM ISBN 978-3-7691-0604-6 Erschienen im Deutschen Ärzteverlag. Preis: € 69,95 Tischversion Seite 3 Psychosomatische Medizin KVH • aktuell Verdacht auf: Psychosomatische Erkrankung Erhebung des psychischen Befundes Auffällig? nein Kein Hinweis auf psychische Erkrankung nein Kein Hinweis auf psychische Erkrankung ja Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D) Auffällig? ja Störungsspezifische Checkliste(n) Störungsspezifische Tests: • Depression: BDI-2 • Andere Diagnose(n): Psychische Störung(en) Betreuung durch Hausarzt mit psychosomatischem Engagement oder Überweisung zum Erhebung psychosozialer Belastungsfaktoren Diagnose: Psychosoziale Ursachen • Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie • Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie • Psychologischer Psychotherapeuten • Arzt mit psychotherapeutischem Schwerpunkt (Zusatzbezeichnung) Behandlungsplan Allgemeine Behandlung Die Behandlung erfolgt umfassend in Kooperation mit den psychosomatisch-psychotherapeutischen Fachdisziplinen unter Berücksichtigung folgender Aspekte: Regelmäßiger Ausdauersport zur Regulation der Stressreaktion und zur Senkung der erhöhten Grundspannung Regelmäßige aktive Entspannung inklusive Erlernen und Durchführen eines speziellen Entspannungstrainings und einer generellen Veränderung der Lebensführung zur Senkung der erhöhten Grundspannung Verändern äußerer Stressoren (wenn möglich) Verändern des Umganges mit äußeren Situationen und inneren Phänomenen, um psychisches Leid zu minimieren Medikamentöse Behandlung, wenn indiziert Aufklärung Training der Einsichtsfähigkeit in Zusammenhänge Therapeutisch sind spannungslösende Gesprächsinterventionen, Entspannungsübungen, somatische Trainingsmaßnahmen und begleitende, stützende Gesprächstherapien sowie verschiedene Formen der Psychotherapie (psychoanalytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie durch den konsultierten Psychotherapeuten) sinnvoll und hilfreich. Dabei ist die Kommunikation mit den zusätzlichen ambulanten oder stationären Therapeuten ein wichtiges Bindeglied des therapeutischen Netzes für den Patienten, zu dem er seine Zustimmung geben muss. Einen psychologischen Psychotherapeuten kann der Patient direkt (Praxisgebühr) oder mit ärztlicher Überweisung aufsuchen. Für die Beantragung einer Richtlinienpsychotherapie benötigt er eine Bescheinigung (Konsiliarbericht), dass keine organische Erkrankung vorliegt. Ein ärztlicher Psychotherapeut kann ebenfalls direkt oder mit Überweisung aufgesucht werden. Hier ist ein Konsiliarbericht für die Beantragung einer Richtlinienpsychotherapie nicht erforderlich. Der Hausarzt sollte sich vor Fehlern und Gefahren durch eigene Fehleinschätzungen, Gegenübertragungen und Vorurteile schützen, beispielsweise mittels Supervision, Balintgruppenarbeit, interkollegialem Austausch und selbstkritischem Hinterfragen seines Vorgehens. Schnittstellen zu Spezialisten (z. B. zu Psychiatern, ärztlichen und nichtärztlichen Psychotherapeuten, Kliniken) müssen von jedem Hausarzt aufgebaut und gepflegt werden. Medikamentöse Behandlung Die psychopharmakologische Behandlung sollte in enger Zusammenarbeit mit einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie erfolgen. Kooperation Häufig und besonders bei ausgeprägten psychosomatischen Krankheitsbildern sind Spezialisten heranzuziehen: Psychiater, ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten. Mitunter hilft auch die interdisziplinäre Fallkonferenz weiter, um Klarheit über die Zusammenhänge zu gewinnen. Weitere Kooperationspartner sind Psychosomatiker, psychiatrische Institutsambulanzen, sozialpsychiatrische Dienste und Selbsthilfegruppen. Korrespondenzadresse Ausführliche Leitlinie im Internet Hausärztliche Leitlinie PMV forschungsgruppe Fax: 0221-478-6766 Email: pmv@uk-koeln.de http:\\www.pmvforschungsgruppe.de www.pmvforschungsgruppe.de > publikationen > leitlinien www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/ hessenpsychosomatik »Psychosomatische Medizin« Tischversion 1.0 August 2009 XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689 Tischversion Tischversion Epidemiologische Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen und hohen Serumcholesterinwerten. Diese bzw. die Höhe Psychosomatische Medizin heißt nicht etwa von dem der HDL- und LDL-Werte stellen jedoch nur einen Körper weniger, sonderndar. dem Seelischen mehrsich Beachmehreren Risikofaktoren Deshalb empfiehlt für tung schenken! (Viktor v.einer Weizsäcker) den Hausarzt bei Vorliegen Dyslipidämie die Einteilung in Ziel eineder Risikogruppe von systematischen Leitlinie istanhand die Sensibilisierung des AlgoHausrythmen arztes,oder ... Scores (NCEP, PROCAM). Somit erfolgt eine Abschätzung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse den Patienten nicht nur körperlich, sondern ganz(10-Jahresrisiko) und darauf die Festlegung der Behandheitlich zu betrachten, lungsstrategie mit dem Patienten. Für die Risikoeinstufung bei der Abklärung der Beschwerden nicht sequen- orientiert die Leitliniengruppe Hessen anPsyche der folgenden tiell sich vorzugehen, sondern Soma und Einteilung der zu NCEP (National Cholesterol Education »parallel« beachten, Program National Heart, Lung, and Experten Blood Institute, den des Patienten rechtzeitig an einen weiterhttp://www.nhlbi.nih.gov/guidelines/cholesterol/index.htm): zuleiten, um eine weitere Somatisierung und Chro- „Herzgesunde Ernährung“ Nur mäßiger Konsum von Alkohol und Vermeidung von Nikotin lebensgeschichtliche Belastungen) des jeweils betrof- fenen Menschen in seiner Behandlung sind. Indikationsstellung für eine medikamentöse Therapie Umfassende, unmittelbare medikamentöse Orientierende diagnostische Fragen Behandlung aller Patienten mit hohemBereich Risiko (Gruppe 10-JahresFür den hausärztlichen werden1:Fragen vorgerisiko >20%) und Anstreben eines LDL von 100 mg/dl. schlagen, die bei Verdacht auf Depression, Ängste Medikamentöse Therapie bei Patienten der Gruppe 2 könoder somatoforme Störungen eingesetzt werden und 3 nach individueller Entscheidung unter Berücknen und zur Ermittlung des Bedarfs an psychotherasichtigung der Lipidwerte und nach Erprobung lebensstilpeutischer Beratung bestimmt sind. ändernder Maßnahmen. Gibt es etwas, was sich in den letzten Monaten in Für Patienten der Risikogruppe 4 (0-1 Risikofaktor) sind Ihrem Leben gegenüber früher verändert hat? lebensstilmodifizierende Maßnahmen im Allgemeinen Gibt es Belastungen am Arbeitsplatz oder in der ausreichend. Familie? Je nach Risikogruppe wird ein LDL von 100 mg/dL (Gruppe Gab es ein besonderes Ereignis in Ihrem Leben in 1), 130 mg/dL (Gruppe 2+3) bzw. 160 mg/dL (Gruppe 4) den letzten Monaten? angestrebt. Arzneimittelauswahl: Es tigt? nifizierung zu verhindern, über 20%): a) Bestehende 1. Hohes Risiko (10-Jahresrisiko psychische Aspekte beib)chronischen Erkrankungen koronare Herzkrankheit (KHK), KHK-Äquivalente, c) zu erkennen, Diabetes mellitus, d) 2 oder mehr Risikofaktoren**: Überund Risiko Unterdiagnostik zu vermeiden. 2. Mäßig hohes (10-Jahresrisiko 10-20%): ≥2 Risikofaktoren* bei errechnetem Vier Gruppen von Risiko**. Krankheiten werden unter3. Moderates Risiko (10-Jahresrisiko < 10%): ≥2 Risikoschieden: aktoren* bei errechnetem Risiko**. Psychische Erkrankungen, wie etwa Angsterkran4. Niedriges Risiko: 0-1 Risikofaktor* kungen, Belastungs- und Anpassungsstörungen, *Risikofaktoren: Zigaretten rauchen, Hypertonie, niedriges depressive Syndrome, Psychosen, HDL-Cholesterin unter 40mg/dl, familiäre Belastung mit Funktionelle Störungen, die45 somatoforme Erkranvorzeitiger KHK, Alter (Männer über Jahre, Frauen über kungen, also körperliche Beschwerden ohne orga55 Jahre); **errechnetes Risiko: Bsp. mit PROCAM Score nischen oder Befund darstellen, NCEP-Risikokalkulator (s. Rückseite) elektronischem Psychosomatische Krankheiten als diejenigen Anmerkung: Diabetiker ohne KHK oder KHK-Äquivalente und ohne zusätzliche Risikofaktoren bei einem körperlichen Erkrankungen, beiprofitieren deren Entstehung LDL<115 - laut der jetzigen Faktoren Studienlage - nicht von odermg/dL Verlauf psychosoziale wesentlich einer beteiligt Therapie sind, mit einem CSE-Hemmer. Somatopsychische Störungen, die vorlieTherapieschritte nach “International Taskdann Force for gen, wenn schwere somatische Prevention of Coronary Heart Disease”: Erkrankungen Probleme auslösen. Basispsychische sind nichtmedikamentöse Maßnahmen, die auf eine Veränderung des Lebensstils zielen: und vorurteilsfreies Der Arzt sollte durch sorgfältiges Erhalten desund normalen Körpergewichtes Beobachten Untersuchen einschließlichoder psychia- PH863453V Fettstoffwechselstörung Dyslipidämie Psychosomatische von diätetischen EmpfehlungenMedizin für eine Einhaltung Gewichtsreduktion bei Übergewicht trischer Untersuchungsverfahren versuchen herauszuSteigerung der körperlichen Aktivität finden, welches die besonderen »krankmachenden« Ursachen (z. B. fehllaufende Bewältigungsstrategien, Gibt es irgendetwas, was Sie besonders beschäfsollten Wirkstoffe eingesetzt werden, für dieIhnen Endpunktstudien günstiger NNT und NNH Machen bestimmtemit Themen oder Menschen vorliegen Für Simvastatin (20 mg Ihrer(Simvastatin, Umgebung Pravastatin). Sorgen? und 40 und Pravastatin (40wachen mg) ist eine Senkung sowohl Mitmg) welcher Stimmung Sie morgens auf? der Gesamtmortalität als sich auchim derLaufe kardiovaskulären Wie entwickelt sie des Tages?Morta- lität belegt. BeiSie Multimorbidität Multimedikation sollte die Können gut ein- undund durchschlafen? Indikation für eine medikamentöse Therapie Würden Sie sagen, dass Sie lipidsenkende mit Ihrer Sexualität besonders strengsind? gestellt werden. zufrieden Merke: Gibt es noch irgendetwas Wichtiges, von dem Sie Bei medikamentöser kontrollieren! meinen, dass ich Therapie: es wissenCK sollte, um Ihnen helfen (Rhabdomyolyse möglich!) zu können? Keine Kombinationstherapie CSE-Hemmer + Fibrate/ Patienten mit Angststörungen (Generalized Anxiety Makrolide/Azol-Antimykotika. Disorder, GAD) lassen sich nach Literaturangabe mit Wechselwirkungen auch mit anderen Medikamenten zwei Fragen (sog. GAD-2) erkennen: möglich! Haben Sie sich in den vergangenen zwei Wochen Bei Makrolidtherapie CSE-Hemmer pausieren! häufigvor nervös, ängstlich oder gereizt Statine chirurgischen Eingriffen und beigefühlt? akut auftreKonnten Sie Ihre Sorgen oft nicht kontrollieren? tenden schweren Erkrankungen vorübergehend abBei Verdacht auf Depression: setzen! Auf Compliance achten, auf abendliche EinnahHaben Sie sich im vergangenen Monat oft niederme des CSE-Hemmers hinweisen. geschlagen oder hoffnungslos gefühlt? Evidenzbasierte Patienteninformationen sind unter www.gesundheitsinformation.de Hatten Sie im letzten Monatabrufbar. häufig wenig Freude bei den Dingen, die Sie tun? Benötigen Sie deswegen Hilfe?