Aussetzer - GRIPS Theater

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Aussetzer - GRIPS Theater
Materialien zu
Aussetzer
Ein Theaterstück von Lutz Hübner, Mitarbeit Sarah Nemitz
für Menschen ab 14 Jahren
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»aussetzer«
Liebe Leserin, lieber Leser,
Lutz Hübners Jugendstück »Aussetzer« entstand nach monatelangen Recherchen im Jahr 2007 als Auftragsarbeit des Schauspiel Hannover. Anlass war, im Angesicht wachsender Diskussionen über »Gewalt an Schulen«, der »Brandbrief«, der Hilferuf der Neuköllner Rütli-­‐Schule im März 2006, in dem mit drastischen Worten ein »System Schule« be-­‐
schrieben wurde, in der gemeinsames Leben und produktives Lernen nicht mehr mög-­‐
lich schien: »Wir müssen feststellen, wir sind am Ende der Sackgasse angekommen und es gibt keine Wendemöglichkeit mehr.« Sicher hat sich seitdem viel geändert an Schulen, der Rütli-­‐Campus soll nun sogar bun-­‐
desweit Modellschule werden (siehe Spiegelonline 29.11.2012). Aber Vorfälle von Ge-­‐
walt im Zusammenhang mit Schule gibt es immer noch. Das System Schule steht weiter zur Diskussion. Wir haben während der Probenzeit viele Gespräche mit Lehrern, Schulpsychologen, El-­‐
tern und Schülern geführt. Dabei haben uns vor allem die Beziehungen zwischen Schü-­‐
lern, Lehrern und auch Eltern interessiert. Wir haben versucht, in der Beschäftigung mit dem »Aussetzer« selber zu »Schul-­‐Entwicklungs-­‐Experten« zu werden – und sind auf viel mehr Fragen als Antworten gestoßen. So wie das Stück. Es ist, wie alle guten Jugendstücke, kein Text, der ein schlichtes Schwarz/Weiß-­‐Bild der Wirklichkeit malt, es ist ein Text, der erfreulich vielschichtig bleibt und damit umso brisanter wird. Eine Provokation? – Das Stück ist vielleicht auch ein Anlass, sich auseinanderzusetzen, eine Anregung, Dinge zu benennen und zu verän-­‐
dern, die eigene Position zu überprüfen und zu hinterfragen. Für Lehrerinnen und Leh-­‐
rer, für Eltern – und für Schüler. Also für (fast) alle. Dem entsprechend ist auch das Material eine Zusammenstellung von Texten und spiel-­‐
praktischen Anregungen, die zum einen zum Gespräch über den Schulalltag einladen und dabei auch das Thema Aggression nicht außer Acht lassen. Zum anderen wollen sie Anstoß geben, gemeinsam über Lebensvorstellungen und Zukunfts-­‐perspektiven nach-­‐
zudenken. Wir wünschen eine anregende Lektüre – und viel Spaß beim Diskutieren und Ausprobie-­‐
ren! Stefan Fischer-­‐Fels und Susanne Rieber (Dramaturg) (Theaterpädagogin) 3
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Inhaltsverzeichnis
Besetzung Das Stück Der Autor Lutz Hübner Happy End vs. Bad End Schule, ein Ort der Aggression Ein Gespräch über Gewalt an Schulen Gewalt gegen Lehrkräfte Umgang mit erlebter Gewalt Die Wichtigkeit von Aggression Gibt es Strafen, die nicht demütigen Bildungsrecht statt Schulpflicht Schule, ein Ort der Begegnung Lebenslanges Beziehungslernen Nicht jede schwierige Situation ist ein Problem Wir fragen unser Publikum Schüler sind die Bildungsexperten Das Abenteuer Unterrichten Schule, ein Ort für alle Beteiligten Pädagogen können Eltern nicht ersetzen Elternseminare, an einer Schule, die sich einmischt Was wir uns fragen könnten... Schule, ein Ort für Träume Frau Freitags Rede zum Halbjahresende Schüler ohne Perspektive gibt es nicht! Ein Gespräch mit Paul Jumin Hoffmann Anregungen für den Unterricht Anregungen zur Vorbereitung Nachbereitende Fragen Gedanken rund ums Stück Anregungen zum Thema Aggression Anregungen zum Thema Umgang miteinander Anregungen zum Thema Perspektiven Literatur und Links Impressum 6 7 7 8 9 11 12 13 14 16 18 19 21 22 23 24 26 27 29 30 32 33 35 36 37 39 39 40 41 42 43 45 46 47 5
»aussetzer«
Aussetzer
Ein Theaterstück von Lutz Hübner, Mitarbeit Sarah Nemitz
für Menschen ab 14 Jahren
Chris Paul Jumin Hoffmann Julika Stöhr Katja Hiller Regie: Yüksel Yolcu Bühne und Kostüme: Ulv Jakobsen Video: Christian Bäuker Dramaturgie: Stefan Fischer-­‐Fels Theaterpädagogik: Susanne Rieber Regieassistenz: Ky Lloyd Technik: Jerry Geiger, Vincent Peter, Ufuk Özgüc, Klaus Reinke Bühnenbau: Mark Eichelbaum, Moses Wachsmann Requisite: Máni Thomasson, Oliver Rose Schneiderei: Sabine Winge, Kaye Tai Maske: Sedija Husak 6
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Das Stück
Chris’ Schulabschluss ist gefährdet. Er arbeitet nicht mit, schwänzt die Schule, macht keine Hausaufgaben, stört den Unterricht und zeigt aggressives Verhalten. Jetzt hat er erfahren, dass er im Fach „Musik“ eine Fünf bekommt. Er braucht aber eine Drei. Unbedingt. Er hat nicht damit gerechnet. Er geht nach dem Unterricht zu Julika Stöhr, der jungen Musiklehrerin, um sie zu ei-­‐
ner Änderung zu bewegen. Julika weigert sich, ihm eine bessere Note zu geben oder überhaupt mit ihm ernsthaft darüber zu diskutieren. Chris rastet aus, schlägt zu, schlägt seine Lehrerin. Erschrocken flieht Chris. Wie gelähmt geht Julika nach Hause. Julika, die schon einmal in eine andere Schule versetzt wurde, wird klar, dass sie nicht den zu erwartenden Weg einer Anzeige gehen kann. Vieles steht für sie auf dem Spiel: Der Respekt der Kollegen, der Schüler, ihr eigenes Berufsverständnis als Lehrerin. Also keine Anzeige, kein Verweis für Chris, niemandem davon erzählen. Julika will herausfinden, was mit Chris los ist, und sie will dabei herausfinden, ob sie weiter als Lehrerin arbeiten kann und will. Julika schließt mit Chris einen Pakt: Er soll sich die notwendige Drei erarbeiten. Dafür treffen sich Julika und Chris außerhalb der Schulzeit. Chris misstraut den Motiven der Lehrerin. Er will etwas gegen sie in der Hand haben und versucht heimlich, kompromittierende Fotos zu machen, um später Material für eine Erpressung nutzen zu können. Doch Chris’ Plan misslingt. Stattdessen zeigen die Treffen erste Erfolge. Chris fängt an, so etwas wie Spaß am Lernen zu entwickeln. Julika will über weitere Nachhilfe für Chris mit dessen Vater sprechen. Sie macht einen Hausbesuch, der schrecklich eskaliert. Der Vater nimmt ihren Besuch als Beweis für die These, dass sein Sohn missraten sei und schlägt ihn. Chris fühlt sich von Julika verraten und verschließt sich wieder. Bei der nächsten Klassenarbeit macht Chris Fehler, zu viele für eine Drei, aber Julika übersieht absichtlich einige und gibt ihm die gewünsch-­‐
te Note. Chris fühlt sich doppelt hintergangen und beschimpft sie. Wenige Tage später erhält Julika einen anonymen Brief mit wüsten Drohungen, in dem behauptet wird, dass sie ein Ver-­‐
hältnis mit Chris habe. Chris, der davon nichts wusste, aber eine Ahnung hat, wer den Brief ge-­‐
schrieben haben könnte, bietet Julika an, die Sache für sie zu klären. Am nächsten Tag erfährt Julika, dass Chris zwei Mädchen krankenhausreif geschlagen hat. Julika willigt gegenüber dem Rektor ein, mit niemandem darüber zu reden... Der Autor Lutz Hübner
Lutz Hübner, 1964 in Heilbronn geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Münster und Schauspiel an der Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater in Saarbrüc-­‐
ken. Engagements als Schauspieler und Regisseur u.a. in Saarbrücken, Karlsruhe, Neuss und Magdeburg. Seit 1996 ist er freiberuflicher Schriftsteller und Regisseur in Berlin, wo er mit Frau und Kind lebt. Lutz Hübner erstes Jugendstück DAS HERZ EINES BOXERS, am GRIPS uraufge-­‐
führt, wurde 1998 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet. 2005 wurde sein Stück HOTEL PARAISO zum Berliner Theatertreffen eingeladen, seine Stück GEISTERFAHRER und DIE FIRMA DANKT waren bei den Mülheimer Theatertagen. Seit Ende der Neunziger Jahre ist Lutz Hübner einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker auf deutschen Bühnen. Der Preis der ASSITEJ wurde Lutz Hübner in 2011 verliehen. Seine Stücke sind in über ein Dutzend Sprachen übersetzt worden und werden auf der ganzen Welt gespielt. Die meisten Stücke entstehen in Zusammenarbeit mit Sarah Nemitz. Lutz Hübner ist mit dem GRIPS Theater eng verbunden, viele seiner bekanntesten Stücke wurden auch am GRIPS erfolgreich gespielt: ALLE GUTE, CREEPS, WINNER&LOSER, NELLY GOODBYE, HELD BALTUS (nominiert für den "Deutschen Kinderthea-­‐
terpreis"), FRAU MÜLLER MUSS WEG und jetzt AUSSETZER. In der Spielzeit 2013/14 wird sein Stück DER GAST IST GOTT im GRIPS uraufgeführt. 7
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Happy Ends vs. Bad ends
Notizen von Lutz Hübner
Geht es gut aus oder schlecht? Eine immer wieder gern gestellte Frage bei Geschichten, nur greift sie leider zu kurz. Es gibt die un-­‐
terschiedlichsten Abstufungen, Bad Ends, die im völligen Desaster den Keim eines Neuan-­‐
fangs vermitteln, Happy Ends entpuppen sich zuweilen bei genauerem Hinsehen als vergiftetes Geschenk: Die Protagonisten ha-­‐
ben sich gefunden, wie aber sollen sie mit der Last des Geschehenen weiterleben? Oder ein scheinbar offenes, manchmal glücklich wirkendes Ende kann auch zu einem tragi-­‐
schen Ausgang weitergedacht werden. (...) Beispiel »Aussetzer«, eine Geschichte, in der eine Lehrerin und ein Schüler in eine ge-­‐
meinsame Geschichte rutschen, deren Ver-­‐
lauf von ihren gesellschaftlichen (in diesem Fall schulischen) Positionen bestimmt ist. Sie versuchen, einen eigenen Weg zu finden, der im System Schule (oder Gesellschaft) nicht vorgesehen ist. Nicht nur ihre unverrückba-­‐
ren Positionen (Schüler / Lehrer) mit allen daraus resultierenden Zwängen stehen ihnen im Weg, sondern auch schlicht und ergrei-­‐
fend Kommunikationsfehler. Sie besucht seine Eltern, was er als Verrat empfindet, er versteht eine Aufforderung, einen Erpres-­‐
sungsversuch aus der Welt zu schaffen als Freibrief für Gewalt. Dennoch gibt es bei beiden den Willen, die Weltsicht des Ande-­‐
ren zu verstehen, und wenn auch beide mit ihrem gemeinsamen Projekt scheitern, sind ihre Haltungen durchlässig geworden: Das ist das Happy End, das im Bad End steckt. Chris wird nicht mehr der Schulbully sein, der seine Unsicherheit hinter Machoposen verbirgt, Julika hat eine Kenntnis davon, wen sie unterrichtet und in welchen größeren Zusammenhängen ihre Arbeit steht. Haupt-­‐
schüler, die diese Vorstellung sehen, wissen, welches Milieu gemeint ist, sie wissen, wel-­‐
che Regelüberschreitung die gewollt / un-­‐
gewollte Konspiration der Beiden bedeutet. Sie fiebern nicht mit, ob Chris seinen Ab-­‐
schluss schafft, sondern wie er mit einer Si-­‐
tuation umgeht, die sie selbst ebenso über-­‐
fordern würde. Sie sind interessiert, was im Kopf einer Lehrerin vorgeht (jeden Schüler 8
interessiert das). Es ist eine Fülle von Einzel-­‐
situationen, in denen sie sich mit Chris’ Standpunkt auseinandersetzen, aber auch, salopp gesagt, bemerken, dass sogar Lehrer Nerven haben (und Antipathien, Frust, Rat-­‐
losigkeiten…). Sie sehen, (und damit sind wir wieder bei einer Prämisse Brechts) einen Boxkampf, sie wollen sehen, wer wie kämpft. Wie gehen die beiden miteinander um? Ein Happy End würde, um im Bild zu bleiben, bei »Aussetzer« so aussehen, dass der Kampf-­‐
richter in der letzten Runde beider Arme hochreißt und lächelnd verkündet, dass bei-­‐
de gewonnen haben, weil es immer schön ist, wenn junge Leute Sport treiben. Schüler, speziell solche, die nicht an Gymnasien oder Eliteschulen sind, wissen sehr genau, wie es um ihre Zukunft bestellt ist. Man muss sie mit Theater dazu bringen, über die eigene Situation und das eigene Verhalten nachzu-­‐
denken. Sie haben ein feines Gespür dafür, wann ihnen etwas ›beigebracht‹ werden soll und die Botschaft vorgestanzt fürs Vokabel-­‐
heft zum Ende in rosa Farben auf der Bühne leuchtet. Sinn und Zweck eines Theater-­‐
stücks ist nie die Botschaft, sondern das Ge-­‐
spräch, die Reflexion und die Frage, warum es so ist, wie es ist und was man daran än-­‐
dern kann. Dazu muss eine Geschichte hart und glaubwürdig sein. Wenn es im Leben keine schnellen Lösungen gibt, sollte es sie im Theater auch nicht geben. Die Botschaft von »Aussetzer« ist nicht: Ihr könnt sowieso nichts tun, sondern: Was könnt ihr tun? Man sollte sein Publikum zum Nachdenken auf-­‐
fordern, aber man sollte ihm das Denken nicht abnehmen. Ein Ausgangspunkt für »Aussetzer« ist, dass es ein Schulsystem gibt, welches Jugendliche aussortiert und von staatlicher Seite oft marginalisiert wird, trotz aller Fensterreden. Wenn das Stück Lehrern und Schülern die Möglichkeit bietet, jenseits des Unterrichts einmal über die eigenen Be-­‐
dingungen nachzudenken, hat es seinen Zweck erfüllt. Dafür muss man beide Seiten ernst nehmen und das bedeutet, der Ge-­‐
schichte das Ende zu geben, welches ihr ge-­‐
mäß ist. »aussetzer«
Kapitel 1:
Schule,
ein Ort der Aggression
Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt.
Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.
Bertolt Brecht
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Aus Szene 3
CHRIS
Was zickt die auch so rum. Ich war voll höflich. Ich hab ja versucht, cool zu bleiben. Aber die immer wieder, immer wieder drauf und der Rest war dann Reflex. Also, dass ich sie da… das läuft über
Reflexe, das war ja nicht geplant. Ich bin doch nicht bescheuert. Also, nicht auf die Tour bescheuert, dass ich da hingehe und das will, bringt mir doch nichts. Und ausgerechnet Frau Stöhr, die ist
doch kein Gegner. Ich war das nicht. Das war nur Reflex. Weil die so gefuchtelt hat. Wenn die nicht
so gefuchtelt hätte, wäre der Reflex auch nicht… also dann hätte ich den Aussetzer auch nicht gehabt. (...)
JULIKA
Blaue Flecken. Geplatzte Lippe. Krankschreibung für eine Woche, die ich aber nicht abgegeben habe. Der Arzt hat gefragt, wie das passiert ist, ich konnte nichts sagen, ich habe es nicht rausgekriegt.
(...) Irgendwann hab ich Svenja die Sache erzählt, aber ich habe das alles gar nicht richtig zusammengekriegt, ich war völlig wirr. Ich hab erzählt, als ob ich etwas verbockt habe, und Svenja hat
mich irgendwann richtig angeschrien, dass ich mal aufhören muss, nach Erklärungen zu suchen und
die Sache so sehen soll, wie sie ist. Ich bin von einem Schüler niedergeschlagen worden. Alles andere spielt erst mal keine Rolle. Das hätte nichts mit meinen pädagogischen Fähigkeiten zu tun, nichts
mit meiner Person und auch nichts mit den Fächern, die ich unterrichte. Ich bin ein Opfer von Gewalt. Er hat die Konsequenzen zu tragen, das ist eine ganz einfache Sache. Da muss man nicht lange
überlegen. Da hat sie Recht.
Jetzt geht das los. Zum Direktor gehen und melden. Genauer Bericht, Anzeige erstatten, Konferenz.
Das Ergebnis ist klar: Rausschmiss sofort. Rumsprechen wird sich das auf jeden Fall. Die ganze Lawine, die dann losgeht. Ich gebe die Krankmeldung ab und wenn ich wiederkomme, muss ich die
Klasse aushalten. Kann in ihren Gesichtern lesen, was sie darüber denken. Wegen mir ist Chris geflogen. Nur das bleibt hängen.
Oder anders. Der Direktor will es klein halten, runterspielen. Gesprächstermin. Verwarnung. Mit
niemandem darüber sprechen. Der Ruf der Schule könnte leiden. Wir sind darauf angewiesen, dass
gute Schüler kommen und da ist so ein Vorfall kontraproduktiv. Ich bekomme eine neue Klasse und
wenn das nächste Mal ein Lehrer in eine andere Schule versetzt wird, bin ich das. So läuft das. Das
läuft nicht anders als bei den Schülern. Die Opfer wechseln die Schule, nicht die Täter. (...)
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Ein Gespräch über Gewalt an Schulen
Ein Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Edelstein, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Herr Professor Edelstein, worin liegen Ihrer Einschätzung nach die Ursachen für Gewalt an Schulen? Es gibt eine Vielzahl von Gründen für Gewalt an Schulen. Experten wie Christian Pfeiffer vom kriminologischen Institut Hannover haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es Familien-­‐
erfahrungen gibt, die zu Gewalt führen: Geprügelte Kinder werden prügelnde Kinder. Das ist ziemlich bekannt und wohl auch eine der wichtigsten Ursachen für eine Gewaltneigung bei Jugendlichen. Doch es gibt weitere Ursachen und Zusammenhänge. Dazu gehören Desintegration und Ver-­‐
wahrlosung. Im Bereich Desintegration, im Hinblick auf fehlende soziale Kohäsion (fehlender sozialer Zusammenhalt) haben wir uns sehr viel zu Schulden kommen lassen. Soziale Integrati-­‐
on, soziale Kohäsion haben sich die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Deve-­‐
lopment = Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), vor allem aber die Europäische Kommission mit dem Lissabon-­‐Prozess auf die Fahnen geschrieben. An diesem Prozess sind wir beteiligt. Soziale Integration, soziale Kohäsion ist ein primäres Politikziel, weil sie Gewalt in Gruppen, Gewalt zwischen Unterprivilegierten und Privilegierten, weil sie soziale Gewalt verhindern bzw. kompensieren können. Ich glaube freilich, dass Gewalt in Schulen nicht zuletzt eine Reaktion auf die Schule selbst ist. Das bedeutet nicht, dass man Schulen stets ursächlich für den Ausbruch von Gewalt verantwort-­‐
lich machen kann, meist sind die kontextuellen Bedingungen verantwortlich: Weil die Lehrper-­‐
sonen weggeschaut haben, weil die Schulen keine Verfahren der Aushandlung, der Kommunika-­‐
tion kultivieren, weil sie keine Konfliktschlichter ausgebildet haben, weil Mediation im Schul-­‐
programm keine Rolle spielt, weil die Schüler an der Hauptschule nicht das Gefühl haben, an dieser Schule sinnerfüllt tätig sein zu können und keine Lebensperspektive entwickeln können. Das macht viele, vor allem solche Jugendliche, die mit Schwächen von Zuhause in die Schule kommen, kompensatorisch gewalttätig. Dabei gewinnen Sie Selbstwirksamkeitserfahrungen, vor allem in der sozialen destruktiven Gewalt, der Erfahrung der Herrschaft über andere. So wie sie sonst selber geknechtet werden – so wie geprügelte Kinder zu prügelnden Kinder werden –, so sind geknechtet Kinder rebellisch und gewalttätig. Was können Schulen, was können Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, wirksam gegen Gewalt tun? Es muss darum gehen, dass ein Schulklima, eine Kultur der Schule geschaffen wird, in der Ko-­‐
operation, Partizipation, Achtung und eine ernstzunehmende Beachtung der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden, damit sie sich wertgeschätzt fühlen. Solche Ziele müssen im Zentrum der Kooperation von Lehrern und im Zentrum von Überlegungen der Schulleitungen stehen. Wir brauchen einfach andere Konzepte von Schule, andere Konzepte von Bildung und Erziehung. (...) Ich will nicht unzulässig generalisieren – aber augenfällig sind Gewaltakte an Schulen häufig ein Zeichen dafür, dass sich die Schulen blind und taub stellen. Gewalttaten sind immer auch Form von Abwehr. Positiv möchte ich sagen: Eine Schulkultur, die Schüler integriert, ist die beste Prävention gegen Gewalt. Aus: Materialien zu „Aussetzer“ von dem Jungen Schauspielhaus Düsseldorf 11
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Gewalt gegen Lehrkräfte
Unter Aggression bzw. Gewalt gegen eine Lehrkraft wird jede Attacke verbaler, physi-­‐
scher oder psychischer Art sowie die Be-­‐
schädigung ihres Eigentums verstanden. (...) Nicht immer ist allen Beteiligten klar, welche Person im System der jeweiligen Schule ver-­‐
antwortlich handeln oder reagieren kann, darf oder muss. Deshalb sollen einige Aspek-­‐
te zur Stellung der Lehrkraft und der Schul-­‐
leitung kurz beleuchtet werden. Lehrerinnen und Lehrer trifft zunächst eine besondere Verantwortung für die ihnen anvertrauten Schüler. Sie müssen einerseits – wie jeder Bürger – allgemein zumutbare Hilfe leisten, wenn einer Schülerin oder einem Schüler (etwa von einem anderen) Gefahr droht. Andererseits sind sie in besonderer Weise dafür verantwortlich, dass keine Schülerin/ kein Schüler zu Schaden kommt (so genann-­‐
te Garantenstellung). Lehrerinnen und Leh-­‐
rer können dabei zum Schutz für sich oder Dritte in angemessener Form – notfalls auch gewaltsam – reagieren oder intervenieren, 12
wenn sonst zum Beispiel eine Körperverlet-­‐
zung nicht verhindert werden kann. Im Straf-­‐
recht heißt dies Notwehr oder Nothilfe und bedeutet, dass eine entsprechende Handlung nicht rechtswidrig und daher auch nicht strafbar ist. Die Verpflichtung des Landes, seine Lehrkräfte zu schützen, drückt sich in seiner Fürsorgeverantwortung aus. (...) Wird eine Lehrkraft im Zusammenhang mit ihrer Arbeit beleidigt oder verletzt, kann das Land von sich aus Anzeige erstatten und ei-­‐
nen eigenen Strafantrag stellen, unabhängig davon, ob die Lehrkraft selbst eine Strafan-­‐
zeige erstattet. Unabhängig von solchen Re-­‐
aktionen hat in erster Linie die Schule selbst die Verantwortung, bei Verletzungen der Persönlichkeitssphäre von Lehrerinnen und Lehrern entschieden zu reagieren und so-­‐
wohl erzieherische Mittel als auch Ord-­‐
nungsmaßnahmen konsequent anzuwenden. Quelle: GEWALT gegen Lehrkräfte. Wie reagieren? Wie ver-­‐
meiden? Ein Ratgeber für die Schulen im Regierungsbezirk Münster, 2005 »aussetzer«
Umgang mit erlebter Gewalt
Veränderungen im Verhalten nach erlebter Gewalt Veränderungen im Erleben und Verhalten sind nach einschneidenden Ereignissen nicht unge-­‐
wöhnlich. Sie sind eine sehr normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis. Folgende Veränderungen können eintreten: • belastende Wiedererinnerungen, u.a. Bilder, Gerüche • Erregung, u.a. Konzentrationsprobleme, Angst, Erinnerungslücken • verändertes Erleben, u.a. Hoffnungslosigkeit, Sinnverluste, Selbstentfremdung • körperliche Stressreaktionen, u.a. Zittern, Anspannung, Herzrasen • Verhaltensänderungen, u.a. sozialer Rückzug, aggressive Ausbrüche • Vermeidungsverhalten, u.a. Ort des Geschehens Wie Kollegen helfen können... Von Gewalt betroffene Kollegen empfinden oft, dass ihnen niemand zur Seite gestanden hat, sie im Stich gelassen wurden und sie keine Unterstützung erfahren haben. Dies verstärkt das Gefühl, beschädigt zu sein und unterläuft den Selbstheilungsprozess. • aktives Gesprächsangebot und Nachfragen, Solidarität zeigen, um beim Wiedergewinn von Sicherheit und Identität zu helfen • keine vorschnellen Ursachenerklärungen: Opfer von Gewalt und Bedrohungen brauchen zunächst und vor allem Beistand und keine Persönlichkeitsanalyse Was die Schulleitung und Schulgemeinschaft tun können... • Schulleitung, Kollegium, andere Mitglieder der Schulgemeinschaft signalisieren Unterstüt-­‐
zungsbereitschaft und bekräftigen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft • kontinuierliche Informationen über die Maßnahmen, die bezüglich des Vorfalls in der Schule vorgenommen worden sind • Anti-­‐Gewaltkonsens, offensiver Umgang mit eindeutiger Parteinahme für das Opfer, d.h. (schul)öffentliche Unterstützung des Opfers, vielleicht durch eine gemeinsame Erklärung des Kollegiums • Zusammenarbeit mit vorgesetzten Behörden; diese stellen im Rahmen der Fürsorge Anzeige oder Strafantrag • Aufweisen weiterer Hilfen: Personalrat, gewerkschaftlicher Rechtsschutz, Unfallkasse, Schulpsychologe, Frauenbeauftragte, Opferschutzbeauftragte der Polizeidirektion (hat Pflicht zur Anzeigenerstattung bei Kenntnis von Straftaten), Weißer Ring e.V., Opferhilfe e.V., u.a. Was der Einzelne für sich tun kann… • über Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit Kollegen, Freunden und Angehörigen sprechen • auf die eigenen Bedürfnisse achten, sich Ruhe und Entspannung gönnen • Unterstützung von anderen Menschen holen • wenn nach vier bis sechs Wochen immer noch keine Entwicklung zur Besserung zu spüren ist, professionelle, z.B. ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen • polizeiliche Präventionsangebote nutzen Aus: Notfallpläne für Berliner Schulen, Ergänzungsblätter, Hilfen bei Gewalt gegen Schulpersonal, Stand 02/2011 13
»aussetzer«
Die Wichtigkeit von Aggression
Von Joachim Bauer
(…) Wie alle Naturphänomene, so folgt auch die Aggression bestimmten – oft nicht auf den ersten Blick erkennbaren – Gesetzen. Die Einflussfaktoren für Aggression und Gewalt zu untersuchen und zu benennen, bedeutet nicht, Taten zu entschuldigen. Psychisch durchschnittlich gesunde Menschen besitzen eine – neurobiologisch begründete – Selbst-­‐
steuerungsfähigkeit. Sie ist die Grundlage dafür, dass sie von jedem Mitmenschen mit Recht erwarten, dass er (oder sie) im eige-­‐
nen Inneren auftauchende Gewaltimpulse kontrolliert. Welche Motivationen (früher sprach man von »Trieben«) das Verhalten des Menschen steuern, muss heute nicht mehr auf der Basis von Intuition – sie sind das Manko verschie-­‐
dener sozialpsychologischer Theorien – be-­‐
antwortet werden. Menschliche Motivatio-­‐
nen haben in den so genannten Motivations-­‐
systemen eine neurobiologische Basis. An diesen Systemen vorbei gibt es keine Motiva-­‐
tion (und keinen »Trieb«). Einem anderen Menschen, von dem man nicht provoziert wurde, Schaden oder Schmerzen zuzufügen, ist aus der Sicht der Motivationssysteme bei psychisch durchschnittlich gesunden Men-­‐
schen kein »lohnendes« Unterfangen. (...) »Lohnend« aus Sicht der Motivationssysteme eines psychisch durchschnittlich gesunden Menschen ist es, sozial akzeptiert zu sein, Anerkennung zu erhalten, sich einer Gruppe zugehörig fühlen zu können oder geliebt zu werden. Damit bestätigt die moderne Neuro-­‐
biologie Charles Darwin, der die »sozialen Instinkte« als stärksten Trieb des Menschen bezeichnet (...). Zentrales Motivationsziel: soziale Akzep-­
tanz und Zugehörigkeit Kinder und Jugendliche sehnen sich nach Zugehörigkeit. (...) Die Ausrichtung mensch-­‐
licher Motivation auf sozialer Akzeptanz be-­‐
deutet jedoch nicht, dass wir »gut« sind. Menschen sind, um Zugehörigkeit zu erlan-­‐
gen, notfalls bereit, auch Böses zu tun. Junge Menschen – vor allem solche, die in ihren Milieus durch zwischenmenschliche Bezie-­‐
hung nicht gut verankert sind – neigen dazu, 14
Gruppen zu bilden, deren Identitätsmerkma-­‐
le in hohem Maße – manchmal ausschließlich – darin bestehen, andere auszugrenzen, zu ärgern oder zu mobben. Das Böse ist hier jedoch nicht Selbstzweck (diesem Fehl-­‐
schluss sitzen Sozialpsychologen gelegent-­‐
lich auf), vielmehr vermittelt das gemeinsam ausgeübte Böse ein Gefühl der Zugehörigkeit – ein Mechanismus, in denen »Gutes« (Teil einer Gemeinschaft sein) und »Böses« (ande-­‐
re quälen) eine diabolische Verbindungen eingehen. (…) Aggression ist keineswegs immer etwas »Bö-­‐
ses«. Diente sie keinem sinnvollen Zweck, so hätte sich das Verhaltensprogramm der Ag-­‐
gression im Verlauf der Evolution kaum er-­‐
halten. Zu den frühsten Erkenntnissen der Aggressionsforschung zählte die Beobach-­‐
tung, dass die Zufügung körperliche Schmer-­‐
zen zu den zuverlässigsten Auslösern zählt. Wer die Schmerzgrenze tangiert, wird Ag-­‐
gressionen ernten. Eine bahnbrechende Be-­‐
obachtung der modernen Hirnforschung war nun, dass das Schmerzwahrnehmungssystem unseres Gehirns (die so genannte neuronale Schmerzmatrix) nicht nur auf körperlichen Schmerz reagiert, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung. Dass soziale Zurückweisung aus Sicht unseres Gehirns wie körperlicher Schmerz wahrgenommen wird, erklärt, warum Schülerinnen und Schü-­‐
ler nicht nur dann aggressiv reagieren, wenn sie körperlich angegangen werden, sondern auch dann, wenn sie sich ausgegrenzt oder gedemütigt fühlen. (...) Aggressionen: Unter welchen Vorausset-­
zungen kann sie als soziales Regulativ dienen? Da sich Aggression immer dann meldet, wenn Menschen sozial zurückgewiesen wer-­‐
den (oder das Gefühl haben, dass dies ge-­‐
schieht), erweist sich die menschliche Ag-­‐
gression als ein soziales Regulativ. Diese Funktion kann sich jedoch nur einlösen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Er-­
stens müssen aggressive Gefühle vom betrof-­‐
fenen Individuum im eigenen Inneren erst »aussetzer«
mal als solche wahrgenommen werden. Wer von klein auf für jedes Gefühl des Ärgers oder der Wut hart bestraft wurde, hat oft verlernt, diese Gefühle in sich wahrzuneh-­‐
men. Anstatt Aggression können dann Gefüh-­‐
le der Depression, selbst schädigendes Ver-­‐
halten, Essstörungen oder psychosomatische Symptome auftreten. Eine zweite Vorausset-­‐
zung ist, dass unser Ärger an denjenigen (oder an diejenigen) Mitmenschen adressiert wird, von dem (beziehungsweise von denen) die Störung tatsächlich ihren Ausgang nahm. Dass wir Aggression häufig nicht an die »richtige« Adresse richten, sondern auf Un-­‐
beteiligte (in der Regel auf Schwächere) »verschieben«, hat mit den Machthierarchien zu tun, die unser heutiges menschliches Zu-­‐
sammenleben prägen. Schüler_innen, die Zu-­‐
hause Vernachlässigung oder Gewalt erle-­‐
ben, leben das sich daraus ergebende ag-­‐
gressive Potenzial entweder in der Schule oder im öffentlichen Raum aus. Eine dritte Bedingung dafür, dass Aggression regulie-­‐
rend wirksam werden kann, ist, dass sie so-­‐
zial verträglich, d.h. in Dosis oder Verabrei-­‐
chungsart angemessen kommuniziert wird. Weil die genannten drei Bedingungen jedoch oft nicht erfüllt sind, büßt die Aggression ihr Potenzial als soziales Regulativ in vielen Fäl-­‐
len ein. Von der Kunst, Aggressionen zu kommu-­
nizieren. Aggression, die an die »richtige« Adresse gerichtet und sozial verträglich kommuni-­‐
ziert wird, ist konstruktiv und gut. Doch dazu muss die Dosis richtig gewählt sein. Die auf dem mittelalterlichen Arzt Paracelsus zu-­‐
rückgehende Erkenntnis, dass es oft alleine die Dosis ist, die ein Mittel zum Heilmittel oder Gift macht, gilt auch für die Aggression. Die optimale Dosis ist gewählt, wenn aggres-­‐
sive Impulse über den Weg des Gesprächs kommuniziert werden. Auch hier sind Abstu-­‐
fungen möglich, von der respektvoll sachlich vorgetragenen Beschwerde bis hin zu einer mit Affekt verstärkten Ansage. Jenseits des Gesprächs (bei purem Geschrei, bei drohen-­‐
dem Auftreten oder gar bei der Anwendung körperlicher Gewalt) geht die kommunikati-­‐
ve Funktion der Aggressionen in der Regel verloren. Aggression in diesem oberen Dosisbereich macht nur Sinn, wenn jemand akut oder vital bedroht ist. In den übrigen Fällen ist überdo-­‐
sierte, insbesondere körperlich ausgetragene Aggression der Ausgangspunkt für Aggressi-­‐
onskreisläufe. Gefühle des Ärgers oder der Wut in sich zu spüren und sie angemessen zu kommunizieren, will gelernt sein. Viele Kin-­‐
der und Jugendliche haben in ihren häusli-­‐
chen Milieus dazu keine Möglichkeit. (...) Wer Aggression auf Dauer nicht kommunizieren darf, beziehungsweise kann, wird krank. Aus: Bauer, Joachim: Aggressionen und Friedenskompetenz aus Sicht der Hirnforschung in Pädagogik, Nov. 2012 15
»aussetzer«
Gibt es Strafen, die nicht demütigen
Protokoll einer Annäherung zum Thema „Lehrer-Schüler-Gewalt“
Von Stefan Fischer-Fels
Am dritten Probentag treffen wir – das Pro-­‐
duktionsteam, bestehend aus den Schauspie-­‐
lern, dem Regisseur, dem Bühnenbildner, der Theaterpädagogin, dem Dramaturgen und der Assistentin -­‐ eine Gruppe von Lehrerin-­‐
nen und Lehrern verschiedener Schultypen in Berlin zu einem vertraulichen Gespräch über das Thema des Stücks. Die Lehrer ken-­‐
nen das Stück, die Schauspieler lesen noch einmal die Anfangsszene vor. Was ist das Thema des Stücks? Die Gewalttat eines Schülers gegen seine Lehrerin wird zu Auseinandersetzung mit dem Selektions-­‐
System Schule, aus dem beide, Täter und Opfer, nicht herauskommen; die Frage, wer Täter und wer Opfer ist, wird nicht klar be-­‐
antwortet. Bert Brecht wird das Zitat zuge-­‐
ordnet: „Der reißende Fluß wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.“ Wir müssen die Machtverhältnisse im Kopf haben, wenn wir uns dem „Thema“ weiter nähern. Das Schulsystem habe zwei Opfer, sagt ein Lehrer: die Schüler und die Lehrer. Denn gehe in der Schule weniger um Inhalte als um Macht. Wenn es um Inhalte ginge, wäre das System Schule längst geändert worden: Inhalte und Methoden von gestern können heute nicht den Bürger von morgen ausbil-­‐
den. Schule bereite Schüler nicht angemes-­‐
sen auf die Gesellschaft vor. Schule, so ein anderer Lehrer, müsste wieder in die Gesell-­‐
schaft re-­‐integriert werden. Lernen müsste viel mehr mit Leben zu tun haben. Die Ab-­‐
kapselung von der Gesellschaft hatte histori-­‐
sche Ursachen, die heute nicht mehr so gel-­‐
ten wie früher (Gegenfrage: hat Schule je-­‐
mals funktioniert?). Zum Glück wurden die autoritären Machtverhältnisse an Schule verändert – aber jetzt besteht eine Lücke zwischen dem Pflichtsystem Schule und den Handlungsmöglichkeiten des Lehrers. In jeder anderen Institution, in jedem Restau-­‐
rant, in jedem Theater würden störende Leu-­‐
te rausgeschickt. 16
In der Schule herrscht Schulpflicht. Schule MUSS mit Störern umgehen. Jeder Lehrer will menschlich sein. Aber die Machtverhältnisse erzwingen oft ein anderes Verhalten. Das wichtigste ist Beziehung. Be-­‐
ziehung ist das Alternativmodell. Zwischen Lehrer und Schüler, Lehrer und Eltern, auch unter Lehrern – Lehrerteams, die sich gegen-­‐
seitig stützen und Feedback geben. Unter-­‐
stützung ist leider nicht immer die Regel in Lehrerkollegien. Schüler testen die Grenzen ihrer Lehrer. Leh-­‐
rer müssen lernen, „Stop“ zu sagen. Lehrer müssen Regeln aufstellen. Lehrer müssen Unterricht machen, dessen Sinn sichtbar für die Schüler ist. Lehrer haben oftmals keine Sprache, um die Schüler zu erreichen und ihr Anliegen zu begründen. Chris schlägt zu, als er nicht kriegt, was er von seiner Lehrerin will. Ein Muster, das er zuhause gelernt hat. Er wird dafür eine Stra-­‐
fe kriegen. Aber wird er sich auch ändern? Wenn er sich ändern soll, muss vermieden werden, dass die Strafe ihn demütigt (Gegen-­‐
frage: Gibt es Strafen, die nicht demütigen?). Aber es bleibt dabei: Chris hat mit seinem „Aussetzer“ die Grenzen verschoben. Die Maßstäbe müssen zurechtgerückt werden. Aber wie? Eine Lehrerin sagt: Mit Klarheit und Empathie. Das Umfeld spielt eine entscheidende Rolle. Chris fühlt sich abgelehnt von seinen Eltern, von seiner Lehrerin; er hat keine berufliche Perspektive; von Freunden erfahren wir nichts. Auch Julika Stöhr fühlt sich alleinge-­‐
lassen: von Chris, von ihren Schülern, von den Eltern der Schüler, vom Kollegium. Beide müssen aus der Isolation heraus, wenn sie eine Perspektive entwickelt wollen. Was war, fragen wir die Lehrer, für euch ein guter Lehrer? »aussetzer«
Die Antworten: -­‐ Einer, der einen Funken von Begei-­‐
sterung transportiert hat. -­‐ Einer der berechenbar war. -­‐ Einer, der sich nicht hat emotional verwickeln lassen, der eine kleine Di-­‐
stanz eingebaut hatte. -­‐ Einer mit Humor. -­‐ Einer, der mit jeden Tag eine neue Chance gegeben hat. -­‐ Einer, an dem ich mich abarbeiten konnte. Für ein paar Momente im Stück möchte man glauben, dass alles gut werden kann. Wir sehen die Utopie einer guten „Beziehung“ -­‐ und wir zittern bis zum Schluß mit den bei-­‐
den, dass sie keine Fehler machen. Wir sehen zwei Menschen, die auf der schie-­‐
fen Ebene des Systems Schule verbissen – und eigentlich gemeinsam! -­‐ um ihre Würde kämpfen. Lutz Hübner beschreibt es so: „Alle Ängste einer Gesellschaft kommen am stärksten bei den Kindern und Jugendlichen an. Da ist der Kältestrom, der durch eine Gesellschaft geht, am frühesten spürbar. Alle verkorksten Kon-­‐
zept einer latent kinderfeindlichen Wirt-­‐
schaft und Politik werden zu Lehrern durch-­‐
gereicht. Dort, in der vordersten Linie stehen sich die beiden Parteien gegenüber wie er-­‐
müdete Armeen im dritten Kriegsjahr, siegen will keiner mehr, man will das alles nur noch überstehen, will nur noch durchhalten. Bis was passiert?“ 17
»aussetzer«
Bildungsrecht statt Schulpflicht
Ein überflüssiges Relikt aus alten Zeiten Um die allgemeine Atmosphäre rund um die Schule zu entspannen, sollten wir zunächst einse-­‐
hen, dass die allgemeine Schulpflicht, wie sie in Deutschland herrscht, ein überflüssiges Relikt aus alten Zeiten ist und durch ein Bildungsrecht ersetzt werden sollte. Heutzutage ist es bei-­‐
spielsweise nicht mehr nötig, ländliche Bevölkerung zu zwingen, ihre Kinder zur Schule zu schicken; ein Bildungsrecht hingegen wäre ein wichtiges Symbol für die Gleichwürdigkeit aller Beteiligten. (...) Aus: Schulinfarkt. Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht. Kösel Verlag München, 2013 Bildungsrecht Art. 28: »Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Bildung an; um die Verwirkli-­‐
chung dieses Rechts auf der Grundlage der Chancengleichheit fortschreitend zu erreichen, wer-­‐
den sie insbesondere a) den Besuch der Grundschule für alle zur Pflicht und unentgeltlich ma-­‐
chen (…).« Art.13 Abs. 1.: [Die Vertragsstaaten] »erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stim-­‐
men überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grund-­‐
freiheiten stärken muss. Sie stimmen ferner überein, dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss.« Aus: Das Menschenrecht auf Bildung und der Schutz vor Diskriminierung http://www.gew.de/Binaries/Binary29305/Menschenrecht_auf_Bildung.pdf 18
»aussetzer«
Kapitel 2:
Schule,
ein Ort der Begegnung
»Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entbrannt werden.«
Francois Rabelais
19
»aussetzer«
Aus Szene 5
JULIKA
(...) Wenn ich mit ihm nicht fertig werde, werde ich mit meinem Beruf nicht fertig und das bedeutet,
dass alles, was ich mir für mein Leben vorgenommen habe, ein Irrtum ist. Ich will nicht, dass Kollegen oder Direktoren entscheiden, was ich mit meinem Leben und allem, was mir zustößt, mache.
Sondern ich allein.
Er oder ich. Und ich habe die besseren Ausgangsbedingungen. Ich habe ihn überrascht. Und mich.
Ihm Nachhilfe zu geben erschien mir plötzlich als selbstverständlich. Er kriegt das allein nicht hin,
also helfe ich ihm. Wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Ich weiß nicht, wie er tickt. Aber weiß
ich das von irgendeinem meiner Schüler? Das bringt einem keiner bei.
Ich werfe nicht mehr nur die Bananen durchs Gitter. Ich gehe in den Käfig und werde sehen, ob ich
mich da behaupten kann.
CHRIS
Die ist krank, voll krank. Vollschaden. Ich hab mich gebogen vor lachen. Dann hatte ich Schiss. Vielleicht fährt sie ja ’ne Tour, die ich nicht checke, lässt mich ins offene Messer laufen. Aber das ist nicht
ihr Ding. Ich kenn die.
Wie sie immer ankommt mit ihren kopierten Blättern, mit Musik, der ganze Zirkus, weil sie nicht kapiert, dass ihr Fach scheißegal ist und dass das keiner wissen will. Wir haben es ihr ja gesagt. Machen
Sie sich keinen Stress und uns auch nicht.
Imitiert Julika: »Bring dich mal ein«. Keiner will sich in der Schule einbringen. Nerv nicht rum.
Was hat die denn davon, dass ich den Abschluss mache? Ich hab sie immer scheiße behandelt. Die
kann mich genauso wenig ausstehen, wie alle anderen Lehrer. Kann ich mit leben.
20
»aussetzer«
Beziehungskünstler oder Lebenslanges Lernen
In dem Bericht »Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland« der Bund-­‐Länder-­‐Kommission für Bildungs-­‐
planung und Forschungsförderung heißt es «Lebenslanges Lernen umfasst alles formale, nicht-­‐formale und informelle Lernen an ver-­‐
schiedenen Lernorten von der frühen Kind-­‐
heit bis einschließlich der Phase des Ruhe-­‐
standes« – das schließt also bei Lehrern die gesamte berufliche Laufbahn im Schuldienst als Lernzeitraum mit ein. Lernen wird dabei als »konstruktives Verarbeiten von Informa-­‐
tionen und Erfahrungen zu Kenntnissen, Einsichten und Kompetenzen« verstanden. Neben Fachkompetenzen sei der Erwerb von Basiskompetenzen wie Lern-­‐, Handlungs-­‐, Sozialkompetenzen, personalen Kompeten-­‐
zen und Teamfähigkeit von zentraler Bedeu-­‐
tung für die »Bewältigung von praktischen Lebens-­‐ und Arbeitsanforderungen«. Gemäß dem Neurobiologen, Arzt und Psychothera-­‐
peuten Joachim Bauer gibt es für Lehrer dar-­‐
über hinaus eine Schlüsselkompetenz, die ebenfalls der permanenten Reflexion und Förderung bedarf: »Sie müssen Beziehungs-­‐
künstler sein«, so Bauer auf dem Bildungstag 2012 in Aachen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Aufbau und die Pflege einer zwischenmenschlichen Beziehung, die durch Anerkennung, Zugewandtheit und Vertrauen geprägt ist, Basis für jede kon-­‐
struktive fachliche und persönliche Interak-­‐
tion zwischen Schüler und Lehrer ist. Oder mit anderen Worten: Ohne eine gute Bezie-­‐
hung läuft nichts. Das heißt nicht, dass ein Lehrer wie ein Kumpel sein oder als Eltern-­‐
ersatz einspringen sollte. Ein Lehrer ist ein Lehrer. Aber er ist auch nicht nur ein Fach-­‐
vermittler, sondern ein Mensch mit vielen Facetten – in einem lebenslangen Lernpro-­‐
zess –, der mit einem Lehr-­‐ und Erziehungs-­‐
auftrag auf Gruppen ganz individueller jun-­‐
ger Menschen mit ebenso vielen Facetten trifft, die er zu einem lebenslangen Lernpro-­‐
zess anleiten soll. Und zwischen diesen Men-­‐
schen, die so viel Lebenszeit miteinander verbringen, entsteht – ob man diese nun ak-­‐
tiv konstruktiv gestaltet oder nicht – eine menschliche Beziehung. Für beide, Lehrer und Schüler, findet lebenslanges Lernen also nicht nur auf der fachlichen Ebene statt. Bei-­‐
de, Schüler und Lehrer, halten in ihrem Mit-­‐
einander jeweils etwas für ihren lebenslan-­‐
gen Beziehungslernprozess bereit: Der Leh-­‐
rer kann seine Schüler zu lebenslangem Be-­‐
ziehungslernen anleiten, indem er ihn bei der Entwicklung der dafür nötigen sozialen und emotionalen Kompetenzen unterstützt. Und die unglaubliche Vielfalt an Schülerper-­‐
sönlichkeiten, mit der ein Lehrer täglich um-­‐
gehen muss/darf/kann/sollte, gibt ihm im-­‐
mer wieder die Chance noch beziehungs-­‐
kompetenter zu werden, oder anders gesagt: Je herausfordernder ein Lehrer die Begeg-­‐
nung mit einem Schüler empfindet, umso größer die Möglichkeit daran zu wachsen – also die Motive und Motivationen für Hand-­‐
lungen oder Äußerungen von Schülern ver-­‐
stehen zu lernen und Strategien zu entwi-­‐
ckeln für beide Seiten gewinnbringend damit umzugehen… oder um die Terminologie der Bund-­‐Länder-­‐Kommission noch einmal auf-­‐
zugreifen: Informationen und Erfahrungen konstruktiv zu Kenntnissen, Einsichten und Kompetenzen verarbeiten! Lebenslanges Lernen ist – auch – Bezie-­‐
hungslernen und für Lehrer, die tagtäglich mit den unterschiedlichsten Arten von Men-­‐
schen zu tun haben, ganz besonders! Fach-­‐
lich, methodische und didaktische Kompe-­‐
tenzen sind wichtig und für den Lehrerberuf ein zentraler Bestandteil der lebenslangen professionellen Entwicklung und Verbesse-­‐
rung. Von mindestens genauso großer Be-­‐
deutung für soziale Professionen ist die Mo-­‐
tivation für lebenslanges Beziehungslernen. Eins wissen wir alle, aber muss manchmal vielleicht noch mal gesagt werden: Keiner von uns ist perfekt! Es zählt vor allem die Motivation für Selbstreflexion und die Be-­‐
reitschaft fürs Dazulernen. Schüler werden das ganz sicher spüren und, wenn man sich mal »verrennt«, sicherlich toleranter und unterstützender sein, als wenn sie den Ein-­‐
druck haben, dass eine Lehrkraft sich für unfehlbar hält. Auch bei der Entwicklung zum »Beziehungskünstler« ist der Weg das Ziel! Quelle: http://schulemitrespekt.wordpress.com/tag/lehrer-­‐
schuler-­‐beziehung/ 21
»aussetzer«
Nicht jede schwierige Situation ist ein Problem.
Von Gerhard Eickenbusch
Mit der Bezeichnung »schwierige Schüler« ist schon alles gesagt: Wer der Schuldige ist, wer sich ändern muss… Gesucht wird dann nach Patentrezepten oder radikalen Lösun-­‐
gen, wie man den Schuldigen schnell verän-­‐
dern oder loswerden kann, damit wieder Ruhe herrscht. (...) Spricht man stattdessen von schwierigen Situationen im Unterricht, ermöglicht dies, den Anteil und die Mitver-­‐
antwortung der Lehrer zu sehen. Auch Schü-­‐
lern kann es helfen, ihren eigenen Anteil an Problemsituationen zu sehen und anzuer-­‐
kennen. Es verhindert bei ihnen, eigenes schwieriges Verhalten bloß als unveränder-­‐
bare Charaktereigenschaft zu entschuldigen (ich bin eben so…). (...) Schwierige Situationen sind unvermeid-­
bar und haben auch einen Nutzen Ein wesentliches Kennzeichen schwieriger Situationen im Unterricht ist, dass sie wenig-­‐
stens für einen der Beteiligten nur schwer auszuhalten und zu bewältigen sind. Wie soll man als Lehrer mit Schülern umgehen, die den Unterricht durch Dazwischenrufen und obszöne Bemerkungen stören? Und wie soll man sich verhalten, wenn ein Kind sich selbst verletzt oder ein Lehrerkollege die Klasse durch Beleidigungen so aufbringt, dass in den Folgestunden kein regulärer Un-­‐
terricht mehr möglich ist? Es ist angesichts solcher destruktiven Wir-­‐
kungen verständlich, dass deren Analyse in ersten Angaben meist defizitorientiert ange-­‐
legt ist und gefragt wird: Was ist die Ursa-­‐
che? Wer ist die Ursache? Was hilft gegen die Ursache? Bleibt die Analyse in diesen Fragen stecken, wird sie zur Sündenbocksuche und ein Ruf nach Patentrezepten. Sie gelangt nicht zu einer ressourcenorientierten und lösungsorientierten Perspektive, die darauf angelegt ist, auch das mögliche Ent-­‐
wicklungs-­‐ und Veränderungspotenzial des Verhaltens zu erkennen und zu nutzen. Viele schwierige Situationen machen – zumindest 22
für einen der Beteiligten – einen Sinn und sind für ihn hilfreich. So kann schwieriges Schülerverhalten in der Klasse für hohe An-­‐
erkennung der Gruppe sorgen, Selbstverlet-­‐
zungen die notwendige Aufmerksamkeit und Zuwendung endlich hervorrufen, ein Wut-­‐
ausbruch blockierten Gefühlen zum Aus-­‐
druck verhelfen. Schwierige Situationen ha-­‐
ben also immer auch für Schüler eine Nutzen. Sie sind notwendig, um sich weiterzuentwi-­‐
ckeln neue Verhaltensweisen auszuprobie-­‐
ren, Grenzen auszutesten, in der Klasse oder Gruppe seinen Platz zu finden oder auf Pro-­‐
bleme hinzuweisen. Schwierige Situationen können eine Verunsicherung in der Klasse unter allen Beteiligten verursachen, die zu einer Neuorientierung beiträgt. Will man als Lehrer oder im Kollegium ent-­‐
scheiden, wie mit schwierigen Situation wirksam und produktiv umgegangen werden soll, setzt das voraus, dass man • sich bewusst ist, dass schwierige Situati-­‐
on notwendig sein können für Lern-­‐ und Entwicklungsfortschritte; • mit solchen Situationen ressourcenorien-­‐
tiert umgehen und sie für Veränderung nutzen kann; • Reaktionen und Interventionen so gestal-­‐
tet, dass alle Beteiligten daraus auch ler-­‐
nen können, schwierige Situation positiv zu bewältigen. Wie man als Lehrkraft mit schwierigen Situa-­‐
tionen umgeht, z.B. bei destruktivem und respektlosem Verhalten, das ist auch für alle Schüler immer ein Lernfall und ein Vorbild für weiteren Umgang mit Krisen, Störungen und Problemen. Wie nachhaltig diese Erfah-­‐
rungen werden, zeigt sich vielfach bei Klas-­‐
sentreffen, bei denen gerade hier über Er-­‐
lebnisse und Erfahrungen berichtet und kommentiert wird. Quelle: Eickenbusch, Gerhard: Nicht jede schwierige Situation ist ein Problem in Pädagogik, Nov.2011. »aussetzer«
Wir fragen unser Publikum ... Schüler_innen zwischen 13 und 18 Jahren von verschiedensten Schulen geben uns Antwort auf
folgende Fragen
Welcher Unterricht macht dir Spaß? Und woran liegt es, dass dir dieser Unterricht Spaß macht?
Deutsch: frei sein, eigene Gedanken diskutieren und akzeptieren, gemeinsames Nachdenken • Geschichte: Gruppenarbeiten, Präsentieren • Deutsch: weil der Lehrer auch ab und zu mal Witze macht und mit uns lacht. • Sport: man muss nicht so viel denken.• Sport: Weil es mir Spaß macht, weil wir uns viel bewegen und entscheiden, was wir machen. • Bildende Kunst: Weil wir es nie haben • Mathe: er erklärt viel, macht Witze. • Englisch: weil ich Englisch kann • Mir macht Türkisch Spaß, weil ich meine Sprache lerne, in der ich sehr schlecht bin. • Deutsch und Mathe, weil ich in den Fächern gut bin und die Lehrer es gut erklären. • Philosophie, da ich das Fach mag und Mathe, da der Stoff gut erklärt wird und Kunst, da ich darin gut bin.• Meistens macht mir der Unterricht Spaß, wenn ich die Lehrer sympathisch, kompetent und überzeugend finde. • Ich bin kein Fan von Frontalunterricht. Ich mag das lockere Gespräch und die Diskussion im Un-­‐
terricht. Je mehr man mit Mitschülern und Lehrern interagieren kann, desto mehr interessiert mich der Unterricht. Wie sollten die Lehrer_innen den Unterricht gestalten, damit du dich mit Spaß und Inter-­
esse beteiligen kannst? Mehr selbstständiges Arbeiten, Rollenspiele, Diskussionen, freies Denken, eigene Thesen aufstel-­‐
len, Leistungs-­‐Lerngruppe bilden, nicht gleich alles verneinen, Fragen stellen sollte erlaubt sein. • Einfach chillig • Die sollen KEINEN Unterricht machen und nicht nerven • Mich nicht stören, wenn ich nicht mitmachen will • Die Lehrer sollen auch mal Witze machen, er/ sie soll nicht so streng sein. • Die Lehrer sollten mehr lachen • Die Lehrer sollten nicht streng sein • Die Lehrer und Lehrerinnen sollten glücklich sein und immer lachen. • Abwechslungsreich. Außerdem soll-­‐
ten sie vielfältige Möglichkeiten bieten, sich einzubringen (Referate, Melden im Unterricht, Vor-­‐
lesen etc.) • Man sollte merken, dass der Lehrer Spaß an seinem Fach hat. Außerdem finde ich Gruppen-­‐ und Freiarbeit toll. • Aktuelle Bezüge schaffen und die Schüler mit einbeziehen. Au-­‐
ßerdem sind Arbeitsgruppen immer besser, weil es insbesondere in Kursen mit 25-­‐30 Leuten schnell dazu kommt, dass einzelne Schüler vernachlässigt werden und sich andere langweilen. Welche Eigenschaften sollte die »perfekte Lehrer_in« haben? Offen. Vor allem sollte der Unterschied zwischen Lehrer und Schüler bleiben, das heißt, sie soll-­‐
ten sich nicht auf einer Ebene bewegen. Lehrer soll Respektperson bleiben.• Nett, korrekt • Die sollen nicht rummeckern und keinen Unterricht machen, sondern chillen.• Nie schreien, immer leise bleiben.• Muss Humor haben. • Die Lehrerinnen und Lehrer sollten lachen mit den Schü-­‐
lern. • Der/ Die Lehrerin sollte nicht streng sein und auch abwechselnd andere Sachen einbrin-­‐
gen.• Verständnisvoll, er/ sie sollte gut erklären können, die Klasse unter Kontrolle haben. • Humorvoll, nett, verständnisvoll, auch ein wenig streng • Die perfekte Lehrer_in sollte auf jeden Fall locker aber gebildet sein. Ich finde es immer sympathisch, wenn Lehrer auch mal ein biss-­‐
chen plaudern, sich für ihre Schüler interessieren, aber trotzdem nicht perfekt sind. Wenn mir eine Lehrer_in z.B erzählt, dass er/ sie nicht gut in Mathe war und zwei Minuten braucht um 3x25-­‐18 zu rechnen, dann finde ich das herzerwärmend und sehe den/ die Lehrerin als viel menschlicher an. Interesse und auch Wissbegierde gegenüber Schülerwissen ist sehr sympa-­‐
thisch. 23
»aussetzer«
Schüler sind die Bildungsexperten
Margret Rasfeld ist Leiterin der Evangelischen Gemeinschaftsschule in Berlin-Zentrum. Sie wird häufig als
eine der innovativsten Schulleiterinnen Deutschlands bezeichnet und ist Beraterin in zahlreichen Einrichtungen zu grundlegenden Bildungsinnovationen.
»Jeder Mensch ist doch Experte für sein ei-­‐
genes Leben. Und eben auch fürs Lernen. Es geht aber darum, ihm Möglichkeiten zu er-­‐
öffnen und Erfahrungen zu bieten, die ihm helfen, die Freude am Lernen zu steigern, nicht abzutöten. Jeder von uns weiß genau, wann er was in welchem Zustand gut lernt,« leitet Margret Rasfeld einem Vortrag auf dem »Tag der Utopie« in Österreich ein. Sie wolle an ihrer Schule Schülern eine Stimme geben. Und das sei nicht nur deshalb wichtig, weil Kinder auch emotional berühren können, sondern weil es ihr gutes Recht sei, so Ras-­‐
feld. Ihr pädagogisches Konzept ist geleitet und getragen von der Wertschätzung der Vielfalt in der Gemeinsamkeit, die in dem Satz gip-­‐
felt: »Jede zählt, jeder ist einzigartig.« Wenn Schüler Schule machen, wird die Ge-­‐
genwart Zukunft oder die Zukunft Gegen-­‐
wart. Jedenfalls zogen Margret Rasfeld und zwei Schülerinnen in ihren Bann, weil sie an ihrer Schule einen wissenschaftlich begleite-­‐
ten Aufbruch wagen, der zu mehr Chancen-­‐
gleichheit und -­‐gerechtigkeit unabhängig von den Voraussetzungen der Kinder und Ju-­‐
gendlichen führen soll. Margret Rasfeld umreißt die Anforderungen an die Schule heute mit den Herausforderun-­‐
gen an der Gesellschaft, hervorgerufen durch den notwendigen Stopp der Zerstörung un-­‐
serer Lebensgrundlage – der Erde, der Glo-­‐
balisierung und den neuen Technologien; ihr Credo lautet: »Weg vom Machbarkeitswahn hin zu Nachhaltigkeit und weg vom EGO im Konkurrenzsystem hin zum WIR.« 24
Sie spricht von einem großen Transformati-­‐
onsprozess, weil Schule neben Familie der wirkmächtigste Prägungsfaktor in der Ge-­‐
sellschaft sei. Welcher Geist in der Schule gepflegt werde, so wachse die Jugend dann natürlich auch auf, ergänzt die Schulleiterin. Es sei furchtbar viel Parteipolitik im Spiel, ohne auf Kinder und Jugendliche zu schauen. Wir seien mehr mit alten Konkurrenzthemen befasst, als den Blick zu öffnen. Die frühe Selektion befördere den Defizit-­‐
blick. Lehrer seien fixiert auf den Defizitblick -­‐ sie würden schauen, ob ein Kind gut genug fürs Gymnasium sei. So entstehe Druck. Leh-­‐
rer seien in einem System, in dem nicht res-­‐
sourcenorientiert gedacht werde, sondern defizitorientiert. Wenn Kinder in der dritten Klasse nach Hause kommen und weinen, weil sie eine »3« geschrieben hätten, dann könne man fragen, wie gehen wir mit dem Wertvollsten um, das wir haben. Das habe mit Chancenungleichheit zu tun. 30 Prozent der Kindern gehen mit Angst in die Schule, hält Rasfeld vor Augen. Angst sei Kreativitätskiller, Angst mache krank. Unser Bildungssystem erzeuge einen innova-­‐
tionsfeindlichen Geist. Die vier Grundbedin-­‐
gungen für Innovation seien, so Margret Ras-­‐
feld: Autonomie, Urteilskraft, Entscheidungs-­‐
stärke und größtmögliche Interdisziplinari-­‐
tät. Die Schulen wären autonomer, sie reiz-­‐
ten aber ihre Spielräume nicht aus, sagt Ras-­‐
feld. 80 Prozent des Unterrichts in Deutsch-­‐
land laufen über Arbeitsblätter. Jede Institu-­‐
tion habe ihren heimlichen Lehrplan von dem was gelehrt wird. »aussetzer«
Im 21. Jahrhundert würden wir keine Pflicht-­‐
erfüller benötigen, sondern Menschen mit Mut und Gestaltungskraft, Visionskraft. Wir müssten -­‐ so zeige es die Hirnforschung -­‐ den jungen Menschen Gemeinschaft und Aufga-­‐
ben geben, an denen man wachsen könne. Die Frage bleibe, ob Schulen Orte der Be-­‐
ziehungskultur oder Orte der Beziehungs-­‐
verhinderung sind. Wichtig für Lehrer seien Schulen, wo man sich engagieren und ein-­‐
bringen könne -­‐ und nicht das Abarbeiten von Arbeitsblättern, hier liege die größte Burnoutgefahr. Kinder würden mit fremdbe-­‐
stimmten Wissensinhalten zugeschüttet, die sie dann punktgenau ausschütten müssten, so Rasfeld. Man unterfordere sie in all den wunderbaren Potenzialen, die sie hätten. Begeisterung und Bedeutsamkeit seien die Faktoren, die das Lernen erleichtern. »Wir erleben doch täglich, wie komplex und kom-­‐
pliziert unsere Welt ist. Aber unsere Schulen bereiten die jungen Leute nicht auf die Her-­‐
ausforderungen der Zukunft vor. Darauf, Probleme kreativ und phantasievoll zu be-­‐
trachten. Mit Schwierigkeiten selbstbewusst umzugehen. Von Universitäten und Unter-­‐
nehmen werden junge Menschen gesucht, die eigenverantwortlich arbeiten können und möchten. Sie suchen Menschen mit so-­‐
zialer Kompetenz, Menschen, die gelernt haben, aufeinander Rücksicht zu nehmen, umsichtig und teamfähig zu sein. Das kann man lernen. In der Schule«, fasst Schulleite-­‐
rin Rasfeld die Aufgabenstellung an Schule aus ihrer Sicht zusammen. Wir wollen sie bestärken mit unserer ein-­‐
deutigen Botschaft, dass alle Kinder die Chance haben sollten, sich für die Gesell-­‐
schaft zu engagieren, ihre Leidenschaften zu entwickeln und alle ihre wunderbaren Po-­‐
tenziale zu entfalten. Potenziale, die oft nicht in Leistungstests abprüfbar sind. »Herausforderungen und Verantwortung«, sagt Schulleiterin Margret Rasfeld, lauten die beiden Zauberwörter, die aus den Schülern hier keine Fakten-­‐Zombies machen, sondern kluge und selbstbewusste junge Menschen mit großem Herz. http://vorarlberg.orf.at/radio/stories/2582711/ 25
»aussetzer«
Das Abenteuer Unterrichten
von Heidrun Zimmermann und Gudrun Fricke von der Montessori Gemeinschaftsschule, ehemalige Nikolas-August-Otto-Hauptschule
Liebe Julika Stöhr, du findest es manchmal schlimm, was dir als Lehrerin zugemutet und aufgebürdet wird? Wir auch. Und trotzdem! Haben wir nicht einen tollen Beruf? Nicht nur wegen der Ferien. Die sind natürlich ein richtiges Pfund -­‐ wir haben Zeit, uns die Welt anzusehen (und können dabei über unseren Tellerrand blicken). Aber noch wichtiger sind doch die vielen Wochen, in denen wir keine Ferien haben. Wir haben die Chance, jeden Tag mit interessanten und außergewöhnlichen Menschen zu verbringen. In ihnen – unseren Schülern -­‐ stecken so viele Perspektiven und unge-­‐
hobene Schätze, auch wenn wir das nicht immer konkret gleich erkennen können. Menschen, die noch nicht fertig verplant, gebaut, strukturiert sind, die sich noch im Um-­‐ und Ausbau befinden. Und vielleicht liegt es ein ganz kleines bisschen an uns, in welche Richtung diese Entwicklung geht. Das ist Grund genug, jeden Tag wieder mit Entspanntheit und guter Laune in die Schule zu kommen. Und mal ehrlich, Julika, steckt unser Beruf nicht voller Abenteuer, Überraschungen und Herausforderungen? Nichts passiert genau so, wie wir es vorher geplant haben. (Das sind oft die schönsten Stunden.) Allerdings: Wer das geregelte, vorhersehbare und routinierte Leben liebt -­‐ der ist im Büro besser aufgehoben. Der sollte sich fern halten von Jugendlichen, die eigene Emotionen, einen eigenen Kopf mit eigenen Ansichten haben. Wer Angst vor Reibungen hat, sich nicht auseinandersetzen mag, sich vor Grenzziehung scheut, wird in diesem Beruf nicht glücklich und wahrscheinlich nicht alt. Genau: sich alt bzw. jung fühlen. Es gibt nicht viele Berufe, in denen man ständig mit Jugend konfrontiert wird und sich zwangsläufig mit jugendlichen Ideen und Gefühlslagen beschäftigen muss. Wer sich darauf einlässt, findet in der Schule auch einen Jung-­‐
brunnen, der vor Spießigkeit, langweiligen Konventionen und Rostansatz schützt (auch wenn uns natürlich manchmal der Rücken, der Kopf, die Ohren, die Knie und andere Körperteile schmerzen). Aber da geben auch wir uns selbst mit unseren Unzulänglichkeiten jeden Tag eine neue Chance. Nur wenn wir zu unseren eigenen Schwächen stehen, gelingt uns die Gelassenheit im Umgang mit den Schwächen anderer. Nur so sind wir authentisch. Und nur authentisch sind wir ernst zu nehmende Gegenüber für unsere Schüler. Also, Julika -­‐ Kopf hoch! Lass dich jeden Tag aufs Neue auf ein Abenteuer ein. Es lohnt sich ... ... das meinen jedenfalls deine optimistischen Kolleginnen Heidrun und Gudrun 26
»aussetzer«
Kapitel 3: Schule, ein Ort für
alle Beteiligten
»Wir müssen uns stets vergegenwärtigen, dass Lehrer, Schulpsychologen und Eltern,
wenn sie über ein Kind sprechen, quasi über verschiedene Kinder reden.
Nur wenn sie die Differenz ihrer Wahrnehmung berücksichtigen,
kann ein vollständiges Bild entstehen.«
Jesper Juul
27
»aussetzer«
Szene 11
JULIKA
Ich hab mich mal bei den Kollegen rumgehört. Viel kam da nicht (...) Also habe ich Verbündete gesucht. Bin zu seinen Eltern. Seine Mutter sofort schuldbewusst. Der Junge ist eigentlich verständig,
sagt nur nie was, erzählt nichts, ob es denn so schlimm mit ihm sei? Ich hab gesagt, dass alles noch
offen ist, die Zeit muss genutzt werden. Ich hab gemerkt, dass nichts von dem, was ich sage, ankommt. Das wurde mir noch bewusster, als der Vater nach Hause kam, misstrauisch von Anfang an.
CHRIS
(O-Ton Vater) Was hat der Junge wieder angestellt?
JULIKA
Der Vater regte sich auf, sofort, ohne Anlauf.
CHRIS
(O-Ton Vater) Klartext! Was ist los – warum sind sie...
JULIKA
Christopher braucht Hilfe. Bei den Hausaufgaben. Nachhilfe in den Hauptfächern…
CHRIS
(O-Ton Vater) Soll ich jetzt mit ihm Hausaufgaben machen? Mit einem Siebzehnjährigen? Soweit
kommt es noch, der ist doch kein Kleinkind mehr.
JULIKA
Er braucht Hilfe.
CHRIS
(O-Ton Vater) Der muss wissen, wer das Sagen hat. Was unterrichten Sie denn, Fräulein?
JULIKA
Bitte, nicht in diesem Ton.
CHRIS
(O-Ton Vater) Da müssen Sie mal als Lehrer ein bisschen Druck machen. Man fragt sich ja wirklich,
was da den ganzen Tag in der Schule gemacht wird. Schüler, die nichts schaffen. Lehrer, die ständig
jammern, weil sie zu wenig Freizeit haben. So leicht möchte ich auch mal mein Geld verdienen. Und
jetzt soll ich noch dafür bezahlen, dass er Nachhilfe kriegt, wofür geht er denn in die Schule? Warum klappt denn das nicht? Sagen Sie mir das Fräulein, warum denn?
JULIKA
Danke für den Kaffee.
28
»aussetzer«
Pädagogen können Eltern nicht ersetzen
Schulpädagoge Werner Sacher erklärt, warum Kinder vor allem starke Eltern brauchen.
Werner Sacher ist emeritierter Professor für Schulpädagogik. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die
Elternarbeit. Er war Mitglied einer Expertenkommission, die die Vodafone-Stiftung zusammengeführt hat,
um Qualitätsempfehlungen für die schulische Elternarbeit zu entwickeln. Es will keine Standards etablieren, die kontrolliert werden, sondern Anregungen im Sinne von länderübergreifenden Leitbildern bieten.
ZEIT ONLINE: Herr Sacher, Sie haben mitgearbeitet in einer Expertenkommission, die Quali-­‐
tätsmerkmale für die Elternarbeit an Schulen definiert hat. Sie sind gerade veröffentlicht wor-­‐
den. Warum brauchen Schulen so einen Kompass? Ist zum Beispiel eine respektvolle Kommuni-­‐
kation zwischen Lehrern und Eltern nicht selbstverständlich? Werner Sacher: Keineswegs. Beinahe die Hälfte der Eltern fühlt sich von den Schulen nicht auf Augenhöhe behandelt. Umgekehrt geht es den Lehrern ähnlich. Sie erleben Misstrauen und Ag-­‐
gression. Es gibt auf beiden Seiten Berührungsängste. Manche Probleme sind auch struktureller Natur. Schule ist immer noch auf die Mittelschicht ausgerichtet. Unterschiedliche Herkunftskul-­‐
turen oder soziale Schichten werden selten berücksichtigt. Die haben aber vielleicht ein anderes Verständnis von guter Kommunikation und andere Empfindlichkeiten. Auch wenn die Lehrer-­‐
sprechstunden mitten in der Kernarbeitszeit der Eltern liegen, ist das respektlos. Arbeitende Eltern bekommen das Signal: Wir sind nicht die Zielgruppe. ZEIT ONLINE: Sie wollen die Elternarbeit der Schulen auch deshalb stärken, damit Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten oder Migrantenfamilien bessere Chancen bekom-­‐
men. Ist es nicht sinnvoller, die Kinder möglichst schon im Kindergarten und in Ganztagsschulen unabhängiger von ihren Eltern zu machen, wie es gerade überall geschieht? Sacher: Nur wenn wir die Familien in der Erziehung kompetent machen, können wir den Kin-­‐
dern wirklich helfen. In der Bildungsforschung ist die Erkenntnis nicht neu, dass wir die Erzie-­‐
hung der Eltern nicht durch den Einfluss professioneller Pädagogen ersetzen können. Auch ak-­‐
tuelle Studien des Forschungsministeriums zeigen: Ganztagseinrichtungen, auch wenn sie ihrem Namen gerecht werden, machen Eltern nicht überflüssig. (...) ZEIT ONLINE: Wie bringt man Eltern bei, dass sie auf die richtige Weise erziehen? Das ist schließlich sehr privat. In den Qualitätsempfehlungen steht auch, es solle ein Austausch über »besondere Lebenslagen« der Kinder sowie über die soziale und ökonomische Situation der Fa-­‐
milien stattfinden. Nicht jeder wird erlauben, dass Lehrer sich einmischen. Sacher: Lehrer können einen Rahmen bieten, in dem zum Beispiel Elternabende einen vertrau-­‐
ensvollen Austausch ermöglichen, statt nur Vorträge zu halten. Sie sind aber nicht dafür ausge-­‐
bildet, Erziehung zu vermitteln. Sie haben auch keine Zeit dafür. Schulen müssen sich vernetzen mit Organisationen und Personen vor Ort, die professionell Erziehungstrainings anbieten kön-­‐
nen, die nicht stark akademisiert auftreten und das Vertrauen verschiedener sozialer Schichten gewinnen können. Denn es geht natürlich nur auf freiwilliger Basis. Man muss die Eltern über-­‐
zeugen, dass die Informationen relevant für das Lernverhalten des Kindes sind. Wenn das Kind eingeschult wird oder in eine weiterführende Schule eintritt, ist ein guter Zeitpunkt dafür. Dann werden auch viele Familien dazu bereit sein. (...) Quelle: 10.04.2013 http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2013-­‐04/elternarbeit-­‐qualitaetsmerkmale 29
»aussetzer«
Elternseminare an einer Schule, die sich einmischt
Von Eva Schmoll
Eva Schmoll ist Schulleiterin der Gemeinschaftsschule in Berlin-Lichterfelde. Sie bildet seit mehreren
Jahren in Berlin und Hamburg Lehrer(innen) zu Leiter(inne)n von Elternseminaren an Schulen aus. So
erlebte Eva Schmoll die Anfänge der Elternarbeit an der Nikolaus-August-Otto-Hauptschule, die sich als
Schule besonderer pädagogischer Prägung für benachteiligten Jugendliche verstand:
(...) Vor zehn Jahren hätte ich sofort unter-­‐
Die Sicht der Eltern schrieben, dass Eltern schwer erreichbar Ich hatte kaum die Eltern begrüßt, ihnen die sind. Ebenso, dass sie eine Kommunikation Abfolge der Themen vorgestellt und sie in über die Schwierigkeit ihrer Kinder eher das erste Thema »Erziehungsziele« einge-­‐
scheuen und dass besonders die Eltern, die führt, als ein lebhafter Austausch begann, der man so dringlich erreichen möchte, den Kon-­‐
für mich zu einer der wichtigsten Lektionen takt zur Schule eher meiden. In der schwieri-­‐
meines Lehrerinnendaseins wurde. Über das gen Situation, in der sich unsere Schule da-­‐
eigentliche Thema hinaus berichteten die mals befand, hatte ich eine Sicht entwickelt, Eltern von ihren Kindern und davon, welche von der ich inzwischen weiß, dass sie auf Erfahrungen sie bisher mit der Grundschule zahlreichen VOR-­‐Urteilen aufgebaut war und ihrer Kinder gemacht hatten. (...) immer stärker zu Einbahnstraße wurde. (...) In diesem allerersten Treffen war klar, dass ich nur wenig von meiner Vorbereitung nut-­‐
Elternseminar zu Fragen der Erziehung zen konnte, wenn ich diese Eltern weiter Ich erwartete Widerspruch und Entrüstung erreichen wollte. Ernährung, Ratschläge, als Reaktion darauf, (...) dass wir das Wagnis Erziehungstipps waren Verhaltensweise von eingingen, von Eltern, die ihr Kind nach Schulrepräsentant(inn)en, die Eltern be-­‐
sechs Jahre Grundschule bei uns anmelden fürchteten, denn sie erlebten Schule als bes-­‐
wollten, einzufordern, dass sie vorab in un-­‐
serwisserische, urteilende, hierarchische serer Schule ein Elternseminar zu Fragen der Institution. Was sie sich wünschten, war eine Erziehung in der Pubertät besuchen. Dafür Begegnung auf Augenhöhe, ein Gefühl von gab es keine Vorbilder, keinen gesetzlichen Akzeptanz und gelebter Gleichwertigkeit, Rahmen und auch kein Stundenkontingent, nach Jahren der Kränkung. sondern lediglich unseren Mut der Verzweif-­‐
lung und eine unerschrockene Schulaufsicht, Neue Erkenntnisse die neuen Wegen offen gegenüberstand. Von Wollte ich diese Eltern erreichen, musste ich 90 Anmeldungen waren 88 Eltern bereit, meine Planung spontan über den Haufen vorab ein solches Seminar zu besuchen. Le-­‐
werfen, und so fragte ich nach, um besser zu diglich zwei Elternpaare reagierten so, wie verstehen, und besuchte unerwarteterweise ich es erwartet hatte, meine Einschätzung ein Grundlagenseminar über Gelingensbe-­‐
der Elternreaktion bestätigte sich nicht. dingungen von erfolgreicher Elternarbeit. Angespornt durch die unerwartete Akzep-­‐
Meine Erkenntnisse lassen sich in elf Punk-­‐
tanz bereitete ich mich akribisch auf das er-­‐
ten zusammenfassen: ste Seminar vor. Wie für einen Vortrag for-­‐
• Alle Eltern wollen das Beste für Ihr mulierte ich jeden einzelnen Satz, den ich Kind, unabhängig vom Erfolg ihrer sagen wollte, machte mir Gedanken zu den Erziehungsbemühungen. wichtigsten Inhalten, suchte taugliche Fall-­‐
• In Erziehungsgesprächen über her-­‐
beispiele, überlegte leicht umzusetzende ausfordernde Kinder werden die el-­‐
Erziehungshandlungen, formulierte einpräg-­‐
terlichen Erziehungsbemühungen same Erziehungstipps – ich war perfekt vor-­‐
seitens der Schule kaum gewürdigt. bereitet, die Eltern konnten kommen. • Meist betrifft der erste Anruf der Lehrer(innen) einen Mangel und kei-­‐
ne Würdigung. 30
»aussetzer«
Schule richtet in Elterngesprächen den Blick zu schnell auf kritikwürdi-­‐
ges Verhalten des Kindes, ohne zuvor seine Stärken und Beispiele für posi-­‐
tives Verhalten benannt zu haben. • Lehrer(innen) fallen in Erziehungs-­‐
gesprächen häufig mit der Tür ins Haus und achten zu wenig darauf, ob eine vertrauensvolle Gesprächsatmo-­‐
sphäre gegeben ist. • Verhaltensänderung braucht Zeit, beim Kind ebenso wie beim Erwach-­‐
senen. • Der Akku vieler Eltern ist leer, wie gut sind wir Lehrer(innen) im Erzie-­‐
hen, wenn es uns nicht gut geht? • Aufgrund fehlender Transparenz über den Hintergrund schulischer Regelung fühlen sich Eltern als Be-­‐
fehlsempfänger, wenn auf die Schul-­‐
ordnung oder bestehende Beschlüsse verwiesen wird. • Alle am Schulleben Beteiligten sind schulerfahren, doch über die sehr un-­‐
terschiedlichen Erfahrungen mit Schule und die gegenseitigen Erwar-­‐
tungen wird kaum gesprochen; den-­‐
noch wirken sie sich auf die Gesprä-­‐
che aus. • Die unterschiedlichen Rollen inner-­‐
halb der Schulgemeinschaft werden in der Regel nicht geklärt. • Eltern möchten sich in den Schulall-­‐
tag ihrer Kinder einbringen, doch meist beschränken sich Anfragen auf Kuchen backen und Würstchen gril-­‐
len. Ich könnte noch zahlreiche kritische Punkte nennen, die seit dieser ersten Sitzung bis •
heute angesprochen wurden und die mich zum Nach-­‐ und Umdenken anregten. In der Auseinandersetzung mit diesen ersten Eltern entstand ein völlig neues Seminarkonzept, das seither mit jeder neuen Erkenntnis mei-­‐
nerseits modifiziert wird. (…) Elternseminare – ein Fazit (...) Die Elternseminare gehören heute zu unserem Schulprofil. Der Kontakt zwischen Lehrer(innen) und Eltern hat sich deutlich entspannt zum Wohle aller. Immer wieder sprechen uns Besucher(innen) auf die Lern-­‐ und Arbeitsatmosphäre an, die sie als etwas Besonderes erleben, die für uns inzwischen aber ganz normal geworden ist. Sie ist ent-­‐
standen aus dem Wagnis, einen neuen Weg zu beschreiten und unvoreingenommen zu erleben, wohin er führt. Bis heute gibt es für eine solche Elternarbeit, die im Vergleich zu Beginn meiner Lehrertätigkeit immer um-­‐
fangreicher wurde, keine Stunden für Leh-­‐
rer(innen). Stattdessen wird dieser Bereich Erzieher(innen) und Sozialpädagog(inn)en zugewiesen. Ich halte das für eine verschenk-­‐
te Chance, sind es doch auch wir Leh-­‐
rer(innen), die ähnlich wie die Eltern neue Wege gehen sollten, um den Boden zu berei-­‐
ten, auf dem sich ein verändertes Verhalten der Jugendlichen entwickeln kann. (...) gekürzt aus: Schmoll, Eva: Vom Mut mit Lehrern zu sprechen in Pädagogik, Mai 2013 Hinweis zu Elternseminaren Dass Mut, Unvoreingenommenheit und Offenheit auf beiden Seiten etwas bewegt, zeigt sich inzwischen in der Lehrerbildung. Es hat sich herumgesprochen, was sich an der Nikolaus-­‐
August-­‐Otto-­‐Schule so sehr bewährt hat und andere Schulen zeigen Interesse. Das LISUM Berlin-­‐Brandenburg bietet deshalb eine Ausbildung an für LehrerInnen, ErzieherInnen und SozialpädagogInnen zum/zur LeiterIn von Elternseminaren an Schulen mit dem Titel »Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus erfolgreich gestalten«. http://www.bildung-­brandenburg.de/elternseminare.html 31
»aussetzer«
Was wir uns fragen könnten...
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Gehe ich am Ende des Schultags mit dem Gefühl nach Hause: »Heute habe ich etwas ge-­‐
lernt/gelehrt, es hat sich gelohnt, in die Schule zu gehen«? Von welchem Fach / in welcher Klasse kann ich sagen : »Da habe ich etwas gelernt/ Schüler weitergebracht«? Habe ich den Eindruck, dass der Lehrer gerne unterrichtet?/ dass die Schüler gerne lernen? Freue ich mich auf den nächsten Schultag? Denken wir darüber mit Lehrern/Schülern nach, wie Schule anders/besser gestaltet werden könnte? Werden meine Vorschläge/Anregungen gehört? Gibt es vor/nach dem Unterricht die Möglichkeit sich mit Lehrern/ mit Schülern auszutau-­‐
schen? Ist die Atmosphäre so, dass im Klassenzimmer/ Lehrerzimmer Fragen gestellt werden kön-­‐
nen? Interessiere ich mich für meine Lehrer/ meine Schüler/ meine Kollegen? Was weiß ich über meine Lehrer/meine Schüler/die Eltern meiner Schüler/meine Kollegen? Kenne ich die Einstellungen und Gedanken meines Lehrers/ meiner Schüler/meiner Kolle-­‐
gen und/oder kann ich sie nachvollziehen? Gibt es Möglichkeiten, bei denen ich gemeinsam mit Eltern und Lehrern/Schülern reden kann?/ Gibt es Möglichkeiten mich mit Mitschülern / Kollegen auszutauschen? Gehen Schüler/Lehrer/ Kollegen freundlich miteinander um? Gibt es klare Regeln, auf die ich mich verlassen kann? Ist das Klassen-­‐/Schulklima so, dass niemand gedemütigt und ausgelacht wird? Gehe ich taktvoll/respektvoll mit Lehrern/(Mit-­‐)Schülern um? Worin zeigt sich das? Sind meine Stärken in der Klasse/dem Lehrer/ im Lehrerzimmer bekannt? Kann ich meine Schwächen ohne Angst zugeben? Werden Zensuren öffentlich bekannt gegeben? Spielt das, was mich außerhalb der Schule interessiert, auch im Unterricht eine Rolle? Hat das was ich lerne/ was gelehrt wird, mit meinem Leben etwas zu tun? Ist der Unterricht für mich abwechslungsreich? Wie viele Fragen im Unterricht kommen von interessierten Schülern und wie viele von prü-­‐
fenden Lehrern? Sitze ich nur in der Schule oder gehe ich raus, um außerhalb der Schule zu lernen/lehren? Lerne/Lehre ich, »wie man lernt«, wie man selbständig Wissen findet, sich Informationen einprägt? Werden für mich spannende Projekte durchgeführt? Ist mein Klassenzimmer ein Ort, an dem sich gegenseitig geholfen wird? Freue ich mich nicht nur über eigene Fähigkeiten, sondern auch über Fähigkeiten der (Mit)Schüler/ Lehrer/Kollegen? Lobe ich meine Lehrer/ meine Schüler, wenn mir etwas Spaß gemacht hat oder bedanke mich bei ihnen? Welche Freuden kann ich mir selbst im Schulalltag machen/ welche meinen (Mit-­‐) Schülern/ meinen Kollegen? Gehe ich gerne in mein Klassenzimmer/ Lehrerzimmer? Gibt es dort Dinge, die ich gestaltet habe, die mir gut gefallen? Kann ich offen meine Meinung äußern, ohne andere zu verletzen und/oder ohne Konse-­‐
quenzen zu befürchten? Gehe ich gerne in die Pausen? Gibt es Rückzugsmöglichkeiten an denen ich für mich sein kann? Weitere Fragen finden sie unter http://www.prof-­‐kurt-­‐singer.de/ 32
»aussetzer«
Kapitel 4: Schule,
ein Ort für Träume
»Die Zukunft hat viele Namen: Für Schwache ist sie das Unerreichbare,
für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen die Chance.«
Victor Hugo
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»aussetzer«
Aus Szene 6
CHRIS
Es kann Ihnen doch egal sein, ob ich meinen Abschluss schaffe oder nicht.
JULIKA
Was glaubst du denn, warum ich Lehrerin bin?
CHRIS
Weil das ein Job ist, weil man das gut findet, weil man die Ansagen machen kann. Was weiß ich,
warum man das macht.
JULIKA
Was willst du denn machen?
CHRIS
Keine Ahnung. Bewerbungen schreiben. Aber dafür brauche ich ja diesen Scheiß Abschluss. Dann
ja, Bewerbungen schreiben und so.
JULIKA
Wo?
CHRIS
Ist doch scheißegal. Ich mach Harz IV, wer will denn schon einen von der Hauptschule. Jetzt sag
nicht, dass du das nicht weißt, wo du doch Lehrer bist.
Aus Szene 3
JULIKA
Was mache ich eigentlich in diesem Beruf? Was für Erwartungen habe ich? Wenn man die Schüler
fragt, was sie nach der Schule machen wollen, sehen die einen nur groß an. Da fällt denen die Flappe. Da ist nichts. Nicht die geringste Ahnung einer Idee. Eine große, unendliche Überforderung. Eine
Lähmung. Als ob sie die Frage nicht verstanden haben. Aber ich versteh ein bisschen, wie sich das
anfühlt.
34
»aussetzer«
Frau Freitags Rede zum Halbjahres Ende
Von Frau Freitag
In der zweiten Stunde halte ich eine Predigt: Ich verstehe euch nicht. Warum ist euch eure Schulbildung so egal? Ihr seid jetzt in der neunten Klasse da müsstet ihr doch endlich einmal raffen, dass es um eure Zukunft geht. Wollte ihr euch denn nie etwas leisten kön-­‐
nen? Wollt ihr nie verreisen, euch teure Sa-­‐
chen kaufen? Ihr werdet nie viel Geld haben, wenn ihr keinen Abschluss macht. Einige von euch werden nach dieser Klasse die Schule verlassen, wenn sie sich nicht anstrengen. Dann habt ihr gar keinen Abschluss. Wollt ihr denn euer Leben lang Hartz IV bekommen, irgendwelche Hilfsjobs machen oder schwarzarbeiten? Jetzt ist eure Chance, et-­‐
was für eure Zukunft zu tun. Es ist doch euer Leben! Abdul, willst du denn später mit 50 sagen: Mein Chemielehrer war doof und jetzt hab ich keinen Schulabschluss, keine Ausbil-­‐
dung und keinen Beruf, weil ich meinen Chemielehrer nicht mochte? Ja, denkt ihr denn, ich mochte meine Lehrer? Plötzlich spüre ich mehr Aufmerksamkeit als vorher. »Warum sind Sie denn dann Lehrerin ge-­‐
worden?« fragt Sabine. »Ich bin noch nicht Lehrer geworden, weil ich meine Lehrer mochte!«, schreie ich, völlig fassungslos. Wie die Schüler auf sowas kommen. Die mei-­‐
sten meiner Lehrer mochte ich nicht. Eine habe ich gehasst. Die hätte ich umbringen können. Die hat mir dann auch eine fünf im Abitur gegeben. Und ich habe trotzdem das Abitur bestanden. Ich habe mich halt in den anderen Fächern mehr angestrengt. Ich woll-­‐
te mir doch nicht von Leuten, die ich sowieso nicht leiden konnte, meine Zukunft versauen lassen. Ich wollte doch sagen: hier Guck mal, ich hab trotzdem das Abitur. Die Schüler gucken betreten auf ihre Tische. Sie ärgern sich über ihre eigene Faulheit und merken, dass sie die erste Chance schon verspielt haben. Das erste Halbjahr ist gelaufen. Wenn sie sich jetzt nicht anstrengen, dann gibt es nicht mehr viele letzte Chancen. Irgendwann klingelt es und ich sehe ihnen nach, als sie aus dem Raum trotten. Ob das nun was ge-­‐
bracht hat? Eines werden Sie sich immerhin merken, nämlich dass ich meine Lehrer nicht mochte. Aber ich glaube noch an Wunder, sonst wäre ich bestimmt nicht Lehrer ge-­‐
worden. Vielleicht geht ja doch mal ein Ruck durch die Klasse. Aus: Frau Freitag: Chill mal, Frau Freitag. Aus dem Alltag einer unerschrockenen Lehrerin, Ullstein Verlag, 2011 35
»aussetzer«
Schüler ohne Perspektive gibt es nicht!
Das GRIPS spricht mit einem Lehrer, der schon immer Lehrer werden wollte und der seine Arbeit
liebt. Seit 30 Jahren ist er im Schuldienst und seit 16 Jahren an Krankenhausschulen tätig. Dort
sind Schüler jeden Alters, zum Beispiel aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ihre Schulpflicht zu erfüllen haben. Die meisten haben eine lange und keine gute Vorgeschichte, eine Vorgeschichte des Scheiterns.
Wie kann man Schüler wieder aufbauen, die eigentlich nicht mehr glauben, dass sie eine Perspektive haben? Wie wichtig sind Perspektiven? Also erst mal hat jeder Schüler bei uns eine Perspektive. Wenn Misserfolgserlebnisse chronisch werden, kann das natürlich zu einer Schulabstinenz führen. Aber wir sind so eingerichtet, dass jeder Schüler die Schule anders erfahren kann, als die meisten Außenschulen das machen kön-­‐
nen und eigentlich haben wir bis jetzt ganz gute Erfolge damit. Das Wesentliche ist, dass Schüler wieder Positives erleben und selbst wieder Erfolge erreichen können. Sie haben gesagt, alle Schüler haben immer eine Perspektive? Ja, es gibt eigentlich keinen Schüler ohne Perspektive. Irgendwas ist immer möglich. (...) Hier wird ein Setting um die Schüler herum aufgebaut, in dem die Eltern beeinflusst werden, in dem die Schule neu gesucht wird, in dem alle Möglichkeiten ausgelotet werden, damit viele wieder aufs Gleis gesetzt werden können, um dann ihren Weg zu machen. Wissen die Schüler denn immer gleich, was ihr Weg ist? Nein, das wird erst gemeinsam erarbeitet. (...) Wir gucken, wo die Ressourcen des Schülers sind. Was interessiert ihn? Selbst der am meisten schulabstinente Schüler hat Bereiche, die ihn inter-­‐
essieren. (...)Wir haben die Möglichkeiten, diese Themen zu suchen, und wenn sich erst mal ein Erfolg einstellt, dann färbt das ab auf alle anderen Bereiche. Würden Sie sagen, dass die Perspektive für das, was man nach der Schule machen möchte, der Anlass ist, zu lernen? Es ist die Vision. Wenn ein Schüler keine Vision hat, wenn er gar nicht weiß, warum er über-­‐
haupt lernt, dann kommt er mit Misserfolgserwartungen in die Schule. (...) Ich fange zum Beispiel jeden Tag die erste Stunde an mit der Frage, was am letzten Tag schön war. Das ist die Grundhaltung: Das Anknüpfen an positive Erfahrungen, auch wenn die Vorge-­‐
schichte schwarz aussieht. Meistens gibt es etwas, woran man anknüpfen kann, und das wird dann ausgeweitet. (...) Die Schüler scheinen gerne zu lernen. Womit hat das zu tun? Wir üben keinen direkten Druck aus. Nehmen wir an, ein Schüler schafft es nicht pünktlich zu sein, er schafft es nicht, sich richtig zu verhalten, dann wird das auch nicht erwartet. Aber es werden Ziele aufgestellt, die auch zu schaffen sind und die zu Erfolgen führen (...). Man guckt also auf die Fortschritte und nicht auf das, was nicht läuft. Man ist ressourcenorientiert. Das wird abgestimmt, da arbeiten die Lehrer zusammen. Auf dem Schulhof spielen Erstklässler mit Oberstufenschülern Fußball. Es herrscht eine tolle Atmosphäre. Die Atmosphäre, darauf achten wir sehr, ist bei uns wirklich positiv. Wir helfen uns gegenseitig, die Türen sind offen. Das hängt damit zusammen, dass wir so wenig auf Leistungskontrolle aus-­‐
gerichtet sind: Wir wollen kein Einordnen in irgendwelche Klassenstufen, sondern wir wollen, dass eine positive Schulerfahrung gemacht wird. (...) Das Gespräch führten Annika Westphal und Susanne Rieber.
36
»aussetzer«
Ein Gespräch mit Paul Jumin Hoffmann,
Schauspieler am GRIPS Theater und Darsteller des Chris
Du spielst die Rolle von Chris. Was reizt dich daran?
Ich finde an dem Stück interessant, dass da zwei total unterschiedliche Figuren, zwei Extreme, zwei
Gegenpole aufeinandertreffen. Sie stecken beide in einer Extremsituation und machen eine starke
Entwicklung durch. Außerdem hat Chris irgendein Geheimnis: Um in diesem schwierigen Elternhaus
zu überleben, hat er sich einen dicken Panzer zugelegt. Und ich will wissen, was steckt da eigentlich
dahinter? Bei mir war das ähnlich, als ich in Chris’ Alter war.
Wie warst du denn als Jugendlicher?
Ich war eigentlich ein ganz Stiller, ich war viel für mich und habe gemalt. Ich war immer ein bisschen pummelig und wurde dadurch auch oft gehänselt. Aber das habe ich nicht akzeptiert, und
mich dagegen gewehrt: Ich hab mich als Kind ziemlich viel gerauft. Ich hatte viele Aggressionen in
mir. Da kann ich den Chris schon verstehen.
Was für eine Rolle hat die Schule in deinem Leben gespielt als du in Chris’ Alter warst?
Eigentlich hatte die Schule mit meinem Leben nicht so viel zu tun. Ich habe mich immer darauf gefreut, dass sie irgendwann zu Ende ist... Manche Fächer habe ich gemocht, aber ansonsten bin ich da
halt einfach hingegangen. Zum Glück musste ich mich nicht so anstrengen, um das zu schaffen.
Was für ein Verhältnis hattest du zu den Lehrern?
Ich hatte ein ziemlich distanziertes Verhältnis zu meinen Lehrern.
In der ersten Klasse hatte ich große Probleme, diese Autorität zu akzeptieren. Ich war jeden Tag zu
spät. Ich hab jeden Tag Ärger bekommen. Irgendwann hat die Lehrerin dann zu mir gesagt: »Ich bin
die Lehrerin, du musst machen, was ich sage.«
Mein Meister beim Taek-Wan-Do hat immer gesagt: Respektiere niemals einen Menschen, der dich
nicht respektiert. Also du solltest den Menschen natürlich immer mit Respekt begegnen, aber du
musst jemanden nicht respektieren, der dich nicht respektiert.
Manche Lehrer mochte ich dann aber doch ganz gerne: Zum Beispiel meine Englischlehrerin ab der
Oberstufe war einfach saucool: Die war ein totaler Shakespeare-Fan. Wegen ihr stand ich das erste
Mal auf der Bühne. Wir haben nämlich zum Abi so eine Art Shakespeare-Performance aufgeführt
und ich hatte einen Satz!
Hat die Schule eine Rolle gespielt bei deiner Entscheidung, Schauspieler zu werden?
Nein. Ich wollte eigentlich immer was mit Kunst machen. Aber ich wusste ganz lange nicht, was ich
wirklich machen will. Das kam erst ein paar Jahre nach der Schule.
Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?
Ich habe alles Mögliche gemacht. Also ich habe mich einerseits auf Kunst vorbereitet, ich habe gearbeitet und war viel im Ausland. Zum Glück haben mir meine Eltern keinen Druck gemacht, obwohl
sie sich schon Sorgen machten. Und dann habe ich irgendwann diesen geheimen Wunsch ausgepackt, Schauspieler zu werden, hab mich dann einfach beworben, und war dann auch im Theater.
Das erste Mal bewusst und ich fand’s großartig. Davor hatte ich mich immer gelangweilt im Theater.
Immer diese Schulausflüge, ich fand das total ätzend. Wir waren einmal im Deutschen Theater, da
bin ich eingeschlafen. Dann waren wir sogar in London im Globe Theatre, und ich lag verkatert in
irgendeiner Ecke. Wenn ich jetzt daran zurück denke ... (er lacht)
37
»aussetzer«
Glaubst Du, dass Dich ein Lehrer hätte »wecken« können, um Dich damals schon fürs Globe zu
begeistern?
Ja, vielleicht. Aber so habe ich es selbst gefunden. Und das ist doch voll okay.
Hattest Du während den Proben manchmal das Gefühl, Chris gerne etwas mitteilen zu wollen?
In einigen Szenen reagiert er so, dass ich ihm gerne sagen würde: Du bist echt ein Vollidiot.
Ich kann ihm eigentlich nur Dinge wünschen... Ich würde mir wünschen, dass er an Selbstvertrauen
gewinnt, dass er in sich vertrauen kann, dass er weiß, dass er was draufhat.
Ich würde ihm gern sagen: Es ist gut so, wie du bist. Du bist anders, aber das ist gut so.
Und würdest du Julika etwas sagen wollen oder ihr etwas wünschen?
Nicht aufgeben, würde ich ihr sagen. In dem was sie tut. In dem was sie anders machen will als ihre
Kollegen. Sie soll nicht aufhören, darüber nachzudenken, was funktionieren kann.
Die Fragen stellte Susanne Rieber vom GRIPS Theater
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»aussetzer«
Anregungen für den Unterricht
Ausschließlich zur besseren Lesbarkeit verwenden wir auf folgenden Seiten die maskuline Form.
Anregungen zur Vorbereitung
Der Titel »Aussetzer« -­‐ was versteht ihr unter diesem Begriff? Welche anderen Begriffe kennt ihr dafür? (z.B.: Black out, Kontrollverlust, Ausraster, ...) In welchen Situationen können »Aussetzer« entstehen? Kennt ihr Situationen, in denen ihr nicht »Herr eurer Sinne« gewesen seid? Wie hat sich das an-­‐
gefühlt? Könnt ihr die Situation beschreiben? Deutschland sucht den Super-­Lehrer und den Super-­Schüler Überlegt gemeinsam, was für euch den idealen Lehrer ausmacht: Was muss er können? Welche Eigenschaften sollte er haben? Wie sollte er Unterricht gestalten? Was sollte er euch beibringen und wie? Wie sollte er sich euch gegenüber verhalten? Schreibt die Antworten auf ein Plakat. Und wie sollte der ideale Schüler sein? Überlegt auch das gemeinsam: Was muss er können? Welche Eigenschaften sollte er haben? Wie sollte er sich im Unterricht verhalten? Was sollte er lernen (wollen)? Wie sollte er sich den Mitschülern/ den Lehrern ge-­‐
genüber verhalten? Schreibt auch diese Antworten auf ein Plakat. Hängt die Plakate nun nebeneinander. Gibt es Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Fragen? Disku-­‐
tiert das untereinander und befragt andere Lehrer und Schüler dazu. Oder: Ihr entwickelt die Castingshow »Deutschland sucht den Super-­‐Lehrer / den Super-­‐Schüler«: Angeregt durch die Begriffe auf den Plakaten überlegt ihr euch Themenbereiche, in denen sich die freiwilligen (!) Kandidaten beweisen müssen (bspw. »Zum Lernen motivieren«, »Begeiste-­‐
rung« oder »brav sein – Wer hält am längsten durch?«). Eine unabhängige, freiwillige (!) Jury gibt ehrliche Rückmeldung, das Publikum stimmt per Applausstärke ab. 39
»aussetzer«
Nachbereitende Fragen zum Stück
Was hält Chris zu Beginn des Stücks von Julika? Was hält Julika von Chris? Beschreibt Julika als Lehrerin. Welche Eigenschaften hat sie? Beschreibt Chris als Schüler. Welche Eigenschaften hat er? Zu Beginn beschreibt Julika die Atmosphäre in der Klasse. Was denkt ihr darüber? Wie würdet ihr die Atmosphäre in eurer Klasse beschreiben? Was denkt ihr, wie ein Besucher die Atmosphäre in eurer Klasse beschreiben würde (z.B.: ein Austauschschüler oder ein neuer Referendar)? Wie würden eure Lehrer diese Atmosphäre beschreiben? Hätte Chris den »Aussetzer« verhindern können und, wenn ja, wie? Hätte Julika den »Aussetzer« verhindern können und, wenn ja, wie? Sollte Julika Chris zu Beginn des Stückes die Drei geben? Was hätte es verändert, wenn Julika Chris die Drei einfach gegeben hätte? Was würdet ihr Chris zu Beginn des Stücks raten? Was würdet ihr Julika zu Beginn des Stücks raten? Was haltet ihr von Julikas Vorschlag, ihm Nachhilfe zu geben? Was würde Julikas Mutter sagen, wenn sie von den Lerntreffen wüsste? Was würden Chris Freunde sagen, wenn sie von den Lerntreffen wüssten? Wie würden der Direktor und Julikas Kollegen reagieren, wenn sie wüssten, dass Julika Chris im Café Nachhilfe erteilt? Wie beschreibt ihr das Verhältnis zwischen Chris und seinen Eltern? Was hätte bei Julikas Besuch bei den Eltern anders laufen können/müssen? Hätte Julika sich anders verhalten können und wenn ja, wie? Wer hat den Brief an Julika geschrieben? Was hat Chris damit zu tun? Und was löst dieser Brief aus? Hat die Geschichte eurer Meinung nach ein »Happy End« oder ein »Bad End«? Wie kommt ihr zu dieser Einschätzung? 40
»aussetzer«
Gedanken rund ums Stück ...
JULIKA: Und nach gefühlten drei Stunden läutet es endlich und ich bin diesen ganzen
Haufen los.
Wie lang kommen euch manchmal Schulstunden vor? Und woran liegt das? CHRIS: Das war nur Reflex. Weil die so gefuchtelt hat. Wenn die nicht so gefuchtelt hätte,
wäre der Reflex auch nicht ... also dann hätte ich den Aussetzer auch nicht gehabt.
Was sagt ihr zu Chris Aussage? Was sind Reflexe? Und habt ihr auch schon mal aus Reflex ge-­‐
handelt – egal in welchem Zusammenhang? JULIKA: Zum Direktor gehen und melden. Genauer Bericht, Anzeige erstatten, Konferenz. Das
Ergebnis ist klar: Rausschmiss sofort. (...) Oder anders. Der Direktor will es klein halten, runterspielen. Gesprächstermin. Verwarnung. Mit niemandem darüber sprechen. Der Ruf der
Schule könnte leiden.
Wie sollte eurer Meinung nach mit dem Vorfall umgegangen werden? Wie würden sich bei euch an der Schule Lehrer, Direktor und Schüler bei solch einem Gewaltfall verhalten? JULIKA: Ich gebe die Krankmeldung ab und wenn ich wiederkomme, muss ich die Klasse
aushalten. Kann in ihren Gesichtern lesen, was sie darüber denken. Wegen mir ist Chris geflogen. Nur das bleibt hängen.
Was denkt ihr über einen Lehrer oder eine Lehrerin, die von einem Schüler, einer Schülerin ge-­‐
schlagen wird? Was haltet ihr von einem Schüler, einer Schülerin, die einen Lehrer, eine Lehre-­‐
rin schlägt? JULIKA: Was glaubst du denn, warum ich Lehrer bin?
CHRIS: Weil das ein Job ist, weil man das gut findet, weil man die Ansagen machen kann.
Was weiß ich, warum man das macht.
Was glaubt ihr, warum Julika Lehrerin geworden ist? Und was denkt ihr, warum haben sich eure Lehrer dafür entschieden? CHRIS: Im Cafe kommt die ganz anders rüber, jünger, gar nicht wie ne Lehrerin.
Habt ihr eure Lehrer schon mal außerhalb der Schule erlebt? Oder sie euch? Wie war das?
41
»aussetzer«
Anregungen zum Thema Aggressionen / Konflikte CHRIS: Haben Sie nicht langsam genug?
JULIKA: Wovon?
CHRIS: Sich zu rächen. Für die Ohrfeige. Ich hab doch mein Ding gemacht, was wollen Sie noch?
Spielanregung »Nein – Ja -­ Kreis« Alle Schüler stehen im Kreis und geben in die eine Richtung (links) ein »Ja« herum. Das heisst, dass ein Schüler(A) seinem Nachbarn (B) in die Augen schaut und »Ja« zu ihm sagt, der (B) guckt darauf hin zum nächsten Nach-­‐
barn (C) und gibt diesem ein »Ja« weiter usw. Dabei soll die Betonung des »Ja’s« immer wieder variieren. Nach einer »Ja«-­‐ Runde wird in die andere Richtung (rechts) ein »Nein« gegeben. Auch hierbei mit der Beto-­‐
nung, der Lautstärke, der Geschwindigkeit, der Körperhaltung und Mimik spielen. Nach diesem »Nein«-­‐Durchgang, darf ein Richtungswechsel eingeführt werden. D.h. ich kann auf ein »Ja« auch mit einem »Nein« reagieren, aber es bleibt immer bestehen: »Ja« ist links herum und »Nein« ist rechts herum. Anschließende Reflektion: Mochte ich lieber das »Ja«? Oder das »Nein«? Was haben die Variationen mit Geschwindigkeit, Lautstärke, Körperhaltung und Mimik bei den Zuschauen-­
den bewirkt? Welche Bilder/ Assoziationen sind entstanden? Spielanregung: »An der Nase herumführen« Die Schüler gehen paarweise zusammen Der eine führt den anderen langsam, indem er seine Hand ca. 20 cm vor das Gesicht des anderen hält. Der Partner muss nun versu-­‐
chen den Abstand zur Hand beizubehalten und wird so durch den Raum manövriert. Nach ein paar Minuten wird gewechselt. • Bei der Übung nicht sprechen. • Auf den Wechsel hinweisen: Was Du nicht willst, was man dir tut, das füg auch keinem anderem zu! • Bei langsamen Bewegungen fällt das Folgen leichter, aber trotzdem darf man ruhig auch mal seine »Machtposition« als Führender ausnutzen. Nachdem beide Partner geführt haben, dürfen sie sich paarweise einen kurzen Moment lang über das Erlebte austauschen. Was hat gut geklappt? Was nicht? Wie war für mich das Führen? Wie das Ge-­
führt werden? Anschließende Reflektion: Welche Assoziationen sind entstanden? Kennt ihr ähnliche Situationen, in denen ihr »nach jemands Nase« tanzen müsst (oder jemandem auf der Nase herumtanzt)? In welchen Situationen könnt ihr vorgeben, was gemacht werden soll? Wann müsst ihr euch »einer Macht fügen«? Spielanregung »Gewalt im Klassenzimmer« Zwei gleich große Gruppen positionieren sich mit einigem Abstand gegenüber im Raum. Jede Gruppe bestimmt einen »Anfüh-­‐
rer«, der mittig vor der eigenen Gruppe steht. Ein »Anführer« beginnt mit einer Kampfbewegung in die Luft, z.B: ein Tritt, ein Faustschlag ... Seine Gruppe macht es ihm nach. Der »Anführer« der anderen Gruppe reagiert auf die Kampfbewegung, in dem er spielt, dass der Tritt oder der Faustschlag ihn ge-­‐
troffen und verletzt hat, seine Leute hinter ihm kopieren seine Reaktion. Nachdem er 42
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sich von den Schmerzen erholt hat, verteidigt er sich nun seinerseits mit einer neuen Kampfbewegung auf Distanz. Und so hin und her. Während eine Gruppe dran ist, bleibt die andere Gruppe ruhig stehen, so dass immer mit etwas Verzögerung agiert wird. • Es darf immer nur eine Kampfbewe-­‐
gung durchgeführt werden, nicht mehrere auf einmal z.B.: Schlag und Tritt hintereinander. • Es wird nur auf die Distanz gekämpft, es gibt keinen Körperkontakt »aussetzer«
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Nach einigen Runden wechseln die »Anführer« Geräusche können Bewegungen un-­‐
terstützen Es sollen möglichst viele verschiede-­‐
ne »Gewalttaten« ausprobiert wer-­‐
den (z.B.: In die Wade beißen, Augen ausstechen, auf den Fuß treten ...) Szenenanregung »Unser Schulalltag« In welchen Situationen geraten Lehrer und Schüler in Konflikt? Einigt euch per Abstim-­‐
mung auf die fünf häufigsten Konfliktauslö-­‐
ser und entwickelt dazu in Kleingruppen eine Szene. Achtet darauf, dass in den Szenen alle Konfliktparteien ausgewogen zu Wort kommen (auch wenn es schwer fällt!). Die Gruppe soll exakt und gleichzeitig den »Anführer« kopieren Anschließende Reflektion: Wie ging es den »Anführern«, wie der Gruppe? Was hat mehr Spaß gemacht: Sich Gewaltta-­
ten auszudenken oder auf die Gemeinheiten zu reagieren? Welche Gemeinheiten lassen sich nicht so »einfach« darstellen? Wie kann auf andere Art Gewalt ausgeübt werden? •
Anschließende Reflektion: Wer hat sich in welcher Rolle wohl gefühlt? Wer war mit seiner Rolle nicht so sehr zufrie-­
den? Was haben die Zuschauer beobachtet? Welche alternativen Handlungsmöglichkeiten und Lösungen können für die Situationen, gefunden werden? Anregungen zum Thema Umgang miteinander
Vertrauensübungen CHRIS: Sie sind doch zu meinen Eltern gegangen. Sie müssen doch gewusst haben, dass sie mir Ärger
machen. Sie haben mich verraten. Ich hab es weggesteckt. Und jetzt kommen Sie an und nennen
mich ein Schwein. Du denkst doch nur an dich und dein scheiß Hilfeding, mit dem du dich wichtig
machst.
JULIKA: Ich habe da nichts gegen dich gesagt.
CHRIS: Du kapierst überhaupt nichts. Das geht die nichts an. Das war eine Sache zwischen uns. Ich
habe nichts gesagt, niemandem. Und du redest von Vertrauen.
»Sich fallen lassen« -­ Im Kreis Eine Person meldet sich freiwillig und stellt langsam fallen. Der Kreis fängt sie auf. Mit sich in die Mitte und schließt die Augen. der Zeit kann der Kreis vergrößert werden. Die Übrigen bilden einen engen kleinen Kreis • Der Kreis richtet sich nach der Person um die Person. Alle halten ihre Hände vor innen: Ist diese unsicher, wird sie mög-­‐
ihren Körper. Die Person in der Mitte macht lichst immer gehalten. Je sicherer die ihren Körper ganz steif und lässt sich Person ist, umso größer kann der Kreis werden. »Sich anheben lassen« Eine Person legt sich in die Mitte. Die ande-­‐
Anmerkung: • die Person nicht ganz hoch heben, sondern ren platzieren sich eng um sie herum und lediglich anheben legen ihre Hände auf den Körper der in der Mitte liegenden. Daraufhin schieben sie die • die Hände nach der Übung nicht ruckartig Hände unter den Körper und versuchen die wegziehen, sondern langsam entfernen Person langsam anzuheben. 43
»aussetzer«
Grenzen setzen JULIKA: Setz dich mal wieder rüber, ich krieg ja keine Luft mehr. Sag mal, hast du in Parfüm gebadet? Du riechst wie ... du hast ein bisschen viel genommen. Scheint ja ein wichtiges Date zu sein.
CHRIS: Wieso?
JULIKA: So wie du aufgebrezelt bist.
CHRIS: Ich lauf immer so rum.
JULIKA: Geht mich ja nichts an. (...)
CHRIS: Also, wenn Sie mich nur verarschen wollen...
Spielanregung »Komm her – Geh weg« Zwei Partner stellen sich in einigem Abstand (4 bis 5 Meter) gegenüber auf. Nun beginnt eine Person die andere mit den Worten »Komm her« und »Geh weg« zu sich zu loc-­‐
ken bzw. wegzuschicken. Dabei kann sie va-­‐
riieren, wie sie die Befehle betont bzw. wie die Mimik und Gestik dazu ist. Der Partner Szenenanregung »Grenzgang« Die Schüler gehen in Kleingruppen zusam-­‐
men und überlegen gemeinsam, welche Si-­‐
tuationen sie kennen aus ihrem Alltag oder hört ganz auf sein Bauchgefühl und kommt nur näher, wenn er wirklich will / oder geht weg, wenn ihm danach ist. Anschließende Reflektion: Welche Körperhaltungen, welche Mimik und welche Betonung hatte welche Wirkung? sich vorstellen können, in denen Grenzen überschritten werden. Daraus entwickeln sie eine Szene, die den anderen präsentiert wird. Gefühlsleben JULIKA: Hast du mir irgendwas zu sagen?
CHRIS: Ich wollte das nicht. Das tut mir echt leid.
JULIKA: Sagst du das jetzt, weil du denkst, das ich das hören will, oder tut es dir wirklich leid?
CHRIS: Nein, klar tut mir das Leid. Das müssen sie mir glauben.
JULIKA: Hast du deswegen auf mich gewartet? Um mir das zu sagen? Bist du deshalb die letzten Tage
nicht gekommen? Weil dir das irgendwie schwer fällt?
CHRIS: Sie waren ja auch nicht da.
JULIKA: Warum wohl nicht. Da sind wir also. Und was kommt jetzt?
CHRIS: Ist schon klar.
JULIKA: Was? Was kommt jetzt? Was glaubst du denn, was jetzt kommt?
CHRIS: Ist schon klar.
Spielanregung »Gefühlsstandbilder« Die Gruppe findet sich in Paaren zusammen. Schritt genau die gegenteilige Emotion dar-­‐
Es wird festgelegt, wer von den beiden Part-­‐
stellen. Auf ein weiteres Klatschen des Spiel-­‐
leiters hin, werden die Rollen gewechselt, nern A und wer B ist. Jeder Spieler überlegt sich nun eine Emotion und wie er diese in d.h. Partner B stellt seine Emotion in einem einem Standbild darstellen könnte. Auf das Standbild vor, A muss daraufhin das gegen-­‐
Klatschen des Spielleiters hin, stellt Partner sätzliche Gefühl in einem Standbild verdeut-­‐
lichen. Wichtig hierbei: Diese Übung funktio-­
A sein Standbild vor. B hat nun die Aufgabe, zu erkennen welches Gefühl sein Partner niert ohne Worte. darstellen will und soll dann im nächsten 44
»aussetzer«
Szenenanregung »Einen Dolmetscher bitte!« Die Schüler überlegen sich in Kleingruppen Aufgabe ist es, in dieser Szene Dolmetscher Momente aus ihrem Alltag, in denen anein-­‐
mit einzubauen, die zwischen den beiden ander vorbei gesprochen wird oder in denen Aneinandervorbeiredenden vermitteln oder es schwer fällt, die eigenen Gedanken auszu-­‐
Gedanken aussprechen. drücken. Sie entwickeln dazu eine Szene. Szenenanregung »Morgens um 06:30 in Berlin« Die Schüler teilen sich in Kleingruppen auf wohl der Morgen eines Lehrers aussehen und erzählen sich gegenseitig ihren Ablauf könnte? Auch das stellen sie dar. Abschlie-­‐
ßend entscheiden sie sich innerhalb der vom Aufstehen bis zur Schule. Freuen sie sich auf die Schule? Brauchen sie lange um Gruppe, wer was zeigen möchte, so dass sie sich Anzuziehen und zu Stylen? Wie früh-­‐
Schüler-­‐ und Lehrermorgen parallel den an-­‐
stücken sie? Das zeigen sie sich gegenseitig deren Gruppen präsentieren können. in der Kleingruppe und überlegen dann, wie Anregungen zum Thema Perspektiven
Was kann ich? Was mache ich gerne? Die Schüler laufen durch den Raum. Jeder überlegt für sich etwas, was er kann /worin er gut ist und etwas, was er gerne macht. Wenn der Spielleiter in die Hände klatscht, stellt jeder eins davon über eine Geste oder Wie soll mein Leben mal aussehen? Die Schüler bilden untereinander 4er-­‐
Gruppe, in denen sie sich gegenseitig erzäh-­‐
len, wie sie in 15 Jahren leben wollen. Sie überlegen sich gemeinsam, wie sie diese ver-­‐
schiedenen Traumberufe/ Lebensperspekti-­‐
ven in einem Bild zusammenfügen und pan-­‐
tomimisch darstellen können. Wie komme ich dahin? In den gleichen Kleingruppen überlegen die Schüler nun für sich eine Haltung, die ihren jeweiligen Ist-­‐Zustand darstellt, und fügen alles zu einem gemeinsamen Bild zusammen. Ausgehend vom »Ist-­‐Zustand«-­‐Bild und dem eine Bewegung dar. Es kann ruhig in mehre-­‐
ren Durchläufen wiederholt werden, so dass jeder auch die Gelegenheit hat mehrere Din-­‐
ge darzustellen. Die Zuschauenden erraten, um was es sich beim Gezeigten handelt. Anschließende Reflektion: Hat das, was ich gut kann oder was ich gerne mache, mit dem, wie ich in 15 Jahren mal le-­
ben möchte, etwas zu tun? »In-­‐15-­‐Jahren«-­‐Bild gestalten sie ein »Auf-­‐
dem-­‐Weg«-­‐Bild, das die Brücke zwischen Heute und Zukunft darstellt. Diese drei Bil-­‐
der werden nun den anderen präsentiert. 45
»aussetzer«
Literatur und Links
Bezirksregierung Münster: GEWALT gegen Lehrkräfte. Wie reagieren? Wie vermeiden? Ein Rat-­‐
geber für die Schulen im Regierungsbezirk Münster, Münster, 2005 Unfallkasse Berlin, Senatsverwaltung f. Bildung, Wissenschaft und Forschung: Notfallpläne für Berliner Schulen, Ergänzungsblätter, Hilfen bei Gewalt gegen Schulpersonal, Berlin, 2011 Bauer, Joachim: Aggressionen und Friedenskompetenz aus Sicht der Hirnforschung. In Pädago-­‐
gik, Gewaltprävention, 11/12, Weinheim 2012, BELZ Bauer, Joachim: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern, Hamburg 2007 Juul, Jesper: Schulinfarkt. Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht. München, 2013 Juul, Jesper: Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. Frankfurt/Main 2013 Motakef, Mona: Das Menschenrecht auf Bildung und der Schutz vor Diskriminierung. Eine Studie über Exklusionsrisiken und Inklusionschancen im deutschen Bildungssystem, Deut-­‐
sches Institut für Menschenrechte, 2006 Schule mit Respekt. Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland. Ma-­‐
terialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung. Heft 115, Bund-­‐Länder-­‐Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Bonn, 2004 Frau Freitag: Chill mal, Frau Freitag. Aus dem Alltag einer unerschrockenen Lehrerin., Ullstein Verlag, 2011 Schmoll, Eva: Vom Mut, mit Lehrern zu sprechen. In Pädagogik, Mai 2013, Weinheim Eickenbusch, Gerhard: Nicht jede schwierige Situation ist ein Problem in Pädagogik, Nov. 2011, Weinheim Rasfeld, Magret + Spiegel, Peter: EduAction, Wir machen Schule, Murmann 2012 Sammlung Berliner Präventionsprojekte: http://www.berlin.de/sen/bildung/hilfe_und_praevention/gewaltpraevention/gewaltpraeventi
on.html Archiv der Zukunft: www.adz-­‐netzwerk.de Schule der Zukunft: www.sinn-­‐stiftung.eu http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2013-­‐04/elternarbeit-­‐qualitaetsmerkmale http://www.bildung-­‐brandenburg.de/elternseminare.html http://www.prof-­‐kurt-­‐singer.de/ 46
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Dank
für beratende Gespräche, Unterstützung, Ehrlichkeit und Engagement an: Ulricke Buckwitz, Dirk Dreissen, Eckart Dube, Gudrun Fricke, Claus Gelfort, Gisela Hilbert, Hel-­‐
mut Hochschild, Susanne Knorr-­‐Peterson, Eva Schmoll, Bettina Schubert, Hans Seibert, Rosema-­‐
rie Straub, Heidrun Zimmermann Übrigens!
Das Begleitmaterial ist auch als kostenloser DOWNLOAD erhältlich unter www.grips-­theater.de Impressum GRIPS Theater GmbH Altonaer Straße 22 10557 Berlin Spielzeit 2012/ 2013 Künstlerischer Leiter: Stefan Fischer-­‐Fels Geschäftsführer: Volker Ludwig Redaktion: Susanne Rieber, Annika West-­‐
phal, Stefan Fischer-­‐Fels Fotos: David Baltzer/ www.bildbuehne.de Art Direktion: anschlaege.de Gestaltung: Stefanie Kaluza, Susanne Rieber Titelbild: Henrick Miers/ anschlaege.de 47