Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV
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Nachruf K. R. Narayanan (1920 – 2005) Das Dalit-Traumkind Indiens ist gestorben Kocheril Raman Narayanan symbolisierte die Emanzipation der Unterdrückten in der indischen Gesellschaft. Er zeigte, dass es im heutigen Indien möglich ist, dass auch ein Kastenloser das höchste Amt des Staates mit Würde bekleiden kann. Er war tatsächlich ein Traumkind, fast ein Held, für die Millionen Unterdrückten und Marginalisierten in Indien. K. R. Narayanan wurde am 27. Oktober 1920 in Uzhavoor (Kottayam, Kerala) als viertes Kind einer 9-köpfigen Familie geboren. Sein Vater war ein DalitHeilpraktiker (Ayurveda), der große Schwierigkeiten hatte, die Familie zu ernähren und den Kindern eine anständige schulische und universitäre Bildung zu ermöglichen. Narayanan ging zu der ca. 15 Kilometer entfernten Schule zu Fuß. Oft fehlte ihm das Geld, um die Schulgebühren zu zahlen. Später bekam er ein Stipendium und konnte damit an einem College in der Nachbarstadt weiterstudieren. Er absolvierte sein postgraduates Studium in Kerala und arbeitete danach als Journalist in New Delhi. Nach kurzer Zeit setzte er sein Studium das Parlament gewählt und diente als Minister für Technologie und Wissenschaft in Rajiv Gandhis Kabinett. 1997 wurde Narayanan als erster Dalit zum Präsident Indiens gewählt. Er war ein aktiver und mahnender Präsident, der bei Fragen betreffend Säkularismus, religiöse Toleranz, Minderheitenrechte etc. nicht immer die Auffassung der Regierung teilte und dies auch bei der Ausübung seines Amtes zum Ausdruck brachte. 2001 ging seine Präsidentschaft zu Ende. mit Hilfe eines Stipendiums von dem bekannten Unternehmer J. R. D. Tata an der London School of Economics in England fort. Nach Abschluss dieses Studiums kehrte er nach Indien zurück und trat 1949 in den indischen auswärtigen Dienst ein. Seitdem war er im diplomatischen Dienst verschiedentlich tätig gewesen, darunter als indischer Botschafter in der ehemaligen Sowjetunion, in China und in den Vereinigten Staaten. Nach seiner Pensionierung 1984 wurde Narayanan politisch aktiv. Er wurde in K. R. Narayanan hat Respekt und Anerkennung durch eigene Leistung verdient. Er bewies, dass auch ein Dalit im heutigen Indien durch harte Arbeit und mit Selbstdisziplin in Politik und Gesellschaft bis an die Spitze gelangen kann. Er hinterlässt seine Handschrift in der Geschichte Indiens und bleibt Hoffnungsträger für Millionen Dalits, die in Indien immer noch diskriminiert und verachtet werden. K.R.Narayanan starb am 9.10.05 in New Delhi. - Jose Punnamparambil Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Elisabeth Lauschmann MEINE WELT Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Heft 3 / Jahrgang 22 / Dezember 2005 Unterstützung und Beratung: Pater Ignatius Chalissery; Köln; Heinz Müller, Köln; Hans Gerd Grevelding, Köln; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Pfarrer Georg Kalckert, Königswinter; Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Dr. Urmila Goel, Bonn; Bobby Cherian, Frechen; Sinthu Karthikapallil, Schwerte; Dr. Claudia Warning, Lohmar; Walter Meister, Öhringen Herausgeber: Diözesan-Caritasverband, Abteilung „Migration”, Georgstr. 7, 50676 Köln, Tel.0221 / 20 10 287 Gestaltung und Layout: Jose Punnamparambil; Jose Ukken Redaktion: Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren, Tel. 02224 / 7 53 17 e-Mail: punnam@t-online.de Herstellung und Vertrieb: Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter, Tel. 02223 / 49 49; e-Mail: joseukken@web.de Dr. Sushila Gosalia, Franconvillestr. 9, 68519 Viernheim, Tel. 06204 / 7 88 01; e-Mail: sula.gosalia@worldonline.de Druck: Siebengebirgs-Druck, Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln, Tel. 02203 / 2 26 54; e-Mail: Chakkiath@aol.com Erscheinungsweise: zwei- bis dreimal jährlich Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von den Lesern erwartet. Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren Tel. 02224/9897690; e-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de Konto-Nr.: 134 604, Kreissparkasse Köln (BLZ 370 502 99), Diözesan-Caritasverband, Köln Titelbild: „Ohne Titel von Dhanaraj Keezhara, Bangalore; e-mail: dhanarajkeezhara@rediffmail.com Rückseite: Krishna mit Flöte auf dem Baum und Hirtinnen. Chaturaman Jha, Rajnagar, 1977. (Quelle: Madhubani Bilder 1880-2005, Albrecht Frenz, Hermann Gundert Gesellschaft Stuttgart 2005) 2 Statt eines Editorials – Eine Predigt Von den rechten Gästen und einer gerechten Welt Am 30.10.2005 fand in der evangelischen Johanneskirche in Köln eine ökumenische „Beatmesse“ unter der gemeinsamen Leitung von Pfarrer Ivo Masanek und dem Dominikaner Pater David Michael Kammler statt. Das Thema „Indien“ stand im Mittelpunkt der Messe. Der Kirchenchor der indischen Gemeinde Köln war dabei und sang 2 Lieder in der südindischen Sprache Malayalam. Die Kollekte von ca. 2000 Euro ging an die „Andheri Hilfe“ Bonn zur Unterstützung eines Behindertenprojekts in Kerala. An der sehr lebendig mit Musik und Information gestalteten Messe nahmen fast 450 Christen teil. Zum ersten Mal während meines fast 40jährigen Aufenthalts in Deutschland wurde ich gebeten, die Predigt bei dieser Messe zu halten. Da diese Predigt inhaltlich mit dem Schwerpunktthema dieses Heftes übereinstimmt, drucken wir sie ungekürzt nachfolgend ab. Von den rechten Gästen „Dann sagte er zu dem Gastgeber: Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich ein, und damit ist dir wieder alles vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“ (Lukas 14, 12-14) Von einer gerechten Welt Ich wurde vor fast 7 Jahrzehnten als Kind christlicher Eltern auf einem Bauernhof im südindischen Staat Kerala geboren. In unserem Haus gab es damals keine Elektrizität, kein Telefon, kein Fahrrad, kein Radio und keinen Kühlschrank. Mein Leben spielte sich in einer dörflichen Landschaft ab, in der die tanzenden Reisfelder, die muhenden Kühe und die schattenspendenden Kokospalmen das Bild bestimmten. Ich trank klares Brunnenwasser, aß viel Gemüse und Obst, las beim Licht einer Kerosinlampe und ging überallhin barfuß. Am glücklichsten war ich, wenn mein Onkel oder andere Verwandte uns besuchten. Dann schlachteten wir ein Huhn, und meine Mutter bereitete ein Festessen. Nach dem Essen erzählten wir Geschichten aus dem Dorf oder aus dem Verwandtenkreis. Ein großes Fest, das wir alle – die Hindus, Moslems, Christen, Dalits, Adivasi, die Reichen und die Armen – damals feierten war „Onam“. Dieses Fest hat seinen Ursprung in einer Legende, die ich hier kurz erzählen möchte. Es herrschte einmal in Kerala ein König namens „Mahabali“, der sehr gerecht Meine Welt Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs Heft 3 / Jahrgang 22 Dezember 2005 Inhalt Editorial 3 Weiblichkeit und Macht (Meinung) 5 Rabindranath Tagore und seine deutschen Leser - Prof. Dr. Dietmar Rothermund Mein Christsein ist vom Hinduismus sehr bereichert worden: von seiner Kosmosfrömmigkeit, seinem Körperbewusstsein (Yoga), seiner mystischen Neigung (Interview Aktuell) 27 - Dr. Shalini Randeria Wiedergeburt in der indischen Philosophie (Religion) 6 - Gopal Kripalani Wer sind die Adivasi? Satchidanandan (Drei Gedichte) - Dr. Martin Kämpchen 9 Über Wahrheit und menschliche Wahrnehmung 10 Das goldene Boot (Gedicht) Eine erschütternde Erfahrung, eine faszinierende Idee und einige mutige Schritte in die Zukunft (Interview Aktuell)11 Softwareprogramm für Homöopathie (Interview Aktuell) 34 - Dr. Jawahar Shah 14 Jyoti Sahi wieder einmal zu Gast in Deutschland (Kunst) - Catrin Braun / Koshi Mathew 35 - Dr. Falk Reitz 17 Buchbesprechungen von: - Helmut Donner Shourabhs Schulen (Projekt) 33 - Rabindranath Tagore - Elisabeth Kreuz Solidarität mit Kalkutta (Partnerschaft) 32 - Gespräch zwischen Albert Einstein und Rabindranath Tagore - Prof. Dr. Annakutty V.K. Findeis We are your children, not for sale! (Bericht) 23 37 - Prof. Ram Adhar Mall; Monika Kirloskar-Steinbach; 19 Prof. Indu Prakash Pandey; Albrecht Frenz; Amit Chaudhuri - Helmut Donner Film in Indien und Bollywood Keine Vertreibung im Namen des Tourismus! 20 41 - A. Khaliq Kaifi - Christina Kamp Come Sister (Partnerschaft) Der Schöpfer und die Erschöpfung (Erzählung) 21 - Nadine Michel Gisela Schlemann (Nachruf) 46 - Balaichand Mukherjee (Banaphul) Namen ... Nachrichten ... Informationen 22 3 47 und großzügig war. In seinem Königreich lebten die Menschen ohne Gier, ohne Neid, ohne Betrügerei, friedlich und barmherzig zusammen. Deshalb war er bei allen seinen Untertanen sehr beliebt. Der höchste hinduistische Gott wurde aus diesem Grund auf ihn neidisch. Der Gott wollte nicht, dass ein König von Menschen mehr geliebt wird als er selbst. Deshalb verwandelte der Gott sich in einen armen Brahmanen und ging zu Mahabali. Der König empfing ihn als hohen Gast und versprach ihm nach der Tradition, drei seiner Wünsche zu erfüllen. Der Brahmane zeigte sich sehr zufrieden und verlangte, dass er drei Schrittgrößen seines Königsreichs als Geschenk bekommt. Mahabali stimmte zu. Daraufhin wuchs der Brahmane bis zum Himmel. Mit einem Riesenschritt hat er die ganzen Ländereien des Königs eingenommen, mit dem zweiten die Paläste und anderen Gebäude. Der König hatte nichts mehr zu geben, aber schuldete dem Brahmanen noch einen Wunsch. So zeigte Mahabali seine Stirn für den dritten Schritt. Der Brahmane legte seinen Riesenfuß auf die Stirn von Mahabali und mit einem kräftigen Stoß schickte er ihn für immer in die Unterwelt. Dabei bekam der König die Zusage vom Gott, dass er einmal im Jahr seine geliebten Untertanen auf der Erde besuchen darf. Dies tut er jedes Jahr heute noch. Die Menschen in und außerhalb Keralas feiern seinen Besuch mit dem Fest „Onam“. Dies ist eine der bekanntesten Geschichten über die Gastfreundschaft in Kerala. Aber wenn Mahabali heute mein Dorf besuchen sollte, wird er es nicht mehr erkennen. Fast alle Häuser dort haben Strom, Fernseher, Kühlschrank und Telefon. Asphaltierte Straßen verbinden das Dorf mit den Nachbarstädten, Linienbusse verkehren regelmäßig. Viele Dorfbewohner haben eigene Autos, einige besitzen Computer mit InternetAnschluss. Man isst viel Fleisch und Fisch, trinkt Bier und Coca Cola, feiert aufwändige Feste und hat keine Hemmungen, Schulden zu machen. Betonhäuser drängen die Reisfelder zurück. Fast alle im Dorf können lesen und schreiben, und viele junge Menschen verlassen das Dorf, um in Großstädten wie Mumbai und Kolkata oder im Ausland wie in den USA oder in Deutschland zu studieren oder zu arbeiten. So bin ich auch nach Deutschland als Gast gekommen, erst um zu studieren, dann zu arbeiten und schließlich für immer hier zu leben. In den letzten 39 Jahren meines Lebens hier habe auch ich mich, wie mein Dorf, radikal verändert. Ich lebe hier inmitten Europas sich ständig vermehrenden Wohlstandes, völlig angepasst und mit Bedürfnissen und Verhaltensweisen, die in vieler Hinsicht jenen eines Durchschnittsdeutschen ähneln. Vieles, was ich in den letzten Jahren erreicht habe, erfüllt mich mit Stolz. Ich genieße heute viele Freiheiten. Meine Erlebniswelt ist vielschichtiger und abwechslungsreicher geworden. Ich kann gestalten, mitwirken, teilhaben und selbstständig Entscheidungen treffen. Ich bin dankbar, dass ich als Gast hier an Lebensqualitäten soviel dazu gewinnen konnte. Man hat mit mir in diesem Land viel geteilt. Andererseits machen mich manche Entwicklungen der heutigen Zeit sehr unruhig, insbesondere in meinem Heimatland. Indien ist längst von der Wohlstandsgrippe infiziert. Die Städte wachsen rasant als Enklaven des Reichtums und Schauplatz zügellosen Konsums. Es herrscht überall im Lande eine nicht zu definierende Hektik, eine ungewöhnliche Betriebsamkeit, das Zusammenhaltende scheint aus den Fugen geraten zu sein. Verschwunden sind die Ruhe, die Gelassenheit, die große Freude an kleinen Dingen, die Verbundenheit mit der Natur. Konkurrenzdenken und Verschwendungssucht prägen menschliches Handeln quer durch die Gesellschaft. Fast 220 Millionen Menschen leben in Indien heute noch unter der Armutsgrenze trotz jahrzehntlangem Wirtschaftswachstum von 5–6 %. Die Dalits, ca. 138 Millionen Kastenlose, werden zunehmend diskriminiert; die Stammesbevölkerung von ca. 67 Millionen verliert ihr Recht auf Land und Existenz, und die Marginalisierten und Schwachen haben es schwer, sich in einem auf Leistung und Wettbewerb fixierten System zu behaupten. Religion wird ein Instrument zur Machtergreifung und Machterhaltung in der Hand der Politiker. Unter dem Druck der Globalisierung wird die Gesellschaft zunehmend polarisiert. Die Armen geraten zunehmend unter die Räder des Fortschritts. Liebe Schwestern und Brüder, die Hauptbotschaft des heute verlesenen Abschnitts des Evangeliums ist, dass es zum gerechten Handeln der Christen gehört, den Armen, den Schwachen und 4 den Marginalisierten in der Welt unter die Arme zu greifen, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Erfreulicherweise geschieht dies in Deutschland auf verschiedenen Ebenen: caritative Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, persönlicher Einsatz von engagierten Menschen etc. etc. Die Spendenfreudigkeit der Deutschen ist ja sprichwörtlich. Auch die selbstlose und idealistische Arbeit vieler kleiner deutschen Initiativen wie der „Andheri Hilfe“, um die Lebenssituation der Armen und Marginalisierten in Indien und anderswo zu verbessern, beeindruckt mich sehr. Trotzdem glaube ich, dass es jetzt höchste Zeit ist, dass wir uns auch über die Zukunftsfähigkeit des herrschenden Wohlstandsmodells Gedanken machen. Die häufig auftretenden Naturkatastrophen wie Tsunami, Hurrikane und Überflutungen, die wachsende Zahl von Flüchtlingen und Migranten, und manche der in der letzten Zeit zahlreich gewordenen ethnischen Konflikte und Bürgerkriege haben ihre Wurzel in diesem Wohlstandsmodell, das mit zunehmender Leidenschaft aus dem Westen in alle Himmelsrichtungen transportiert wird. Es ist eine große Ungerechtigkeit, dass der verschwenderische Lebensstil einiger weniger Menschen zur Verarmung und Verelendung vieler Menschen anderswo führt. Wir wissen alle, dass der Markt auf der Basis gnadenlosen Konkurrenzdenkens und Wettbewerbs existiert. Hier können nur die Starken gewinnen. Der Markt provoziert verschwenderischen Konsum. Er nimmt wenig Rücksicht auf die Knappheit der Ressourcen und die Bedürfnisse der Schwachen. In Deutschland besitzen 81 Millionen Menschen rund 45 Millionen Pkws. Eine europäische Stadt mit einer Million Einwohner verbraucht an einem einzigen Tag rund 2000 Tonnen Nahrungsmittel, 320 000 Tonnen Wasser. Eine gleich große Metropole der Dritten Welt muss heute mit zehn Prozent dieser Menge auskommen. Die Ungerechtigkeit, die hinter solchen Zahlen steckt, kann zu Konflikten führen, zu Krieg und Zerstörung. Dieses Entwicklungsmodell hätte für Indien und für die ganze Menschheit, wenn realisiert, katastrophale Folgen. Deshalb denke ich, dass wir umgehend eine Begrenzung des Konsums brauchen. Auch eine radikale Änderung des Lebensstils. Weniger kann mehr sein. Mahatma Gandhi hat gesagt: Die Erde hat genug, um die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, aber nicht die Gier einiger Wenigen. Mit Askese und sparsamem Umgang mit Naturressourcen können wir Christen dazu beitragen, die Welt gerechter zu gestalten für Menschen überall und für die zukünftigen Generationen. Und schließlich habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass die zivilisatorischen Leistungen eines Volkes, einer Nation, eines Kontinents alleine nicht genügen, die großen Probleme der Zukunft zu bewältigen und die Welt gerechter zu gestalten. Gemeinsame Anstrengung aller Völker sind gefragt. In diesem Zusammenhang erzähle ich eine kleine Geschichte aus unseren uralten Puranas, aus den heiligen Schriften der Hindus. Die Geschichte wurde von dem indischen Schriftsteller Shashi Tharoor bei der Eröffnungsrede des 3. internationalen Literaturfestivals Berlin 2003 erzählt. Es handelt sich dabei um die typische indische Geschichte von einem Weisen und seinen Schülern. Der Weise fragt seine Schüler: „Wann endet die Nacht?“ „Bei Sonnenaufgang natürlich“, entgegnen die Schüler. Der Weise erwidert: „Das weiß ich. Aber wann endet die Nacht und wann beginnt der Sonnenaufgang?“ Der erste Schüler, der aus dem tropischen Süden Indiens stammt, also aus der Gegend, aus der ich stamme, erwidert: „Wenn der erste Lichtschein am Himmel die Palmwedel der Kokospalme erhellt, die sich in der Brise wiegt, dann endet die Nacht und der Sonnenaufgang beginnt.“ „Nein“, entgegnet der Weise. Der zweite Schüler, der aus dem kühlen Norden stammt, wagt sich vor: „Wenn die ersten Sonnenstrahlen den Schnee und das Eis auf den Gipfeln des Himalaya weiß erstrahlen lassen, endet die Nacht und der Sonnenaufgang beginnt.“ „Nein, mein Sohn“, entgegnet der Weise. „Wenn zwei Reisende aus verschiedenen Winkeln unseres Landes sich begegnen und sich als Brüder umarmen und wenn sie erkennen, dass sie unter demselben Himmel schlafen, dieselben Sterne sehen und dieselben Träume träumen – dann endet die Nacht und der Sonnenaufgang beginnt.“ Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und viele ruhige Momente, nachzudenken! Jose Punnamparambil Meinung Weiblichkeit und Macht Dr. Shalini Randeria In ihrer Ausgabe vom 25.08.05 hat „Die Zeit“ ein Interview mit der in Berlin lebenden indischen Soziologin Prof. Dr. Shalini Randeria veröffentlicht. Es ging um die Frage, ob eine Frau als deutsche Kanzlerin einen Fortschritt bedeutet. Das Interview wurde von Elisabeth von Thadden geführt. Nachfolgend sind Auszüge aus dem Interview. -Die Redaktion Zeit: Als Wissenschaftlerin haben Sie in vielen Ländern gelehrt und Frauengeschichte erlebt. Hat deutsche Weiblichkeit spezifische Probleme mit der Macht? Randeria: Die kulturellen Unterschiede fallen auf. Es gibt kaum ein Land, in dem es für Frauen an Universitäten so viele strukturelle Hindernisse gibt, Professorin zu werden, wie in Deutschland, zumal wenn sie Kinder haben wollen. In keinem anderen Land Europas dominiert so sehr der Zweifel, ob eine voll berufstätige Frau eine gute Mutter sein könne. Für indische Mittelschichtsfrauen ist es so selbstverständlich, beides unter einen Hut zu bekommen, dass es nicht mal eine Diskussion darüber gibt. Die meisten deutschen Akademikerinnen sind eben kinderlos. Zeit: Wie Frau Merkel. Ist ihre Kinderlosigkeit also aussagekräftiger als ihr Geschlecht? Randeria: Tatsächlich, eine kinderlose Frau an der Macht bildet die gesellschaftliche Realität ab. Dabei ist es für mich als Inderin eine schizophrene Erfahrung, zwischen der deutschen Dauerdebatte über die schrumpfende Gesellschaft und der indischen Diskussion um die „Überbevölkerung“ hin- und herzupendeln. Dort wird diskutiert, wie man Menschen, bis hin zum Entzug von politischen Rechten, dazu bewegen kann, weniger Kinder zu bekommen. Das Bindeglied zwischen beiden Diskussionen ist die Frage der Migration. Sie erinnern sich an das Reizwort „Kinder statt Inder“. In einer globalisierten Welt können wir bevölkerungspolitische Fragen nicht länger nationalstaatlich diskutieren. Zeit: Erwarten Sie von Frau Merkel eine globalisierte Frauen- und Bevölke- 5 rungspolitik? Hat eine Frau für diese Aufgabe einen anderen Blick? Randeria: Das ist eher eine Frage der politischen Sensibilität und Kompetenz als eine des Geschlechts und der Herkunft. Frauen machen nicht allein aufgrund ihrer Weiblichkeit eine andere Politik. Es ist ja manchmal genau umgekehrt: Auf ihrem Weg zur Macht können sie die notwendige Sensibilität einbüßen. Wir sollten die Männer nicht aus der Verantwortung entlassen mit dem Argument, dass sie als Männer ja keine vernünftige Sozial- oder Familienpolitik hinkriegen können. Meine Welt wünscht den Lesern und Leserinnen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in das Jahr 2006 Religion Wiedergeburt in der indischen Philosophie Gopal Kripalani Indische Philosophie, eine Vogelperspektive Der griechische Terminus Philosophie bedeutet wörtlich „Weisheitsliebe“, auch wenn er im Alltag unscharf benutzt wird. In erweitertem Sinne versteht man darunter, „den Sinn des Seins und die Struktur der Welt durch reines Denken zu erfassen“. Die indische Philosophie begann in der vedischen Ära, ca. 3000 – 1000 v.d.Z. In der vorvedischen Zeit herrschte ein frommer Götterglaube. In ihm wähnten sich die Menschen geborgen, diesseitig und jenseitig. Sie brachten im Industal eine blühende Hochkultur zustande. Den Denkern der vedischen Ära reichte der Glaube allein nicht. Ihr Antrieb war das Wissenwollen, ohne den Glauben zu leugnen. Sie betrachteten den Glauben als ein „Riesenmeer des Unwissens und des Geheimnisses“, das es zu erforschen galt. Es entstanden in jener Zeit vier Veden, die bedeutendsten philosophisch-religiösen Schriften der indischen Antike. Das Sanskritwort „Veda“ heißt Sammlung von „Vidya“, und „Vidya“ bedeutet Wissen oder Erkenntnis. Philosophie in Sanskrit heißt „Darshana“ und bedeutet „Schauen nach der Wahrheit (Satya) hinter der phänomenalen Wirklichkeit“. Auch wenn der Terminus Wissenschaft ein neuzeitlicher Begriff ist, erfüllte die frühe Philosophie das Credo einer geisteswissenschaftlichen Disziplin. Das philosophische Denken bestand aus einem strukturierten und methodischen Suchen, welches ausgelöst wurde durch ein immenses Staunen über alles Seiende, den Kosmos und die Transzendenz. Gesucht wurde der Urgrund, der sich so vielgestaltig in der Welt und der Natur offenbart, und zwar in den Sternen, den Bergen, den Flüssen, dem Wind, der Tierwelt und vor allem in dem Menschen mit seinem Denken und Handeln. Die Kardinalfragen „Woher kommt alles? Woraus entspringt alles?“ bildeten das Rätsel, das die Frühdenker zu lösen suchten. Noch etwas Spezifisches beschäftigte die Inder. Sie konstatierten, dass die Welten kreisläufig entstehen und verge- hen. Der Begriff in Sanskrit ist das Samsara. Das heißt: Nicht nur der Mikrokosmos in uns, sondern auch der Makrokosmos um uns ist einer Dauermetamorphose ausgesetzt. Unser Geist, unsere Psyche und unser Bewusstsein sind keine statischen Entitäten. Sie stehen im Dauerwechsel jeweils mit ihrem Milieu und erneuern sich unentwegt. Kreisläufigkeit und Vergänglichkeit der Naturphänomene bildeten das Grundmuster des Philosophierens. Nur aus einem unvergänglichen und zeitlosen Urquell können die vergängliche Welt und das kontingente Sein entstehen. Diesen Urquell nannten die Inder „das Brahma“, ein Synonym für den LOGOS. Die Welten und das Sein entstehen durch Brahma, sie verweilen im Brahma und entschwinden wieder ins Brahma. So erlebte Indien seine ersten Metaphysiker. Einige themenrelevante Ost-WestKulturkontakte Diese sind insgesamt spärlich verlaufen. – Als der buddhistische Kaiser Ashoka Indien im 2. Jh. v.d.Z. regierte, soll es einen Botschafteraustausch mit Ägypten und Griechenland gegeben haben. – Im ausgehenden Mittelalter waren es die Perser und Araber, die das indische Kulturgut nach Europa vermittelten. Einige Indologen haben dafür etliche Beispiele festgemacht. – Z.B. soll die indische Märchensammlung Panchatantra einen Niederschlag in der Märchensammlung der Brüder Grimm gefunden haben. Genannt werden „Der faule Heinz“ und „Die dicke Tante“. – Die indische Philosophie inspirierte einige europäische Philosophen des 18. und 19. Jh. u.a. den frühen Hegel, Schopenhauer und Nietzsche. Für Schopenhauers Philosophie der „Verneinung des Willens zum Leben“ soll angeblich das buddhistische Gedankengut Pate gestanden haben. Dies ist schwer nachvollziehbar. Denn der Buddha predigte nie eine Weltentsagung, sondern stets den goldenen Mittel- 6 weg unter Vermeidung von Extremen aller Art. Die indische und die christlich-westliche Auffassung über Leid liegen weit auseinander. Für die Inder ist das Leid nicht von Gott gewollt. Selbst Avidya, die Unwissenheit, ist eine Form des Leides, die durch Erkenntniserlangung überwunden werden muss. [Anmerkung: Falsch ist auch der im Westen herrschende Eindruck, dass die Inder vornehmlich nach dem Jenseits ausgerichtet sind und das Diesseits vernachlässigen, woraus dann die extreme Armut resultiere. In allen Epochen der Zivilisationsblüte sehen wir in Indien Freude am Leben und an der Natur, die Antrieb war für die Entwicklung von Kunst, Musik, Literatur, Tanz und Theater.] – 1818 wurde der erste Lehrstuhl für Indologie an der Uni Bonn errichtet, geleitet von dem ersten deutschen Berufsindologen August Wilhelm Schlegel, dem Bruder des Dichters Friedrich Schlegel. – Einige Indologen konstatieren, dass Richard Wagners Werke indischen Einfluss verraten, z.B. beim „Tristan“ klingt die Thematik von Wiedergeburt und Erlösung an. – Die indische Lehre von der Wiedergeburt und einem feinstofflichen Leib wurde ein Bestandteil des (a) klassischen Spiritismus (Gründer: Kardec) (b) der Theosophie (Gründer: Blavatzky und Besant) (c) der Anthroposophie (Gründer: Rudolf Steiner). – Auch C.G.Jung, dem ein Hang zur Mystik nachgesagt wurde, befasste sich mit der indischen Philosophie aus psychologischer Perspektive. Schon als kleines Kind plagte er seine Mutter, ihm Geschichten über BRAHMA, VISHNU und SHIVA vorzulesen. 1938 unternahm er eine dreimonatige sehr aktive Reise durch Indien und Ceylon. Als Ergebnis entstanden nach seiner Rückkehr in die Schweiz viele Vorträge und Publikationen. Seine diversen Abhandlungen über Buddhismus, Yoga und Meditation sind Meisterwerke interkultureller Psychologie. Samsara, der endlose Kreislauf der Kosmen Der Begriff Samsara bedeutet „endlos wiederkehrende Welten“ und weist auf den an sich substanzlosen und flüchtigen Charakter der Welt hin. Alles Existierende erleidet eine Metamorphose, d.h. einen dauerhaften Wandel, einen ständigen Übergang vom Gewordenen zum Werdenden. Dies geschieht zyklischrhythmisch und unaufhörlich wiederholend. Metaphorisch heißt es: Wenn Brahma ausatmet, erscheint aus seinem Hauch das Universum, wenn Brahma einatmet, verschwindet es. – Geradezu genial ist die Zeitvorstellung der vedischen Denker gewesen. Man dachte in infinitesimal kleinen und in infinit großen Zeitdimensionen. Es ist gewiss kein Zufall, dass in Indien die Null erfunden wurde. Die kleinste Zeiteinheit bestand aus 1/5 Sek. Man nannte sie Nimesa. Und die längste Zeitdauer ist 311,04 Billionen Menschenjahre und entspricht einem kompletten Rhythmus der Kosmen. Die Universen entstehen, durchlaufen ihre Blüte und vergehen - unaufhörlich, ohne Anfang und Ende. Wenn ein Mensch diese Unendlichkeit des Zeitraumes verinnerlicht und seine eigene Kontingenz und Vergänglichkeit erkennt, wird er erfüllt mit Demut und Gleichmut. Beides sind die Voraussetzung für die Befreiung aus den Banden der Endlichkeit. Dazu später mehr. [Anmerkung: Heutzutage glaubt doch kaum ein aufgeklärter Mensch ernsthaft daran, dass Gott uns mit dem Ozonloch, den wiederkehrenden Überschwemmungen oder Lawinenunglücken bestraft! Dahinter stehen ökologische Unkenntnis, Handlungsversäumnisse, auch Kommerzinteressen der Menschen.] Karma, der Generator der Wiedergeburten Nach indischer Auffassung beendet der Tod nicht den Fluss des Seins, sondern nur die jetzige Lebensphase. Es wird ein weiteres Leben geben, so wie es ein Leben vor dem Leben gegeben hat. Die Wiederkehr eines Individuums hängt von seinem Karma ab. Hier ein Zitat aus der philosophisch-religiösen Schrift der Hindus Bhagavada Gita: „Wie ein Mensch seine abgetragenen Kleider ablegt und neue anzieht, so legt auch die Seele die abgetragenen Leiber ab und geht in neue ein.“ – Die Karma-Lehre besagt folgendes: – Wörtlich übersetzt heißt Karma tun bzw. handeln. All unser Tun bringt Wirkungen hervor. Diese sind wiederum Ursachen für die folgenden Wirkungen. Auf den Nenner des Alltags gebracht, würde es bedeuten: Kraft erzeugt Weiter- bzw. Gegenkraft. Bezogen auf das mitmenschliche Miteinander besagt es: Gutes bringt Gutes hervor und Böses Böses. Liebe lässt die heilende Liebeskraft gedeihen und Hass die vergiftende Hasskraft. Es leuchtet ein, dass Karma nicht nur die Physis, sondern auch die Psyche beeinflusst. Denn die Gedanken, Gefühle und Motivationen lösen nicht nur äußere Wirkungen aus, sondern wirken auch auf die Psyche zurück und beeinflussen den Geistes- und Gemütszustand. Gemäß der Karmalehre sind alle Phänomene verursacht. Nichts geschieht durch Zufall. Allerdings wirkt Karma nicht nach einfachem Schema eindimensional, sprich „A verursacht B“, sondern ist komplexer Natur. Hinter jedem Phänomen verbirgt sich ein vielschichtiges Netzwerk von Ursachen (PratityaSamutpaada), auch wenn uns die Komplexität des Kausalnexus oft verborgen bleibt. Daher stellt sich für die Hindus und erst recht für die Buddhisten die Frage der Theodizee, sprich die der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt, nicht. Der Buddhismus sagt dies noch prononcierter. Nämlich: Die Dinge kommen nicht zustande aufgrund von Machtansprüchen eines höchsten Schöpfers oder eines Dämons. Nichts im Universum ist erschaffen worden. Schon der ursächliche Zustand, gemeint ist damit der sog. Urknall, war ein Netzwerk interdependenter und koexistierender Kräfte. Die Karma-Lehre ist nicht ein Prinzip der Vergeltung im Sinne der Belohnung und Bestrafung, wie es leider allzu oft fehlinterpretiert 7 wird. Karma weist auf die Eigenverantwortung aus ethischer Gesinnung hin. Karma ist auch kein blindes fatalistisches Schicksal. Das vergangene Karma formiert lediglich den jetzigen Augenblick. Der Mensch hat die schöpferische Freiheit, die Zukunft nach seinem Willen neu zu gestalten. Die Parabel der in einen Milcheimer gefallenen Maus, die die Milch zum Butterberg wirbelt, um sich zu befreien, bietet ein gutes Gleichnis des Karmawirkens. Karma-Reinkarnations-Interaktion – Gemäß der Karma-Lehre ist das Ich-Bewusstsein der Treffpunkt der gewordenen Vergangenheit und werdender Zukunft. Die Vergangenheit begann jedoch vor der Zeugung des jetzigen Daseins. Die Schrift Bhagavata-Purana führt aus, dass in den tiefen Schichten des menschlichen Bewusstseins nicht nur die verdrängten Erlebnisse dieses Lebens gespeichert sind, sondern auch die Begierden und unerfüllten Wünsche Gute und schlechte Religion Zuerst geht es um das Verhältnis von Religion und Freiheit. Eine Religion, die den Menschen nicht befreit, sondern neu knechtet, kann nur bekämpft werden. Das Zweite ist die Beziehung von Religion und Gewalt: Jede Religion muss sich fragen, ob sie etwa einen Gott hat, der letzten Endes identisch wird mit Gewaltausübung – und wie dieser Gott sich zum Leid verhält. Das Dritte ist der Zusammenhang von Religion und Ethos, und zwar nicht nur kollektiv, wobei meist den anderen gesagt wird, wie sie leben sollen, sondern individuell, indem man sich fragt, welche Konsequenzen die Religion für das eigene Handeln hat. Diese Kriterien sollten wir vielleicht von der Kirche her noch stärker in den Vordergrund rücken und uns dann auch selbst fragen, wo wir Reste von Religion im schlechten Sinne mit uns herumschleppen. - Karl Kardinal Lehmann (Quelle: „Lass die Heiligkeit weg“, Die Zeit 15.09.05) früherer Leben in Form von KarmaBestand. Das Karma ist somit eine unzerstörbare Kausalenergie. Solange das Karma andauert, ist der Mensch an sein irdisches Dasein angebunden. [Anmerkung: Dieser Ansatz der „tiefen Schichten des Bewusstseins“ wird fast 2000 Jahre später den Kern der Tiefenpsychologie von C.G. Jung bilden.] – – In der Karma-Lehre geht es auch um die trügerische Energie MAYA. Diese fördert extreme Ichbezogenheit, die nicht selten auf Kosten anderer von statten geht. Das Ergebnis ist eine Trübung des Bewusstseins und Nichterkennung der universalen Wahrheit. Diese Wahrheit besagt, dass zwischen Brahma und Atman eine Nicht-Zweiheit besteht. Anders ausgedrückt: Der Schöpfer und die Schöpfung sind eins. Noch einfacher gesagt: Gott ist in jedem seiner Geschöpfe präsent. Erweitert bedeutet es: Man soll jedem Geschöpf so begegnen, als ob man Gott selbst begegne. [Anmerkung 1: Diese hehre, auf Gott besonnene Maxime hat die Hindus jedoch nicht daran gehindert, ihre Gesellschaft in obere und untere Kasten zu teilen und Millionen ihrer Mitmenschen zu Unberührbaren zu erklären. Daran sieht man den berühmten Graben zwischen ideologisierten Idealen und der Wirklichkeit.] [Anmerkung 2: Die Buddhisten haben keine Last mit dem göttlichen Über- und Unterbau. Sie argumentieren direkt aus den humanistischen Motiven. Kein Wunder, dass in der Menschheitsgeschichte die buddhistische Kultur bis in die Gegenwart die friedlichste ist.] Gemäß soeben genannter Wahrheit ist der Einzelne ein Teil des Ganzen. Als ein ethisch-relationales Mitglied seines Gemeinwesens trägt er eine moralische Verantwortung dem Ganzen gegenüber. Wenn ein Mensch diese Weisheit erst einmal verinnerlicht hat, richtet er sein Handeln dementsprechend ein. Das Einzelwohl und das Gesamtwohl verschmelzen. Erst wenn der Egoismus durch den Altruismus vollkommen ersetzt ist, und zwar nicht aus Berechnung und Hoffnung auf Belohnung, sondern stets aus spontaner Gesinnung, ist das Karma getilgt. Moksha, Mukti oder Nirwana, die Erlösung Bekanntlich sind alle Religionsphilosophien Erlösungsphilosophien. Das Christentum z.B. will die Menschen von der Erbsünde und der Hinduismus sowie der Buddhismus möchten vom Leid des irdischen Immer-wieder-geboren-Werdens erlösen. Das eschatologische Ziel, d.h. die letztendliche Destination aller drei Philosophien ist ein „Zurück-zumUrgrund“. Das Christentum nennt dies die Wiederauferstehung nach dem Jüngsten Gericht, die Hindus die Moksha und die Buddhisten das Nirwana. Dieser Urgrund liegt jenseits der rationalen Beweiskraft, mit C.G. Jung gesagt im „kollektiven Unbewussten“. Eigentlich liegt er auch jenseits jedweden begrifflichen Vermögens, auch wenn ihn die Menschen mit so vielen Bezeichnungen einengen. Für die Hindus und die Buddhisten tritt dieser Status der Erleuchtung schon während des letzten Daseins ein. Dies wird erkennbar an der immens gütigen Ausstrahlung des erleuchteten Menschen. Nur wenige Menschen erlangen die Erleuchtung. Befreit von der Enge der Raumzeit wird für sie die Metamorphose aufgehoben und damit auch der Zwang der Wiederverkörperung. Der Erleuchtete lebt bis zu seinem Tod im Dienst der Mitmenschen und der Mitgeschöpfe und geht nach seinem Tod in das Nirwana ein. Der Überlieferung zufolge war der Buddha in der Lage, einen lückenlosen Bericht über seine früheren Geburten zu geben. Der jetzige noch lebende Dalai Lama ist ein weiteres Beispiel. Das Nirwana ist kein Absturz in ein Nichts, wie oft fehlinterpretiert wird. Der Buddha betonte, dass das Nirwana jenseits aller Dialektik und allen Denkens sei. Es ist i) die Aufhebung allen Leids, aller Begierden und Leidenschaften, ii) die Überwindung weltlicher Substanzlosigkeit und Kontingenz, iii) die Erlangung einer unendlichen Demut, aus der spontanes Mitgefühl für die belebte Welt und Verantwortung für die unbelebte Welt erwächst. 8 Fazit Die Karmalehre ist ein formatives Prinzip. Ihre ontologische Grundstruktur ist die allumfassende Inter-Relationalität. So wie man handelt, gestaltet man sich selbst, und dies hat Auswirkung auf das Ganze. Somit ist Karma eine ethische Ordnung. Die der Karmalehre inhärente kosmische Interdependenz vermeidet ein individualistisches Weltbild und propagiert Solidarität unter allen Wesen. Karma weist einerseits auf die Dauermetamorphose der Welt und somit ihre Geschichtlichkeit und andererseits auf den Unterschied zwischen dem Absoluten und dem Relativen bzw. Gott und Welt. Brahma ist Herr des Karma und als solcher die einzige transkarmische Realität, eben das Absolute. Während Leibnitz mit seiner Aussage „Unsere Welt sei die beste aller möglichen“ eine Lobpreisung des Schöpfers suggeriert bzw. den Menschen Mut machen will, sich mit dem unvermeidlichen Leid abzufinden und sich zu bescheiden, weist die Karma-Lehre den Weg zur Aufhebung des Leides. Sie unterstellt dem Menschen eine sittliche Kraft, die er selbst gewollt und selbstverantwortlich mobilisieren kann und muss. Die erneuten Wiedergeburten sollen dem Menschen zu seiner moralisch-spirituellen Vervollkommnung und Läuterung der Seele, also zur Würdigerweisung für eine eschatologische Verschmelzung mit Gott stets eine neue Chance geben. Der von der Maya ver- Christen befürchten Einschränkungen Die christlichen Kirchen Indiens befürchten, dass eine Gesetzesnovelle zur Kontrolle ausländischer Spenden ihre Arbeit einschränken könnte. Die Gemeinnützigkeit vieler Projekte könnte in Frage gestellt werden, sagte der Präsident der indischen Bischofskonferenz, Erzbischof Oswald Gracias. Er fordert objektive Kriterien. Der Generalsekretär des ökumenischen Rates der Christen, John Dayal, äußerte die Sorge, dass Hindu-Fundamentalisten das Gesetz gegen Christen anwenden könnten. (Quelle: Kontinente 5/2005) blendete Mensch schafft es in einem einzigen Leben nicht, so die Ansicht der Inder. Die Moksha- und NirwanaAnschauung, gekoppelt mit der Wiedergeburtlehre ist eine vergleichbare Hoffnungsgrundlage zu jenseitigem Überleben wie die christliche Wiederauferstehung nach dem Jüngsten Gericht. C.G.Jung meint: „Psychologisch gesehen, sind beide unterschiedliche Manifestationen des Unbewussten im Menschen. Beide wollen gegen die Todesfurcht angehen. Ihr Wahrheitsgehalt ist eine direkte Funktion der Glaubensintensität.“ Nun ist das menschliche Bewusstsein mit allen seinen Ebenen, einschließlich des Unterbewussten und des Unbewussten, ein einzigartiger und wundersamer Rezeptor und Resonanzkörper sowohl für Ratio als auch für Emotio. Darin keimen nicht nur unsere diesseitigen, sondern auch alle unsere metaphysischen Hoffnungen und Überzeugungen. Der moderne Fortschritt in den positiven Wissenschaften, wie in der Neurowissenschaft, der Kognitionspsychologie, der Molekularbiologie, der Gentechnologie, etc. etc. führt uns unentwegt vor, dass, je mehr Wissen wir erlangen, umso größer das „Meer des Unwissens des Geheimnisses“ um uns wird. Schließen möchte ich mit einem Satz von Prof. C.A. Scheier, Seminar für Philosophie, TU-Braunschweig: „Wenn alle unsere Rätsel gelöst sein werden, wird das Geheimnis immer noch bleiben.“ (Dieser Artikel ist eine kurzgefasste Version eines Vortrages des Autors im Ästhetik-Kolloquium, einer gemeinsamen Veranstaltung der Institute für Psychologie und Philosophie der TU-Braunschweig am 02.12.2004) Wer sind die Adivasi? Das Heft 2/2005 von „Bedrohte Völker“, herausgegeben von der „Gesellschaft für bedrohte Völker“, hat als Schwerpunktthema „Adivasi in Indien. Vergessen, verdrängt, ruiniert.“ Nachfolgend drucken wir Auszüge aus einem Beitrag mit dem Titel: „Inbegriff der kulturellen Vielfalt: 250 Sprachen“ ab. Das Heft hat viele interessante und gut recherchierte Beiträge über die Situation der Adivasi in Indien. Das Heft kann bestellt werden bei: Gesellschaft für bedrohte Völker, Postfach 2024, 37010 Göttingen, Tel: 0551-49 906-0, E-Mail: info@gfbv.de - Die Redaktion Die heutigen Adivasi sind Nachfahren jener ersten Bewohner Indiens – Hirtennomaden, Fischer, Wanderfeldbauern, Jäger und Sammler –, die im Zeitraum 2.500 bis 1.500 vor unserer Zeitrechnung durch kriegerische Hirtenvölker verdrängt wurden. Diese Hirtenvölker nannten sich Arya, die Edlen. Mit den Arya kam das Kastensystem als gesellschaftliche Ordnung. Ein Teil der damaligen Ureinwohner wurde unterworfen und als „Unberührbare“ oder Kastenlose (Dalits, Scheduled Castes) auf der untersten Stufe integriert. Die anderen Adivasi-Gemeinschaften zogen sich in unwegsame Berg- und Waldregionen zurück. Die Adivasi haben heute einen Anteil von etwa 7,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung Indiens. Dalits und Adivasi zusammengenommen machen knapp ein Viertel der ungefähr 1,1 MilliardenBevölkerung Indiens aus. Die Adivasi verteilen sich auf fast alle Bundesstaaten einschließlich der pazifischen Inseln Andamanen und Nikobaren. Dennoch konzentrieren sich Adivasi – entsprechend ihrer Flucht vor der internen Kolonialisierung in topografisch vorteilhafte Gebiete – in den Bundesstaaten Jharkhand, West-Bengalen, Orissa, Madhya Pradesh, Chattisgarh, Maharashtra und Andhra Pradesh (der so genannte Tribal Belt mit über 50 Prozent Anteil) sowie in Gujarat und Rajasthan. Die Anzahl der in Städten lebenden Adivasi wird auf über 10 Millionen geschätzt. Sie besiedeln ungefähr ein Fünftel der Fläche Indiens. Der Begriff Adivasi legt den Gedanken an eine einheitliche Kultur nahe. Davon kann jedoch allein aufgrund der Vielfalt von geschätzten 250 eigenständigen Sprachen keine Rede sein. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen lassen erahnen, wie verschieden die politische und soziale Organisation ausfallen 9 muss. So zählen die Onges auf den Andamanen wenige Hundert, die Birhors in Jharkhand zwischen ein- und zweitausend. Demgegenüber werden die Frau vom nomadischen Volk der Lambadi Gonds auf 5 Millionen, die Santals auf 4 Millionen, die Bhils auf 3,5 Millionen oder die Khonds auf 1,2 Millionen Angehörige geschätzt. In den südlichen Bundesstaaten Karnataka, Kerala und Tamilnadu lebt noch eine Vielzahl an kleineren Jäger- und Sammlergemeinschaften. Die Bodos und Nagas im Nordosten Indiens verstehen sich als Angehörige von „Nationalitäten“. Die Nagas unterstreichen über diesen Begriff auch ihren Anspruch auf staatliche Eigenständigkeit. Alle verbindet die Abwehr gegen die Entwurzelung und kulturelle Hegemonie der Hindu-Gesellschaft wie gegen die schleichende Entrechtung und insbesondere die Verweigerung der historischen Rechte an Land, Wald und anderen Ressourcen auf ihrem jeweiligen Territorium. (tr) Einmal erschrak mich eine kleine Maus mit Präfixen und Suffixen. Als ein altes haarloses allgemeines Nomen kann ich nicht im Lehrbuch stehen. Es ist dann besser in einer Geistergeschichte oder einem Horrorfilm zu leben, alle erschreckend. Gedichte Drei Gedichte Satchidanandan Genesis (Großmutter) Meine Großmutter war verrückt. Die Umnachtung steigerte sich zum Tode. Mein Onkel, ein Geizhals, packte sie ein in Heu und hob sie in der Speisekammer auf. Gereift und trocken zerplatzte meine Großmutter und flog als Samen durch das Speisekammerfenster. Sonne kam, Regen kam, die Verrücktheit meiner Mutter sproß auf, Ich. Wie sollte ich denn nicht schreiben Gedichte über Affen mit Zähnen aus Gold? Stottern Stottern ist keine Behinderung Es ist eine Art zu sprechen. Stottern ist das Schweigen, das fällt zwischen Wort und Bedeutung, gerade wie die Lahmheit das Schweigen ist, das zwischen Wort und Tat fällt. Ausgezeichnet Dr. K. Satchidanandan ist einer der bedeutendsten Dicher der Malayalam-Sprache. Er wird als der Wegbereiter der Modernität in der Malayalam-Dichtung betrachtet. Außerdem ist er indienweit bekannt als ein namhafter Literaturkritiker. Seit einigen Jahren arbeitet er als Generalsekretär der zentralen Literatur-Akademie Indiens in New Delhi. Satchidanandan war im September dieses Jahres Gast beim Literaturfestival Berlin. Die folgenden Gedichte wurden aus diesem Anlass von Prof. Dr. Annakutty Findeis aus dem Original Malayalam ins Deutsche übertragen. Katze Ging Stottern der Sprache voraus oder folgt es? Ist es nur eine Mundart oder Sprache selbst? Diese Fragen lassen den Sprachforscher stottern. Den Kontakt mit Geistern und Magiern habe ich schon längst abgeschnitten. Jedoch Grammatiker und Linguisten lassen mich scheinbar nicht los. Mit jedem Stottern bringen wir ein Opfer dem Gott der Bedeutungen. Wenn ein ganzes Volk stottert, wird Stottern seine Muttersprache; so wie es jetzt ist mit uns. Auf alle Viere falle ich, egal in welcher Sprache, das ist bekannt. Gott auch muss gestottert haben, als er den Menschen schuf. Deshalb bergen alle Menschenworte verschiedene Bedeutungen. Deshalb, alles, was er sagt, von seinen Gebeten zu seinen Geboten, stottert, wie das Gedicht. Ist mein Kopf verstrickt in Konjunktionen, lässt er sich herausziehen trotz Schmerzen; Um den Schwanz aus den Possessiva zu befreien, reichen nichtmal aus neun Geburten. Aber Präpositionen vor Augen erzittert mein Schnurrbart. 10 Amitav Ghosh (Indien) hat für seinen Roman ¸Hunger der Gezeiten’ (Blessing, München 2004; Übers. Barbara Heller) in der Sparte ¸Bestes Buch englischer Sprache’ den indischen Hutch Crossword Book Award 2004 erhalten. Die Auszeichnung gilt als bedeutendste nichtstaatliche Auszeichnung des indischen Literaturbetriebs, mit der indische Autoren geehrt, gefördert und bekannt gemacht werden sollen. Der Laureat Ghosh, Autor der Romane ¸Calcutta Chromosom’ und ¸Glaspalast’, bereits mehrfach mit Preisen bedacht, lässt seinen prämierten, großangelegten Roman in den bengalischen Sundarbans spielen, im Mündungsdelta des Ganges. Er verknüpft zwei Erzählstränge miteinander, die Forschungsreise einer Meeresbiologin und die Geschichte eines Geschäftsmannes aus Delhi, der sich in sie verliebt, während er das prekäre Verhältnis von Mensch und Natur thematisiert; nicht zuletzt spielt auch ein einheimischer Fischer eine Rolle. In der zweiten Kategorie des Preises, der besten literarischen Übersetzung aus einer indischen Sprache, erhielten die Auszeichnung der Autor Chandrasekhar Rath und der Übersetzer Jatindra Kumar Nayak für den aus dem Oriya ins Englische übertragenen Roman ¸Astride The Wheel’ (Yantraudha). Oriya wird von ca. 35 Mio. Menschen als Muttersprache gesprochen, die überwiegend im indischen Orissa leben. Es handelt sich um eine von 13 offiziell anerkannten Sprachen Indiens und wird mit einem eigenen Alphabet geschrieben. Information: www.hutch.co.in/corpsite/home/crossword.asp (Quelle: Literaturnachrichten, Sommer 2005) Interview Aktuell Eine erschütternde Erfahrung, eine faszinierende Idee und einige mutige Schritte in die Zukunft Elisabeth Kreuz Gründerin von „Indienhilfe e.V.” Elisabeth Kreuz erzählt im folgenden Interview, wie sich eine kleine Initiative mit bescheidener Zielsetzung in den letzten 25 Jahren in eine tatkräftige entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisation entwickelte. Das Interview wurde aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Indienhilfe e.V in diesem Jahr von Jose Punnamparambil geführt. MEINE WELT gratuliert Frau Elisabeth Kreuz und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die großen Leistungen und den unermüdlichen Einsatz zu Gunsten der Marginalisierten und Entrechteten in Indien. - Die Redaktion Meine Welt: Indienhilfe e.V. ist gerade 25 Jahre alt geworden. Mit welchem Grad der Zufriedenheit blicken Sie auf Ihre Arbeit zurück? positiven Veränderungen für Menschen, die vorher oft in großem Elend und Verzweiflung gelebt haben, sind es, die unserer Arbeit den Sinn verleihen, der uns beflügelt, weiter zu machen und nie locker zu lassen in unseren Bemühungen um mehr Gerechtigkeit. im Rahmen ihrer Arbeit, ihrer beruflichen Verantwortung tagtäglich gefällt werden, wo ebenfalls immer noch kaum auf Nachhaltigkeit und ungerechte Auswirkungen vor allem in der Dritten Welt Elisabeth Kreuz: Einerseits bin ich geachtet wird. Unzufrieden bin ich mit glücklich darüber, dass die Indienhilfe meiner Regierung in unserem auch heute extrem wohlhabenden Deutschsich seit 25 Jahren ihren Zielen treu bleibt, indem sie sich ständig verändert, Manchmal bin ich aber auch total unzu- land, dass sie es immer noch nicht indem sie Schwerpunkte verlagert, sich frieden - nämlich dann, wenn ich meine schafft, 0,7 % des BSP für Entwickqualitativ weiterentwickelt in einem Trauer und meine Wut einmal nicht ver- lungsmaßnahmen bereitzustellen. All fortwährenden lebendigen Prozess. dränge über die Nonchalance, mit der das lässt mich in schwachen Stunden am Sinn meiner Arbeit fast verzweifeln. Neben den langjährigen Aktiven teils noch aus den Gründungstagen Unzufrieden bin ich mit meiner Alle Bemühungen der unzähligen kommen auch immer wieder Neue Regierung in unserem auch heute Initiativen der Solidaritätsbewegung in Deutschland, von denen die dazu, vor allen Dingen auch immer extrem wohlhabenden Deutschland, Indienhilfe ja nur eine ist, sollen wieder Kinder und Jugendliche, die dass sie es immer noch nicht schafft, nicht mehr bewegt haben? sich gemeinsam mit uns engagie0,7% des BSP für Entwicklungsren. Selbstbestimmtheit, Kreativität maßnahmen bereitzustellen. Meine Welt: Wenn ich mich richtig und Spontaneität und die Liebe zur erinnere, haben Sie zusammen mit indischen Kultur, der Spaß daran, ein paar anderen Freunden die die Menschen in Indien mit denen bei uns in einen Dialog zu bringen, prä- die privilegierten Menschen in der indu- Indienhilfe vor 25 Jahren gegründet. gen neben einer zunehmenden Profes- strialisierten Welt über das Elend ande- Was war damals die Hauptmotivation sionalisierung die Arbeit bei der Indien- rer hinwegsehen und nur mit größten für die Gründungsmitglieder, so einen hilfe – es bleibt für alle Beteiligten eine Anstrengungen dazu bewegt werden Verein ins Leben zu rufen? spannende Geschichte! Und das wiegt können, im Allerkleinsten etwas zu verdie minimale Bezahlung der hauptamt- ändern. Sei es - im bürgerlichen Alltag – E. Kreuz: Neben dem allgemeinen entlichen Arbeit auf. durch ein paar Cent mehr, die sie für wicklungspolitischen Interesse und dem einen fairen Kaffee auf den Tisch legen, Bedürfnis nach mehr weltweiter GerechZufrieden bin ich mit den sichtbaren die Entscheidung, lokale Lebensmittel tigkeit war es vor allem die ErschütteErfolgen, die unsere Partnerorganisatio- den energieintensiv angeflogenen exoti- rung über das Ausmaß des Elends, das nen durch ihre Aktivitäten in Hunderten schen vorzuziehen, sich mal über eine Angelika (meine Schwester) und ich als von Dörfern Westbengalens und Orissas Kampagne, z.B. gegen Kinderarbeit Studentinnen bei unserem Arbeitsauffür viele Tausende von Menschen er- oder gegen Personenminen oder was enthalt bei Mutter Teresa in deren Einreicht haben und weiter erreichen. Diese auch immer, zu informieren und dann richtungen in Kalkutta und auf dem _____________________________________________ auch eine Unterschrift zu leisten, einen Land kennen gelernt hatten, und das Frau Elisabeth Kreuz ist 1954 in Ammersee, Starnberg Protestbrief zu schreiben, mal auf einen Ausmaß des Überflusses, des Reichtums (Bayern) geboren. Sie studierte Medizin in München und klimaverändernden Urlaubsflug zuguns- und der mitleidlosen Ich-Sucht, die uns schloss das Studium 1984 ab. 1980 gründete sie die ten eines näher gelegenen Erholungsor- nach unserer Rückkehr erst so richtig „Indienhilfe e.V” zusammen mit einigen anderen. Seitdem steht die engagierte Arbeit für diese kleine NGO im tes zu verzichten. Oder sei es im Bereich bewusst wurden. Es war der KulturZentrum ihres Lebens der Entscheidungen, die von Menschen schock, den wir bei der Rückkehr nach 11 Deutschland – und NICHT in Indien – erlebten. Die Gewissheit, nicht einfach so weitermachen zu können, Verantwortung zu tragen, die Erkenntnis, dass wir etwas tun KÖNNEN und daher auch tun MÜSSEN. Meine Welt: Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit hat sich in den letzten Jahren merklich verschoben. Statt auf Informationsarbeit in Deutschland zu Gunsten Indiens konzentrieren Sie sich seit einiger Zeit auf Projektarbeit in Kalkutta und anderen Orten in Westbengalen. Warum diese Schwerpunktverlagerung? E. Kreuz: Das ist nicht ganz richtig. Ganz konkrete Entwicklungsprojekte zur Selbsthilfe haben wir von Anfang an unterstützt - dies war immer die vorrangige Säule unserer Arbeit. In den letzten 5 Jahren haben wir diese Arbeit stärker professionalisiert und seit Juli 2004 haben wir ein eigenes Büro in Kalkutta mit einem professionellen, sehr engagierten Koordinator & Projektberater, einem vereidigten Wirtschaftsprüfer, einer Projektreferentin und einem Sekretär, der gleichzeitig Referent für die Betreuung der Partnerschulen ist. Von Anfang an war es aber für die Indienhilfe wesentlich, dass die Engagierten, ob ehren- oder hauptamtlich und immer aus der eigenen Tasche, die Projektgebiete regelmäßig besuchten und selbst die Projektarbeit und ihre Wirkungen in Augenschein nahmen. Das bleibt auch so. Verändert hat sich aber, wie von Ihnen bemerkt, die Ausrichtung unserer Inlandsarbeit. In den 80-er Jahren gab es noch kein Internet und daher in Deutschland wenig Zugang zu Informationen aus den sozialen Bewegungen Indiens. In dieser Zeit machten wir es uns zur Aufgabe, bundesweit gemeinsam mit anderen indienorientierten Gruppen (z.B. Südasienbüro, Deutsche Kalkutta Gruppe) solche Informationen hier zu verbreiten. Die Indienhilfe gab z.B. den Indienrundbrief heraus, eine immer umfangreicher werdende Schrift (zuletzt 1989 ein kiloschwerer Reader zum Thema „Wälder und Ureinwohner“), die unter anderem von fast allen IndienreferentInnen bis hinauf zur KfW und GTZ abonniert wurde. 1985 organisierten wir beim BUKO in Freiburg einen Workshop über Ökologiebewegungen Indiens, u.a. den Widerstand gegen den Narmada-Staudamm. Die Indienhilfe vertrieb für einige Jahre die Zeitschrift Down to Earth des renommierten Centre for Science and Environment, Delhi, in Europa, bis sie Fuß gefasst hatte und CSE den Vertrieb von Delhi aus selbst organisieren konnte. Wir veröffentlichten Vandana Shiva als Vertreterin von „People’s Science” und empfahlen sie weiter, als sie noch recht unbekannt war, in den 80-er Jahren. Anfang der 90-er Jahre beschlossen wir jedoch, unsere Inlandsarbeit regional auszurichten, die Menschen in unserer unmittelbaren Nähe - in Herrsching, im Landkreis Starnberg, im Einzugsbereich München, in Bayern - für Indien und für Fragen der Einen Welt zu interessieren und hier konkrete Veränderungen zu bewirken. Heute sind wir als Mitglied des Eine-Welt-Netzwerks Bayern eine Unser besonderes Profil liegt in der Schul-Partnerschaftsarbeit. anerkannte bayerische Eine-Welt-Station mit unserem gut ausgestatteten Eine-Welt Medienzentrum, das natürlich einen besonderen Schwerpunkt bei Indien hat. Unser besonderes Profil liegt in der Schul-Partnerschaftsarbeit. Die Gemeinde Herrsching hat heute eine offizielle Städtepartnerschaft mit der Kommune Chatra bei Kalkutta, und wir betreuen 6 Schulpartnerschaften zwischen Schulen im Raum München und Schulen in Westbengalen und Orissa. Partnerschaft bedeutet hier einen Dialog auf Augenhöhe, gemeinsame Arbeit an Unterrichtsprojekten, gemeinsame Workshops (z.B. über Agenda 21 und Schule, Jan. 2003 in Chatra), Kennenlernen der gegenseitigen Kulturen und Religionen, der Geschichte, Geographie, Wirtschaftsbeziehungen, gegenseitige Lernund Begegnungsreisen, und auch bei Bedarf natürliche Solidarität – so wurde z.B. der Aufbau von 12 neuen Klassenzimmern an der Boys High School Chatra innerhalb eines Jahres von der Volksschule Herrsching, dem ChristophProbst-Gymnasium Gilching und weiteren Initiativen aus der Herrschinger Bürgerschaft durch die Spende von fast 40.000 EUR ermöglicht. Es ist unser Ziel, in den nächsten Jahren Nord-Süd-Schulpartnerschaften zwi- 12 schen bayerischen und bengalischen Schulen auch auf der Ebene der Lehrerausbildung und Curricula-Gestaltung fest zu verankern. Die Indienhilfe hat in Kalkutta einen Koordinator und einen Referenten (s.o.) für die Schulpartnerschaften. Sie vermitteln vor Ort unser Konzept, das eben nicht nur auf der Befriedigung materieller Bedürfnisse beruht, organisieren gemeinsame Workshops von SchülerInnen und Lehrkräften aus den Partnerschulen, kümmern sich um den geregelten Ablauf der Brieffreundschaften usw. Bei einem solchen Workshop wurden z.B. Wünsche an die deutschen Partner zur Gestaltung eines „Germany Days” zusammengetragen. Eine von der Indienhilfe betreute Gruppe von etwa 30 Reisenden wird im Januar/Februar Chatra und die Entwicklungsprojekte der Indienhilfe besuchen, und sie werden viele Materialien und Objekte aus Deutschland zur Gestaltung eines „Germany Days“ mitbringen. Sie selbst werden verteilt auf alle Partnerschulen in Indien an diesem Tag als „resource persons“, als „leibhaftige Deutsche“ für die SchülerInnen zur Verfügung stehen. In diesen Tagen haben wir erstmals indische Filmtage in Kooperation mit dem Herrschinger Programmkino „Breitwand” organisiert, mit den Filmen „Sanyogita“ „The Bride in Red, Black, Swades“ „We the People“. Nach wie vor veröffentlichen wir regelmäßig die kommentierten Indien-Leseempfehlungen mit Literatur aus und über Indien – demnächst gibt es wieder ein aktuelles Ergänzungsheft bei unserem Verlag Durga Press zu bestellen. Bei der lokal-regionalen Arbeit ist uns die Zusammenarbeit mit der lokalen Agenda 21 sehr wichtig. Wir haben schon viele Projekte gemeinsam angestoßen, ob es die Förderung des fairen Handels ist (die IH betreibt auch einen Weltladen in ihren Räumlichkeiten), die Propagierung von Recyclingpapier, der bewusste Umgang mit Textilien und Altkleidern, Ausstellungen und Veranstaltungen, eine große Kundgebung mit Menschenkette am Ammerseeufer anlässlich des zweiten „White Band Day“ am 10. September im Rahmen der Kampagne „Gib deine Stimme gegen Armut”, oder der Anstoß zu einem Beschluss des Herrschinger Gemeinderats am 19. September 2005, keine Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit mehr zu kaufen. Meine Welt: Nach 25-jährigem persönlichen Einsatz zu Gunsten der Marginalisierten und Entrechteten in Westbengalen, haben Sie heute den Eindruck, dass sich dort etwas bewegt, substantiell verändert hat? E. Kreuz: Ja, durchaus. Der wirtschaftliche Aufschwung ist unübersehbar: Es entstehen neue Arbeitsplätze, die Infrastruktur wird auf- und ausgebaut - z.B. sind die Menschen heute telefonisch miteinander verbunden, während in den 80-er Jahren wichtige eilige Informationen vielerorts nur per Boten überbracht werden konnten, selbst das Internet breitet sich allmählich bis in die Dörfer aus, es gibt Fernsehen auch in abgelegenen Gegenden, viel mehr Kinder als früher gehen zur Schule, auch aus den Gruppen der Adivasi und Dalits, und haben die Möglichkeit, aufzusteigen. Der Flughafen ist besser mit der Welt verbunden, und der Verkehr in Kalkutta wird durch neue Fly-overs und eine Metro am Fließen gehalten. Sogar die Luft in Kalkutta hat sich zuletzt etwas verbessert. Die Armut ist nicht mehr fast flächendeckend, sondern man muss sie in ihren Nischen aufsuchen, wo allerdings immer noch großes Elend anzutreffen ist. Auch die Armen, die auf den Bürgersteigen der Megacity leben, sind immer noch anzutreffen. Aber sie scheinen – trotz des Bevölkerungszuwachses – nicht mehr geworden zu sein. In der gegenwärtigen Situation des raschen Wachstums und der rasanten gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen scheint es uns ganz besonders wichtig, in den Unterricht an den indischen Schulen auch Werteerziehung stärker einfließen zu lassen, Verantwortungsgefühl als Global Citizens zu wecken und Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge und die Überlebensfragen der Menschheit zu wecken. Derzeit unterstützen wir z.B. ein Projekt, bei dem unter Anleitung durch ökologisch und pädagogisch geschulte Experten alle unsere Partner in Westbengalen sog. Öko-Clubs an Schulen in ihrem Projektgebiet initiieren. Die 12bis 14-jährigen Schüler und Schülerinnen lernen, Ökosysteme ihrer Umgebung zu erforschen und die Ergebnisse der Dorfbevölkerung zu präsentieren. Sehr ermutigend finden wir die Bestrebungen der Regierung vonWestbengalen, die Zusammenarbeit von NGOs, Selbsthilfegruppen und Selbstverwal- tungseinrichtungen (Panchayat-Institutionen) bei lokaler Problemanalyse und Entwicklungsplanung und deren Durchführung nicht nur zu fördern, sondern zu institutionalisieren. Die Arbeit unserer Partner kann durch diese Synergieeffekte eine viel größere Wirkung erzielen. Derzeit unterstützenwir z.B. ein Projekt, bei dem unter Anleitung durch ökologisch und pädagogisch geschulte Experten alle unsere Partner in Westbengalen sog. ÖkoClubs an Schulen in ihrem Projektgebiet initiieren. Meine Welt: Was haben Sie aus Ihrer Arbeit in Indien gelernt? Können sich die Armen in einer Demokratie behaupten, wie sie in Indien vorhanden ist? E. Kreuz: Aus der Arbeit in Indien haben wir gelernt, uns selbst und unsere Welt hier in Deutschland mit anderen Augen zu sehen. Wir haben sehr viel Geduld gelernt; wir denken heute in Generationen. Wir haben gelernt, dass Entwicklungsarbeit nicht aus Projekten besteht, sondern dass sie gelebtes Leben ist – sowohl Leben der Mitarbeiter in Indien wie in Deutschland als auch Leben der Armen; dass unsere Beiträge nur einen kleinen Ausschnitt aus ihrer Gesamtlebenswirklichkeit darstellen, dass Entwicklung nicht einfach planbar und machbar ist. Dies hat uns Bescheidenheit gelehrt. Wir haben auch gelernt, dass Geld verführerisch ist; es verleitet zu Machtgefühlen, aber auch zu Missbrauch. Wachsamkeit und Reflexion, Transparenz und Dialog sind unsere Gegenmittel. Völlig auf sich allein gestellt können die Armen sich nicht behaupten, weder in Indien noch sonstwo auf der Welt, sonst wären sie schließlich nicht arm. Demokratie ist natürlich eine wichtige Grundlage, aber es bedarf – und zwar lokal, national und international – der politischen Parteien, der zivilgesellschaftlichen und religiösen Gruppen und der mitfühlenden Einzelpersonen, die vor allem aus dem Mittelstand kommen, die sich der Sache der Armen annehmen und auf der ihnen angemessenen Ebene dafür arbeiten, dass auch die Armen mit ihren Bedürfnissen gehört werden und die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen gerecht und fair geregelt werden. Leserbrief Hallo Sula! Ich habe mit großem Interesse die Geschichten, Porträts, und Interviews gelesen. Ihr Gespräch mit Heidemarie Pandey verdeutlichte einmal mehr, dass es nicht leicht ist, in zwei Kulturen zu leben! Aber mit viel Rücksicht und Einfühlungsvermögen lernt man auch, die Lebensgewohnheiten anderer Völker zu lieben, und stellt dabei fest, dass man davon noch profitieren und daraus lernen kann! Menschen wie Gandhi, Tagore und Vandana Shiva wird es Gott sei Dank immer wieder geben! Ich denke da z.B. an Mutter Theresa, Martin Luther King oder Albert Schweizer. Wenn man vom Tod solcher Menschen erfährt, meint man, die Welt wäre ein Stück ärmer! Dann jedoch stellt man fest, dass deren Erbe von anderen Menschen weitergeführt wird! Einen Orden der Mutter Theresa wird 13 es wohl immer geben, genauso wie die Albert Schweitzer-Kinderdörfer! Gott lässt immer Menschen wachsen, die geistig wertvolles Erbe weiterführen! Auch Ihre Geschichte über den Dandi Marsch ist sehr bezeichnend dafür, dass unter dem Einfluss vieler doch immer etwas bewegt werden kann! Dass Günter Grass schon das zweite Mal in Indien war, wusste ich nicht. Als Schriftsteller muss er sich jedoch für vieles interessieren. Wie in Ihrer Zeitschrift geschrieben, bringt er dieses Erleben auch in seine Romane mit ein! Ihre Zeitschrift zu lesen, bedeutet für mich, voll konzentriert zu sein. Es ist nicht so, wie bei meinen „Klatschzeitschriften“, die man ohne viel zu denken einfach überfliegen kann! Sehr lehrreich für mich! - Jutta Weikert Mannheim Bericht „We are your children, not for sale!“ Workshop über rechtliche Theorie und bedrückende Wirklichkeit auf dem Subkontinent Vom 24. bis einschließlich 26. Oktober 2005 kamen im Karl Kübel Institute for Development Education (www.kkid. org) im südindischen Coimbatore weit über 60 Vertreter verschiedener indischer Entwicklungsorganisationen zusammen, um gemeinsam über Ausmaß, Hintergründe und Möglichkeiten der Bekämpfung von Kinderhandel in Indien zu diskutieren. Der Workshop fand auf Initiative der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, Bensheim (www. kkstiftung.de), und ihrer indischen Partnerorganisation PRACHODANA statt. Nachdem im letzten Jahr bereits ein Workshop zum Thema „Kinderarbeit in Indien“ stattfand, wandte man sich in diesem Jahr einem der damit leider oftmals unweigerlich verknüpften Phänomene zu: dem kommerziellen Handel mit Kindern jeglichen Alters. Neben der Analyse der Hintergründe von Kinderhandel zielte der Workshop darauf ab, ein gemeinsames Handlungskonzept sowie individuelle projektorientierte Ansätze zur Bekämpfung von Kinderhandel zu entwickeln. Zahl der jährlich weltweit gehandelten Kinder auf 1,8 Millionen beziffert Der Handel mit Menschen ist ein weltweit aktuelles Phänomen, das von zunehmender Dynamik und Kommerzialisierung gekennzeichnet ist. Nach dem illegalen Handel mit Drogen und Waffen nimmt der Handel mit Kindern weltweit den dritten Rang ein. Das International Labour Office (ILO) schätzt die Zahl der jährlich weltweit gehandelten Kinder auf 1,8 Millionen. Selbst in Europa, und somit auch in Deutschland, ist diese Form der organisierten Kriminalität gerade auch – aber nicht nur – in größeren Städten anzutreffen. In unseren Breitengraden sind es vor allem Frauen und Mädchen aus Osteuropa und den Staaten der GUS, die von den Medien immer wieder als Opfer von Menschenhändlerbanden identifiziert werden. Viele von ihnen wurden mit falschen Versprechun- gen in den Westen gelockt und fristen nun ein Dasein als illegale und somit völlig rechtlose Prostituierte. Ähnlich verhält es sich einige tausend Kilometer weiter südöstlich, in Indien. Verlässliche Zahlen über die Menschenströme, die von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, von kleinen Dörfern in die Nachbargemeinden, Kleinstädte, aber gerade auch in die Großstädte Chennai (Madras), Mumbai (Bombay), Kolkata (Kalkutta) und New Delhi wandern, gibt es nicht. Tatsache ist, dass Indien nicht nur das Herkunftsland vie- Nach dem illegalen Handel mit Drogen und Waffen nimmt der Handel mit Kindern weltweit den dritten Rang ein. ler gehandelter Kinder und Erwachsener ist, sondern gerade der „Binnenhandel“ derzeit floriert. In den Medien – und somit in der Öffentlichkeit – ist Zwangsprostitution der bisher am meisten beachtete Aspekt des Menschenhandels. Hier lassen sich noch die meisten, zumeist erschreckenden, Details entdecken. So gehen einige in diesem Bereich durchgeführte Studien davon aus, dass 2025 ein Fünftel aller indischen Mädchen und jungen Frauen sich zwangsweise prostituieren müssen. Die Tatsache, dass auch immer mehr Jungen in diesem Bereich arbeiten müssen, findet hier noch keinen Niederschlag. Doch der Handel mit Mädchen, Jungen und jungen Frauen ist nur ein erschreckendes Detail dieses allumfassenden Netzwerks. Der weitaus größte Teil der ver- und gekauften Kinder findet sich in der in Indien noch weit verbreiteten Schuldknechtschaft wieder – Kinder müssen die von ihren Eltern aufgenommenen Kredite abarbeiten. Der Zeitraum, der dafür beansprucht wird, liegt dabei ganz im Ermessen des Geldgebers. 14 Kinderhandel wird von professionellen Banden kontrolliert Die Bereiche, in denen Kinder aus diesem Grund tätig werden müssen, sind ganz unterschiedlich. Sie reichen vom Einsatz als gewöhnliche Haushaltshilfen über Arbeiten im handwerklichen Bereich bis hin zum Einsatz im Straßenbau, Bergbau, Drogenhandel, in der Bettelei, etc. Kinderhandel zum Zweck der Zwangsverheiratung, der Adoption, der Nutzung von Kindern für den höchst lukrativen Organhandel und der Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten sind andere Bereiche dieses kriminellen Geschäfts. Ein weiteres Extrem im Kinderhandel, von dem Dr. Niranjanaradhya V.P. aus Bangalore berichtete, ist es, Kinder aus Indien bei Kamelrennen in den Golfstaaten einzusetzen, was für die Kinder meist tödlich endet. Diese Auflistung, die bei weitem nicht den gesamten Bereich des Kinderhandels abdeckt, zeigt die Dimension und die hohe Dynamik, die sich in diesem zumeist über professionell organisierte Menschenhändlerbanden kontrollierte Geschäft entwickelt hat. Die Professionalität der Banden führt zu einem weiteren Problem. Verlässliche Informationen über Herkunft der gehandelten Kinder, Handelsrouten und Herkunfts- bzw. Bestimmungsorte sind nur bruchstückhaft vorhanden. Kinder, die beispielsweise aus Südindien über die Grenzen von Bundesstaaten und damit auch über Sprachgrenzen hinweg gehandelt werden, können sich an ihren Bestimmungsorten kaum verständigen und damit auch nicht um Hilfe bitten. Handelsrouten werden augenscheinlich von den Banden permanent verändert, unterschiedliche Verkehrsmittel für den Transport genutzt. Daher ist es sehr schwierig, Handelsrouten und „Umschlagplätze“ zu identifizieren. Auch wenn es mittlerweile Netzwerke wie die Campain Against Child Trafficking (CACT) gibt, sind die gesammelten Informationen äußerst lückenhaft. Armut in den meisten Fällen Auslöser von Kinderhandel Viele der Kinder und jungen Frauen, die von der Familie zum Arbeiten weggegeben werden, erfahren an ihren neuen „Arbeitsplätzen“ die unterschiedlichsten Formen von Gewalt. Neben der Misshandlung durch Schläge und Tritte, Vergewaltigung, Entzug von Nahrung und Getränken sind sie einer ständigen enormen psychischen Belastung ausgesetzt. Eine nennenswerte Entwicklung der Persönlichkeit kann unter diesen Voraussetzungen nicht stattfinden bzw. wirkt sich auf diese stark nachteilig aus. tionen der internationalen Gemeinschaft. Besonders zu erwähnen sind hier das Juvenile Justice (Care and Protection) Act aus dem Jahr 2000 sowie die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention der UN. Sie stellen die Rechte der Kinder und deren Schutzbedürftigkeit in den Vordergrund. Fänden diese sich überall gleichermaßen beachtet – Kinderhandel dürfte in Indien und auch sonstwo auf der Welt kaum mehr eine aktuelle Thematik sein. Dennoch gibt es in Indien keine explizite und umfassende Gesetzgebung, die sich auf das Thema Kinderhandel bezieht. Kaum ein Elternpaar weiß, welchen Gefahren, welchem Schicksal sie ihr Kind aussetzen, wenn sie es in die Hände eines Menschenhändlers geben. Doch stellt sich die Frage, ob sie nicht gleichermaßen handeln würden bzw. müssten, wenn sie sich dessen bewusst wären. Dies führt unweigerlich zu den Gründen für Kinderhandel. Warum geben Eltern ihre Kinder freiwillig für kaum absehbare Zeit von sich fort? Es ergibt sich somit folgendes Bild: Wenn auch sicherlich nicht allumfassend, so existieren auf indischem Staatsgebiet doch theoretisch einige „gute“ – im Sinne von anwendbare – Gesetzestexte. Die Problematik auf diesem Gebiet besteht vielmehr in der Tatsache, dass das Wissen um diese nur sehr ge- „Jedes Kind, das keine Schule besucht, ist ein potenzieller „Jedes Kind, das keine Schule Kinderarbeiter, und jeder besucht, ist ein potenzieller Kinder- Kinderarbeiter ist ein potenzielles arbeiter, und jeder Kinderarbeiter Opfer von Kinderhandel.“ ist ein potenzielles Opfer von Kinderhandel.“ Einer der bestimmenden Faktoren ist unzweifelhaft die noch immer überall in Indien anzutreffende extreme Armut der Mehrheit der Bevölkerung. Die Workshop-Teilnehmer berichteten von Fällen, in denen Eltern ihre Kinder an Menschenhändler übergeben haben in der Hoffnung, dass sie dort ein besseres Leben und Versorgung finden würden. Die Eltern selbst waren nicht mehr in der Lage, die Kinder zu ernähren. Shakun M. von der in Hyderabad ansässigen Organisation VIMOCHANA berichtete von dokumentierten Fällen, in denen Kinder für 10 Kilo Reis verkauft wurden, nur damit Mütter in der Lage waren, die übrigen Kinder vor dem Verhungern zu retten. Auch aus den Tsunami-Regionen Südindiens wurde berichtet, dass durch die Katastrophe verwitwete Frauen vielfach nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu versorgen und in der Folge an Menschenhändler verkaufen. Gesetzgebung ist lückenhaft Blickt man in die indischen Gesetzesbücher, finden sich unterschiedliche Erlasse, Gesetze und ratifizierte Konven- ring ist, und dies gilt verstärkt dort, wo es doch eigentlich zur Anwendung kommen sollte: bei der örtlichen Polizei, Verwaltung, auch bei den Organisationen. Gerade die Polizei stellt im Hinblick auf die korrekte und unvoreingenommene Ausführung der gesetzlichen Bestimmungen leider vielerorts ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dar. Ehemalige Opfer berichten immer wieder von Polizisten, die selbst in den Handel mit Kindern eingebunden sind. Reintegration „befreiter“ Kinder Ein weiteres Problem im Kampf gegen den Handel mit Menschen und Kindern im Speziellen ist auch das Problem der Wiedereingliederung der ehemaligen Opfer. Selbst wenn es sich hierbei nicht um zur Prostitution gezwungene Kinder handelt, gestaltet sich dies doch als immens schwierig. Da ist zum Einen oftmals die noch ungelöste Armutssituation innerhalb der Familie, welche diese bereits zuvor zum Einwilligen in den Handel veranlasste. Aber da ist auch vielerorten die Abwehr des eigentlichen Opfers selbst. Je länger die Opfer von ihren Familien getrennt gelebt haben, umso schwieriger gestalten sich die Rückführung und Reintegration. Obwohl viele Kinder und junge Frauen Gewalt ausgesetzt sind, haben sie fernab von der Familie eigene Lebensformen und Ersatzstrukturen gefunden. Diese nun wieder aufzugeben, ist schwierig. So finden sich viele vormals „gerettete“ bzw. „befreite“ Opfer des Menschenhandels bereits wenig später wieder auf dem Weg in ein anderes Dorf, in eine andere Stadt. Auf diese Situation abgestimmte, auf Langfristigkeit angelegte und gleichermaßen gut durchdachte Rehabilitationsprogramme gibt es nicht. Die exstierenden staatlichen Einrichtungen sind oftmals personell wie infrastrukturell ihren Das Problem „Wasser“ Weltweit gibt es 1,2 Milliarden Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Damit hängt zusammen, dass jedes Jahr 2,2 Millionen Menschen aus Mangel an Trinkwasser oder wegen schlechter Hygiene-Bedingungen sterben. Jeden Tag sterben Tausende Kinder an Krankheiten, die durch Wasser übertragen werden. Doch warum reicht das Wasser auf unserem Blauen Planeten nicht für alle? Ein Grund lässt sich mit dem Vergleich von Teelöffel und Badewanne erklären: Insgesamt verfügt die Erde über 1,4 Milliarden Kubikkilometer 15 Wasser. Über 97 Prozent davon sind Salzwasser und damit für uns Menschen nicht verwendbar. Von dem Süßwasser kommen nur etwa 113.000 Kubikkilometer pro Jahr als Regen oder Schnee auf die Landoberfläche, fast zwei Drittel davon verdunsten. Übrig bleiben schätzungsweise 41.000 Kubikkilometer sich erneuerndes Süßwasser für den gesamten Wasserbedarf der Erde. Befüllt man eine Badewanne und entnimmt ihr einen Teelöffel Wasser, entspricht das diesem Verhältnis. - Barbara Leyendecker (Quelle: Kontinente 4/05) Aufgaben nicht gewachsen. Wie von den Workshop-Teilnehmern berichtet wurde, gibt es kaum für diesen Zweck qualifiziertes Personal, die sanitären und hygienischen Anlagen in den Heimen sind miserabel, das Essen teilweise von Ungeziefer verseucht, etc. Den in diesem Bereich aktiven Nichtregierungsorganisationen (NRO) fehlt hingegen – bei allen guten Konzepten und gutem Willen – oftmals das Geld. Shakun M. (VIMOCHANA) brachte die derzeitige Situation mit der Frage „Welche Garantie können wir mit dem derzeitigen System geben, dass jedes befreite Kind eine zweite Chance in seinem Leben erhält?“ auf den Punkt. Bewusstsein und Wissen Wie wenig dieses Thema und die spärlichen belegbaren Fakten von großen Teilen der indischen Gesellschaft noch wahrgenommen werden, zeigte sich auch am Bild der teilnehmenden Organisationen: Nur wenige sind bereits aktiv in den Kampf gegen Kinderhandel in Indien eingebunden. Die meisten Vertreter indischer NRO befassten sich bisher kaum mit dieser Problematik und waren vor allem aus Gründen der Information und zum Knüpfen erster Kontakte in diesem Bereich ins KKID nach Coimbatore gereist. Die Mitarbeiter der bereits erfahrenen Organisationen waren daher stets begehrte Gesprächspartner – sowohl in Diskussionen als auch in den Pausen. Wieviel Überzeugungs- und Bewusstseinsarbeit in diesem Bereich in Indien noch zu leisten ist, zeigen auch die Angaben über die Erfolge der eigenen Arbeit: Man geht davon aus, dass bislang in Indien nur etwa 1 % der Fälle von Kinderhandel entdeckt und – im Sinne einer Reintegration der Kinder - erfolgreich „bekämpft“ werden. Gemeinsames Aktionsprogramm verabschiedet Vor diesem Hintergrund wurde von den Teilnehmern des Workshops in Coimbatore ein Aktionsprogramm verabschiedet, dem die gemeinsame Überzeugung zu Grunde liegt, dass kein Kind oder Jugendlicher unter 18 Jahren aus kommerziellen oder sonstigen Gründen veroder gekauft werden darf und eine Gesellschaft geschaffen werden muss, in der die Würde und die Rechte der Kinder geschützt werden. Dabei sollen die Maßstäbe und Kriterien der UN-Konvention zum Schutz der Kinderrechte angelegt werden. Indien ist ein Unterzeichner dieser UN-Konvention. Im Rahmen der Aktionspläne der teilnehmenden Organisationen stand die Sensibilisierung der Bevölkerung in den entsprechenden regionalen Aktionsbereichen im Vordergrund. Aufgrund der vielfach bereits bestehenden dörflichen Organisationsstrukturen (Frauengruppen etc.) ist dies der praktikabelste Weg, Bewusstsein über das Thema Kinderhandel in der Bevölkerung zu verbreiten. Zudem sollen diese dörflichen Basisgruppen in den Prozess der Datenerhebung im Hinblick auf Kinderhandel einbezogen werden. Die Dorfbevölkerung hat den besten Überblick darüber, ob Kinder plötzlich dauerhaft aus den Dörfern verschwinden bzw. fremde Kinder auftauchen. Wie im Rahmen der Bekämpfung von Kinderarbeit, so wurde in den Beratungen auch der Gedanke diskutiert, sogenannte „kinderhandelsfreie“ Dörfer oder Regionen zu schaffen und dafür eindeutige Kriterien aufzustellen. Auch Lehrer und politische Gremien (Gemeindeverwaltungen, lokale Entscheidungsträger, Politiker auf verschiedenen Ebenen etc.) sollen stärker als bisher für diese Thematik sensibilisiert werden. Täter konsequent bestrafen Zudem soll das Thema stärker als bisher in die Medien gebracht werden. Dabei wurde von zahlreichen Teilnehmern gefordert, dass nicht – wie bisher – die Opfer von Kinderhandel in den Vordergrund gestellt werden, sondern dass die Täter in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt werden. Auch wurde dafür plädiert, die Täter einer konsequenten und harten Bestrafung zuzuführen. In diesem Zusammenhang gilt es auch, die Frage zu stellen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass Kinderhandel zu einer mehr oder minder akzeptierten Realität geworden ist. Stärkere Vernetzung Zudem wurde ein intensiverer Informationsaustausch zwischen den teilnehmenden Organisationen vereinbart, um verlässlichere Daten über das konkrete Ausmaß von Kinderhandel und Handelsrouten zusammen zu tragen. Hier liegt immer noch ein entscheidendes Defizit. Obwohl das Phänomen „Kinderhandel“ offensichtlich ist, so fehlt doch eine verlässliche Basis von Daten und Fakten. Nachfolgekonferenz im Herbst 2006 In spätestens einem Jahr soll bei einer Nachfolgekonferenz über die konkrete Umsetzung der vereinbarten Arbeitspläne berichtet und über weitere Schritte beraten werden. - Catrin Braun / Koshi Mathew Eine Dokumentation des Workshops wird in Kürze erscheinen. Interessenten wenden sich bitte an: Catrin Braun, Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, Darmstädter Str. 100, 64625 Bensheim, Tel.: 06251 700547, c.braun@kkstiftung.de oder www.kkstiftung.de Slum-Wachstum ungebremst Das UN-Programm für menschliches Siedlungswesen Habitat warnt vor einem ungebremsten Slum-Wachstum, wenn bis 2030 jährlich nicht 35 Millionen neue Wohnungen zur Verfügung gestellt werden sollten. Schon jetzt leben etwa drei Milliarden Menschen, die Hälfte der Weltbevölkerung, in Städten – ein Drittel von ihnen in Elendsvierteln. In den nächsten 25 Jahren wird sich die Zahl der Städter nach Schätzungen der UN-Organisation um mehr als zwei Milliarden erhöhen. „Wir stecken bereits mitten in der Wohnraumkrise“, heißt es in einem neuen UN-Habitat-Bericht. Zwangsvertreibungen aus Elendsvierteln in 16 Simbabwe, Indien oder Malawi zeigten dies mehr als deutlich. In den Mittelpunkt der nationalen und internationalen Bemühungen müsse eine solide Städteplanung rücken. Der neue Report befürwortet eine Weiterentwicklung der Mikrofinanz und schlägt kleine Darlehen mit Laufzeiten von einem bis zu acht Jahren über Summen von 500 bis zu 5000 Dollar vor. Das traditionelle Hypothekensystem sei allein für Haushalte mit mittleren und höheren Einkommen geeignet. www.unhabitat.org (Quelle: akzente 4/05) Partnerschaft Solidarität mit Kalkutta Seit drei Jahrzehnten engagiert sich die Deutsche Kalkutta-Gruppe für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen in Kalkuttas Bustees Interview mit Helmut Donner Die Deutsche-Kalkutta Gruppe gehört zu den wenigen Privatinitiativen in Deutschland, die konzentriert und partnerschaftlich Menschen in der Großstadt Kalkutta (heute Kolkata) gezielt im Bereich Bildung und Gesundheit helfen. Das Besondere an dieser Initiative ist, dass sie nicht nur in Kalkutta kompetente einheimische Partner hat, sondern auch Mitwirkende aus dem Kreis der hier lebenden Inder und Inderinnen, die aus Kalkutta stammen. Die Deutsche Kalkutta-Gruppe hat in den vergangenen 30 Jahren nicht nur in Kalkutta hervorragende Arbeit durch ihre Partnerorganisationen geleistet, sondern auch durch Reisen nach Kalkutta und durch jährlich stattfindende indienbezogene Seminare in der Evangelischen Akademie Iserlohn viel dazu beigetragen, Kenntnisse über Indien hier zu vertiefen und Menschen beider Länder zusammenzubringen. Einer der noch lebenden Gründer der Deutschen Kalkutta-Gruppe ist Helmut Donner. Seinem von Bescheidenheit geprägtem aber konsequenten und zukunftorientiertem Einsatz ist es zu verdanken, dass diese kleine Initiative so viel in dieser Zeit für Menschen in Kalkutta tun konnte. Mit ihm haben wir das folgende Interview geführt, damit die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser wichtigen Indien-Initiative den Lesern nicht verborgen bleibt. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil. - Die Redaktion Meine Welt: Herr Donner, die Deutsche Kalkutta-Gruppe existiert seit Anfang der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sind Sie der Gründer dieser Gruppe? Wie kam es dazu, dass diese Gruppe überhaupt gegründet wurde? Helmut Donner: Die Anfänge der DKG liegen bereits in den frühen 70er Jahren. Ich war 1969 das erste Mal in Indien, um in Durgapur/Westbengalen einige Monate lang bei dem dortigen kirchlichen Institut ESII bei einem Training für Pastoren aus verschiedenen indischen Kirchen in Bezug auf Industrialisierung und Urbanisierung mitzuarbeiten. Ungefähr zwei Jahre später, als ich diese Indien-Erfahrung längst hinter mir gelassen und „abgelegt” hatte, erreichte mich ein Brief von John Hastings aus Kalkutta, den ich 1969 als Pastor der Methodisten-Gemeinde in der Sudder Street kennengelernt hatte. Er enthielt Überlegungen zu einer Verstärkung von Sozialarbeit in den Slums/Bustees von Kalkutta. Hastings bat in diesem Brief seine Freunde in aller Welt, etwas zu tun für die Linderung der Flüchtlingsnot vor den Toren von Kalkutta aufgrund des Bürgerkriegs im damaligen Ostpakistan. Diesen Brief in Händen, setzte ich mich mit Freunden in Verbindung, und wir verabredeten, nicht nur einmal für die Notleidenden sammeln zu gehen, sondern nun auszuführen, was wir schon Jahre zuvor überlegt hatten, nämlich eine Hilfsorganisation für Kalkutta aufzubauen. Der wichtigste Gesprächspartner damals war für mich mein Freund Michael Bartelt, ev. Pastor wie ich und auch aus der Schule eines dezidiert sozial orientierten Zweiges der GossnerMission hervorgegangen, der mit seiner sehr charmanten jungen Frau dann 1972 auch einige Monate in Indien verbrachte. Für die DKG gibt es kein Gründungsdatum, kein Gründungsdokument. Aus den Akten ist aber ersichtlich, dass sich Mitte 1973 einige Personen, hauptsächlich aus Dortmund, von Zeit zu Zeit trafen, um Pläne zur sozialen Entwicklung der Bustees in Kalkutta mit indischen Partnern (u.a. CUSCON) zu diskutieren und hierzulande zu unterstützen Meine Welt: Welche waren die ursprünglichen Ziele und Aufgaben des Vereins? Wie hat sich die Arbeit im Rahmen des Vereins im Laufe der Jahre verändert? 17 H. Donner: Von dem oben erwähnten John Hastings, der mehr als alle anderen unserer Gesprächspartner der späten 60er Jahre in den Slums/Bustees zu Hause war und deren Struktur und Be-völkerung kannte und verstand, stammten letztlich die Ziele der Arbeit der entstehenden DKG: Soziale Entwicklung in den Bustees, in denen damals mindestens 1/3 der Gesamtbevölkerung von Groß-Kalkutta (CMDA) lebte, wesentlich durch Stützung, Weiterentwicklung und Qualifizierung der Ansätze und Aktivitäten lokaler Gruppen. John Hastings schwor auf die Kraft der Schwachen, und auch der schon legendäre anglikanische Priester Subir Biswas, der leider in noch jungen Jahren bereits 1977 aus seinem Leben und seiner Wirkung auf die künftige Entwicklung der Metropole Kalkutta gerissen wurde, propagierte: Die Bustees sind wichtig für die Zukunft von Kalkutta! Die DKG hat diese Vorstellungen damals übernommen und für ihre Zusammenarbeit mit Partnern in Kolkata bis heute grundsätzlich beibehalten. Ab 1979 hatten wir neben einigen der alten Partner in Kalkutta auch einige neue, die im Hinterland tätig waren und sind. Ich nenne den Ashram unseres Freundes Sunil in Manikpara, dessen enorme soziale Leistungen immer zugleich spirituell begründet und „unterfüttert“ waren, und ich nenne – dem deutlich gegenüber – Ansatz und Arbeitsweisen unserer Partnerorganisation IMSE (Institute for Motivating Self Employment), die das Konzept von EMPOWERMENT OF THE POOR nicht nur auf ihre Fahne geschrieben hat – wie alle anderen und wir auch –, sondern in Jahrzehnten auch ständig durchzukämpfen bemüht war. Zusammenfassend nochmal zu Ihrer Frage: Die Zielformulierungen haben sich seit den Anfängen der DKG kaum verändert, aber die Arten und Weisen, wie die Ziele in der Praxis unserer Partnerorganisationen angestrebt und verwirklicht wurden. Meine Welt: Jedes Jahr führt die Deutsche Kalkutta-Gruppe ein Seminar über ein indienbezogenes aktuelles Thema in der Evangelischen Akademie Iserlohn durch. Wie hat sich das Interesse an diesen Seminaren im Laufe der Jahre entwickelt? Wie sehen Sie die Zukunft der Seminare in Anbetracht der Überlegung seitens der Evangelischen Kirche, die Akademie in Iserlohn wegen finanziellen Schwierigkeiten zu schließen? H. Donner: Die Konferenz in Iserlohn, seit Jahren jeweils am Wochenende nach Ostern in und gemeinsam mit dieser einzigen Akademie der westfälischen Kirche geplant und veranstaltet, ist eine der beiden jährlichen Gelegenheiten, wo Mitglieder der DKG und Freunde einander treffen können. (Die andere Gelegenheit, die MV der DKG, hat naturgemäß einen engeren Rahmen.) Die ersten vergleichbaren Kalkutta-Veranstaltungen fanden in Iserlohn bereits ab 1980 statt. Immer ging es um eine für die DKG und ihre Weiterarbeit anstehende Thematik, deren Bedeutung auch seitens der Akademie akzeptiert wurde, stets also darum, den in der DKG Mitarbeitenden und an Indien Interessierten jährlich einmal Raum und Zeit zu gründlichem Nachdenken zu geben, und zwar im Rahmen einer Akademie-Tagung, die diesem Anspruch auch gerecht wird. Was die Zukunft von Haus Ortlohn in Iserlohn, also auch einer sehr bewährten Partnerschaft zwischen der DKG und der Akademie (ich nenne die Namen von Dr. Sareika, von Pfr. Frieling und jetzt Dr. Büscher) betrifft, schwanken wir zwischen Bangen und Hoffen. Sollte Iserlohn aufgegeben werden, würde das auch die DKG sehr hart treffen. In den letzten Jahren hatten wir das Gefühl: Die Tagungen in Iserlohn gelingen immer besser. Hoffentlich ist das keine Selbsttäuschung! Aber die Konferenzen im Frühjahr 2004 (die sich auf das Verhältnis Indien-Pakistan konzentrierte) und 2005 (zur Auswirkung der Globalisierung auf Indien, am Beispiel der Entwicklungen in den indischen Megapolen) waren Highlights, auch für den Blick der DKG auf die Zukunft „ihrer Stadt“, nämlich Kolkata. Meine Welt: Seit Jahren unterstützt die Deutsche Kalkutta-Gruppe Projekte in Kalkutta und Umgebung. Welche Art von Projekten unterstützen Sie? Wie bewerten Sie die Effektivität dieser Arbeit? H. Donner: Die DKG hat derzeit 15 Partner in Kalkutta und Hinterland, von denen 14 im Januar 2005 von Teilnehmern der 10. Gruppenreise jeweils in Kleingruppen besucht wurden. Die Eindrücke dieser Besuche waren, bis auf eine Ausnahme, durchaus positiv. (Nachzulesen im Heft GUTE TAGE IN KALKUTTA, Mai 2005, www.kalkuttagruppe.de.) Die Partnerorganisationen der DKG decken mit ihren Konzepten und ihrer Arbeit ein breites Spektrum ab, das von traditioneller Sozialarbeit (z.B. minimale medizinische Versorgung von Müttern und Kindern in Dörfern des Gangesdeltas an der Grenze zu Bangladesh) bis zu quasi politischer Arbeit, jedenfalls mit Behörden streitendem Einsatz für Arme, Benachteiligte, in ihrer Existenz Bedrohte, vor allem im Hinterland, reicht. BILDUNG und GESUNDHEIT sind Punkte auf dem Programm der meisten unserer Partner, ob in der Stadt oder auf dem Lande. Die Konsequenz, mit der diese Ziele verfolgt werden, ist unterschiedlich, und damit auch die Effektivität: Was der Hindumönch Sunil in sehr vielen Dörfern um Manikpara (Dist. Midnapur) hinsichtlich GESUNDHEIT (in Bezug auf LEPRA) in Jahrzehnten aufgebaut und geleistet hat, ist flächendeckend und also äußerst effektiv. Was Shourabh Mukerji (YMWS) in Hinsicht BILDUNG geleistet hat, nämlich aus Überschüssen von inzwischen 4 privaten Schulen für Kinder von MittelklasseFamilien eine größere Anzahl von Schulen in Bustee-Gebieten, deren Besuch für Eltern und Kinder fast kostenlos ist, mit gleich hohem pädagogisch-ethischem Anspruch zu errichten und zu führen, ist ebenfalls offensichtlich effektiv und anerkennenswert. Die DKG hat, anders als andere indienorientierte Organisationen, seit ihrer Verselbständigung 1977 und bis heute daran festgehalten, ihren Partnern in Indien zu vertrauen – obwohl ihr oft genug geraten wurde, hier und da mehr zu kontrollieren. Lenins Devise wird ihr auch künftig fern bleiben. Zu erwägen ist allerdings mehr Beratung der Partner bezüglich des Konzepts und der Methoden ihrer Arbeit – bei der ja auch Spendengelder zum Einsatz kommen, die die DKG eingenommen hat. Meine Welt: Wie sehen Sie persönlich die Zukunft des Vereins? Welche persönliche Erfahrung haben Sie durch die Arbeit im Rahmen des Vereins gemacht? H. Donner: Die DKG, erst seit 1993 als Verein organisiert, ist inzwischen über 30 Jahre alt. Für eine Frau zählt das zwar nichts, für eine Gruppe/Organisation aber schon viel. Das durchschnittliche 18 Lebensalter der über 100 Mitglieder der DKG dürfte inzwischen deutlich über 50 liegen. Was die Zukunft der DKG betrifft, sehe ich persönlich drei verschiedene Möglichkeiten: 1) die DKG stirbt eines Tages aus, 2) die DKG löst sich in Erkenntnis ihres Schwindens rechtzeitig selber auf, 3) die DKG arbeitet einstweilen und unbeirrt weiter, solange sie die personelle und materielle Möglichkeit hat, die Beziehungen zu den Partnern in Indien aufrechtzuerhalten. Letzteres ist 2005 und bis auf weiteres der Fall. In den letzten Jahren gab es erstaunlicherweise bei der Mitgliederzahl Zuwächse: mehr Eintritte als Austritte. Seit 1971 ist Kalkutta, anfänglich ungewollt, Teil meines Lebens (auch meiner Familie: unsere 3 Kinder sind sozusagen mit Kalkutta aufgewachsen. Eine Tochter, Ethnologin, hat ihre wissenschaftliche Arbeit wesentlich auf „Frauen in Indien“ ausgerichtet und auf „Frauen in Kalkutta“ konkretisiert). Deshalb ist klar, dass ich, seit dem Jahr 2000 nicht mehr Geschäftsführer, sondern nur mehr Berater meines Nachfolgers und des Vorstands, der DKG immer zur Verfügung stehen werde. Unterstützung für Frauenprojekte in Südindien Das Deutsche Weltgebetstagkomitee e.V. hat nach der Seebeben-Katastrophe in Südasien 50.000 Euro Soforthilfe bereitgestellt. Damit wurden diejenigen Partnerorganisationen vor Ort unterstützt, die schon lange mit den Frauen in den betroffenen Regionen arbeiten und in dieser Krise wirksame Hilfe leisten. Das Komitee unterstützte in den betroffenen Regionen – in den indischen Bundesstaaten Tamil Nadu, Andhra Pradesh und Kerala, in Nordsumatra und Sri Lanka – schon vor der Katastrophe mehr als 50 Frauenprojekte. (Quelle: Frau/Mütter 4/2005) Projekt Shourabhs Schulen Ein Vorzeigeprojekt der Deutschen Kalkutta-Gruppe (DKG) Shourabh Mukerji ist um 1940 geboren und in einer wohlhabenden christlichen Familie in Kolkata aufgewachsen. Schon 1967 war er sozialer Arbeit verschrieben und gründete die Young Men’s Welfare Society (YMWS), die Jugend- und Sozialarbeit vorhatte und betrieb. Durch den damaligen Verbund CUSCON entstand früh in den 70-er Jahren der Kontakt zur DKG, welcher über 1977, das Jahr der Neuorientierung der DKG, hinaus – aber stets als lockere Beziehung fortbestand. 1982 wurde ein dreistöckiger Bau in Taratolla von Mutter Teresa feierlich eingeweiht – es war jedoch kein ökumenisches Zentrum, sondern eine Privatschule mit Englisch als Unterrichtssprache. Folglich war Shourabh, waren seine Absichten sozialer Arbeit, in den Reihen der DKG umstritten. Insgeheim wurde er verdächtigt, sich mit dieser Privatschule ein sanftes Ruhekissen für familiäres Wohlleben verschafft zu haben. Erst 1996 gab es bei der DKG für YMWS, und für Shourabh persönlich, einen Durchbruch: Im Oktober 1996 waren leitende Mitglieder der DKG zu einem „Geschäftsbesuch“ nach Kolkata aufgebrochen, um während einer Woche von Dienstag bis Freitag, vormittags und nachmittags, je einen der wichtigsten Partner der DKG zu einem ausführlichen Arbeitsgespräch zu treffen. Oder auch zu verhören? Die Treffen am ersten Tag hinterließen Frustration: Müdigkeit von der Reise, Hitze im Raum, Straßenlärm, sprachliche Schwierigkeiten mit den Partnern… Am nächsten Morgen trat Shourabh mit dem Programm von YMWS auf. Er sprach zu den Besuchern aus Deutschland in sehr artikuliertem, verständlichem Englisch, konnte die Grundsätze seiner pädagogischen Arbeit in klaren Sätzen vorstellen – und er fand damit Anklang nicht zuletzt auch bei besonders pädagogisch engagierten Frauen. Seitdem rangiert YMWS bei der DKG in der Spitzengruppe ihrer 15 Partnerorganisationen. Denn nicht nur sein pädagogisches Konzept wurde akzeptiert, sondern auch seine einfache, aber geniale Idee, wie Schule auch für Kinder aus armen Familien in Kolkata und umliegenden Dörfern finanziert und organisiert werden könne, wurde von der DKG begriffen: Eltern der Mittelklasse sind an bestmöglicher schulischer Ausbildung ihrer Kinder interessiert, sind bereit und in der Lage, dafür gutes Geld zu zahlen – so er-wirtschaftet eine Privatschule Überschüsse – aus denen können Schulen für Kinder aus armen Familien in Kolkata und im Umland installiert und unterhalten werden. Im Februar 2005 konnte YMWS die vierte seiner Privatschulen im neuen Kalkutta eröffnen, das seit 15 Jahren zu beiden Seiten des sog. Bypass, der aus der Innenstadt nach Norden zum Flughafen hin führenden Stadtautobahn, entsteht. Hier gibt es inzwischen massenhaft auch Wohnungen für Familien der vom indischen Aufschwung ab den 90er Jahren profitierenden middle class – arme Leute werden in diesem neuen Kolkata nicht leben. Hier besteht nun die vierte Privatschule von YMWS. Bisher wurden vier Stockwerke fertig gestellt, das 5. muss noch errichtet werden, damit Raum für die Klassen 9 und 12 und Begründung für die Anerkennung als High School vorhanden sind. Übrigens wurden die Baukosten von 70 Lakhs (ca. 132.000 Euro) ausschließlich lokal aufgebracht. Im Frühjahr 2005 hat YMWS mit berechtigtem Stolz mitgeteilt, dass bisher 40.000 Jungen und Mädchen durch Shourabhs Schulen gegangen sind. Rechnet man das um auf die Jahre seit der Gründung, so sind es seit 1967 jährlich ca. 1.000. Doch hat die konzentrierte Schul-Arbeit wohl erst Jahre später angefangen, z.B. 1982 mit der Öffnung der ersten „geldbringenden“ Privatschule in Taratolla. Rechnet man von da ab, so hätte es pro Jahr durchschnittlich 19 1.800 Schüler gegeben. Hierbei addieren sich bis heute jeweils die Schülerzahlen in den relativ teuren Privatschulen mit denen der Kinder aus armen Familien in Stadt und Hinterland. Im Arbeitsbericht 2004-2005 teilt YMWS die Zahl von 2.608 Schülerinnen und Schülern in Kalkutta und 992 in 4 Dorfschulen mit, insgesamt am Ende des Berichtsjahrs genau 3.600. Es scheint, dass die Dorfschulen (drei Primary, eine Junior High) nur von Kindern aus armen Familien besucht werden, während der Anteil der Kinder aus den Bustees geringer ist. Eindrucksvolle Zahlen! Aber ebenso eindrucksvoll erscheint das pädagogische Konzept, das die DKG 1996 zur Kenntnis nahm, das Shourabh 1993 in der Broschüre EMPOWERING CHILDREN und mündlich im April 2005 bei einem Vortrag in Dortmund formulierte. Im folgenden werden einige Grundsätze wiedergegeben, die für alle YMWSSchulen, ob in der Stadt oder auf dem Land, ob nur Primary oder High, Geltung haben sollen: – Die Schulatmosphäre: Schüler wie Lehrer sollen Freude haben, in dieser Schule zusammen zu arbeiten. – Deshalb werden alle Lehrer nicht nur fachlich und methodisch fort-gebildet, sondern auch dazu, die Rechte der Kinder (entsprechend Geschlecht und Herkunft) zu achten. „Die Zeit in der Schule gehört nicht dem Lehrer, sondern den Kindern.“ – Die Muttersprache der Kinder wird geschätzt und gepflegt, nicht einfach durch eine andere indische Sprache oder Englisch verdrängt. – Die YMWS-Schulen müssen die Normen der staatlichen Curricula erfüllen, sollen aber „kindgemäß“, d.h. im Blick auf jedes einzelne Kind, also individuell angewandt werden. (Hier wie anderswo ist Shourabhs Nähe zur Waldorf-Pädagogik erkennbar). – Wenn Eltern wahrnehmen, wieviel Freude ihre Kinder an ihrer Schule haben, werden sie sich für diese, nämlich den „Geist“ der Schule interessieren und möglicherweise ihr eigenes Bewusstsein ändern. – Von alten Traditionen (in den Dörfern besuchen nur 15% der Mädchen die Schule) wie heutigen Trends (Abtreibung weiblicher Föten) sieht Shourabh sich herausgefordert, insbesondere Mädchen die Chance für weiter- führende Bildung, Berufs- „Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!” 20 Jahre Narmada Bachao Andolan Sein Name ist zu einem Synonym für Enteignung und Vertreibung der einheimischen Bevölkerung geworden: der Sardar Sarovar Staudamm im indischen Bundesstaat Gujarat. Nun soll er zu einer Touristen-Attraktion werden – so will es die Regierung. Und wieder sollen die Menschen weichen, diesmal nicht dem Narmada-Strom, sondern den Touristenströmen aus den Städten wie Mumbai, Ahmedabad und Vadodara. Zum Bau des Staudamms und des Narmada-Hauptkanals wurden seit Anfang der 1960er Jahre große Teile der indigenen Bevölkerung (Adivasi) entlang des Narmada-Flusses in den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Gujarat und Maharashtra „im öffentlichen Interesse“ enteignet und vertrieben. Bereits seit über zwei Jahrzehnten kämpfen sie um ihre Rechte, unterstützt von der Narmada Bachao Andolan (NBA), der Bewegung zur Rettung des Narmada-Flusses – zum Teil durchaus mit Erfolg. Familien, deren Land überschwemmt wurde, sind als „vom Projekt betroffene Personen“ anerkannt, mit dem entsprechenden Recht auf Entschädigung – „Land für Land“. Nicht als betroffen anerkannt wurden bislang die Familien aus sechs Dörfern nördlich des Staudamms. Sie wurden zum Bau der „Kevadia Colony“ enteignet, einer Siedlung für die Mitarbeiter des Staudammprojektes. Mit der Enteignung verloren sie die Rechte an ihrem hauptsächlich landwirtschaftlich genutzten Grundbesitz – ihrer Hauptlebensgrundlage. Sie erhielten eine minimale Entschädigung, ohne Anspruch auf Umsiedlung oder Recht auf Land. Dank ihres unermüdlichen Widerstandes sind viele der Familien bislang nicht vertrie- – tätigkeit und eigenes Einkommen zu eröffnen. Da erwiesen ist, dass Kinder aus Scheduled Castes und/oder religiösen Minderheiten überproportional Schul-abbrecher werden, wird bei der sozialen Organisation des schulischen Ablaufs auf diese Problematik besonders geachtet. ben worden. Sie haben teilweise sogar ihr angestammtes Land weiter bewirtschaftet. Doch nun droht ihnen mit dem Tourismus neue Gefahr. Das Land, das touristisch „entwickelt“ werden soll, ist rechtlich in Händen der Sardar Sarovar Narmada Nigam Ltd. (SSNNL), einem Unternehmen des Bundesstaates Gujarat zur Umsetzung des Sardar Sarovar Staudamm-Projektes. Wenn nun der Tourismus Fuß fasst, droht den rund 900 Familien (insgesamt über 4.500 Personen) die Vertreibung. „Eine Rupie säen, einen Dollar ernten“ will der Bundesstaat Gujarat laut seiner industriepolitischen Leitlinien. Mit dem Tourismus am Narmada-Staudamm könnte diese Rechnung aufgehen. Im vergangenen Jahr besuchten bereits rund 470.000 Touristen den Staudamm. An Wochenenden lag die Besucherzahl bei durchschnittlich jeweils 5.000 – 10.000, unter der Woche bei jeweils 500 bis 2.000 pro Tag. derer Plan sieht nach Presseberichten „Ökotourismus“ mit Wasservergnügungsparks, Golfplätzen, Hotels und Restaurants auf einer Fläche von 1.400 Hektar vor. „Doch ¸öko’ heißt: ökonomisch“, kritisiert NBA-Aktivistin Medha Patkar. „Das Projekt dient der Privatwirtschaft und keineswegs dem öffentlichen Interesse, aufgrund dessen die Menschen damals enteignet wurden.“ Ihre Forderung deshalb: Anerkennung der Betroffenen als „vom Projekt betroffene Personen“ mit entsprechenden Rechten auf Entschädigung, Rückgabe des nicht für das Sardar Sarovar Projekt genutzten Landes an die ursprünglichen Eigentümer und vor allem: „Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!“ - Christina Kamp (Ende November wollen die NBA-Aktivisten mit einem „Narmada-Solidaritätsprogramm“ im Narmada-Tal dem Beginn ihres Widerstands vor 20 Jahren gedenken und mit einer Abschlussrally in Badwani (Madhya Pradesh) am 27.11. deutlich machen, dass der Kampf weitergeht. ) „Das Problem ist, dass bislang kaum touristische Infrastruktur zur Verfügung steht“, meint SSNNL-Tourismusdirektor V.C. Patel – und will das nun ändern. Derzeit prüft SSNNL verschiedene Tourismuspläne, darunter einen Mehrphasenplan der Kevadia Area Development Authority, der unter anderem Picknickplätze, Gesundheitstourismus, Wasserund Abenteuersport vorsieht. „Das Gebiet wird für den Tourismus entwickelt. Deshalb wird die Planung den Bedürfnissen der Touristen Rechnung tragen“, sagt Patel. Es sei bereits eine Genehmigung zur Umsiedlung der Krokodile aus dem Stausee eingeholt worden. Ein an– – Um Nachholbedarf gegenüber Kindern aus Mittelklassefamilien auszugleichen, erhalten die aus den Bustees oder Dörfern spezielle Angebote, z.B. leadership training, career counseling, cultural expositions, ja sogar adventure sports. Shourabhs Schulen wollen keinen hermetisch abgeschlossenen Bereich 20 bilden, sondern an allgemein gesellschaftlichen Aufgaben mitwirken: Die Schüler sollen an Blutspendeaktionen teilnehmen, sich auf Katastropheneinsätze vorbereiten, und sie werden demnächst im Unterricht noch mehr als bisher mit Umwelt-Problemen und -Aufgaben konfrontiert werden. - Helmut Donner Partnerschaft „Come Sister“ Hilfe zur Selbsthilfe – Von Frauen zu Frauen Der nachfolgende Bericht schildert die Entstehung und Weiterentwicklung eines partnerschaftlichen Projektes, das das Leben einer Gruppe von Frauen im südindischen Staat Andhra Pradesh radikal änderte. Der Bericht erschien im „Göttinger Tageblatt“ vom 25.07.2005 Seit 15 Jahren engagiert sich die Projektgemeinschaft „Come Sister“ für die Rechte der Frauen in dem Bundesstaat Andhra Pradesh in Südostindien. Die Göttingerin Edda Buß hat dieses Projekt zusammen mit einem indischen Freund der Familie, Joji Pasala, ins Leben gerufen. Alles begann 1988, als Edda Buß den Inder Joji Pasala in Südindien traf und die Idee einer Basisfrauengruppe diskutierte. Ein Jahr nach dem ersten Treffen, 1989, reiste Pasala nach Deutschland und traf sich mit Edda Buß in ihrer damaligen Heimatstadt Wolfsburg. Hier versuchten sie gemeinsam, bei zwei Kirchengemeinden Frauen für eine solche erste Basisgruppe zu gewinnen. Das Frauenprojekt lief an. 1990 wurden die ersten Gehversuche in Indien, im GajwelGebiet unternommen. Zwölf Dörfer waren beteiligt, 64 junge Frauen im Alter von etwa 18 Jahren mit ihren Kindern. Ziel war es, den Frauen eine finanzielle Selbständigkeit zu sichern und ihnen Mitspracherecht zu geben, denn: „Die Frau leistet die doppelte Arbeit, aber der Mann entscheidet“, ärgert sich Pasala, „auch über das Geld.“ So begannen sie in den Dörfern mit den Frauen kleine Gruppen zu bilden. In einen gemeinsamen Geldtopf zahlte jedes Mitglied monatlich zehn Rupien (umgerechnet etwa 20 Cent) ein. Dieses Guthaben wurde dann jeweils an diejenige verliehen, die es am nötigsten brauchte. „Da stellte sich erstmal die Frage: Wer ist denn eigentlich die Ärmste?“, erklärt Edda Buß. Bewusst wurden nur relativ kleine Darlehen vergeben, damit diese hinterher auch rückzahlbar waren. Selbständigkeit für Frauen Aus diesem System entwickelte sich schließlich mehr und mehr die ange- strebte finanzielle Unabhängigkeit der Frauen, und so wird es bis heute fortgeführt. „Das hat sich wahnsinnig entwickelt. Das ist ein riesiges Netzwerk geworden“, staunt Edda Buß über den Erfolg. Als Beispiel nennt der indische Projektdirektor Pasala die zweite Frauenbank, die im Bundesstaat Andhra Pradesh gegründet wurde: Heute zählt sie 15.000 Mitglieder und bietet sogar eine Sterbeversicherung. Wenn man da an die Anfänge zurückdenkt: „Die Bank war in der Bluse“, lacht Edda Buß. Denn die Frauen wussten ja überhaupt nicht, wo sie das gesparte Geld hinstecken sollten. Mittlerweile lernen die Frauen, mit dem Geld und ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft umzugehen, und können diesen Prozess im Schutz des Projektes durchleben. Das Ziel: „Sie sollen fähig sein, jede Aufgabe im Staat zu übernehmen“, hofft Buß. Neben den Hilfen in finanziellen Angelegenheiten kümmert sich das Projekt „Come Sister“ auch um gesundheitliche Fragen, um schulische Bildung von armen Dorfkindern sowie um benachteiligte Behinderte. Die Projekthilfen umfassen jährlich etwa 20.000 Euro, wobei Buß betont: „Unsere Geldgeber sind keine reichen Leute, sondern oftmals Frauen, die selber nicht so viel haben.“ - Nadine Michel Wer sich informieren oder mithelfen möchte, kann sich an Edda Buß unter Tel. 0551/ 5 31 66 83 oder per E-Mail an Edda.Buss@gmx.de wenden. Fortschritt als Schnecke Der indische Karikaturist Suresh Sawant, der auch für diesen Informationsdienst immer wieder Bevölkerungsthemen kritisch ins Bild setzt, hat den ersten Preis eines globalen Karikaturenwettbewerbs zu den Millenniums-Entwicklungszielen (MDGs) gewonnen. In seiner (Quelle: Zeitschrift Entwicklungspolitik / Suresh Sawant, Mumbai Karikatur wird deutlich, dass um die Millenniumsziele viel Getöse gemacht Experten kaum bekannt, dass für die wird und auch mehr oder weniger pas- ersten sieben Millenniumsziele die sende Instrumente zur Verfügung ste- Entwicklungsländer selbst ¸zuständig’ hen, um die Ziele zu erreichen, das sind und für das achte Ziel der EntTempo des Fortschritts aber dem einer wicklungspartnerschaft eine gemeinSchnecke gleicht. Die Einsendungen same Verantwortung von Nord und zum Wettbewerb, der vom Dritte-Welt- Süd vorgesehen ist. Wie kann da von Journalisten-Netz und der Zeitschrift Karikaturisten erwartet werden, dass Entwicklungspolitik international aus- sie kenntnisreicher sind?“ fragt Chefgeschrieben worden war, spiegeln die redakteur Konrad Melchers in Ausgain Nord und Süd scheinbar gleicher- be 16/17 der Zeitschrift Entwicklungsmaßen verwurzelten Armut-Klischees politik. wider. Nur wenige der eingesandten Karikaturen nehmen gezielten Bezug Weitere Informationen: www.cartoon-competition.org auf eines oder mehrere der MDGs und (Quelle: Bevölkerung & Entwicklung Nr. 58/ auf die Aufforderungen zum positiven September 2005) Handeln. „Leider ist selbst unter 21 Nachruf Gisela Schlemann (1933 – 2005) Eine indische Seele in einem europäischen Körper ging meditierend auf ewige Reise Gisela Schlemann war eine weltoffene Person, die sich für kulturelle, religiöse und spirituelle Vielfalt interessierte, diese überall unterstützte und sie auch selbst lebte. Ihr größtes Interesse war es, religionsübergreifende und kulturelle Zusammenhänge zu suchen und zu schaffen. Fanatismus und Engstirnigkeit widerstrebten ihr. Sie wurde am 27.9.1933 in Dublin, Irland, geboren, wuchs dann in Bayern und Berlin auf und entschloss sich, nach ihrem Abitur Schauspielerin zu werden. Sie machte ihr Staatsexamen am Mozarteum in Salzburg 1955 und bekam eine Anstellung in Linz, heiratete jedoch innerhalb eines Jahres einen indischen Journalisten, einen langjährigen Brieffreund aus ihrer Studienzeit. Noch heute erinnern sich ihre Kommilitoninnen an seine seitenlangen romantischen und philosophischen Briefe – die sie ihnen vorlesen musste – voller Gedichte und Geschichten aus Indien, manche selbst geschrieben, manche zitiert von Tagore oder anderen indischen Autoren. In einer Zeit, als keiner davon träumte, Indien auch nur mal zu besuchen, traf Gisela Schlemann kurzerhand die Entscheidung, dorthin auszuwandern. Damals bedeutete dies, das eigene Land, die eigene Familie und guten Freunde endgültig für eine ganz unbekannte Welt zu verlassen – ihr eigener Vater hatte ihr schon vorgehalten, er wolle sie niemals in Indien besuchen. Diesen Mut, etwas ganz Neues und Anderes kennen zu lernen, prägte ihr ganzes Leben. Ob es um andere Länder, andere Religionen oder um andere Menschen ging, sie verlor nie ihren Ehrgeiz, neue Wege zu gehen, neue Freundschaften zu schließen oder sich in eine neue Philosophie zu vertiefen. Sie lebte von 1956–1970 in Indien und bekam 3 Töchter. Ihr Leben lang war sie fasziniert von der indischen Spiritualität (islamische und hinduistische), lernte Yoga und Meditieren, folgte indischen Gelehrten und der ayurvedischen Medizin. Sie behielt ihre eigene deutsche Kultur in Indien bei, zu einer Zeit, als es verpönt war, außerhalb Deutschlands deutsch zu sprechen oder gar Kinder zweisprachig oder bikulturell zu erziehen. Sie lernte ebenfalls Hindi, wechselte zwischen europäischer und indischer Kleidung, brachte ihren Kindern sämtliche deutschen Volkslieder bei, und ließ sie indischen Tanz lernen, während sie sie auf englischsprachige Schulen schickte. Gisela Schlemann produzierte gleich in ihren ersten Jahren ein Theaterstück, das Gandhis befreiungskämpferischen Salzmarsch zum Mittelpunkt machte. Dieses Theaterstück brachte ihr sogar die Hochachtung des damaligen indischen Premierministers Nehru ein. Nach 16 Jahren in Indien entschloss sie sich, nach Deutschland zurückzukehren und Lehrerin zu werden. Sie machte ihr Staatsexamen in Pädagogik 1974 und wurde in Berlin Lehrerin an einer Grundschule, wo sie mit viel Elan unterrichtete. Wiederum wurde sie eine ungewöhnliche Lehrerin, die viele ihrer interkulturellen, schauspielerischen und dichterischen Fähigkeiten einsetzte, um zu jeder Gelegenheit selbst geschriebene Theaterstücke aufführen zu lassen und ihre Gedichte vorzustellen. Nach der Pensionierung hatte sie endlich genügend Zeit, sich voll als Schriftstellerin zu entfalten: Sie veröffentlichte 8 Bücher (Romane und Geschichten) mit philosophischen Fragestellungen, die 22 eng mit ihrer Lebensgeschichte und den Kulturen, die sie kennen gelernt hatte, verknüpft waren1. In ihren Romanen beleuchtete sie ihre eigene und andere Gesellschaften kritisch2. Ihre unterschiedlichen Karrieren, ihr großes Interesse an Musik, Literatur, Philosophie und Kunst aus allen Kulturen, vom Bayerischen zum Indischen, vom Christentum über den Hinduismus zum Islam wusste sie immer gut miteinander zu verknüpfen. So übersetzte sie deutsche Theaterstücke ins Englische, brachte sie in einen indischen Kontext und inszenierte sie in Indien (wie z.B. Pünktchen und Anton von Erich Kästner), brachte ihren Schülern und Schülerinnen in Berlin das Meditieren und das Schauspielen bei, sang in einem volkstümlichen Chor bayerische Lieder „in den Bergen“ und war ein aktives Mitglied der Chiemgauer Yoga- und Meditationsgruppe des Gurus Yogananda. Mit ihrer Krankheit setzte für sie ein Stillstand ihres aktiven unabhängigen Lebens ein, den sie als schwierig empfand und in dem sie sich neu zu orientieren versuchte. Obwohl wir sie alle auf dem Weg zur Besserung sahen, starb sie an ihrer schweren Krankheit im Alter von 72 Jahren in Regensburg. Es schien fast wie eine bewusste Entscheidung: Als sie merkte, dass sie die Krankheit fortan stark beeinträchtigen würde, entschloss sie sich zu gehen, in Meditation, bewusst, ruhig und friedlich. - Vineeta Gupta, Anjuli Gupta-Basu & Sandhya Gupta 1. Die Romane und Erzählungen von Gisela Schlemann waren: Das Mädchen mit dem Webrahmen (1988), Die Reise nach Dalaman (1988), Regensburger Verkündigung (1991), Satan’s Myron (1992), Schicke dein Brot über das Wasser (1995), Ein Tag noch oder tausend Jahre? (1997), Primus von Adelholzen, Der Freund des Christopherus (2002). Siehe auch die Rezensionen in Meine Welt 1977, Heft 1 & 2. 2. Siehe dazu Elisabeth Lauschmanns Rezension ihres letzten Buches Der Freund des Christopherus auch in der Dezember 2004 Ausgabe von Meine Welt, Heft 2, Jahrgang 21, S. 49 & 50. Rabindranath Tagore und seine deutschen Leser Dietmar Rothermund Rabindranath Tagores Beziehungen zu seinen deutschen Lesern waren begründet im dem universalen Humanismus, den er mit großem Sendungsbewusstsein verkündete. Sein nahezu gleichaltriger Landsmann Swami Vivekananda war ebenfalls von einem solchen Sendungsbewusstsein beseelt und hatte im Westen großes Aufsehen erregt. Aber Vivekananda hatte keine tieferen Beziehungen zu Deutschland und seine Lehren waren von rein religionsphilosophischer Art, während der von denselben Grundsätzen überzeugte Tagore durch seine Dichtkunst und seine Musikalität eine viel tiefere Resonanz finden konnte. Der junge Rabindranath hatte sich bereits darum bemüht, Deutsch zu lernen. Es gelang ihm mit einiger Mühe, Heinrich Heines Gedichte zu entziffern, während Goethe ihm verschlossen blieb. Die volksliedhafte Eingängigkeit der Gedichte Heines kamen seinen eigenen Neigungen entgegen, denn auch Tagores bengalische Dichtung gemahnt oft an Volkslieder. Leider blieb Tagores Beschäftigung mit der deutschen Sprache nur eine flüchtige Begegnung. Der Einfluss der englischen Literatur war übermächtig, und es war diese Literatur, gegen die Tagore sozusagen „anschrieb“. Die bengalische Literatur war sein Lebenselement, und er war stolz darauf, dass sie von offizieller Patronage der britischen Kolonialherren verschont geblieben war und sich eigenständig entwickelt hatte. In einem bengalischen Essay aus dem Jahre 1905, der in der von Martin Kämpchen herausgegebenen Anthologie in direkter Übersetzung enthalten ist, sagt Tagore dazu: „Die unabhängige bengalische Literatur, in der der Bengale die eigene natürliche Kraft angemessen empfunden hat – diese Literatur hat wie ein Adernetz Osten und Westen, Norden und Süden Bengalens mit einem Band vereint, flößt ihm fortwährend das gleiche Bewusstsein, das gleiche Leben ein.“ Als Tagore dies sagte, befand er sich im Mittelpunkt einer nationalistischen Bewegung, die durch die Teilung Bengalens im Jahre 1905 ausgelöst worden war. Er war zu jener Zeit ein begeisterter Nationalist, aber sein Nationalismus war von anderer Art als der seiner meisten Landsleute. Er wandte sich weniger gegen die politische Herrschaft der Kolonialherren als gegen die Überfremdung und geistige Knechtschaft, die die Inder unter dieser Herrschaft erfahren hatten. Ein Zeichen dieser Knechtschaft war die sklavische Nachahmung britischer Kunst und Literatur durch die Inder. In einem seiner bengalischen Essays von 1905 berichtet Tagore von dem Kunstverständnis, das einige Briten für die indische Kunst zeigen, während viele Inder, die sich am britischen Vorbild orientieren, die einheimische Kunst verachten und die fremde Kunst nachahmen. Er sagte dazu, „...dass derjenige, der Kunst in geeigneter Weise erlernt hat, auch die Schönheit von Bildern im fremden Stil des Auslands richtig sehen kann – in ihm entsteht ein Blick für Kunst. Und diejenigen, die nur durch Nachahmung lernen, können nichts außerhalb der Nachahmung sehen.“ In seiner Ablehnung von Überfremdung und Nachahmung blieb Tagore auch später ein Nationalist. Dagegen lehnte er den territorialen Nationalismus ab. Er hielt diesen Nationalismus für spezifisch europäisch und schrieb bereits 1901: „Der Territorialismus (rashtratantra) stellt den Leib der europäischen Zivilisation dar; wenn man diesen Leib nicht vor Schlägen schützt, bleibt das Leben nicht erhalten.“ Im Ersten Weltkrieg wandte er sich in Vorträgen in Amerika entschieden gegen Neues Buch Tagore für die höchsten Ansprüche Das goldene Boot, Lyrik, Prosa, Dramen. Rabindranath Tagore. Hrsg. von Martin Kämpchen. Aus dem Bengalischen übersetzt von Rahul Peter Das, Alokeranjan Dasgupta, Hans Harder, Martin Kämpchen und Lothar Lutze. Aus dem Englischen übersetzt von Andor Orand Carius und Axel Monte. Winkler Weltliteratur Blaue Reihe. 669 Seiten. Patmos Verlag, 2005. Die vorliegende, im Herbst dieses Jahres erschienene Werkausgabe ist die Krönung der Tagorebeschäftigung von dem in Shantiniketan lebenden deutschen Publizisten und Buch-Autor Martin Kämpchen. Die Auswahl aus dem Gesamtwerk bietet Gelegenheit, den einzigen indischen Literaturnobelpreisträger und den großen Vermittler zwischen den Kulturen Tagore neu zu entdecken. Sämtliche Gedichte, Lieder, Erzählungen, Dramen, Essays und Briefe in diesem Band wurden aus den Originalsprachen Bengali und Englisch neu übersetzt. Erstmals erschienen auf Deutsch Tagores zwei wichtige Gespräche mit Albert Einstein (siehe Auszüge aus einem Gespräch mit der Überschrift „Wahrheit und die menschliche Wahrnehmung“) Der neue Tagore-Band beinhaltet zu- 23 sätzlich zu den Übersetzungen auch eine Einführung in sein Leben und Werk als Nachwort. Die Anmerkungen sind ausführlich und dienen dazu, das Verständnis der indischen, insbesondere der bengalischen Kultur und des Hinduismus, in denen RT’s Werk eingebettet ist, zu erleichtern. „Das goldene Boot“ ist sowohl in der Auswahl der Inhalte wie auch in der Qualität der Übersetzung zweifellos ein höchst gelungenes Projekt. Martin Kämpchen konnte die bestgeeigneten Köpfe in Deutschland für diese großartige Aufgabe begeistern. Ohne Frage, dieser Tagore-Band ist ein Muss für die Bücherregale aller Tagoreliebhaber im deutschsprachigem Raum. - Jose Punnamparambil diese Art des Nationalismus und wurde dafür von seinen Landsleuten in Indien als unpatriotisch verurteilt. Bei seiner Beurteilung der Auswirkungen des Nationalismus im Ersten Weltkrieg ging er auch auf die besondere Lage Deutschlands ein und schrieb dazu: „Ein Problem hat jetzt aber Deutschland. Es ist zu spät erwacht. Es ist keuchend gegen Ende des Festmahls angekommen. Es hat Hunger genug, riecht auch den Fisch – jedoch ist nicht viel mehr als Gräten übrig. Es grummelt vor Wut. Es sagt: ’Wenn für mich kein Teller gedeckt worden ist, dann werde ich nicht auf ein Einladungsschreiben warten. Ich werde durch meine Leibeskraft demjenigen, dessen Teller ich habhaft werden kann, diesen wegreißen.’ Es gab eine Zeit, da war es beim gegenseitigen Wegreißen nicht nötig, die Religion als Vorwand anzuführen. Jetzt ist es notwendig geworden. Doch die Moral verkündenden Gelehrten Deutschlands sagen, nur die benötigen die Religion als Vorwand, die schwach seien, die die mächtig seien, benötigten keine Religion – ihre Leibeskraft sei schon genug. Das Diktum des hungrigen Deutschlands ist heute, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Herren und Diener. Der Herr soll alles für sich nehmen, der Diener soll alles für den Herrn beschaffen – wer Kraft besitzt, der solle im Wagen fahren; wer keine Kraft besitzt, der solle den Weg räumen. ..... Aber das Prinzip, das deutsche Gelehrte heute verkünden und das Deutschland heute wie Alkohol zum unrechtmäßigen Krieg berauscht hat, entsprang doch nicht den Hirnen deutscher Gelehrter, sondern der Geschichte der Zivilisation des gegenwärtigen Europas.“ Neben den Propagandisten eines machthungrigen Deutschlands, die Tagore in diesem Essay von 1915 kritisierte, gab es aber zu dieser Zeit auch bereits Menschen in Deutschland, die Tagores Gedichte in deutscher Übersetzung lasen und den Dichter verehrten. Der junge Verleger Kurt Wolff, der ein gutes Gespür für den literarischen Markt hatte, veröffentlichte bereits 1914 die deutsche Ausgabe von „Gitanjali“ unter dem Titel „Hohe Lieder“. Kurt Wolff, der in seinem langen Leben von Franz Kafka bis zu Boris Pasternak und Günter Grass viele bedeutende Autoren verlegte, war rechtzeitig auf Tagore aufmerksam geworden. Marie Luise Gothein, die sich schon als Übersetzerin englischer Dichter einen Namen gemacht hatte, sandte Wolff ihre Übersetzung von „Gitanjali“ zu. Fast hätte Wolff sie übergangen, wenn es ihm gelungen wäre, Rainer Maria Rilke dafür zu gewinnen, Tagore seine Sprache zu leihen. Rilke hatte sich begeistert über André Gides französische Übersetzung von „Gitanjali“ geäußert. Doch er lehnte Wolffs Bitte ab. Das lag nicht daran, dass Rilke Tagore nicht schätzte, sondern an seinem Verhältnis zur englischen Sprache, der er sich „entfremdet“ fühlte, wie er an Wolff schrieb. Außerdem fand er Marie Luise Gotheins Übersetzung, die Wolff ihm zugesandt hatte, nicht schlecht und zweifelte daran, dass er es besser machen könne. Nach der deutschen Ausgabe von „Gitanjali“, die rasch mehrere Auflagen erlebte, verlegte Wolff während des Krieges noch weitere Werke Tagores. Seinen geradezu sagenhaften Erfolg als Verleger Tagores erlebte Wolff allerdings erst nach dem Krieg. Er hatte das Glück in Helene MeyerFranck eine neue Übersetzerin der Werke Tagores zu finden, die ihre Arbeit mit großer Hingabe und immensem Fleiß leistete. Sie lernte später sogar Bengali und veröffentlichte dann direkte Übersetzungen von Tagores bengalischen Werken. Leider tat sie das erst zu einer Zeit, als kaum jemand sie lesen wollte. Um 1920, als Deutschland von Tagore begeistert war, hatte sie große Erfolge mit ihren Übersetzungen aus dem Englischen gehabt. Sogar eine deutsche Ausgabe von Tagores Gesammelten Werken in acht Bänden war von ihr und ihrem Mann, Heinrich MeyerBenfey, 1921 herausgegeben worden. Martin Kämpchen hat mit Recht auf die Verdienste dieser heute nahezu vergessenen Frau hingewiesen. Als Tagore Deutschland 1921 zum ersten Mal besuchte, war er den deutschen Lesern kein Unbekannter mehr. Man kann geradezu sagen, dass er bereits eine deutsche Lesergemeinde hatte, die sich dann aber sprunghaft vergrößerte, als der Meister selbst in Erscheinung trat und durch sein Charisma die Deutschen in seinen Bann zog. Selbst Kurt Wolff, der keineswegs ein Jünger Tagores war und eher eine geschäftsmäßige Beziehung zu ihm hatte, wurde durch die persönliche Begegnung tief beeindruckt. Natürlich wusste er es auch zu schätzen, dass die, die ebenso durch Tagores Besuch beeindruckt waren, nun umso eifriger seine Bücher kauften, von denen Wolff in kurzer Zeit über eine Million Bände verbreiten konnte. Die Befindlichkeit der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg machte sie für Tagores Weltsicht besonders aufnahmebereit. Dieser Krieg hatte für sie nicht nur eine materielle Niederlage, sondern eine geistige Katastrophe bedeutet. Der deutsche Historiker Friedrich Meinecke hatte 1907 sein Buch „Weltbürgertum Indien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2006 Indien ist das erste Gastland der Frankfurter Buchmesse, das sich nach dem ersten Auftritt 1986 im kommenden Jahr zum zweiten Mal in Frankfurt präsentiert. Nach Angaben der Organisatoren sollen rund 50 indische Autoren an Lesungen und Diskussionsrunden teilnehmen. Dabei sollen sämtliche 24 offiziellen Sprachen repräsentiert sein. Durch die Einführung des Forum Film & TV vor zwei Jahren bietet die Frankfurter Buchmesse auch der indischen Filmindustrie eine Plattform. Bollywood-Filme erleben seit Mitte der 90-er Jahre einen Aufschwung und sind auch in Deutschland beliebt. Auch Verlagswesen und Druckindustrie machen in Indien eine rasante Entwicklung durch. Dies macht Indien zusammen mit der sprachlichen Vielfalt auf dem Subkontinent zu einem der interessantesten Märkte der Welt. Um die Verbreitung indischer Literatur zu fördern, hat der National Book Trust India einen Übersetzungsfonds eingerichtet. Der Fonds gründet sich auf eine Titelliste, die von indischen Experten zusammengestellt wurde. Diese Bücher sollen mit Unterstützung des Fonds in deutscher, spanischer und französischer Sprache veröffentlicht werden. (Quelle: Messenewsletter, 22.10.2005) 24 und Nationalstaat“ veröffentlicht, das für das deutsche Bildungsbürgertum geradezu ein weltanschauliches Manifest wurde. Meinecke hatte das alte Ideal des Weltbürgertums mit der erst in jüngster Vergangenheit gelungenen Erschaffung eines starken deutschen Nationalstaats versöhnt, der vielen liberalen Bildungsbürgern recht unheimlich erschienen war. Dieser Staat zerbrach im Ersten Weltkrieg und damit war der Leib der Nation – wie Tagore es ausgedrückt hätte – todkrank geworden. In dieser Situation war Tagore den Deutschen sozusagen als Arzt willkommen, der nicht nur die richtige Diagnose stellen, sondern auch eine Therapie empfehlen konnte. Seine Besuche deutscher Städte und Universitäten zogen ein begeistertes Publikum an. Seine deutschen Bewunderer erwiesen sich sehr geschickt in der Inszenierung seiner Auftritte, so der Philosoph Graf Keyserling in seiner „Schule der Weisheit“ in Darmstadt im Sommer 1921. Stefan Zweig hat die Stimmung dieser Zeit in einem 1921 erdachten Zwiegespräch zwischen einem älteren und einem jüngeren Schriftsteller charakterisiert. Dem jüngeren legt er die Kritik am „Tagore-Rummel“ in den Mund. Er macht einen Bogen um die mit Tagorebänden vollgestopften Auslagen der Buchhändler. Es widert ihn an, wenn Bürgermädchen und Jünglinge selbst in der Straßenbahn Tagores Gedichte lesen. Der ältere Schriftsteller aber, der gerade Tagores „Sadhana“ liest, begründet sein Interesse für Tagore damit, dass dieser die drei Probleme, die Deutschland nach dem Krieg bewusst geworden sind, die Probleme der Gewalt, der Macht und des Besitzes tief und menschlich betrachtet und Antworten darauf gibt. Den Deutschen wird der ganze Wahnsinn ihrer Kriegswut und ihres Nationalismus erst klar, wenn sie ihn aus der Hemisphäre eines anderen Denkens und Fühlens betrachten. Deshalb wirkt Tagore so unwiderstehlich verlockend auf die Massen wie auf den einzelnen. Die Begeisterung für Tagore blieb denn auch nicht auf das durch den Krieg verunsicherte Volk beschränkt; er zog auch bedeutende Gelehrte so in Bann, zum Beispiel den berühmten Kantianer Paul Natorp, der einen Bericht über Tagores Besuch in Darmstadt schrieb und ihn später zum Besuch der Universität Mar- burg einlud. Der erst unlängst verstorbene Philosoph Hans-Georg Gadamer, der damals ein junger Schüler Natorps war, berichtete über diese Zeit: „(Natorp) lud manchmal sonntags einen Kreis in sein Haus ein und las dort Dichtungen, vor allem Dramen von Rabindranath Tagore, deren mystischer Tiefsinn mich oft ganz erfüllte. Einige Jahre später kam Tagore einmal zu Besuch zu Natorp, und ich erinnere mich der Universitätsfeier (bei der) Rabindranath Tagore und Paul Natorp nebeneinander saßen. Was für ein Kontrast! Bei welcher Ähnlichkeit! Zwei nach innen gewandte Gesichter, beide ehrwürdige alte Männer mit grauem Bart... beides gewiß Menschen von einer tiefen Innerlichkeit und überzeugenden Ausstrahlung. Und doch, wie wirkte der große Gelehrte und scharfe Methodologe Natorp dünn und schmächtig neben der felsigen Größe von Tagores Antlitz und Erscheinung, einer Herrengestalt aus einer anderen Welt.“ Natorps Bewunderung für Tagore ging jedoch viel tiefer als dieser Bericht über die Lesung seiner Werke im Hause Natorps vermuten lässt. Gadamer gab – ohne sich dabei auf Tagore zu beziehen – einen Hinweis auf eine geistige Wahlverwandtschaft, als er über die Quintessenz des Spätwerks seines Meisters urteilte: „Die Einheit von Theoretik und Praktik... sollte in der allgemeinen Logik Natorps erst ihre volle Universalität erreichen. Sie hat ihre eigentliche Vollendung... in der grundsätzlichen Korrelation von Denken und Sein, die den unendlichen Fortgang des methodischen Bestimmens trägt und begründet. Aber auch diese Korrelation ist nichts letztes, sondern setzt ihre ursprüngliche „unzerstückte“ Einheit voraus. Das ist der Sinn der Überschreitung der Methode, die Natorps spätes Denken beherrschte.“ Wer Tagores Schriften liest, wird viele Belege dafür finden, dass der Dichter in dieser Hinsicht ähnlich dachte wie der große Methodiker Natorp, der gerade beim Überschreiten der Methode Anregungen im Werk Tagores gefunden haben muss. Eine Auseinandersetzung Eine weitere Begegnung dieser Art waren zehn Jahre später die Gespräche Tagores mit Albert Einstein, die zum ersten Mal in der von Martin Kämpchen herausgegebenen Anthologie in deutscher Sprache vorliegen. Hier ging es 25 freilich weniger um einen Gleichklang der Idee wie in der Begegnung mit Natorp, als um eine Auseinandersetzung im wahren Sinne des Wortes. Tagore berichtete darüber: „Ich konnte erkennen, dass Einstein am außermenschlichen Aspekt der Wahrheit festhielt. Aber für mich ist es offensichtlich, dass in der menschlichen Vernunft die Tatsachen eine Übereinstimmung mit der Wahrheit voraussetzen, die nur für einen menschlichen Geist vorstellbar ist.“ Im Gespräch wurde dieser Gegensatz auf den Punkt gebracht, als Einstein Tagore fragte: „Wenn es keine Menschen mehr gäbe, dann wäre der Apollo von Belvedere nicht mehr schön?“ Als Tagore dies bestätigte, fuhr Einstein fort: „Diesem Begriff der Schönheit stimme ich zu, aber nicht dem der Wahrheit.“ Darauf entgegnete Tagore: „Warum nicht? Die Wahrheit wird durch den Menschen erfahren.“ Worauf Einstein erwiderte: „Ich kann nicht beweisen, dass meine Vorstellung richtig ist, aber das ist meine Religion“. Als Tagore am Ende dieses Gesprächs nochmals betonte, dass eine Wahrheit, die keinen sinnlich-rationalen Bezug zum menschlichen Bewusstsein hat, für uns Menschen nicht existieren kann, reagierte Einstein mit dem bemerkenswerten Ausruf: „Dann bin ich religiöser als Sie!“ In den zehn Jahren, die zwischen Tagores erstem Besuch in Deutschland und seinem letzten im Jahre 1930 lagen, hatten sich Tagores Grundansichten und sein Interesse an Deutschland nicht gewandelt, doch die geistige Atmosphäre in Deutschland hatte sich entscheidend verändert. Tagore konnte dies an dem geringeren Interesse, das ihm bereits bei seinem zweiten Besuch 1926 entgegengebracht wurde, sicher merken, wenn Die Zeitschrift erscheint zwei bis drei Mal im Jahr. Eine Spende von mindestens 13,– Euro wird von den Lesern erwartet. Alle Rechte bleiben dem Herausgeber vorbehalten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Die in den Beiträgen vertretenen Ansichten decken sich nicht immer mit der Auffassung der Redaktion. Die Redaktion behält sich redaktionelle Änderungen vor. Alle Zuschriften sind an die Redaktion zu richten. auch wohl nicht verstehen, weil ihm dazu der Einblick in die neue deutsche Befindlichkeit fehlte. Bei seinem ersten Besuch war die deutsche Literatur noch sehr stark unter dem Einfluss des Symbolismus gewesen. Stefan George und Rainer Maria Rilke standen auf der Höhe ihres Ruhms. Tagore ist ebenfalls dieser literarischen Bewegung zuzurechnen. Als Tagore 1926 nach Deutschland kam, hatte bereits eine andere künstlerische Richtung ihren Siegeszug angetreten: die Neue Sachlichkeit. Dieser Begriff war 1923 von dem Kunsthistoriker Gustav Hartlaub ge-prägt worden und bezog sich zunächst auf die Malerei, wurde dann aber auch auf Literatur und Baukunst angewendet. Der Maler Otto Dix war ein typischer Vertreter dieser Richtung. In der Literatur waren Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und Joseph Roth führende Autoren, die die Neue Sachlichkeit verkündeten; in der Architektur waren es die Meister des Bauhauses. Der nüchterne Sprachstil und die sozialkritische Einstellung der neuen Literatur standen in krassem Gegensatz zu Tagores Dichtung. Als Tagore 1930 Deutschland seinen letzten Besuch abstattete, war diese Richtung noch mächtiger geworden. Kurt Wolff, Tagores Verleger, der einst an seinen Büchern so gut verdient hatte, wurde zu dieser Zeit von der Weltwirtschaftskrise in den Ruin getrieben. Tagore konnte keine zusätzlichen deutschen Leser gewinnen; nur die, die 1921 von seiner Dichtung ergriffen worden waren, mochten ihm noch die Treue halten. Tagore-Übersetzung in der Nachkriegszeit Nach Hitlers Machtergreifung fegte der Nationalsozialismus wie ein eisiger Sturm durch die deutsche Geisteswelt und vernichtete jede Kreativität. Das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs, das Deutschland noch viel härter traf als das des Ersten Weltkriegs, wurde nach dem Krieg eher verdrängt als verarbeitet. Die unmittelbare Nachkriegszeit war eine in jedem Sinne des Wortes dürftige Zeit. Auch Tagore war bei den deutschen Lesern nahezu völlig vergessen. Nur in der Deutschen Demokratischen Republik konnte die Literatur Tagores im Rahmen der von der Regierung befohlenen „Völkerfreundschaft“ eine Nische finden. Es gab dort auch Ansätze zur direkten Übersetzung der Werke Tagores aus dem Bengalischen. Einen Auf- schwung nahm die Bemühung um eine neue Erschließung der Werke Tagores in Deutschland aber erst, als sich der in Santiniketan wirkende Martin Kämpchen, der bei Heidelberg lebende bengalische Dichter und Literaturwissenschaftler Alokeranjan Dasgupta und der im Heidelberger Südasieninstitut lehrende Lothar Lutze um neue Übersetzungen der Werke Tagores aus dem Bengalischen bemühten. Damit wird den deutschen Lesern ein Zugang zu Tagores Werk vermittelt, der den Umweg über die englische Sprache vermeidet. Tagore hat einen großen Teil seiner Werke selbst ins Englische übersetzt. Das verlieh diesen Übersetzungen den falschen Schein der Authentizität. Edward Thompson, der englische Freund und Übersetzer Tagores, schrieb, dass Tagore seinen wohlverdienten Ruf durch diese eigenen Übersetzungen geschädigt habe. Sie legten sich, wie Thompson meinte, wie ein verhüllender Schleier über Tagores Dichtungen. In einem Brief an Thompson gestand Tagore: „In my translations I timidly avoid all difficulties, which has the effect of making them smooth and thin....When I began this career of falsifying my own coins I did it in play. Now I am becoming frightened of its enormity....“ Die „glatte und dünne“ englische Version seiner Gedichte hatte freilich den Vorzug, dass sie recht eingängig war und sich seine „Falschmünzerei“ in dieser Hinsicht lohnte. Ob eine philologisch korrekte Version denen, die ihm den Nobelpreis verliehen, überzeugender erschienen wäre, ist fraglich. Doch Tagore dichtete ja nicht, um Preise zu gewinnen, sondern um die Seelen der Menschen zu berühren – und in dieser Hinsicht stand ihm die „Falschmünzerei“ im Wege. Ein besonderer Schaden, der dadurch entstand, war, dass die Vielfalt und Originalität der Sprache Tagores sich in der englischen Übersetzung in stereotype Redewendungen verwandeln konnte, die dem Leser allmählich den Eindruck einer ermüdenden Monotonie vermittelten, wie Edward Thompson bemerkte. Der Leser, der sich nun dem „Goldenen Boot“ zuwendet und liest, was Martin Kämpchen und seine Mitautoren zusammengetragen haben, der wird einen neuen Zugang zu Tagore finden und erkennen, dass hier einer der größten Dichter der Weltliteratur zu ihm spricht. Martin Kämpchen hat Tagore und sei- 26 nem Werk schon früher wichtige Veröffentlichungen gewidmet, doch die eindrucksvolle Auswahl, die er jetzt vorgelegt hat, ist die Krönung seiner Bemühungen darum, für den Dichter in Deutschland wieder die Aufmerksamkeit zu erwecken, die er verdient. (Anmerkung: Rede gehalten von Prof. Dr. Dietmar Rothermund am 9.11.2005 bei der Festveranstaltung zur Veröffentlichung des Buches „Das goldene Boot”, eine Tagore-Werkausgabe herausgegeben von Martin Kämpchen.Wir drucken diese hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.) DIG-Lübeck feierte 40-jähriges Jubiläum Die Deutsche-Indische Gesellschaft e.V., Lübeck, feierte am 24.9.05 ihr 40-jähriges Bestehen mit einer Festveranstaltung im Bürgerschaftssaal des Lübecker Rathauses. Aus diesem Anlass fand die Jahresversammlung des Bundesverbandes der DeutschIndischen Gesellschaft e.V in Lübeck statt. Im Mittelpunkt der Jubiläumsveranstaltung standen die Tanzdarbietungen der Künstlerin Radha Sharma. Die Veranstaltung Klang aus mit einer Stadtrundfahrt auf der Trave mit indischem Abendessen. Die DIG-Lübeck ist einer der aktivsten der über 30 Zweiggesellschaften der DIG in Deutschland. Pro Jahr führt die DIG-Lübeck ca. 25 Veranstaltungen durch. Bei diesen Veranstaltungen wird Indien in all seiner Vielfalt öffentlich präsentiert. - JP Interview Aktuell „Mein Christsein ist vom Hinduismus sehr bereichert worden: von seiner Kosmosfrömmigkeit, seinem Körperbewusstsein (Yoga), seiner mystischen Neigung“ Martin Kämpchen Martin Kämpchen, der in Shantiniketan (Indien) lebende deutsche Autor und Publizist, hat viele Bücher mit Direktübersetzungen von Tagore veröffentlicht. Besonders zu erwähnen sind Bücher wie „Wo Freude ihre Feste feiert. Gedichte und Lieder“ (Herder 1990), „Am Ufer der Stille“ (Benziger 1995), „Auf des Funkens Spitzen“ (Kösel 1997) und „Liebesgedichte“ (Insel 2005). Er hat auch eine Biographie von Tagore im Rowohlt Verlag (2002) veröffentlicht. Sein Magnum Opus ist aber die im Herbst dieses Jahres erschienene Werkausgabe „Das goldene Boot“ (Winkler-Weltliteratur) mit Direktübersetzungen aus Tagores Lyrik, Prosa und Drama, zum großen Teil aus dem Bengali. Beigetragen zu dem Werk haben neben Martin Kämpchen namhafte Indologen und Tagore-Kenner wie Rahul Peter Das, Alokeranjan Dasgupta, Lothar Lutze, Hans Harder etc. Tagore-Übersetzungen sind für Martin Kämpchen fast eine Leidenschaft. Er fand in Tagore eine Universalität, die Weisheit, Fantasie, Religiosität und Philosophie harmonisch in sich vereinigt und eine höchst kommunikative Einheit bildet. Die vorliegende Werkausgabe wird jedoch in aller Wahrscheinlichkeit Kämpchens letzte wichtige Tagorearbeit sein. Aus diesem Anlass drucken wir nachfolgend ein Interview mit ihm ab, das wichtige Auskunft über seine Tagorebeschäftigung gibt. Außerdem spricht er in dem Interview ausführlich über sein Leben, seine Erfahrungen in Indien und seine Meinungen zu vielen Fragen, die Indien, Deutschland und Europa betreffen. Das Interview führte Dr. Hamid Reza Yousefi, der die gesammelten Essays von Martin Kämpchen unter dem Titel „Dialog der Kulturen. Eine interreligiöse Perspektive“ (zusammen mit Ina Braun) im Frühjahr 2006 herausgeben wird. Das Buch erscheint im Verlag Traugott Bautz, Nordhausen, ca. 470 Seiten. Wir danken Herrn Dr. Yousefi für seine Zustimmung, das Interview in unserer Zeitschrift veröffentlichen zu dürfen. -Die Redaktion Dr. Yousefi: Was bedeutet dir die Herausgabe der Werkausgabe von Rabindranath Tagore, die soeben erschienen ist (Rabindranath Tagore: Das goldene Boot. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2005)? Als stücke). Axel Momte hat englische Essays übersetzt und Andor Orand Carius die Tagore-Einstein-Gespräche und vor allem sie eindringlich kommentiert. Anmerkungen, Nachwort und andere Elemente, die zum wisKind wollte ich immer Afrika besuchen Apparat und lernte schon als Schüler in Boppard Afri- senschaftlichen Dr. Kämpchen: Dieser Band kaner kennen, die das dortige Goethe-Institut gehören, erleichtern und vertiefen die Lektüre. Zum ersten ist Krönung und Abschluss besuchten. Aber es kam anders: Als ich Mal gibt der Band dem einer zwanzigjährigen Student in Wien war, erhielt ich von einer Bemühung um das Werk des deutschen Organisation ein Reisestipendium deutschsprachigen Leser einen Überblick über das GesamtDichters Rabindranath Tagore nicht für Afrika, sondern für Indien. werk in literarisch wertvollen in deutscher Sprache. In vier Direktübersetzungen. Das hat verschiedenen Verlagen sind es noch nie gegeben, auch über die Jahre kleine Bände von Tagores Lyrik in meiner Überset- sowie bei einigen Essays, Briefen und nicht, als Tagore in den 1920ern in zung aus dem Bengali erschienen. Nun Gesprächen aus dem Englischen. Der Deutschland Triumphe feierte. Die hat mir der Verlag Artemis & Winkler Band versammelt sämtliche Übersetzer, damalige achtbändige Ausgabe fußte auf englischsprachigen die Gelegenheit gegeben, eine fast 700- die fähig sind, literarische Texte aus dem minderwertigen seitige Auswahl aus dem Gesamtwerk Bengali ins Deutsche zu übersetzen. Übersetzungen. Der Band erscheint in vorzustellen. Sie enthält neben fast 200 Mitgewirkt haben nämlich Rahul Peter der renommierten Reihe „Winkler-WeltSeiten Lyrik zwei Theaterstücke, zwei Das (Essays), Alokeranjan Dasgupta literatur“. Das bedeutet, dass RabindraErzählungen, einen Kurzroman, eine (Lyrik und Briefe), Lothar Lutze (Lyrik), nath Tagore nicht mehr wie bisher als Auswahl von Essays aus dem Bengali Hans Harder (Erzählungen und Kurzro- Mystiker, als Kalenderblattpoet, als Proübersetzt, weiterhin Essays aus dem man) sowie ich selbst (Lyrik, Theater- phet behandelt wird, sondern als das, Englischen sowie eine knappe Briefesammlung und die Gespräche mit Albert Einstein. Es sind ausschließlich Übersetzungen aus der Originalsprache Bengali 27 was er wesentlich war: ein Dichter der Weltliteratur. Dr. Yousefi: Bitte schildere einige wichtige Gedanken zu deinem Leben und Werk. Dr. Kämpchen: Meine Eltern waren akademisch gebildet. Mein Vater war Lehrer am Gymnasium, zuletzt viele Jahre Direktor. Mutter und Vater verstanden den Wert einer breiten Ausbildung. Das damalige Schulsystem der Gymnasien betonte noch die Allgemein- „Heimat“ ist mir Indien nicht geworden. Ich bin weiterhin Gast, ich bin fast mein ganzes Leben lang irgendwo Gast gewesen. bildung; wir lernten in vierzehn Fächern bis zum Abitur. Meine Eltern schickten mich als Austauschschüler mehrmals nach England und Frankreich; schon als Sechzehnjähriger besuchte ich als Stipendiat ein Schuljahr lang eine amerikanische High School. Als Student war ich ein Jahr in Paris, um Französisch zu lernen. Länder kennenlernen, Sprachen lernen war wichtig. Als Kind wollte ich immer Afrika besuchen und lernte schon als Schüler in Boppard Afrikaner kennen, die das dortige Goethe-Institut besuchten. Aber es kam anders: Als ich Student in Wien war, erhielt ich von einer deutschen Organisation ein Reisestipendium nicht für Afrika, sondern für Indien. 1971 reiste ich drei Monate allein kreuz und quer durch Indien und war überzeugt: Ich lerne die zweite Hälfte der menschlichen Existenz kennen. In Europa/Amerika wurde ich mit der ersten Hälfte vertraut gemacht, in Indien mit der zweiten. Nur wer in beiden Sphären gelebt hat, weiß, was Menschsein ist. Dr. Yousefi: Wo und was hast du studiert? Dr. Kämpchen: Das erste Semester habe ich in der Nähe meiner Heimat Boppard verbracht, nämlich in Saarbrücken. Da war ich leider gar nicht glücklich. Auf Anraten einer Bopparder Bekannten fuhr ich für das zweite Semester nach Wien, um dort ein „Kultursemester“ zu verbringen. Nun, daraus wurde ein Kulturstudium: Ich habe Wien nicht mehr verlassen. Es bleibt bis heute Lebensweise der Heiligen aller Religiomeine mir liebste Stadt, die ich mög- nen aufzuzeigen. Ich habe fünf typische lichst jedes Jahr besuche. In Wien habe Stufen im Leben der Heiligen herausgeich Germanistik (Hauptfach), Theater- arbeitet und danach das Leben von Franwissenschaft (Nebenfach) und europäi- ziskus und Ramakrishna Stufe für Stufe sche Philosophie studiert. Ein Jahr ver- verglichen. brachte ich in Paris und lernte Franzö- Nur ganz zu Anfang habe ich versucht, sisch an der Alliance Francaise und der die akademische Laufbahn einzuschlaSorbonne. In der Banlieu arbeitete ich in gen. Mein Germanistik-Professor in einem Internat als Maitre d’Internat, um Wien wollte mich zu seinem Assistenten mir das Leben in der teuren Großstadt zu machen. Doch meine österreichischen Studienkollegen verlangten, dass einer verdienen. Es waren die Jahre des Vietnam-Kriegs. von ihnen (kein Deutscher!) den Posten Schon als Gymnasiast hatte ich den bekommen solle. Mein Professor erlag Kriegsdienst verweigert, was damals dem Druck. Für mich war dies das Zei(1967) noch bedeutete, dass ich gegen chen, dass ich keine Universitätslaufden Strom schwimmen musste. Mein bahn anstreben soll. Vater und meine Lehrer waren gegen meine Kriegsdienstverweigerung. Ich Dr. Yousefi: Was hat dich dazu bewolas Mahatma Gandhi schon als Schüler, gen, nach Indien zu gehen und dieses lernte als Student in Indien Armut und Land zu deiner zweiten Heimat zu Not kennen. All das bewog mich machen? schließlich zu dem germanistischen Dissertationsthema „Die Darstellung der Dr. Kämpchen: Zum ersten Mal bin ich Unmenschlichkeit und Grausamkeit in nach Indien gefahren, weil ich nicht der Literatur zum Ersten und Zweiten nach Nigeria reisen durfte. Damals Weltkrieg“ (Wien 1973). Es war eine brach der Biafra-Krieg aus, und die „Holocaust-Studie“, bevor dieser Be- Gruppe, die Nigeria besuchen sollte, musste umverteilt werden. In einem griff erfunden worden war. In Indien bin ich, nach dreieinhalb Jah- Telefonat nach Saarbrücken fragte mich ren Deutschunterricht in Kalkutta, zur der Leiter der Organisation, die jene StuUniversität zurückgekehrt, um mein In- dentenreisen in Länder der Dritten Welt teresse an und meine Kenntnisse über unternahm: „Wohin wollen Sie statt desIndien auf eine akademische Grundlage sen fahren?“ Ohne recht nachzudenken, zu stellen. Nach einem M. A. in Madras sagte ich: „Indien“. Das hat mein Leben in Indischer Philosophie bin ich 1979 geprägt. Nach dem Studium in Wien bin nach Shantiniketan gegangen, um dort ich sogleich wieder dorthin geflogen, zum zweiten Mal, und zwar in Verglei- weil mir diese wesentliche Erfahrung „Indien“ noch chender Religinicht abgeschlosonswissenschaft, Mich hat die Armut sen schien – das zu promovieren. leidenschaftlich beeindruckt, Erlebnis der Das Thema war und mir ist stets bewusst gezweiten Lebens„The Concept of wesen, dass sie das Normale in hälfte. Aber Holiness in the der Welt ist, nicht unser Wohl- warum bin ich Lives of Sri leben in Europa. geblieben? Ich Ramakrishna and wollte eigentlich Francis of Assinur ein Jahr oder si“. An Franziszwei Jahre bleikus war ich als katholischer Christ, der in Indien mit ben und dann nach Europa zu-rückkehden Armen zusammenlebte und selbst ren und Journalist, am liebsten Theateranspruchslos zu leben wünschte, interes- kritiker, werden. Niemals habe ich mich siert. Er war ein Vorbild. Zu Ramakrish- dazu entschieden: „Ich bleibe.“ Immer na wurde ich durch mein Zusammenle- dachte ich: „Ich bleibe noch ein Jahr als ben mit den Mönchen der Rama- Lehrer.“ Dann: „Ich mache einen Magikrishna-Mission hingeführt. Während ster.“ Dann: „Ich promoviere noch einmeiner dreieinhalb Unterrichtsjahre in mal.“... Ein Jahr kam zum anderen, und Kalkutta habe ich nämlich außerhalb der daraus wurden 32 Lebensjahre. Mich Stadt in einem großen Ashram des hielten meine Aufgaben fest: RamaRamakrishna-Ordens gewohnt. Noch krishna übersetzen! Tagore übersetzen! heute besuche ich ihn regelmäßig. Die Dann schließlich meine Arbeit in zwei Arbeit versucht, das Gemeinsame in der Dörfern des Santal-Stammes, die ich 28 über Jahre hin intensiv begleitet habe und die ich fortführen wollte, bis ihre Verantwortlichen selbständig sind. „Heimat“ ist mir Indien nicht geworden. Ich bin weiterhin Gast, ich bin fast mein ganzes Leben lang irgendwo Gast gewesen. Europa ist noch weit davon entfernt, Indien zu verstehen. Mein Lebenswerk ist, mehr Kenntnis zu vermitteln und kritisches, differenziertes Verständnis für Indien zu wecken. Dr. Yousefi: Was hat dich in Indien am meisten beeindruckt? Dr. Kämpchen: Die kindliche Offenheit der einfachen Menschen, ihre emotionale Intensität, die Fähigkeit der Menschen im Dorf, mit der Natur auf einfachste Weise zu leben, ihre Weise, mit den einfachsten Mitteln glücklich zu werden. Mich hat die Armut leidenschaftlich beeindruckt, und mir ist stets bewusst gewesen, dass sie das Normale in der Welt ist, nicht unser Wohlleben in Europa. Ich habe mich in den indischen Dörfern stets am Nabel der Welt gefühlt, weil dort „das Eigentliche“ geschieht und ist. Insgesamt hat mich das dörfliche Indien angezogen, nicht das städtische. Dr. Yousefi: Welcher indische Denker hat dich am meisten fasziniert? Dr. Kämpchen: Ich begann mit der Lektüre von Swami Vivekananda, dessen Vorträge und Schriften ich von vorne bis hinten gelesen habe. Dann bewegte mich zutiefst Mahatma Gandhi. Doch den tiefsten Einfluß hat Rabindranath Tagore auf mich ausgeübt. Dr. Yousefi: Warum findest du einen tiefen Sinn in Tagores Dichtungsphilosophie? Dr. Kämpchen: Tagore ist ein universaler Mensch gewesen, wie Goethe, und sein Werk stellt diese Universalität beeindruckend dar. Für mich ist besonders wichtig, wie er sämtliche Lebensbereiche in einer großen, philosophischen Schau integriert, wie er diese Schau dann in seinem literarischen Werk in vielfältiger Weise in inspirierender Form schöpferisch zum Ausdruck bringt. Natur und Geist, Mensch und Natur, das Göttliche und das Irdische sind in eine große, starke Harmonie einbezogen. Wo hat es das im 20. Jahrhundert noch einmal gegeben? Dr. Yousefi: Was hältst du vom Hinduismus? Dr. Kämpchen: Einer der Gründe, weshalb mich Indien anzog, war natürlich mein Interesse am Hinduismus – am reformierten Hinduismus von Ramakrishna und Swami Vivekananda vor allem, aber auch am klassischen philosophischen Hinduismus. Niemals habe ich mich anders denn als Christ empfunden. Doch mein Christsein ist vom Hinduismus sehr bereichert worden: von seiner Kosmosfrömmigkeit, seinem Körperbewusstsein (Yoga), seiner mystischen Neigung. Doch nach und nach überwiegt in mir die Unzufriedenheit mit dem Hinduismus, weil er praktisch so wenig sozial eingestellt ist, weil er das weltanschauliche Fundament des Kastenwesens ist, weil er nicht auf die modernen Fragen und Nöte der Menschen reagiert, sondern sich auf einen ungeerdeten Spiritualismus oder einen Ritualismus zurückzieht. Dr. Yousefi: Was verbindet die indische Lebensweisheit mit Franz von Assisi? Dr. Kämpchen: Die Genügsamkeit und Einfachheit der indischen Lebensweise findet ein Echo bei Franz von Assisi. In Indien wird sein ursprüngliches Ideal (Wandern, Armut/Betteln, Einsamkeit, Ungebundenheit) noch häufiger und echter gelebt als in Europa. Dr. Yousefi: Was hältst du von der europäischen Sicht auf Indien? Dr. Kämpchen: Europa sieht Indien entweder als ein orientalisches Zauberland oder als ein armes Entwicklungsland. Beide Klischees werden der Wirklichkeit nicht gerecht, sie verstellen sie eher. Europa ist noch weit davon entfernt, Indien zu verstehen. Mein Lebenswerk ist, mehr Kenntnis zu vermitteln und kritisches, differenziertes Verständnis für Indien zu wecken. Dr. Yousefi: Wie sehen die Inder Europa und insbesondere Deutschland? 29 Dr. Kämpchen: Aufgrund geschichtlicher Entwicklungen weiß ein gebildeter Inder mehr über Europa, vor allem über England, als ein gebildeter Deutscher über Indien. Doch viel zu viele Inder wissen so wenig, dass sie meinen, Europa glorifizieren zu müssen, und zwar so stark, dass sie ihrem Heimatland im Gefühl und im Geist untreu werden. Einerseits gibt es einen unqualifizierten Patriotismus, der das „alte Indien“ verherrlicht, andererseits eine vollkommene Hinwendung zum Westen. Eine diskriminierende, geistig weite Mittel- stellung ist noch zu selten. Deutschland wird oft gelobt, weil Hitler die Engländer im Krieg geschwächt hat und Indien durch diese Schwächung der Unabhängigkeit näherkam. Von deutscher Seite betrachtet, ist dies ein trauriger, be-fremdlicher Grund, Deutschland zu verehren. Dr. Yousefi: Was trennt Indien und Europa? Dr. Kämpchen: Indien und Europa trennt die Wirtschaftsmacht Europas, die unfaire Marktbedingungen erzwingen kann. Ineffizienz und mangelnde Disziplin, Vagheit im Verstehen praktischer Dinge, überhaupt unpräzises Denken und Handeln ist noch zu stark in Indien verbreitet. Wenn ich in Europa bin, atme ich auf: Worte werden so aufgefasst, wie sie gemeint sind. Wir dürfen Gott nicht klein auffassen, sondern immer größer und tiefer. Nur so können auch wir Menschen größer und weiter und tiefer werden. Indien und Europa trennt, dass in Indien die Bevölkerung explodiert und in Europa die Bevölkerung sich rapide verringert – das hat auf beiden Seiten horrende Folgen in entgegengesetzte Richtungen. Indien ist heiß – Europa temperiert: das beeinflusst die Philosophie, das Denken, die Religion, die Lebenseinstellung und das Arbeitsethos. Dr. Yousefi: Stelle deinen Standpunkt zur Interreligiosität dar. Dr. Kämpchen: Gott ist eins, doch hat er verschiedene Namen, Traditionen menschlichen Verständnisses und der Verehrung. Hier kann ich nicht anders, als die vedantische Gottesauffassung zu beherzigen. Wir dürfen Gott nicht klein auffassen, sondern immer größer und weiter und tiefer. Nur so können auch wir Menschen größer und weiter und tiefer werden. Vieles könnte ich aus eigener Erfahrung im Zusammenleben mit Hindus und Ureinwohnern und aus der Meditation dazu sagen. Eines soll hier genügen: Wie der Gott der einen Religion und der Gott einer anderen Religion miteinander zu „vereinen“ oder zu verbinden sind, ist ein Mysterium. Wenn Gott selbst schon ein Mysterium ist, wie jede Religion für „seinen“ Gott behauptet, dann ist auch die Beziehung des einen mit dem anderen Gott ein Mysterium, das wir Menschen zwar ahnen, aber nicht ergründen können. Dr. Yousefi: Was hältst du von der These des Neohinduismus? Dr. Kämpchen: Von Tagore und Gandhi lassen sich Antworten auf unsere heutigen Probleme ableiten. Doch der Neohinduismus eines Swami Vivekananda und Aurobindo bedarf einer Modernisierung. Wir brauchen vom modernen Hinduismus unmittelbare Antworten darauf, wie sich seine Anhänger zur Umweltbedrohung, zur wirtschaftlichen Globalisierung, zur modernen Kindererziehung, Am meisten erfreut mich mein Verhältnis zu den schulisch ungegebildeten, einfachen Bauern in den Dörfern. zur Sexualerziehung (Abtreibung, Familienplanung usw.), zum Klonen, zur Städteentwicklung usw. stellen sollen. Indische Aktivisten sind meist von westlich erzeugtem Gerechtigkeitsempfinden getrieben, seltener vom hinduistischen Ethos. Mit anderen Worten, einen wirklich neuen, kämpferischen, für heute brennend relevanten Hinduismus gibt es noch nicht. Wohl gibt es einzelne Gestalten, wie Swami Agnivesh, die ihre Religion überzeugend vertreten. Dr. Yousefi: Warum haben uns die Wissenschaften der Komparatistik ent- täuscht? Fehlte es etwa doch an einer interkulturellen Einstellung? Dr. Kämpchen: Wer auf kultureller Ebene komparatistische Erkenntnis er-reichen will, braucht zunächst interkulturelle Erfahrung; das heißt, er muss mit Menschen anderer Kulturen eng zusammengelebt haben. Hier hilft keine Bücherkenntnis und keine theoretische Spekulation. Die akademische Komparatistik sieht aber die tatsächliche Erfahrung immer als etwas Subjektives, dar-um für die wissenschaftliche Erkenntnis Ungeeignetes an. Dem setzt sie seine Theorien entgegen. Das ist arrogant und dient nicht dem Leben, wie es jede Wissenschaft tun muss. Dr. Yousefi: Welche Wege muss die indische Entwicklungshilfe gehen? Dr. Kämpchen: Natürlich braucht Indien massive wirtschaftliche Hilfe, um die jahrzehntelang vernachlässigte Infrastruktur zu stärken und den Bevölkerungszuwachs aufzufangen. Aber vor allem braucht es gerechte Bedingungen, die eigenen Produkte weltweit zu vertreiben. Eine ungebremste und brutale Neues Buch Nietzsche und Buddha Pankaj Mishra Nietzsche hörte nie auf, den Buddha als einen passiven Nihilisten zu betrachten, und vermochte deswegen auch nicht zu erkennen, dass er – weit davon entfernt, sich in „orientalischer Passivität“ zu suhlen – einen praktischen Weg zur Verwirklichung ebendieses „Erhabnen“ aufgezeigt hatte: gezeigt hatte, dass der Mensch durch Achtsamkeit und Meditation zur Erkenntnis der Trishna, des Zustands unaufhörlicher Gier, Unsicherheit und Enttäuschung, und, davon ausgehend, der Unbeständigkeit alles Seienden gelangen konnte. In seinem Freisein von Ressentiment, Gier und Hass ähnelte der Buddha dem Übermenschen, der sich von der „Sittlichkeit der Sitte“ losgesagt und „Macht über sich und das Geschick (erlangt) hat“, die „sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und… zum Instinkt geworden“ ist. Wie Nietzsche hatte auch der Buddha versucht, die natürliche Würde des Menschen zu bekräftigen, ohne den ehrgeizigen (und seiner Ansicht nach fruchtlosen) Umweg über Metaphysik, Theologie, Vernunft oder politischen Idealismus zu machen. Nietzsche selbst erkannte dies implizit an, als er schrieb: Die geistige Ermüdung, die er (der Buddha) vorfindet und die sich in einer allzu großen „Objektivität“ (das heißt Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an „Egoismus“) ausdrückt, bekämpft (er) mit einer strengen Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht: das „Eins ist not“, das „wie kommst du vom Leiden los“ reguliert und begrenzt die ganze geistige Diät. Dies war das Projekt der Selbstüberwindung, das der Buddha vorgestellt hatte. Es basierte auf seiner nüchternen Einsicht darin, was der Mensch – 30 und mochte er noch so sehr gesellschaftlichen Zwängen unterliegen und von unpersönlichen Kräften, die er selbst kaum verstand, gefesselt sein – durchaus noch tun konnte: die bedingte Natur und wechselseitige Abhängigkeit aller Phänomene und die Notwendigkeit eines ethischen Lebens in sich selbst erkennen und anderen mitteilen: die zentralen Lehren des Buddha, die nicht nur, viel später, von den westlichen Buddhisten wieder entdeckt wurden, sondern auch durch einige der größten spirituellen und intellektuellen Persönlichkeiten des von Nietzsche vorhergesagten, von außerordentlicher Gewalt gekennzeichneten Jahrhunderts bestätigt werden sollten. Auszug aus dem vor kurzem erschienen Buch Unterwegs zum Buddha, sein Leben, seine Lehre, seine Wirkung, aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini, Karl Blessing Verlag, München, 2005. _______________________________ Pankaj Mishra wurde 1969 in Jhansi, Indien geboren und wuchs in Uttar Pradesh auf. Er arbeitete als Literaturkritiker und Lektor und gilt als der Entdecker von Arundhati Roy. Er lebt heute in New Delhi und Shimla. Im Karl Blessing Verlag erschien 2001 sein erster Roman Benares oder Eine Erziehung des Herzens. Globalisierung wird die arme Bevölkerung tiefer in die Armut treiben. Davor muss die Weltgemeinschaft Indien bewahren. Einfach eine minimale Anhebung der Entwicklungshilfe-Prozente ist nur eine Placebo-Maßnahme. Dr. Yousefi: Was hat dich dazu bewogen, Ramakrishna zu übersetzen? Dr. Kämpchen: Ramakrishna steht an der Schwelle vom traditionellen zum modernen Hinduismus; wie alle Schwellenfiguren ist er aus diesem Grund interessant. Ramakrishna hat eine liebenswerte Ausstrahlung, weil er als Bauer, als Mensch der Dörfer spricht – einfach und plastisch und ohne ideologische Strenge. Seine Gespräche mit seinen Schülern sind von einem der Schüler notiert und veröffentlicht worden. Aus dieser fünfbändigen Sammlung habe ich wesentliche, große Teile übersetzt und in bisher zwei Bänden veröffentlicht. Ein dritter Band wird folgen. Die Originalbände sind auch ins Englische übersetzt worden, leider jedoch verfälschend. Die-se englische Ausgabe, „The Gospel of Sri Ramakrishna“, ist die Grundlage für die Kenntnis dieses Heiligen in der ganzen Welt geworden. Ich will dazu beitragen, dass Ramakrishna durch eine genaue Übersetzung echter verstanden wird. Dr. Yousefi: Was soll deiner Ansicht nach geschehen, um den indischeuropäischen Dialog zu verbessern? Dr. Kämpchen: (a) Die philosophischen Grundtexte sollen in philologisch korrekten und erläuterten deutschen Übersetzungen besser zugänglich werden. (b) Die indische Literatur in ihren Regionalsprachen soll von deutschen Verlagen systematisch gefördert werden (nicht nur die Romane indischer Autoren, die auf Englisch schreiben und meist im Ausland leben). (c) Indische Geschichte, Literatur, Philosophie sollen – zumindest rudimentär – in Gymnasien gelehrt werden. Das Universitätsfach „Philosophie“ muss auch indische Philosophie lehren. (d) Schüler- und Studentenaustausch zwischen Europa und Indien müssen verstärkt werden. (e) Jede überregionale Zeitung sollte auch über indische Kulturentwicklungen (nicht nur über Politik) berichten. Dr. Yousefi: Wie würdest du dein Verhältnis zu deinen indischen Freunden beschreiben? Dr. Kämpchen: Um in Indien einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, muss man Mitglied einer Familie sein. Ich habe nicht geheiratet, also habe ich in Indien keinen sozialen Standort. Das macht meine Einsamkeit aus, unter der ich leide. Sie ist aber auch der Dynamo meines spirituellen Lebens und meines schreibenden Lebens. Zudem kann ich verschiedene und sich ändernde Standpunkte einnehmen, wie es die Situation verlangt. Meinen indischen Freunden bin ich also älterer Bruder oder Lehrer und Berater oder Kollege. Einige sehen einen mönchischen Menschen in mir, andere einen „Herumtreiber“. Einige haben einen verkappten christlichen Missionar in mir vermutet, der Menschen in den Dörfern bekehren will. Einige wissen, dass ich sehr viele Opfer bringen musste, um in Indien zu leben, und danken es mir. Viele wissen, dass ich als Übersetzer und Interpret Tagore und Ramakrishna in Deutschland bekannt mache. Mehr über meine Vermittlerrolle weiß beinahe niemand. Am meisten erfreut mich mein Verhältnis zu den schulisch ungebildeten, einfachen Bauern in den Dörfern: Sie können mich in keine ihrer Kategorien einordnen, weil sie nichts über meinen „background“ wissen. Darum nehmen sie mich einfach so, wie ich bin. Ich begegne ihnen als gleichgestellter, partnerschaftlicher Freund, also behandeln sie mich ungezwungen genauso. Das gefällt mir und wird mir gerecht! Dr. Yousefi: Was siehst du als dein wichtigstes Werk oder dein Lebenswerk an? Dr. Kämpchen: Die gerechte und adäquate Vermittlung indischer Kulturen und Religionen im deutschen Sprachgebiet, ohne Verherrlichung, Romantisierung oder Mystifizierung. Besonders der Kulturen im dörflichen Indien, besonders der Kulturen der Stämme und ebenso besonders der Kultur der Armen, wo sie auch leben. Dr. Yousefi: Welche Projekte möchtest du in der nächsten Zeit verfolgen? Dr. Kämpchen: Der dritte, noch unveröffentlichte, Band meiner RamakrishnaÜbersetzung wird demnächst auf den Druck vorbereitet, inzwischen hat er einen Verleger. Außerdem bringe ich eine Auswahl meiner Essays aus den letzten zwanzig Jahren heraus. Ich bin glück- 31 lich, dass dies nach mehrjähriger Bemühung gelingt. Seit fünf Jahren habe ich nur Bücher übersetzt und herausgegeben. Nun werde ich wieder selbst schreiben: Ein Buch, das die Lebensgeschichten der einfachen Menschen in meiner Umgebung über eine Generation hinweg erzählt, entsteht gerade. Danach möchte ich über meine Erfahrungen mit Armut, mit armen Menschen, mit den Bemühungen, ihnen zu helfen, schreiben. Effektive und zugleich liebevolle Hilfe zu leisten und dabei selbst ohne Frustration und Enttäuschung davonzukommen, ist ein höchst komplexes und risikoreiches Unterfangen. Indologie-Bücher Die folgenden Indologie-Bücher von dem bekannten Indologen Klaus Mylius sind beim Helmut Buske Verlag, Hamburg, erhältlich: Wörterbuch Pali-Deutsch Mit Sanskrit-Index. 1997. 438 Seiten. 3-87548-393-6. Wörterbuch Ardhamagadhi – Deutsch. 2003. 663 Seiten. 3-87548395-2. Wörterbuch des altindischen Rituals Mit einer Übersicht über das altindische Opferritual und einem Plan der Opferstätte. 1995. 147 Seiten, 1 Tafel. Broschur mit Fadenheftung. 3-87548-392-8. Das altindische Opfer Ausgewählte Aufsätze und Rezensionen. Mit einem Nachtrag zum „Wörterbuch des altindischen Rituals“. 2000. 588 Seiten. 3-87548-394-4. Asvalayana-Srautasutra Erstmalig vollständig übersetzt, erläutert und mit Indices versehen von Klaus Mylius. 1994. 624 Seiten. Broschur mit Fadenheftung. 3-87548-390-1. Anschrift: Helmut Buske Verlag, Richardstraße 47, 22081 Hamburg, Tel.: 040-299958-0, E-mail: info@buske.de Über Wahrheit und die menschliche Wahrnehmung Ein Streitgespräch zwischen Albert Einstein und Rabindranath Tagore Einstein: Ich kann wissenschaftlich nicht beweisen, dass die Wahrheit als unabhängig vom menschlichen Bewusstsein gesehen werden muss; aber ich glaube fest daran. Ich glaube zum Beispiel, dass der Satz des Pythagoras in der Geometrie etwas annähernd Wahres aussagt, das unabhängig von der menschlichen Existenz ist. Aber wie auch immer, wenn es eine Wirklichkeit unabhängig vom Menschen gibt, dann gibt es relativ dazu auch eine Wahrheit, und auf die gleiche Weise bringt die Negation des einen die Existenz des anderen hervor. Tagore: Wahrheit, die ja eins ist mit dem Universellen Selbst, muss im Wesentlichen menschlich sein, sonst kann sie, was immer wir als Individuen für wahr halten, nicht als Wahrheit bezeichnet werden, zumindest nicht als wissenschaftliche Wahrheit, die durch logisches Schließen erreicht wird, also ein Werkzeug des menschlichen Denkens. Der indischen Philosophie zufolge gibt es Brahman, die absolute Wahrheit, die nicht vom Verstand des isolierten Individuums erfasst oder durch Worte beschrieben werden kann. Sie lässt sich nur dann erfassen, wenn das Individuum sich mit dem Unendlichen verschmilzt. Aber eine solche Wahrheit kann nicht zur Wissenschaft gehören. Demnach ist die Natur der Wahrheit, die wir diskutieren, eine Erscheinung, also etwas, das dem menschlichen Verstand als wahr erscheint und darum zum Menschlichen gehört. Eine solche Erscheinung wird in Indien Maya oder auch Illusion genannt. Einstein: Also Ihrer Vorstellung nach, die wohl auch die indische ist, handelt es sich hier nicht um eine Illusion des Individuums, sondern um eine Illusion der Menschheit als Ganzes. Tagore: Die Spezies gehört ebenfalls zu einer Gattung, der Menschheit. Deshalb erkennt auch der ganze menschliche Geist die Wahrheit. Die indischen und europäischen Vorstellungen treffen sich hier. Albert Einstein und Rabindranath Tagore 1930 in Berlin (Quelle: Frontline, 20.5.2005) Einstein: Das Wort Spezies wird im Deutschen für alle Lebewesen verwendet, auch Affen und Frösche gehören dazu. Tagore: In der Wissenschaft eliminieren wir systematisch die Begrenzungen des individuellen Verstandes und erreichen so das wahre Bewusstsein des universellen Menschen oder des Universellen Selbst. Einstein: Das Problem besteht darin, ob es Wahrheit unabhängig von unserem Bewusstsein gibt. Tagore: Was wir Wahrheit nennen, liegt in der vernünftigen Harmonie zwischen den subjektiven und objektiven Seiten der Wirklichkeit, die beide zum überpersönlichen Menschen gehören. Einstein: Sogar im täglichen Leben fühlen wir uns veranlasst, Gebrauchsgegenständen eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit zuzuschreiben. Das tun wir, um auf vernünftige Weise unsere Sinneswahrnehmungen zu verbinden. Wenn zum Beispiel niemand zu Hause ist, dann bleibt der Tisch trotzdem dort stehen, wo er ist. 32 Tagore: Ja, er bleibt außerhalb der individuellen Wahrnehmung, aber nicht außerhalb des universellen Bewusstseins. Der Tisch, den ich wahrnehme, kann wahrgenommen werden von jeder Art Bewusstsein wie dem meinen. Einstein: Wenn niemand im Haus wäre, dann würde der Tisch genauso existieren. Aber das ist ja Ihrer Ansicht nach schon illegitim – weil wir nicht erklären können, was es bedeutet, dass der Tisch unabhängig von uns existiert. Unsere natürliche Ansicht von der Existenz der Wahrheit außerhalb des menschlichen Bewusstseins kann nicht erklärt oder bewiesen werden. Aber das ist ein Glaube, ohne den niemand auskommt – auch ein Primitiver nicht. Wir ordnen der Wahrheit eine übermenschliche Objektivität zu. Diese Wirklichkeit, unabhängig von unserer Existenz, Erfahrung und Vernunft, ist unentbehrlich, obgleich wir nicht wissen, was sie bedeutet. Tagore: Die Wissenschaft hat bewiesen, dass der Tisch als solides Objekt eine Erscheinung ist und dass das, welches die menschliche Wahrnehmung als Tisch registriert, nicht ohne sie existieren würde. Gleichzeitig muss man zugeben, dass die Tatsache, dass die eigentliche Realität des Tisches im Sinne der Physik lediglich eine Vielzahl von separaten, rotierenden elektrischen Kraftfeldern ist, ebenfalls zur menschlichen Erkenntnis gehört. Beim Erkennen der Wahrheit tritt immer wieder der Konflikt zwischen dem universellen menschlichen Geist und dem individuellen Geist auf, der in dem universellen gefangen ist. Der kontinuierliche Versöhnungsvorgang dieses Konflikts setzt sich in der Wissenschaft, Philosophie und Ethik fort. Aber wie dem auch sei, wenn es eine Wahrheit außerhalb der menschlichen Wahrnehmung gibt, ist sie für uns absolut nichtexistent. Man kann sich ohne Schwierigkeiten einen Geisteszustand vorstellen, in dem das Nacheinander der Dinge nicht räumlich stattfindet, sondern nur in der Zeit, wie zum Beispiel eine Abfolge von Tönen in der Musik. Für ein solches Bewusstsein ist das Begreifen der Wirklichkeit musikalisch, und die pythagoreische Geometrie kann in ihr keine Bedeutung haben. Die Wirklichkeit des Papiers ist vollkommen verschieden von der Wirklichkeit der Literatur. Für den Geist der Motte, die das Papier verzehrt, existiert die Literatur überhaupt nicht. Für den menschlichen Geist hingegen hat die Literatur einen größeren Wahrheitswert als das Papier. Ähnlich kann eine Wahrheit, die keinen sinnlich-rationalen Bezug zum menschlichen Bewusstsein hat, für uns Menschen nicht existieren. Einstein: Dann bin ich religiöser als Sie! Tagore: Meine Religion besteht in der Vermittlung des Über-Persönlichen Menschen, oder des Universellen Menschlichen Geistes, mit meinem individuellen Wesen. Das war das Thema meiner Hibbert-Vorlesungen, die ich „Religion der Menschheit“ genannt habe. (Auszüge aus dem Gespräch zwischen Rabindranath Tagore und Albert Einstein über die Natur der Wirklichkeit am 14. Juli 1930. Quelle: Das Goldene Boot, Rabindranath Tagore. Hrsg. von Martin Kämpchen, Winkler Weltliteratur, Patmos Verlag 2005.) Gedicht Das goldene Boot Rabindranath Tagore Am Himmel rumoren die Wolken, Regen strömt herab. Allein sitz ich am Ufer, ohne Hoffnung bin ich. Stöße von Reisgarben überall, die Ernte ist vorbei. Der schwellende Fluss wogt hart und gewaltig; Regenschauer überraschen die Schnitter. Ein kleines Reisfeld – nur ich bin darauf. Wasser wirbelt und strudelt allüberall. Am andern Ufer wie ein Gemälde – ein Dorf im Morgenlicht, geduckt unter den Schatten der Bäume und Wolken. Diesseits das kleine Feld, nur ich bin darauf. Wer kommt singend zum Ufer gerudert? Mir scheint, ich kenne sie. Das Segel gebläht, den Blick voraus, mühelos Das wogende Wasser teilend, nähert sie sich. Mir scheint, ich kenne sie. O, wohin fährst du, zu welch fremdem Land? Leg an dein Boot und komm ans Ufer! Fahre, wohin du magst, gib, wem du willst, doch komm ans Ufer und schenk mir ein Lächeln. Meinen goldgelben Reis nimm mit dahin. Häufe hoch auf dein Boot, soviel du willst. Gibt’s noch mehr? – Nein, alles hab ich gegeben! Meiner langen Mühe Ernte an diesem Ufer, alles ist zu hohen Stapeln aufgeladen. Nimm jetzt, ich bitte dich, auch mich auf ins Boot. Kein Platz für mich? – Das Boot ist zu voll, gefüllt mit dem eigenen goldgelben Reis! Quer über den Regenhimmel hasten schwere Wolken; Am leeren Ufer bleib ich zurück. Mein Hab und Gut, alles trug das goldene Boot davon. (Quelle: Das goldene Boot. Lyrik, Prosa, Drama. Rabindranath Tagore, Winkler Weltliteratur, Patmos Verlag, 2005) Hohe Auszeichnung für Amrita Pritam Amrita Pritam wurde in Frankreich mit dem ¸Prix littéraire de la route des Indes’ für ihren Roman ¸Pinjar’ („Skelett“) ausgezeichnet, der in Frankreich bei Editions Kailash erschienen ist. Amrita Pritam war die erste Frau, die mit dem ¸Sahitya Academy Award’ bedacht wurde. Obwohl sich ihre Werke kritisch mit dem Sozialismus auseinandersetzen, wurde sie in viele osteuropäische Sprachen übersetzt; darüber hinaus ins Französische, Japanische und Dänische. Die 1919 geborene Autorin gibt monatlich die Zeitschrift Nagmani auf Punjabi heraus und hat zahlreiche Gedichtbände, Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht. Ihre Werke wurden als „lyrischer Aufschrei einer Frau vis-á-vis dem weiblichen Schicksal und gesellschaftlichen Missständen“ definiert. In deutscher Übersetzungen gibt es von Amrita Pritam nur einige wenige Texte in Anthologien. (Quelle: Literatur-Nachrichten, Herbst 2005) 33 Interview Aktuell Softwareprogramm für Homöopathie Ein Gespräch mit dem bekannten indischen Homöopath Dr. Jawahar Shah Neben Ayurveda (Wissen vom langen Leben), das auf den altindischen vedischen Schriften basiert, ist auch die Homöopathie, die von dem deutschen Arzt Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755-1843) begründete Heilkunde, in Indien sehr populär. Im April 2005 wurde mit Konferenzen, Vorträgen und Workshops dessen 250. Geburtstags gedacht. Im Rahmen der „National Homoeopathic Conference“ wurde Dr. Jawahar Shah von der „Homoeopathic Medical Association of India, Gujarat State“ für seine Verdienste um die Weiterentwicklung und Verbreitung dieser Heilkunde mit der Verleihung einer Ehrenmedaille ausgezeichnet. Dr. Jawahar Shah ist ein sehr erfolgreicher „Consulting Homoeopath“. Er ist Mitglied des „Central Council of Homoeopathy, Ministry of Health and Family Welfare, Government of India“. Er reist rund um die Welt, organisiert Seminare und Work-shops, auf denen er das von ihm entwickelte Software-Programm „Hompath” vorstellt und mit den Teilnehmern diskutiert. In sein Forschungsinstitut in Mumbai kommen HeilpraktikerInnen aus vielen Ländern, auch aus Deutschland, um ihre homöopathischen Kenntnisse zu vertiefen und sich mit diesem Software-Programm vertraut zu machen. Während ihres letzten Indienaufenthalts hatte Frau Dr. Gosalia Gelegenheit, Dr. Shah kennenzulernen und ein Interview mit ihm zu führen, das wir im Folgenden abdrucken. Dr. Gosalia: Dr. Shah, wie kamen Sie zur Homöopathie? Warum studierten Sie nicht Allopathie oder unsere alte medizinische Wissenschaft Ayurveda? Dr. Shah: In meiner Familie gibt es vier praktizierende Homöopathen. Seit meiner Geburt wurde ich nur homöopathisch behandelt, und ich bin überzeugt, dass ich dem meine gute Gesundheit und meine Ausgeglichenheit verdanke. Ayurveda hat viele Vorzüge, aber ich bin mit diesem System nicht so vertraut, um eine Anwendung zu wagen. Dr. Gosalia: Seit wie vielen Jahren praktizieren Sie Homöopathie? Glauben Sie, dass die Menschen allgemein dieser „sanften Medizin“ zunehmend den Vorzug vor der Allopathie geben? Dr. Shah: Seit 29 Jahren praktiziere ich Homöopathie. Fast jeden Tag kommt der eine oder andere „Schulmediziner“ zu mir zur Behandlung. Da homöopathische Mittel praktisch ohne Nebenwirkungen sind, werden sie vor allem von gebildeten Patienten bevorzugt. Sehr gut bewährt haben sie sich bei allen stressbedingten Erkrankungen. Dr. Gosalia: Können mit Homöopathie auch moderne Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetis, Stoffwechselstörungen und verschiedene Infektionen geheilt werden? Helfen homöopathische Mittel auch gegen Arthritis? Dr. Shah: Ja. Homöopathie kann auch bei Arthritis helfen, die Schmerzen lindern und Schwellungen abklingen lassen. Vor allem kann sie helfen, die Widerstandskräfte des Körpers zu stärken. Dr. Gosalia: Dr. Shah, wie kamen Sie auf Ihr Konzept zur Entwicklung eines Software-Programms für die systematische Erfassung aller Informationen über das weite Gebiet der Homöopathie? In wie vielen Ländern und in welchen Sprachen ist Ihr „Hompath“-Programm bereits abrufbar bzw. wird es verkauft? Dr. Shah: Die Idee dazu kam mir auf einer Reise von Washington nach New York. Damals – es war 1980 – stieß ich auf ein interessantes Buch über die Rolle von Computern in der Medizin. Das Buch enthielt sehr viel über alle möglichen Konzepte für die Nutzung von Computern in der Medizin. Die Homöopathie wurde jedoch überhaupt nicht erwähnt. In der Homöopathie gibt es rd. 3000 verschiedene Mittel und Millionen von Symptomen, die man kennen muss. Kein menschliches Gehirn könnte sie im Gedächtnis behalten. Daher sind gerade hier Computer besonders notwendig. Wir haben inzwischen 100.000 Seiten an 34 Informationen in „Hompath“ gespeichert. Mit minimalem Zeitaufwand können für jedes Symptom die Daten und Hinweise auf Alternativen gewonnen werden. Der Computer ist ein Werkzeug (a tool), ein Hilfsmittel auch zur Simulierung von Krankheitsprozessen und Therapien. Jeder wirklich gute Arzt und jeder sich um seine Patienten sorgende Homöopath wird das zugunsten seiner Patienten nutzen. Wer nur ans Geldverdienen denkt, tut es natürlich nicht. Z. Zt. Haben wir etwa 25.000 Nutzer in 80 Ländern. Die Software ist auf Englisch verfügbar, seit Mai 2005 auch auf Deutsch und ab November wohl auch auf Französisch und Portugiesisch. Dr. Gosalia: Was bieten Sie in Ihren Seminaren und Workshops den Teilnehmern vor allem an? Dr. Shah: Vor allem teile ich meine Erfahrungen anhand konkreter Fallbeispiele mit – Erfolge, aber auch Fehler. Das ist m.E. die beste Möglichkeit, den Teilnehmern praktische, solide Homöopathie nahe zu bringen. Dr. Gosalia: Wie beurteilen Sie die Zukunftschancen der Homöopathie gegenüber der Allopathie? Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede zu Ayurveda – auch im Hinblick auf die Heilerfolge? Dr. Shah: Homöopathie wirkt auf alles, was heilbar ist, und schafft Erleichterung in unheilbaren Fällen. Wir haben z.B. einem jungen Mädchen helfen können, das an Nephritis (Nierenentzündung) erkrankt war und bei dem die Gefahr bestand, dass es das Augenlicht einbüßt. Das Mädchen hat sich völlig erholt und führt nun ein ganz normales Leben. Wir haben Krebskranke 100% schmerzfrei machen können, bei denen Morphium wirkungslos blieb. Homöopathie wirkt schnell, sanft und nachhaltig. Ayurveda ist eine exzellente Wissenschaft. Aber Ärzte, die danach arbeiten, geben ihre Kenntnisse selten weiter – außer an einzelne Schüler. Unser nächstes Projekt ist deshalb „Ayusoft“, das wir zusammen mit „Ayurvedic Physicians, Govt. Of India, C-Dac“ (Dr. Medha and Dr. Bhushan) entwickeln. Dr. Gosalia: In jüngster Zeit wird Ayurveda in den westlichen Ländern zunehmend populär. Viele Patienten kommen zu Behandlungen nach Kerala. Wie ist das bei der Homöopathie? Dr. Shah: Homöopathie wird vor allem in den gebildeten Kreisen immer populärer. Tausende von Ärzten aus der ganzen Welt kommen zu uns nach Indien, um mehr über diese Wissenschaft zu lernen. Das spricht für deren Bedeutung in Indien. Dr. Gosalia: Haben Sie auch in Deutschland schon Seminare und Workshops organisiert? Dr. Shah: Ja. Es kommen viele Studenten und einige Patienten aus Deutschland zu mir. Wir organisieren regelmäßig intensive Trainingsprogramme für Lehrer und Studenten. In Deutschland habe ich 2 Seminare durchgeführt: in München und in Berlin. Im April habe ich an dem „LIGA Congress“ anlässlich des 250. Geburtstages von Hahnemann teilgenommen und seinen Geburtsort in Deutschland besucht. Dr. Gosalia: Wir danken Ihnen vielmals, Dr. Shah. (Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Lauschmann) Kunst Jyoti Sahi wieder einmal zu Gast in Deutschland Jyoti Sahi ist wohl bekannt. Er wurde 1944 in Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra geboren und lebt heute im südindischen Silvepura. Dort gründete er 1978 ein Zentrum des interkulturellen Dialogs: International School of Art and Peace (INSCAP). Berühmt wurde er durch seine Hungertücher von 1976 und 1984. ¸Missio’ (Aachen) verkauft Mandalas von Jyoti Sahi über Jyotis Sahi - ein christlicher Künstler aus Indien (Quelle: Missio-Brodas Internet [www.missio- schüre „Der Geist, der alles durchdringt und lebendig macht“ S. 5). aachen.de/angebote-medien/ shop/relico/folieset_mandalas_von_jyot Vor zwei Jahren entschloss sich Ursula i_sahi.asp#0] und auf der Website der Bickelmann, eine monographische AbGossner-Mission [www.gossner-missi- handlung über Jyoti Sahi zu verfassen. on.de/service. html#1] findet man ein Aus diesem Anlass wurde der Künstler Angebot von Diaserien zum Ausleihen aufgefordert, eine Serie von Linolschnitzu folgenden Werken von Jyoti Sahi: ten zu schaffen, die im Buch abgebildet – Hungertuch aus Indien, 10 Dias zum sind und während der Begleitausstellung Misereor-Hungertuch mit Textbuch, zum Erscheinen des Bandes in der Ka– Der Mythos Chota Nagpur, 13 Dias tholischen Hochschulgemeinde Würzmit Textbuch, burg vom 17.10. bis 10.11.2005 ausge– Vater Unser - Das große missionari- stellt waren. Die Monographie enthält sche Gebet, 8 Bilder mit Textbuch. folgende sieben Linolschnitte in verkleinerter Reproduktion (angepasst an das Es ist der Initiative der Heidelberger Buchformat von 15 x 23cm): Kunsthistorikerin Ursula Bickelmann zu – Psalmenmeditation. Vor dem Sonnenverdanken, dass Jyoti Sahi seine neueren aufgang. Originalgröße 22 x 40 cm Werke in diesem Jahr an verschiedenen – Psalmenmeditation. Im Sturm. 22 x Orten ausstellte und ausstellen wird. Sta40 cm tionen bisher waren Würzburg und – Psalmenmeditation. An den WasMünchen. Eine Ausstellung in Berlin sern von Babylon. 22 x 40 cm wird noch folgen. – Pfingsten. 18,5 x 30 cm – Die Auferstehung. 18,5 x 30 cm Seitdem Frau Bickelmann mehrere Jahre – Psalmenmeditation. Es warten alle in Indien lebte, kennt sie sowohl die auf Dich. 18,5 x 30 cm Arbeiten von Jyoti Sahi als auch seinen – Damit sie Gott suchen. 18,5 x 30 cm. Ashram in Silvepura. Von 1984 bis 1989 weilte die Pastorenfamilie Bickelmann Außerdem gibt es ein vierseitiges Einlein Mumbai. Ursula Bickelmann unter- geblatt mit zwölf verkleinerten richtete an der deutschen Schule Bom- Schwarz-Weiß-Reproduktionen von bay, nutzte jedoch die Freizeit, um ihrem Werken Sahis aus den Jahren 1983 bis Beruf nachzugehen. So lernte sie die 1997 nebst einem Portrait-Foto des zeitgenössische Kunstszene Bombays Künstlers. Aus der Bildserie ¸Der (britischer Name für Mumbai) aus un- Mythos von Chota Nagpur’ ist z.B. das mittelbarer Betrachtung kennen und Bild ¸Alle Asuren’ (Öl auf Leinwand) publizierte darüber in Indien und in reproduziert. Deutschland. Sie fuhr auch in die Nähe von Bangalore, um Jyoti Sahi in seinem Frau Bickelmann hat ihr Wissen über Ashram-Atelier in Silvepura zu treffen. Jyotis Sahis Kunst in 12 Kapiteln auf 35 knapp 100 Seiten präsentiert. Dazu gibt es eine umfangreiche Literaturliste, um für die weitere Lektüre eine erste Orientierung zu haben. Neben der Künstlerbiografie erfahren wir viel über die soziale Konditionierung und die Theologie Jyoti Sahis. Er selbst schreibt über sich und sein Ideal in der 1986 in Bangalore erschienenen Autobiografie: „Der religiöse Künstler muss grundsätzlich ein religiöser Mensch sein, der ein religiöses Leben führt.“ (Bickelmann 2005: S. 66). gekonnt die für diese Serie spezifische Formensprache, die „herb sehnsuchtsvolle Gestik“ und das grelle Licht. Das Buch zeichnet sich durch klare Strukturierung, sehr originelle Gedankenführung und das ansprechende Layout des jungen Typographen Moritz Junkermann aus. Zudem ist es sehr kompakt Ursula Bickelmann analysiert seine Arbeiten theologisch sehr exakt und der Leser spürt, dass sie sich in den aktuellen Theologien genauso gut auskennt wie in den kunsthistorischen, psychologischen und soziologischen Diskursen der Moderne und Gegenwart in Indien: „Aus der Verflechtung von Kunst und Leben entwickelt Jyoti Sahi eine Theologie der indischen christlichen Kultur, in der alles auf die Gleichzeitigkeit von künstlerischer und religiöser Kreativität hinausläuft.“ Die Autorin deutet die ästhetischen Prozesse als Einkehrprozesse, das Kunstwerk als einen „Ort der Symbiose von Sein und Mitteilung. Es ist das Echo eines harmonischen Dreiklangs von Maya (kreative Phantasie), Lila (Spiel) und Ananda (unermessliche Freude).“ (S. 66) Einen größeren Abschnitt des Bandes nimmt das Thema der Unberührbarkeit ein. Denn Jyoti Sahi gibt diesen – zumeist zum Christentum konvertierten – Ausgegrenzten viel Raum in seiner künstlerischen Produktion, und ihnen gilt seine ganze Sympathie. Hier trifft er sich mit den Aktivitäten der GossnerMission in Indien [vgl. www.gossnermission.de/organisation]. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Jyoti Sahis Bildzyklus ¸Der Mythos von Chota Nagpur’ in den Räumlichkeiten der Gossner-Mission in Berlin ständig präsent ist. Zu dieser Serie schrieb bereits Hugold Grafe in einer Broschüre anlässlich einer Ausstellung des Bilderzyklusses in Esslingen 1992 mit dem Titel ¸Christliche Kunst aus Indien’ (verlegt durch die Gossner-Mission Berlin). Ursula Bickelmann erklärt die Umstände für die Entstehung des Zyklusses, der die „Legende vom Aussterben des Stammes der Asuren, die in dem Gebiet des ehemaligen Chota Nagpur siedelten“ (S. 80), illustriert, und analysiert sehr Literarisches Treffen Es leben ca. 8.000 Inder und Inderinnen aus dem südindischen Staat Kerala in Deutschland. Auch in anderen EU-Ländern wie Österreich, Frankreich und Italien gibt es viele Inder und Inderinnen, die aus Kerala stammen. Einige dieser Inder/Inderinnen haben Literatur als Hobby. Sie schreiben Kurzgeschichten, Gedichte, humorvolle Texte etc. in ihrer Muttersprache Malayalam und veröffentlichen diese in Zeitschriften, die in Europa erscheinen. In Deutschland erscheinen zur Zeit drei Zeitschriften in der MalayalamSprache, nämlich „Ente Lokam“ „Rashmi“ und „Wartha“, die regelmäßig literarische Texte hier lebender Inder/Inderinnen veröffentlichen. Auch in den Vereinigten Staaten und Kanada leben Inder und Inderinnen aus dem südindischen Staat Kerala, die literarisch tätig sind. Sie haben ihre eigenen Zeitschriften/Zeitungen dort, die regelmäßig die literarischen Werke dortiger Migranten/Migrantinnen veröffentlichen. in Umfang und Format. M.E. gehört es in jede Bibliothek, die als Sammelschwerpunkte das zeitgenössische Indien, die christliche Gegenwartskunst bzw. den interkulturellen Dialog hat. Jyoti Sahi war im Oktober in Deutschland, um seine Kunst zu präsentieren und über seine Ästhetik und Theologie zu referieren. Im Rahmen des von ¸Missio’ München organisierten „Monats der Weltmission“ leitete er Workshops in München, Aschaffenburg und Würzburg. - Falk Reitz, Berlin Ursula Bickelmann: Ursprung und Vorstellung. Jyoti Sahi. Moderne indische Kunst im interkulturellen Dialog. Heidelberg: Draupadi Verlag, 2005 (ISBN 3-937603-03-4). Zu bestellen bei: Draupadi Verlag. Christian Weiss, Dossenheimer Landstr. 103, 69121 Heidelberg, e-mail: chris.weiss@t-online.de 36 Vertreter dieser beiden Gruppen kamen neulich zusammen zu einem literarischen Treffen in der Jugendakademie Köln in Walberberg. Das Treffen wurde gemeinsam vom Zentralkomitee der Kerala-Vereinigungen in Deutschland und dem Literary Association of North America (Lana) mit Unterstützung von Malayalee Writers Forum in Europa organisiert. An der Veranstaltung, die vom 21.-25. Oktober 2005 stattfand, nahmen ca. 70 Personen, einschließlich von ca. 20 Delegierten aus Kanada und den Vereinigten Staaten, teil. Als Gäste waren der bekannte Dichter und der Generalsekretär der Literaturakademie Indiens (New Delhi) Dr. K. Satchidanandan sowie der bedeutende Malayalam-Schriftsteller Dr. George Onakkur anwesend. Neben Vorträgen und Diskussionen gab es bei der Veranstaltung auch Lesungen von Texten, die von den Teilnehmern verfasst worden sind. Man hat den Wunsch geäußert, ein ähnliches Treffen bald in Kanada oder den Vereinigten Staaten zu organisieren. - JP Buchbesprechung „Toleranz“– Begriff, Inhalt und Anwendung Neue Bücher zum Thema interkultureller und interreligiöser Dialog Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive. Ram Adhar Mall, Gustav-Mensching-Vorlesungen für interreligiöse Toleranz, Band 2, Frankfurt a.M. 2003. 55 Seiten. Buddhistische Lehre und die inhaltliche Toleranz. Eine interkulturelle Einführung. Ram Adhar Mall, Bearbeitet und herausgegeben von Hamid Reza Yousefi und Ina Braun. Bausteine zur Mensching-Forschung. Interkulturelle Bibliothek im Verlag Traugott Bautz, Band 9, Nordhausen 2005. 167 Seiten. Mahatma Gandhi interkulturell gelesen. Ram Adhar Mall, Interkulturelle Bibliothek im Verlag Traugott Bautz, Band 27, Nordhausen 2005. 130 Seiten. Toleranz im interkulturellen Kontext. Monika Kirloskar-Steinbach, Interkulturelle Bibliothek im Verlag Traugott Bautz, Band 30, Nordhausen 2005. 126 Seiten. Ram Adhar Mall beschäftigt sich seit den 90-er Jahren unter unterschiedlichen Aspekten mit Fragen pluralistischer Gesellschaften, interkultureller Philosophie und Religionswissenschaft. Bereits 1993 schrieb er: „Wir bedürfen im heutigen Weltkontext eines hermeneutischen Modells, das die Einsicht ‚Wir alle sind Menschen’, ernster nimmt, als es je geschehen ist. Es gibt intra– und interreligiöse Verstehensprobleme. Es gibt in uns aber auch ein tief verankertes Gefühl der Bezogenheit auf eine ewige Mitte, welches nicht aufhört, uns zu sagen: Trotz aller unterschiedlicher Formen in Kultur, Ritus und Glauben gibt es das verbindende Eine, das Vielfalt zwar zulässt, aber auch Einheit ohne Einheitlichkeit stiftet. Es geht um die Hermeneutik des Einen mit den vielen Namen.“1 Mall plädiert für eine analogische Hermeneutik, die eine religio perennis in vielen Religionen erscheinen lässt. In seinen zahlreichen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen2 versucht er, einen effektiven interreligiösen und interkulturellen Dialog in einer zunehmend globalisierten, multikulturellen Weltgesellschaft anzuregen und zu beeinflussen. R.A. Mall ist Gründer und Präsident der „Internationalen Gesellschaft für interkulturelle Philosophie“. Für Mall ist ein interkultureller Dialog umfassender als ein interreligiöser. Das Buch „Zur Theorie und Praxis der Toleranz“ geht auf eine Vorlesung im Mai 2002 an der Friedrich Schiller-Universität in Jena zurück. Nicht Begriffsund Ideengeschichte stehen hier im Mittelpunkt, sondern „die Sache der Toleranz ..., die die Forderung nach dem Dialog zwischen Kulturen, Religionen, Philosophien und politischen Weltanschauungen realisieren hilft. … Die Toleranz wird so durch eine Haltung definiert, die erstens von dem Primat der Fragen vor den Antworten ausgeht…, zweitens die unterschiedlichen Zugänge zur Lösung als gleichrangig ansieht, drittens die kulturelle Sedimentiertheit der Zugänge, einschließlich des eigenen, einsieht und so viertens die Gesinnung der Toleranz mit der Anerkennung verbindet. „Die Tugend der Toleranz ist nicht sui generis da, sie ist eine abgeleitete Tugend.“ (Vorwort, S. 9). Kritisch werden die Konzeptionen einer interreligiösen Hermeneutik und einer unparteiischen Religionsphilosophie behandelt. Ein eigenes Kapitel ist dem neohinduistischen Mystiker Ramakrishna Paramhansa und seiner Idee von der „Bruderschaft aller Religionen“ gewidmet (S. 32–36). Die abschließenden Betrachtungen sind als „religionswissenschaftlicher Imperativ“ bzw. eine Art „interkulturelles und interreligiöses Ethos“ formuliert, das uns befähigt, „im Sinne einer Anerkennung und Respektierung der anderen Ansichten tolerant zu sein.“ (S. 50). Das Buch „Buddhistische Lehre und die inhaltliche Toleranz“ basiert auf einer Veröffentlichung des Autors aus dem Jahr 1990 unter dem Titel „Buddhismus – Religion der Postmoderne?“, die längst vergriffen war. Sehr aufschlussreich sind Malls Darstellung und Analyse des ethischen Ideals des Buddhismus, seiner verschiedenen Richtungen 37 (Schulen der buddhistischen Philosophie) und die Vergleiche zwischen Buddhismus, Hinduismus, Islam und Christentum. In den einleitenden Kapiteln werden die Entstehung des Buddhismus und die Persönlichkeit Buddhas („vom Gautama zum Buddha“) eindrucksvoll geschildert. Auch in diesem Werk kommt R.A. Mall immer wieder auf sein Konzept der interkulturellen analogischen Hermeneutik zurück. Dem Themenkomplex „Interkulturalität und Interreligiösität“ ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem die interkulturelle Orientierung des Buddhismus herausgearbeitet wird (vgl. Kap. 7). Folgende Feststellungen seien daraus zitiert: „Eine interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie muss die Forderung nach einer Theorie erfüllen, nach der weder die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, noch die Begriffe, Methoden, Auffassungen und Systeme, die wir dabei entwickeln, historisch unveränderliche, apriorische Größen darstellen. … Das Motto einer interkulturellanalogischen Hermeneutik lautet daher: Verstehen-Wollen und Verstanden-Werden-Wollen gehören zusammen und stellen zwei Seiten derselben hermeneutischen Münze dar.“ (S. 136) Toleranz ist gewährte Freiheit In diesem Buch geht es nicht darum, die Göttlichkeit Buddhas aufzuzeigen, sondern sein Menschsein, seinen Weg und seinen Dharma (Gesetz, buddhistische Lehre und Religion) im Kontext inhaltlicher Toleranz zu verdeutlichen. „Formal betrachtet, ist Toleranz nichts anderes als die gewährte Freiheit der religiösen Entscheidung. Inhaltliche Toleranz hin- gegen ist gekennzeichnet durch eine positive Haltung der Anerkennung der Wahrheit auch in den anderen Religionen“, (S. 150), so Mall. Resümierend konstatiert Mall: „Eine Auseinandersetzung mit den anderen Religionen, Anschauungen und Systemen ist das Gebot der Stunde. Gerade ist das Problem der Toleranz eine Aufgabe, die gelöst werden muss. Dies kann nicht nur auf akademischem Wege geschehen, sondern es ist ein Anliegen, das heute die menschliche Existenz zutiefst betrifft.“ (S. 145) Dieses nun neu herausgegebene Buch Malls ist gut lesbar und ein nützliches Kompendium, um sich mit dem Wesen des Buddhismus vertraut zu machen und seine Bedeutung für eine „inhaltliche Toleranz“ zu erkennen. In seinem Buch über Mahatma Gandhi berichtet R.A. Mall nicht nur über die wichtigsten Stationen im atemberaubenden Leben dieses Mannes, der sich bis zuletzt für die politische und kulturelle Einheit Indiens einsetzte, sondern es werden auch seine Prinzipien und Methoden der Wahrheitssuche, Gewaltlosigkeit und des zivilen Ungehorsams im Kontext des interkulturellen Verständnis von Toleranz kritisch analysiert und kommentiert. Dazu heißt es: „Heute ist fraglich, ob in der damaligen gespannten Lage Gandhis Lieblingsausdruck ‚Ramrajya’ (Herrschaft des gerechten Königs Rama) passend war. Der muslimische Bevölkerungsanteil, allen voran Jinaha, konnte diesen Ausdruck nicht in einem säkularen Sinne verstehen. … Gandhis interkulturelle und interreligiöse Haltung war vielen kulturalistischen Denkern suspekt. …Gandhi konnte ebenso tolerant, einsichtig, verzeihend und weitherzig sein wie tyrannisch, unduldsam und starrsinnig. Auch haftet seinem Leben und Wirken etwas Anachronistisches und Anarchisches an.“ (S. 125f.) Mall verweist auf die Meinungen von Martin Buber, Karl Jaspers, Max Schelers u.a. über Krieg, Frieden und Toleranz im Vergleich zu Gandhis Gedankengut und konstatiert, „dass Gandhis Ideen in der Friedensforschung nach dem zweiten Weltkrieg in Europa nicht die ihnen gebührende Anerkennung fanden, mag auch daran liegen, dass Denker wie Martin Buber und Karl Jaspers die universale Anwendbarkeit der Methode der Gewaltlosigkeit unterschätzen.“ (S. 112– 113) Malls Stärke liegt in seinen kritischen Reflexionen über Gandhis interkulturel- Ist Bewusstsein wissenschaftlich ergründbar ? Dalai Lama Das Glück, jemandem zu begegnen, den wir lieben, der Schmerz, eine gute Freundin zu verlieren, die Fülle eines Traums, der uns noch lebhaft vor Augen steht, die friedliche Stimmung eines Frühlingstags, die tiefe Sammlung in der Meditation – all das ist die Wirklichkeit unserer Bewusstseinserfahrung. Ganz gleich, was der Inhalt dieser Erlebnisse im Einzelnen auch sein mag, niemand wird ihre Realität ernsthaft infrage stellen können. Trotz der unbezweifelbaren Wirklichkeit unserer Subjektivität und obwohl Philosophen sich seit Tausenden von Jahren Gedanken über dieses Phänomen gemacht haben, stehen wir vor dem Paradox, dass es nur sehr wenige Übereinstimmungen gibt, wenn wir das Bewusstsein theoretisch zu ergründen versuchen. Die Wissenschaft, die immer die Perspektive der dritten Person einnimmt – die objektive Sicht von außen – hat in diesem Fall erstaunlich wenige Fortschritte zu verzeichnen. Viele Wissenschaftler begreifen das Bewusstsein als einen physiologischen Prozess, der aus der Struktur und Dynamik des Gehirns hervorgeht. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Diskussion, die ich vor mehreren Jahren mit angesehenen Neurobiologen der medizinischen Fakultät einer amerikanischen Universität geführt habe. Nachdem sie mir freundlicherweise die neuesten wissenschaftlichen Apparate vorgeführt hatten, mit deren Hilfe sie immer tiefer in die Struktur des Gehirns eindringen konnten – Magnetresonanztomografie und Elektroenzephalografie – und mir schließlich mit dem Einverständnis der Familie des Patienten auch noch erlaubt hatten, eine Gehirnoperation mitzuverfolgen, setzten wir uns zusammen und sprachen über die wissenschaftliche Auffassung vom Bewusstsein. Ich fragte einen der Wis- 38 le Relevanz im Kontext der aktuellen Weltprobleme von Gewalt und Gegengewalt sowie im Zusammenhang mit Ressourcenverschwendung und Raubbau an der Natur. Auch der Vergleich der Lehren von Karl Marx und von Gandhi ist sehr signifikant, um Gandhi im heutigen Kontext besser zu verstehen. Monika Kirloskar-Steinbachs Buch kann als eine ergänzende Studie zu R.A. Malls Arbeiten zum Thema „Toleranz im interkulturellen Kontext“ bezeichnet werden. Im 1. Kapitel geht es um die neuen Herausforderungen, die die global werdende Kultur an die Philosophie stellen. „Die intrakulturelle Aufklärungsarbeit soll besonders im Falle der westlichen Philosophie mehr als überfällig sein, da sich diese philosophische Tradition als Mittelpunkt des Philosophierens schlechthin betrachtete und allen anderen Traditionen die Fähigkeit zum Philosophieren absprach. Auf diese Weise wurde die eigene Vormachtstellung gesichert. … ‚Was wir zu tun haben, ist schlicht: auf die Suche gehen nach Stimmen aus dem philosophischen Denken der anderen’ (F.M. Wimmer) … Hier rückt das Interkulturelle in den Vordergrund, auch wenn die intrakulturelle Aufklärungsar- senschaftler: „Offensichtlich hängen viele unserer subjektiven Erfahrungen – Wahrnehmungen und Empfindungen zum Beispiel – von Veränderungen der chemischen Prozesse im Gehirn ab. Ist die Umkehrung dieses Verhältnisses von Ursache und Wirkung denkbar? Ist es vorstellbar, dass das Denken selbst Veränderungen der chemischen Prozesse im Gehirn bewirken kann?“ Mich interessierte dabei, ob die Umkehrung dieses kausalen Prozesses zumindest theoretisch vorstellbar ist. Die Antwort des Wissenschaftlers war sehr überraschend für mich. Da alle mentalen Ereignisse aus physikalischen Prozessen entstünden, sagte er, sei eine solche Umkehrung nicht denkbar. Obwohl ich aus Höflichkeit nicht weiter darauf einging, dachte ich damals und denke auch heute noch, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für eine solche Behauptung gibt. (Quelle: „Licht ins Labor“, Die Zeit 15.09.05) beit nicht als weniger wichtig zu betrachten ist. Als Pioniere auf diesem Gebiet möchten interkulturelle Philosophen einen Beitrag zu einer ‚Philosophie im Vergleich der Kulturen’ (Mall), oder zu einer interkulturellen Philosophie leisten. … Für intrakulturelle und interkulturelle Aufgaben ist ein Dialog unverzichtbar. … In der interkulturellen Diskussion … sollen so viele Teilnehmer wie möglich miteinbezogen werden.“ (S. 10, 11, 13). In Kapitel 2 und 3 setzt sich die Autorin mit dem Begriff Toleranz in der politischen Philosophie und in liberalen Staaten auseinander. In Anlehnung an Charles Taylors „Politik der Differenz“ wird betont, dass der Staat die unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe gegenüber allen anderen anzuerkennen hat. „Die Politik der Differenz möchte eine Brücke zwischen dem Universalismus und Partikularismus bauen: Alle Staaten sollen in ihrem Umgang mit allen Bürgern die Partikularität einzelner Bürger oder einzelner Gruppierungen ernst nehmen, weil alle Menschen das Potential haben, eine individuelle bzw. kollektive Identität hervorzubringen und zu definieren.“ (S. 49f.) Duldung ist nicht Anerkennung Von besonderer Bedeutung sind die kritischen Bezugnahmen auf die gegenwärtigen Debatten über Kopftuch– oder Turbantragen sowie traditioneller Kleidung (z.B. indische Sari) in europäischen Ländern (vgl. S. 50-82). Dazu weist M. Kirloskar darauf hin, dass sich die Vertreter einer interkulturellen Philosophie mit Recht von einer Duldungspraxis distanzieren und darauf bestehen, dass eine tolerierte Ansicht oder Praktik nicht in einem ewigen Duldungsstatus verharren kann. Prinzipiell muss jede Ansicht und Praktik zur Anerkennung führen, es sei denn, eine anderweitige Haltung kann begründet werden. Ausführlich wird die indische Toleranzkonzeption auf dem Hintergrund von S. Radhakrishnans Ideen analysiert. „Radhakrishnan versteht die hinduistische Toleranz nicht als eine Duldung des Anderen, sondern als seine Anerkennung.“ Das Beispiel Radhakrishnans zeigt, schreibt M. Kirloskar, „dass es nicht genügt, sich lediglich in der Theorie für eine Anerkennung des Anderen auszusprechen. Auch in der Praxis muss viel Selbstarbeit geleistet werden, damit dieser Anspruch umgesetzt werden kann.“ (S. 122) M. Kirloskars Buch ist ein guter, weiterführender Beitrag gerade auch zu den neueren Diskussionen über die Integrationspolitik in Deutschland und in der europäischen Gesellschaft. Es gibt nur wenige Wissenschaftler – wie z.B. Friedjof Capra (Physiker und Philosoph) und Amartya Sen (Ökonom) – , die wichtige Anstöße zu interkulturellen und interreligiösen Dialogen gegeben haben. Deshalb verdienen die hier vorgestellten Bücher von R.A. Mall und Monika Kirloskar-Steinbach unsere besondere Aufmerksamkeit. - Sushila Gosalia Anmerkungen: 1 Vgl. Mall, R.A., Wahrheit und Toleranz als hermeneutisches Problem. Religionsphilosophische Reflexionen zum Dialog der Religionen, In: Dialog der Religionen 1993, Heft 1, S. 20-36. 2 Vgl. hierzu auch den Abdruck seines Vortrags vom August 2003 in der Ev. Akademie Mülheim in „Meine Welt“ v. Juni 2004, S. 14-18. Vandana Shiva Geraubte Ernte Vandana Shiva, die indische Physikerin und Philosophin, ruft in diesem Buch zum Widerstand gegen die Arroganz der Konzerne auf und kämpft für Selbstbestimmung in Ernährungsfragen. Denn nur wenn sich Menschen in Nord und Süd zusammenschlössen, könne dem Vormarsch der Biotechnologie Einhalt geboten werden und die Biodiversität – die Grundlage jeder zukunftsorientierten und nachhaltigen Ernährungspolitik – gerettet werden. (Rotpunktverlag, Zürich 2004, 178 Seiten) (Quelle: Kontinente, 4/2005) Buchbesprechung Neues Buch über Frauen-Romane Hindi ke Adhunik Nari Upanyas (Neue Frauen-Romane in Hindi). Pandey, Indu Prakash. Hindi Buch-Centre, New Delhi 2004. 318 Seiten Für die Freunde anspruchsvoller Hindi-Literatur sind die Romane der bedeutenden indischen Schriftstellerinnen gut geeignet, die in diesem Buch von Prof. Pandey ausführlich besprochen sind. Nach seiner Veröffentlichung „Romantischer Feminismus in Hindi-Romanen indischer Autorinnen“, die zu seinem 75. Geburtstag im August 1999 herauskam (vgl. die Rezension in „Meine Welt“ v. Dezember 1999, S. 53), legt Prof. Pandey erneut ein bemerkenswertes literaturwissenschaftliches Werk vor, zu dem er von Prof. Budrus (Universität Mainz) inspiriert wurde. 23 Romane von 19 indischen Schriftstellerinnen, die in Hindi schreiben, werden dem Leser hier vorgestellt. Zwei der Autorinnen, Minakshi Puri und Susham Bedi, leben in Deutschland bzw. USA. Minakshi Puris Roman „PHECHAN BECHEHRA“ ist 1987 auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Identität gelöscht“ erschienen. Sushan Bedi schreibt vorwiegend über in Amerika lebende Auslandsinder. Von den besprochenen Romanen 39 sind 6 in den 80-er, 16 in den 90-er Jahren verfasst, nur der Roman über Kashmir von Surya Bala ist erst im Jahr 2001 herausgekommen. Die Autorinnen, die Prof. Pandey fast alle persönlich kennt, beschäftigen sich vorwiegend mit Fragen aus dem sozialen Umfeld: dem Leben in Slums, in den Dörfern auf dem Land, zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikten. Pandey bringt in seinem Buch ausführliche Inhaltsangaben der ausgewählten Romane, Kurzbiographien der Autorinnen, die er jeweils auch auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklung nicht nur in Indien, sondern auch im Ausland kritisch beleuchtet. Interessant ist vor allem die Behandlung und Betrachtung des Themenkreises um das Leben der Frauen in den unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und -schichten. Eine deutsche Übersetzung auch dieses Buchs von Prof. Pandey wäre wünschenswert - Sushila Gosalia Buchbesprechungen Traditionelle Frauenmalerei aus Indien Madhubani-Bilder 1880-2005, Albrecht Frenz, Hermann-Gundert-Gesellschaft Stuttgart, 2005 Eine Augenweide bietet der im September 2005 erschienene Band MadhubaniBilder 1880-2005 von dem Stuttgarter Indologen Albrecht Frenz. Das Buch mit über 100 Farbdrucken von Originalbildern und mit vielen beeindruckenden Fotos von Orten und Menschen, die sich mit Madhubani-Malerei befassen, ist ohne Zweifel eine Pionierarbeit hervorragender Qualität. Der Autor schildert im Textteil den geschichtlichen Zusammenhang sowie die heutigen Verhältnisse der Malerinnen im nördlichen Teil des Bundesstaates Bihar in Nordindien. Die Madhubani-Malerei hat ihren Ursprung in der traditionell von Frauen gestalteten Wandmalerei im einstigen Land Mithila, das etwa dem heutigen Nord-Bihar entspricht. Als Folge der Dürre-Katastrophe von 1966-68 in dieser Gegend erhielten die Frauen Papier und Farben von Regierungsstellen, damit sie die überlieferten Themen der Wandmalereien in und an ihren Häusern Zwei neue Bücher von Amit Chaudhuri Amit Chaudhuri wurde 1962 in Kalkutta geboren, wuchs in Bombay auf und studierte in London und Oxford. Seit seinem literarischen Debüt im Jahre 1991 erhielt er zahlreiche Auszeichnungen wie den Commonwealth Writers Prize oder den Encore Award. Im Karl Blessing Verlag erschienen bereits ¸Die Melodie der Freiheit’ und ¸Ein Sommer in Kalkutta’. Seelenlandschaften von Menschen Ein neuer Erzählband von Amit Chaudhuri ist auf Deutsch erschienen. Einfühlsam zeichnet Amit Chaudhuri in diesem Band die Seelenlandschaften von Menschen, die an den Kasten und Riten zu zweifeln beginnen, in denen sie gefangen sind. Die meisten der 15 Storys im Band spielen entweder in Bombay oder in Kalkutta, irgendwann zwischen den siebziger Jahren und der Gegenwart. Zwei der Storys sind Nacherzählungen von Episoden aus der Hindu-Mythologie. Betörungen & Fromme Lügen Erzählungen. Amit Chaudhury. Aus dem Englischen von Barbara Heller, Karl Blessing Verlag, München, 2005. Die Betörungen und frommen Lügen handeln von Menschen, die durch Herkunft und Umgebung mehr geprägt sind, als ihnen bewusst ist. Der junge Dichter in ¸Porträt eines Künstlers’ etwa begreift erst, nachdem er eine Weile in England gelebt hat, wieviel er seiner Heimatstadt verdankt: Mit seinem etwas rückständigen, aber bunten Kulturleben gleicht Kalkutta für ihn „einem Tautropfen, der das Licht und die Farben der ganzen Welt umschließt.“ auf Papierbilder übertragen und verkaufen konnten. So wurde MadhubaniMalerei eine Einkommensquelle und damit auch ein Stück Emanzipation für die Frauen in dieser Gegend. Auf der Asien-Messe 1972 in New Delhi erlebten die Madhubani-Bilder den weltweiten Durchbruch. Danach fanden Ausstellungen in Russland, Polen, der Tschechoslowakei, Dänemark, Kanada und Japan statt. Heute sind über viertausend Frauen in Nord-Bihar - besonders in den Distrikten Madhubani, Darbhanga, Samastipur, Sitamarhi und Muzaffarpur – mit dieser Art von Malerei befasst. Der Autor des Buches hat über 100 Madhubani-Bilder in seiner Kollektion, die er zur Ausstellung für interessierte Institutionen/Organisationen anbietet. Das Buch, das gleichzeitig als Katalog der Ausstellungsbilder dient, wurde von der Hermann-Gundert-Gesellschaft Stuttgart herausgegeben. - Jose Punnamparambil Kontaktaddresse: e-Mail: gafrenz@web.de Entwicklung: Reichlich Im Kampf um ausländisches Kapital haben Entwicklungsländer im vergangenen Jahr deutlich aufgeholt. Während die Direktinvestitionen in Industriestaaten um 14 Prozent auf 380 Milliarden Dollar sanken, flossen 233 Milliarden Dollar in Entwicklungsländer – ein Plus von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt konnten sie 36 Prozent aller Direktinvestitionen auf sich vereinigen. „Dieser hohe Anteil wird wahrscheinlich von Dauer sein“, sagte Anne Miroux, die Autorin des neuesten Weltinvestitionsberichts der UNKonferenz für Handel und Entwicklung (Unctad). Allein China verzeichnete Kapitalzuflüsse von knapp 61 Milliarden Dollar. Dabei geht es bei Investitionen in Ländern wie eben China, Brasilien, Mexiko oder Indien nicht mehr nur darum, billig zu produzieren. Inzwischen spielen diese Staaten auch in Forschung und Entwicklung eine wachsende Rolle. Nach Ansicht von UN-Generalsekretär Kofi Annan betrachten Unternehmen diese Länder heute auch als Quell von Wachstum, Wissen und neuen Technologien. (Quelle: Die Zeit 6.10.2005) - JP 40 Film in Indien und Bollywood A. Khaliq Kaifi Wenn man vom Film in Indien spricht, dann denkt man gewöhnlich an Hindifilme aus Bollywood. Der Name als solcher geht auf die siebziger Jahre zurück, da Bollywood seit dieser Zeit mehr Filme produziert als Hollywood. Zur Zeit werden in Indien jährlich über 850 Filme gedreht, also mehr als in Hollywood und Japan zusammen. Dabei ist es interessant zu wissen, dass lediglich ein Drittel davon, ca. 250, in der Hindisprache produziert werden. Zwei Drittel von ihnen kommen aus Tamil Nadu (ca. 160), Andhra Pradesh (145), Kerala (90), Karnataka (80), West Bengal (45), Gujarat (30), Maharashtra (25), usw., und zwar in der jeweiligen Landessprache. Darüber hinaus werden circa zehn Filme jährlich in englischer Sprache gedreht. Die rasante Entwicklung der Filmindustrie in Indien geht darauf zurück, dass nirgendwo so viele Filme gesehen werden wie dort. Der Film ist bei weitem das einzige Vergnügungsmittel für das Volk und verbindet auch kulturell die Menschen des indischen Subkontinents sowohl in Indien als auch im Ausland. Allein 16 Millionen Menschen in Indien besuchen täglich das Kino, durchschnittlich jeder fast sechs Mal im Jahr. Die Deutschen dagegen gehen nur zwei bis drei Mal pro Jahr ins Kino. Stummfilme Die Brüder Auguste Lumière (1862– 1954) und Louis Lumière (1864–1948) aus Frankreich schufen gemeinsam eine bahnbrechende Neuerung auf dem Gebiet der Photographie und führten 1895 die Technik des bewegten Films ein. Sehr kurz nach dieser Erfindung kamen Vertreter von Lumière nach Bombay und zeigten am 7. Juli 1896 im Watson Hotel den Diafilm „Arrivée du Train“. Andere in Frankreich hergestellte Stummfilme wie „Jeanne d’Arc“ (1899), „Alladin ou la Lampe Merveilleuse“ (1906), „Le Voyage à la Lune“ (1908) kamen auch nach Indien und wurden zuerst in den damaligen Theaterhallen (Natakghar) von Bombay und Kalkutta gezeigt. Schon zu dieser Zeit lernten die Inder die Kunst der Photographie kennen und filmten gemeinsam mit den Engländern im Red Fort von Delhi 1903 die Dokumentarfilme über Lord Curzon, den Vizekönig von Indien (1899-1905) und in Delhi und Kalkutta über die Krönung von König George V., den Kaiser Indiens von 1911–12. Als erster Inder drehte Dadasaheb Phalke (1870–1944) aus Nasik einen Stummfilm von einer Länge von 3700 Fuß und einer Spielzeit von 90 Minuten, der am 3. Mai 1913 im Coronation Theater von Bombay gezeigt wurde und dort über 23 Tage lief. Dieser besuchte auch die Filmstudios in London und brachte von dort neue Techniken mit nach Indien. Er drehte u. a. die Filme „Shri Krishna Janam“ 1918 (Lord Krishnas Geburt) und „Kalia Mardan“ 1919 (Die Tötung der Dämonenschlange „Kalia“ durch Krishna während seiner Kindheit). Er war beim Volk sehr beliebt, da er in seinen Filmen die Geschichten und Mythen von Göttern und Dämonen wiedererweckte. Dadasaheb Phalke wird als „Vater des indischen Films“ bezeichnet. Die höchste Auszeichnung des indischen Staates, die seit 1969 jährlich an einheimische Filmkünstler verliehen wird, der „Dadasaheb Phalke Award“, ist nach ihm benannt. Die Geschichte des indischen Films ist also beinahe so alt wie die des europäischen. Bis zum Jahre 1937 wurden insgesamt 1300 Filme in den damaligen Studios von Bombay – sie hießen Talkies, Imperial, Madan, Minerva, Prabhat, Sagar und Wadia – gedreht, also viel mehr als in Großbritannien. Zu den Pionieren der Studiogründer gehören Produzenten wie Himansu Rai (1892–1940) und Sohrab Modi (1897–1984), die ihre Studios nach dem Muster von Holly-wood jeweils 1934 und 1936 schufen, und SchaupielerInnen wie Prithviraj Kapoor (1906– 1972), Jagdish Sethi, Mubarak, Madhuri und Zubeida vertraglich beschäftigten, die ursprünglich aus dem Volkstheater stammten und die noch heute in Indien als die größten Künstler verehrt werden. Zu den Anfängen der Filmgeschichte Indiens gehören auch die Deutschen Franz Osten (1876–1956), Josef Wirsching und Carl von Spreti, die sich jeweils für mehrere Jahre als Regisseur, Photograph und Bühnengestalter in Indien aufhielten. Der Stummfilm „Light of Asia“ (Leben des Buddha) wurde 1925 von Franz Osten teilweise im Studio „Bombay Talkies“ und im „Emelka Studio“ in Deutschland gedreht. Zu den bekanntesten Stummfilmen gehören Alibaba, Alladin, Anarkali, Saumitra Chaterjee und Sharmila Tagore in Satyajit Rays „Apur Sansar“ (Quelle: Outlook, 30.5.2005) 41 Baccha Sakka und Kohinoor. Sie wurden in maximal zehn Tagen fertig gestellt, die teuersten Künstler erhielten monatlich ein Gehalt von 5.000 Rupien. Von den insgesamt über 1300 Stummfilmen, die in Indien gedreht wurden, sind leider nur 15 erhalten geblieben. Tonfilme 1930 begann die Ära der Tonfilme in Indien. Ardeshir Irani (1886–1969), auch Produzent zahlreicher Stummfilme, drehte als erster den Tonfilm „Alam Ara“ (Licht der Welt) und zeigte ihn am 14. März 1931 im „Bombay Majestic Theater“. Der Film hatte eine Länge von 10.500 Fuß, die Herstellungskosten betrugen 40.000 Rupien. In diesem Film wurden zum ersten Mal 13 Lieder gesungen. Seitdem ist der Gesang ein unverzichtbarer Bestandteil der indischen Filme geblieben. Ardeshir Irani, ein Parse aus Bombay und Zarathustra-Anhänger, drehte mehrere Filme mit altiranischen Themen wie z. B. „Dukhtar-e-Noor“1933 und „Firdausi und Shirin“ 1934 in persischer Sprache. Wegen seiner Pionierleistung auf dem Gebiet des Tonfilms wird er als „Grand Old Man of Indian Cinema“ bezeichnet. Die Entwicklung der indischen Filmindustrie ist größtenteils den Parsen Sohrab Modi, Ardeshar Irani und anderen zeitgenössischen Parsen zu verdanken. Diese führten das altindische Theater (Natak) in Bombay fort und drehten dort u. a. die Helden-, Königs- und Liebesgeschichten von Altpersien wie Shirin und Farhad (Liebesgeschichte), Nausherwan-i- Adil (gerechter König), Rustum (Held in der altpersischen Geschichte). 1931 drehte man auch in Bengalen mehrere Tonfilme im „Madan Theatre“ am Stadt- rand von Kalkutta in Tollygung, daher nannte man den Ort zeitweilig in der Urdusprache auch „Tollywood“. Damals drehte man in Bombay die Filme in südindischen Sprachen wie „Kalidas“ von H. M. Reddy in Tamil und „Bhakata Prahlada“ in Telegu. Kerala gründete 1946 ein eigenes Studio, das berühmte „Udaya Studio“, in dem der Regisseur S. S. Vasan 1948 den Film „Chandralekha“ drehte, der auf den Leinwänden von ganz Indien zu sehen war. Themen Die Themen der indischen Filme werden vorwiegend aus den Mythen und Legenden der altindischen Epen Mahabharata und Ramayana sowie aus den persisch- Amitab Bhachan Der unschlagbare Held des Bollywood-Kinos arabischen Erzählungen wie Tausendund-Eine-Nacht genommen. Die einzelne Thematik basiert nicht ausschließlich auf einem Genre wie Krimi, Wild West oder Liebe wie in einem westlichen Film. Ein normaler indischer Film, der bis zu drei Stunden oder länger dauert, beinhaltet etwas von alledem. Die Handlung dreht sich gewöhnlich um eine Familie von der Wiege bis zur Bahre. Die Kinobesucher werden in eine Traumwelt geführt. Es werden zwei Kategorien von Charakteren dargestellt, die Guten und die Bösen. Der erste ist immer charmant und heldenhaft wie Rama, der zweite ist hässlich und hinterhältig wie Ravana in dem Epos Ramayana. Die Rollen stehen nach altindischer Wertvorstellung fest, der Vater als Patriarch, streng und verantwortungsvoll, die Mutter gutmütig und opferbereit. Die Frau bleibt immer treu wie Sita zu Ram. Die Hauptdarstellerin soll hübsch, fügsam, opferbereit und unberührt sein, eine kämpferische und selbständige Frau wird nicht gewünscht. Als treu Ergebene des Filmhelden wartet sie geduldig auf den Tag der Vermählung, die Liebe zwischen den beiden findet nur über heimliche verführerische Blicke und über die Botschaften der Liebeslieder statt. Der enttäuschte Liebhaber findet seinen Halt zeitweilig bei einer schönen kultivierten käuflichen „Tawaif“, die ihn mit Gesang und Tanz (Mujra) und Wein (Sharab) verwöhnt. Die Zuschauer sehen gerne die Machenschaften von Geistern (Dämon, Bhut, Malach, Jin, Satan), die den Körper eines Familienmitgliedes in Besitz nehmen und quälen. Schließlich findet die Befreiung durch Hexenaustreiber, Heilige der Hindus (Gurus) oder Muslime (Pirs) statt, oder der Gequälte findet in den Armen der Heiligen den ersehnten Tod (Nirvana, Jannat). Indische Filme 42 sind auch fast undenkbar ohne die Präsenz eines Bösewichts (Villan), der die angehende Braut vergewaltigt und die Liebenden durch seine Missetaten auseinander treibt. Außerdem wird dem Publikum gerne ein Komiker, ein körperlich deformierter Geldverleiher (Bania, Mahajan, Ojha) oder ein Steuereintreiber (Munimji, Munshi) mit zerbrochener Brille auf der Nase präsentiert. Die entsprechenden Darsteller Pran (geb. 1920) als Bösewicht und ,Johnny Walker’ (Geburtsname: Badruddin Jamuluddin Kazi, geb. 1925) als Komiker spielten jeweils in über 400 und 300 Bollywoodfilmen. Wahrscheinlich begab sich kein Schauspieler der Welt so häufig in solche Rollen. Bei der Beschreibung der Inhalte der Filme muss hier mit Nachdruck betont werden, dass sie stark zur Herstellung einer Harmonie zwischen Hindus und Muslimen in Indien beigetragen haben. Gesang, Gedichte und Künstler Die Musik ist die Seele der indischen Filme. Nach europäischen Kriterien können die indischen Filme als „Musicals“ bezeichnet werden. Auch die Stummfilme bestanden vielfach aus Liedern und Musik, die im Hintergrund auf Harmonium, Sarangi und Tabla gespielt Die beliebte Bollywood-Ikone und der menschennahe Politiker Sunil Dutt lebt nicht mehr. Mit 76 starb er im Mai dieses Jahres. Sunil Dutt war verheiratet mit der berühmten Bollywood Schauspielerin Nergio, die sehr früh wegen Krebs aus dem Leben schied. Der verwitwete Politiker füllte sein Leben mit Engagement für den einfachen Mann in der Politik und mit vielfältigen humanitären Aktivitäten. (Quelle: India Today, 6.6.2005) wurde. Alam Ara hatte mehr als 13 Lieder, Indra Sabha sogar über 40. Die ersten Tonfilme übernahmen diese Tradition, die Filme der vierziger Jahre wie Kismet, Laila Majnu und Shakuntala hatten jeweils 18, 22 und 41 Lieder. Filmgesang und Filmmusik gehen auf die uralte Tradition von Bhajan, Ramlila, Raslila, Raga, Dhrupad, Khayal, Ghazal, Qawwali, usw. zurück. Die Texte der heutigen Filmlieder, die sog. „Hindi-Geet“, sind aus einer Mischung der Hindi- und Urdusprache entstanden. Sie sind sehr beliebt und werden auch in Südindien verstanden und gesungen. Die Lieder aus Bollywood trugen entscheidend zur Verbreitung dieser Sprachen auf nationaler Ebene bei. Die Lieder stellen eine wesentliche Einnahmequelle für die Filmproduzenten dar. Die Filme aus Bollywood erzielen mehr als 20% ihrer Einnahmen aus dem Verkauf der Musikrechte. Schon lange bevor der Film läuft, kommt die Musik auf den Weltmarkt, dadurch wird die Masse für den Film gewonnen. Zu den großen Stumm- und TonfilmsängernInnen der Anfangszeit gehören Jaddanbai (Mutter der Schaupielerin Nargis), Begum Akhtar, Mallika Begum, Saigal (Kundan Lal Saigal, 1904–46), der bekannteste Ragasänger, und Punkaj Mullick (1905–78), Suraiya (geb.1929), Shamshad Begum und Noorjehan (1929–2000, „Königin der Stimme“ genannt), die auch in den damaligen Filmen mitspielten. Seit den vierziger Jahren dominierten Playbacksänger/Innen die Filme wie Suriya (geb. 1929), vor allem Rafi Mohammad (1924–80), Mukesh (Mukesh Chand Mathur, 1923– 76), Talat Mahmood, Kishore Kumar (1929–87) und die Sängerinnen Lata Mangeshkar (geb.1929) und ihre Schwester Asha Bhosle (geb.1933). Lata Mangeshkar und Rafi Mohammad sangen in Playback die meisten Lieder in den Bollywoodfilmen, keiner auf der Welt hat so viel gesungen wie die beiden. Die bekanntesten Liederschreiber (Ghazalschreiber) der Filmindustrie sind: Aga Hashr Kashmeri, Hasrat Jaipuri (1918–1999), Javeed Akhtar (geb. 1945), Jigar Moradabadi, Kaifi Azmi (1925–2001), Majrooh Sultanpuri (1919–2000), Sahir Ludhianwi (1921– 1980) und Shakeel Badayuni (1917– 1970). Ihre Lieder werden heute noch weltweit in Millionenauflagen verkauft. Aufgrund der immensen Bedeutung der Lieder haben die bekannten indischen Filme immer einen Musikdirektor, unter ihnen Naushad Ali (geb. 1919), Rahul Dev Burman (1939–94), Sachin Dev Burman (1906–75), Anil Biswas (geb. 1914), Madan Mohan (Madan Mohan Kohli, 1924–75) und A. R. Rahman (Allah Rakha Rahman, geb. 1966). Von einigen Ausnahmen abgesehen sind die Drehbuchautoren bei den Zuschauern kaum bekannt, daher spielen sie im Vergleich zu den Verfassern der Liedertexte und Musikdirektoren eine sekundäre Rolle bei der Gestaltung des Films. Es sind primär die Filmregisseure, die die Inhalte des Drehbuches vorgeben. Der Tanz im Film hat wenig gemeinsam mit den klassischen Tänzen wie Bharatanatyam, Kathak oder Kathakali, er besteht hauptsächlich aus einer Mischung von modernem europäischen und indischen Volkstanz, der mit erotischen Bewegungen und Kostümen gestaltet wird, was bei den Zuschauern sehr gut ankommt. Die Tänzerin Helen (geb. 1939, ihr Vater war Franzose) dominierte jahrelang die indische Filmbühne, sie wird in Indien als „Golden Girl“ bezeichnet. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die indische Filmindustrie wegen ihrer vielfältigen Leistung sehr früh in der Welt bekannt wurde. Schon 1934 zeigte Indien den Film „Sita“ auf dem Filmfestival von Venedig. „Neecha Nagar“ (Verachtetes Land) von Chetan Anand (1915– 97), „Do Bigha Zameen“ (Zwei Hektar Land) von Bimal Roy (1909–66) und „Pather Panchali“ (Wegebeschreibung) von Satyajit Ray (1921–93) gewannen jeweils 1946, 1954 und 1956 beim Filmfestival von Cannes bedeutende Preise, der letzte als „Prix du document humaine“. Dieser Film lief 226 Tage in einem Kino von New York und brach damit den Laufzeitrekord für einen Film innerhalb von dreißig Jahren. Filmentwicklung nach 1950 Gewöhnlich teilt man die indischen Filme dieses Zeitraums in drei Epochen: die Epoche nach der Unabhängigkeit, die Zeit zwischen den sechziger und achtziger Jahren und schließlich die Periode der Globalisierung. In der fünfziger Jahren bzw. nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 erfuhr die Filmindustrie eine große Veränderung. Während des Zweiten Weltkrieges horteten die Kriegsgewinnler eine Menge Schwarzgeld, das sie in Bollywood investierten. Demzufolge brach das alte Studiosystem zusammen, das bisher die 43 Künstler unter Vertrag hielt. Die Filmemacher gründeten ihre eigenen Produktionsstätten, die Schauspieler wurden zu freien Mitarbeitern und verlangten hohe Gagen. Die Unabhängigkeit verschaffte der Filmindustrie neuen Auftrieb, da es ihr während der britischen Herrschaft nicht erlaubt gewesen war, politische Filme zu drehen. Die Teilung von Ben- Madhuri Dikshit Eine der leuchtenden Bollywood-Stars galen und Punjab in Indien und Pakistan schwächte die Filmindustrie von Kalkutta und Lahore, zahlreiche Künstler kamen nach Bollywood und gaben dort neue Impulse. Auch die sozialistische Regierung unter dem Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru (1947–1964) eröffnete den Weg zu progressiven Filmen. Es kam zu Gründungen von fortschrittlichen Arbeitsgemeinschaften der Filmkünstler wie „Indian People’s Theatre Association“ (IPTA), die auch von der kommunistischen Partei Indiens (CPI) unterstützt wurde. Die wichtigsten Filmemacher und Künstler, die aus dieser Bewegung hervorgingen, waren Khawaja Ahmad Abbas (1914–87), Mrinal Sen (geb. 1923), Balraj Sahani (1913–73), und die aus Kerala stammenden Regisseure P. Bhaskaran und Ramu Kariat. Bedeutende progressive Filme der damaligen Zeit waren „Dharti ke Lal“ 1946 (Söhne der Erde) von Khwaja Ahmad Abbas (1914–87), „Do Bigha Zameen“ 1953 von Bimal Roy (1909– 66) , „Kagaz ke Phol“ 1959 (Blumen aus Papier) von Guru Dutt (1925–64), Filme aus Kalkutta wie „Chinnamul“ 1950 (Die Entwurzelten) und „Nagarik“ 1952 (Der Bürger), „Pather Panchali“ 1955 von Satyajit Ray (1921–93) sowie aus Kerala „Ningalenne Communistaki“ 1952 (Du hast einen Kommunisten aus mir gemacht) und „Neela Kuyil“ 1954 (Blaue Nachtigall). Im Kontrast zu den alten Filmen kritisierten diese die gesellschaftspolitische Struktur Indiens und propagierten den Aufbau eines demokratisch säkularen Staates. Zu diesen Filmen gehörte auch der Monumentalfilm „Mother India“ 1958 von Mehboob Khan (1906-64), ein Film über die Vision des Nehru-Sozialismus, der auf den altindischen Prinzipien von Opfer, Gewaltlosigkeit und Mutter-Erde-Mythos aufbaute. Typische Kinohelden der fünfziger und sechziger Jahre sind z. B.: Ashok Kumar (1911–2001), Raj Kapoor (1924–88), Dilip Kumar (Yusuf Khan, geb.1922) und Dev Anand (geb. 1923). Der älteste unter ihnen arbeitete seit 1936 als Schauspieler in über 104 Filmen, wurde berühmt durch die Filme „Naya Sansar“ 1941 (Neue Welt), „Kismet“ 1944 (Schicksal), „Chitralekha“ 1964 (Geschichte einer Frau), „Pakeeza“ 1971 (Kurtisane aus Lucknow). Raj Kapoor begann seine Filmkarriere 1935, spielte in 62 Filmen. In seinen Filmen wie „Awara“ (Vagabund) 1951, „Shri 420“ (Sanfte Betrüger) und „ Prinz von Piplinagar“ 1955, übernahm er immer wieder die Rolle eines herumziehenden Vagabunden mit Charme und Humor. Die Lieder „Mera jota hai Japani, dil hai magar Hindustani“ (Meine Schuhe sind aus Japan, aber mein Herz ist indisch) in „Shri 420“ und „Awara hoon, Awara hoon“ (Ich bin ein Vagabund) aus „Awara“ gehören immer noch zu den Kultliedern Indiens. Dilip Kumar (Jusuf Khan, geb. 1922) wurde berühmt durch die Filme „Devdas“ 1955 (eine tragische Liebesgeschichte, in vielen Versionen verfilmt) und „Mughal-e-Azam“ 1960 (Großmogul), ein Film, der als „König der Tragödie“ bezeichnet wird. Dev Anand (geb.1923) zählte zur Gruppe der progressiven Schriftsteller und Schauspieler und wurde als „romantischer Darsteller“ bezeichnet. Zu den großen Schauspielerinnen dieser Epoche zählen: Nargis (Fatima Rashid, 1929–81), Suraiya (Suraiya Jamal, geb. 1929), Madhubala (Mumtaz Jehan, 1933–69) und Meena Kumari (Mahajabeen, 1933–72). Nargis spielte in „Romeo and Juliet“ 1948, „Awara“ 1951, „Shri 420“, „Mother India“ 1954, Suriya in „Amar Kahani“ 1949 (Unsterbliche Geschichte), „Mirza Ghalib“ 1955 (Ein Dichter im 18. Jahrhundert), Madhubala in „Mughal-e-Azam“ 1961 und Meena Kumari in „Do Bigha Zameen“ 1953, und „Pakeeza“ 1962 (Kurtisanen aus Lucknow). Aishwarya Rai Eine der begehrtesten Bollywood-Stars heute Symbol des Widerstands Die Ära der siebziger Jahre zeigte eine grundlegende Änderung in Bollywood. Um diese Zeit vollzog sich die Urbanisierung Indiens, die bisherige rurale Bevölkerung wanderte in die Städte ab, lebte dort in erbärmlichen Verhältnissen und sehnte sich nach Wegbereitern zur Änderung ihrer Lebenslage. Die alten Schauspieler, die Moralprediger und Erhalter der bisherigen Gesellschaftsordnung wurden über Nacht abgelöst. In „Angry Young Man“ erschien auf der Leinwand Amitabh Bachchan (geb. 1942). Er wurde als „Rebell und Einzelkämpfer“ gegen eine heuchlerische korrupte Gesellschaft präsentiert, der bereit war, die bisherigen Normen auch mit Gewalt zu ändern. Er spielte in den Filmen wie „Zanjeer“ 1973 (Fesseln), „Deewar“ 1975 (Mauer), „Sholey“ 1975 (Glut), „Muqaddar ka Sikandar“ 1979 (Meister des Schicksals), die damals von den jungen Filmregisseuren Yash Chopra, Prakash Mehra und Ramesh Sippy gedreht wurden. Das mutige Auftreten von Amitabh Bachchan gegen die Oberen begeisterte die Masse, er wurde als Symbol des Widerstands wie eine Ikone gefeiert. Als er während der Dreharbeiten zum Film „Coolie“ 1983 verletzt wurde und ins Krankenhaus kam, betete ganz Indien für seine Genesung und alle Nachrichtenmedien befassten sich an erster Stelle mit ihm. Er enttäuschte das indische Volk sehr, als er 1984 als Freund von Rajiv Gandhi für die Kongresspartei kandidierte. Daraufhin verabschiedete er sich von der Politik, erfreut sich aber immer noch großer Beliebtheit. Er hat bis jetzt in fast 120 Filmen mitgespielt. Infolge der Globalisierung und fortschreitender Industrialisierung entstand in Indien eine Mittelschicht (über 200 Millionen z. Zt.), die über Wohlstand und Bildung verfügt und dementsprechend Anforderungen an die Filme stellt. So verbesserte sich zunehmend die Filmqualität. Aber auch aus anderen Gründen stieg die Anzahl der Bollywoodfilme rasant an. Zur Zeit leben über 40 Millionen Menschen des indischen Subkontinents, einschließlich Pakistan und Bangladesh, im Ausland, die zu den festen Kunden der indischen Filme zählen. Auch die Inder der zweiten und dritten Generation im Ausland sehen gern Bollywoodfilme. Wegen der kulturellen Nähe werden die indischen Filme in Südost-, Fern- und Zentral- Amit Chaudhuri wird Samuel Fischer-Gastprofessor Der Romancier Amit Chaudhuri wird im Wintersemester 2005/2006 als Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin lehren. Chaudhuri (*1964 in Kalkutta) hat eine Reihe von Romanen und Erzählungen veröffentlicht, von denen drei auch ins Deutsche übersetzt sind: Die Melodie der Freiheit. Drei Kurzromane (Aus dem Englischen von Gisela Stege. Blessing, München 2001), Ein Sommer in Kalkutta (Aus dem Englischen von Gisela Stege, Blessing, München 2002) und Betörungen & fromme Lügen. Erzählungen (Aus dem Engl. von Barbara Heller, Blessing, 44 München 2005). Chaudhuri, der in Bombay aufwuchs und in Oxford studierte, lebt heute wieder in Kalkutta. Er ist auch als Literaturkritiker u.a. für das Times Literary Supplement und Essayist hervorgetreten. Die Berliner Gastprofessur wurde 1998 gemeinsam vom S. Fischer Verlag, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Freien Universität Berlin und dem Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck eingerichtet. (Quelle:Literatur-Nachrichten, Herbst 2005) asien, im Mittleren Osten, in Afrika, der Türkei und Russland gesehen. Es ist zu beobachten, dass in den letzten Jahren die Hollywoodfilme von den Asiaten und Afrikanern wohl aus politischen Gründen weniger gesehen werden. Hinzu kommt, dass die Filme aus Hollywood nicht mehr so sind wie sie einmal waren. Diese Lücke wird von den indischen Filmen gefüllt. Die Filme aus Indien stellen die Familie, die Liebe und den Kollektivismus in den Mittelpunkt, halten grenzenlose Freiheit und freien Sex für verpönt, heizen ihr Publikum mit romantischem Gesang und Tanz an, erzeugen gute Stimmung für die Zukunft, sind also Filme für die ganze Familie. Danach sehnen sich wahrscheinlich viele Menschen in den überzivilisierten Gesellschaften. Filme dieser Art wie „Kabhi Khush Kabhi Gham“ (Manchmal glücklich, manchmal traurig), „Laagan“ (Landsteuer), „Monsoon Wedding“ (Regenzeit-Hochzeit), „Asoka“ usw. wurden in den deutschen Kinos und Fernsehenanstalten von RTL2 und Pro7 gezeigt. Fast vier Millionen sahen diese bis zur Mitte des Jahres 2005. Im Juli 2004 wurde in Stuttgart ein Filmfestival „Bollywood & Beyond“ organisiert und dort wurden 36 Spielund Dokumentarfilme aus Indien gezeigt. Bollywood dreht heute auch Filme in Österreich und der Schweiz, um das indische und internationale Publikum mit dem Gebirgsflair zu verzaubern. Zu den Filmkünstlern der neuen Zeit muss gesagt werden, dass sie, im Gegensatz zu den früheren Darstellern, die für das Spielen bestimmter Rollen nach altindischer Tradition bekannt waren, heute untereinander austauschbar sind und vielfach ihren Platz durch amouröses Auftreten und aufgepäppeltes Aussehen behaupten. Gott in Menschengestalt Die Schauspielerinnen, die heute an der Spitze stehen, sind: Aishwarya Rai, Karisma Kapur, Madhuri Dixit und Preity Zinta, die im Gegensatz zu den früheren Schauspielerinnen die Kunst der modernen Tänze gut beherrschen und die Zuschauer weltweit begeistern. Bei den männlichen Schauspielern ist es vor allem das „Khan Triumvirat“ Shah Rukh Khan (geb.1965), Aamir Khan (geb. 1965) und Salman Khan (geb. 1972), das z. Zt. die Filmlandschaft dominiert. Der erste von ihnen wird in Indien als „Gott in Menschengestalt“ verehrt, er erhält eine Gage von mindestens einer Million Euro pro Film. Die Khans sind in Deutschland durch ihre oben erwähnten Filme „Kabhi Kush Kabhi Gham“ und „Laagan“ bekannt geworden. Zum ersten Mal in der Filmgeschichte Indiens wurde von Aamir Khan der Film Aamir Khan Ein großes Talent der jungen Bollywood-Generation begnügen. Es wird geschätzt, dass die Bollywoodfilme bereits ein Viertel ihres Umsatzes, ca. 125 Millionen Dollar, im Ausland erzielen, und es ist nach der bisherigen Entwicklung davon auszugehen, dass dieser Anteil noch zunehmen wird. Ausgewählte Literatur: „Bollywood and Beyond” in Germany. In: India Perspectives. Hrsg.: Ministry of External Affairs. Oktober 2004. New Delhi. S. 18f. Britannica Encyclopaedia of Hindi Cinema. New Delhi 2003. Malhotra, B. M., Ardeshir Irani. Father of India`s Talkies. In: India Perspectives. April 2004. New Delhi. S. 19f. Malhotra, B. M., Dadasaheb Phalke. The Father of Indian Cinema. In: India Perspectives. March 2004. New Delhi. S. 20f. Rajadhakha, Ashish, Indien: Bilder der Nation. In: Geschichte des internationalen Films. Stuttgart 1998. S. 639f. Schulze, Brigitte, Die Erfindung der geeinten Nation. Der indische Film. In: Mythen der Nationen: Völker im Film. München 1998. S. 113f. Thompson, Kristin, Film History. New York 1994. S. 285f. Wunderland Bollywood. Text: Suketu Mehta. In: National Geographic Deutschland. August 2005. S. 90f. Gedicht „Mutiny“ (Meuterei) sowohl in englischer als auch in indischer Sprache gleichzeitig gedreht und seit dem 12. August 2005 in Kinos in Indien und Großbritannien gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte von „Mangal Pandey“, der 1857 in Delhi Anführer des großen Aufstandes gegen die East India Company war. Dieser Film ist im Hinblick auf das Publikum der Englisch sprechenden Länder mit einem Aufwand von zehn Millionen Dollar produziert worden, er ist der bisher teuerste Film Indiens. Es zeigt sich, dass Bollywood heute in der Lage ist, die Produktion solcher Mammutfilme zu finanzieren und auf dem internationalen Markt mit Hollywood zu konkurrieren. Die Khans, Mira Nair (bekannt durch „Monsoon Wedding“), Shekhar Kapur („Bandit Queen“, die Geschichte einer vogelfreien Banditin, die zur Politikerin wurde), Deepa Mehta („Paani“ Wasser, Film über das Leben gestrandeter Witwen in Benares), und Yash Chopra („Deewar“ Die Mauer) sind seit längerer Zeit ständig unterwegs, um ihren Anteil auf dem europäischen Filmmarkt zu erhöhen. Demzufolge sahen bereits 2004 etwa 3,6 Milliarden Menschen weltweit indische Filme, Hollywood muss sich mit einer Milliarde weniger Zuschauer 45 Der Rundgang Vishnu Nagar Tötet zuallererst die Ratte, auf dass die Katze sie nicht mehr töten kann. Tötet danach die Katze, auf dass der Hund sie nicht mehr packen kann. Tötet danach den Hund, auf dass ihn der Einbrecher nicht mehr töten kann. Tötet danach den Einbrecher, auf dass das Leben des Reichen ohne Sorgen ist, auf dass die Freiheit des Hundes erhalten bleibt, auf dass die Katze spielen kann, auf dass die Ratte sich eilends davonmachen kann, auf dass Ganescha stets hilfreich bleibt, auf dass Schiva und Parvati stets gnädig gestimmt sind, auf dass Brahma und Vischnu von sich aus wohlgesinnt sind. Aus dem Hindi übersetzt von Dieter B.Kapp (Quelle: Hams. Janvari 1997) Erzählung Der Schöpfer und die Erschöpfung Balaichand Mukherjee (Banaphul) Die Tiger waren zur Plage geworden. Verschreckt die Menschen, Kühe, Kälber und zuletzt wurde gar der Mensch Opfer seiner Krallen. So nahmen sie Stock, Speer und Gewehr hervor und töteten den Tiger. Doch kaum war einer getötet, da zeigte sich schon ein anderer. Endlich wandte der Mensch sich an den Schöpfer: „Lieber Gott, rette uns vor dem Tiger!“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Da jedoch zogen die Tiger vor des Schöpfers Gericht und trugen nun ihre Klagen vor: „Wir sind durch des Menschen Nachstellungen verunsichert und fliehen vom äußeren Rand des Dschungels bis in sein Herz. Doch der Jäger lässt uns keinen Frieden. Regele bitte diese Angelegenheit.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Gleich darauf trug Neras Mutter ihm ihre Bitte vor: „Vater, mein Nera muss eine ganz besonders hübsche Frau bekommen. Erhöre mich, Gott. Ich werde dir für fünf Paisa ein süßes Getränk opfern.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Harihar Bhattacharja wollte prozessieren. Er wandte sich an den Schöpfer und sagte: „Mein ganzes Leben lang habe ich dich verehrt. Durch Fasten ist mein Körper ganz dürr geworden. Diesem verdammten Nephe möchte ich es zeigen! Du musst mich unterstützen.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Susil stand vor dem Examen. Jeden Tag bat er den Schöpfer: „Gott, lass mich die Prüfung bestehen.“ Heute wünschte er: „Gott, wenn du mir ein Stipendium besorgst, werde ich fünf Rupien ausgeben und Süßigkeiten in deinem Namen verstreuen.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Haren Purkayasta möchte Vorsitzender der Bezirksverwaltung werden. Durch die Vermittlung eines Priesters namens Kali suchte er sich an Gottes Gunst zu klammern: „Elf Stimmen brauche ich!“ Der Priester schluckte ein fettes Honorar und verwirrte den Schöpfer durch lautes Rezitieren der Gebetshymnen in falschem Sanskrit: „Stimme kommen, Stimme kommen.“ Der Schöpfer sprach: „Jaja – in Ordnung, in Ordnung.“ Die Bauern, ihre Hände faltend, baten: „Gott, gib Wasser.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Die Mutter eines kranken Sohnes richtete ihr Gebet an ihn: „Dies ist mein einziger Sohn, Herr – nimm ihn mir nicht fort!“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Die Nachbarin, Khanti-Tante, sagte über diese Mutter: „Gott, dieses Weib ist voller Hochmut, jeden Tag trägt sie neuen Schmuck und betrachtet die Welt, als wäre sie eine kleine Tonscheibe. Den Jungen in deinen Würgegriff zu nehmen ist eine gute Tat, du gütiger Herr. Gib diesem Weib eine Lehre.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Der Philosoph sagte: „O Gott, lass mich dich verstehen.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Von China her tönte der Schrei: „Rette uns vor den Japanern, Herr!“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Aus Bengalen kam ein Junge mit der flehenden Bitte: „Kein Verleger will mein Schreiben drucken. Im Pranbashi-Journal soll es erscheinen. Bitte lasse den Verleger, Ramaranda-Babu, Wohlwollen zeigen.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“ Während einer kurzen Pause fragte der Schöpfer den neben ihm sitzenden fünfköpfigen Gott Brahma: „Haben Sie irgendwo reines Senföl?“ Brahma: „Ja. Doch wollen Sie mir auch verraten, wozu Sie es brauchen?“ Der Schöpfer antwortete nur: „Ich habe es dringend nötig. Könnten Sie mir etwas besorgen?“ Brahma (mit allen fünf Mündern): „Sicherlich, sicherlich…“ Reines Senföl wurde von Brahmas Haus gebracht. Der Schöpfer sog gleich etwas davon in seine Nase und versank in tiefen Schlaf. Bis heute ist er noch nicht erwacht. * (Senföl in die Nase geben und schlafen – in Indien eine übliche Redensart für sich resignierend zurückziehen.) Aus dem Bengalischen übersetzt von Ingeborg und Brajagopal Roy. Arjun Methas Alptraum Ein IT-Roman von Hari Kunzru Grayday, Hari Kunzru, Roman, Aus dem Englischen von Benjamin Schwarz, Karl Blessing Verlag , München, 2005. Dieser 352-seitige Roman vom Autor des bekannten Debütromans „Die Wandlungen des Pran Nath“ (Blessing 2002) handelt von einer Daten-Katastrophe ungeheuren Ausmaßes, die zur Lähmung von ca. 17.000 Festplatten weltweit führt. Vier Menschen sind besonders von dieser Katastrophe betroffen: ein zur Selbstüberschätzung neigender Londoner Marketing-Experte, seine Freundin, die nicht einmal ahnt, wie unglücklich sie ist, eine junge, viel versprechende Filmschauspielerin und Arjun Mehta, der Protagonist des Romans, der eigentlich nur seinen Job zurückhaben wollte. Mit diesem Roman, der die literarische Kritik in aller Welt begeisterte, hält Hari Kunzru unserer modernen Kommunikationsgesellschaft frech den Spiegel vor. 46 Hari Kunzru wurde 1969 als Sohn einer Engländerin und eines Inders geboren. Er lebt in London und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Magazine. Für seinen Debütroman „Die Wandlungen des Pran Nath“ erhielt er den Somerset Maugham Award. - JP Namen... Nachrichten... Informationen Caritas fördert Adivasi in Indien Rund 80 Millionen Menschen gehören zur Stammesbevölkerung Indiens. Sie sind bekannt als Adivasi. Der Großteil dieser indigenen Bevölkerung siedelt in den armen ländlichen Regionen Zentralindiens. Nach Schätzungen leben 85% der Adivasi unter der Armutsgrenze. Sie sind im Vergleich zu anderen indischen Bevölkerungsgruppen in weit höherem Maße von Armut betroffen. Das Ziel des Caritas-Engagements ist die nachhaltige Armutsbekämpfung in sieben mehrheitlich von Stammesangehörigen bewohnten Distrikten der indischen Bundesstaaten Chattisgarh und Andhra Pradesh. Durch den Aufbau und die Unterstützung demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen und Selbsthilfegruppen sollen die Adivasi dabei unterstützt werden, sich zu organisieren und ihre Rechte zu vertreten, um z.B. gegenüber Großgrundbesitzern Mindestlöhne einzufordern und sich gegen Schuldknechschaft zu wehren. Darüber hinaus wird durch die Organisation von Vorschulprogrammen, mobilen Gesundheitsdiensten, einkommensschaffenden Maßnahmen und Rechtshilfen zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation der indigenen Bevölkerung beigetragen. besetzt. „Dalits werden oft gezwungen, wie Sklaven auf den Feldern zu arbeiten“, erklärt Yesumarian. „Wir setzten uns dafür ein, dass sie ihr rechtmäßig zustehendes Land bekommen.“ - Bettina Tiburzy (Quelle: Kontinente 5/2005) Wichtige Zahlen – Erschreckende Fakten Im Zeitraum 2003–2004 wurden in Indien 3.035.501 PCs verkauft. Die Zahl für 2002–2003 beträgt 2.293.643 verkaufte Computer. Die größte Wirtschaftsmacht der Welt ist mit Abstand auch der größte Exporteur von Großwaffen. Nach Berechnungen des Stockholmer Friedensinstituts Sipri verkauften die USA zwischen 1997 bis 2001 Waffen im Wert von fast 47 Milliarden Dollar. Die Zahl für Deutschland ist 4,8 Milliarden Dollar. Auf der Käuferliste finden sich im gleichen Zeitraum Taiwan (mit Einfuhr von 11,4 Milliarden Wert Waffen) und China (mit Einfuhr von 7,1 Milliarden Wert Waffen) auf den vorderen Rängen. Indien importierte in diesem Zeitraum Waffen im Wert von 4,7 Milliarden Dollar ohne nennenswerte Quantität von Waffen exportiert zu haben. (Quelle: Caritas International, Freiburg) Dalit Human Rights Centre 50 Kilometer südlich von Chennai leitet Yesumarian das von Missio unterstützte Dalit Human Rights Centre. Wie eine weiße Festung steht das Zentrum etwas abseits der Straße nach Chengalpattu. Hier werden junge Dalits auf ihr Jurastudium vorbereitet, Dalit-Frauen lernen mit dem Computer umzugehen. Im Zentrum ist Yesumarians Anwaltskanzlei untergebracht. Jeden Monat betreuen er und seine Mitarbeiter an die 30 Fälle. Es geht um Gewalt gegen Dalits, Vergewaltigung und Landraub. Zu Kolonialzeiten sprachen die Briten den Dalits Land zu, das so genannte Panchami Land. Doch die Dalits können ihr Land meist nicht nutzen. Widerrechtlich wird es von Kastenangehörigen Die Kluft zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern der Welt ist tief. Ein Luxemburger hat ein jährliches Einkommen von 42.060 Dollar im Jahr, während das jährliche Einkommen eines Äthiopiers 100 Dollar beträgt. Die Weltbank nennt 31 Länder, deren Einwohner mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Indien hat ca. 200 Millionen Menschen, die mit weniger als 1 Dollar pro Tag auskommen müssen. Wussten Sie schon? Das größte Forschungszentrum des amerikanischen multinationalen Konzerns „General Electricals“ befindet sich in Indien (Bangalore) und nicht in den USA. Von den 2300 Wissenschaftlern, die dort arbeiten, sind 700 Inder/Inderinnen. Die Deutsche Forschungsgemein- 47 schaft wird in Kürze eine Niederlassung in Südindien eröffnen. Die Zahl der Studenten aus Indien, die in Deutschland studieren, ist seit 1997 8fach gewachsen. Heute studieren 4100 Inder und Inderinnen in deutschen Hochschulen/Fachhochschulen. Von den 20.000 ausländischen Wissenschaftlern, die für Forschung staatliche Stipendien erhalten, sind ca. 1.000 Inder/Inderinnen. (Quelle: German News, Okt.2005) Erschreckende Zahlen Über 800 Millionen Menschen leben heute noch von 1 Dollar pro Tag (oder weniger), ca.100 Millionen sind obdachlos. Eine Milliarde erwachsene Menschen können immer noch nicht lesen und schreiben. 100 Millionen Kinder leben oder arbeiten auf der Straße. Das Millenniumsziel, Armut bis 2015 auf die Hälfte zu reduzieren, rückt weiter in die Ferne. (Quelle: Frontline, 25/2/05) Indische Küche Halva (Karotten) 1000 g Karotten 1 Tasse zerlassene Butter ½ Liter Milch 200 gr Mandeln oder Cashewnüsse 1 EL Kardamom (gemahlen) 200 gr Zucker ¼ Tasse Rosinen Karotten schälen, pürieren oder fein reiben. In einem schweren Topf die Milch zum Kochen bringen und die Karotten hinzugeben. Die Masse solange kochen, bis die Karotten von der Milch aufgesogen sind. Während dieser Zeit häufig umrühren. Sobald die Mischung eingedickt ist, Kardamom, Butter und Zucker zugeben. 20 Minuten garen lassen. Anschließend mit den Mandeln umrühren, Topf von der Flamme wegnehmen und etwas abkühlen lassen. Mit der Hand kleine Kügelchen formen und servieren. - SP