Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV

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Nachruf
K. R. Narayanan
(1920 – 2005)
Das Dalit-Traumkind Indiens ist gestorben
Kocheril Raman Narayanan symbolisierte die Emanzipation der Unterdrückten in der indischen Gesellschaft. Er
zeigte, dass es im heutigen Indien möglich ist, dass auch ein Kastenloser das
höchste Amt des Staates mit Würde
bekleiden kann. Er war tatsächlich ein
Traumkind, fast ein Held, für die Millionen Unterdrückten und Marginalisierten
in Indien.
K. R. Narayanan wurde am 27. Oktober
1920 in Uzhavoor (Kottayam, Kerala)
als viertes Kind einer 9-köpfigen Familie geboren. Sein Vater war ein DalitHeilpraktiker (Ayurveda), der große
Schwierigkeiten hatte, die Familie zu
ernähren und den Kindern eine anständige schulische und universitäre Bildung
zu ermöglichen. Narayanan ging zu der
ca. 15 Kilometer entfernten Schule zu
Fuß. Oft fehlte ihm das Geld, um die
Schulgebühren zu zahlen. Später bekam
er ein Stipendium und konnte damit an
einem College in der Nachbarstadt weiterstudieren. Er absolvierte sein postgraduates Studium in Kerala und arbeitete
danach als Journalist in New Delhi.
Nach kurzer Zeit setzte er sein Studium
das Parlament gewählt und diente als
Minister für Technologie und Wissenschaft in Rajiv Gandhis Kabinett. 1997
wurde Narayanan als erster Dalit zum
Präsident Indiens gewählt. Er war ein
aktiver und mahnender Präsident, der
bei Fragen betreffend Säkularismus,
religiöse Toleranz, Minderheitenrechte
etc. nicht immer die Auffassung der
Regierung teilte und dies auch bei der
Ausübung seines Amtes zum Ausdruck
brachte. 2001 ging seine Präsidentschaft
zu Ende.
mit Hilfe eines Stipendiums von dem
bekannten Unternehmer J. R. D. Tata an
der London School of Economics in
England fort. Nach Abschluss dieses
Studiums kehrte er nach Indien zurück
und trat 1949 in den indischen auswärtigen Dienst ein. Seitdem war er im diplomatischen Dienst verschiedentlich tätig
gewesen, darunter als indischer Botschafter in der ehemaligen Sowjetunion, in China und in den Vereinigten
Staaten.
Nach seiner Pensionierung 1984 wurde
Narayanan politisch aktiv. Er wurde in
K. R. Narayanan hat Respekt und Anerkennung durch eigene Leistung verdient. Er bewies, dass auch ein Dalit im
heutigen Indien durch harte Arbeit und
mit Selbstdisziplin in Politik und Gesellschaft bis an die Spitze gelangen kann.
Er hinterlässt seine Handschrift in der
Geschichte Indiens und bleibt Hoffnungsträger für Millionen Dalits, die in
Indien immer noch diskriminiert und
verachtet werden.
K.R.Narayanan starb am 9.10.05 in New
Delhi.
- Jose Punnamparambil
Redaktionelle Mitarbeit:
Dr. Elisabeth Lauschmann
MEINE WELT
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs
Heft 3 / Jahrgang 22 / Dezember 2005
Unterstützung und Beratung:
Pater Ignatius Chalissery; Köln; Heinz Müller, Köln; Hans Gerd Grevelding, Köln; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Pfarrer Georg
Kalckert, Königswinter; Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Dr. Urmila Goel,
Bonn; Bobby Cherian, Frechen; Sinthu Karthikapallil, Schwerte; Dr. Claudia Warning, Lohmar; Walter Meister, Öhringen
Herausgeber:
Diözesan-Caritasverband,
Abteilung „Migration”,
Georgstr. 7, 50676 Köln,
Tel.0221 / 20 10 287
Gestaltung und Layout:
Jose Punnamparambil; Jose Ukken
Redaktion:
Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23,
53572 Unkel-Scheuren, Tel. 02224 / 7 53 17
e-Mail: punnam@t-online.de
Herstellung und Vertrieb:
Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter,
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Druck:
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Tel. 02203 / 2 26 54; e-Mail: Chakkiath@aol.com
Erscheinungsweise: zwei- bis dreimal jährlich
Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von den Lesern erwartet.
Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren
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Konto-Nr.: 134 604, Kreissparkasse Köln (BLZ 370 502 99),
Diözesan-Caritasverband, Köln
Titelbild: „Ohne Titel von Dhanaraj Keezhara, Bangalore; e-mail: dhanarajkeezhara@rediffmail.com
Rückseite: Krishna mit Flöte auf dem Baum und Hirtinnen. Chaturaman Jha, Rajnagar, 1977. (Quelle: Madhubani Bilder 1880-2005, Albrecht Frenz, Hermann Gundert
Gesellschaft Stuttgart 2005)
2
Statt eines Editorials – Eine Predigt
Von den rechten Gästen und einer gerechten Welt
Am 30.10.2005 fand in der evangelischen Johanneskirche in Köln eine ökumenische „Beatmesse“ unter der gemeinsamen Leitung von Pfarrer Ivo
Masanek und dem Dominikaner Pater
David Michael Kammler statt. Das
Thema „Indien“ stand im Mittelpunkt
der Messe. Der Kirchenchor der indischen Gemeinde Köln war dabei und
sang 2 Lieder in der südindischen Sprache Malayalam. Die Kollekte von ca.
2000 Euro ging an die „Andheri Hilfe“
Bonn zur Unterstützung eines Behindertenprojekts in Kerala. An der sehr lebendig mit Musik und Information gestalteten Messe nahmen fast 450 Christen teil.
Zum ersten Mal während meines fast 40jährigen Aufenthalts in Deutschland
wurde ich gebeten, die Predigt bei dieser
Messe zu halten. Da diese Predigt
inhaltlich mit dem Schwerpunktthema
dieses Heftes übereinstimmt, drucken
wir sie ungekürzt nachfolgend ab.
Von den rechten Gästen
„Dann sagte er zu dem Gastgeber:
Wenn du mittags oder abends ein Essen
gibst, so lade nicht deine Freunde oder
deine Brüder, deine Verwandten oder
reiche Nachbarn ein; sonst laden auch
sie dich ein, und damit ist dir wieder alles vergolten. Nein, wenn du ein Essen
gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme
und Blinde ein. Du wirst selig sein,
denn sie können es dir nicht vergelten;
es wird dir vergolten werden bei der
Auferstehung der Gerechten.“ (Lukas
14, 12-14)
Von einer gerechten Welt
Ich wurde vor fast 7 Jahrzehnten als
Kind christlicher Eltern auf einem Bauernhof im südindischen Staat Kerala geboren. In unserem Haus gab es damals
keine Elektrizität, kein Telefon, kein
Fahrrad, kein Radio und keinen Kühlschrank. Mein Leben spielte sich in
einer dörflichen Landschaft ab, in der
die tanzenden Reisfelder, die muhenden
Kühe und die schattenspendenden Kokospalmen das Bild bestimmten. Ich
trank klares Brunnenwasser, aß viel
Gemüse und Obst, las beim Licht einer
Kerosinlampe und ging überallhin barfuß. Am glücklichsten war ich, wenn
mein Onkel oder andere Verwandte uns
besuchten. Dann schlachteten wir ein
Huhn, und meine Mutter bereitete ein
Festessen. Nach dem Essen erzählten
wir Geschichten aus dem Dorf oder aus
dem Verwandtenkreis.
Ein großes Fest, das wir alle – die Hindus, Moslems, Christen, Dalits, Adivasi,
die Reichen und die Armen – damals feierten war „Onam“. Dieses Fest hat
seinen Ursprung in einer Legende, die
ich hier kurz erzählen möchte. Es herrschte einmal in Kerala ein König
namens „Mahabali“, der sehr gerecht
Meine Welt
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs
Heft 3 / Jahrgang 22
Dezember 2005
Inhalt
Editorial
3
Weiblichkeit und Macht (Meinung)
5
Rabindranath Tagore und seine deutschen Leser
- Prof. Dr. Dietmar Rothermund
Mein Christsein ist vom Hinduismus sehr bereichert worden:
von seiner Kosmosfrömmigkeit, seinem Körperbewusstsein
(Yoga), seiner mystischen Neigung (Interview Aktuell)
27
- Dr. Shalini Randeria
Wiedergeburt in der indischen Philosophie (Religion)
6
- Gopal Kripalani
Wer sind die Adivasi?
Satchidanandan (Drei Gedichte)
- Dr. Martin Kämpchen
9
Über Wahrheit und menschliche Wahrnehmung
10
Das goldene Boot (Gedicht)
Eine erschütternde Erfahrung, eine faszinierende Idee
und einige mutige Schritte in die Zukunft (Interview Aktuell)11
Softwareprogramm für Homöopathie (Interview Aktuell)
34
- Dr. Jawahar Shah
14
Jyoti Sahi wieder einmal zu Gast in Deutschland (Kunst)
- Catrin Braun / Koshi Mathew
35
- Dr. Falk Reitz
17
Buchbesprechungen von:
- Helmut Donner
Shourabhs Schulen (Projekt)
33
- Rabindranath Tagore
- Elisabeth Kreuz
Solidarität mit Kalkutta (Partnerschaft)
32
- Gespräch zwischen Albert Einstein und Rabindranath Tagore
- Prof. Dr. Annakutty V.K. Findeis
We are your children, not for sale! (Bericht)
23
37
- Prof. Ram Adhar Mall; Monika Kirloskar-Steinbach;
19
Prof. Indu Prakash Pandey; Albrecht Frenz; Amit Chaudhuri
- Helmut Donner
Film in Indien und Bollywood
Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!
20
41
- A. Khaliq Kaifi
- Christina Kamp
Come Sister (Partnerschaft)
Der Schöpfer und die Erschöpfung (Erzählung)
21
- Nadine Michel
Gisela Schlemann (Nachruf)
46
- Balaichand Mukherjee (Banaphul)
Namen ... Nachrichten ... Informationen
22
3
47
und großzügig war. In seinem Königreich lebten die Menschen ohne Gier,
ohne Neid, ohne Betrügerei, friedlich
und barmherzig zusammen. Deshalb
war er bei allen seinen Untertanen sehr
beliebt. Der höchste hinduistische Gott
wurde aus diesem Grund auf ihn neidisch. Der Gott wollte nicht, dass ein
König von Menschen mehr geliebt wird
als er selbst. Deshalb verwandelte der
Gott sich in einen armen Brahmanen
und ging zu Mahabali. Der König empfing ihn als hohen Gast und versprach
ihm nach der Tradition, drei seiner Wünsche zu erfüllen. Der Brahmane zeigte
sich sehr zufrieden und verlangte, dass
er drei Schrittgrößen seines Königsreichs als Geschenk bekommt. Mahabali
stimmte zu. Daraufhin wuchs der Brahmane bis zum Himmel. Mit einem Riesenschritt hat er die ganzen Ländereien
des Königs eingenommen, mit dem
zweiten die Paläste und anderen Gebäude. Der König hatte nichts mehr zu
geben, aber schuldete dem Brahmanen
noch einen Wunsch. So zeigte Mahabali
seine Stirn für den dritten Schritt. Der
Brahmane legte seinen Riesenfuß auf
die Stirn von Mahabali und mit einem
kräftigen Stoß schickte er ihn für immer
in die Unterwelt. Dabei bekam der
König die Zusage vom Gott, dass er einmal im Jahr seine geliebten Untertanen
auf der Erde besuchen darf. Dies tut er
jedes Jahr heute noch. Die Menschen in
und außerhalb Keralas feiern seinen
Besuch mit dem Fest „Onam“. Dies ist
eine der bekanntesten Geschichten über
die Gastfreundschaft in Kerala.
Aber wenn Mahabali heute mein Dorf
besuchen sollte, wird er es nicht mehr
erkennen. Fast alle Häuser dort haben
Strom, Fernseher, Kühlschrank und
Telefon. Asphaltierte Straßen verbinden
das Dorf mit den Nachbarstädten, Linienbusse verkehren regelmäßig. Viele
Dorfbewohner haben eigene Autos, einige besitzen Computer mit InternetAnschluss. Man isst viel Fleisch und
Fisch, trinkt Bier und Coca Cola, feiert
aufwändige Feste und hat keine Hemmungen, Schulden zu machen. Betonhäuser drängen die Reisfelder zurück.
Fast alle im Dorf können lesen und
schreiben, und viele junge Menschen
verlassen das Dorf, um in Großstädten
wie Mumbai und Kolkata oder im Ausland wie in den USA oder in Deutschland zu studieren oder zu arbeiten.
So bin ich auch nach Deutschland als
Gast gekommen, erst um zu studieren,
dann zu arbeiten und schließlich für
immer hier zu leben. In den letzten 39
Jahren meines Lebens hier habe auch ich
mich, wie mein Dorf, radikal verändert.
Ich lebe hier inmitten Europas sich ständig vermehrenden Wohlstandes, völlig
angepasst und mit Bedürfnissen und
Verhaltensweisen, die in vieler Hinsicht
jenen eines Durchschnittsdeutschen
ähneln. Vieles, was ich in den letzten
Jahren erreicht habe, erfüllt mich mit
Stolz. Ich genieße heute viele Freiheiten.
Meine Erlebniswelt ist vielschichtiger
und abwechslungsreicher geworden. Ich
kann gestalten, mitwirken, teilhaben und
selbstständig Entscheidungen treffen.
Ich bin dankbar, dass ich als Gast hier an
Lebensqualitäten soviel dazu gewinnen
konnte. Man hat mit mir in diesem Land
viel geteilt.
Andererseits machen mich manche Entwicklungen der heutigen Zeit sehr unruhig, insbesondere in meinem Heimatland. Indien ist längst von der Wohlstandsgrippe infiziert. Die Städte wachsen rasant als Enklaven des Reichtums
und Schauplatz zügellosen Konsums. Es
herrscht überall im Lande eine nicht zu
definierende Hektik, eine ungewöhnliche Betriebsamkeit, das Zusammenhaltende scheint aus den Fugen geraten
zu sein. Verschwunden sind die Ruhe,
die Gelassenheit, die große Freude an
kleinen Dingen, die Verbundenheit mit
der Natur. Konkurrenzdenken und Verschwendungssucht prägen menschliches
Handeln quer durch die Gesellschaft.
Fast 220 Millionen Menschen leben in
Indien heute noch unter der Armutsgrenze trotz jahrzehntlangem Wirtschaftswachstum von 5–6 %. Die Dalits, ca.
138 Millionen Kastenlose, werden
zunehmend diskriminiert; die Stammesbevölkerung von ca. 67 Millionen verliert ihr Recht auf Land und Existenz,
und die Marginalisierten und Schwachen haben es schwer, sich in einem auf
Leistung und Wettbewerb fixierten System zu behaupten. Religion wird ein
Instrument zur Machtergreifung und
Machterhaltung in der Hand der Politiker. Unter dem Druck der Globalisierung wird die Gesellschaft zunehmend
polarisiert. Die Armen geraten zunehmend unter die Räder des Fortschritts.
Liebe Schwestern und Brüder,
die Hauptbotschaft des heute verlesenen
Abschnitts des Evangeliums ist, dass es
zum gerechten Handeln der Christen gehört, den Armen, den Schwachen und
4
den Marginalisierten in der Welt unter
die Arme zu greifen, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Erfreulicherweise geschieht dies in Deutschland auf verschiedenen Ebenen: caritative Hilfe,
Entwicklungszusammenarbeit, persönlicher Einsatz von engagierten Menschen
etc. etc. Die Spendenfreudigkeit der
Deutschen ist ja sprichwörtlich. Auch
die selbstlose und idealistische Arbeit
vieler kleiner deutschen Initiativen wie
der „Andheri Hilfe“, um die Lebenssituation der Armen und Marginalisierten
in Indien und anderswo zu verbessern,
beeindruckt mich sehr. Trotzdem glaube
ich, dass es jetzt höchste Zeit ist, dass
wir uns auch über die Zukunftsfähigkeit
des herrschenden Wohlstandsmodells
Gedanken machen. Die häufig auftretenden Naturkatastrophen wie Tsunami,
Hurrikane und Überflutungen, die wachsende Zahl von Flüchtlingen und
Migranten, und manche der in der letzten Zeit zahlreich gewordenen ethnischen Konflikte und Bürgerkriege haben
ihre Wurzel in diesem Wohlstandsmodell, das mit zunehmender Leidenschaft
aus dem Westen in alle Himmelsrichtungen transportiert wird. Es ist eine große
Ungerechtigkeit, dass der verschwenderische Lebensstil einiger weniger Menschen zur Verarmung und Verelendung
vieler Menschen anderswo führt. Wir
wissen alle, dass der Markt auf der Basis
gnadenlosen Konkurrenzdenkens und
Wettbewerbs existiert. Hier können nur
die Starken gewinnen. Der Markt provoziert verschwenderischen Konsum. Er
nimmt wenig Rücksicht auf die Knappheit der Ressourcen und die Bedürfnisse
der Schwachen. In Deutschland besitzen
81 Millionen Menschen rund 45 Millionen Pkws. Eine europäische Stadt mit
einer Million Einwohner verbraucht an
einem einzigen Tag rund 2000 Tonnen
Nahrungsmittel, 320 000 Tonnen Wasser. Eine gleich große Metropole der
Dritten Welt muss heute mit zehn Prozent dieser Menge auskommen. Die
Ungerechtigkeit, die hinter solchen Zahlen steckt, kann zu Konflikten führen, zu
Krieg und Zerstörung. Dieses Entwicklungsmodell hätte für Indien und für die
ganze Menschheit, wenn realisiert, katastrophale Folgen.
Deshalb denke ich, dass wir umgehend
eine Begrenzung des Konsums brauchen. Auch eine radikale Änderung des
Lebensstils. Weniger kann mehr sein.
Mahatma Gandhi hat gesagt: Die Erde
hat genug, um die Bedürfnisse aller
Menschen zu befriedigen, aber nicht die
Gier einiger Wenigen. Mit Askese und
sparsamem Umgang mit Naturressourcen können wir Christen dazu beitragen,
die Welt gerechter zu gestalten für Menschen überall und für die zukünftigen
Generationen.
Und schließlich habe ich die Erkenntnis
gewonnen, dass die zivilisatorischen
Leistungen eines Volkes, einer Nation,
eines Kontinents alleine nicht genügen,
die großen Probleme der Zukunft zu bewältigen und die Welt gerechter zu gestalten. Gemeinsame Anstrengung aller
Völker sind gefragt. In diesem Zusammenhang erzähle ich eine kleine Geschichte aus unseren uralten Puranas,
aus den heiligen Schriften der Hindus.
Die Geschichte wurde von dem indischen Schriftsteller Shashi Tharoor bei
der Eröffnungsrede des 3. internationalen Literaturfestivals Berlin 2003 erzählt. Es handelt sich dabei um die typische indische Geschichte von einem
Weisen und seinen Schülern. Der Weise
fragt seine Schüler: „Wann endet die
Nacht?“ „Bei Sonnenaufgang natürlich“, entgegnen die Schüler. Der Weise
erwidert: „Das weiß ich. Aber wann
endet die Nacht und wann beginnt der
Sonnenaufgang?“ Der erste Schüler, der
aus dem tropischen Süden Indiens
stammt, also aus der Gegend, aus der ich
stamme, erwidert: „Wenn der erste
Lichtschein am Himmel die Palmwedel
der Kokospalme erhellt, die sich in der
Brise wiegt, dann endet die Nacht und
der Sonnenaufgang beginnt.“ „Nein“,
entgegnet der Weise. Der zweite
Schüler, der aus dem kühlen Norden
stammt, wagt sich vor: „Wenn die ersten
Sonnenstrahlen den Schnee und das Eis
auf den Gipfeln des Himalaya weiß erstrahlen lassen, endet die Nacht und der
Sonnenaufgang beginnt.“ „Nein, mein
Sohn“, entgegnet der Weise. „Wenn
zwei Reisende aus verschiedenen Winkeln unseres Landes sich begegnen und
sich als Brüder umarmen und wenn sie
erkennen, dass sie unter demselben
Himmel schlafen, dieselben Sterne
sehen und dieselben Träume träumen –
dann endet die Nacht und der Sonnenaufgang beginnt.“
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag
und viele ruhige Momente, nachzudenken!
Jose Punnamparambil
Meinung
Weiblichkeit und Macht
Dr. Shalini Randeria
In ihrer Ausgabe vom 25.08.05 hat „Die Zeit“ ein Interview mit der in Berlin lebenden indischen Soziologin Prof. Dr. Shalini Randeria veröffentlicht. Es ging um die
Frage, ob eine Frau als deutsche Kanzlerin einen Fortschritt bedeutet. Das Interview wurde von Elisabeth von Thadden geführt. Nachfolgend sind Auszüge aus dem
Interview.
-Die Redaktion
Zeit: Als Wissenschaftlerin haben Sie in
vielen Ländern gelehrt und Frauengeschichte erlebt. Hat deutsche Weiblichkeit spezifische Probleme mit der
Macht?
Randeria: Die kulturellen Unterschiede
fallen auf. Es gibt kaum ein Land, in
dem es für Frauen an Universitäten so
viele strukturelle Hindernisse gibt, Professorin zu werden, wie in Deutschland,
zumal wenn sie Kinder haben wollen. In
keinem anderen Land Europas dominiert
so sehr der Zweifel, ob eine voll berufstätige Frau eine gute Mutter sein könne.
Für indische Mittelschichtsfrauen ist es
so selbstverständlich, beides unter einen
Hut zu bekommen, dass es nicht mal
eine Diskussion darüber gibt. Die meisten deutschen Akademikerinnen sind
eben kinderlos.
Zeit: Wie Frau Merkel. Ist ihre Kinderlosigkeit also aussagekräftiger als ihr
Geschlecht?
Randeria: Tatsächlich, eine kinderlose
Frau an der Macht bildet die gesellschaftliche Realität ab. Dabei ist es für
mich als Inderin eine schizophrene Erfahrung, zwischen der deutschen Dauerdebatte über die schrumpfende Gesellschaft und der indischen Diskussion um
die „Überbevölkerung“ hin- und herzupendeln. Dort wird diskutiert, wie man
Menschen, bis hin zum Entzug von politischen Rechten, dazu bewegen kann,
weniger Kinder zu bekommen. Das Bindeglied zwischen beiden Diskussionen
ist die Frage der Migration. Sie erinnern
sich an das Reizwort „Kinder statt
Inder“. In einer globalisierten Welt können wir bevölkerungspolitische Fragen
nicht länger nationalstaatlich diskutieren.
Zeit: Erwarten Sie von Frau Merkel
eine globalisierte Frauen- und Bevölke-
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rungspolitik? Hat eine Frau für diese
Aufgabe einen anderen Blick?
Randeria: Das ist eher eine Frage der
politischen Sensibilität und Kompetenz
als eine des Geschlechts und der Herkunft. Frauen machen nicht allein aufgrund ihrer Weiblichkeit eine andere
Politik. Es ist ja manchmal genau umgekehrt: Auf ihrem Weg zur Macht können
sie die notwendige Sensibilität einbüßen. Wir sollten die Männer nicht aus
der Verantwortung entlassen mit dem
Argument, dass sie als Männer ja keine
vernünftige Sozial- oder Familienpolitik
hinkriegen können.
„
Meine Welt
wünscht den Lesern
und Leserinnen ein
frohes Weihnachtsfest und einen guten
Rutsch in das Jahr
2006
Religion
Wiedergeburt in der indischen Philosophie
Gopal Kripalani
Indische Philosophie, eine Vogelperspektive
Der griechische Terminus Philosophie
bedeutet wörtlich „Weisheitsliebe“,
auch wenn er im Alltag unscharf benutzt
wird. In erweitertem Sinne versteht man
darunter, „den Sinn des Seins und die
Struktur der Welt durch reines Denken
zu erfassen“.
Die indische Philosophie begann in der
vedischen Ära, ca. 3000 – 1000 v.d.Z. In
der vorvedischen Zeit herrschte ein
frommer Götterglaube. In ihm wähnten
sich die Menschen geborgen, diesseitig
und jenseitig. Sie brachten im Industal
eine blühende Hochkultur zustande. Den
Denkern der vedischen Ära reichte der
Glaube allein nicht. Ihr Antrieb war das
Wissenwollen, ohne den Glauben zu
leugnen. Sie betrachteten den Glauben
als ein „Riesenmeer des Unwissens und
des Geheimnisses“, das es zu erforschen
galt. Es entstanden in jener Zeit vier
Veden, die bedeutendsten philosophisch-religiösen Schriften der indischen Antike. Das Sanskritwort „Veda“
heißt Sammlung von „Vidya“, und
„Vidya“ bedeutet Wissen oder Erkenntnis. Philosophie in Sanskrit heißt „Darshana“ und bedeutet „Schauen nach der
Wahrheit (Satya) hinter der phänomenalen Wirklichkeit“. Auch wenn der Terminus Wissenschaft ein neuzeitlicher
Begriff ist, erfüllte die frühe Philosophie
das Credo einer geisteswissenschaftlichen Disziplin. Das philosophische
Denken bestand aus einem strukturierten
und methodischen Suchen, welches ausgelöst wurde durch ein immenses Staunen über alles Seiende, den Kosmos und
die Transzendenz. Gesucht wurde der
Urgrund, der sich so vielgestaltig in der
Welt und der Natur offenbart, und zwar
in den Sternen, den Bergen, den Flüssen,
dem Wind, der Tierwelt und vor allem in
dem Menschen mit seinem Denken und
Handeln. Die Kardinalfragen „Woher
kommt alles? Woraus entspringt alles?“
bildeten das Rätsel, das die Frühdenker
zu lösen suchten.
Noch etwas Spezifisches beschäftigte
die Inder. Sie konstatierten, dass die
Welten kreisläufig entstehen und verge-
hen. Der Begriff in Sanskrit ist das
Samsara. Das heißt: Nicht nur der
Mikrokosmos in uns, sondern auch der
Makrokosmos um uns ist einer Dauermetamorphose ausgesetzt. Unser Geist,
unsere Psyche und unser Bewusstsein
sind keine statischen Entitäten. Sie stehen im Dauerwechsel jeweils mit ihrem
Milieu und erneuern sich unentwegt.
Kreisläufigkeit und Vergänglichkeit der
Naturphänomene bildeten das Grundmuster des Philosophierens.
Nur aus einem unvergänglichen und
zeitlosen Urquell können die vergängliche Welt und das kontingente Sein entstehen. Diesen Urquell nannten die
Inder „das Brahma“, ein Synonym für
den LOGOS. Die Welten und das Sein
entstehen durch Brahma, sie verweilen
im Brahma und entschwinden wieder ins
Brahma. So erlebte Indien seine ersten
Metaphysiker.
Einige themenrelevante Ost-WestKulturkontakte
Diese sind insgesamt spärlich verlaufen.
– Als der buddhistische Kaiser Ashoka Indien im 2. Jh. v.d.Z. regierte,
soll es einen Botschafteraustausch
mit Ägypten und Griechenland
gegeben haben.
– Im ausgehenden Mittelalter waren
es die Perser und Araber, die das
indische Kulturgut nach Europa vermittelten. Einige Indologen haben
dafür etliche Beispiele festgemacht.
– Z.B. soll die indische Märchensammlung Panchatantra einen Niederschlag in der Märchensammlung
der Brüder Grimm gefunden haben.
Genannt werden „Der faule Heinz“
und „Die dicke Tante“.
– Die indische Philosophie inspirierte
einige europäische Philosophen des
18. und 19. Jh. u.a. den frühen
Hegel, Schopenhauer und Nietzsche. Für Schopenhauers Philosophie der „Verneinung des Willens
zum Leben“ soll angeblich das
buddhistische Gedankengut Pate gestanden haben. Dies ist schwer
nachvollziehbar. Denn der Buddha
predigte nie eine Weltentsagung,
sondern stets den goldenen Mittel-
6
weg unter Vermeidung von Extremen aller Art. Die indische und die
christlich-westliche
Auffassung
über Leid liegen weit auseinander.
Für die Inder ist das Leid nicht von
Gott gewollt. Selbst Avidya, die
Unwissenheit, ist eine Form des
Leides, die durch Erkenntniserlangung überwunden werden muss.
[Anmerkung: Falsch ist auch der im
Westen herrschende Eindruck, dass die
Inder vornehmlich nach dem Jenseits
ausgerichtet sind und das Diesseits vernachlässigen, woraus dann die extreme
Armut resultiere. In allen Epochen der
Zivilisationsblüte sehen wir in Indien
Freude am Leben und an der Natur, die
Antrieb war für die Entwicklung von
Kunst, Musik, Literatur, Tanz und Theater.]
–
1818 wurde der erste Lehrstuhl für
Indologie an der Uni Bonn errichtet,
geleitet von dem ersten deutschen
Berufsindologen August Wilhelm
Schlegel, dem Bruder des Dichters
Friedrich Schlegel.
– Einige Indologen konstatieren, dass
Richard Wagners Werke indischen
Einfluss verraten, z.B. beim „Tristan“ klingt die Thematik von Wiedergeburt und Erlösung an.
– Die indische Lehre von der Wiedergeburt und einem feinstofflichen
Leib wurde ein Bestandteil des
(a) klassischen Spiritismus (Gründer:
Kardec)
(b) der Theosophie (Gründer: Blavatzky und Besant)
(c) der Anthroposophie (Gründer:
Rudolf Steiner).
–
Auch C.G.Jung, dem ein Hang zur
Mystik nachgesagt wurde, befasste
sich mit der indischen Philosophie
aus psychologischer Perspektive.
Schon als kleines Kind plagte er
seine Mutter, ihm Geschichten über
BRAHMA, VISHNU und SHIVA
vorzulesen. 1938 unternahm er eine
dreimonatige sehr aktive Reise
durch Indien und Ceylon. Als Ergebnis entstanden nach seiner Rückkehr in die Schweiz viele Vorträge
und Publikationen. Seine diversen
Abhandlungen über Buddhismus,
Yoga und Meditation sind Meisterwerke interkultureller Psychologie.
Samsara, der endlose Kreislauf der
Kosmen
Der Begriff Samsara bedeutet „endlos
wiederkehrende Welten“ und weist auf
den an sich substanzlosen und flüchtigen
Charakter der Welt hin. Alles Existierende erleidet eine Metamorphose, d.h.
einen dauerhaften Wandel, einen ständigen Übergang vom Gewordenen zum
Werdenden. Dies geschieht zyklischrhythmisch und unaufhörlich wiederholend. Metaphorisch heißt es: Wenn
Brahma ausatmet, erscheint aus seinem
Hauch das Universum, wenn Brahma
einatmet, verschwindet es.
–
Geradezu genial ist die Zeitvorstellung
der vedischen Denker gewesen. Man
dachte in infinitesimal kleinen und in
infinit großen Zeitdimensionen. Es ist
gewiss kein Zufall, dass in Indien die
Null erfunden wurde.
Die kleinste Zeiteinheit bestand aus 1/5
Sek. Man nannte sie Nimesa. Und die
längste Zeitdauer ist 311,04 Billionen
Menschenjahre und entspricht einem
kompletten Rhythmus der Kosmen. Die
Universen entstehen, durchlaufen ihre
Blüte und vergehen - unaufhörlich, ohne
Anfang und Ende. Wenn ein Mensch
diese Unendlichkeit des Zeitraumes verinnerlicht und seine eigene Kontingenz
und Vergänglichkeit erkennt, wird er
erfüllt mit Demut und Gleichmut. Beides sind die Voraussetzung für die
Befreiung aus den Banden der Endlichkeit. Dazu später mehr.
[Anmerkung: Heutzutage glaubt
doch kaum ein aufgeklärter Mensch
ernsthaft daran, dass Gott uns mit
dem Ozonloch, den wiederkehrenden Überschwemmungen oder Lawinenunglücken bestraft! Dahinter
stehen ökologische Unkenntnis,
Handlungsversäumnisse, auch Kommerzinteressen der Menschen.]
Karma, der Generator der Wiedergeburten
Nach indischer Auffassung beendet der
Tod nicht den Fluss des Seins, sondern
nur die jetzige Lebensphase. Es wird ein
weiteres Leben geben, so wie es ein
Leben vor dem Leben gegeben hat. Die
Wiederkehr eines Individuums hängt
von seinem Karma ab. Hier ein Zitat
aus der philosophisch-religiösen Schrift
der Hindus Bhagavada Gita: „Wie ein
Mensch seine abgetragenen Kleider
ablegt und neue anzieht, so legt auch die
Seele die abgetragenen Leiber ab und
geht in neue ein.“
–
Die Karma-Lehre besagt folgendes:
– Wörtlich übersetzt heißt Karma tun
bzw. handeln. All unser Tun bringt
Wirkungen hervor. Diese sind wiederum Ursachen für die folgenden
Wirkungen. Auf den Nenner des
Alltags gebracht, würde es bedeuten: Kraft erzeugt Weiter- bzw.
Gegenkraft. Bezogen auf das mitmenschliche Miteinander besagt es:
Gutes bringt Gutes hervor und
Böses Böses. Liebe lässt die heilende Liebeskraft gedeihen und Hass
die vergiftende Hasskraft.
Es leuchtet ein, dass Karma nicht
nur die Physis, sondern auch die
Psyche beeinflusst. Denn die Gedanken, Gefühle und Motivationen
lösen nicht nur äußere Wirkungen
aus, sondern wirken auch auf die
Psyche zurück und beeinflussen den
Geistes- und Gemütszustand.
Gemäß der Karmalehre sind alle
Phänomene verursacht. Nichts geschieht durch Zufall. Allerdings
wirkt Karma nicht nach einfachem
Schema eindimensional, sprich „A
verursacht B“, sondern ist komplexer Natur. Hinter jedem Phänomen
verbirgt sich ein vielschichtiges
Netzwerk von Ursachen (PratityaSamutpaada), auch wenn uns die
Komplexität des Kausalnexus oft
verborgen bleibt.
Daher stellt sich für die Hindus und
erst recht für die Buddhisten die
Frage der Theodizee, sprich die der
Rechtfertigung Gottes angesichts
des Bösen in der Welt, nicht. Der
Buddhismus sagt dies noch prononcierter. Nämlich: Die Dinge kommen nicht zustande aufgrund von
Machtansprüchen eines höchsten
Schöpfers oder eines Dämons.
Nichts im Universum ist erschaffen
worden. Schon der ursächliche Zustand, gemeint ist damit der sog.
Urknall, war ein Netzwerk interdependenter und koexistierender
Kräfte.
Die Karma-Lehre ist nicht ein Prinzip der Vergeltung im Sinne der
Belohnung und Bestrafung, wie es
leider allzu oft fehlinterpretiert
7
wird. Karma weist auf die Eigenverantwortung aus ethischer Gesinnung
hin. Karma ist auch kein blindes
fatalistisches Schicksal. Das vergangene Karma formiert lediglich
den jetzigen Augenblick. Der
Mensch hat die schöpferische Freiheit, die Zukunft nach seinem Willen neu zu gestalten. Die Parabel der
in einen Milcheimer gefallenen
Maus, die die Milch zum Butterberg
wirbelt, um sich zu befreien, bietet
ein gutes Gleichnis des Karmawirkens.
Karma-Reinkarnations-Interaktion
– Gemäß der Karma-Lehre ist das
Ich-Bewusstsein der Treffpunkt der
gewordenen Vergangenheit und werdender Zukunft. Die Vergangenheit
begann jedoch vor der Zeugung des
jetzigen Daseins. Die Schrift Bhagavata-Purana führt aus, dass in den
tiefen Schichten des menschlichen
Bewusstseins nicht nur die verdrängten Erlebnisse dieses Lebens gespeichert sind, sondern auch die Begierden und unerfüllten Wünsche
Gute und schlechte
Religion
Zuerst geht es um das Verhältnis von
Religion und Freiheit. Eine Religion,
die den Menschen nicht befreit, sondern neu knechtet, kann nur bekämpft werden. Das Zweite ist die
Beziehung von Religion und Gewalt:
Jede Religion muss sich fragen, ob
sie etwa einen Gott hat, der letzten
Endes identisch wird mit Gewaltausübung – und wie dieser Gott sich
zum Leid verhält. Das Dritte ist der
Zusammenhang von Religion und
Ethos, und zwar nicht nur kollektiv,
wobei meist den anderen gesagt
wird, wie sie leben sollen, sondern
individuell, indem man sich fragt,
welche Konsequenzen die Religion
für das eigene Handeln hat. Diese
Kriterien sollten wir vielleicht von
der Kirche her noch stärker in den
Vordergrund rücken und uns dann
auch selbst fragen, wo wir Reste von
Religion im schlechten Sinne mit uns
herumschleppen.
- Karl Kardinal Lehmann
(Quelle: „Lass die Heiligkeit weg“, Die Zeit
15.09.05)
früherer Leben in Form von KarmaBestand. Das Karma ist somit eine
unzerstörbare Kausalenergie. Solange das Karma andauert, ist der
Mensch an sein irdisches Dasein
angebunden.
[Anmerkung: Dieser Ansatz der
„tiefen Schichten des Bewusstseins“
wird fast 2000 Jahre später den
Kern der Tiefenpsychologie von
C.G. Jung bilden.]
–
–
In der Karma-Lehre geht es auch
um die trügerische Energie MAYA.
Diese fördert extreme Ichbezogenheit, die nicht selten auf Kosten
anderer von statten geht. Das Ergebnis ist eine Trübung des Bewusstseins und Nichterkennung der universalen Wahrheit.
Diese Wahrheit besagt, dass zwischen Brahma und Atman eine
Nicht-Zweiheit besteht. Anders ausgedrückt: Der Schöpfer und die
Schöpfung sind eins. Noch einfacher gesagt: Gott ist in jedem seiner
Geschöpfe präsent. Erweitert bedeutet es: Man soll jedem Geschöpf
so begegnen, als ob man Gott selbst
begegne.
[Anmerkung 1: Diese hehre, auf
Gott besonnene Maxime hat die
Hindus jedoch nicht daran gehindert, ihre Gesellschaft in obere und
untere Kasten zu teilen und Millionen ihrer Mitmenschen zu Unberührbaren zu erklären. Daran sieht
man den berühmten Graben zwischen ideologisierten Idealen und
der Wirklichkeit.]
[Anmerkung 2: Die Buddhisten
haben keine Last mit dem göttlichen
Über- und Unterbau. Sie argumentieren direkt aus den humanistischen Motiven. Kein Wunder, dass
in der Menschheitsgeschichte die
buddhistische Kultur bis in die
Gegenwart die friedlichste ist.]
Gemäß soeben genannter Wahrheit
ist der Einzelne ein Teil des Ganzen.
Als ein ethisch-relationales Mitglied
seines Gemeinwesens trägt er eine
moralische Verantwortung dem
Ganzen gegenüber. Wenn ein
Mensch diese Weisheit erst einmal
verinnerlicht hat, richtet er sein
Handeln dementsprechend ein. Das
Einzelwohl und das Gesamtwohl
verschmelzen. Erst wenn der Egoismus durch den Altruismus vollkommen ersetzt ist, und zwar nicht aus
Berechnung und Hoffnung auf Belohnung, sondern stets aus spontaner Gesinnung, ist das Karma
getilgt.
Moksha, Mukti oder Nirwana, die
Erlösung
Bekanntlich sind alle Religionsphilosophien Erlösungsphilosophien. Das Christentum z.B. will die Menschen von der
Erbsünde und der Hinduismus sowie der
Buddhismus möchten vom Leid des irdischen Immer-wieder-geboren-Werdens
erlösen. Das eschatologische Ziel, d.h.
die letztendliche Destination aller drei
Philosophien ist ein „Zurück-zumUrgrund“. Das Christentum nennt dies
die Wiederauferstehung nach dem Jüngsten Gericht, die Hindus die Moksha
und die Buddhisten das Nirwana. Dieser
Urgrund liegt jenseits der rationalen Beweiskraft, mit C.G. Jung gesagt im „kollektiven Unbewussten“. Eigentlich liegt
er auch jenseits jedweden begrifflichen
Vermögens, auch wenn ihn die Menschen mit so vielen Bezeichnungen
einengen.
Für die Hindus und die Buddhisten tritt
dieser Status der Erleuchtung schon
während des letzten Daseins ein. Dies
wird erkennbar an der immens gütigen
Ausstrahlung des erleuchteten Menschen. Nur wenige Menschen erlangen
die Erleuchtung. Befreit von der Enge
der Raumzeit wird für sie die Metamorphose aufgehoben und damit auch der
Zwang der Wiederverkörperung. Der
Erleuchtete lebt bis zu seinem Tod im
Dienst der Mitmenschen und der Mitgeschöpfe und geht nach seinem Tod in das
Nirwana ein.
Der Überlieferung zufolge war der
Buddha in der Lage, einen lückenlosen
Bericht über seine früheren Geburten zu
geben. Der jetzige noch lebende Dalai
Lama ist ein weiteres Beispiel.
Das Nirwana ist kein Absturz in ein
Nichts, wie oft fehlinterpretiert wird.
Der Buddha betonte, dass das Nirwana
jenseits aller Dialektik und allen Denkens sei. Es ist
i) die Aufhebung allen Leids, aller
Begierden und Leidenschaften,
ii) die Überwindung weltlicher Substanzlosigkeit und Kontingenz,
iii) die Erlangung einer unendlichen
Demut, aus der spontanes Mitgefühl
für die belebte Welt und Verantwortung für die unbelebte Welt erwächst.
8
Fazit
Die Karmalehre ist ein formatives Prinzip. Ihre ontologische Grundstruktur ist
die allumfassende Inter-Relationalität.
So wie man handelt, gestaltet man sich
selbst, und dies hat Auswirkung auf das
Ganze. Somit ist Karma eine ethische
Ordnung. Die der Karmalehre inhärente
kosmische Interdependenz vermeidet
ein individualistisches Weltbild und propagiert Solidarität unter allen Wesen.
Karma weist einerseits auf die Dauermetamorphose der Welt und somit ihre
Geschichtlichkeit und andererseits auf
den Unterschied zwischen dem Absoluten und dem Relativen bzw. Gott und
Welt. Brahma ist Herr des Karma und
als solcher die einzige transkarmische
Realität, eben das Absolute.
Während Leibnitz mit seiner Aussage
„Unsere Welt sei die beste aller möglichen“ eine Lobpreisung des Schöpfers
suggeriert bzw. den Menschen Mut
machen will, sich mit dem unvermeidlichen Leid abzufinden und sich zu
bescheiden, weist die Karma-Lehre den
Weg zur Aufhebung des Leides. Sie
unterstellt dem Menschen eine sittliche
Kraft, die er selbst gewollt und selbstverantwortlich mobilisieren kann und
muss.
Die erneuten Wiedergeburten sollen
dem Menschen zu seiner moralisch-spirituellen Vervollkommnung und Läuterung der Seele, also zur Würdigerweisung für eine eschatologische Verschmelzung mit Gott stets eine neue
Chance geben. Der von der Maya ver-
Christen befürchten
Einschränkungen
Die christlichen Kirchen Indiens befürchten, dass eine Gesetzesnovelle
zur Kontrolle ausländischer Spenden
ihre Arbeit einschränken könnte. Die
Gemeinnützigkeit vieler Projekte
könnte in Frage gestellt werden,
sagte der Präsident der indischen
Bischofskonferenz,
Erzbischof
Oswald Gracias. Er fordert objektive
Kriterien. Der Generalsekretär des
ökumenischen Rates der Christen,
John Dayal, äußerte die Sorge, dass
Hindu-Fundamentalisten das Gesetz
gegen Christen anwenden könnten.
(Quelle: Kontinente 5/2005)
blendete Mensch schafft es in einem einzigen Leben nicht, so die Ansicht der
Inder. Die Moksha- und NirwanaAnschauung, gekoppelt mit der Wiedergeburtlehre ist eine vergleichbare Hoffnungsgrundlage zu jenseitigem Überleben wie die christliche Wiederauferstehung nach dem Jüngsten Gericht.
C.G.Jung meint: „Psychologisch gesehen, sind beide unterschiedliche Manifestationen des Unbewussten im Menschen. Beide wollen gegen die Todesfurcht angehen. Ihr Wahrheitsgehalt ist
eine direkte Funktion der Glaubensintensität.“
Nun ist das menschliche Bewusstsein
mit allen seinen Ebenen, einschließlich
des Unterbewussten und des Unbewussten, ein einzigartiger und wundersamer
Rezeptor und Resonanzkörper sowohl
für Ratio als auch für Emotio. Darin keimen nicht nur unsere diesseitigen, sondern auch alle unsere metaphysischen
Hoffnungen und Überzeugungen. Der
moderne Fortschritt in den positiven
Wissenschaften, wie in der Neurowissenschaft, der Kognitionspsychologie,
der Molekularbiologie, der Gentechnologie, etc. etc. führt uns unentwegt vor,
dass, je mehr Wissen wir erlangen, umso
größer das „Meer des Unwissens des
Geheimnisses“ um uns wird. Schließen
möchte ich mit einem Satz von Prof.
C.A. Scheier, Seminar für Philosophie,
TU-Braunschweig: „Wenn alle unsere
Rätsel gelöst sein werden, wird das
Geheimnis immer noch bleiben.“
„
(Dieser Artikel ist eine kurzgefasste Version eines
Vortrages des Autors im Ästhetik-Kolloquium,
einer gemeinsamen Veranstaltung der Institute für
Psychologie und Philosophie der TU-Braunschweig am 02.12.2004)
Wer sind die Adivasi?
Das Heft 2/2005 von „Bedrohte Völker“, herausgegeben von der „Gesellschaft für
bedrohte Völker“, hat als Schwerpunktthema „Adivasi in Indien. Vergessen, verdrängt, ruiniert.“ Nachfolgend drucken wir Auszüge aus einem Beitrag mit dem
Titel: „Inbegriff der kulturellen Vielfalt: 250 Sprachen“ ab. Das Heft hat viele
interessante und gut recherchierte Beiträge über die Situation der Adivasi in Indien. Das Heft kann bestellt werden bei: Gesellschaft für bedrohte Völker, Postfach
2024, 37010 Göttingen, Tel: 0551-49 906-0, E-Mail: info@gfbv.de
- Die Redaktion
Die heutigen Adivasi sind Nachfahren
jener ersten Bewohner Indiens – Hirtennomaden, Fischer, Wanderfeldbauern,
Jäger und Sammler –, die im Zeitraum
2.500 bis 1.500 vor unserer Zeitrechnung durch kriegerische Hirtenvölker
verdrängt wurden. Diese Hirtenvölker
nannten sich Arya, die Edlen. Mit den
Arya kam das Kastensystem als gesellschaftliche Ordnung. Ein Teil der damaligen Ureinwohner wurde unterworfen
und als „Unberührbare“ oder Kastenlose
(Dalits, Scheduled Castes) auf der untersten Stufe integriert. Die anderen Adivasi-Gemeinschaften zogen sich in unwegsame Berg- und Waldregionen zurück.
Die Adivasi haben heute einen Anteil
von etwa 7,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung Indiens. Dalits und Adivasi
zusammengenommen machen knapp ein
Viertel der ungefähr 1,1 MilliardenBevölkerung Indiens aus. Die Adivasi
verteilen sich auf fast alle Bundesstaaten
einschließlich der pazifischen Inseln
Andamanen und Nikobaren. Dennoch
konzentrieren sich Adivasi – entsprechend ihrer Flucht vor der internen
Kolonialisierung in topografisch vorteilhafte Gebiete – in den Bundesstaaten
Jharkhand, West-Bengalen, Orissa,
Madhya Pradesh, Chattisgarh, Maharashtra und Andhra Pradesh (der so
genannte Tribal Belt mit über 50 Prozent
Anteil) sowie in Gujarat und Rajasthan.
Die Anzahl der in Städten lebenden
Adivasi wird auf über 10 Millionen
geschätzt. Sie besiedeln ungefähr ein
Fünftel der Fläche Indiens.
Der Begriff Adivasi legt den Gedanken
an eine einheitliche Kultur nahe. Davon
kann jedoch allein aufgrund der Vielfalt
von geschätzten 250 eigenständigen
Sprachen keine Rede sein. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen lassen erahnen, wie verschieden die politische und soziale Organisation ausfallen
9
muss. So zählen die Onges auf den
Andamanen wenige Hundert, die Birhors in Jharkhand zwischen ein- und
zweitausend. Demgegenüber werden die
Frau vom nomadischen Volk der Lambadi
Gonds auf 5 Millionen, die Santals auf 4
Millionen, die Bhils auf 3,5 Millionen
oder die Khonds auf 1,2 Millionen
Angehörige geschätzt. In den südlichen
Bundesstaaten Karnataka, Kerala und
Tamilnadu lebt noch eine Vielzahl an
kleineren Jäger- und Sammlergemeinschaften. Die Bodos und Nagas im Nordosten Indiens verstehen sich als Angehörige von „Nationalitäten“. Die
Nagas unterstreichen über diesen
Begriff auch ihren Anspruch auf staatliche Eigenständigkeit.
Alle verbindet die Abwehr gegen die
Entwurzelung und kulturelle Hegemonie der Hindu-Gesellschaft wie gegen
die schleichende Entrechtung und insbesondere die Verweigerung der historischen Rechte an Land, Wald und anderen Ressourcen auf ihrem jeweiligen
Territorium. (tr)
„
Einmal erschrak mich eine kleine Maus
mit Präfixen und Suffixen.
Als ein altes haarloses allgemeines
Nomen
kann ich nicht im Lehrbuch stehen.
Es ist dann besser
in einer Geistergeschichte oder einem
Horrorfilm
zu leben, alle erschreckend.
„
Gedichte
Drei Gedichte
Satchidanandan
Genesis
(Großmutter)
Meine Großmutter war verrückt.
Die Umnachtung steigerte sich zum
Tode.
Mein Onkel, ein Geizhals,
packte sie ein in Heu
und hob sie in der Speisekammer auf.
Gereift und trocken
zerplatzte meine Großmutter
und flog als Samen
durch das Speisekammerfenster.
Sonne kam, Regen kam,
die Verrücktheit meiner Mutter
sproß auf, Ich.
Wie sollte ich denn nicht schreiben
Gedichte über Affen mit Zähnen aus
Gold?
Stottern
Stottern ist keine Behinderung
Es ist eine Art zu sprechen.
Stottern ist das Schweigen, das fällt
zwischen Wort und Bedeutung,
gerade wie die Lahmheit das
Schweigen ist, das zwischen
Wort und Tat fällt.
Ausgezeichnet
Dr. K. Satchidanandan ist einer der
bedeutendsten Dicher der Malayalam-Sprache. Er wird als der Wegbereiter der Modernität in der Malayalam-Dichtung betrachtet. Außerdem
ist er indienweit bekannt als ein namhafter Literaturkritiker. Seit einigen
Jahren arbeitet er als Generalsekretär der zentralen Literatur-Akademie Indiens in New Delhi. Satchidanandan war im September dieses Jahres Gast beim Literaturfestival Berlin. Die folgenden Gedichte wurden
aus diesem Anlass von Prof. Dr.
Annakutty Findeis aus dem Original
Malayalam ins Deutsche übertragen.
Katze
Ging Stottern der Sprache voraus
oder folgt es?
Ist es nur eine Mundart oder
Sprache selbst? Diese Fragen
lassen den Sprachforscher stottern.
Den Kontakt mit Geistern und Magiern
habe ich schon längst abgeschnitten.
Jedoch Grammatiker und Linguisten
lassen mich scheinbar nicht los.
Mit jedem Stottern
bringen wir ein Opfer
dem Gott der Bedeutungen.
Wenn ein ganzes Volk stottert,
wird Stottern seine Muttersprache;
so wie es jetzt ist mit uns.
Auf alle Viere falle ich,
egal in welcher Sprache,
das ist bekannt.
Gott auch muss gestottert haben,
als er den Menschen schuf.
Deshalb bergen alle Menschenworte
verschiedene Bedeutungen.
Deshalb, alles, was er sagt,
von seinen Gebeten zu seinen Geboten,
stottert,
wie das Gedicht.
Ist mein Kopf verstrickt in
Konjunktionen,
lässt er sich herausziehen trotz
Schmerzen;
Um den Schwanz aus den Possessiva zu
befreien,
reichen nichtmal aus neun Geburten.
Aber Präpositionen vor Augen
erzittert mein Schnurrbart.
10
Amitav Ghosh (Indien) hat für seinen
Roman ¸Hunger der Gezeiten’ (Blessing, München 2004; Übers. Barbara Heller) in der Sparte ¸Bestes Buch
englischer Sprache’ den indischen
Hutch Crossword Book Award 2004
erhalten. Die Auszeichnung gilt als
bedeutendste nichtstaatliche Auszeichnung des indischen Literaturbetriebs, mit der indische Autoren geehrt, gefördert und bekannt gemacht
werden sollen. Der Laureat Ghosh,
Autor der Romane ¸Calcutta Chromosom’ und ¸Glaspalast’, bereits
mehrfach mit Preisen bedacht, lässt
seinen prämierten, großangelegten
Roman in den bengalischen Sundarbans spielen, im Mündungsdelta des
Ganges. Er verknüpft zwei Erzählstränge miteinander, die Forschungsreise einer Meeresbiologin
und die Geschichte eines Geschäftsmannes aus Delhi, der sich in sie verliebt, während er das prekäre Verhältnis von Mensch und Natur thematisiert; nicht zuletzt spielt auch ein
einheimischer Fischer eine Rolle. In
der zweiten Kategorie des Preises,
der besten literarischen Übersetzung
aus einer indischen Sprache, erhielten die Auszeichnung der Autor
Chandrasekhar Rath und der Übersetzer Jatindra Kumar Nayak für den
aus dem Oriya ins Englische übertragenen Roman ¸Astride The Wheel’
(Yantraudha). Oriya wird von ca. 35
Mio. Menschen als Muttersprache
gesprochen, die überwiegend im
indischen Orissa leben. Es handelt
sich um eine von 13 offiziell anerkannten Sprachen Indiens und wird
mit einem eigenen Alphabet
geschrieben.
Information:
www.hutch.co.in/corpsite/home/crossword.asp
(Quelle: Literaturnachrichten, Sommer 2005)
Interview Aktuell
Eine erschütternde Erfahrung, eine faszinierende
Idee und einige mutige Schritte in die Zukunft
Elisabeth Kreuz
Gründerin von „Indienhilfe e.V.” Elisabeth Kreuz erzählt im folgenden Interview,
wie sich eine kleine Initiative mit bescheidener Zielsetzung in den letzten 25 Jahren
in eine tatkräftige entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisation entwickelte.
Das Interview wurde aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Indienhilfe e.V in
diesem Jahr von Jose Punnamparambil geführt. MEINE WELT gratuliert Frau Elisabeth Kreuz und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die großen Leistungen und den unermüdlichen Einsatz zu Gunsten der Marginalisierten und Entrechteten in Indien.
- Die Redaktion
Meine Welt: Indienhilfe e.V. ist gerade
25 Jahre alt geworden. Mit welchem
Grad der Zufriedenheit blicken Sie auf
Ihre Arbeit zurück?
positiven Veränderungen für Menschen,
die vorher oft in großem Elend und Verzweiflung gelebt haben, sind es, die unserer Arbeit den Sinn verleihen, der uns
beflügelt, weiter zu machen und nie
locker zu lassen in unseren Bemühungen
um mehr Gerechtigkeit.
im Rahmen ihrer Arbeit, ihrer beruflichen Verantwortung tagtäglich gefällt
werden, wo ebenfalls immer noch kaum
auf Nachhaltigkeit und ungerechte Auswirkungen vor allem in der Dritten Welt
Elisabeth Kreuz: Einerseits bin ich
geachtet wird. Unzufrieden bin ich mit
glücklich darüber, dass die Indienhilfe
meiner Regierung in unserem auch
heute extrem wohlhabenden Deutschsich seit 25 Jahren ihren Zielen treu
bleibt, indem sie sich ständig verändert, Manchmal bin ich aber auch total unzu- land, dass sie es immer noch nicht
indem sie Schwerpunkte verlagert, sich frieden - nämlich dann, wenn ich meine schafft, 0,7 % des BSP für Entwickqualitativ weiterentwickelt in einem Trauer und meine Wut einmal nicht ver- lungsmaßnahmen bereitzustellen. All
fortwährenden lebendigen Prozess. dränge über die Nonchalance, mit der das lässt mich in schwachen Stunden am
Sinn meiner Arbeit fast verzweifeln.
Neben den langjährigen Aktiven
teils noch aus den Gründungstagen
Unzufrieden bin ich mit meiner Alle Bemühungen der unzähligen
kommen auch immer wieder Neue
Regierung in unserem auch heute Initiativen der Solidaritätsbewegung in Deutschland, von denen die
dazu, vor allen Dingen auch immer
extrem wohlhabenden Deutschland, Indienhilfe ja nur eine ist, sollen
wieder Kinder und Jugendliche, die
dass sie es immer noch nicht schafft, nicht mehr bewegt haben?
sich gemeinsam mit uns engagie0,7% des BSP für Entwicklungsren. Selbstbestimmtheit, Kreativität
maßnahmen bereitzustellen.
Meine Welt: Wenn ich mich richtig
und Spontaneität und die Liebe zur
erinnere, haben Sie zusammen mit
indischen Kultur, der Spaß daran,
ein paar anderen Freunden die
die Menschen in Indien mit denen
bei uns in einen Dialog zu bringen, prä- die privilegierten Menschen in der indu- Indienhilfe vor 25 Jahren gegründet.
gen neben einer zunehmenden Profes- strialisierten Welt über das Elend ande- Was war damals die Hauptmotivation
sionalisierung die Arbeit bei der Indien- rer hinwegsehen und nur mit größten für die Gründungsmitglieder, so einen
hilfe – es bleibt für alle Beteiligten eine Anstrengungen dazu bewegt werden Verein ins Leben zu rufen?
spannende Geschichte! Und das wiegt können, im Allerkleinsten etwas zu verdie minimale Bezahlung der hauptamt- ändern. Sei es - im bürgerlichen Alltag – E. Kreuz: Neben dem allgemeinen entlichen Arbeit auf.
durch ein paar Cent mehr, die sie für wicklungspolitischen Interesse und dem
einen fairen Kaffee auf den Tisch legen, Bedürfnis nach mehr weltweiter GerechZufrieden bin ich mit den sichtbaren die Entscheidung, lokale Lebensmittel tigkeit war es vor allem die ErschütteErfolgen, die unsere Partnerorganisatio- den energieintensiv angeflogenen exoti- rung über das Ausmaß des Elends, das
nen durch ihre Aktivitäten in Hunderten schen vorzuziehen, sich mal über eine Angelika (meine Schwester) und ich als
von Dörfern Westbengalens und Orissas Kampagne, z.B. gegen Kinderarbeit Studentinnen bei unserem Arbeitsauffür viele Tausende von Menschen er- oder gegen Personenminen oder was enthalt bei Mutter Teresa in deren Einreicht haben und weiter erreichen. Diese auch immer, zu informieren und dann richtungen in Kalkutta und auf dem
_____________________________________________
auch eine Unterschrift zu leisten, einen Land kennen gelernt hatten, und das
Frau Elisabeth Kreuz ist 1954 in Ammersee, Starnberg
Protestbrief zu schreiben, mal auf einen Ausmaß des Überflusses, des Reichtums
(Bayern) geboren. Sie studierte Medizin in München und
klimaverändernden Urlaubsflug zuguns- und der mitleidlosen Ich-Sucht, die uns
schloss das Studium 1984 ab. 1980 gründete sie die
ten eines näher gelegenen Erholungsor- nach unserer Rückkehr erst so richtig
„Indienhilfe e.V” zusammen mit einigen anderen. Seitdem steht die engagierte Arbeit für diese kleine NGO im
tes zu verzichten. Oder sei es im Bereich bewusst wurden. Es war der KulturZentrum ihres Lebens
der Entscheidungen, die von Menschen schock, den wir bei der Rückkehr nach
11
Deutschland – und NICHT in Indien –
erlebten. Die Gewissheit, nicht einfach
so weitermachen zu können, Verantwortung zu tragen, die Erkenntnis, dass wir
etwas tun KÖNNEN und daher auch tun
MÜSSEN.
Meine Welt: Der Schwerpunkt Ihrer
Arbeit hat sich in den letzten Jahren
merklich verschoben. Statt auf Informationsarbeit in Deutschland zu Gunsten
Indiens konzentrieren Sie sich seit einiger Zeit auf Projektarbeit in Kalkutta
und anderen Orten in Westbengalen.
Warum diese Schwerpunktverlagerung?
E. Kreuz: Das ist nicht ganz richtig.
Ganz konkrete Entwicklungsprojekte
zur Selbsthilfe haben wir von Anfang an
unterstützt - dies war immer die vorrangige Säule unserer Arbeit. In den letzten
5 Jahren haben wir diese Arbeit stärker
professionalisiert und seit Juli 2004
haben wir ein eigenes Büro in Kalkutta
mit einem professionellen, sehr engagierten Koordinator & Projektberater,
einem vereidigten Wirtschaftsprüfer,
einer Projektreferentin und einem
Sekretär, der gleichzeitig Referent für
die Betreuung der Partnerschulen ist.
Von Anfang an war es aber für die
Indienhilfe wesentlich, dass die Engagierten, ob ehren- oder hauptamtlich und
immer aus der eigenen Tasche, die Projektgebiete regelmäßig besuchten und
selbst die Projektarbeit und ihre Wirkungen in Augenschein nahmen. Das bleibt
auch so.
Verändert hat sich aber, wie von Ihnen
bemerkt, die Ausrichtung unserer Inlandsarbeit. In den 80-er Jahren gab es
noch kein Internet und daher in Deutschland wenig Zugang zu Informationen
aus den sozialen Bewegungen Indiens.
In dieser Zeit machten wir es uns zur
Aufgabe, bundesweit gemeinsam mit
anderen indienorientierten Gruppen
(z.B. Südasienbüro, Deutsche Kalkutta
Gruppe) solche Informationen hier zu
verbreiten. Die Indienhilfe gab z.B. den
Indienrundbrief heraus, eine immer umfangreicher werdende Schrift (zuletzt
1989 ein kiloschwerer Reader zum
Thema „Wälder und Ureinwohner“), die
unter anderem von fast allen IndienreferentInnen bis hinauf zur KfW und GTZ
abonniert wurde. 1985 organisierten wir
beim BUKO in Freiburg einen Workshop über Ökologiebewegungen Indiens, u.a. den Widerstand gegen den
Narmada-Staudamm. Die Indienhilfe
vertrieb für einige Jahre die Zeitschrift
Down to Earth des renommierten Centre
for Science and Environment, Delhi, in
Europa, bis sie Fuß gefasst hatte und
CSE den Vertrieb von Delhi aus selbst
organisieren konnte. Wir veröffentlichten Vandana Shiva als Vertreterin von
„People’s Science” und empfahlen sie
weiter, als sie noch recht unbekannt war,
in den 80-er Jahren.
Anfang der 90-er Jahre beschlossen wir
jedoch, unsere Inlandsarbeit regional
auszurichten, die Menschen in unserer
unmittelbaren Nähe - in Herrsching, im
Landkreis Starnberg, im Einzugsbereich
München, in Bayern - für Indien und für
Fragen der Einen Welt zu interessieren
und hier konkrete Veränderungen zu
bewirken. Heute sind wir als Mitglied
des Eine-Welt-Netzwerks Bayern eine
Unser besonderes Profil
liegt in der Schul-Partnerschaftsarbeit.
anerkannte bayerische Eine-Welt-Station mit unserem gut ausgestatteten
Eine-Welt Medienzentrum, das natürlich
einen besonderen Schwerpunkt bei Indien hat. Unser besonderes Profil liegt in
der Schul-Partnerschaftsarbeit.
Die Gemeinde Herrsching hat heute eine
offizielle Städtepartnerschaft mit der
Kommune Chatra bei Kalkutta, und wir
betreuen 6 Schulpartnerschaften zwischen Schulen im Raum München und
Schulen in Westbengalen und Orissa.
Partnerschaft bedeutet hier einen Dialog
auf Augenhöhe, gemeinsame Arbeit an
Unterrichtsprojekten, gemeinsame Workshops (z.B. über Agenda 21 und Schule,
Jan. 2003 in Chatra), Kennenlernen der
gegenseitigen Kulturen und Religionen,
der Geschichte, Geographie, Wirtschaftsbeziehungen, gegenseitige Lernund Begegnungsreisen, und auch bei
Bedarf natürliche Solidarität – so wurde
z.B. der Aufbau von 12 neuen Klassenzimmern an der Boys High School Chatra innerhalb eines Jahres von der Volksschule Herrsching, dem ChristophProbst-Gymnasium Gilching und weiteren Initiativen aus der Herrschinger Bürgerschaft durch die Spende von fast
40.000 EUR ermöglicht.
Es ist unser Ziel, in den nächsten Jahren
Nord-Süd-Schulpartnerschaften zwi-
12
schen bayerischen und bengalischen
Schulen auch auf der Ebene der Lehrerausbildung und Curricula-Gestaltung fest
zu verankern. Die Indienhilfe hat in Kalkutta einen Koordinator und einen Referenten (s.o.) für die Schulpartnerschaften.
Sie vermitteln vor Ort unser Konzept, das
eben nicht nur auf der Befriedigung
materieller Bedürfnisse beruht, organisieren gemeinsame Workshops von SchülerInnen und Lehrkräften aus den Partnerschulen, kümmern sich um den geregelten Ablauf der Brieffreundschaften usw.
Bei einem solchen Workshop wurden
z.B. Wünsche an die deutschen Partner
zur Gestaltung eines „Germany Days”
zusammengetragen. Eine von der Indienhilfe betreute Gruppe von etwa 30 Reisenden wird im Januar/Februar Chatra
und die Entwicklungsprojekte der Indienhilfe besuchen, und sie werden viele
Materialien und Objekte aus Deutschland
zur Gestaltung eines „Germany Days“
mitbringen. Sie selbst werden verteilt auf
alle Partnerschulen in Indien an diesem
Tag als „resource persons“, als „leibhaftige Deutsche“ für die SchülerInnen zur
Verfügung stehen.
In diesen Tagen haben wir erstmals indische Filmtage in Kooperation mit dem
Herrschinger Programmkino „Breitwand” organisiert, mit den Filmen
„Sanyogita“ „The Bride in Red, Black,
Swades“ „We the People“. Nach wie vor
veröffentlichen wir regelmäßig die kommentierten Indien-Leseempfehlungen
mit Literatur aus und über Indien – demnächst gibt es wieder ein aktuelles
Ergänzungsheft bei unserem Verlag
Durga Press zu bestellen.
Bei der lokal-regionalen Arbeit ist uns
die Zusammenarbeit mit der lokalen
Agenda 21 sehr wichtig. Wir haben
schon viele Projekte gemeinsam angestoßen, ob es die Förderung des fairen
Handels ist (die IH betreibt auch einen
Weltladen in ihren Räumlichkeiten), die
Propagierung von Recyclingpapier, der
bewusste Umgang mit Textilien und Altkleidern, Ausstellungen und Veranstaltungen, eine große Kundgebung mit
Menschenkette am Ammerseeufer anlässlich des zweiten „White Band Day“
am 10. September im Rahmen der Kampagne „Gib deine Stimme gegen
Armut”, oder der Anstoß zu einem
Beschluss des Herrschinger Gemeinderats am 19. September 2005, keine Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit
mehr zu kaufen.
Meine Welt: Nach 25-jährigem persönlichen Einsatz zu Gunsten der Marginalisierten und Entrechteten in Westbengalen, haben Sie heute den Eindruck, dass
sich dort etwas bewegt, substantiell verändert hat?
E. Kreuz: Ja, durchaus. Der wirtschaftliche Aufschwung ist unübersehbar: Es
entstehen neue Arbeitsplätze, die Infrastruktur wird auf- und ausgebaut - z.B.
sind die Menschen heute telefonisch
miteinander verbunden, während in den
80-er Jahren wichtige eilige Informationen vielerorts nur per Boten überbracht
werden konnten, selbst das Internet breitet sich allmählich bis in die Dörfer aus,
es gibt Fernsehen auch in abgelegenen
Gegenden, viel mehr Kinder als früher
gehen zur Schule, auch aus den Gruppen
der Adivasi und Dalits, und haben die
Möglichkeit, aufzusteigen. Der Flughafen ist besser mit der Welt verbunden,
und der Verkehr in Kalkutta wird durch
neue Fly-overs und eine Metro am
Fließen gehalten. Sogar die Luft in Kalkutta hat sich zuletzt etwas verbessert.
Die Armut ist nicht mehr fast flächendeckend, sondern man muss sie in ihren
Nischen aufsuchen, wo allerdings immer noch großes Elend anzutreffen ist.
Auch die Armen, die auf den Bürgersteigen der Megacity leben, sind immer
noch anzutreffen. Aber sie scheinen –
trotz des Bevölkerungszuwachses –
nicht mehr geworden zu sein.
In der gegenwärtigen Situation des
raschen Wachstums und der rasanten gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen scheint es uns ganz besonders
wichtig, in den Unterricht an den indischen Schulen auch Werteerziehung
stärker einfließen zu lassen, Verantwortungsgefühl als Global Citizens zu
wecken und Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge und die Überlebensfragen der Menschheit zu wecken.
Derzeit unterstützen wir z.B. ein Projekt, bei dem unter Anleitung durch ökologisch und pädagogisch geschulte
Experten alle unsere Partner in Westbengalen sog. Öko-Clubs an Schulen in
ihrem Projektgebiet initiieren. Die 12bis 14-jährigen Schüler und Schülerinnen lernen, Ökosysteme ihrer Umgebung zu erforschen und die Ergebnisse
der Dorfbevölkerung zu präsentieren.
Sehr ermutigend finden wir die Bestrebungen der Regierung vonWestbengalen, die Zusammenarbeit von NGOs,
Selbsthilfegruppen und Selbstverwal-
tungseinrichtungen (Panchayat-Institutionen) bei lokaler Problemanalyse und
Entwicklungsplanung und deren Durchführung nicht nur zu fördern, sondern zu
institutionalisieren. Die Arbeit unserer
Partner kann durch diese Synergieeffekte eine viel größere Wirkung erzielen.
Derzeit unterstützenwir z.B.
ein Projekt, bei dem unter
Anleitung durch ökologisch
und pädagogisch geschulte
Experten alle unsere Partner
in Westbengalen sog. ÖkoClubs an Schulen in ihrem
Projektgebiet initiieren.
Meine Welt: Was haben Sie aus Ihrer
Arbeit in Indien gelernt? Können sich
die Armen in einer Demokratie behaupten, wie sie in Indien vorhanden ist?
E. Kreuz: Aus der Arbeit in Indien
haben wir gelernt, uns selbst und unsere
Welt hier in Deutschland mit anderen
Augen zu sehen. Wir haben sehr viel
Geduld gelernt; wir denken heute in
Generationen. Wir haben gelernt, dass
Entwicklungsarbeit nicht aus Projekten
besteht, sondern dass sie gelebtes Leben
ist – sowohl Leben der Mitarbeiter in
Indien wie in Deutschland als auch
Leben der Armen; dass unsere Beiträge
nur einen kleinen Ausschnitt aus ihrer
Gesamtlebenswirklichkeit darstellen,
dass Entwicklung nicht einfach planbar
und machbar ist. Dies hat uns Bescheidenheit gelehrt. Wir haben auch gelernt,
dass Geld verführerisch ist; es verleitet
zu Machtgefühlen, aber auch zu Missbrauch. Wachsamkeit und Reflexion,
Transparenz und Dialog sind unsere Gegenmittel.
Völlig auf sich allein gestellt können die
Armen sich nicht behaupten, weder in
Indien noch sonstwo auf der Welt, sonst
wären sie schließlich nicht arm. Demokratie ist natürlich eine wichtige Grundlage, aber es bedarf – und zwar lokal,
national und international – der politischen Parteien, der zivilgesellschaftlichen und religiösen Gruppen und der
mitfühlenden Einzelpersonen, die vor
allem aus dem Mittelstand kommen, die
sich der Sache der Armen annehmen und
auf der ihnen angemessenen Ebene
dafür arbeiten, dass auch die Armen mit
ihren Bedürfnissen gehört werden und
die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen gerecht und fair geregelt werden.
„
Leserbrief
Hallo Sula!
Ich habe mit großem Interesse die
Geschichten, Porträts, und Interviews
gelesen. Ihr Gespräch mit Heidemarie
Pandey verdeutlichte einmal mehr,
dass es nicht leicht ist, in zwei Kulturen zu leben! Aber mit viel Rücksicht
und Einfühlungsvermögen lernt man
auch, die Lebensgewohnheiten anderer Völker zu lieben, und stellt dabei
fest, dass man davon noch profitieren
und daraus lernen kann!
Menschen wie Gandhi, Tagore und
Vandana Shiva wird es Gott sei Dank
immer wieder geben!
Ich denke da z.B. an Mutter Theresa,
Martin Luther King oder Albert
Schweizer. Wenn man vom Tod solcher
Menschen erfährt, meint man, die Welt
wäre ein Stück ärmer! Dann jedoch
stellt man fest, dass deren Erbe von
anderen Menschen weitergeführt wird!
Einen Orden der Mutter Theresa wird
13
es wohl immer geben, genauso wie die
Albert Schweitzer-Kinderdörfer! Gott
lässt immer Menschen wachsen, die
geistig wertvolles Erbe weiterführen!
Auch Ihre Geschichte über den Dandi
Marsch ist sehr bezeichnend dafür,
dass unter dem Einfluss vieler doch
immer etwas bewegt werden kann!
Dass Günter Grass schon das zweite
Mal in Indien war, wusste ich nicht.
Als Schriftsteller muss er sich jedoch
für vieles interessieren. Wie in Ihrer
Zeitschrift geschrieben, bringt er dieses Erleben auch in seine Romane mit
ein! Ihre Zeitschrift zu lesen, bedeutet
für mich, voll konzentriert zu sein. Es
ist nicht so, wie bei meinen „Klatschzeitschriften“, die man ohne viel zu
denken einfach überfliegen kann! Sehr
lehrreich für mich!
- Jutta Weikert
Mannheim
Bericht
„We are your children, not for sale!“
Workshop über rechtliche Theorie
und bedrückende Wirklichkeit auf dem Subkontinent
Vom 24. bis einschließlich 26. Oktober
2005 kamen im Karl Kübel Institute for
Development Education (www.kkid.
org) im südindischen Coimbatore weit
über 60 Vertreter verschiedener indischer Entwicklungsorganisationen zusammen, um gemeinsam über Ausmaß,
Hintergründe und Möglichkeiten der
Bekämpfung von Kinderhandel in Indien zu diskutieren. Der Workshop fand
auf Initiative der Karl Kübel Stiftung für
Kind und Familie, Bensheim (www.
kkstiftung.de), und ihrer indischen Partnerorganisation PRACHODANA statt.
Nachdem im letzten Jahr bereits ein
Workshop zum Thema „Kinderarbeit
in Indien“ stattfand, wandte man sich
in diesem Jahr einem der damit leider
oftmals unweigerlich verknüpften
Phänomene zu: dem kommerziellen
Handel mit Kindern jeglichen Alters.
Neben der Analyse der Hintergründe
von Kinderhandel zielte der Workshop
darauf ab, ein gemeinsames Handlungskonzept sowie individuelle projektorientierte Ansätze zur Bekämpfung von Kinderhandel zu entwickeln.
Zahl der jährlich weltweit gehandelten Kinder auf 1,8 Millionen beziffert
Der Handel mit Menschen ist ein weltweit aktuelles Phänomen, das von zunehmender Dynamik und Kommerzialisierung gekennzeichnet ist. Nach dem illegalen Handel mit Drogen und Waffen
nimmt der Handel mit Kindern weltweit
den dritten Rang ein. Das International
Labour Office (ILO) schätzt die Zahl der
jährlich weltweit gehandelten Kinder
auf 1,8 Millionen. Selbst in Europa, und
somit auch in Deutschland, ist diese
Form der organisierten Kriminalität gerade auch – aber nicht nur – in größeren
Städten anzutreffen. In unseren Breitengraden sind es vor allem Frauen und
Mädchen aus Osteuropa und den Staaten
der GUS, die von den Medien immer
wieder als Opfer von Menschenhändlerbanden identifiziert werden. Viele von
ihnen wurden mit falschen Versprechun-
gen in den Westen gelockt und fristen
nun ein Dasein als illegale und somit
völlig rechtlose Prostituierte.
Ähnlich verhält es sich einige tausend
Kilometer weiter südöstlich, in Indien.
Verlässliche Zahlen über die Menschenströme, die von Norden nach Süden, von
Osten nach Westen, von kleinen Dörfern
in die Nachbargemeinden, Kleinstädte,
aber gerade auch in die Großstädte
Chennai (Madras), Mumbai (Bombay),
Kolkata (Kalkutta) und New Delhi wandern, gibt es nicht. Tatsache ist, dass
Indien nicht nur das Herkunftsland vie-
Nach dem illegalen Handel
mit Drogen und Waffen nimmt
der Handel mit Kindern
weltweit den dritten Rang ein.
ler gehandelter Kinder und Erwachsener
ist, sondern gerade der „Binnenhandel“
derzeit floriert.
In den Medien – und somit in der
Öffentlichkeit – ist Zwangsprostitution
der bisher am meisten beachtete Aspekt
des Menschenhandels. Hier lassen sich
noch die meisten, zumeist erschreckenden, Details entdecken. So gehen einige
in diesem Bereich durchgeführte Studien davon aus, dass 2025 ein Fünftel aller
indischen Mädchen und jungen Frauen
sich zwangsweise prostituieren müssen.
Die Tatsache, dass auch immer mehr
Jungen in diesem Bereich arbeiten müssen, findet hier noch keinen Niederschlag.
Doch der Handel mit Mädchen, Jungen
und jungen Frauen ist nur ein erschreckendes Detail dieses allumfassenden Netzwerks. Der weitaus größte Teil
der ver- und gekauften Kinder findet
sich in der in Indien noch weit verbreiteten Schuldknechtschaft wieder – Kinder
müssen die von ihren Eltern aufgenommenen Kredite abarbeiten. Der Zeitraum, der dafür beansprucht wird, liegt
dabei ganz im Ermessen des Geldgebers.
14
Kinderhandel wird von professionellen Banden kontrolliert
Die Bereiche, in denen Kinder aus diesem Grund tätig werden müssen, sind
ganz unterschiedlich. Sie reichen vom
Einsatz als gewöhnliche Haushaltshilfen
über Arbeiten im handwerklichen Bereich bis hin zum Einsatz im Straßenbau,
Bergbau, Drogenhandel, in der Bettelei,
etc. Kinderhandel zum Zweck der
Zwangsverheiratung, der Adoption, der
Nutzung von Kindern für den höchst
lukrativen Organhandel und der Einsatz
von Kindern in bewaffneten Konflikten
sind andere Bereiche dieses kriminellen
Geschäfts. Ein weiteres Extrem im
Kinderhandel, von dem Dr. Niranjanaradhya V.P. aus Bangalore berichtete, ist es, Kinder aus Indien bei
Kamelrennen in den Golfstaaten einzusetzen, was für die Kinder meist
tödlich endet.
Diese Auflistung, die bei weitem nicht
den gesamten Bereich des Kinderhandels abdeckt, zeigt die Dimension und
die hohe Dynamik, die sich in diesem
zumeist über professionell organisierte
Menschenhändlerbanden kontrollierte
Geschäft entwickelt hat.
Die Professionalität der Banden führt zu
einem weiteren Problem. Verlässliche
Informationen über Herkunft der gehandelten Kinder, Handelsrouten und Herkunfts- bzw. Bestimmungsorte sind nur
bruchstückhaft vorhanden. Kinder, die
beispielsweise aus Südindien über die
Grenzen von Bundesstaaten und damit
auch über Sprachgrenzen hinweg gehandelt werden, können sich an ihren Bestimmungsorten kaum verständigen und
damit auch nicht um Hilfe bitten. Handelsrouten werden augenscheinlich von
den Banden permanent verändert, unterschiedliche Verkehrsmittel für den
Transport genutzt. Daher ist es sehr
schwierig, Handelsrouten und „Umschlagplätze“ zu identifizieren. Auch
wenn es mittlerweile Netzwerke wie die
Campain Against Child Trafficking
(CACT) gibt, sind die gesammelten
Informationen äußerst lückenhaft.
Armut in den meisten Fällen Auslöser
von Kinderhandel
Viele der Kinder und jungen Frauen, die
von der Familie zum Arbeiten weggegeben werden, erfahren an ihren neuen
„Arbeitsplätzen“ die unterschiedlichsten
Formen von Gewalt. Neben der Misshandlung durch Schläge und Tritte, Vergewaltigung, Entzug von Nahrung und
Getränken sind sie einer ständigen enormen psychischen Belastung ausgesetzt.
Eine nennenswerte Entwicklung der
Persönlichkeit kann unter diesen Voraussetzungen nicht stattfinden bzw.
wirkt sich auf diese stark nachteilig aus.
tionen der internationalen Gemeinschaft. Besonders zu erwähnen sind hier
das Juvenile Justice (Care and Protection) Act aus dem Jahr 2000 sowie die
Ratifizierung der Kinderrechtskonvention der UN. Sie stellen die Rechte der
Kinder und deren Schutzbedürftigkeit in
den Vordergrund. Fänden diese sich
überall gleichermaßen beachtet – Kinderhandel dürfte in Indien und auch
sonstwo auf der Welt kaum mehr eine
aktuelle Thematik sein. Dennoch gibt es
in Indien keine explizite und umfassende Gesetzgebung, die sich auf das
Thema Kinderhandel bezieht.
Kaum ein Elternpaar weiß, welchen
Gefahren, welchem Schicksal sie ihr
Kind aussetzen, wenn sie es in die
Hände eines Menschenhändlers geben.
Doch stellt sich die Frage, ob sie nicht
gleichermaßen handeln würden bzw.
müssten, wenn sie sich dessen bewusst
wären. Dies führt unweigerlich zu den
Gründen für Kinderhandel. Warum
geben Eltern ihre Kinder freiwillig für
kaum absehbare Zeit von sich fort?
Es ergibt sich somit folgendes Bild:
Wenn auch sicherlich nicht allumfassend, so existieren auf indischem Staatsgebiet doch theoretisch einige „gute“ –
im Sinne von anwendbare – Gesetzestexte. Die Problematik auf diesem Gebiet besteht vielmehr in der Tatsache,
dass das Wissen um diese nur sehr ge-
„Jedes Kind, das keine Schule
besucht, ist ein potenzieller
„Jedes Kind, das keine Schule
Kinderarbeiter, und jeder
besucht, ist ein potenzieller Kinder- Kinderarbeiter ist ein potenzielles
arbeiter, und jeder Kinderarbeiter
Opfer von Kinderhandel.“
ist ein potenzielles Opfer von Kinderhandel.“
Einer der bestimmenden Faktoren ist
unzweifelhaft die noch immer überall in
Indien anzutreffende extreme Armut der
Mehrheit der Bevölkerung. Die Workshop-Teilnehmer berichteten von Fällen,
in denen Eltern ihre Kinder an Menschenhändler übergeben haben in der
Hoffnung, dass sie dort ein besseres
Leben und Versorgung finden würden.
Die Eltern selbst waren nicht mehr in
der Lage, die Kinder zu ernähren. Shakun M. von der in Hyderabad ansässigen
Organisation VIMOCHANA berichtete
von dokumentierten Fällen, in denen
Kinder für 10 Kilo Reis verkauft wurden, nur damit Mütter in der Lage
waren, die übrigen Kinder vor dem Verhungern zu retten.
Auch aus den Tsunami-Regionen Südindiens wurde berichtet, dass durch die
Katastrophe verwitwete Frauen vielfach
nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder
zu versorgen und in der Folge an Menschenhändler verkaufen.
Gesetzgebung ist lückenhaft
Blickt man in die indischen Gesetzesbücher, finden sich unterschiedliche Erlasse, Gesetze und ratifizierte Konven-
ring ist, und dies gilt verstärkt dort, wo
es doch eigentlich zur Anwendung kommen sollte: bei der örtlichen Polizei,
Verwaltung, auch bei den Organisationen. Gerade die Polizei stellt im Hinblick auf die korrekte und unvoreingenommene Ausführung der gesetzlichen
Bestimmungen leider vielerorts ein nicht
zu unterschätzendes Hindernis dar. Ehemalige Opfer berichten immer wieder
von Polizisten, die selbst in den Handel
mit Kindern eingebunden sind.
Reintegration „befreiter“ Kinder
Ein weiteres Problem im Kampf gegen
den Handel mit Menschen und Kindern
im Speziellen ist auch das Problem der
Wiedereingliederung der ehemaligen
Opfer. Selbst wenn es sich hierbei nicht
um zur Prostitution gezwungene Kinder
handelt, gestaltet sich dies doch als
immens schwierig. Da ist zum Einen
oftmals die noch ungelöste Armutssituation innerhalb der Familie, welche diese
bereits zuvor zum Einwilligen in den
Handel veranlasste. Aber da ist auch vielerorten die Abwehr des eigentlichen
Opfers selbst. Je länger die Opfer von
ihren Familien getrennt gelebt haben,
umso schwieriger gestalten sich die
Rückführung und Reintegration. Obwohl viele Kinder und junge Frauen
Gewalt ausgesetzt sind, haben sie
fernab von der Familie eigene Lebensformen und Ersatzstrukturen gefunden. Diese nun wieder aufzugeben, ist
schwierig. So finden sich viele vormals „gerettete“ bzw. „befreite“ Opfer
des Menschenhandels bereits wenig
später wieder auf dem Weg in ein
anderes Dorf, in eine andere Stadt.
Auf diese Situation abgestimmte, auf
Langfristigkeit angelegte und gleichermaßen gut durchdachte Rehabilitationsprogramme gibt es nicht. Die exstierenden staatlichen Einrichtungen sind oftmals personell wie infrastrukturell ihren
Das Problem „Wasser“
Weltweit gibt es 1,2 Milliarden Menschen, die keinen Zugang zu sauberem
Wasser haben. Damit hängt zusammen, dass jedes Jahr 2,2 Millionen
Menschen aus Mangel an Trinkwasser
oder wegen schlechter Hygiene-Bedingungen sterben. Jeden Tag sterben
Tausende Kinder an Krankheiten, die
durch Wasser übertragen werden.
Doch warum reicht das Wasser auf
unserem Blauen Planeten nicht für
alle?
Ein Grund lässt sich mit dem Vergleich
von Teelöffel und Badewanne
erklären: Insgesamt verfügt die Erde
über 1,4 Milliarden Kubikkilometer
15
Wasser. Über 97 Prozent davon sind
Salzwasser und damit für uns Menschen nicht verwendbar. Von dem Süßwasser kommen nur etwa 113.000
Kubikkilometer pro Jahr als Regen
oder Schnee auf die Landoberfläche,
fast zwei Drittel davon verdunsten.
Übrig bleiben schätzungsweise 41.000
Kubikkilometer sich erneuerndes Süßwasser für den gesamten Wasserbedarf
der Erde. Befüllt man eine Badewanne
und entnimmt ihr einen Teelöffel Wasser, entspricht das diesem Verhältnis.
- Barbara Leyendecker
(Quelle: Kontinente 4/05)
Aufgaben nicht gewachsen. Wie von
den Workshop-Teilnehmern berichtet
wurde, gibt es kaum für diesen Zweck
qualifiziertes Personal, die sanitären und
hygienischen Anlagen in den Heimen
sind miserabel, das Essen teilweise von
Ungeziefer verseucht, etc. Den in diesem Bereich aktiven Nichtregierungsorganisationen (NRO) fehlt hingegen – bei
allen guten Konzepten und gutem Willen – oftmals das Geld.
Shakun M. (VIMOCHANA) brachte die
derzeitige Situation mit der Frage „Welche Garantie können wir mit dem derzeitigen System geben, dass jedes
befreite Kind eine zweite Chance in seinem Leben erhält?“ auf den Punkt.
Bewusstsein und Wissen
Wie wenig dieses Thema und die spärlichen belegbaren Fakten von großen Teilen der indischen Gesellschaft noch
wahrgenommen werden, zeigte sich
auch am Bild der teilnehmenden Organisationen: Nur wenige sind bereits aktiv
in den Kampf gegen Kinderhandel in
Indien eingebunden. Die meisten Vertreter indischer NRO befassten sich bisher
kaum mit dieser Problematik und waren
vor allem aus Gründen der Information
und zum Knüpfen erster Kontakte in
diesem Bereich ins KKID nach Coimbatore gereist. Die Mitarbeiter der bereits
erfahrenen Organisationen waren daher
stets begehrte Gesprächspartner – sowohl in Diskussionen als auch in den
Pausen.
Wieviel Überzeugungs- und Bewusstseinsarbeit in diesem Bereich in Indien
noch zu leisten ist, zeigen auch die Angaben über die Erfolge der eigenen Arbeit: Man geht davon aus, dass bislang
in Indien nur etwa 1 % der Fälle von
Kinderhandel entdeckt und – im Sinne
einer Reintegration der Kinder - erfolgreich „bekämpft“ werden.
Gemeinsames Aktionsprogramm verabschiedet
Vor diesem Hintergrund wurde von den
Teilnehmern des Workshops in Coimbatore ein Aktionsprogramm verabschiedet, dem die gemeinsame Überzeugung
zu Grunde liegt, dass kein Kind oder
Jugendlicher unter 18 Jahren aus kommerziellen oder sonstigen Gründen veroder gekauft werden darf und eine
Gesellschaft geschaffen werden muss, in
der die Würde und die Rechte der Kinder geschützt werden. Dabei sollen die
Maßstäbe und Kriterien der UN-Konvention zum Schutz der Kinderrechte
angelegt werden. Indien ist ein Unterzeichner dieser UN-Konvention.
Im Rahmen der Aktionspläne der teilnehmenden Organisationen stand die
Sensibilisierung der Bevölkerung in den
entsprechenden regionalen Aktionsbereichen im Vordergrund. Aufgrund der
vielfach bereits bestehenden dörflichen
Organisationsstrukturen (Frauengruppen etc.) ist dies der praktikabelste Weg,
Bewusstsein über das Thema Kinderhandel in der Bevölkerung zu verbreiten. Zudem sollen diese dörflichen
Basisgruppen in den Prozess der Datenerhebung im Hinblick auf Kinderhandel
einbezogen werden. Die Dorfbevölkerung hat den besten Überblick darüber,
ob Kinder plötzlich dauerhaft aus den
Dörfern verschwinden bzw. fremde Kinder auftauchen. Wie im Rahmen der
Bekämpfung von Kinderarbeit, so
wurde in den Beratungen auch der
Gedanke diskutiert, sogenannte „kinderhandelsfreie“ Dörfer oder Regionen zu
schaffen und dafür eindeutige Kriterien
aufzustellen. Auch Lehrer und politische
Gremien (Gemeindeverwaltungen, lokale Entscheidungsträger, Politiker auf
verschiedenen Ebenen etc.) sollen stärker als bisher für diese Thematik sensibilisiert werden.
Täter konsequent bestrafen
Zudem soll das Thema stärker als bisher
in die Medien gebracht werden. Dabei
wurde von zahlreichen Teilnehmern gefordert, dass nicht – wie bisher – die
Opfer von Kinderhandel in den Vordergrund gestellt werden, sondern dass die
Täter in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt werden. Auch wurde
dafür plädiert, die Täter einer konsequenten und harten Bestrafung zuzuführen.
In diesem Zusammenhang gilt es auch,
die Frage zu stellen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass Kinderhandel zu
einer mehr oder minder akzeptierten
Realität geworden ist.
Stärkere Vernetzung
Zudem wurde ein intensiverer Informationsaustausch zwischen den teilnehmenden Organisationen vereinbart, um
verlässlichere Daten über das konkrete
Ausmaß von Kinderhandel und Handelsrouten zusammen zu tragen. Hier
liegt immer noch ein entscheidendes
Defizit. Obwohl das Phänomen „Kinderhandel“ offensichtlich ist, so fehlt
doch eine verlässliche Basis von Daten
und Fakten.
Nachfolgekonferenz im Herbst 2006
In spätestens einem Jahr soll bei einer
Nachfolgekonferenz über die konkrete
Umsetzung der vereinbarten Arbeitspläne berichtet und über weitere Schritte
beraten werden.
- Catrin Braun / Koshi Mathew
Eine Dokumentation des Workshops wird in Kürze
erscheinen. Interessenten wenden sich bitte an:
Catrin Braun, Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie,
Darmstädter Str. 100, 64625 Bensheim, Tel.: 06251 700547, c.braun@kkstiftung.de oder www.kkstiftung.de
Slum-Wachstum ungebremst
Das UN-Programm für menschliches
Siedlungswesen Habitat warnt vor einem ungebremsten Slum-Wachstum,
wenn bis 2030 jährlich nicht 35 Millionen neue Wohnungen zur Verfügung
gestellt werden sollten. Schon jetzt
leben etwa drei Milliarden Menschen,
die Hälfte der Weltbevölkerung, in
Städten – ein Drittel von ihnen in
Elendsvierteln. In den nächsten 25
Jahren wird sich die Zahl der Städter
nach Schätzungen der UN-Organisation um mehr als zwei Milliarden
erhöhen. „Wir stecken bereits mitten in
der Wohnraumkrise“, heißt es in einem
neuen UN-Habitat-Bericht. Zwangsvertreibungen aus Elendsvierteln in
16
Simbabwe, Indien oder Malawi zeigten
dies mehr als deutlich. In den Mittelpunkt der nationalen und internationalen Bemühungen müsse eine solide
Städteplanung rücken. Der neue Report befürwortet eine Weiterentwicklung der Mikrofinanz und schlägt kleine Darlehen mit Laufzeiten von einem
bis zu acht Jahren über Summen von
500 bis zu 5000 Dollar vor. Das traditionelle Hypothekensystem sei allein
für Haushalte mit mittleren und höheren Einkommen geeignet.
www.unhabitat.org
(Quelle: akzente 4/05)
Partnerschaft
Solidarität mit Kalkutta
Seit drei Jahrzehnten engagiert sich die Deutsche
Kalkutta-Gruppe für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen in Kalkuttas Bustees
Interview mit Helmut Donner
Die Deutsche-Kalkutta Gruppe gehört zu den wenigen Privatinitiativen in Deutschland, die konzentriert und partnerschaftlich Menschen in der Großstadt Kalkutta
(heute Kolkata) gezielt im Bereich Bildung und Gesundheit helfen. Das Besondere
an dieser Initiative ist, dass sie nicht nur in Kalkutta kompetente einheimische Partner hat, sondern auch Mitwirkende aus dem Kreis der hier lebenden Inder und Inderinnen, die aus Kalkutta stammen. Die Deutsche Kalkutta-Gruppe hat in den vergangenen 30 Jahren nicht nur in Kalkutta hervorragende Arbeit durch ihre Partnerorganisationen geleistet, sondern auch durch Reisen nach Kalkutta und durch
jährlich stattfindende indienbezogene Seminare in der Evangelischen Akademie
Iserlohn viel dazu beigetragen, Kenntnisse über Indien hier zu vertiefen und Menschen beider Länder zusammenzubringen. Einer der noch lebenden Gründer der
Deutschen Kalkutta-Gruppe ist Helmut Donner. Seinem von Bescheidenheit geprägtem aber konsequenten und zukunftorientiertem Einsatz ist es zu verdanken, dass
diese kleine Initiative so viel in dieser Zeit für Menschen in Kalkutta tun konnte. Mit
ihm haben wir das folgende Interview geführt, damit die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser wichtigen Indien-Initiative den Lesern nicht verborgen
bleibt. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil.
- Die Redaktion
Meine Welt: Herr Donner, die Deutsche
Kalkutta-Gruppe existiert seit Anfang
der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sind Sie der Gründer dieser
Gruppe? Wie kam es dazu, dass diese
Gruppe überhaupt gegründet wurde?
Helmut Donner: Die Anfänge der DKG
liegen bereits in den frühen 70er Jahren.
Ich war 1969 das erste Mal in Indien, um
in Durgapur/Westbengalen einige Monate lang bei dem dortigen kirchlichen
Institut ESII bei einem Training für
Pastoren aus verschiedenen indischen
Kirchen in Bezug auf Industrialisierung
und Urbanisierung mitzuarbeiten. Ungefähr zwei Jahre später, als ich diese Indien-Erfahrung längst hinter mir gelassen und „abgelegt” hatte, erreichte mich
ein Brief von John Hastings aus Kalkutta, den ich 1969 als Pastor der Methodisten-Gemeinde in der Sudder Street kennengelernt hatte. Er enthielt Überlegungen zu einer Verstärkung von Sozialarbeit in den Slums/Bustees von Kalkutta.
Hastings bat in diesem Brief seine
Freunde in aller Welt, etwas zu tun für
die Linderung der Flüchtlingsnot vor
den Toren von Kalkutta aufgrund des
Bürgerkriegs im damaligen Ostpakistan.
Diesen Brief in Händen, setzte ich mich
mit Freunden in Verbindung, und wir
verabredeten, nicht nur einmal für die
Notleidenden sammeln zu gehen, sondern nun auszuführen, was wir schon
Jahre zuvor überlegt hatten, nämlich
eine Hilfsorganisation für Kalkutta aufzubauen. Der wichtigste Gesprächspartner damals war für mich mein Freund
Michael Bartelt, ev. Pastor wie ich und
auch aus der Schule eines dezidiert sozial orientierten Zweiges der GossnerMission hervorgegangen, der mit seiner
sehr charmanten jungen Frau dann 1972
auch einige Monate in Indien verbrachte.
Für die DKG gibt es kein Gründungsdatum, kein Gründungsdokument. Aus
den Akten ist aber ersichtlich, dass sich
Mitte 1973 einige Personen, hauptsächlich aus Dortmund, von Zeit zu Zeit trafen, um Pläne zur sozialen Entwicklung
der Bustees in Kalkutta mit indischen
Partnern (u.a. CUSCON) zu diskutieren
und hierzulande zu unterstützen
Meine Welt: Welche waren die
ursprünglichen Ziele und Aufgaben des
Vereins? Wie hat sich die Arbeit im Rahmen des Vereins im Laufe der Jahre verändert?
17
H. Donner: Von dem oben erwähnten
John Hastings, der mehr als alle anderen
unserer Gesprächspartner der späten 60er Jahre in den Slums/Bustees zu Hause
war und deren Struktur und Be-völkerung kannte und verstand, stammten
letztlich die Ziele der Arbeit der entstehenden DKG: Soziale Entwicklung in
den Bustees, in denen damals mindestens 1/3 der Gesamtbevölkerung von
Groß-Kalkutta (CMDA) lebte, wesentlich durch Stützung, Weiterentwicklung
und Qualifizierung der Ansätze und
Aktivitäten lokaler Gruppen. John
Hastings schwor auf die Kraft der
Schwachen, und auch der schon legendäre anglikanische Priester Subir Biswas, der leider in noch jungen Jahren
bereits 1977 aus seinem Leben und seiner Wirkung auf die künftige Entwicklung der Metropole Kalkutta gerissen
wurde, propagierte: Die Bustees sind
wichtig für die Zukunft von Kalkutta!
Die DKG hat diese Vorstellungen
damals übernommen und für ihre Zusammenarbeit mit Partnern in Kolkata
bis heute grundsätzlich beibehalten.
Ab 1979 hatten wir neben einigen der
alten Partner in Kalkutta auch einige
neue, die im Hinterland tätig waren und
sind. Ich nenne den Ashram unseres
Freundes Sunil in Manikpara, dessen
enorme soziale Leistungen immer
zugleich spirituell begründet und „unterfüttert“ waren, und ich nenne – dem
deutlich gegenüber – Ansatz und
Arbeitsweisen unserer Partnerorganisation IMSE (Institute for Motivating Self
Employment), die das Konzept von
EMPOWERMENT OF THE POOR
nicht nur auf ihre Fahne geschrieben hat
– wie alle anderen und wir auch –, sondern in Jahrzehnten auch ständig durchzukämpfen bemüht war. Zusammenfassend nochmal zu Ihrer Frage: Die Zielformulierungen haben sich seit den
Anfängen der DKG kaum verändert,
aber die Arten und Weisen, wie die Ziele
in der Praxis unserer Partnerorganisationen angestrebt und verwirklicht wurden.
Meine Welt: Jedes Jahr führt die Deutsche Kalkutta-Gruppe ein Seminar über
ein indienbezogenes aktuelles Thema in
der Evangelischen Akademie Iserlohn
durch. Wie hat sich das Interesse an diesen Seminaren im Laufe der Jahre entwickelt? Wie sehen Sie die Zukunft der
Seminare in Anbetracht der Überlegung
seitens der Evangelischen Kirche, die
Akademie in Iserlohn wegen finanziellen
Schwierigkeiten zu schließen?
H. Donner: Die Konferenz in Iserlohn,
seit Jahren jeweils am Wochenende nach
Ostern in und gemeinsam mit dieser einzigen Akademie der westfälischen Kirche geplant und veranstaltet, ist eine der
beiden jährlichen Gelegenheiten, wo
Mitglieder der DKG und Freunde einander treffen können. (Die andere Gelegenheit, die MV der DKG, hat naturgemäß einen engeren Rahmen.)
Die ersten vergleichbaren Kalkutta-Veranstaltungen fanden in Iserlohn bereits
ab 1980 statt. Immer ging es um eine für
die DKG und ihre Weiterarbeit anstehende Thematik, deren Bedeutung auch
seitens der Akademie akzeptiert wurde,
stets also darum, den in der DKG Mitarbeitenden und an Indien Interessierten
jährlich einmal Raum und Zeit zu gründlichem Nachdenken zu geben, und zwar
im Rahmen einer Akademie-Tagung, die
diesem Anspruch auch gerecht wird.
Was die Zukunft von Haus Ortlohn in
Iserlohn, also auch einer sehr bewährten
Partnerschaft zwischen der DKG und
der Akademie (ich nenne die Namen von
Dr. Sareika, von Pfr. Frieling und jetzt
Dr. Büscher) betrifft, schwanken wir
zwischen Bangen und Hoffen. Sollte
Iserlohn aufgegeben werden, würde das
auch die DKG sehr hart treffen.
In den letzten Jahren hatten wir das
Gefühl: Die Tagungen in Iserlohn gelingen immer besser. Hoffentlich ist das
keine Selbsttäuschung! Aber die Konferenzen im Frühjahr 2004 (die sich auf
das Verhältnis Indien-Pakistan konzentrierte) und 2005 (zur Auswirkung der
Globalisierung auf Indien, am Beispiel
der Entwicklungen in den indischen
Megapolen) waren Highlights, auch für
den Blick der DKG auf die Zukunft
„ihrer Stadt“, nämlich Kolkata.
Meine Welt: Seit Jahren unterstützt die
Deutsche Kalkutta-Gruppe Projekte in
Kalkutta und Umgebung. Welche Art
von Projekten unterstützen Sie? Wie
bewerten Sie die Effektivität dieser
Arbeit?
H. Donner: Die DKG hat derzeit 15
Partner in Kalkutta und Hinterland, von
denen 14 im Januar 2005 von Teilnehmern der 10. Gruppenreise jeweils in
Kleingruppen besucht wurden. Die Eindrücke dieser Besuche waren, bis auf
eine Ausnahme, durchaus positiv.
(Nachzulesen im Heft GUTE TAGE IN
KALKUTTA, Mai 2005, www.kalkuttagruppe.de.)
Die Partnerorganisationen der DKG
decken mit ihren Konzepten und ihrer
Arbeit ein breites Spektrum ab, das von
traditioneller Sozialarbeit (z.B. minimale medizinische Versorgung von Müttern
und Kindern in Dörfern des Gangesdeltas an der Grenze zu Bangladesh) bis zu
quasi politischer Arbeit, jedenfalls mit
Behörden streitendem Einsatz für Arme,
Benachteiligte, in ihrer Existenz Bedrohte, vor allem im Hinterland, reicht.
BILDUNG und GESUNDHEIT sind
Punkte auf dem Programm der meisten
unserer Partner, ob in der Stadt oder auf
dem Lande. Die Konsequenz, mit der
diese Ziele verfolgt werden, ist unterschiedlich, und damit auch die Effektivität: Was der Hindumönch Sunil in sehr
vielen Dörfern um Manikpara (Dist.
Midnapur) hinsichtlich GESUNDHEIT
(in Bezug auf LEPRA) in Jahrzehnten
aufgebaut und geleistet hat, ist flächendeckend und also äußerst effektiv. Was
Shourabh Mukerji (YMWS) in Hinsicht
BILDUNG geleistet hat, nämlich aus
Überschüssen von inzwischen 4 privaten
Schulen für Kinder von MittelklasseFamilien eine größere Anzahl von Schulen in Bustee-Gebieten, deren Besuch
für Eltern und Kinder fast kostenlos ist,
mit gleich hohem pädagogisch-ethischem Anspruch zu errichten und zu
führen, ist ebenfalls offensichtlich effektiv und anerkennenswert.
Die DKG hat, anders als andere indienorientierte Organisationen, seit ihrer
Verselbständigung 1977 und bis heute
daran festgehalten, ihren Partnern in
Indien zu vertrauen – obwohl ihr oft
genug geraten wurde, hier und da mehr
zu kontrollieren.
Lenins Devise wird ihr auch künftig fern
bleiben. Zu erwägen ist allerdings mehr
Beratung der Partner bezüglich des Konzepts und der Methoden ihrer Arbeit –
bei der ja auch Spendengelder zum Einsatz kommen, die die DKG eingenommen hat.
Meine Welt: Wie sehen Sie persönlich
die Zukunft des Vereins? Welche persönliche Erfahrung haben Sie durch die
Arbeit im Rahmen des Vereins gemacht?
H. Donner: Die DKG, erst seit 1993 als
Verein organisiert, ist inzwischen über
30 Jahre alt. Für eine Frau zählt das zwar
nichts, für eine Gruppe/Organisation
aber schon viel. Das durchschnittliche
18
Lebensalter der über 100 Mitglieder der
DKG dürfte inzwischen deutlich über 50
liegen.
Was die Zukunft der DKG betrifft, sehe
ich persönlich drei verschiedene Möglichkeiten:
1) die DKG stirbt eines Tages aus, 2) die
DKG löst sich in Erkenntnis ihres
Schwindens rechtzeitig selber auf, 3) die
DKG arbeitet einstweilen und unbeirrt
weiter, solange sie die personelle und
materielle Möglichkeit hat, die Beziehungen zu den Partnern in Indien aufrechtzuerhalten.
Letzteres ist 2005 und bis auf weiteres
der Fall. In den letzten Jahren gab es
erstaunlicherweise bei der Mitgliederzahl Zuwächse: mehr Eintritte als Austritte.
Seit 1971 ist Kalkutta, anfänglich ungewollt, Teil meines Lebens (auch meiner
Familie: unsere 3 Kinder sind sozusagen
mit Kalkutta aufgewachsen. Eine Tochter, Ethnologin, hat ihre wissenschaftliche Arbeit wesentlich auf „Frauen in
Indien“ ausgerichtet und auf „Frauen in
Kalkutta“ konkretisiert). Deshalb ist
klar, dass ich, seit dem Jahr 2000 nicht
mehr Geschäftsführer, sondern nur mehr
Berater meines Nachfolgers und des
Vorstands, der DKG immer zur Verfügung stehen werde.
„
Unterstützung
für Frauenprojekte
in Südindien
Das Deutsche Weltgebetstagkomitee
e.V. hat nach der Seebeben-Katastrophe in Südasien 50.000 Euro Soforthilfe bereitgestellt. Damit wurden
diejenigen Partnerorganisationen
vor Ort unterstützt, die schon lange
mit den Frauen in den betroffenen
Regionen arbeiten und in dieser
Krise wirksame Hilfe leisten.
Das Komitee unterstützte in den betroffenen Regionen – in den indischen Bundesstaaten Tamil Nadu,
Andhra Pradesh und Kerala, in
Nordsumatra und Sri Lanka – schon
vor der Katastrophe mehr als 50
Frauenprojekte.
(Quelle: Frau/Mütter 4/2005)
Projekt
Shourabhs Schulen
Ein Vorzeigeprojekt der Deutschen
Kalkutta-Gruppe (DKG)
Shourabh Mukerji ist um 1940 geboren
und in einer wohlhabenden christlichen
Familie in Kolkata aufgewachsen.
Schon 1967 war er sozialer Arbeit verschrieben und gründete die Young
Men’s Welfare Society (YMWS), die
Jugend- und Sozialarbeit vorhatte und
betrieb. Durch den damaligen Verbund
CUSCON entstand früh in den 70-er
Jahren der Kontakt zur DKG, welcher
über 1977, das Jahr der Neuorientierung
der DKG, hinaus – aber stets als lockere
Beziehung fortbestand.
1982 wurde ein dreistöckiger Bau in
Taratolla von Mutter Teresa feierlich
eingeweiht – es war jedoch kein ökumenisches Zentrum, sondern eine Privatschule mit Englisch als Unterrichtssprache. Folglich war Shourabh, waren
seine Absichten sozialer Arbeit, in den
Reihen der DKG umstritten. Insgeheim
wurde er verdächtigt, sich mit dieser
Privatschule ein sanftes Ruhekissen für
familiäres Wohlleben verschafft zu
haben.
Erst 1996 gab es bei der DKG für
YMWS, und für Shourabh persönlich,
einen Durchbruch: Im Oktober 1996
waren leitende Mitglieder der DKG zu
einem „Geschäftsbesuch“ nach Kolkata
aufgebrochen, um während einer Woche
von Dienstag bis Freitag, vormittags und
nachmittags, je einen der wichtigsten
Partner der DKG zu einem ausführlichen Arbeitsgespräch zu treffen. Oder
auch zu verhören?
Die Treffen am ersten Tag hinterließen
Frustration: Müdigkeit von der Reise,
Hitze im Raum, Straßenlärm, sprachliche Schwierigkeiten mit den Partnern…
Am nächsten Morgen trat Shourabh mit
dem Programm von YMWS auf. Er
sprach zu den Besuchern aus Deutschland in sehr artikuliertem, verständlichem Englisch, konnte die Grundsätze
seiner pädagogischen Arbeit in klaren
Sätzen vorstellen – und er fand damit
Anklang nicht zuletzt auch bei besonders pädagogisch engagierten Frauen.
Seitdem rangiert YMWS bei der DKG in
der Spitzengruppe ihrer 15 Partnerorganisationen.
Denn nicht nur sein pädagogisches Konzept wurde akzeptiert, sondern auch seine
einfache, aber geniale Idee, wie Schule
auch für Kinder aus armen Familien in
Kolkata und umliegenden Dörfern finanziert und organisiert werden könne, wurde
von der DKG begriffen: Eltern der Mittelklasse sind an bestmöglicher schulischer
Ausbildung ihrer Kinder interessiert, sind
bereit und in der Lage, dafür gutes Geld
zu zahlen – so er-wirtschaftet eine Privatschule Überschüsse – aus denen können
Schulen für Kinder aus armen Familien in
Kolkata und im Umland installiert und
unterhalten werden.
Im Februar 2005 konnte YMWS die
vierte seiner Privatschulen im neuen
Kalkutta eröffnen, das seit 15 Jahren zu
beiden Seiten des sog. Bypass, der aus
der Innenstadt nach Norden zum Flughafen hin führenden Stadtautobahn, entsteht. Hier gibt es inzwischen massenhaft auch Wohnungen für Familien der
vom indischen Aufschwung ab den 90er Jahren profitierenden middle class –
arme Leute werden in diesem neuen
Kolkata nicht leben.
Hier besteht nun die vierte Privatschule
von YMWS. Bisher wurden vier Stockwerke fertig gestellt, das 5. muss noch
errichtet werden, damit Raum für die
Klassen 9 und 12 und Begründung für
die Anerkennung als High School vorhanden sind. Übrigens wurden die Baukosten von 70 Lakhs (ca. 132.000 Euro)
ausschließlich lokal aufgebracht.
Im Frühjahr 2005 hat YMWS mit
berechtigtem Stolz mitgeteilt, dass bisher 40.000 Jungen und Mädchen durch
Shourabhs Schulen gegangen sind.
Rechnet man das um auf die Jahre seit
der Gründung, so sind es seit 1967 jährlich ca. 1.000. Doch hat die konzentrierte Schul-Arbeit wohl erst Jahre später
angefangen, z.B. 1982 mit der Öffnung
der ersten „geldbringenden“ Privatschule in Taratolla. Rechnet man von da ab,
so hätte es pro Jahr durchschnittlich
19
1.800 Schüler gegeben. Hierbei addieren
sich bis heute jeweils die Schülerzahlen
in den relativ teuren Privatschulen mit
denen der Kinder aus armen Familien in
Stadt und Hinterland. Im Arbeitsbericht
2004-2005 teilt YMWS die Zahl von
2.608 Schülerinnen und Schülern in
Kalkutta und 992 in 4 Dorfschulen mit,
insgesamt am Ende des Berichtsjahrs
genau 3.600. Es scheint, dass die Dorfschulen (drei Primary, eine Junior High)
nur von Kindern aus armen Familien
besucht werden, während der Anteil der
Kinder aus den Bustees geringer ist.
Eindrucksvolle Zahlen! Aber ebenso eindrucksvoll erscheint das pädagogische
Konzept, das die DKG 1996 zur Kenntnis
nahm, das Shourabh 1993 in der Broschüre EMPOWERING CHILDREN
und mündlich im April 2005 bei einem
Vortrag in Dortmund formulierte.
Im folgenden werden einige Grundsätze
wiedergegeben, die für alle YMWSSchulen, ob in der Stadt oder auf dem
Land, ob nur Primary oder High, Geltung haben sollen:
– Die Schulatmosphäre: Schüler wie
Lehrer sollen Freude haben, in dieser Schule zusammen zu arbeiten.
– Deshalb werden alle Lehrer nicht nur
fachlich und methodisch fort-gebildet, sondern auch dazu, die Rechte
der Kinder (entsprechend Geschlecht
und Herkunft) zu achten. „Die Zeit in
der Schule gehört nicht dem Lehrer,
sondern den Kindern.“
– Die Muttersprache der Kinder wird
geschätzt und gepflegt, nicht einfach durch eine andere indische
Sprache oder Englisch verdrängt.
– Die YMWS-Schulen müssen die
Normen der staatlichen Curricula erfüllen, sollen aber „kindgemäß“, d.h.
im Blick auf jedes einzelne Kind, also
individuell angewandt werden. (Hier
wie anderswo ist Shourabhs Nähe zur
Waldorf-Pädagogik erkennbar).
– Wenn Eltern wahrnehmen, wieviel
Freude ihre Kinder an ihrer Schule
haben, werden sie sich für diese,
nämlich den „Geist“ der Schule
interessieren und möglicherweise
ihr eigenes Bewusstsein ändern.
– Von alten Traditionen (in den Dörfern besuchen nur 15% der Mädchen
die Schule) wie heutigen Trends
(Abtreibung weiblicher Föten) sieht
Shourabh sich herausgefordert, insbesondere Mädchen die Chance für
weiter- führende Bildung, Berufs-
„Keine Vertreibung im Namen des Tourismus!”
20 Jahre Narmada Bachao Andolan
Sein Name ist zu einem Synonym für
Enteignung und Vertreibung der einheimischen Bevölkerung geworden: der
Sardar Sarovar Staudamm im indischen
Bundesstaat Gujarat. Nun soll er zu
einer Touristen-Attraktion werden – so
will es die Regierung. Und wieder sollen
die Menschen weichen, diesmal nicht
dem Narmada-Strom, sondern den Touristenströmen aus den Städten wie Mumbai, Ahmedabad und Vadodara.
Zum Bau des Staudamms und des Narmada-Hauptkanals wurden seit Anfang
der 1960er Jahre große Teile der indigenen Bevölkerung (Adivasi) entlang des
Narmada-Flusses in den Bundesstaaten
Madhya Pradesh, Gujarat und Maharashtra „im öffentlichen Interesse“ enteignet und vertrieben. Bereits seit über
zwei Jahrzehnten kämpfen sie um ihre
Rechte, unterstützt von der Narmada
Bachao Andolan (NBA), der Bewegung
zur Rettung des Narmada-Flusses – zum
Teil durchaus mit Erfolg. Familien, deren Land überschwemmt wurde, sind als
„vom Projekt betroffene Personen“ anerkannt, mit dem entsprechenden Recht
auf Entschädigung – „Land für Land“.
Nicht als betroffen anerkannt wurden
bislang die Familien aus sechs Dörfern
nördlich des Staudamms. Sie wurden
zum Bau der „Kevadia Colony“ enteignet, einer Siedlung für die Mitarbeiter
des Staudammprojektes. Mit der Enteignung verloren sie die Rechte an ihrem
hauptsächlich landwirtschaftlich genutzten Grundbesitz – ihrer Hauptlebensgrundlage. Sie erhielten eine minimale Entschädigung, ohne Anspruch auf
Umsiedlung oder Recht auf Land. Dank
ihres unermüdlichen Widerstandes sind
viele der Familien bislang nicht vertrie-
–
tätigkeit und eigenes Einkommen zu
eröffnen.
Da erwiesen ist, dass Kinder aus
Scheduled Castes und/oder religiösen Minderheiten überproportional
Schul-abbrecher werden, wird bei
der sozialen Organisation des schulischen Ablaufs auf diese Problematik besonders geachtet.
ben worden. Sie haben teilweise sogar
ihr angestammtes Land weiter bewirtschaftet.
Doch nun droht ihnen mit dem Tourismus neue Gefahr. Das Land, das touristisch „entwickelt“ werden soll, ist
rechtlich in Händen der Sardar Sarovar
Narmada Nigam Ltd. (SSNNL), einem
Unternehmen des Bundesstaates Gujarat
zur Umsetzung des Sardar Sarovar Staudamm-Projektes. Wenn nun der Tourismus Fuß fasst, droht den rund 900 Familien (insgesamt über 4.500 Personen)
die Vertreibung.
„Eine Rupie säen, einen Dollar ernten“
will der Bundesstaat Gujarat laut seiner
industriepolitischen Leitlinien. Mit dem
Tourismus am Narmada-Staudamm
könnte diese Rechnung aufgehen. Im
vergangenen Jahr besuchten bereits rund
470.000 Touristen den Staudamm. An
Wochenenden lag die Besucherzahl bei
durchschnittlich jeweils 5.000 – 10.000,
unter der Woche bei jeweils 500 bis
2.000 pro Tag.
derer Plan sieht nach Presseberichten
„Ökotourismus“ mit Wasservergnügungsparks, Golfplätzen, Hotels und
Restaurants auf einer Fläche von 1.400
Hektar vor.
„Doch ¸öko’ heißt: ökonomisch“, kritisiert NBA-Aktivistin Medha Patkar.
„Das Projekt dient der Privatwirtschaft
und keineswegs dem öffentlichen Interesse, aufgrund dessen die Menschen damals enteignet wurden.“ Ihre Forderung
deshalb: Anerkennung der Betroffenen
als „vom Projekt betroffene Personen“
mit entsprechenden Rechten auf Entschädigung, Rückgabe des nicht für das
Sardar Sarovar Projekt genutzten Landes an die ursprünglichen Eigentümer
und vor allem: „Keine Vertreibung im
Namen des Tourismus!“
- Christina Kamp
(Ende November wollen die NBA-Aktivisten mit
einem „Narmada-Solidaritätsprogramm“ im Narmada-Tal dem Beginn ihres Widerstands vor 20
Jahren gedenken und mit einer Abschlussrally in
Badwani (Madhya Pradesh) am 27.11. deutlich
machen, dass der Kampf weitergeht. )
„Das Problem ist, dass bislang kaum
touristische Infrastruktur zur Verfügung
steht“, meint SSNNL-Tourismusdirektor V.C. Patel – und will das nun ändern.
Derzeit prüft SSNNL verschiedene Tourismuspläne, darunter einen Mehrphasenplan der Kevadia Area Development
Authority, der unter anderem Picknickplätze, Gesundheitstourismus, Wasserund Abenteuersport vorsieht. „Das Gebiet wird für den Tourismus entwickelt.
Deshalb wird die Planung den Bedürfnissen der Touristen Rechnung tragen“,
sagt Patel. Es sei bereits eine Genehmigung zur Umsiedlung der Krokodile aus
dem Stausee eingeholt worden. Ein an–
–
Um Nachholbedarf gegenüber Kindern aus Mittelklassefamilien auszugleichen, erhalten die aus den Bustees
oder Dörfern spezielle Angebote, z.B.
leadership training, career counseling,
cultural expositions, ja sogar adventure sports.
Shourabhs Schulen wollen keinen
hermetisch abgeschlossenen Bereich
20
bilden, sondern an allgemein gesellschaftlichen Aufgaben mitwirken: Die
Schüler sollen an Blutspendeaktionen
teilnehmen, sich auf Katastropheneinsätze vorbereiten, und sie werden
demnächst im Unterricht noch mehr
als bisher mit Umwelt-Problemen und
-Aufgaben konfrontiert werden.
- Helmut Donner
Partnerschaft
„Come Sister“
Hilfe zur Selbsthilfe – Von Frauen zu Frauen
Der nachfolgende Bericht schildert die Entstehung und Weiterentwicklung eines
partnerschaftlichen Projektes, das das Leben einer Gruppe von Frauen im südindischen Staat Andhra Pradesh radikal änderte. Der Bericht erschien im „Göttinger
Tageblatt“ vom 25.07.2005
Seit 15 Jahren engagiert sich die Projektgemeinschaft „Come Sister“ für die Rechte der Frauen in dem Bundesstaat Andhra
Pradesh in Südostindien. Die Göttingerin
Edda Buß hat dieses Projekt zusammen
mit einem indischen Freund der Familie,
Joji Pasala, ins Leben gerufen.
Alles begann 1988, als Edda Buß den
Inder Joji Pasala in Südindien traf und
die Idee einer Basisfrauengruppe diskutierte.
Ein Jahr nach dem ersten Treffen, 1989,
reiste Pasala nach Deutschland und traf
sich mit Edda Buß in ihrer damaligen
Heimatstadt Wolfsburg. Hier versuchten
sie gemeinsam, bei zwei Kirchengemeinden Frauen für eine solche erste
Basisgruppe zu gewinnen. Das Frauenprojekt lief an. 1990 wurden die ersten
Gehversuche in Indien, im GajwelGebiet unternommen. Zwölf Dörfer
waren beteiligt, 64 junge Frauen im
Alter von etwa 18 Jahren mit ihren Kindern. Ziel war es, den Frauen eine finanzielle Selbständigkeit zu sichern und
ihnen Mitspracherecht zu geben, denn:
„Die Frau leistet die doppelte Arbeit,
aber der Mann entscheidet“, ärgert sich
Pasala, „auch über das Geld.“
So begannen sie in den Dörfern mit den
Frauen kleine Gruppen zu bilden. In
einen gemeinsamen Geldtopf zahlte
jedes Mitglied monatlich zehn Rupien
(umgerechnet etwa 20 Cent) ein. Dieses
Guthaben wurde dann jeweils an diejenige verliehen, die es am nötigsten
brauchte. „Da stellte sich erstmal die
Frage: Wer ist denn eigentlich die Ärmste?“, erklärt Edda Buß. Bewusst wurden nur relativ kleine Darlehen vergeben, damit diese hinterher auch rückzahlbar waren.
Selbständigkeit für Frauen
Aus diesem System entwickelte sich
schließlich mehr und mehr die ange-
strebte finanzielle Unabhängigkeit der
Frauen, und so wird es bis heute fortgeführt. „Das hat sich wahnsinnig entwickelt. Das ist ein riesiges Netzwerk
geworden“, staunt Edda Buß über den
Erfolg. Als Beispiel nennt der indische
Projektdirektor Pasala die zweite Frauenbank, die im Bundesstaat Andhra Pradesh gegründet wurde: Heute zählt sie
15.000 Mitglieder und bietet sogar eine
Sterbeversicherung. Wenn man da an die
Anfänge zurückdenkt: „Die Bank war in
der Bluse“, lacht Edda Buß. Denn die
Frauen wussten ja überhaupt nicht, wo
sie das gesparte Geld hinstecken sollten.
Mittlerweile lernen die Frauen, mit dem
Geld und ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft umzugehen, und können diesen Prozess im Schutz des Projektes
durchleben. Das Ziel: „Sie sollen fähig
sein, jede Aufgabe im Staat zu übernehmen“, hofft Buß. Neben den Hilfen in
finanziellen Angelegenheiten kümmert
sich das Projekt „Come Sister“ auch um
gesundheitliche Fragen, um schulische
Bildung von armen Dorfkindern sowie
um benachteiligte Behinderte. Die Projekthilfen umfassen jährlich etwa 20.000
Euro, wobei Buß betont: „Unsere Geldgeber sind keine reichen Leute, sondern
oftmals Frauen, die selber nicht so viel
haben.“
- Nadine Michel
Wer sich informieren oder mithelfen möchte, kann
sich an Edda Buß unter Tel. 0551/ 5 31 66 83 oder
per E-Mail an Edda.Buss@gmx.de wenden.
Fortschritt als Schnecke
Der indische Karikaturist Suresh Sawant,
der auch für diesen
Informationsdienst
immer wieder Bevölkerungsthemen kritisch ins Bild setzt, hat
den ersten Preis eines
globalen Karikaturenwettbewerbs zu den
Millenniums-Entwicklungszielen (MDGs)
gewonnen. In seiner
(Quelle: Zeitschrift Entwicklungspolitik / Suresh Sawant, Mumbai
Karikatur wird deutlich, dass um die Millenniumsziele viel Getöse gemacht Experten kaum bekannt, dass für die
wird und auch mehr oder weniger pas- ersten sieben Millenniumsziele die
sende Instrumente zur Verfügung ste- Entwicklungsländer selbst ¸zuständig’
hen, um die Ziele zu erreichen, das sind und für das achte Ziel der EntTempo des Fortschritts aber dem einer wicklungspartnerschaft eine gemeinSchnecke gleicht. Die Einsendungen same Verantwortung von Nord und
zum Wettbewerb, der vom Dritte-Welt- Süd vorgesehen ist. Wie kann da von
Journalisten-Netz und der Zeitschrift Karikaturisten erwartet werden, dass
Entwicklungspolitik international aus- sie kenntnisreicher sind?“ fragt Chefgeschrieben worden war, spiegeln die redakteur Konrad Melchers in Ausgain Nord und Süd scheinbar gleicher- be 16/17 der Zeitschrift Entwicklungsmaßen verwurzelten Armut-Klischees politik.
wider. Nur wenige der eingesandten
Karikaturen nehmen gezielten Bezug Weitere Informationen: www.cartoon-competition.org
auf eines oder mehrere der MDGs und
(Quelle: Bevölkerung & Entwicklung Nr. 58/
auf die Aufforderungen zum positiven September 2005)
Handeln. „Leider ist selbst unter
21
Nachruf
Gisela Schlemann
(1933 – 2005)
Eine indische Seele in einem europäischen Körper
ging meditierend auf ewige Reise
Gisela Schlemann war eine weltoffene
Person, die sich für kulturelle, religiöse
und spirituelle Vielfalt interessierte, diese überall unterstützte und sie auch
selbst lebte. Ihr größtes Interesse war es,
religionsübergreifende und kulturelle
Zusammenhänge zu suchen und zu
schaffen. Fanatismus und Engstirnigkeit
widerstrebten ihr. Sie wurde am
27.9.1933 in Dublin, Irland, geboren,
wuchs dann in Bayern und Berlin auf
und entschloss sich, nach ihrem Abitur
Schauspielerin zu werden. Sie machte
ihr Staatsexamen am Mozarteum in
Salzburg 1955 und bekam eine Anstellung in Linz, heiratete jedoch innerhalb
eines Jahres einen indischen Journalisten, einen langjährigen Brieffreund
aus ihrer Studienzeit. Noch heute erinnern sich ihre Kommilitoninnen an seine
seitenlangen romantischen und philosophischen Briefe – die sie ihnen vorlesen
musste – voller Gedichte und Geschichten aus Indien, manche selbst geschrieben, manche zitiert von Tagore oder anderen indischen Autoren. In einer Zeit,
als keiner davon träumte, Indien auch
nur mal zu besuchen, traf Gisela Schlemann kurzerhand die Entscheidung,
dorthin auszuwandern. Damals bedeutete dies, das eigene Land, die eigene
Familie und guten Freunde endgültig für
eine ganz unbekannte Welt zu verlassen
– ihr eigener Vater hatte ihr schon vorgehalten, er wolle sie niemals in Indien
besuchen.
Diesen Mut, etwas ganz Neues und
Anderes kennen zu lernen, prägte ihr
ganzes Leben. Ob es um andere Länder,
andere Religionen oder um andere Menschen ging, sie verlor nie ihren Ehrgeiz,
neue Wege zu gehen, neue Freundschaften zu schließen oder sich in eine neue
Philosophie zu vertiefen. Sie lebte von
1956–1970 in Indien und bekam 3 Töchter. Ihr Leben lang war sie fasziniert von
der indischen Spiritualität (islamische
und hinduistische), lernte Yoga und Meditieren, folgte indischen Gelehrten und
der ayurvedischen Medizin. Sie behielt
ihre eigene deutsche Kultur in Indien
bei, zu einer Zeit, als es verpönt war,
außerhalb Deutschlands deutsch zu sprechen oder gar Kinder zweisprachig oder
bikulturell zu erziehen. Sie lernte ebenfalls Hindi, wechselte zwischen europäischer und indischer Kleidung, brachte
ihren Kindern sämtliche deutschen
Volkslieder bei, und ließ sie indischen
Tanz lernen, während sie sie auf englischsprachige Schulen schickte. Gisela
Schlemann produzierte gleich in ihren
ersten Jahren ein Theaterstück, das
Gandhis befreiungskämpferischen Salzmarsch zum Mittelpunkt machte. Dieses
Theaterstück brachte ihr sogar die Hochachtung des damaligen indischen Premierministers Nehru ein.
Nach 16 Jahren in Indien entschloss sie
sich, nach Deutschland zurückzukehren
und Lehrerin zu werden. Sie machte ihr
Staatsexamen in Pädagogik 1974 und
wurde in Berlin Lehrerin an einer
Grundschule, wo sie mit viel Elan unterrichtete. Wiederum wurde sie eine ungewöhnliche Lehrerin, die viele ihrer interkulturellen, schauspielerischen und
dichterischen Fähigkeiten einsetzte, um
zu jeder Gelegenheit selbst geschriebene
Theaterstücke aufführen zu lassen und
ihre Gedichte vorzustellen. Nach der
Pensionierung hatte sie endlich genügend Zeit, sich voll als Schriftstellerin
zu entfalten: Sie veröffentlichte 8
Bücher (Romane und Geschichten) mit
philosophischen Fragestellungen, die
22
eng mit ihrer Lebensgeschichte und den
Kulturen, die sie kennen gelernt hatte,
verknüpft waren1. In ihren Romanen
beleuchtete sie ihre eigene und andere
Gesellschaften kritisch2.
Ihre unterschiedlichen Karrieren, ihr
großes Interesse an Musik, Literatur,
Philosophie und Kunst aus allen Kulturen, vom Bayerischen zum Indischen,
vom Christentum über den Hinduismus
zum Islam wusste sie immer gut miteinander zu verknüpfen. So übersetzte sie
deutsche Theaterstücke ins Englische,
brachte sie in einen indischen Kontext
und inszenierte sie in Indien (wie z.B.
Pünktchen und Anton von Erich Kästner), brachte ihren Schülern und Schülerinnen in Berlin das Meditieren und das
Schauspielen bei, sang in einem volkstümlichen Chor bayerische Lieder „in
den Bergen“ und war ein aktives Mitglied der Chiemgauer Yoga- und
Meditationsgruppe des Gurus Yogananda.
Mit ihrer Krankheit setzte für sie ein
Stillstand ihres aktiven unabhängigen
Lebens ein, den sie als schwierig empfand und in dem sie sich neu zu orientieren versuchte. Obwohl wir sie alle auf
dem Weg zur Besserung sahen, starb sie
an ihrer schweren Krankheit im Alter
von 72 Jahren in Regensburg. Es schien
fast wie eine bewusste Entscheidung:
Als sie merkte, dass sie die Krankheit
fortan stark beeinträchtigen würde, entschloss sie sich zu gehen, in Meditation,
bewusst, ruhig und friedlich.
- Vineeta Gupta,
Anjuli Gupta-Basu
& Sandhya Gupta
1. Die Romane und Erzählungen von Gisela Schlemann waren: Das Mädchen mit dem Webrahmen
(1988), Die Reise nach Dalaman (1988), Regensburger Verkündigung (1991), Satan’s Myron
(1992), Schicke dein Brot über das Wasser (1995),
Ein Tag noch oder tausend Jahre? (1997), Primus
von Adelholzen, Der Freund des Christopherus
(2002). Siehe auch die Rezensionen in Meine Welt
1977, Heft 1 & 2.
2. Siehe dazu Elisabeth Lauschmanns Rezension
ihres letzten Buches Der Freund des Christopherus auch in der Dezember 2004 Ausgabe von
Meine Welt, Heft 2, Jahrgang 21, S. 49 & 50.
Rabindranath Tagore und seine deutschen Leser
Dietmar Rothermund
Rabindranath Tagores Beziehungen zu
seinen deutschen Lesern waren begründet im dem universalen Humanismus,
den er mit großem Sendungsbewusstsein
verkündete. Sein nahezu gleichaltriger
Landsmann Swami Vivekananda war
ebenfalls von einem solchen Sendungsbewusstsein beseelt und hatte im Westen
großes Aufsehen erregt. Aber Vivekananda hatte keine tieferen Beziehungen
zu Deutschland und seine Lehren waren
von rein religionsphilosophischer Art,
während der von denselben Grundsätzen
überzeugte Tagore durch seine Dichtkunst und seine Musikalität eine viel tiefere Resonanz finden konnte.
Der junge Rabindranath hatte sich
bereits darum bemüht, Deutsch zu lernen. Es gelang ihm mit einiger Mühe,
Heinrich Heines Gedichte zu entziffern,
während Goethe ihm verschlossen blieb.
Die volksliedhafte Eingängigkeit der
Gedichte Heines kamen seinen eigenen
Neigungen entgegen, denn auch Tagores
bengalische Dichtung gemahnt oft an
Volkslieder. Leider blieb Tagores Beschäftigung mit der deutschen Sprache
nur eine flüchtige Begegnung. Der Einfluss der englischen Literatur war übermächtig, und es war diese Literatur,
gegen die Tagore sozusagen „anschrieb“. Die bengalische Literatur war
sein Lebenselement, und er war stolz
darauf, dass sie von offizieller Patronage
der britischen Kolonialherren verschont
geblieben war und sich eigenständig entwickelt hatte. In einem bengalischen
Essay aus dem Jahre 1905, der in der
von Martin Kämpchen herausgegebenen
Anthologie in direkter Übersetzung enthalten ist, sagt Tagore dazu:
„Die unabhängige bengalische Literatur,
in der der Bengale die eigene natürliche
Kraft angemessen empfunden hat –
diese Literatur hat wie ein Adernetz
Osten und Westen, Norden und Süden
Bengalens mit einem Band vereint, flößt
ihm fortwährend das gleiche Bewusstsein, das gleiche Leben ein.“
Als Tagore dies sagte, befand er sich im
Mittelpunkt einer nationalistischen Bewegung, die durch die Teilung Bengalens im Jahre 1905 ausgelöst worden
war. Er war zu jener Zeit ein begeisterter
Nationalist, aber sein Nationalismus war
von anderer Art als der seiner meisten
Landsleute. Er wandte sich weniger gegen die politische Herrschaft der Kolonialherren als gegen die Überfremdung
und geistige Knechtschaft, die die Inder
unter dieser Herrschaft erfahren hatten.
Ein Zeichen dieser Knechtschaft war die
sklavische Nachahmung britischer
Kunst und Literatur durch die Inder. In
einem seiner bengalischen Essays von
1905 berichtet Tagore von dem Kunstverständnis, das einige Briten für die
indische Kunst zeigen, während viele
Inder, die sich am britischen Vorbild orientieren, die einheimische Kunst verachten und die fremde Kunst nachahmen. Er sagte dazu, „...dass derjenige,
der Kunst in geeigneter Weise erlernt
hat, auch die Schönheit von Bildern im
fremden Stil des Auslands richtig sehen
kann – in ihm entsteht ein Blick für
Kunst. Und diejenigen, die nur durch
Nachahmung lernen, können nichts
außerhalb der Nachahmung sehen.“
In seiner Ablehnung von Überfremdung
und Nachahmung blieb Tagore auch
später ein Nationalist. Dagegen lehnte er
den territorialen Nationalismus ab. Er
hielt diesen Nationalismus für spezifisch
europäisch und schrieb bereits 1901:
„Der Territorialismus (rashtratantra)
stellt den Leib der europäischen Zivilisation dar; wenn man diesen Leib nicht
vor Schlägen schützt, bleibt das Leben
nicht erhalten.“
Im Ersten Weltkrieg wandte er sich in
Vorträgen in Amerika entschieden gegen
Neues Buch
Tagore für die höchsten Ansprüche
Das goldene Boot, Lyrik, Prosa, Dramen. Rabindranath Tagore. Hrsg. von Martin
Kämpchen. Aus dem Bengalischen übersetzt von Rahul Peter Das, Alokeranjan
Dasgupta, Hans Harder, Martin Kämpchen und Lothar Lutze. Aus dem Englischen übersetzt von Andor Orand Carius und Axel Monte. Winkler Weltliteratur
Blaue Reihe. 669 Seiten. Patmos Verlag, 2005.
Die vorliegende, im Herbst dieses Jahres erschienene Werkausgabe ist die
Krönung der Tagorebeschäftigung von
dem in Shantiniketan lebenden deutschen Publizisten und Buch-Autor
Martin Kämpchen. Die Auswahl aus
dem Gesamtwerk bietet Gelegenheit,
den einzigen indischen Literaturnobelpreisträger und den großen Vermittler
zwischen den Kulturen Tagore neu zu
entdecken. Sämtliche Gedichte, Lieder,
Erzählungen, Dramen, Essays und
Briefe in diesem Band wurden aus den
Originalsprachen Bengali und Englisch neu übersetzt. Erstmals erschienen auf Deutsch Tagores zwei wichtige
Gespräche mit Albert Einstein (siehe
Auszüge aus einem Gespräch mit der
Überschrift „Wahrheit und die
menschliche Wahrnehmung“)
Der neue Tagore-Band beinhaltet zu-
23
sätzlich zu den Übersetzungen auch
eine Einführung in sein Leben und
Werk als Nachwort. Die Anmerkungen
sind ausführlich und dienen dazu, das
Verständnis der indischen, insbesondere der bengalischen Kultur und des
Hinduismus, in denen RT’s Werk eingebettet ist, zu erleichtern.
„Das goldene Boot“ ist sowohl in der
Auswahl der Inhalte wie auch in der
Qualität der Übersetzung zweifellos
ein höchst gelungenes Projekt. Martin
Kämpchen konnte die bestgeeigneten
Köpfe in Deutschland für diese großartige Aufgabe begeistern. Ohne
Frage, dieser Tagore-Band ist ein
Muss für die Bücherregale aller Tagoreliebhaber im deutschsprachigem
Raum.
- Jose Punnamparambil
diese Art des Nationalismus und wurde
dafür von seinen Landsleuten in Indien
als unpatriotisch verurteilt.
Bei seiner Beurteilung der Auswirkungen des Nationalismus im Ersten Weltkrieg ging er auch auf die besondere
Lage Deutschlands ein und schrieb
dazu:
„Ein Problem hat jetzt aber Deutschland. Es ist zu spät erwacht. Es ist keuchend gegen Ende des Festmahls angekommen. Es hat Hunger genug, riecht
auch den Fisch – jedoch ist nicht viel
mehr als Gräten übrig. Es grummelt vor
Wut. Es sagt: ’Wenn für mich kein Teller gedeckt worden ist, dann werde ich
nicht auf ein Einladungsschreiben warten. Ich werde durch meine Leibeskraft
demjenigen, dessen Teller ich habhaft
werden kann, diesen wegreißen.’
Es gab eine Zeit, da war es beim gegenseitigen Wegreißen nicht nötig, die Religion als Vorwand anzuführen. Jetzt ist es
notwendig geworden. Doch die Moral
verkündenden Gelehrten Deutschlands
sagen, nur die benötigen die Religion als
Vorwand, die schwach seien, die die
mächtig seien, benötigten keine Religion – ihre Leibeskraft sei schon genug.
Das Diktum des hungrigen Deutschlands ist heute, dass es zwei Arten von
Menschen gibt: Herren und Diener. Der
Herr soll alles für sich nehmen, der Diener soll alles für den Herrn beschaffen –
wer Kraft besitzt, der solle im Wagen
fahren; wer keine Kraft besitzt, der solle
den Weg räumen. .....
Aber das Prinzip, das deutsche Gelehrte
heute verkünden und das Deutschland
heute wie Alkohol zum unrechtmäßigen
Krieg berauscht hat, entsprang doch
nicht den Hirnen deutscher Gelehrter,
sondern der Geschichte der Zivilisation
des gegenwärtigen Europas.“
Neben den Propagandisten eines machthungrigen Deutschlands, die Tagore in
diesem Essay von 1915 kritisierte, gab
es aber zu dieser Zeit auch bereits Menschen in Deutschland, die Tagores Gedichte in deutscher Übersetzung lasen
und den Dichter verehrten. Der junge
Verleger Kurt Wolff, der ein gutes Gespür für den literarischen Markt hatte,
veröffentlichte bereits 1914 die deutsche
Ausgabe von „Gitanjali“ unter dem Titel
„Hohe Lieder“. Kurt Wolff, der in seinem langen Leben von Franz Kafka bis
zu Boris Pasternak und Günter Grass
viele bedeutende Autoren verlegte, war
rechtzeitig auf Tagore aufmerksam geworden. Marie Luise Gothein, die sich
schon als Übersetzerin englischer Dichter einen Namen gemacht hatte, sandte
Wolff ihre Übersetzung von „Gitanjali“
zu. Fast hätte Wolff sie übergangen,
wenn es ihm gelungen wäre, Rainer
Maria Rilke dafür zu gewinnen, Tagore
seine Sprache zu leihen. Rilke hatte sich
begeistert über André Gides französische Übersetzung von „Gitanjali“ geäußert. Doch er lehnte Wolffs Bitte ab.
Das lag nicht daran, dass Rilke Tagore
nicht schätzte, sondern an seinem Verhältnis zur englischen Sprache, der er
sich „entfremdet“ fühlte, wie er an Wolff
schrieb. Außerdem fand er Marie Luise
Gotheins Übersetzung, die Wolff ihm
zugesandt hatte, nicht schlecht und
zweifelte daran, dass er es besser
machen könne. Nach der deutschen Ausgabe von „Gitanjali“, die rasch mehrere
Auflagen erlebte, verlegte Wolff
während des Krieges noch weitere
Werke Tagores. Seinen geradezu sagenhaften Erfolg als Verleger Tagores erlebte Wolff allerdings erst nach dem Krieg.
Er hatte das Glück in Helene MeyerFranck eine neue Übersetzerin der
Werke Tagores zu finden, die ihre Arbeit
mit großer Hingabe und immensem
Fleiß leistete. Sie lernte später sogar
Bengali und veröffentlichte dann direkte
Übersetzungen von Tagores bengalischen Werken. Leider tat sie das erst zu
einer Zeit, als kaum jemand sie lesen
wollte. Um 1920, als Deutschland von
Tagore begeistert war, hatte sie große
Erfolge mit ihren Übersetzungen aus
dem Englischen gehabt. Sogar eine
deutsche Ausgabe von Tagores Gesammelten Werken in acht Bänden war von
ihr und ihrem Mann, Heinrich MeyerBenfey, 1921 herausgegeben worden.
Martin Kämpchen hat mit Recht auf die
Verdienste dieser heute nahezu vergessenen Frau hingewiesen.
Als Tagore Deutschland 1921 zum
ersten Mal besuchte, war er den deutschen Lesern kein Unbekannter mehr.
Man kann geradezu sagen, dass er bereits eine deutsche Lesergemeinde hatte,
die sich dann aber sprunghaft vergrößerte, als der Meister selbst in Erscheinung
trat und durch sein Charisma die Deutschen in seinen Bann zog. Selbst Kurt
Wolff, der keineswegs ein Jünger Tagores war und eher eine geschäftsmäßige
Beziehung zu ihm hatte, wurde durch
die persönliche Begegnung tief beeindruckt. Natürlich wusste er es auch zu
schätzen, dass die, die ebenso durch
Tagores Besuch beeindruckt waren, nun
umso eifriger seine Bücher kauften, von
denen Wolff in kurzer Zeit über eine
Million Bände verbreiten konnte.
Die Befindlichkeit der Deutschen nach
dem Ersten Weltkrieg machte sie für
Tagores Weltsicht besonders aufnahmebereit. Dieser Krieg hatte für sie nicht
nur eine materielle Niederlage, sondern
eine geistige Katastrophe bedeutet. Der
deutsche Historiker Friedrich Meinecke
hatte 1907 sein Buch „Weltbürgertum
Indien ist Gastland der
Frankfurter Buchmesse 2006
Indien ist das erste Gastland der
Frankfurter Buchmesse, das sich nach
dem ersten Auftritt 1986 im kommenden Jahr zum zweiten Mal in Frankfurt
präsentiert.
Nach Angaben der Organisatoren sollen rund 50 indische Autoren an
Lesungen und Diskussionsrunden teilnehmen. Dabei sollen sämtliche 24
offiziellen Sprachen repräsentiert sein.
Durch die Einführung des Forum Film
& TV vor zwei Jahren bietet die
Frankfurter Buchmesse auch der indischen Filmindustrie eine Plattform.
Bollywood-Filme erleben seit Mitte
der 90-er Jahre einen Aufschwung und
sind auch in Deutschland beliebt.
Auch Verlagswesen und Druckindustrie machen in Indien eine rasante Entwicklung durch. Dies macht Indien
zusammen mit der sprachlichen Vielfalt auf dem Subkontinent zu einem der
interessantesten Märkte der Welt.
Um die Verbreitung indischer Literatur zu fördern, hat der National Book
Trust India einen Übersetzungsfonds
eingerichtet. Der Fonds gründet sich
auf eine Titelliste, die von indischen
Experten zusammengestellt wurde.
Diese Bücher sollen mit Unterstützung
des Fonds in deutscher, spanischer
und französischer Sprache veröffentlicht werden.
(Quelle: Messenewsletter, 22.10.2005)
24
und Nationalstaat“ veröffentlicht, das
für das deutsche Bildungsbürgertum geradezu ein weltanschauliches Manifest
wurde. Meinecke hatte das alte Ideal des
Weltbürgertums mit der erst in jüngster
Vergangenheit gelungenen Erschaffung
eines starken deutschen Nationalstaats
versöhnt, der vielen liberalen Bildungsbürgern recht unheimlich erschienen
war. Dieser Staat zerbrach im Ersten
Weltkrieg und damit war der Leib der
Nation – wie Tagore es ausgedrückt
hätte – todkrank geworden. In dieser
Situation war Tagore den Deutschen
sozusagen als Arzt willkommen, der
nicht nur die richtige Diagnose stellen,
sondern auch eine Therapie empfehlen
konnte. Seine Besuche deutscher Städte
und Universitäten zogen ein begeistertes
Publikum an. Seine deutschen Bewunderer erwiesen sich sehr geschickt in der
Inszenierung seiner Auftritte, so der Philosoph Graf Keyserling in seiner „Schule der Weisheit“ in Darmstadt im Sommer 1921.
Stefan Zweig hat die Stimmung dieser
Zeit in einem 1921 erdachten Zwiegespräch zwischen einem älteren und
einem jüngeren Schriftsteller charakterisiert. Dem jüngeren legt er die Kritik am
„Tagore-Rummel“ in den Mund. Er
macht einen Bogen um die mit Tagorebänden vollgestopften Auslagen der
Buchhändler. Es widert ihn an, wenn
Bürgermädchen und Jünglinge selbst in
der Straßenbahn Tagores Gedichte
lesen. Der ältere Schriftsteller aber, der
gerade Tagores „Sadhana“ liest, begründet sein Interesse für Tagore damit, dass
dieser die drei Probleme, die Deutschland nach dem Krieg bewusst geworden
sind, die Probleme der Gewalt, der
Macht und des Besitzes tief und
menschlich betrachtet und Antworten
darauf gibt. Den Deutschen wird der
ganze Wahnsinn ihrer Kriegswut und
ihres Nationalismus erst klar, wenn sie
ihn aus der Hemisphäre eines anderen
Denkens und Fühlens betrachten. Deshalb wirkt Tagore so unwiderstehlich
verlockend auf die Massen wie auf den
einzelnen.
Die Begeisterung für Tagore blieb denn
auch nicht auf das durch den Krieg verunsicherte Volk beschränkt; er zog auch
bedeutende Gelehrte so in Bann, zum
Beispiel den berühmten Kantianer Paul
Natorp, der einen Bericht über Tagores
Besuch in Darmstadt schrieb und ihn
später zum Besuch der Universität Mar-
burg einlud. Der erst unlängst verstorbene Philosoph Hans-Georg Gadamer, der
damals ein junger Schüler Natorps war,
berichtete über diese Zeit:
„(Natorp) lud manchmal sonntags einen
Kreis in sein Haus ein und las dort Dichtungen, vor allem Dramen von Rabindranath Tagore, deren mystischer Tiefsinn mich oft ganz erfüllte. Einige Jahre
später kam Tagore einmal zu Besuch zu
Natorp, und ich erinnere mich der Universitätsfeier (bei der) Rabindranath
Tagore und Paul Natorp nebeneinander
saßen. Was für ein Kontrast! Bei welcher Ähnlichkeit! Zwei nach innen
gewandte Gesichter, beide ehrwürdige
alte Männer mit grauem Bart... beides
gewiß Menschen von einer tiefen Innerlichkeit und überzeugenden Ausstrahlung. Und doch, wie wirkte der große
Gelehrte und scharfe Methodologe
Natorp dünn und schmächtig neben der
felsigen Größe von Tagores Antlitz und
Erscheinung, einer Herrengestalt aus
einer anderen Welt.“
Natorps Bewunderung für Tagore ging
jedoch viel tiefer als dieser Bericht über
die Lesung seiner Werke im Hause
Natorps vermuten lässt. Gadamer gab –
ohne sich dabei auf Tagore zu beziehen
– einen Hinweis auf eine geistige Wahlverwandtschaft, als er über die Quintessenz des Spätwerks seines Meisters
urteilte:
„Die Einheit von Theoretik und Praktik... sollte in der allgemeinen Logik
Natorps erst ihre volle Universalität
erreichen. Sie hat ihre eigentliche Vollendung... in der grundsätzlichen Korrelation von Denken und Sein, die den
unendlichen Fortgang des methodischen
Bestimmens trägt und begründet. Aber
auch diese Korrelation ist nichts letztes,
sondern setzt ihre ursprüngliche „unzerstückte“ Einheit voraus. Das ist der Sinn
der Überschreitung der Methode, die
Natorps spätes Denken beherrschte.“
Wer Tagores Schriften liest, wird viele
Belege dafür finden, dass der Dichter in
dieser Hinsicht ähnlich dachte wie der
große Methodiker Natorp, der gerade
beim Überschreiten der Methode Anregungen im Werk Tagores gefunden
haben muss.
Eine Auseinandersetzung
Eine weitere Begegnung dieser Art
waren zehn Jahre später die Gespräche
Tagores mit Albert Einstein, die zum
ersten Mal in der von Martin Kämpchen
herausgegebenen Anthologie in deutscher Sprache vorliegen. Hier ging es
25
freilich weniger um einen Gleichklang
der Idee wie in der Begegnung mit
Natorp, als um eine Auseinandersetzung
im wahren Sinne des Wortes. Tagore
berichtete darüber: „Ich konnte erkennen, dass Einstein am außermenschlichen Aspekt der Wahrheit festhielt. Aber
für mich ist es offensichtlich, dass in der
menschlichen Vernunft die Tatsachen
eine Übereinstimmung mit der Wahrheit
voraussetzen, die nur für einen menschlichen Geist vorstellbar ist.“ Im
Gespräch wurde dieser Gegensatz auf
den Punkt gebracht, als Einstein Tagore
fragte: „Wenn es keine Menschen mehr
gäbe, dann wäre der Apollo von Belvedere nicht mehr schön?“ Als Tagore dies
bestätigte, fuhr Einstein fort: „Diesem
Begriff der Schönheit stimme ich zu,
aber nicht dem der Wahrheit.“ Darauf
entgegnete Tagore: „Warum nicht? Die
Wahrheit wird durch den Menschen
erfahren.“ Worauf Einstein erwiderte:
„Ich kann nicht beweisen, dass meine
Vorstellung richtig ist, aber das ist meine
Religion“. Als Tagore am Ende dieses
Gesprächs nochmals betonte, dass eine
Wahrheit, die keinen sinnlich-rationalen
Bezug zum menschlichen Bewusstsein
hat, für uns Menschen nicht existieren
kann, reagierte Einstein mit dem bemerkenswerten Ausruf: „Dann bin ich religiöser als Sie!“
In den zehn Jahren, die zwischen Tagores erstem Besuch in Deutschland und
seinem letzten im Jahre 1930 lagen, hatten sich Tagores Grundansichten und
sein Interesse an Deutschland nicht gewandelt, doch die geistige Atmosphäre
in Deutschland hatte sich entscheidend
verändert. Tagore konnte dies an dem
geringeren Interesse, das ihm bereits bei
seinem zweiten Besuch 1926 entgegengebracht wurde, sicher merken, wenn
Die Zeitschrift erscheint zwei bis drei
Mal im Jahr. Eine Spende von mindestens 13,– Euro wird von den
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auch wohl nicht verstehen, weil ihm
dazu der Einblick in die neue deutsche
Befindlichkeit fehlte. Bei seinem ersten
Besuch war die deutsche Literatur noch
sehr stark unter dem Einfluss des Symbolismus gewesen. Stefan George und
Rainer Maria Rilke standen auf der
Höhe ihres Ruhms. Tagore ist ebenfalls
dieser literarischen Bewegung zuzurechnen. Als Tagore 1926 nach Deutschland kam, hatte bereits eine andere
künstlerische Richtung ihren Siegeszug
angetreten: die Neue Sachlichkeit. Dieser Begriff war 1923 von dem Kunsthistoriker Gustav Hartlaub ge-prägt worden und bezog sich zunächst auf die
Malerei, wurde dann aber auch auf Literatur und Baukunst angewendet. Der
Maler Otto Dix war ein typischer Vertreter dieser Richtung. In der Literatur
waren Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und Joseph Roth
führende Autoren, die die Neue Sachlichkeit verkündeten; in der Architektur
waren es die Meister des Bauhauses.
Der nüchterne Sprachstil und die sozialkritische Einstellung der neuen Literatur
standen in krassem Gegensatz zu Tagores Dichtung. Als Tagore 1930 Deutschland seinen letzten Besuch abstattete,
war diese Richtung noch mächtiger
geworden. Kurt Wolff, Tagores Verleger,
der einst an seinen Büchern so gut verdient hatte, wurde zu dieser Zeit von der
Weltwirtschaftskrise in den Ruin getrieben. Tagore konnte keine zusätzlichen
deutschen Leser gewinnen; nur die, die
1921 von seiner Dichtung ergriffen worden waren, mochten ihm noch die Treue
halten.
Tagore-Übersetzung in der Nachkriegszeit
Nach Hitlers Machtergreifung fegte der
Nationalsozialismus wie ein eisiger
Sturm durch die deutsche Geisteswelt
und vernichtete jede Kreativität. Das
Erlebnis des Zweiten Weltkriegs, das
Deutschland noch viel härter traf als das
des Ersten Weltkriegs, wurde nach dem
Krieg eher verdrängt als verarbeitet. Die
unmittelbare Nachkriegszeit war eine in
jedem Sinne des Wortes dürftige Zeit.
Auch Tagore war bei den deutschen
Lesern nahezu völlig vergessen. Nur in
der Deutschen Demokratischen Republik konnte die Literatur Tagores im
Rahmen der von der Regierung befohlenen „Völkerfreundschaft“ eine Nische
finden. Es gab dort auch Ansätze zur
direkten Übersetzung der Werke Tagores
aus dem Bengalischen. Einen Auf-
schwung nahm die Bemühung um eine
neue Erschließung der Werke Tagores in
Deutschland aber erst, als sich der in
Santiniketan wirkende Martin Kämpchen, der bei Heidelberg lebende bengalische Dichter und Literaturwissenschaftler Alokeranjan Dasgupta und der
im Heidelberger Südasieninstitut lehrende Lothar Lutze um neue Übersetzungen
der Werke Tagores aus dem Bengalischen bemühten. Damit wird den deutschen Lesern ein Zugang zu Tagores
Werk vermittelt, der den Umweg über
die englische Sprache vermeidet. Tagore
hat einen großen Teil seiner Werke
selbst ins Englische übersetzt. Das verlieh diesen Übersetzungen den falschen
Schein der Authentizität. Edward
Thompson, der englische Freund und
Übersetzer Tagores, schrieb, dass Tagore seinen wohlverdienten Ruf durch
diese eigenen Übersetzungen geschädigt
habe. Sie legten sich, wie Thompson
meinte, wie ein verhüllender Schleier
über Tagores Dichtungen. In einem
Brief an Thompson gestand Tagore:
„In my translations I timidly avoid all
difficulties, which has the effect of
making them smooth and thin....When I
began this career of falsifying my own
coins I did it in play. Now I am becoming frightened of its enormity....“
Die „glatte und dünne“ englische Version seiner Gedichte hatte freilich den
Vorzug, dass sie recht eingängig war und
sich seine „Falschmünzerei“ in dieser
Hinsicht lohnte. Ob eine philologisch
korrekte Version denen, die ihm den
Nobelpreis verliehen, überzeugender erschienen wäre, ist fraglich. Doch Tagore
dichtete ja nicht, um Preise zu gewinnen, sondern um die Seelen der Menschen zu berühren – und in dieser Hinsicht stand ihm die „Falschmünzerei“ im
Wege. Ein besonderer Schaden, der dadurch entstand, war, dass die Vielfalt
und Originalität der Sprache Tagores
sich in der englischen Übersetzung in
stereotype Redewendungen verwandeln
konnte, die dem Leser allmählich den
Eindruck einer ermüdenden Monotonie
vermittelten, wie Edward Thompson
bemerkte.
Der Leser, der sich nun dem „Goldenen
Boot“ zuwendet und liest, was Martin
Kämpchen und seine Mitautoren zusammengetragen haben, der wird einen
neuen Zugang zu Tagore finden und
erkennen, dass hier einer der größten
Dichter der Weltliteratur zu ihm spricht.
Martin Kämpchen hat Tagore und sei-
26
nem Werk schon früher wichtige Veröffentlichungen gewidmet, doch die eindrucksvolle Auswahl, die er jetzt vorgelegt hat, ist die Krönung seiner Bemühungen darum, für den Dichter in
Deutschland wieder die Aufmerksamkeit zu erwecken, die er verdient.
„
(Anmerkung: Rede gehalten von Prof. Dr. Dietmar
Rothermund am 9.11.2005 bei der Festveranstaltung zur Veröffentlichung des Buches „Das goldene Boot”, eine Tagore-Werkausgabe herausgegeben von Martin Kämpchen.Wir drucken diese hier
mit freundlicher Genehmigung des Autors.)
DIG-Lübeck feierte
40-jähriges Jubiläum
Die Deutsche-Indische Gesellschaft
e.V., Lübeck, feierte am 24.9.05 ihr
40-jähriges Bestehen mit einer Festveranstaltung im Bürgerschaftssaal
des Lübecker Rathauses. Aus diesem
Anlass fand die Jahresversammlung
des Bundesverbandes der DeutschIndischen Gesellschaft e.V in Lübeck
statt. Im Mittelpunkt der Jubiläumsveranstaltung standen die Tanzdarbietungen der Künstlerin Radha
Sharma. Die Veranstaltung Klang
aus mit einer Stadtrundfahrt auf der
Trave mit indischem Abendessen.
Die DIG-Lübeck ist einer der aktivsten der über 30 Zweiggesellschaften
der DIG in Deutschland. Pro Jahr
führt die DIG-Lübeck ca. 25 Veranstaltungen durch. Bei diesen Veranstaltungen wird Indien in all seiner
Vielfalt öffentlich präsentiert.
- JP
Interview Aktuell
„Mein Christsein ist vom Hinduismus sehr bereichert worden: von seiner Kosmosfrömmigkeit,
seinem Körperbewusstsein (Yoga),
seiner mystischen Neigung“
Martin Kämpchen
Martin Kämpchen, der in Shantiniketan (Indien) lebende deutsche Autor und Publizist,
hat viele Bücher mit Direktübersetzungen von Tagore veröffentlicht. Besonders zu erwähnen sind Bücher wie „Wo Freude ihre Feste feiert. Gedichte und Lieder“ (Herder 1990),
„Am Ufer der Stille“ (Benziger 1995), „Auf des Funkens Spitzen“ (Kösel 1997) und „Liebesgedichte“ (Insel 2005). Er hat auch eine Biographie von Tagore im Rowohlt Verlag
(2002) veröffentlicht. Sein Magnum Opus ist aber die im Herbst dieses Jahres erschienene Werkausgabe „Das goldene Boot“ (Winkler-Weltliteratur) mit Direktübersetzungen
aus Tagores Lyrik, Prosa und Drama, zum großen Teil aus dem Bengali. Beigetragen zu
dem Werk haben neben Martin Kämpchen namhafte Indologen und Tagore-Kenner wie
Rahul Peter Das, Alokeranjan Dasgupta, Lothar Lutze, Hans Harder etc.
Tagore-Übersetzungen sind für Martin Kämpchen fast eine Leidenschaft. Er fand in Tagore eine Universalität, die Weisheit, Fantasie, Religiosität und Philosophie harmonisch in
sich vereinigt und eine höchst kommunikative Einheit bildet. Die vorliegende Werkausgabe wird jedoch in aller Wahrscheinlichkeit Kämpchens letzte wichtige Tagorearbeit sein. Aus diesem Anlass drucken wir nachfolgend ein Interview mit ihm ab, das wichtige Auskunft über seine Tagorebeschäftigung gibt. Außerdem spricht er in dem Interview ausführlich über sein Leben, seine Erfahrungen in Indien und seine Meinungen zu vielen Fragen, die Indien, Deutschland
und Europa betreffen. Das Interview führte Dr. Hamid Reza Yousefi, der die gesammelten Essays von Martin Kämpchen unter
dem Titel „Dialog der Kulturen. Eine interreligiöse Perspektive“ (zusammen mit Ina Braun) im Frühjahr 2006 herausgeben
wird. Das Buch erscheint im Verlag Traugott Bautz, Nordhausen, ca. 470 Seiten. Wir danken Herrn Dr. Yousefi für seine Zustimmung, das Interview in unserer Zeitschrift veröffentlichen zu dürfen.
-Die Redaktion
Dr. Yousefi: Was bedeutet dir die Herausgabe der Werkausgabe von Rabindranath Tagore, die soeben erschienen
ist (Rabindranath Tagore: Das goldene
Boot. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2005)?
Als
stücke). Axel Momte hat englische
Essays übersetzt und Andor Orand Carius die Tagore-Einstein-Gespräche und
vor allem sie eindringlich kommentiert.
Anmerkungen, Nachwort und
andere Elemente, die zum wisKind wollte ich immer Afrika besuchen
Apparat
und lernte schon als Schüler in Boppard Afri- senschaftlichen
Dr. Kämpchen: Dieser Band
kaner kennen, die das dortige Goethe-Institut gehören, erleichtern und vertiefen die Lektüre. Zum ersten
ist Krönung und Abschluss
besuchten. Aber es kam anders: Als ich
Mal gibt der Band dem
einer
zwanzigjährigen
Student in Wien war, erhielt ich von einer
Bemühung um das Werk des
deutschen Organisation ein Reisestipendium deutschsprachigen Leser einen
Überblick über das GesamtDichters Rabindranath Tagore
nicht für Afrika, sondern für Indien.
werk in literarisch wertvollen
in deutscher Sprache. In vier
Direktübersetzungen. Das hat
verschiedenen Verlagen sind
es noch nie gegeben, auch
über die Jahre kleine Bände
von Tagores Lyrik in meiner Überset- sowie bei einigen Essays, Briefen und nicht, als Tagore in den 1920ern in
zung aus dem Bengali erschienen. Nun Gesprächen aus dem Englischen. Der Deutschland Triumphe feierte. Die
hat mir der Verlag Artemis & Winkler Band versammelt sämtliche Übersetzer, damalige achtbändige Ausgabe fußte auf
englischsprachigen
die Gelegenheit gegeben, eine fast 700- die fähig sind, literarische Texte aus dem minderwertigen
seitige Auswahl aus dem Gesamtwerk Bengali ins Deutsche zu übersetzen. Übersetzungen. Der Band erscheint in
vorzustellen. Sie enthält neben fast 200 Mitgewirkt haben nämlich Rahul Peter der renommierten Reihe „Winkler-WeltSeiten Lyrik zwei Theaterstücke, zwei Das (Essays), Alokeranjan Dasgupta literatur“. Das bedeutet, dass RabindraErzählungen, einen Kurzroman, eine (Lyrik und Briefe), Lothar Lutze (Lyrik), nath Tagore nicht mehr wie bisher als
Auswahl von Essays aus dem Bengali Hans Harder (Erzählungen und Kurzro- Mystiker, als Kalenderblattpoet, als Proübersetzt, weiterhin Essays aus dem man) sowie ich selbst (Lyrik, Theater- phet behandelt wird, sondern als das,
Englischen sowie eine knappe Briefesammlung und die Gespräche mit Albert
Einstein. Es sind ausschließlich Übersetzungen aus der Originalsprache Bengali
27
was er wesentlich war: ein Dichter der
Weltliteratur.
Dr. Yousefi: Bitte schildere einige wichtige Gedanken zu deinem Leben und
Werk.
Dr. Kämpchen: Meine Eltern waren
akademisch gebildet. Mein Vater war
Lehrer am Gymnasium, zuletzt viele
Jahre Direktor. Mutter und Vater verstanden den Wert einer breiten Ausbildung. Das damalige Schulsystem der
Gymnasien betonte noch die Allgemein-
„Heimat“ ist mir Indien nicht
geworden. Ich bin weiterhin
Gast, ich bin fast mein ganzes
Leben lang irgendwo Gast
gewesen.
bildung; wir lernten in vierzehn Fächern
bis zum Abitur. Meine Eltern schickten
mich als Austauschschüler mehrmals
nach England und Frankreich; schon als
Sechzehnjähriger besuchte ich als Stipendiat ein Schuljahr lang eine amerikanische High School. Als Student war ich
ein Jahr in Paris, um Französisch zu lernen. Länder kennenlernen, Sprachen lernen war wichtig. Als Kind wollte ich
immer Afrika besuchen und lernte schon
als Schüler in Boppard Afrikaner kennen, die das dortige Goethe-Institut besuchten. Aber es kam anders: Als ich
Student in Wien war, erhielt ich von
einer deutschen Organisation ein Reisestipendium nicht für Afrika, sondern für
Indien. 1971 reiste ich drei Monate
allein kreuz und quer durch Indien und
war überzeugt: Ich lerne die zweite
Hälfte der menschlichen Existenz kennen. In Europa/Amerika wurde ich mit
der ersten Hälfte vertraut gemacht, in
Indien mit der zweiten. Nur wer in beiden Sphären gelebt hat, weiß, was
Menschsein ist.
Dr. Yousefi: Wo und was hast du studiert?
Dr. Kämpchen: Das erste Semester
habe ich in der Nähe meiner Heimat
Boppard verbracht, nämlich in Saarbrücken. Da war ich leider gar nicht
glücklich. Auf Anraten einer Bopparder
Bekannten fuhr ich für das zweite Semester nach Wien, um dort ein „Kultursemester“ zu verbringen. Nun, daraus
wurde ein Kulturstudium: Ich habe Wien
nicht mehr verlassen. Es bleibt bis heute Lebensweise der Heiligen aller Religiomeine mir liebste Stadt, die ich mög- nen aufzuzeigen. Ich habe fünf typische
lichst jedes Jahr besuche. In Wien habe Stufen im Leben der Heiligen herausgeich Germanistik (Hauptfach), Theater- arbeitet und danach das Leben von Franwissenschaft (Nebenfach) und europäi- ziskus und Ramakrishna Stufe für Stufe
sche Philosophie studiert. Ein Jahr ver- verglichen.
brachte ich in Paris und lernte Franzö- Nur ganz zu Anfang habe ich versucht,
sisch an der Alliance Francaise und der die akademische Laufbahn einzuschlaSorbonne. In der Banlieu arbeitete ich in gen. Mein Germanistik-Professor in
einem Internat als Maitre d’Internat, um Wien wollte mich zu seinem Assistenten
mir das Leben in der teuren Großstadt zu machen. Doch meine österreichischen
Studienkollegen verlangten, dass einer
verdienen.
Es waren die Jahre des Vietnam-Kriegs. von ihnen (kein Deutscher!) den Posten
Schon als Gymnasiast hatte ich den bekommen solle. Mein Professor erlag
Kriegsdienst verweigert, was damals dem Druck. Für mich war dies das Zei(1967) noch bedeutete, dass ich gegen chen, dass ich keine Universitätslaufden Strom schwimmen musste. Mein bahn anstreben soll.
Vater und meine Lehrer waren gegen
meine Kriegsdienstverweigerung. Ich Dr. Yousefi: Was hat dich dazu bewolas Mahatma Gandhi schon als Schüler, gen, nach Indien zu gehen und dieses
lernte als Student in Indien Armut und Land zu deiner zweiten Heimat zu
Not kennen. All das bewog mich machen?
schließlich zu dem germanistischen Dissertationsthema „Die Darstellung der Dr. Kämpchen: Zum ersten Mal bin ich
Unmenschlichkeit und Grausamkeit in nach Indien gefahren, weil ich nicht
der Literatur zum Ersten und Zweiten nach Nigeria reisen durfte. Damals
Weltkrieg“ (Wien 1973). Es war eine brach der Biafra-Krieg aus, und die
„Holocaust-Studie“, bevor dieser Be- Gruppe, die Nigeria besuchen sollte,
musste umverteilt werden. In einem
griff erfunden worden war.
In Indien bin ich, nach dreieinhalb Jah- Telefonat nach Saarbrücken fragte mich
ren Deutschunterricht in Kalkutta, zur der Leiter der Organisation, die jene StuUniversität zurückgekehrt, um mein In- dentenreisen in Länder der Dritten Welt
teresse an und meine Kenntnisse über unternahm: „Wohin wollen Sie statt desIndien auf eine akademische Grundlage sen fahren?“ Ohne recht nachzudenken,
zu stellen. Nach einem M. A. in Madras sagte ich: „Indien“. Das hat mein Leben
in Indischer Philosophie bin ich 1979 geprägt. Nach dem Studium in Wien bin
nach Shantiniketan gegangen, um dort ich sogleich wieder dorthin geflogen,
zum zweiten Mal, und zwar in Verglei- weil mir diese wesentliche Erfahrung
„Indien“
noch
chender Religinicht
abgeschlosonswissenschaft,
Mich hat die Armut
sen schien – das
zu promovieren.
leidenschaftlich beeindruckt,
Erlebnis
der
Das Thema war
und mir ist stets bewusst gezweiten Lebens„The Concept of
wesen, dass sie das Normale in
hälfte.
Aber
Holiness in the
der
Welt ist, nicht unser Wohl- warum bin ich
Lives of Sri
leben in Europa.
geblieben? Ich
Ramakrishna and
wollte eigentlich
Francis of Assinur ein Jahr oder
si“. An Franziszwei Jahre bleikus war ich als
katholischer Christ, der in Indien mit ben und dann nach Europa zu-rückkehden Armen zusammenlebte und selbst ren und Journalist, am liebsten Theateranspruchslos zu leben wünschte, interes- kritiker, werden. Niemals habe ich mich
siert. Er war ein Vorbild. Zu Ramakrish- dazu entschieden: „Ich bleibe.“ Immer
na wurde ich durch mein Zusammenle- dachte ich: „Ich bleibe noch ein Jahr als
ben mit den Mönchen der Rama- Lehrer.“ Dann: „Ich mache einen Magikrishna-Mission hingeführt. Während ster.“ Dann: „Ich promoviere noch einmeiner dreieinhalb Unterrichtsjahre in mal.“... Ein Jahr kam zum anderen, und
Kalkutta habe ich nämlich außerhalb der daraus wurden 32 Lebensjahre. Mich
Stadt in einem großen Ashram des hielten meine Aufgaben fest: RamaRamakrishna-Ordens gewohnt. Noch krishna übersetzen! Tagore übersetzen!
heute besuche ich ihn regelmäßig. Die Dann schließlich meine Arbeit in zwei
Arbeit versucht, das Gemeinsame in der Dörfern des Santal-Stammes, die ich
28
über Jahre hin intensiv begleitet habe
und die ich fortführen wollte, bis ihre
Verantwortlichen selbständig sind. „Heimat“ ist mir Indien nicht geworden. Ich
bin weiterhin Gast, ich bin fast mein
ganzes Leben lang irgendwo Gast gewesen.
Europa ist noch weit davon
entfernt, Indien zu verstehen.
Mein Lebenswerk ist, mehr
Kenntnis zu vermitteln und
kritisches, differenziertes
Verständnis für Indien zu
wecken.
Dr. Yousefi: Was hat dich in Indien am
meisten beeindruckt?
Dr. Kämpchen: Die kindliche Offenheit
der einfachen Menschen, ihre emotionale
Intensität, die Fähigkeit der Menschen im
Dorf, mit der Natur auf einfachste Weise
zu leben, ihre Weise, mit den einfachsten
Mitteln glücklich zu werden. Mich hat
die Armut leidenschaftlich beeindruckt,
und mir ist stets bewusst gewesen, dass
sie das Normale in der Welt ist, nicht
unser Wohlleben in Europa. Ich habe
mich in den indischen Dörfern stets am
Nabel der Welt gefühlt, weil dort „das
Eigentliche“ geschieht und ist. Insgesamt
hat mich das dörfliche Indien angezogen,
nicht das städtische.
Dr. Yousefi: Welcher indische Denker
hat dich am meisten fasziniert?
Dr. Kämpchen: Ich begann mit der
Lektüre von Swami Vivekananda, dessen Vorträge und Schriften ich von vorne
bis hinten gelesen habe. Dann bewegte
mich zutiefst Mahatma Gandhi. Doch
den tiefsten Einfluß hat Rabindranath
Tagore auf mich ausgeübt.
Dr. Yousefi: Warum findest du einen tiefen Sinn in Tagores Dichtungsphilosophie?
Dr. Kämpchen: Tagore ist ein universaler Mensch gewesen, wie Goethe, und
sein Werk stellt diese Universalität
beeindruckend dar. Für mich ist besonders wichtig, wie er sämtliche Lebensbereiche in einer großen, philosophischen Schau integriert, wie er diese
Schau dann in seinem literarischen Werk
in vielfältiger Weise in inspirierender
Form schöpferisch zum Ausdruck
bringt. Natur und Geist, Mensch und
Natur, das Göttliche und das Irdische
sind in eine große, starke Harmonie einbezogen. Wo hat es das im 20. Jahrhundert noch einmal gegeben?
Dr. Yousefi: Was hältst du vom Hinduismus?
Dr. Kämpchen: Einer der Gründe, weshalb mich Indien anzog, war natürlich
mein Interesse am Hinduismus – am
reformierten Hinduismus von Ramakrishna und Swami Vivekananda vor
allem, aber auch am klassischen philosophischen Hinduismus. Niemals habe
ich mich anders denn als Christ empfunden. Doch mein Christsein ist vom Hinduismus sehr bereichert worden: von
seiner Kosmosfrömmigkeit, seinem Körperbewusstsein (Yoga), seiner mystischen Neigung. Doch nach und nach
überwiegt in mir die Unzufriedenheit
mit dem Hinduismus, weil er praktisch
so wenig sozial eingestellt ist, weil er
das weltanschauliche Fundament des
Kastenwesens ist, weil er nicht auf die
modernen Fragen und Nöte der Menschen reagiert, sondern sich auf einen
ungeerdeten Spiritualismus oder einen
Ritualismus zurückzieht.
Dr. Yousefi: Was verbindet die indische
Lebensweisheit mit Franz von Assisi?
Dr. Kämpchen: Die Genügsamkeit und
Einfachheit der indischen Lebensweise
findet ein Echo bei Franz von Assisi. In
Indien wird sein ursprüngliches Ideal
(Wandern, Armut/Betteln, Einsamkeit,
Ungebundenheit) noch häufiger und
echter gelebt als in Europa.
Dr. Yousefi: Was hältst du von der
europäischen Sicht auf Indien?
Dr. Kämpchen: Europa sieht Indien
entweder als ein orientalisches Zauberland oder als ein armes Entwicklungsland. Beide Klischees werden der Wirklichkeit nicht gerecht, sie verstellen sie
eher. Europa ist noch weit davon entfernt, Indien zu verstehen. Mein Lebenswerk ist, mehr Kenntnis zu vermitteln
und kritisches, differenziertes Verständnis für Indien zu wecken.
Dr. Yousefi: Wie sehen die Inder Europa
und insbesondere Deutschland?
29
Dr. Kämpchen: Aufgrund geschichtlicher Entwicklungen weiß ein gebildeter
Inder mehr über Europa, vor allem über
England, als ein gebildeter Deutscher
über Indien. Doch viel zu viele Inder wissen so wenig, dass sie meinen, Europa
glorifizieren zu müssen, und zwar so
stark, dass sie ihrem Heimatland im
Gefühl und im Geist untreu werden.
Einerseits gibt es einen unqualifizierten
Patriotismus, der das „alte Indien“ verherrlicht, andererseits eine vollkommene
Hinwendung zum Westen. Eine diskriminierende, geistig weite Mittel- stellung ist
noch zu selten. Deutschland wird oft
gelobt, weil Hitler die Engländer im
Krieg geschwächt hat und Indien durch
diese Schwächung der Unabhängigkeit
näherkam. Von deutscher Seite betrachtet, ist dies ein trauriger, be-fremdlicher
Grund, Deutschland zu verehren.
Dr. Yousefi: Was trennt Indien und
Europa?
Dr. Kämpchen: Indien und Europa
trennt die Wirtschaftsmacht Europas, die
unfaire Marktbedingungen erzwingen
kann. Ineffizienz und mangelnde Disziplin, Vagheit im Verstehen praktischer
Dinge, überhaupt unpräzises Denken
und Handeln ist noch zu stark in Indien
verbreitet. Wenn ich in Europa bin, atme
ich auf: Worte werden so aufgefasst, wie
sie gemeint sind.
Wir dürfen Gott nicht klein
auffassen, sondern immer
größer und tiefer.
Nur so können auch wir
Menschen größer und weiter
und tiefer werden.
Indien und Europa trennt, dass in Indien
die Bevölkerung explodiert und in Europa die Bevölkerung sich rapide verringert – das hat auf beiden Seiten horrende Folgen in entgegengesetzte Richtungen. Indien ist heiß – Europa temperiert:
das beeinflusst die Philosophie, das
Denken, die Religion, die Lebenseinstellung und das Arbeitsethos.
Dr. Yousefi: Stelle deinen Standpunkt
zur Interreligiosität dar.
Dr. Kämpchen: Gott ist eins, doch hat
er verschiedene Namen, Traditionen
menschlichen Verständnisses und der
Verehrung. Hier kann ich nicht anders,
als die vedantische Gottesauffassung zu
beherzigen. Wir dürfen Gott nicht klein
auffassen, sondern immer größer und
weiter und tiefer. Nur so können auch
wir Menschen größer und weiter und tiefer werden. Vieles könnte ich aus eigener Erfahrung im Zusammenleben mit
Hindus und Ureinwohnern und aus der
Meditation dazu sagen. Eines soll hier
genügen: Wie der Gott der einen Religion und der Gott einer anderen Religion
miteinander zu „vereinen“ oder zu verbinden sind, ist ein Mysterium. Wenn
Gott selbst schon ein Mysterium ist, wie
jede Religion für „seinen“ Gott behauptet, dann ist auch die Beziehung des
einen mit dem anderen Gott ein Mysterium, das wir Menschen zwar ahnen, aber
nicht ergründen können.
Dr. Yousefi: Was hältst du von der These
des Neohinduismus?
Dr. Kämpchen: Von Tagore und Gandhi lassen sich Antworten auf unsere heutigen Probleme ableiten. Doch der Neohinduismus eines Swami Vivekananda
und Aurobindo bedarf einer Modernisierung. Wir brauchen vom modernen Hinduismus unmittelbare Antworten darauf,
wie sich seine Anhänger zur Umweltbedrohung, zur wirtschaftlichen Globalisierung, zur modernen Kindererziehung,
Am meisten erfreut mich
mein Verhältnis zu den schulisch ungegebildeten, einfachen Bauern in den Dörfern.
zur Sexualerziehung (Abtreibung, Familienplanung usw.), zum Klonen, zur
Städteentwicklung usw. stellen sollen.
Indische Aktivisten sind meist von westlich erzeugtem Gerechtigkeitsempfinden getrieben, seltener vom hinduistischen Ethos. Mit anderen Worten, einen
wirklich neuen, kämpferischen, für
heute brennend relevanten Hinduismus
gibt es noch nicht. Wohl gibt es einzelne
Gestalten, wie Swami Agnivesh, die ihre
Religion überzeugend vertreten.
Dr. Yousefi: Warum haben uns die Wissenschaften der Komparatistik ent-
täuscht? Fehlte es etwa doch an einer
interkulturellen Einstellung?
Dr. Kämpchen: Wer auf kultureller
Ebene komparatistische Erkenntnis er-reichen will, braucht zunächst interkulturelle
Erfahrung; das heißt, er muss mit Menschen anderer Kulturen eng zusammengelebt haben. Hier hilft keine Bücherkenntnis und keine theoretische Spekulation.
Die akademische Komparatistik sieht aber
die tatsächliche Erfahrung immer als
etwas Subjektives, dar-um für die wissenschaftliche Erkenntnis Ungeeignetes an.
Dem setzt sie seine Theorien entgegen.
Das ist arrogant und dient nicht dem
Leben, wie es jede Wissenschaft tun muss.
Dr. Yousefi: Welche Wege muss die indische Entwicklungshilfe gehen?
Dr. Kämpchen: Natürlich braucht Indien massive wirtschaftliche Hilfe, um
die jahrzehntelang vernachlässigte Infrastruktur zu stärken und den Bevölkerungszuwachs aufzufangen. Aber vor
allem braucht es gerechte Bedingungen,
die eigenen Produkte weltweit zu vertreiben. Eine ungebremste und brutale
Neues Buch
Nietzsche und Buddha
Pankaj Mishra
Nietzsche hörte nie auf, den Buddha als
einen passiven Nihilisten zu betrachten, und vermochte deswegen auch
nicht zu erkennen, dass er – weit davon
entfernt, sich in „orientalischer Passivität“ zu suhlen – einen praktischen
Weg zur Verwirklichung ebendieses
„Erhabnen“ aufgezeigt hatte: gezeigt
hatte, dass der Mensch durch Achtsamkeit und Meditation zur Erkenntnis der
Trishna, des Zustands unaufhörlicher
Gier, Unsicherheit und Enttäuschung,
und, davon ausgehend, der Unbeständigkeit alles Seienden gelangen konnte.
In seinem Freisein von Ressentiment,
Gier und Hass ähnelte der Buddha dem
Übermenschen, der sich von der „Sittlichkeit der Sitte“ losgesagt und
„Macht über sich und das Geschick
(erlangt) hat“, die „sich bei ihm bis in
seine unterste Tiefe hinabgesenkt und…
zum Instinkt geworden“ ist.
Wie Nietzsche hatte auch der Buddha
versucht, die natürliche Würde des
Menschen zu bekräftigen, ohne den
ehrgeizigen (und seiner Ansicht nach
fruchtlosen) Umweg über Metaphysik,
Theologie, Vernunft oder politischen
Idealismus zu machen. Nietzsche selbst
erkannte dies implizit an, als er
schrieb:
Die geistige Ermüdung, die er (der
Buddha) vorfindet und die sich in einer
allzu großen „Objektivität“ (das heißt
Schwächung des Individual-Interesses,
Verlust an Schwergewicht, an „Egoismus“) ausdrückt, bekämpft (er) mit einer strengen Zurückführung auch der
geistigsten Interessen auf die Person.
In der Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht: das „Eins ist not“, das
„wie kommst du vom Leiden los“ reguliert und begrenzt die ganze geistige
Diät.
Dies war das Projekt der Selbstüberwindung, das der Buddha vorgestellt
hatte. Es basierte auf seiner nüchternen Einsicht darin, was der Mensch –
30
und mochte er noch so sehr gesellschaftlichen Zwängen unterliegen und
von unpersönlichen Kräften, die er
selbst kaum verstand, gefesselt sein –
durchaus noch tun konnte: die bedingte Natur und wechselseitige Abhängigkeit aller Phänomene und die Notwendigkeit eines ethischen Lebens in sich
selbst erkennen und anderen mitteilen:
die zentralen Lehren des Buddha, die
nicht nur, viel später, von den westlichen Buddhisten wieder entdeckt wurden, sondern auch durch einige der
größten spirituellen und intellektuellen
Persönlichkeiten des von Nietzsche
vorhergesagten, von außerordentlicher
Gewalt gekennzeichneten Jahrhunderts
bestätigt werden sollten.
Auszug aus dem vor kurzem erschienen Buch Unterwegs
zum Buddha, sein Leben, seine Lehre, seine Wirkung,
aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini,
Karl Blessing Verlag, München, 2005.
_______________________________
Pankaj Mishra wurde 1969 in Jhansi, Indien geboren
und wuchs in Uttar Pradesh auf. Er arbeitete als Literaturkritiker und Lektor und gilt als der Entdecker von
Arundhati Roy. Er lebt heute in New Delhi und Shimla.
Im Karl Blessing Verlag erschien 2001 sein erster
Roman Benares oder Eine Erziehung des Herzens.
Globalisierung wird die arme Bevölkerung tiefer in die Armut treiben. Davor
muss die Weltgemeinschaft Indien bewahren. Einfach eine minimale Anhebung der Entwicklungshilfe-Prozente ist
nur eine Placebo-Maßnahme.
Dr. Yousefi: Was hat dich dazu bewogen, Ramakrishna zu übersetzen?
Dr. Kämpchen: Ramakrishna steht an
der Schwelle vom traditionellen zum
modernen Hinduismus; wie alle Schwellenfiguren ist er aus diesem Grund interessant. Ramakrishna hat eine liebenswerte Ausstrahlung, weil er als Bauer, als
Mensch der Dörfer spricht – einfach und
plastisch und ohne ideologische Strenge.
Seine Gespräche mit seinen Schülern
sind von einem der Schüler notiert und
veröffentlicht worden. Aus dieser fünfbändigen Sammlung habe ich wesentliche, große Teile übersetzt und in bisher
zwei Bänden veröffentlicht. Ein dritter
Band wird folgen. Die Originalbände
sind auch ins Englische übersetzt worden, leider jedoch verfälschend. Die-se
englische Ausgabe, „The Gospel of Sri
Ramakrishna“, ist die Grundlage für die
Kenntnis dieses Heiligen in der ganzen
Welt geworden. Ich will dazu beitragen,
dass Ramakrishna durch eine genaue
Übersetzung echter verstanden wird.
Dr. Yousefi: Was soll deiner Ansicht
nach geschehen, um den indischeuropäischen Dialog zu verbessern?
Dr. Kämpchen: (a) Die philosophischen Grundtexte sollen in philologisch
korrekten und erläuterten deutschen
Übersetzungen besser zugänglich werden. (b) Die indische Literatur in ihren
Regionalsprachen soll von deutschen
Verlagen systematisch gefördert werden
(nicht nur die Romane indischer Autoren, die auf Englisch schreiben und
meist im Ausland leben). (c) Indische
Geschichte, Literatur, Philosophie sollen
– zumindest rudimentär – in Gymnasien
gelehrt werden. Das Universitätsfach
„Philosophie“ muss auch indische Philosophie lehren. (d) Schüler- und Studentenaustausch zwischen Europa und Indien müssen verstärkt werden. (e) Jede
überregionale Zeitung sollte auch über
indische Kulturentwicklungen (nicht nur
über Politik) berichten.
Dr. Yousefi: Wie würdest du dein Verhältnis zu deinen indischen Freunden
beschreiben?
Dr. Kämpchen: Um in Indien einen
Platz in der Gesellschaft einzunehmen,
muss man Mitglied einer Familie sein.
Ich habe nicht geheiratet, also habe ich
in Indien keinen sozialen Standort. Das
macht meine Einsamkeit aus, unter der
ich leide. Sie ist aber auch der Dynamo
meines spirituellen Lebens und meines
schreibenden Lebens. Zudem kann ich
verschiedene und sich ändernde Standpunkte einnehmen, wie es die Situation
verlangt. Meinen indischen Freunden
bin ich also älterer Bruder oder Lehrer
und Berater oder Kollege. Einige sehen
einen mönchischen Menschen in mir,
andere einen „Herumtreiber“. Einige haben einen verkappten christlichen Missionar in mir vermutet, der Menschen in
den Dörfern bekehren will. Einige wissen, dass ich sehr viele Opfer bringen
musste, um in Indien zu leben, und danken es mir. Viele wissen, dass ich als
Übersetzer und Interpret Tagore und
Ramakrishna in Deutschland bekannt
mache. Mehr über meine Vermittlerrolle
weiß beinahe niemand. Am meisten
erfreut mich mein Verhältnis zu den
schulisch ungebildeten, einfachen Bauern in den Dörfern: Sie können mich in
keine ihrer Kategorien einordnen, weil
sie nichts über meinen „background“
wissen. Darum nehmen sie mich einfach
so, wie ich bin. Ich begegne ihnen als
gleichgestellter,
partnerschaftlicher
Freund, also behandeln sie mich ungezwungen genauso. Das gefällt mir und
wird mir gerecht!
Dr. Yousefi: Was siehst du als dein
wichtigstes Werk oder dein Lebenswerk
an?
Dr. Kämpchen: Die gerechte und adäquate Vermittlung indischer Kulturen
und Religionen im deutschen Sprachgebiet, ohne Verherrlichung, Romantisierung oder Mystifizierung. Besonders der
Kulturen im dörflichen Indien, besonders der Kulturen der Stämme und ebenso besonders der Kultur der Armen, wo
sie auch leben.
Dr. Yousefi: Welche Projekte möchtest
du in der nächsten Zeit verfolgen?
Dr. Kämpchen: Der dritte, noch unveröffentlichte, Band meiner RamakrishnaÜbersetzung wird demnächst auf den
Druck vorbereitet, inzwischen hat er einen Verleger. Außerdem bringe ich eine
Auswahl meiner Essays aus den letzten
zwanzig Jahren heraus. Ich bin glück-
31
lich, dass dies nach mehrjähriger Bemühung gelingt.
Seit fünf Jahren habe ich nur Bücher
übersetzt und herausgegeben. Nun
werde ich wieder selbst schreiben: Ein
Buch, das die Lebensgeschichten der
einfachen Menschen in meiner Umgebung über eine Generation hinweg erzählt, entsteht gerade. Danach möchte
ich über meine Erfahrungen mit Armut,
mit armen Menschen, mit den Bemühungen, ihnen zu helfen, schreiben.
Effektive und zugleich liebevolle Hilfe
zu leisten und dabei selbst ohne Frustration und Enttäuschung davonzukommen, ist ein höchst komplexes und risikoreiches Unterfangen.
„
Indologie-Bücher
Die folgenden Indologie-Bücher von
dem bekannten Indologen Klaus
Mylius sind beim Helmut Buske Verlag, Hamburg, erhältlich:
Wörterbuch Pali-Deutsch
Mit Sanskrit-Index. 1997. 438 Seiten.
3-87548-393-6.
Wörterbuch Ardhamagadhi –
Deutsch. 2003. 663 Seiten. 3-87548395-2.
Wörterbuch des altindischen Rituals
Mit einer Übersicht über das altindische Opferritual und einem Plan der
Opferstätte. 1995. 147 Seiten, 1
Tafel. Broschur mit Fadenheftung.
3-87548-392-8.
Das altindische Opfer
Ausgewählte Aufsätze und Rezensionen. Mit einem Nachtrag zum „Wörterbuch des altindischen Rituals“.
2000. 588 Seiten. 3-87548-394-4.
Asvalayana-Srautasutra
Erstmalig vollständig übersetzt, erläutert und mit Indices versehen von
Klaus Mylius. 1994. 624 Seiten. Broschur mit Fadenheftung.
3-87548-390-1.
Anschrift: Helmut Buske Verlag, Richardstraße 47,
22081 Hamburg, Tel.: 040-299958-0,
E-mail: info@buske.de
Über Wahrheit
und die menschliche Wahrnehmung
Ein Streitgespräch zwischen Albert Einstein und Rabindranath Tagore
Einstein: Ich kann wissenschaftlich
nicht beweisen, dass die Wahrheit als
unabhängig vom menschlichen Bewusstsein gesehen werden muss; aber ich glaube fest daran. Ich glaube zum Beispiel,
dass der Satz des Pythagoras in der Geometrie etwas annähernd Wahres aussagt,
das unabhängig von der menschlichen
Existenz ist. Aber wie auch immer, wenn
es eine Wirklichkeit unabhängig vom
Menschen gibt, dann gibt es relativ dazu
auch eine Wahrheit, und auf die gleiche
Weise bringt die Negation des einen die
Existenz des anderen hervor.
Tagore: Wahrheit, die ja eins ist mit
dem Universellen Selbst, muss im
Wesentlichen menschlich sein, sonst
kann sie, was immer wir als Individuen
für wahr halten, nicht als Wahrheit
bezeichnet werden, zumindest nicht als
wissenschaftliche Wahrheit, die durch
logisches Schließen erreicht wird, also
ein Werkzeug des menschlichen Denkens. Der indischen Philosophie zufolge
gibt es Brahman, die absolute Wahrheit,
die nicht vom Verstand des isolierten
Individuums erfasst oder durch Worte
beschrieben werden kann. Sie lässt sich
nur dann erfassen, wenn das Individuum
sich mit dem Unendlichen verschmilzt.
Aber eine solche Wahrheit kann nicht
zur Wissenschaft gehören. Demnach ist
die Natur der Wahrheit, die wir diskutieren, eine Erscheinung, also etwas, das
dem menschlichen Verstand als wahr erscheint und darum zum Menschlichen
gehört. Eine solche Erscheinung wird in
Indien Maya oder auch Illusion genannt.
Einstein: Also Ihrer Vorstellung nach,
die wohl auch die indische ist, handelt es
sich hier nicht um eine Illusion des Individuums, sondern um eine Illusion der
Menschheit als Ganzes.
Tagore: Die Spezies gehört ebenfalls zu
einer Gattung, der Menschheit. Deshalb
erkennt auch der ganze menschliche Geist
die Wahrheit. Die indischen und europäischen Vorstellungen treffen sich hier.
Albert Einstein und Rabindranath Tagore 1930 in Berlin (Quelle: Frontline, 20.5.2005)
Einstein: Das Wort Spezies wird im
Deutschen für alle Lebewesen verwendet,
auch Affen und Frösche gehören dazu.
Tagore: In der Wissenschaft eliminieren
wir systematisch die Begrenzungen des
individuellen Verstandes und erreichen
so das wahre Bewusstsein des universellen Menschen oder des Universellen
Selbst.
Einstein: Das Problem besteht darin, ob
es Wahrheit unabhängig von unserem
Bewusstsein gibt.
Tagore: Was wir Wahrheit nennen, liegt
in der vernünftigen Harmonie zwischen
den subjektiven und objektiven Seiten
der Wirklichkeit, die beide zum überpersönlichen Menschen gehören.
Einstein: Sogar im täglichen Leben
fühlen wir uns veranlasst, Gebrauchsgegenständen eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit zuzuschreiben.
Das tun wir, um auf vernünftige Weise
unsere Sinneswahrnehmungen zu verbinden. Wenn zum Beispiel niemand zu
Hause ist, dann bleibt der Tisch trotzdem dort stehen, wo er ist.
32
Tagore: Ja, er bleibt außerhalb der individuellen Wahrnehmung, aber nicht
außerhalb des universellen Bewusstseins. Der Tisch, den ich wahrnehme,
kann wahrgenommen werden von jeder
Art Bewusstsein wie dem meinen.
Einstein: Wenn niemand im Haus wäre,
dann würde der Tisch genauso existieren. Aber das ist ja Ihrer Ansicht nach
schon illegitim – weil wir nicht erklären
können, was es bedeutet, dass der Tisch
unabhängig von uns existiert.
Unsere natürliche Ansicht von der Existenz der Wahrheit außerhalb des
menschlichen Bewusstseins kann nicht
erklärt oder bewiesen werden. Aber das
ist ein Glaube, ohne den niemand auskommt – auch ein Primitiver nicht.
Wir ordnen der Wahrheit eine übermenschliche Objektivität zu. Diese
Wirklichkeit, unabhängig von unserer
Existenz, Erfahrung und Vernunft, ist
unentbehrlich, obgleich wir nicht wissen, was sie bedeutet.
Tagore: Die Wissenschaft hat bewiesen,
dass der Tisch als solides Objekt eine
Erscheinung ist und dass das, welches
die menschliche Wahrnehmung als
Tisch registriert, nicht ohne sie existieren würde. Gleichzeitig muss man zugeben, dass die Tatsache, dass die eigentliche Realität des Tisches im Sinne der
Physik lediglich eine Vielzahl von separaten, rotierenden elektrischen Kraftfeldern ist, ebenfalls zur menschlichen
Erkenntnis gehört.
Beim Erkennen der Wahrheit tritt immer
wieder der Konflikt zwischen dem universellen menschlichen Geist und dem
individuellen Geist auf, der in dem universellen gefangen ist. Der kontinuierliche Versöhnungsvorgang dieses Konflikts setzt sich in der Wissenschaft, Philosophie und Ethik fort. Aber wie dem
auch sei, wenn es eine Wahrheit außerhalb der menschlichen Wahrnehmung
gibt, ist sie für uns absolut nichtexistent.
Man kann sich ohne Schwierigkeiten
einen Geisteszustand vorstellen, in dem
das Nacheinander der Dinge nicht räumlich stattfindet, sondern nur in der Zeit,
wie zum Beispiel eine Abfolge von
Tönen in der Musik. Für ein solches Bewusstsein ist das Begreifen der Wirklichkeit musikalisch, und die pythagoreische Geometrie kann in ihr keine
Bedeutung haben. Die Wirklichkeit des
Papiers ist vollkommen verschieden von
der Wirklichkeit der Literatur. Für den
Geist der Motte, die das Papier verzehrt,
existiert die Literatur überhaupt nicht.
Für den menschlichen Geist hingegen
hat die Literatur einen größeren Wahrheitswert als das Papier. Ähnlich kann
eine Wahrheit, die keinen sinnlich-rationalen Bezug zum menschlichen Bewusstsein hat, für uns Menschen nicht existieren.
Einstein: Dann bin ich religiöser als
Sie!
Tagore: Meine Religion besteht in der
Vermittlung des Über-Persönlichen
Menschen, oder des Universellen
Menschlichen Geistes, mit meinem individuellen Wesen. Das war das Thema
meiner Hibbert-Vorlesungen, die ich
„Religion der Menschheit“ genannt
habe.
„
(Auszüge aus dem Gespräch zwischen Rabindranath Tagore und Albert Einstein über die Natur der
Wirklichkeit am 14. Juli 1930. Quelle: Das Goldene Boot, Rabindranath Tagore.
Hrsg. von Martin Kämpchen, Winkler Weltliteratur, Patmos Verlag 2005.)
Gedicht
Das goldene Boot
Rabindranath Tagore
Am Himmel rumoren die Wolken,
Regen strömt herab.
Allein sitz ich am Ufer, ohne Hoffnung
bin ich.
Stöße von Reisgarben überall, die Ernte
ist vorbei.
Der schwellende Fluss wogt hart und
gewaltig;
Regenschauer überraschen die Schnitter.
Ein kleines Reisfeld – nur ich bin darauf.
Wasser wirbelt und strudelt allüberall.
Am andern Ufer wie ein Gemälde – ein
Dorf im Morgenlicht,
geduckt unter den Schatten der Bäume
und Wolken.
Diesseits das kleine Feld, nur ich bin
darauf.
Wer kommt singend zum Ufer gerudert?
Mir scheint, ich kenne sie.
Das Segel gebläht, den Blick voraus,
mühelos
Das wogende Wasser teilend, nähert sie
sich.
Mir scheint, ich kenne sie.
O, wohin fährst du, zu welch fremdem
Land?
Leg an dein Boot und komm ans Ufer!
Fahre, wohin du magst, gib, wem du
willst,
doch komm ans Ufer und schenk mir ein
Lächeln.
Meinen goldgelben Reis nimm mit
dahin.
Häufe hoch auf dein Boot, soviel du
willst.
Gibt’s noch mehr? – Nein, alles hab ich
gegeben!
Meiner langen Mühe Ernte an diesem
Ufer,
alles ist zu hohen Stapeln aufgeladen.
Nimm jetzt, ich bitte dich, auch mich auf
ins Boot.
Kein Platz für mich? – Das Boot ist zu
voll,
gefüllt mit dem eigenen goldgelben
Reis!
Quer über den Regenhimmel hasten
schwere Wolken;
Am leeren Ufer bleib ich zurück.
Mein Hab und Gut, alles trug das goldene Boot davon.
(Quelle: Das goldene Boot. Lyrik, Prosa, Drama.
Rabindranath Tagore, Winkler Weltliteratur, Patmos Verlag, 2005)
Hohe Auszeichnung
für Amrita Pritam
Amrita Pritam wurde in Frankreich
mit dem ¸Prix littéraire de la route
des Indes’ für ihren Roman ¸Pinjar’
(„Skelett“) ausgezeichnet, der in
Frankreich bei Editions Kailash
erschienen ist. Amrita Pritam war die
erste Frau, die mit dem ¸Sahitya Academy Award’ bedacht wurde.
Obwohl sich ihre Werke kritisch mit
dem Sozialismus auseinandersetzen,
wurde sie in viele osteuropäische
Sprachen übersetzt; darüber hinaus
ins Französische, Japanische und
Dänische. Die 1919 geborene Autorin gibt monatlich die Zeitschrift
Nagmani auf Punjabi heraus und hat
zahlreiche Gedichtbände, Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht.
Ihre Werke wurden als „lyrischer
Aufschrei einer Frau vis-á-vis dem
weiblichen Schicksal und gesellschaftlichen Missständen“ definiert.
In deutscher Übersetzungen gibt es
von Amrita Pritam nur einige wenige
Texte in Anthologien.
(Quelle: Literatur-Nachrichten, Herbst 2005)
33
Interview Aktuell
Softwareprogramm für Homöopathie
Ein Gespräch mit dem bekannten indischen Homöopath Dr. Jawahar Shah
Neben Ayurveda (Wissen vom langen Leben), das auf den altindischen vedischen
Schriften basiert, ist auch die Homöopathie, die von dem deutschen Arzt Christian
Friedrich Samuel Hahnemann (1755-1843) begründete Heilkunde, in Indien sehr
populär. Im April 2005 wurde mit Konferenzen, Vorträgen und Workshops dessen 250.
Geburtstags gedacht. Im Rahmen der „National Homoeopathic Conference“ wurde
Dr. Jawahar Shah von der „Homoeopathic Medical Association of India, Gujarat
State“ für seine Verdienste um die Weiterentwicklung und Verbreitung dieser Heilkunde mit der Verleihung einer Ehrenmedaille ausgezeichnet.
Dr. Jawahar Shah ist ein sehr erfolgreicher „Consulting Homoeopath“. Er ist Mitglied des „Central Council of Homoeopathy, Ministry of Health and Family Welfare,
Government of India“. Er reist rund um die Welt, organisiert Seminare und Work-shops, auf denen er das von ihm entwickelte
Software-Programm „Hompath” vorstellt und mit den Teilnehmern diskutiert. In sein Forschungsinstitut in Mumbai kommen
HeilpraktikerInnen aus vielen Ländern, auch aus Deutschland, um ihre homöopathischen Kenntnisse zu vertiefen und sich mit
diesem Software-Programm vertraut zu machen. Während ihres letzten Indienaufenthalts hatte Frau Dr. Gosalia Gelegenheit,
Dr. Shah kennenzulernen und ein Interview mit ihm zu führen, das wir im Folgenden abdrucken.
Dr. Gosalia: Dr. Shah, wie kamen Sie
zur Homöopathie? Warum studierten Sie
nicht Allopathie oder unsere alte medizinische Wissenschaft Ayurveda?
Dr. Shah: In meiner Familie gibt es vier
praktizierende Homöopathen. Seit meiner Geburt wurde ich nur homöopathisch behandelt, und ich bin überzeugt,
dass ich dem meine gute Gesundheit und
meine Ausgeglichenheit verdanke. Ayurveda hat viele Vorzüge, aber ich bin mit
diesem System nicht so vertraut, um
eine Anwendung zu wagen.
Dr. Gosalia: Seit wie vielen Jahren
praktizieren Sie Homöopathie? Glauben
Sie, dass die Menschen allgemein dieser
„sanften Medizin“ zunehmend den Vorzug vor der Allopathie geben?
Dr. Shah: Seit 29 Jahren praktiziere ich
Homöopathie. Fast jeden Tag kommt der
eine oder andere „Schulmediziner“ zu
mir zur Behandlung. Da homöopathische Mittel praktisch ohne Nebenwirkungen sind, werden sie vor allem von
gebildeten Patienten bevorzugt. Sehr gut
bewährt haben sie sich bei allen stressbedingten Erkrankungen.
Dr. Gosalia: Können mit Homöopathie
auch moderne Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetis, Stoffwechselstörungen und verschiedene Infektionen
geheilt werden? Helfen homöopathische
Mittel auch gegen Arthritis?
Dr. Shah: Ja. Homöopathie kann auch
bei Arthritis helfen, die Schmerzen lindern und Schwellungen abklingen lassen. Vor allem kann sie helfen, die
Widerstandskräfte des Körpers zu stärken.
Dr. Gosalia: Dr. Shah, wie kamen Sie
auf Ihr Konzept zur Entwicklung eines
Software-Programms für die systematische Erfassung aller Informationen über
das weite Gebiet der Homöopathie? In
wie vielen Ländern und in welchen
Sprachen ist Ihr „Hompath“-Programm
bereits abrufbar bzw. wird es verkauft?
Dr. Shah: Die Idee dazu kam mir auf
einer Reise von Washington nach New
York. Damals – es war 1980 – stieß ich
auf ein interessantes Buch über die Rolle
von Computern in der Medizin. Das
Buch enthielt sehr viel über alle möglichen Konzepte für die Nutzung von
Computern in der Medizin. Die Homöopathie wurde jedoch überhaupt nicht
erwähnt. In der Homöopathie gibt es rd.
3000 verschiedene Mittel und Millionen
von Symptomen, die man kennen muss.
Kein menschliches Gehirn könnte sie im
Gedächtnis behalten. Daher sind gerade
hier Computer besonders notwendig.
Wir haben inzwischen 100.000 Seiten an
34
Informationen in „Hompath“ gespeichert. Mit minimalem Zeitaufwand können für jedes Symptom die Daten und
Hinweise auf Alternativen gewonnen
werden. Der Computer ist ein Werkzeug
(a tool), ein Hilfsmittel auch zur Simulierung von Krankheitsprozessen und
Therapien. Jeder wirklich gute Arzt und
jeder sich um seine Patienten sorgende
Homöopath wird das zugunsten seiner
Patienten nutzen. Wer nur ans Geldverdienen denkt, tut es natürlich nicht. Z.
Zt. Haben wir etwa 25.000 Nutzer in 80
Ländern. Die Software ist auf Englisch
verfügbar, seit Mai 2005 auch auf
Deutsch und ab November wohl auch
auf Französisch und Portugiesisch.
Dr. Gosalia: Was bieten Sie in Ihren
Seminaren und Workshops den Teilnehmern vor allem an?
Dr. Shah: Vor allem teile ich meine
Erfahrungen anhand konkreter Fallbeispiele mit – Erfolge, aber auch Fehler.
Das ist m.E. die beste Möglichkeit, den
Teilnehmern praktische, solide Homöopathie nahe zu bringen.
Dr. Gosalia: Wie beurteilen Sie die
Zukunftschancen der Homöopathie gegenüber der Allopathie? Worin bestehen
die wesentlichen Unterschiede zu Ayurveda – auch im Hinblick auf die Heilerfolge?
Dr. Shah: Homöopathie wirkt auf alles,
was heilbar ist, und schafft Erleichterung in unheilbaren Fällen. Wir haben
z.B. einem jungen Mädchen helfen können, das an Nephritis (Nierenentzündung) erkrankt war und bei dem die
Gefahr bestand, dass es das Augenlicht
einbüßt. Das Mädchen hat sich völlig
erholt und führt nun ein ganz normales
Leben. Wir haben Krebskranke 100%
schmerzfrei machen können, bei denen
Morphium wirkungslos blieb. Homöopathie wirkt schnell, sanft und nachhaltig.
Ayurveda ist eine exzellente Wissenschaft. Aber Ärzte, die danach arbeiten,
geben ihre Kenntnisse selten weiter –
außer an einzelne Schüler. Unser nächstes Projekt ist deshalb „Ayusoft“, das
wir zusammen mit „Ayurvedic Physicians, Govt. Of India, C-Dac“ (Dr. Medha
and Dr. Bhushan) entwickeln.
Dr. Gosalia: In jüngster Zeit wird Ayurveda in den westlichen Ländern zunehmend populär. Viele Patienten kommen
zu Behandlungen nach Kerala. Wie ist
das bei der Homöopathie?
Dr. Shah: Homöopathie wird vor allem
in den gebildeten Kreisen immer populärer. Tausende von Ärzten aus der
ganzen Welt kommen zu uns nach Indien, um mehr über diese Wissenschaft zu
lernen. Das spricht für deren Bedeutung
in Indien.
Dr. Gosalia: Haben Sie auch in
Deutschland schon Seminare und Workshops organisiert?
Dr. Shah: Ja. Es kommen viele Studenten und einige Patienten aus Deutschland zu mir. Wir organisieren regelmäßig intensive Trainingsprogramme
für Lehrer und Studenten. In Deutschland habe ich 2 Seminare durchgeführt:
in München und in Berlin. Im April habe
ich an dem „LIGA Congress“ anlässlich
des 250. Geburtstages von Hahnemann
teilgenommen und seinen Geburtsort in
Deutschland besucht.
Dr. Gosalia: Wir danken Ihnen vielmals,
Dr. Shah.
(Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Lauschmann)
Kunst
Jyoti Sahi wieder einmal
zu Gast in Deutschland
Jyoti Sahi ist wohl bekannt. Er
wurde 1944 in Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra geboren und lebt heute im
südindischen Silvepura. Dort
gründete er 1978 ein Zentrum
des interkulturellen Dialogs:
International School of Art
and Peace (INSCAP). Berühmt wurde er durch seine
Hungertücher von 1976 und
1984.
¸Missio’ (Aachen) verkauft
Mandalas von Jyoti Sahi über Jyotis Sahi - ein christlicher Künstler aus Indien (Quelle: Missio-Brodas Internet [www.missio- schüre „Der Geist, der alles durchdringt und lebendig macht“ S. 5).
aachen.de/angebote-medien/
shop/relico/folieset_mandalas_von_jyot Vor zwei Jahren entschloss sich Ursula
i_sahi.asp#0] und auf der Website der Bickelmann, eine monographische AbGossner-Mission [www.gossner-missi- handlung über Jyoti Sahi zu verfassen.
on.de/service. html#1] findet man ein Aus diesem Anlass wurde der Künstler
Angebot von Diaserien zum Ausleihen aufgefordert, eine Serie von Linolschnitzu folgenden Werken von Jyoti Sahi:
ten zu schaffen, die im Buch abgebildet
– Hungertuch aus Indien, 10 Dias zum sind und während der Begleitausstellung
Misereor-Hungertuch mit Textbuch, zum Erscheinen des Bandes in der Ka– Der Mythos Chota Nagpur, 13 Dias tholischen Hochschulgemeinde Würzmit Textbuch,
burg vom 17.10. bis 10.11.2005 ausge– Vater Unser - Das große missionari- stellt waren. Die Monographie enthält
sche Gebet, 8 Bilder mit Textbuch. folgende sieben Linolschnitte in verkleinerter Reproduktion (angepasst an das
Es ist der Initiative der Heidelberger Buchformat von 15 x 23cm):
Kunsthistorikerin Ursula Bickelmann zu – Psalmenmeditation. Vor dem Sonnenverdanken, dass Jyoti Sahi seine neueren
aufgang. Originalgröße 22 x 40 cm
Werke in diesem Jahr an verschiedenen – Psalmenmeditation. Im Sturm. 22 x
Orten ausstellte und ausstellen wird. Sta40 cm
tionen bisher waren Würzburg und – Psalmenmeditation. An den WasMünchen. Eine Ausstellung in Berlin
sern von Babylon. 22 x 40 cm
wird noch folgen.
– Pfingsten. 18,5 x 30 cm
– Die Auferstehung. 18,5 x 30 cm
Seitdem Frau Bickelmann mehrere Jahre – Psalmenmeditation. Es warten alle
in Indien lebte, kennt sie sowohl die
auf Dich. 18,5 x 30 cm
Arbeiten von Jyoti Sahi als auch seinen – Damit sie Gott suchen. 18,5 x 30 cm.
Ashram in Silvepura. Von 1984 bis 1989
weilte die Pastorenfamilie Bickelmann Außerdem gibt es ein vierseitiges Einlein Mumbai. Ursula Bickelmann unter- geblatt mit zwölf verkleinerten
richtete an der deutschen Schule Bom- Schwarz-Weiß-Reproduktionen von
bay, nutzte jedoch die Freizeit, um ihrem Werken Sahis aus den Jahren 1983 bis
Beruf nachzugehen. So lernte sie die 1997 nebst einem Portrait-Foto des
zeitgenössische Kunstszene Bombays Künstlers. Aus der Bildserie ¸Der
(britischer Name für Mumbai) aus un- Mythos von Chota Nagpur’ ist z.B. das
mittelbarer Betrachtung kennen und Bild ¸Alle Asuren’ (Öl auf Leinwand)
publizierte darüber in Indien und in reproduziert.
Deutschland. Sie fuhr auch in die Nähe
von Bangalore, um Jyoti Sahi in seinem Frau Bickelmann hat ihr Wissen über
Ashram-Atelier in Silvepura zu treffen. Jyotis Sahis Kunst in 12 Kapiteln auf
35
knapp 100 Seiten präsentiert. Dazu gibt
es eine umfangreiche Literaturliste, um
für die weitere Lektüre eine erste Orientierung zu haben. Neben der Künstlerbiografie erfahren wir viel über die soziale Konditionierung und die Theologie
Jyoti Sahis. Er selbst schreibt über sich
und sein Ideal in der 1986 in Bangalore
erschienenen Autobiografie: „Der religiöse Künstler muss grundsätzlich ein
religiöser Mensch sein, der ein religiöses Leben führt.“ (Bickelmann 2005:
S. 66).
gekonnt die für diese Serie spezifische
Formensprache, die „herb sehnsuchtsvolle Gestik“ und das grelle Licht.
Das Buch zeichnet sich durch klare
Strukturierung, sehr originelle Gedankenführung und das ansprechende Layout des jungen Typographen Moritz Junkermann aus. Zudem ist es sehr kompakt
Ursula Bickelmann analysiert seine
Arbeiten theologisch sehr exakt und der
Leser spürt, dass sie sich in den aktuellen Theologien genauso gut auskennt
wie in den kunsthistorischen, psychologischen und soziologischen Diskursen
der Moderne und Gegenwart in Indien:
„Aus der Verflechtung von Kunst und
Leben entwickelt Jyoti Sahi eine Theologie der indischen christlichen Kultur,
in der alles auf die Gleichzeitigkeit von
künstlerischer und religiöser Kreativität
hinausläuft.“ Die Autorin deutet die ästhetischen Prozesse als Einkehrprozesse,
das Kunstwerk als einen „Ort der Symbiose von Sein und Mitteilung. Es ist das
Echo eines harmonischen Dreiklangs
von Maya (kreative Phantasie), Lila
(Spiel) und Ananda (unermessliche
Freude).“ (S. 66)
Einen größeren Abschnitt des Bandes
nimmt das Thema der Unberührbarkeit
ein. Denn Jyoti Sahi gibt diesen – zumeist zum Christentum konvertierten –
Ausgegrenzten viel Raum in seiner
künstlerischen Produktion, und ihnen
gilt seine ganze Sympathie. Hier trifft er
sich mit den Aktivitäten der GossnerMission in Indien [vgl. www.gossnermission.de/organisation].
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass
Jyoti Sahis Bildzyklus ¸Der Mythos von
Chota Nagpur’ in den Räumlichkeiten
der Gossner-Mission in Berlin ständig
präsent ist. Zu dieser Serie schrieb bereits Hugold Grafe in einer Broschüre
anlässlich einer Ausstellung des Bilderzyklusses in Esslingen 1992 mit dem
Titel ¸Christliche Kunst aus Indien’
(verlegt durch die Gossner-Mission Berlin). Ursula Bickelmann erklärt die Umstände für die Entstehung des Zyklusses,
der die „Legende vom Aussterben des
Stammes der Asuren, die in dem Gebiet
des ehemaligen Chota Nagpur siedelten“
(S. 80), illustriert, und analysiert sehr
Literarisches Treffen
Es leben ca. 8.000 Inder und Inderinnen aus dem südindischen Staat
Kerala in Deutschland. Auch in
anderen EU-Ländern wie Österreich,
Frankreich und Italien gibt es viele
Inder und Inderinnen, die aus Kerala
stammen. Einige dieser Inder/Inderinnen haben Literatur als Hobby.
Sie schreiben Kurzgeschichten, Gedichte, humorvolle Texte etc. in ihrer
Muttersprache Malayalam und veröffentlichen diese in Zeitschriften,
die in Europa erscheinen. In
Deutschland erscheinen zur Zeit drei
Zeitschriften in der MalayalamSprache, nämlich „Ente Lokam“
„Rashmi“ und „Wartha“, die regelmäßig literarische Texte hier lebender Inder/Inderinnen veröffentlichen.
Auch in den Vereinigten Staaten und
Kanada leben Inder und Inderinnen
aus dem südindischen Staat Kerala,
die literarisch tätig sind. Sie haben
ihre eigenen Zeitschriften/Zeitungen
dort, die regelmäßig die literarischen
Werke dortiger Migranten/Migrantinnen veröffentlichen.
in Umfang und Format. M.E. gehört es
in jede Bibliothek, die als Sammelschwerpunkte das zeitgenössische Indien, die christliche Gegenwartskunst
bzw. den interkulturellen Dialog hat.
Jyoti Sahi war im Oktober in Deutschland, um seine Kunst zu präsentieren
und über seine Ästhetik und Theologie
zu referieren. Im Rahmen des von ¸Missio’ München organisierten „Monats der
Weltmission“ leitete er Workshops in
München, Aschaffenburg und Würzburg.
- Falk Reitz, Berlin
Ursula Bickelmann: Ursprung und Vorstellung.
Jyoti Sahi. Moderne indische Kunst im interkulturellen Dialog. Heidelberg: Draupadi Verlag, 2005
(ISBN 3-937603-03-4).
Zu bestellen bei:
Draupadi Verlag. Christian Weiss, Dossenheimer Landstr.
103, 69121 Heidelberg, e-mail: chris.weiss@t-online.de
36
Vertreter dieser beiden Gruppen
kamen neulich zusammen zu einem
literarischen Treffen in der Jugendakademie Köln in Walberberg. Das
Treffen wurde gemeinsam vom Zentralkomitee der Kerala-Vereinigungen in Deutschland und dem Literary
Association of North America (Lana)
mit Unterstützung von Malayalee
Writers Forum in Europa organisiert. An der Veranstaltung, die vom
21.-25. Oktober 2005 stattfand, nahmen ca. 70 Personen, einschließlich
von ca. 20 Delegierten aus Kanada
und den Vereinigten Staaten, teil. Als
Gäste waren der bekannte Dichter
und der Generalsekretär der Literaturakademie Indiens (New Delhi) Dr.
K. Satchidanandan sowie der bedeutende Malayalam-Schriftsteller Dr.
George Onakkur anwesend. Neben
Vorträgen und Diskussionen gab es
bei der Veranstaltung auch Lesungen
von Texten, die von den Teilnehmern
verfasst worden sind. Man hat den
Wunsch geäußert, ein ähnliches Treffen bald in Kanada oder den Vereinigten Staaten zu organisieren.
- JP
Buchbesprechung
„Toleranz“– Begriff, Inhalt und Anwendung
Neue Bücher zum Thema interkultureller und interreligiöser Dialog
Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive. Ram Adhar Mall, Gustav-Mensching-Vorlesungen für interreligiöse Toleranz, Band 2, Frankfurt a.M. 2003. 55 Seiten.
Buddhistische Lehre und die inhaltliche Toleranz. Eine interkulturelle Einführung. Ram Adhar Mall, Bearbeitet und herausgegeben von Hamid Reza Yousefi und Ina Braun. Bausteine zur Mensching-Forschung. Interkulturelle Bibliothek im Verlag
Traugott Bautz, Band 9, Nordhausen 2005. 167 Seiten.
Mahatma Gandhi interkulturell gelesen. Ram Adhar Mall, Interkulturelle Bibliothek im Verlag Traugott Bautz, Band 27,
Nordhausen 2005. 130 Seiten.
Toleranz im interkulturellen Kontext. Monika Kirloskar-Steinbach, Interkulturelle Bibliothek im Verlag Traugott Bautz,
Band 30, Nordhausen 2005. 126 Seiten.
Ram Adhar Mall beschäftigt sich seit
den 90-er Jahren unter unterschiedlichen
Aspekten mit Fragen pluralistischer Gesellschaften, interkultureller Philosophie
und Religionswissenschaft. Bereits 1993
schrieb er: „Wir bedürfen im heutigen
Weltkontext eines hermeneutischen
Modells, das die Einsicht ‚Wir alle sind
Menschen’, ernster nimmt, als es je
geschehen ist. Es gibt intra– und interreligiöse Verstehensprobleme. Es gibt in
uns aber auch ein tief verankertes Gefühl der Bezogenheit auf eine ewige
Mitte, welches nicht aufhört, uns zu
sagen: Trotz aller unterschiedlicher Formen in Kultur, Ritus und Glauben gibt
es das verbindende Eine, das Vielfalt
zwar zulässt, aber auch Einheit ohne
Einheitlichkeit stiftet. Es geht um die
Hermeneutik des Einen mit den vielen
Namen.“1
Mall plädiert für eine analogische Hermeneutik, die eine religio perennis in
vielen Religionen erscheinen lässt. In
seinen zahlreichen Büchern, Aufsätzen
und Vorträgen2 versucht er, einen effektiven interreligiösen und interkulturellen
Dialog in einer zunehmend globalisierten, multikulturellen Weltgesellschaft
anzuregen und zu beeinflussen. R.A.
Mall ist Gründer und Präsident der
„Internationalen Gesellschaft für interkulturelle Philosophie“. Für Mall ist ein
interkultureller Dialog umfassender als
ein interreligiöser.
Das Buch „Zur Theorie und Praxis der
Toleranz“ geht auf eine Vorlesung im
Mai 2002 an der Friedrich Schiller-Universität in Jena zurück. Nicht Begriffsund Ideengeschichte stehen hier im Mittelpunkt, sondern „die Sache der Toleranz ..., die die Forderung nach dem
Dialog zwischen Kulturen, Religionen,
Philosophien und politischen Weltanschauungen realisieren hilft. … Die
Toleranz wird so durch eine Haltung
definiert, die erstens von dem Primat der
Fragen vor den Antworten ausgeht…,
zweitens die unterschiedlichen Zugänge
zur Lösung als gleichrangig ansieht,
drittens die kulturelle Sedimentiertheit
der Zugänge, einschließlich des eigenen,
einsieht und so viertens die Gesinnung
der Toleranz mit der Anerkennung verbindet.
„Die Tugend der Toleranz ist nicht sui
generis da, sie ist eine abgeleitete
Tugend.“ (Vorwort, S. 9). Kritisch werden die Konzeptionen einer interreligiösen Hermeneutik und einer unparteiischen Religionsphilosophie behandelt.
Ein eigenes Kapitel ist dem neohinduistischen Mystiker Ramakrishna Paramhansa und seiner Idee von der „Bruderschaft aller Religionen“ gewidmet (S.
32–36). Die abschließenden Betrachtungen sind als „religionswissenschaftlicher Imperativ“ bzw. eine Art „interkulturelles und interreligiöses Ethos“ formuliert, das uns befähigt, „im Sinne
einer Anerkennung und Respektierung
der anderen Ansichten tolerant zu sein.“
(S. 50).
Das Buch „Buddhistische Lehre und
die inhaltliche Toleranz“ basiert auf
einer Veröffentlichung des Autors aus
dem Jahr 1990 unter dem Titel „Buddhismus – Religion der Postmoderne?“, die
längst vergriffen war. Sehr aufschlussreich sind Malls Darstellung und Analyse des ethischen Ideals des Buddhismus, seiner verschiedenen Richtungen
37
(Schulen der buddhistischen Philosophie) und die Vergleiche zwischen
Buddhismus, Hinduismus, Islam und
Christentum. In den einleitenden Kapiteln werden die Entstehung des Buddhismus und die Persönlichkeit Buddhas
(„vom Gautama zum Buddha“) eindrucksvoll geschildert. Auch in diesem
Werk kommt R.A. Mall immer wieder
auf sein Konzept der interkulturellen
analogischen Hermeneutik zurück. Dem
Themenkomplex „Interkulturalität und
Interreligiösität“ ist ein eigenes Kapitel
gewidmet, in dem die interkulturelle
Orientierung des Buddhismus herausgearbeitet wird (vgl. Kap. 7). Folgende
Feststellungen seien daraus zitiert:
„Eine interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie muss die Forderung nach einer Theorie erfüllen, nach
der weder die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, noch die Begriffe,
Methoden, Auffassungen und Systeme,
die wir dabei entwickeln, historisch unveränderliche, apriorische Größen darstellen. … Das Motto einer interkulturellanalogischen Hermeneutik lautet
daher: Verstehen-Wollen und Verstanden-Werden-Wollen gehören zusammen
und stellen zwei Seiten derselben hermeneutischen Münze dar.“ (S. 136)
Toleranz ist gewährte Freiheit
In diesem Buch geht es nicht darum, die
Göttlichkeit Buddhas aufzuzeigen, sondern sein Menschsein, seinen Weg und
seinen Dharma (Gesetz, buddhistische
Lehre und Religion) im Kontext inhaltlicher Toleranz zu verdeutlichen. „Formal
betrachtet, ist Toleranz nichts anderes
als die gewährte Freiheit der religiösen
Entscheidung. Inhaltliche Toleranz hin-
gegen ist gekennzeichnet durch eine
positive Haltung der Anerkennung der
Wahrheit auch in den anderen Religionen“, (S. 150), so Mall.
Resümierend konstatiert Mall: „Eine
Auseinandersetzung mit den anderen
Religionen, Anschauungen und Systemen ist das Gebot der Stunde. Gerade ist
das Problem der Toleranz eine Aufgabe,
die gelöst werden muss. Dies kann nicht
nur auf akademischem Wege geschehen,
sondern es ist ein Anliegen, das heute
die menschliche Existenz zutiefst
betrifft.“ (S. 145)
Dieses nun neu herausgegebene Buch
Malls ist gut lesbar und ein nützliches
Kompendium, um sich mit dem Wesen
des Buddhismus vertraut zu machen und
seine Bedeutung für eine „inhaltliche
Toleranz“ zu erkennen. In seinem Buch
über Mahatma Gandhi berichtet R.A.
Mall nicht nur über die wichtigsten Stationen im atemberaubenden Leben dieses Mannes, der sich bis zuletzt für die
politische und kulturelle Einheit Indiens
einsetzte, sondern es werden auch seine
Prinzipien und Methoden der Wahrheitssuche, Gewaltlosigkeit und des zivilen
Ungehorsams im Kontext des interkulturellen Verständnis von Toleranz kritisch
analysiert und kommentiert. Dazu heißt
es:
„Heute ist fraglich, ob in der damaligen
gespannten Lage Gandhis Lieblingsausdruck ‚Ramrajya’ (Herrschaft des gerechten Königs Rama) passend war. Der muslimische Bevölkerungsanteil, allen voran
Jinaha, konnte diesen Ausdruck nicht in
einem säkularen Sinne verstehen. …
Gandhis interkulturelle und interreligiöse
Haltung war vielen kulturalistischen
Denkern suspekt. …Gandhi konnte ebenso tolerant, einsichtig, verzeihend und
weitherzig sein wie tyrannisch, unduldsam und starrsinnig. Auch haftet seinem
Leben und Wirken etwas Anachronistisches und Anarchisches an.“ (S. 125f.)
Mall verweist auf die Meinungen von
Martin Buber, Karl Jaspers, Max Schelers
u.a. über Krieg, Frieden und Toleranz
im Vergleich zu Gandhis Gedankengut
und konstatiert, „dass Gandhis Ideen in
der Friedensforschung nach dem zweiten
Weltkrieg in Europa nicht die ihnen
gebührende Anerkennung fanden, mag
auch daran liegen, dass Denker wie
Martin Buber und Karl Jaspers die universale Anwendbarkeit der Methode der
Gewaltlosigkeit unterschätzen.“ (S. 112–
113)
Malls Stärke liegt in seinen kritischen
Reflexionen über Gandhis interkulturel-
Ist Bewusstsein wissenschaftlich ergründbar ?
Dalai Lama
Das Glück, jemandem zu begegnen,
den wir lieben, der Schmerz, eine gute
Freundin zu verlieren, die Fülle eines
Traums, der uns noch lebhaft vor
Augen steht, die friedliche Stimmung
eines Frühlingstags, die tiefe Sammlung in der Meditation – all das ist die
Wirklichkeit unserer Bewusstseinserfahrung. Ganz gleich, was der Inhalt
dieser Erlebnisse im Einzelnen auch
sein mag, niemand wird ihre Realität
ernsthaft infrage stellen können. Trotz
der unbezweifelbaren Wirklichkeit unserer Subjektivität und obwohl Philosophen sich seit Tausenden von Jahren
Gedanken über dieses Phänomen gemacht haben, stehen wir vor dem Paradox, dass es nur sehr wenige Übereinstimmungen gibt, wenn wir das Bewusstsein theoretisch zu ergründen versuchen. Die Wissenschaft, die immer
die Perspektive der dritten Person einnimmt – die objektive Sicht von außen –
hat in diesem Fall erstaunlich wenige
Fortschritte zu verzeichnen.
Viele Wissenschaftler begreifen das
Bewusstsein als einen physiologischen
Prozess, der aus der Struktur und Dynamik des Gehirns hervorgeht. Ich
erinnere mich noch lebhaft an eine Diskussion, die ich vor mehreren Jahren
mit angesehenen Neurobiologen der
medizinischen Fakultät einer amerikanischen Universität geführt habe.
Nachdem sie mir freundlicherweise die
neuesten wissenschaftlichen Apparate
vorgeführt hatten, mit deren Hilfe sie
immer tiefer in die Struktur des Gehirns eindringen konnten – Magnetresonanztomografie und Elektroenzephalografie – und mir schließlich mit dem
Einverständnis der Familie des Patienten auch noch erlaubt hatten, eine Gehirnoperation mitzuverfolgen, setzten
wir uns zusammen und sprachen über
die wissenschaftliche Auffassung vom
Bewusstsein. Ich fragte einen der Wis-
38
le Relevanz im Kontext der aktuellen
Weltprobleme von Gewalt und Gegengewalt sowie im Zusammenhang mit
Ressourcenverschwendung und Raubbau an der Natur. Auch der Vergleich der
Lehren von Karl Marx und von Gandhi
ist sehr signifikant, um Gandhi im heutigen Kontext besser zu verstehen.
Monika Kirloskar-Steinbachs Buch
kann als eine ergänzende Studie zu R.A.
Malls Arbeiten zum Thema „Toleranz
im interkulturellen Kontext“ bezeichnet
werden. Im 1. Kapitel geht es um die
neuen Herausforderungen, die die global
werdende Kultur an die Philosophie stellen. „Die intrakulturelle Aufklärungsarbeit soll besonders im Falle der westlichen Philosophie mehr als überfällig
sein, da sich diese philosophische Tradition als Mittelpunkt des Philosophierens
schlechthin betrachtete und allen anderen Traditionen die Fähigkeit zum Philosophieren absprach. Auf diese Weise
wurde die eigene Vormachtstellung gesichert. …
‚Was wir zu tun haben, ist schlicht: auf
die Suche gehen nach Stimmen aus dem
philosophischen Denken der anderen’
(F.M. Wimmer) … Hier rückt das Interkulturelle in den Vordergrund, auch
wenn die intrakulturelle Aufklärungsar-
senschaftler: „Offensichtlich hängen
viele unserer subjektiven Erfahrungen
– Wahrnehmungen und Empfindungen
zum Beispiel – von Veränderungen der
chemischen Prozesse im Gehirn ab. Ist
die Umkehrung dieses Verhältnisses
von Ursache und Wirkung denkbar? Ist
es vorstellbar, dass das Denken selbst
Veränderungen der chemischen Prozesse im Gehirn bewirken kann?“ Mich
interessierte dabei, ob die Umkehrung
dieses kausalen Prozesses zumindest
theoretisch vorstellbar ist.
Die Antwort des Wissenschaftlers war
sehr überraschend für mich. Da alle
mentalen Ereignisse aus physikalischen Prozessen entstünden, sagte er,
sei eine solche Umkehrung nicht denkbar. Obwohl ich aus Höflichkeit nicht
weiter darauf einging, dachte ich damals und denke auch heute noch, dass
es keine wissenschaftliche Grundlage
für eine solche Behauptung gibt.
(Quelle: „Licht ins Labor“, Die Zeit 15.09.05)
beit nicht als weniger wichtig zu
betrachten ist. Als Pioniere auf diesem
Gebiet möchten interkulturelle Philosophen einen Beitrag zu einer ‚Philosophie
im Vergleich der Kulturen’ (Mall), oder
zu einer interkulturellen Philosophie leisten. … Für intrakulturelle und interkulturelle Aufgaben ist ein Dialog unverzichtbar. … In der interkulturellen Diskussion … sollen so viele Teilnehmer
wie möglich miteinbezogen werden.“
(S. 10, 11, 13). In Kapitel 2 und 3 setzt
sich die Autorin mit dem Begriff Toleranz in der politischen Philosophie und
in liberalen Staaten auseinander. In
Anlehnung an Charles Taylors „Politik
der Differenz“ wird betont, dass der
Staat die unverwechselbare Identität
eines Individuums oder einer Gruppe
gegenüber allen anderen anzuerkennen
hat. „Die Politik der Differenz möchte
eine Brücke zwischen dem Universalismus und Partikularismus bauen: Alle
Staaten sollen in ihrem Umgang mit
allen Bürgern die Partikularität einzelner
Bürger oder einzelner Gruppierungen
ernst nehmen, weil alle Menschen das
Potential haben, eine individuelle bzw.
kollektive Identität hervorzubringen und
zu definieren.“ (S. 49f.)
Duldung ist nicht Anerkennung
Von besonderer Bedeutung sind die kritischen Bezugnahmen auf die gegenwärtigen Debatten über Kopftuch– oder
Turbantragen sowie traditioneller Kleidung (z.B. indische Sari) in europäischen Ländern (vgl. S. 50-82). Dazu
weist M. Kirloskar darauf hin, dass sich
die Vertreter einer interkulturellen Philosophie mit Recht von einer Duldungspraxis distanzieren und darauf bestehen,
dass eine tolerierte Ansicht oder Praktik
nicht in einem ewigen Duldungsstatus
verharren kann. Prinzipiell muss jede
Ansicht und Praktik zur Anerkennung
führen, es sei denn, eine anderweitige
Haltung kann begründet werden. Ausführlich wird die indische Toleranzkonzeption auf dem Hintergrund von S.
Radhakrishnans Ideen analysiert.
„Radhakrishnan versteht die hinduistische Toleranz nicht als eine Duldung
des Anderen, sondern als seine Anerkennung.“ Das Beispiel Radhakrishnans
zeigt, schreibt M. Kirloskar, „dass es
nicht genügt, sich lediglich in der Theorie für eine Anerkennung des Anderen
auszusprechen. Auch in der Praxis muss
viel Selbstarbeit geleistet werden, damit
dieser Anspruch umgesetzt werden
kann.“ (S. 122)
M. Kirloskars Buch ist ein guter, weiterführender Beitrag gerade auch zu den
neueren Diskussionen über die Integrationspolitik in Deutschland und in der
europäischen Gesellschaft. Es gibt nur
wenige Wissenschaftler – wie z.B.
Friedjof Capra (Physiker und Philosoph)
und Amartya Sen (Ökonom) – , die
wichtige Anstöße zu interkulturellen und
interreligiösen Dialogen gegeben haben.
Deshalb verdienen die hier vorgestellten
Bücher von R.A. Mall und Monika Kirloskar-Steinbach unsere besondere Aufmerksamkeit.
- Sushila Gosalia
Anmerkungen:
1 Vgl. Mall, R.A., Wahrheit und Toleranz als hermeneutisches Problem. Religionsphilosophische
Reflexionen zum Dialog der Religionen, In: Dialog der Religionen 1993, Heft 1, S. 20-36.
2 Vgl. hierzu auch den Abdruck seines Vortrags
vom August 2003 in der Ev. Akademie Mülheim in
„Meine Welt“ v. Juni 2004, S. 14-18.
Vandana Shiva
Geraubte Ernte
Vandana Shiva, die indische Physikerin und Philosophin, ruft in diesem
Buch zum Widerstand gegen die
Arroganz der Konzerne auf und
kämpft für Selbstbestimmung in Ernährungsfragen. Denn nur wenn sich
Menschen in Nord und Süd zusammenschlössen, könne dem Vormarsch
der Biotechnologie Einhalt geboten
werden und die Biodiversität – die
Grundlage jeder zukunftsorientierten
und nachhaltigen Ernährungspolitik
– gerettet werden.
(Rotpunktverlag, Zürich 2004, 178
Seiten)
(Quelle: Kontinente, 4/2005)
Buchbesprechung
Neues Buch über Frauen-Romane
Hindi ke Adhunik Nari Upanyas (Neue Frauen-Romane in Hindi). Pandey, Indu
Prakash. Hindi Buch-Centre, New Delhi 2004. 318 Seiten
Für die Freunde anspruchsvoller
Hindi-Literatur sind die Romane der
bedeutenden indischen Schriftstellerinnen gut geeignet, die in diesem
Buch von Prof. Pandey ausführlich
besprochen sind. Nach seiner Veröffentlichung „Romantischer Feminismus in Hindi-Romanen indischer
Autorinnen“, die zu seinem 75. Geburtstag im August 1999 herauskam
(vgl. die Rezension in „Meine Welt“ v.
Dezember 1999, S. 53), legt Prof. Pandey erneut ein bemerkenswertes literaturwissenschaftliches Werk vor, zu dem
er von Prof. Budrus (Universität
Mainz) inspiriert wurde.
23 Romane von 19 indischen Schriftstellerinnen, die in Hindi schreiben,
werden dem Leser hier vorgestellt.
Zwei der Autorinnen, Minakshi Puri
und Susham Bedi, leben in Deutschland bzw. USA. Minakshi Puris Roman
„PHECHAN BECHEHRA“ ist 1987
auch in deutscher Übersetzung unter
dem Titel „Identität gelöscht“ erschienen. Sushan Bedi schreibt vorwiegend
über in Amerika lebende Auslandsinder. Von den besprochenen Romanen
39
sind 6 in den 80-er, 16 in den 90-er
Jahren verfasst, nur der Roman über
Kashmir von Surya Bala ist erst im
Jahr 2001 herausgekommen. Die
Autorinnen, die Prof. Pandey fast alle
persönlich kennt, beschäftigen sich
vorwiegend mit Fragen aus dem sozialen Umfeld: dem Leben in Slums, in
den Dörfern auf dem Land, zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikten.
Pandey bringt in seinem Buch ausführliche Inhaltsangaben der ausgewählten Romane, Kurzbiographien der
Autorinnen, die er jeweils auch auf
dem Hintergrund der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklung nicht nur in Indien, sondern
auch im Ausland kritisch beleuchtet.
Interessant ist vor allem die Behandlung und Betrachtung des Themenkreises um das Leben der Frauen in den
unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und -schichten.
Eine deutsche Übersetzung auch dieses Buchs von Prof. Pandey wäre wünschenswert
- Sushila Gosalia
Buchbesprechungen
Traditionelle Frauenmalerei aus Indien
Madhubani-Bilder 1880-2005, Albrecht Frenz, Hermann-Gundert-Gesellschaft
Stuttgart, 2005
Eine Augenweide bietet der im September 2005 erschienene Band MadhubaniBilder 1880-2005 von dem Stuttgarter
Indologen Albrecht Frenz. Das Buch mit
über 100 Farbdrucken von Originalbildern und mit vielen beeindruckenden
Fotos von Orten und Menschen, die sich
mit Madhubani-Malerei befassen, ist
ohne Zweifel eine Pionierarbeit hervorragender Qualität. Der Autor schildert
im Textteil den geschichtlichen Zusammenhang sowie die heutigen Verhältnisse der Malerinnen im nördlichen Teil des
Bundesstaates Bihar in Nordindien.
Die Madhubani-Malerei hat ihren Ursprung in der traditionell von Frauen
gestalteten Wandmalerei im einstigen
Land Mithila, das etwa dem heutigen
Nord-Bihar entspricht. Als Folge der
Dürre-Katastrophe von 1966-68 in dieser Gegend erhielten die Frauen Papier
und Farben von Regierungsstellen,
damit sie die überlieferten Themen der
Wandmalereien in und an ihren Häusern
Zwei neue Bücher von Amit Chaudhuri
Amit Chaudhuri wurde 1962 in Kalkutta geboren, wuchs in Bombay auf und studierte in London und Oxford. Seit seinem literarischen Debüt
im Jahre 1991 erhielt er zahlreiche Auszeichnungen wie den Commonwealth Writers Prize
oder den Encore Award. Im Karl Blessing Verlag erschienen bereits ¸Die Melodie der Freiheit’ und ¸Ein Sommer in Kalkutta’.
Seelenlandschaften von Menschen
Ein neuer Erzählband von Amit Chaudhuri ist auf Deutsch erschienen.
Einfühlsam zeichnet Amit Chaudhuri in
diesem Band die Seelenlandschaften
von Menschen, die an den Kasten und
Riten zu zweifeln beginnen, in denen sie
gefangen sind. Die meisten der 15
Storys im Band spielen entweder in
Bombay oder in Kalkutta, irgendwann
zwischen den siebziger Jahren und der
Gegenwart. Zwei der Storys sind Nacherzählungen von Episoden aus der
Hindu-Mythologie.
Betörungen & Fromme Lügen
Erzählungen. Amit Chaudhury. Aus dem Englischen von Barbara Heller, Karl Blessing Verlag, München, 2005.
Die Betörungen und frommen Lügen
handeln von Menschen, die durch Herkunft und Umgebung mehr geprägt sind,
als ihnen bewusst ist. Der junge Dichter
in ¸Porträt eines Künstlers’ etwa begreift
erst, nachdem er eine Weile in England
gelebt hat, wieviel er seiner Heimatstadt
verdankt: Mit seinem etwas rückständigen, aber bunten Kulturleben gleicht
Kalkutta für ihn „einem Tautropfen, der
das Licht und die Farben der ganzen
Welt umschließt.“
auf Papierbilder übertragen und verkaufen konnten. So wurde MadhubaniMalerei eine Einkommensquelle und
damit auch ein Stück Emanzipation für
die Frauen in dieser Gegend. Auf der
Asien-Messe 1972 in New Delhi erlebten die Madhubani-Bilder den weltweiten Durchbruch. Danach fanden Ausstellungen in Russland, Polen, der Tschechoslowakei, Dänemark, Kanada und
Japan statt. Heute sind über viertausend
Frauen in Nord-Bihar - besonders in den
Distrikten Madhubani, Darbhanga,
Samastipur, Sitamarhi und Muzaffarpur
– mit dieser Art von Malerei befasst.
Der Autor des Buches hat über 100 Madhubani-Bilder in seiner Kollektion, die
er zur Ausstellung für interessierte Institutionen/Organisationen anbietet. Das
Buch, das gleichzeitig als Katalog der
Ausstellungsbilder dient, wurde von der
Hermann-Gundert-Gesellschaft Stuttgart herausgegeben.
- Jose Punnamparambil
Kontaktaddresse: e-Mail: gafrenz@web.de
Entwicklung: Reichlich
Im Kampf um ausländisches Kapital
haben Entwicklungsländer im vergangenen Jahr deutlich aufgeholt.
Während die Direktinvestitionen in
Industriestaaten um 14 Prozent auf
380 Milliarden Dollar sanken, flossen 233 Milliarden Dollar in Entwicklungsländer – ein Plus von 40
Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt konnten sie 36 Prozent aller
Direktinvestitionen auf sich vereinigen. „Dieser hohe Anteil wird wahrscheinlich von Dauer sein“, sagte
Anne Miroux, die Autorin des neuesten Weltinvestitionsberichts der UNKonferenz für Handel und Entwicklung (Unctad). Allein China verzeichnete Kapitalzuflüsse von knapp
61 Milliarden Dollar. Dabei geht es
bei Investitionen in Ländern wie
eben China, Brasilien, Mexiko oder
Indien nicht mehr nur darum, billig
zu produzieren. Inzwischen spielen
diese Staaten auch in Forschung und
Entwicklung eine wachsende Rolle.
Nach Ansicht von UN-Generalsekretär Kofi Annan betrachten Unternehmen diese Länder heute auch als
Quell von Wachstum, Wissen und
neuen Technologien.
(Quelle: Die Zeit 6.10.2005)
- JP
40
Film in Indien und Bollywood
A. Khaliq Kaifi
Wenn man vom Film in Indien spricht,
dann denkt man gewöhnlich an Hindifilme aus Bollywood. Der Name als solcher geht auf die siebziger Jahre zurück,
da Bollywood seit dieser Zeit mehr
Filme produziert als Hollywood.
Zur Zeit werden in Indien jährlich über
850 Filme gedreht, also mehr als in Hollywood und Japan zusammen. Dabei ist
es interessant zu wissen, dass lediglich
ein Drittel davon, ca. 250, in der Hindisprache produziert werden. Zwei Drittel
von ihnen kommen aus Tamil Nadu (ca.
160), Andhra Pradesh (145), Kerala
(90), Karnataka (80), West Bengal (45),
Gujarat (30), Maharashtra (25), usw.,
und zwar in der jeweiligen Landessprache. Darüber hinaus werden circa zehn
Filme jährlich in englischer Sprache
gedreht. Die rasante Entwicklung der
Filmindustrie in Indien geht darauf zurück, dass nirgendwo so viele Filme gesehen werden wie dort. Der Film ist bei
weitem das einzige Vergnügungsmittel
für das Volk und verbindet auch kulturell
die Menschen des indischen Subkontinents sowohl in Indien als auch im Ausland. Allein 16 Millionen Menschen in
Indien besuchen täglich das Kino,
durchschnittlich jeder fast sechs Mal im
Jahr. Die Deutschen dagegen gehen nur
zwei bis drei Mal pro Jahr ins Kino.
Stummfilme
Die Brüder Auguste Lumière (1862–
1954) und Louis Lumière (1864–1948)
aus Frankreich schufen gemeinsam eine
bahnbrechende Neuerung auf dem Gebiet der Photographie und führten 1895
die Technik des bewegten Films ein.
Sehr kurz nach dieser Erfindung kamen
Vertreter von Lumière nach Bombay
und zeigten am 7. Juli 1896 im Watson
Hotel den Diafilm „Arrivée du Train“.
Andere in Frankreich hergestellte
Stummfilme wie „Jeanne d’Arc“ (1899),
„Alladin ou la Lampe Merveilleuse“
(1906), „Le Voyage à la Lune“ (1908)
kamen auch nach Indien und wurden
zuerst in den damaligen Theaterhallen
(Natakghar) von Bombay und Kalkutta
gezeigt.
Schon zu dieser Zeit lernten die Inder
die Kunst der Photographie kennen und
filmten gemeinsam mit den Engländern
im Red Fort von Delhi 1903 die Dokumentarfilme über Lord Curzon, den
Vizekönig von Indien (1899-1905) und
in Delhi und Kalkutta über die Krönung
von König George V., den Kaiser Indiens von 1911–12.
Als erster Inder drehte Dadasaheb Phalke (1870–1944) aus Nasik einen Stummfilm von einer Länge von 3700 Fuß und
einer Spielzeit von 90 Minuten, der am
3. Mai 1913 im Coronation Theater von
Bombay gezeigt wurde und dort über 23
Tage lief. Dieser besuchte auch die
Filmstudios in London und brachte von
dort neue Techniken mit nach Indien. Er
drehte u. a. die Filme „Shri Krishna
Janam“ 1918 (Lord Krishnas Geburt)
und „Kalia Mardan“ 1919 (Die Tötung
der Dämonenschlange „Kalia“ durch
Krishna während seiner Kindheit). Er
war beim Volk sehr beliebt, da er in seinen Filmen die Geschichten und Mythen
von Göttern und Dämonen wiedererweckte. Dadasaheb Phalke wird als
„Vater des indischen Films“ bezeichnet.
Die höchste Auszeichnung des indischen
Staates, die seit 1969 jährlich an einheimische Filmkünstler verliehen wird, der
„Dadasaheb Phalke Award“, ist nach
ihm benannt.
Die Geschichte des indischen Films ist
also beinahe so alt wie die des europäischen. Bis zum Jahre 1937 wurden insgesamt 1300 Filme in den damaligen Studios von Bombay – sie hießen Talkies,
Imperial, Madan, Minerva, Prabhat, Sagar
und Wadia – gedreht, also viel mehr als in
Großbritannien. Zu den Pionieren der Studiogründer gehören Produzenten wie
Himansu Rai (1892–1940) und Sohrab
Modi (1897–1984), die ihre Studios nach
dem Muster von Holly-wood jeweils
1934 und 1936 schufen, und SchaupielerInnen wie Prithviraj Kapoor (1906–
1972), Jagdish Sethi, Mubarak, Madhuri
und Zubeida vertraglich beschäftigten, die
ursprünglich aus dem Volkstheater
stammten und die noch heute in Indien als
die größten Künstler verehrt werden.
Zu den Anfängen der Filmgeschichte
Indiens gehören auch die Deutschen
Franz Osten (1876–1956), Josef Wirsching und Carl von Spreti, die sich
jeweils für mehrere Jahre als Regisseur,
Photograph und Bühnengestalter in Indien aufhielten. Der Stummfilm „Light of
Asia“ (Leben des Buddha) wurde 1925
von Franz Osten teilweise im Studio
„Bombay Talkies“ und im „Emelka Studio“ in Deutschland gedreht.
Zu den bekanntesten Stummfilmen
gehören Alibaba, Alladin, Anarkali,
Saumitra Chaterjee und Sharmila Tagore in Satyajit Rays „Apur Sansar“ (Quelle: Outlook, 30.5.2005)
41
Baccha Sakka und Kohinoor. Sie wurden in maximal zehn Tagen fertig gestellt, die teuersten Künstler erhielten
monatlich ein Gehalt von 5.000 Rupien.
Von den insgesamt über 1300 Stummfilmen, die in Indien gedreht wurden, sind
leider nur 15 erhalten geblieben.
Tonfilme
1930 begann die Ära der Tonfilme in
Indien. Ardeshir Irani (1886–1969),
auch Produzent zahlreicher Stummfilme, drehte als erster den Tonfilm „Alam
Ara“ (Licht der Welt) und zeigte ihn am
14. März 1931 im „Bombay Majestic
Theater“. Der Film hatte eine Länge von
10.500 Fuß, die Herstellungskosten
betrugen 40.000 Rupien. In diesem Film
wurden zum ersten Mal 13 Lieder gesungen. Seitdem ist der Gesang ein unverzichtbarer Bestandteil der indischen
Filme geblieben.
Ardeshir Irani, ein Parse aus Bombay und
Zarathustra-Anhänger, drehte mehrere
Filme mit altiranischen Themen wie z. B.
„Dukhtar-e-Noor“1933 und „Firdausi
und Shirin“ 1934 in persischer Sprache.
Wegen seiner Pionierleistung auf dem
Gebiet des Tonfilms wird er als „Grand
Old Man of Indian Cinema“ bezeichnet.
Die Entwicklung der indischen Filmindustrie ist größtenteils den Parsen Sohrab
Modi, Ardeshar Irani und anderen zeitgenössischen Parsen zu verdanken. Diese
führten das altindische Theater (Natak) in
Bombay fort und drehten dort u. a. die
Helden-, Königs- und Liebesgeschichten
von Altpersien wie Shirin und Farhad
(Liebesgeschichte), Nausherwan-i- Adil
(gerechter König), Rustum (Held in der
altpersischen Geschichte). 1931 drehte
man auch in Bengalen mehrere Tonfilme
im „Madan Theatre“ am Stadt- rand von
Kalkutta in Tollygung, daher nannte man
den Ort zeitweilig in der Urdusprache
auch „Tollywood“.
Damals drehte man in Bombay die
Filme in südindischen Sprachen wie
„Kalidas“ von H. M. Reddy in Tamil
und „Bhakata Prahlada“ in Telegu.
Kerala gründete 1946 ein eigenes Studio, das berühmte „Udaya Studio“, in
dem der Regisseur S. S. Vasan 1948 den
Film „Chandralekha“ drehte, der auf den
Leinwänden von ganz Indien zu sehen
war.
Themen
Die Themen der indischen Filme werden
vorwiegend aus den Mythen und Legenden der altindischen Epen Mahabharata
und Ramayana sowie aus den persisch-
Amitab Bhachan
Der unschlagbare Held des Bollywood-Kinos
arabischen Erzählungen wie Tausendund-Eine-Nacht genommen. Die einzelne Thematik basiert nicht ausschließlich
auf einem Genre wie Krimi, Wild West
oder Liebe wie in einem westlichen
Film. Ein normaler indischer Film, der
bis zu drei Stunden oder länger dauert,
beinhaltet etwas von alledem. Die Handlung dreht sich gewöhnlich um eine
Familie von der Wiege bis zur Bahre.
Die Kinobesucher werden in eine
Traumwelt geführt.
Es werden zwei Kategorien von Charakteren dargestellt, die Guten und die
Bösen. Der erste ist immer charmant
und heldenhaft wie Rama, der zweite ist
hässlich und hinterhältig wie Ravana in
dem Epos Ramayana. Die Rollen stehen
nach altindischer Wertvorstellung fest,
der Vater als Patriarch, streng und verantwortungsvoll, die Mutter gutmütig
und opferbereit. Die Frau bleibt immer
treu wie Sita zu Ram. Die Hauptdarstellerin soll hübsch, fügsam, opferbereit
und unberührt sein, eine kämpferische
und selbständige Frau wird nicht gewünscht. Als treu Ergebene des Filmhelden wartet sie geduldig auf den Tag der
Vermählung, die Liebe zwischen den
beiden findet nur über heimliche verführerische Blicke und über die Botschaften
der Liebeslieder statt. Der enttäuschte
Liebhaber findet seinen Halt zeitweilig
bei einer schönen kultivierten käuflichen
„Tawaif“, die ihn mit Gesang und Tanz
(Mujra) und Wein (Sharab) verwöhnt.
Die Zuschauer sehen gerne die Machenschaften von Geistern (Dämon, Bhut,
Malach, Jin, Satan), die den Körper
eines Familienmitgliedes in Besitz nehmen und quälen. Schließlich findet die
Befreiung durch Hexenaustreiber, Heilige der Hindus (Gurus) oder Muslime
(Pirs) statt, oder der Gequälte findet in
den Armen der Heiligen den ersehnten
Tod (Nirvana, Jannat). Indische Filme
42
sind auch fast undenkbar ohne die Präsenz eines Bösewichts (Villan), der die
angehende Braut vergewaltigt und die
Liebenden durch seine Missetaten auseinander treibt. Außerdem wird dem
Publikum gerne ein Komiker, ein körperlich deformierter Geldverleiher
(Bania, Mahajan, Ojha) oder ein Steuereintreiber (Munimji, Munshi) mit zerbrochener Brille auf der Nase präsentiert. Die entsprechenden Darsteller Pran
(geb. 1920) als Bösewicht und ,Johnny
Walker’ (Geburtsname: Badruddin
Jamuluddin Kazi, geb. 1925) als Komiker spielten jeweils in über 400 und 300
Bollywoodfilmen. Wahrscheinlich begab sich kein Schauspieler der Welt so
häufig in solche Rollen.
Bei der Beschreibung der Inhalte der
Filme muss hier mit Nachdruck betont
werden, dass sie stark zur Herstellung
einer Harmonie zwischen Hindus und
Muslimen in Indien beigetragen haben.
Gesang, Gedichte und Künstler
Die Musik ist die Seele der indischen
Filme. Nach europäischen Kriterien
können die indischen Filme als „Musicals“ bezeichnet werden. Auch die
Stummfilme bestanden vielfach aus Liedern und Musik, die im Hintergrund auf
Harmonium, Sarangi und Tabla gespielt
Die beliebte Bollywood-Ikone und
der menschennahe Politiker Sunil
Dutt lebt nicht mehr. Mit 76 starb er
im Mai dieses Jahres.
Sunil Dutt war verheiratet mit der
berühmten Bollywood Schauspielerin Nergio, die sehr früh wegen
Krebs aus dem Leben schied. Der
verwitwete Politiker füllte sein Leben
mit Engagement für den einfachen
Mann in der Politik und mit vielfältigen humanitären Aktivitäten.
(Quelle: India Today, 6.6.2005)
wurde. Alam Ara hatte mehr als 13 Lieder, Indra Sabha sogar über 40.
Die ersten Tonfilme übernahmen diese
Tradition, die Filme der vierziger Jahre
wie Kismet, Laila Majnu und Shakuntala hatten jeweils 18, 22 und 41 Lieder.
Filmgesang und Filmmusik gehen auf
die uralte Tradition von Bhajan, Ramlila, Raslila, Raga, Dhrupad, Khayal,
Ghazal, Qawwali, usw. zurück. Die
Texte der heutigen Filmlieder, die sog.
„Hindi-Geet“, sind aus einer Mischung
der Hindi- und Urdusprache entstanden.
Sie sind sehr beliebt und werden auch in
Südindien verstanden und gesungen.
Die Lieder aus Bollywood trugen entscheidend zur Verbreitung dieser Sprachen auf nationaler Ebene bei. Die Lieder stellen eine wesentliche Einnahmequelle für die Filmproduzenten dar. Die
Filme aus Bollywood erzielen mehr als
20% ihrer Einnahmen aus dem Verkauf
der Musikrechte. Schon lange bevor der
Film läuft, kommt die Musik auf den
Weltmarkt, dadurch wird die Masse für
den Film gewonnen.
Zu den großen Stumm- und TonfilmsängernInnen der Anfangszeit gehören Jaddanbai (Mutter der Schaupielerin Nargis), Begum Akhtar, Mallika Begum,
Saigal (Kundan Lal Saigal, 1904–46),
der bekannteste Ragasänger, und Punkaj
Mullick (1905–78), Suraiya (geb.1929),
Shamshad Begum und Noorjehan
(1929–2000, „Königin der Stimme“ genannt), die auch in den damaligen Filmen mitspielten. Seit den vierziger Jahren dominierten Playbacksänger/Innen
die Filme wie Suriya (geb. 1929), vor
allem Rafi Mohammad (1924–80),
Mukesh (Mukesh Chand Mathur, 1923–
76), Talat Mahmood, Kishore Kumar
(1929–87) und die Sängerinnen Lata
Mangeshkar (geb.1929) und ihre
Schwester Asha Bhosle (geb.1933). Lata
Mangeshkar und Rafi Mohammad sangen in Playback die meisten Lieder in
den Bollywoodfilmen, keiner auf der
Welt hat so viel gesungen wie die beiden.
Die bekanntesten Liederschreiber (Ghazalschreiber) der Filmindustrie sind:
Aga Hashr Kashmeri, Hasrat Jaipuri
(1918–1999), Javeed Akhtar (geb.
1945), Jigar Moradabadi, Kaifi Azmi
(1925–2001), Majrooh Sultanpuri
(1919–2000), Sahir Ludhianwi (1921–
1980) und Shakeel Badayuni (1917–
1970). Ihre Lieder werden heute noch
weltweit in Millionenauflagen verkauft.
Aufgrund der immensen Bedeutung der
Lieder haben die bekannten indischen
Filme immer einen Musikdirektor, unter
ihnen Naushad Ali (geb. 1919), Rahul
Dev Burman (1939–94), Sachin Dev
Burman (1906–75), Anil Biswas (geb.
1914), Madan Mohan (Madan Mohan
Kohli, 1924–75) und A. R. Rahman
(Allah Rakha Rahman, geb. 1966).
Von einigen Ausnahmen abgesehen sind
die Drehbuchautoren bei den Zuschauern kaum bekannt, daher spielen sie im
Vergleich zu den Verfassern der Liedertexte und Musikdirektoren eine sekundäre Rolle bei der Gestaltung des Films.
Es sind primär die Filmregisseure, die
die Inhalte des Drehbuches vorgeben.
Der Tanz im Film hat wenig gemeinsam
mit den klassischen Tänzen wie Bharatanatyam, Kathak oder Kathakali, er
besteht hauptsächlich aus einer
Mischung von modernem europäischen
und indischen Volkstanz, der mit erotischen Bewegungen und Kostümen gestaltet wird, was bei den Zuschauern
sehr gut ankommt. Die Tänzerin Helen
(geb. 1939, ihr Vater war Franzose)
dominierte jahrelang die indische Filmbühne, sie wird in Indien als „Golden
Girl“ bezeichnet.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass die
indische Filmindustrie wegen ihrer vielfältigen Leistung sehr früh in der Welt
bekannt wurde. Schon 1934 zeigte Indien den Film „Sita“ auf dem Filmfestival
von Venedig. „Neecha Nagar“ (Verachtetes Land) von Chetan Anand (1915–
97), „Do Bigha Zameen“ (Zwei Hektar
Land) von Bimal Roy (1909–66) und
„Pather Panchali“ (Wegebeschreibung)
von Satyajit Ray (1921–93) gewannen
jeweils 1946, 1954 und 1956 beim Filmfestival von Cannes bedeutende Preise,
der letzte als „Prix du document humaine“. Dieser Film lief 226 Tage in einem
Kino von New York und brach damit
den Laufzeitrekord für einen Film innerhalb von dreißig Jahren.
Filmentwicklung nach 1950
Gewöhnlich teilt man die indischen
Filme dieses Zeitraums in drei Epochen:
die Epoche nach der Unabhängigkeit,
die Zeit zwischen den sechziger und
achtziger Jahren und schließlich die
Periode der Globalisierung.
In der fünfziger Jahren bzw. nach der
Unabhängigkeit Indiens 1947 erfuhr die
Filmindustrie eine große Veränderung.
Während des Zweiten Weltkrieges horteten die Kriegsgewinnler eine Menge
Schwarzgeld, das sie in Bollywood investierten. Demzufolge brach das alte
Studiosystem zusammen, das bisher die
43
Künstler unter Vertrag hielt. Die Filmemacher gründeten ihre eigenen Produktionsstätten, die Schauspieler wurden zu
freien Mitarbeitern und verlangten hohe
Gagen. Die Unabhängigkeit verschaffte
der Filmindustrie neuen Auftrieb, da es
ihr während der britischen Herrschaft
nicht erlaubt gewesen war, politische
Filme zu drehen. Die Teilung von Ben-
Madhuri Dikshit
Eine der leuchtenden Bollywood-Stars
galen und Punjab in Indien und Pakistan
schwächte die Filmindustrie von Kalkutta und Lahore, zahlreiche Künstler
kamen nach Bollywood und gaben dort
neue Impulse. Auch die sozialistische
Regierung unter dem Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru (1947–1964) eröffnete den Weg zu progressiven Filmen. Es kam zu Gründungen von fortschrittlichen Arbeitsgemeinschaften der
Filmkünstler wie „Indian People’s Theatre Association“ (IPTA), die auch von
der kommunistischen Partei Indiens
(CPI) unterstützt wurde. Die wichtigsten
Filmemacher und Künstler, die aus dieser Bewegung hervorgingen, waren
Khawaja Ahmad Abbas (1914–87), Mrinal Sen (geb. 1923), Balraj Sahani
(1913–73), und die aus Kerala stammenden Regisseure P. Bhaskaran und Ramu
Kariat. Bedeutende progressive Filme
der damaligen Zeit waren „Dharti ke
Lal“ 1946 (Söhne der Erde) von Khwaja
Ahmad Abbas (1914–87), „Do Bigha
Zameen“ 1953 von Bimal Roy (1909–
66) , „Kagaz ke Phol“ 1959 (Blumen aus
Papier) von Guru Dutt (1925–64), Filme
aus Kalkutta wie „Chinnamul“ 1950
(Die Entwurzelten) und „Nagarik“ 1952
(Der Bürger), „Pather Panchali“ 1955
von Satyajit Ray (1921–93) sowie aus
Kerala „Ningalenne Communistaki“
1952 (Du hast einen Kommunisten aus
mir gemacht) und „Neela Kuyil“ 1954
(Blaue Nachtigall). Im Kontrast zu den
alten Filmen kritisierten diese die gesellschaftspolitische Struktur Indiens und
propagierten den Aufbau eines demokratisch säkularen Staates. Zu diesen Filmen gehörte auch der Monumentalfilm
„Mother India“ 1958 von Mehboob
Khan (1906-64), ein Film über die Vision des Nehru-Sozialismus, der auf den
altindischen Prinzipien von Opfer, Gewaltlosigkeit und Mutter-Erde-Mythos
aufbaute.
Typische Kinohelden der fünfziger und
sechziger Jahre sind z. B.: Ashok Kumar
(1911–2001), Raj Kapoor (1924–88),
Dilip Kumar (Yusuf Khan, geb.1922)
und Dev Anand (geb. 1923). Der älteste
unter ihnen arbeitete seit 1936 als
Schauspieler in über 104 Filmen, wurde
berühmt durch die Filme „Naya Sansar“
1941 (Neue Welt), „Kismet“ 1944
(Schicksal), „Chitralekha“ 1964 (Geschichte einer Frau), „Pakeeza“ 1971
(Kurtisane aus Lucknow). Raj Kapoor
begann seine Filmkarriere 1935, spielte
in 62 Filmen. In seinen Filmen wie
„Awara“ (Vagabund) 1951, „Shri 420“
(Sanfte Betrüger) und „ Prinz von Piplinagar“ 1955, übernahm er immer wieder
die Rolle eines herumziehenden Vagabunden mit Charme und Humor. Die
Lieder „Mera jota hai Japani, dil hai
magar Hindustani“ (Meine Schuhe sind
aus Japan, aber mein Herz ist indisch) in
„Shri 420“ und „Awara hoon, Awara
hoon“ (Ich bin ein Vagabund) aus
„Awara“ gehören immer noch zu den
Kultliedern Indiens. Dilip Kumar (Jusuf
Khan, geb. 1922) wurde berühmt durch
die Filme „Devdas“ 1955 (eine tragische
Liebesgeschichte, in vielen Versionen
verfilmt) und „Mughal-e-Azam“ 1960
(Großmogul), ein Film, der als „König
der Tragödie“ bezeichnet wird. Dev
Anand (geb.1923) zählte zur Gruppe der
progressiven Schriftsteller und Schauspieler und wurde als „romantischer
Darsteller“ bezeichnet.
Zu den großen Schauspielerinnen dieser
Epoche zählen: Nargis (Fatima Rashid,
1929–81), Suraiya (Suraiya Jamal, geb.
1929), Madhubala (Mumtaz Jehan,
1933–69) und Meena Kumari (Mahajabeen, 1933–72). Nargis spielte in
„Romeo and Juliet“ 1948, „Awara“
1951, „Shri 420“, „Mother India“ 1954,
Suriya in „Amar Kahani“ 1949 (Unsterbliche Geschichte), „Mirza Ghalib“
1955 (Ein Dichter im 18. Jahrhundert),
Madhubala in „Mughal-e-Azam“ 1961
und Meena Kumari in „Do Bigha
Zameen“ 1953, und „Pakeeza“ 1962
(Kurtisanen aus Lucknow).
Aishwarya Rai
Eine der begehrtesten Bollywood-Stars heute
Symbol des Widerstands
Die Ära der siebziger Jahre zeigte eine
grundlegende Änderung in Bollywood.
Um diese Zeit vollzog sich die Urbanisierung Indiens, die bisherige rurale
Bevölkerung wanderte in die Städte ab,
lebte dort in erbärmlichen Verhältnissen
und sehnte sich nach Wegbereitern zur
Änderung ihrer Lebenslage. Die alten
Schauspieler, die Moralprediger und
Erhalter der bisherigen Gesellschaftsordnung wurden über Nacht abgelöst. In
„Angry Young Man“ erschien auf der
Leinwand Amitabh Bachchan (geb.
1942). Er wurde als „Rebell und Einzelkämpfer“ gegen eine heuchlerische korrupte Gesellschaft präsentiert, der bereit
war, die bisherigen Normen auch mit
Gewalt zu ändern. Er spielte in den Filmen wie „Zanjeer“ 1973 (Fesseln),
„Deewar“ 1975 (Mauer), „Sholey“ 1975
(Glut), „Muqaddar ka Sikandar“ 1979
(Meister des Schicksals), die damals von
den jungen Filmregisseuren Yash Chopra, Prakash Mehra und Ramesh Sippy
gedreht wurden. Das mutige Auftreten
von Amitabh Bachchan gegen die Oberen begeisterte die Masse, er wurde als
Symbol des Widerstands wie eine Ikone
gefeiert. Als er während der Dreharbeiten zum Film „Coolie“ 1983 verletzt
wurde und ins Krankenhaus kam, betete
ganz Indien für seine Genesung und alle
Nachrichtenmedien befassten sich an
erster Stelle mit ihm. Er enttäuschte das
indische Volk sehr, als er 1984 als
Freund von Rajiv Gandhi für die Kongresspartei kandidierte. Daraufhin verabschiedete er sich von der Politik,
erfreut sich aber immer noch großer
Beliebtheit. Er hat bis jetzt in fast 120
Filmen mitgespielt.
Infolge der Globalisierung und fortschreitender Industrialisierung entstand
in Indien eine Mittelschicht (über 200
Millionen z. Zt.), die über Wohlstand
und Bildung verfügt und dementsprechend Anforderungen an die Filme
stellt. So verbesserte sich zunehmend
die Filmqualität. Aber auch aus anderen
Gründen stieg die Anzahl der Bollywoodfilme rasant an. Zur Zeit leben
über 40 Millionen Menschen des indischen Subkontinents, einschließlich
Pakistan und Bangladesh, im Ausland,
die zu den festen Kunden der indischen
Filme zählen. Auch die Inder der zweiten und dritten Generation im Ausland
sehen gern Bollywoodfilme. Wegen der
kulturellen Nähe werden die indischen
Filme in Südost-, Fern- und Zentral-
Amit Chaudhuri wird
Samuel Fischer-Gastprofessor
Der Romancier Amit Chaudhuri wird
im Wintersemester 2005/2006 als
Samuel Fischer-Gastprofessor an der
Freien Universität Berlin lehren.
Chaudhuri (*1964 in Kalkutta) hat
eine Reihe von Romanen und Erzählungen veröffentlicht, von denen drei
auch ins Deutsche übersetzt sind: Die
Melodie der Freiheit. Drei Kurzromane (Aus dem Englischen von Gisela
Stege. Blessing, München 2001), Ein
Sommer in Kalkutta (Aus dem Englischen von Gisela Stege, Blessing,
München 2002) und Betörungen &
fromme Lügen. Erzählungen (Aus dem
Engl. von Barbara Heller, Blessing,
44
München 2005). Chaudhuri, der in
Bombay aufwuchs und in Oxford studierte, lebt heute wieder in Kalkutta.
Er ist auch als Literaturkritiker u.a.
für das Times Literary Supplement und
Essayist hervorgetreten. Die Berliner
Gastprofessur wurde 1998 gemeinsam
vom S. Fischer Verlag, dem Deutschen
Akademischen
Austauschdienst
(DAAD), der Freien Universität Berlin
und dem Veranstaltungsforum der
Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck
eingerichtet.
(Quelle:Literatur-Nachrichten, Herbst 2005)
asien, im Mittleren Osten, in Afrika, der
Türkei und Russland gesehen. Es ist zu
beobachten, dass in den letzten Jahren
die Hollywoodfilme von den Asiaten
und Afrikanern wohl aus politischen
Gründen weniger gesehen werden.
Hinzu kommt, dass die Filme aus Hollywood nicht mehr so sind wie sie einmal waren. Diese Lücke wird von den
indischen Filmen gefüllt.
Die Filme aus Indien stellen die Familie,
die Liebe und den Kollektivismus in den
Mittelpunkt, halten grenzenlose Freiheit
und freien Sex für verpönt, heizen ihr
Publikum mit romantischem Gesang
und Tanz an, erzeugen gute Stimmung
für die Zukunft, sind also Filme für die
ganze Familie. Danach sehnen sich
wahrscheinlich viele Menschen in den
überzivilisierten Gesellschaften. Filme
dieser Art wie „Kabhi Khush Kabhi
Gham“ (Manchmal glücklich, manchmal traurig), „Laagan“ (Landsteuer),
„Monsoon Wedding“ (Regenzeit-Hochzeit), „Asoka“ usw. wurden in den deutschen Kinos und Fernsehenanstalten von
RTL2 und Pro7 gezeigt. Fast vier Millionen sahen diese bis zur Mitte des Jahres 2005.
Im Juli 2004 wurde in Stuttgart ein
Filmfestival „Bollywood & Beyond“
organisiert und dort wurden 36 Spielund Dokumentarfilme aus Indien gezeigt.
Bollywood dreht heute auch Filme in
Österreich und der Schweiz, um das
indische und internationale Publikum
mit dem Gebirgsflair zu verzaubern.
Zu den Filmkünstlern der neuen Zeit
muss gesagt werden, dass sie, im Gegensatz zu den früheren Darstellern, die für
das Spielen bestimmter Rollen nach altindischer Tradition bekannt waren,
heute untereinander austauschbar sind
und vielfach ihren Platz durch amouröses Auftreten und aufgepäppeltes Aussehen behaupten.
Gott in Menschengestalt
Die Schauspielerinnen, die heute an der
Spitze stehen, sind: Aishwarya Rai,
Karisma Kapur, Madhuri Dixit und Preity Zinta, die im Gegensatz zu den früheren Schauspielerinnen die Kunst der
modernen Tänze gut beherrschen und
die Zuschauer weltweit begeistern. Bei
den männlichen Schauspielern ist es vor
allem das „Khan Triumvirat“ Shah Rukh
Khan (geb.1965), Aamir Khan (geb.
1965) und Salman Khan (geb. 1972),
das z. Zt. die Filmlandschaft dominiert.
Der erste von ihnen wird in Indien als
„Gott in Menschengestalt“ verehrt, er
erhält eine Gage von mindestens einer
Million Euro pro Film. Die Khans sind
in Deutschland durch ihre oben erwähnten Filme „Kabhi Kush Kabhi Gham“
und „Laagan“ bekannt geworden. Zum
ersten Mal in der Filmgeschichte Indiens
wurde von Aamir Khan der Film
Aamir Khan
Ein großes Talent der jungen Bollywood-Generation
begnügen. Es wird geschätzt, dass die
Bollywoodfilme bereits ein Viertel ihres
Umsatzes, ca. 125 Millionen Dollar, im
Ausland erzielen, und es ist nach der bisherigen Entwicklung davon auszugehen, dass dieser Anteil noch zunehmen wird.
„
Ausgewählte Literatur:
„Bollywood and Beyond” in Germany. In: India
Perspectives. Hrsg.: Ministry of External Affairs.
Oktober 2004. New Delhi. S. 18f.
Britannica Encyclopaedia of Hindi Cinema. New
Delhi 2003.
Malhotra, B. M., Ardeshir Irani. Father of India`s
Talkies. In: India Perspectives. April 2004. New
Delhi. S. 19f.
Malhotra, B. M., Dadasaheb Phalke. The Father of
Indian Cinema. In: India Perspectives. March
2004. New Delhi. S. 20f.
Rajadhakha, Ashish, Indien: Bilder der Nation. In:
Geschichte des internationalen Films. Stuttgart
1998. S. 639f.
Schulze, Brigitte, Die Erfindung der geeinten Nation. Der indische Film. In: Mythen der Nationen:
Völker im Film. München 1998. S. 113f.
Thompson, Kristin, Film History. New York 1994.
S. 285f.
Wunderland Bollywood. Text: Suketu Mehta. In:
National Geographic Deutschland. August 2005.
S. 90f.
Gedicht
„Mutiny“ (Meuterei) sowohl in englischer als auch in indischer Sprache
gleichzeitig gedreht und seit dem 12.
August 2005 in Kinos in Indien und
Großbritannien gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte von „Mangal Pandey“, der 1857 in Delhi Anführer des
großen Aufstandes gegen die East India
Company war. Dieser Film ist im Hinblick auf das Publikum der Englisch
sprechenden Länder mit einem Aufwand
von zehn Millionen Dollar produziert
worden, er ist der bisher teuerste Film
Indiens. Es zeigt sich, dass Bollywood
heute in der Lage ist, die Produktion solcher Mammutfilme zu finanzieren und
auf dem internationalen Markt mit Hollywood zu konkurrieren.
Die Khans, Mira Nair (bekannt durch
„Monsoon Wedding“), Shekhar Kapur
(„Bandit Queen“, die Geschichte einer
vogelfreien Banditin, die zur Politikerin
wurde), Deepa Mehta („Paani“ Wasser,
Film über das Leben gestrandeter Witwen in Benares), und Yash Chopra
(„Deewar“ Die Mauer) sind seit längerer
Zeit ständig unterwegs, um ihren Anteil
auf dem europäischen Filmmarkt zu erhöhen. Demzufolge sahen bereits 2004
etwa 3,6 Milliarden Menschen weltweit
indische Filme, Hollywood muss sich
mit einer Milliarde weniger Zuschauer
45
Der Rundgang
Vishnu Nagar
Tötet zuallererst die Ratte,
auf dass die Katze sie nicht mehr
töten kann.
Tötet danach die Katze,
auf dass der Hund sie nicht mehr
packen kann.
Tötet danach den Hund,
auf dass ihn der Einbrecher nicht
mehr töten kann.
Tötet danach den Einbrecher,
auf dass das Leben des Reichen ohne
Sorgen ist,
auf dass die Freiheit des Hundes
erhalten bleibt,
auf dass die Katze spielen kann,
auf dass die Ratte sich eilends
davonmachen kann,
auf dass Ganescha stets hilfreich
bleibt,
auf dass Schiva und Parvati stets
gnädig gestimmt sind,
auf dass Brahma und Vischnu von
sich aus wohlgesinnt sind.
Aus dem Hindi übersetzt von Dieter B.Kapp
(Quelle: Hams. Janvari 1997)
Erzählung
Der Schöpfer und
die Erschöpfung
Balaichand Mukherjee (Banaphul)
Die Tiger waren zur Plage geworden.
Verschreckt die Menschen, Kühe, Kälber und zuletzt wurde gar der Mensch
Opfer seiner Krallen. So nahmen sie
Stock, Speer und Gewehr hervor und
töteten den Tiger. Doch kaum war einer
getötet, da zeigte sich schon ein anderer.
Endlich wandte der Mensch sich an den
Schöpfer: „Lieber Gott, rette uns vor
dem Tiger!“ Der Schöpfer sprach: „In
Ordnung.“
Da jedoch zogen die Tiger vor des
Schöpfers Gericht und trugen nun ihre
Klagen vor: „Wir sind durch des Menschen Nachstellungen verunsichert und
fliehen vom äußeren Rand des Dschungels bis in sein Herz. Doch der Jäger
lässt uns keinen Frieden. Regele bitte
diese Angelegenheit.“ Der Schöpfer
sprach: „In Ordnung.“
Gleich darauf trug Neras Mutter ihm
ihre Bitte vor: „Vater, mein Nera muss
eine ganz besonders hübsche Frau bekommen. Erhöre mich, Gott. Ich werde
dir für fünf Paisa ein süßes Getränk
opfern.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“
Harihar Bhattacharja wollte prozessieren. Er wandte sich an den Schöpfer und
sagte: „Mein ganzes Leben lang habe
ich dich verehrt. Durch Fasten ist mein
Körper ganz dürr geworden. Diesem
verdammten Nephe möchte ich es zeigen! Du musst mich unterstützen.“ Der
Schöpfer sprach: „In Ordnung.“
Susil stand vor dem Examen. Jeden Tag
bat er den Schöpfer: „Gott, lass mich die
Prüfung bestehen.“ Heute wünschte er:
„Gott, wenn du mir ein Stipendium besorgst, werde ich fünf Rupien ausgeben
und Süßigkeiten in deinem Namen verstreuen.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“
Haren Purkayasta möchte Vorsitzender
der Bezirksverwaltung werden. Durch
die Vermittlung eines Priesters namens
Kali suchte er sich an Gottes Gunst zu
klammern: „Elf Stimmen brauche ich!“
Der Priester schluckte ein fettes Honorar
und verwirrte den Schöpfer durch lautes
Rezitieren der Gebetshymnen in
falschem Sanskrit: „Stimme kommen,
Stimme kommen.“ Der Schöpfer sprach:
„Jaja – in Ordnung, in Ordnung.“
Die Bauern, ihre Hände faltend, baten:
„Gott, gib Wasser.“ Der Schöpfer
sprach: „In Ordnung.“
Die Mutter eines kranken Sohnes richtete ihr Gebet an ihn: „Dies ist mein einziger Sohn, Herr – nimm ihn mir nicht
fort!“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“
Die Nachbarin, Khanti-Tante, sagte über
diese Mutter: „Gott, dieses Weib ist voller Hochmut, jeden Tag trägt sie neuen
Schmuck und betrachtet die Welt, als
wäre sie eine kleine Tonscheibe. Den
Jungen in deinen Würgegriff zu nehmen
ist eine gute Tat, du gütiger Herr. Gib
diesem Weib eine Lehre.“ Der Schöpfer
sprach: „In Ordnung.“
Der Philosoph sagte: „O Gott, lass mich
dich verstehen.“ Der Schöpfer sprach:
„In Ordnung.“
Von China her tönte der Schrei: „Rette
uns vor den Japanern, Herr!“ Der
Schöpfer sprach: „In Ordnung.“
Aus Bengalen kam ein Junge mit der flehenden Bitte: „Kein Verleger will mein
Schreiben drucken. Im Pranbashi-Journal soll es erscheinen. Bitte lasse den
Verleger, Ramaranda-Babu, Wohlwollen
zeigen.“ Der Schöpfer sprach: „In Ordnung.“
Während einer kurzen Pause fragte der
Schöpfer den neben ihm sitzenden fünfköpfigen Gott Brahma: „Haben Sie
irgendwo reines Senföl?“ Brahma: „Ja.
Doch wollen Sie mir auch verraten, wozu Sie es brauchen?“
Der Schöpfer antwortete nur: „Ich habe
es dringend nötig. Könnten Sie mir etwas besorgen?“ Brahma (mit allen fünf
Mündern): „Sicherlich, sicherlich…“
Reines Senföl wurde von Brahmas Haus
gebracht. Der Schöpfer sog gleich etwas
davon in seine Nase und versank in tiefen Schlaf.
Bis heute ist er noch nicht erwacht. „
* (Senföl in die Nase geben und schlafen – in Indien eine
übliche Redensart für sich resignierend zurückziehen.)
Aus dem Bengalischen übersetzt von Ingeborg und
Brajagopal Roy.
Arjun Methas Alptraum
Ein IT-Roman von Hari Kunzru
Grayday, Hari Kunzru, Roman, Aus dem Englischen von Benjamin Schwarz,
Karl Blessing Verlag , München, 2005.
Dieser 352-seitige Roman vom Autor
des bekannten Debütromans „Die
Wandlungen des Pran Nath“ (Blessing
2002) handelt von einer Daten-Katastrophe ungeheuren Ausmaßes, die zur
Lähmung von ca. 17.000 Festplatten
weltweit führt. Vier Menschen sind
besonders von dieser Katastrophe
betroffen: ein zur Selbstüberschätzung
neigender Londoner Marketing-Experte, seine Freundin, die nicht einmal
ahnt, wie unglücklich sie ist, eine
junge, viel versprechende Filmschauspielerin und Arjun Mehta, der Protagonist des Romans, der eigentlich nur
seinen Job zurückhaben wollte. Mit
diesem Roman, der die literarische
Kritik in aller Welt begeisterte, hält
Hari Kunzru unserer modernen Kommunikationsgesellschaft frech den
Spiegel vor.
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Hari Kunzru wurde 1969 als Sohn
einer Engländerin und eines Inders
geboren. Er lebt in London und
schreibt für zahlreiche Zeitungen und
Magazine. Für seinen Debütroman
„Die Wandlungen des Pran Nath“
erhielt er den Somerset Maugham
Award.
- JP
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Caritas fördert Adivasi in Indien
Rund 80 Millionen Menschen gehören
zur Stammesbevölkerung Indiens. Sie
sind bekannt als Adivasi. Der Großteil
dieser indigenen Bevölkerung siedelt in
den armen ländlichen Regionen Zentralindiens. Nach Schätzungen leben 85%
der Adivasi unter der Armutsgrenze. Sie
sind im Vergleich zu anderen indischen
Bevölkerungsgruppen in weit höherem
Maße von Armut betroffen.
Das Ziel des Caritas-Engagements ist
die nachhaltige Armutsbekämpfung in
sieben mehrheitlich von Stammesangehörigen bewohnten Distrikten der indischen Bundesstaaten Chattisgarh und
Andhra Pradesh. Durch den Aufbau und
die Unterstützung demokratischer
Selbstverwaltungsstrukturen und Selbsthilfegruppen sollen die Adivasi dabei
unterstützt werden, sich zu organisieren
und ihre Rechte zu vertreten, um z.B.
gegenüber Großgrundbesitzern Mindestlöhne einzufordern und sich gegen
Schuldknechschaft zu wehren. Darüber
hinaus wird durch die Organisation von
Vorschulprogrammen, mobilen Gesundheitsdiensten, einkommensschaffenden
Maßnahmen und Rechtshilfen zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation der indigenen Bevölkerung beigetragen.
besetzt. „Dalits werden oft gezwungen,
wie Sklaven auf den Feldern zu arbeiten“, erklärt Yesumarian. „Wir setzten
uns dafür ein, dass sie ihr rechtmäßig
zustehendes Land bekommen.“
- Bettina Tiburzy
(Quelle: Kontinente 5/2005)
Wichtige Zahlen – Erschreckende
Fakten
Im Zeitraum 2003–2004 wurden in Indien 3.035.501 PCs verkauft. Die Zahl
für 2002–2003 beträgt 2.293.643 verkaufte Computer.
Die größte Wirtschaftsmacht der Welt ist
mit Abstand auch der größte Exporteur
von Großwaffen. Nach Berechnungen
des Stockholmer Friedensinstituts Sipri
verkauften die USA zwischen 1997 bis
2001 Waffen im Wert von fast 47 Milliarden Dollar. Die Zahl für Deutschland
ist 4,8 Milliarden Dollar. Auf der Käuferliste finden sich im gleichen Zeitraum
Taiwan (mit Einfuhr von 11,4 Milliarden
Wert Waffen) und China (mit Einfuhr
von 7,1 Milliarden Wert Waffen) auf den
vorderen Rängen. Indien importierte in
diesem Zeitraum Waffen im Wert von
4,7 Milliarden Dollar ohne nennenswerte Quantität von Waffen exportiert zu
haben.
(Quelle: Caritas International, Freiburg)
Dalit Human Rights Centre
50 Kilometer südlich von Chennai leitet
Yesumarian das von Missio unterstützte
Dalit Human Rights Centre. Wie eine
weiße Festung steht das Zentrum etwas
abseits der Straße nach Chengalpattu.
Hier werden junge Dalits auf ihr Jurastudium vorbereitet, Dalit-Frauen lernen
mit dem Computer umzugehen. Im Zentrum ist Yesumarians Anwaltskanzlei
untergebracht. Jeden Monat betreuen er
und seine Mitarbeiter an die 30 Fälle. Es
geht um Gewalt gegen Dalits, Vergewaltigung und Landraub.
Zu Kolonialzeiten sprachen die Briten
den Dalits Land zu, das so genannte
Panchami Land. Doch die Dalits können
ihr Land meist nicht nutzen. Widerrechtlich wird es von Kastenangehörigen
Die Kluft zwischen den reichsten und
den ärmsten Ländern der Welt ist tief.
Ein Luxemburger hat ein jährliches Einkommen von 42.060 Dollar im Jahr,
während das jährliche Einkommen eines
Äthiopiers 100 Dollar beträgt. Die Weltbank nennt 31 Länder, deren Einwohner
mit weniger als einem Dollar pro Tag
auskommen müssen. Indien hat ca. 200
Millionen Menschen, die mit weniger
als 1 Dollar pro Tag auskommen müssen.
Wussten Sie schon?
Das größte Forschungszentrum des amerikanischen multinationalen Konzerns
„General Electricals“ befindet sich in
Indien (Bangalore) und nicht in den
USA. Von den 2300 Wissenschaftlern,
die dort arbeiten, sind 700 Inder/Inderinnen. Die Deutsche Forschungsgemein-
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schaft wird in Kürze eine Niederlassung
in Südindien eröffnen.
Die Zahl der Studenten aus Indien, die in
Deutschland studieren, ist seit 1997 8fach gewachsen. Heute studieren 4100
Inder und Inderinnen in deutschen
Hochschulen/Fachhochschulen. Von den
20.000 ausländischen Wissenschaftlern,
die für Forschung staatliche Stipendien
erhalten, sind ca. 1.000 Inder/Inderinnen.
(Quelle: German News, Okt.2005)
Erschreckende Zahlen
Über 800 Millionen Menschen leben
heute noch von 1 Dollar pro Tag (oder
weniger), ca.100 Millionen sind obdachlos. Eine Milliarde erwachsene Menschen können immer noch nicht lesen
und schreiben. 100 Millionen Kinder
leben oder arbeiten auf der Straße. Das
Millenniumsziel, Armut bis 2015 auf die
Hälfte zu reduzieren, rückt weiter in die
Ferne.
(Quelle: Frontline, 25/2/05)
Indische Küche
Halva (Karotten)
1000 g Karotten
1 Tasse zerlassene Butter
½ Liter Milch
200 gr Mandeln oder Cashewnüsse
1 EL Kardamom (gemahlen)
200 gr Zucker
¼ Tasse Rosinen
Karotten schälen, pürieren oder fein
reiben. In einem schweren Topf die
Milch zum Kochen bringen und die
Karotten hinzugeben. Die Masse
solange kochen, bis die Karotten von
der Milch aufgesogen sind. Während
dieser Zeit häufig umrühren. Sobald
die Mischung eingedickt ist, Kardamom, Butter und Zucker zugeben. 20
Minuten garen lassen. Anschließend
mit den Mandeln umrühren, Topf von
der Flamme wegnehmen und etwas
abkühlen lassen. Mit der Hand kleine Kügelchen formen und servieren.
- SP