Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN
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Inhalt AUFSÄTZE Strafrecht Die Finanzmärkte zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht Von Privatdozent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg/Köln 53 The Penal Policy of Human Rights By Prof. Dr. Augusto Jobim do Amaral, Porto Alegre (PUCRS) 61 Ausländisches Strafrecht Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 und in der Strafprozessordnung Italiens Von Dr. Paola Maggio, Palermo 70 BUCHREZENSIONEN Strafrecht Jeff McMahan, Kann Töten gerecht sein?, Krieg und Ethik, 2010 (Prof. Dr. Michael Pawlik, LL.M., Regensburg) 78 Manfred Heinrich/Christan Jäger u.a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011 (Prof. Dr. Hans-Ullrich Paeffgen, Bonn) 80 Hans-Ullrich Paeffgen u.a. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011 (Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund/Bielefeld) 95 Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht* Von Privatdozent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg/Köln** Das Wirtschaftsstrafrecht stößt bei der Aufarbeitung der Finanzkrise an seine Grenzen. Die praktischen Hürden des geltenden Rechts versuchen Rechtspraxis und -politik durch die Etablierung einer Sonderdogmatik zu unterlaufen. Diese Versuche verlassen jedoch den systematischen Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts. Sie laufen vielmehr auf eine Konzeption zu, die Wolfgang Naucke als politisches Wirtschaftsstrafrecht bezeichnet. Das Problemlösungspotenzial des politischen Wirtschaftsstrafrechts erweist sich freilich als begrenzt. Es führt daher kein Weg an einer kleinteiligen Lösung vorbei, die auch der Regierungsentwurf vom 6. Februar 2013 vorsieht: der Präzisierung und strafrechtliche Flankierung bankrechtlicher Vorschriften. The commercial criminal law is stretched to its limits when it comes to the accounting of the past financial crisis. Law enforcement bodies and political initiatives are trying to break down the barriers of existing rules by implementing an extraordinary legal doctrine. These attempts exceed the systematic framework of commercial criminal law and fall within the concept of a political-commercial criminal law, which has been developed by Wolfgang Naucke. However, the practicability of this concept is limited. The German government has thus opted for a preferable option: specifying the rules of banking law and flanking them with criminal sanctions. I. Strafrechtliche Rekonstruktion der Finanzmarktkrise Joseph Stiglitz, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Professor für Wirtschaftswissenschaft, Berater amerikanischer Präsidenten und frühere Chefvolkswirt der Weltbank, begründet die Notwendigkeit zur Aufarbeitung der Weltfinanzkrise ebenso klar wie einleuchtend: „Wenn wir die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Krise wiederholt, verringern wollen und wenn wir die offenkundigen Fehlfunktionen der heutigen Finanzmärkte korrigieren wollen, müssen wir wissen, wer oder zumindest was verantwortlich für die Krise war.“1 Die Frage nach der Verantwortung für die Finanzkrise dient danach einem rationalen Zweck: der Verhinderung künftiger Krisen. Ist von Prävention durch Retrospektion die Rede, hat, sollte man meinen, auch die Stunde des Strafrechts geschlagen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Vor Gericht ist bislang nur ein einziger, eher randständiger Fall verhandelt worden.2 * Zugleich eine Besprechung von Naucke, Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat – Eine Annäherung, 2012. ** Der Autor lehrt Deutsches und Europäisches Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Strafrechtsvergleichung an der Universität Regensburg und vertritt gegenwärtig einen Lehrstuhl an der Universität zu Köln. 1 Stiglitz, Im freien Fall, 2010, S. 33. 2 Zur Verurteilung des ehemaligen Vorstandssprechers der IKB, s. Schröder, Legal Tribune Online v. 14.7.2010, im Internet unter www.lto.de/recht/hintergruende/h/finanzmarktder-ikb-prozess-fuehrt-nicht-zum-kern-der-krise (22.1.2013). Intensiver hat sich hingegen die Strafrechtswissenschaft mit der Finanzmarktkrise beschäftigt.3 Dabei stehen sich zwei Deutungsmodelle gegenüber. Während manche in der Finanzmarktkrise ein systemisches Versagen des Finanzmarktes sehen, dessen Komplexität eine individuelle Zurechnung von Verantwortlichkeiten verhindere,4 glauben andere, auch in komplexen ökonomischen Zusammenhängen mit Hilfe des Wirtschaftsstrafrechts individuell zurechenbares Unrecht sichtbar machen und damit künftige Krisen verhindern zu können.5 Wolfgang Naucke stellt diesen Rekonstruktionsmodellen eine neue Deutung an die Seite, indem er die Gefahren einer Finanzkrise für das Gemeinwesen betont.6 Naucke zufolge enthält das wirtschaftliche Versagen der Bankverantwortlichen eine besondere Form des Unrechts, weil es geeignet sei, die persönliche Freiheit und freiheitsschützende rechtliche Institutionen zu zerstören.7 Diese Form des Unrechts bezeichnet er als „politische Wirtschaftsstraftat“.8 Der Gefahr einer Über- Über laufende Ermittlungsverfahren informiert Jahn, JZ 2011, 340 (343 f.). 3 Nicht zuletzt auf der Strafrechtslehrertagung 2011 in Leipzig. Dass die Finanzkrise in der Strafrechtswissenschaft nicht vorkomme, wie Strate, HRRS 2012, 715 (717 f.), meint, trifft daher nicht zu. 4 Jahn, JZ 2011, 340 (345); Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/ Volk (Hrsg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftssystem und die Moral, 2010, S. 211. S.a. Rönnau, in: Schünemann (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise, Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, 2010, S. 43 (S. 62): Das Strafrecht stoße bei derartigem Systemversagen an seine Grenzen. – Zusammenfassende Darstellung der aus der Komplexität wirtschaftsstrafrechtlicher Sachverhalte resultierenden Ermittlungs- und Beurteilungsprobleme bei Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, 2012, S. 11 ff. 5 Schünemann, in: Schünemann (Fn. 4), S. 71 (S. 80 f.). In der Sache ebenso Krey, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 2, 2011, S. 1073; Schröder, NJW 2010, 1169; Strate, HRRS 2012, 715. Dies geht einher mit Forderungen nach Versiegelung von Strafbarkeitslücken, s. Kasiske, ZRP 2011, 137; Schünemann, a.a.O., S. 99 ff. Anders hingegen Wohlers, ZStW 123 (2011), 791 (814 f.), der meint, das Strafrecht sei ein ungeeignetes Instrument zur Verhinderung künftiger Krisen, könne aber zur Aufarbeitung der zurückliegenden Krise beitragen. 6 S. dazu bereits Sophokles, übersetzt von W. Kuchenmüller, 4. Aufl. 1955, Vers 295 ff.: „Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als das Geld! Es äschert ganze Städte ein [...].“ 7 Vgl. Naucke, Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat, 2012, S. 4 f. 8 Der Begriff „politisch“ steht hier offenkundig für das Öffentliche, das alle Bürger Betreffende, ist also eine Sammelbezeichnung „für sämtliche auf staatliche Ordnung und auf gesellschaftliche Organisationen bezogenen Formen der Pra- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 53 Michael Kubiciel _____________________________________________________________________________________ wältigung der Freiheit durch wirtschaftliches Handeln will er mit einem politischen Wirtschaftsstrafrecht begegnen, das, folgt man Naucke, in letzter Konsequenz auf der Ebene des Völkerstrafrechts zu lozieren ist.9 Der Frankfurter Rechtsphilosoph und Strafrechtslehrer kombiniert damit die bisher diskutierten Deutungsmuster auf innovative Weise: Naucke geht mit dem wirtschaftsstrafrechtlichen Ansatz davon aus, dass hinter der Finanzmarktkrise individuelles Unrecht steht; er betont aber zugleich dessen systemische Voraussetzungen und vor allem die schädlichen Folgen für die – Freiheit gewährleistende – Wirtschaftsordnung. Die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes wird im Folgenden analysiert. Dazu werden zunächst die dogmatischen Grenzen aufgezeigt, an die der Anwender des geltenden Wirtschaftsstrafrechts bei der Aufarbeitung der Finanzmarktkrise stößt (II.). Deren Überwindung dient eine Sonderdogmatik, die Rechtspraxis und Rechtspolitik gegenwärtig in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu etablieren versuchen (III.). Diese Ansätze unterlaufen aber nicht nur die Hürden der einschlägigen wirtschaftsstrafrechtlichen Tatbestände. Sie verlassen auch den konzeptionellen Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts. Naucke bringt dies mit der Bezeichnung „politisches Wirtschaftsstrafrecht“ auf den Begriff (IV.). Das praktische Potenzial dieser Konzeption ist jedoch begrenzt (V.). Kriminalpolitisch vorzugswürdig ist daher die strafrechtliche Flankierung (präzisierter) kreditwirtschaftlicher Vorschriften, wie sie der am 6. Februar 2013 vorgelegte Regierungsentwurf eines „Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten“ vorsieht (VI.). II. Die dogmatischen Grenzen des Wirtschaftstrafrechts 1. Anknüpfungspunkt der wirtschaftsstrafrechtlichen Zurechnung Im Mittelpunkt der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzmarktkrise steht der Vorwurf, Banken seien unüberschaubare Risiken eingegangen, die weder abgesichert noch in den Bilanzen ausgewiesen waren.10 Geknüpft wird dieser Vorwurf an die Bündelung und Verbriefung von Immobilienkreditforderungen, die nach einer Vermischung mit anderen Werten (etwa: Währungsderivaten) über eigens gegründete Zweckgesellschaften an andere Banken bzw. deren Zweckgesellschaften veräußert wurden. Diese verkauften die Wertpapiere – häufig nach erneuter Bündelung und Verbriefung – an andere xis“, so Regenbogen/Meyer, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2005, S. 507 Stichwort „Politik“. 9 S. Naucke (Fn. 7), S. 9. Vgl. auch Schünemann, ZStW 123 (2011), 767 (770); ders. (Fn. 5), S. 102, der von einem „Humanitätsverbrechen“ spricht. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Bittmann, NStZ 2011, 361 (362 ff.); Brüning/Samson, ZIP 2009, 1089 (1090); Jahn, JZ 2011, 340 (344 f.); Otto, in: Amelung/Günther/Kühne (Hrsg.), Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag am 9.7.2010, 2010, S. 375 (S. 379 ff.); Schröder, Handbuch des Kapitalmarktstrafrechts, 2. Aufl. 2010, Rn. 1080 ff.; ders., NJW 2010, 1169; Strate, HRRS 2012, 715. Investoren weiter. Zur Finanzierung dieser Transaktionen wandelten die Zweckgesellschaften langfristig verbriefte Forderungen in kurzfristig laufende Schuldverschreibungen um. Damit erhöhten sie ihr Risiko. Denn wer lang laufende Forderungen mit kurzfristig zur Verfügung gestellter Liquidität refinanziert, kann sich nur durch den ständigen Zufluss von frischem Geld solvent halten. Dieses Risiko vermochten die Zweckgesellschaften nicht abzusichern. Damit sie weiterhin auf dem Markt Handel treiben konnten, stellten die hinter ihnen stehenden Banken Liquiditätslinien zur Verfügung, d.h. sie gaben Garantieerklärungen für die Verpflichtungen der Zweckgesellschaften ab. Entsprechende Rückstellungen bildeten die Banken jedoch nicht. 2. Grenzen des Wirtschaftsstrafrechts Als die Dominosteine zu fallen begannen und die Banken mitzureißen drohten, verwirklichte sich nicht nur ein systemisches Risiko.11 Es verwirklichte sich auch das Risiko einer unternehmerischen Entscheidung: der Garantie unüberschaubarer Verbindlichkeiten der Zweckgesellschaften. Soweit diese Garantiererklärungen zu einer Gefährdung der Existenz der Banken im Einstandsfall führen mussten, waren sie objektiv pflichtwidrig.12 Damit ist der erste Schritt in eine Untreuestrafbarkeit getan. Gleichwohl bestehen Zweifel daran, dass die in den Banken Verantwortlichen wegen Untreue bestraft werden können. a) Vorsatz So lässt sich bereits in Frage stellen, dass die Bankverantwortlichen hinsichtlich der Existenzgefährdung mit Vorsatz handelten, gehen Organe oder Mitarbeiter einer Bank doch gemeinhin davon aus, dass ein Geschäft zum Erfolg führt und sich die eingegangenen Risiken nicht (oder jedenfalls nicht in vollem Umfang) verwirklichen. Die Annahme, im Fall der verbrieften Kreditforderungen hätten sie – der Regel zuwider – mit bedingtem Schädigungsvorsatz gehandelt, bedarf folglich einer eingehenden Begründung.13 Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass bereits weit im Vorfeld der Krise warnende Stimmen zu vernehmen waren.14 Es kann aber auch nicht ausgeblendet werden, dass Ratingagenturen den Wertpapieren lange Zeit Bestnoten gaben und damit deren relative Sicherheit signalisierten. Der verbreitete Einwand, den Ratingagenturen hätte kein Glaube geschenkt werden dürfen, weil ihre 11 Zutr. Kasiske, in: Schünemann (Fn. 4), S. 13 (S. 37 f.); Schünemann (Fn. 5), S. 81. 12 S. hierzu Schröder, NJW 2010, 1169 (1172); ders. (Fn. 10), Rn. 1162 ff.; ähnlich Brüning/Samson, ZIP 2009, 1089 (1093). S. ferner Schünemann (Fn. 5), S. 90 ff., der die Pflichtwidrigkeit in einer dem Risiko nicht angemessenen Prüfung der Papiere seitens der Banken erblickt; s. ähnlich Bittmann, NStZ 2011, 361 (366); Krey (Fn. 5), S. 1081. 13 Wie hier Nestler, in: Schünemann (Fn. 4), S. 63 (S. 66); Otto (Fn. 10), S. 402. S.a. Bittmann, NStZ 2011, 361 (369). Anders offenbar Krey (Fn. 5), S. 1085. 14 Gallandi, wistra 2009, 41 (45 f.). _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 54 Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht _____________________________________________________________________________________ Arbeit von den Emittenten der Wertpapiere vergütet wird,15 überzeugt nicht. Denn das deutsche und europäische Wirtschaftsverwaltungsrecht macht die Produktzulassung in vielen Fällen von einer Konformitätsbewertung („Zertifizierung“) durch Unternehmen abhängig, die von den Produzenten zu bezahlen sind.16 Dies zeigt, dass das geltende Recht das Vertrauen in solche Bewertungen für schutzwürdig erachtet, obwohl die bewertenden Unternehmen eigene ökonomische Interessen verfolgen. Auf die Banken und ihr Vertrauen in die Ratingagenturen übertragen folgt daraus, dass ein bedingter Schädigungsvorsatz erst zu dem Zeitpunkt angenommen werden kann, in dem konkrete Anhaltspunkte die positiven Bewertungen als unzutreffend auswiesen.17 Nun konnte den Bankverantwortlichen der Eintritt des Haftungsfalls nicht mehr als ein – im Wirtschaftsleben stets vorhandenes – abstraktes, sondern musste als ein konkretes Risiko erscheinen. Bauten sie dennoch das Portfolio aus, handelten sie mit bedingtem Schädigungsvorsatz.18 Diese Konstellation dürfte indes nur selten vorgelegen haben: Als sich die Verlustträchtigkeit der Papiere abzeichnete, waren viele Banken längst um deren Abstoßung bemüht.19 b) Vermögensschaden Mindestens ebenso problematisch ist der (verfassungs)gerichtsfeste Nachweis eines Vermögensschadens.20 Denn die vom BVerfG verlangte wirtschaftlich nachvollziehbare, auf anerkannte Bewertungsverfahren und -maßstäbe gestützte Feststellung der Schadenshöhe sowie die Begrenzung von Schätzungen auf „unvermeidlich verbleibende Prognose- und Beurteilungsspielräume“21 schließen aus, was zur Aufarbeitung der Finanzmarktkrise notwendig wäre: die Ersetzung wirtschaftlicher Feststellungen durch Wertungen und Schätzungen.22 Zwar stellt bereits die drohende Inanspruchnahme der Banken aus den Liquiditätslinien bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise einen – teils existenzgefährdenden – Schaden dar.23 In welcher Höhe aber die Banken riskierten, für die Verbindlichkeiten ihrer Zweckgesellschaften einstehen zu müssen, hängt vom Wert der verbrieften Kreditforderungen ab. Diesen Wert 15 Vgl. etwa Krey (Fn. 5), S. 1084; s.a. Schünemann (Fn. 5), S. 78. 16 Ausf. dazu H.C. Röhl, in: Schmidt-Assmann/SchöndorfHaubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 154. 17 Im Ergebnis ebenso Schröder (Fn. 10), Rn. 1200. S. ferner ders., NJW 2010, 1169 (1174). 18 S. Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2011, § 14 Rn. 27. 19 Schröder, NJW 2010, 1169 (1174). 20 Vgl. Jahn, JZ 2011, 340 (346); Saliger, NJW 2010, 3195 (3198). 21 BVerfGE 126, 170 (200 ff., insb. 210 ff.). 22 Zu diesem Ausschluss Saliger, NJW 2010, 3195 (3197). Zur Bestimmung eines Abschreibungs- und Wertberichtigungsschadens Wohlers, ZStW 123 (2011), 791 (811 f.); krit. diesbezüglich Fischer, StV 2010, 95 (101). 23 So Schröder (Fn. 10), Rn. 1190 ff.; s. ferner Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 131 f. dürften Staatsanwaltschaften und Gerichte mit einem vertretbaren Aufwand an Zeit und (Steuer-)Geldern kaum ermitteln können. Dies zeigt auch eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom Dezember 2012. Obgleich die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die beschuldigten Vorstände der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) seit Ende 2006 pflichtwidrig Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe in hoch riskante Finanzgeschäfte getätigt oder nicht untersagt und dadurch der Bank einen „Vermögensverlust in Millionenhöhe“ zugefügt hatten, wurde das Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Untreuevorwurfs eingestellt.24 Begründung: Nach den durchgeführten Ermittlungen lasse sich der Nachweis untreuerelevanten Handelns nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung führen. Soweit Investitionen nach den Ermittlungen überhaupt dem Verantwortungsbereich des LBBW-Vorstands zuzurechnen waren, sei es nicht möglich, einen Vermögensnachteil in einer Weise nachzuweisen, die den Vorgaben des BVerfG gerecht wird.25 III. Ausweg: Wirtschaftsstrafrechtliche Sonderdogmatik? 1. Normalfalldogmatik und Sonderdogmatik Die Anforderungen des BVerfG an den Nachweis eines Vermögensschadens verwandeln den Untreuetatbestand, der nach einem viel zitierten Wort Ransieks „immer passt“,26 in eine Vorschrift für die betriebswirtschaftliche Normallage, in der sich Vermögenspositionen leicht bilanzieren lassen. Bei der Bewältigung komplexerer Vorgänge ist der Anwender des Untreuetatbestandes aber schnell überfordert.27 Bildlich gesprochen müssen Staatsanwaltschaften und Gerichte nämlich einzelne Salzkörner zusammenzählen, wenn sie nachweisen wollen, dass mit dem Ausschütten eines Salzstreuers ein Schaden entstanden ist. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass mit der Größe des Salzstreuers der Schaden zu- und die Wahrscheinlichkeit seines Nachweises abnimmt. Vor allem bei Wertpapieren, deren Geldwert fluktuiert, ist die Bezifferung einer zu einem fixen Zeitpunkt bestehenden Schadenshöhe kaum möglich. In diesen Wirtschaftsbereichen hat das BVerfG den Strafverfolgungsbehörden mit dem Untreuetatbestand folglich ein wichtiges Instrument aus der 24 Stuttgarter Zeitung v. 27.11.2012, unter www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.lbbw-verfahrenstaatsanwaltschaft-klagt-lbbw-vorstaende-an.3fcd84ee-838d421f-9b04-1dab0e4f491a.html (22.1.2013). 25 Staatsanwaltschaft Stuttgart, Pressemitteilung v. 28.11.2012, http://stastuttgart.de/servlet/PB/menu/1280524/index.html?R OOT=1177700 (22.1.2013). 26 Ransiek, ZStW 116 (2004), 634. S.a. Dahs, NJW 2002, 272 (274); Kubiciel, NStZ 2005, 353; Seier, in: Bernsmann/Ulsenheimer (Hrsg.), Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen, Vorträge anlässlich des Symposiums zum 70. Geburtstag von Gerd Geilen am 12./13.10.2001, 2003, S. 145. 27 Insoweit mit Recht eine Überforderung der Praxis konstatierend Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 9/1, 12. Aufl. 2012, § 266 Rn. 163. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 55 Michael Kubiciel _____________________________________________________________________________________ Hand genommen. Vor allem den Eigenheiten der Finanzkrise stehen die Strafverfolgungsbehörden daher mit der an einfach gelagerten Normalfällen orientierten Untreuedogmatik gleichsam „fassungslos“ gegenüber.28 Infolgedessen sind in der Rechtspraxis und Rechtspolitik vielfältige Ansätze zur Etablierung einer strafrechtlichen Sonderdogmatik zu beobachten. Gemeint sind damit Versuche, de lege lata bestehende Strafbarkeitsanforderungen mittels einer von der Regel abweichenden Auslegung des geltenden Rechts bzw. durch Gesetzesänderungen auszuhebeln. Diese Versuche fügen sich ein in die von Rotsch ausgemachte Tendenz des Wirtschaftsstrafrechts, „die Gerichte von spezifisch wirtschaftsstrafrechtlichen Begründungsnöten (zu) entlaste(n), die aus der Kollision von Phänomenen modernen Strafrechts mit traditionellen dogmatischen Begründungskategorien resultieren.“29 Ein wesentliches Mittel zu diesem Zweck ist die Umgehung oder Abschaffung störender Zurechnungsvoraussetzungen.30 Gerade mit Blick auf die Finanzmarktkrise sind derartige Versuche zur Schaffung eines Sonderrechts nur konsequent: Wer künftige Krisen verhindern, wer die „Machtprobe“31 mit den Finanzmärkten gewinnen will, muss demonstrieren, dass das Strafrecht einem „sich weitgehend für unkontrollierbar haltenden Wirtschafts- und Finanzsystem“ gewachsen ist.32 Da dies auf dem Boden einer „Dogmatik der Normallage“ nicht möglich scheint, bilden die – teils bedenklichen – Ansätze zur Etablierung einer wirtschaftsstrafrechtlichen Sonderdogmatik die Kehrseite der von einer rechtsstaatlich-liberalen Intention getragenen Restriktion des § 266 StGB. 2. Erscheinungsformen einer wirtschaftsstrafrechtlichen Sonderdogmatik Das bislang deutlichste Anzeichen für das Nebeneinander von Normalfalldogmatik und Sonderdogmatik ist die bereits erwähnte Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen die Verantwortlichen der LBBW. Während die Staatsanwaltschaft einerseits den hohen Anforderungen des BVerfG an den Nachweis einer Untreue Rechnung trägt (II. 2. b), stützt sie ihre Anklage andererseits auf den Vorwurf, die Bilanzen der Banken hätten die Risiken ihrer Tochtergesellschaften abbilden müssen33 – obwohl die zur Tatzeit geltenden bilanzrechtlichen Vorschriften die Einbeziehung der Risiken von Zweck- 28 Prägnant zu dieser Situation C. Schmitt, Politische Theologie, 9. Aufl. 2009, S. 18 f. 29 Rotsch, ZIS 2007, 260 (263); zust. Prittwitz, ZIS 2012, 217 (219 f.), dabei das Wirtschaftsstrafrecht insgesamt als „Sonderstrafrecht“ qualifizierend. 30 Schärfer Prittwitz, ZIS 2012, 217 (219): Modifizierung „hinderlicher Zurechnungsprinzipien“, der als Beispiel die Etablierung des von Rotsch sog. „ökonomischen Täterbegriffs“ nennt, s. dazu Rotsch, ZIS 2007, 260. 31 Naucke (Fn. 7), S. 2. 32 So Naucke (Fn. 7), S. 52. 33 Zu diesem Aspekt der Anklage FAZ v. 29.11.2012, unter www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/lbbw-anklaegerhalten-vorwuerfe-aufrecht-11976407.html (22.1.2013). gesellschaften in die Bilanz der Banken nicht vorsahen.34 Mit dem im Strafrecht geltenden Verbot einer Analogie zu Lasten des Beschuldigten dürfte diese Auslegung des zur Tatzeit geltenden Rechts nur schwer zu vereinbaren sein.35 Jedenfalls kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Beschuldigten mit der einen Hand genommen wird, was ihnen mit der anderen an rechtsstaatlichen Garantien gegeben worden ist. Ein weiteres Beispiel für den Versuch der Implementierung einer Sonderdogmatik in Folge der Finanzkrise sind die Beschlüsse der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom November 2011. Diese zielen offenkundig darauf ab, die Anwendungsprobleme des Untreuetatbestandes durch einen Verzicht auf das Schadenserfordernis zu beheben. Dazu soll die vorsätzliche Verletzung kaufmännischer Pflichten kriminalisiert werden. Konkret geplant ist eine Hochstufung kreditwirtschaftlicher Prüfungs- und Informationspflichten von Ordnungswidrigkeiten zu Straftatbeständen, vor allem aber die strafrechtliche Sanktionierung des in § 93 AktG enthaltenen kaufmännischen Sorgfaltsstandards.36 Letzteres verstößt zwar nicht „eindeutig“ gegen das Bestimmtheitsgebot;37 schließlich lässt sich mit Hilfe einer konkretisierenden Tatbestandsauslegung durchaus ein Kernbereich sanktionswürdiger Verletzungen kaufmännischer Sorgfaltspflichten identifizieren.38 Dennoch ist der von der Justizministerkonferenz gewählte Ansatz höchst bedenklich. Indem er nämlich die strafrechtliche Sanktionierung kaufmännischer Pflichten von deren Bezugspunkt, dem Schutz des Vermögens der Gesellschaft, entkoppelt, begründet er eine strafrechtliche Sonderhaftung für Vorstände und Aufsichtsräte von Kapitalgesellschaften. Vor dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG kann dieser Sondertatbestand nur Bestand haben, wenn gerade der Verletzung der kaufmännischen Sorgfalt durch die Organe einer Kapitalgesellschaft ein besonderer Unrechtsgehalt zukommt, 34 Zur seinerzeit fehlenden Pflicht, die Zweckgesellschaften in die Bilanzen der Banken einzubeziehen, Ransiek, WM 2010, 869 (870, 872); Rönnau (Fn. 4), S. 54 ff.; Waßmer, ZIS 2012, 648 (649). Im Ergebnis wie die Staatsanwaltschaft Stuttgart Gallandi, wistra 2009, 41 (45). 35 Zum Analogieverbot Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 8. 36 S. dazu Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, Stellungnahme zu dem Beschlussvorschlag der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister v. 9.11.2011 mit einem Vorschlag für „Gesetzliche Maßnahmen zur Stärkung der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität“, 2012, S. 3 u. 5. 37 So aber Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins (Fn. 36), S. 21. 38 S. zum Untreuetatbestand auch Lindemann (Fn. 4), S. 146 sowie BVerfGE 126, 170 (200 ff.) und dazu Böse, Jura 2011, 617; Kraatz, JR 2011, 434; Krüger, NStZ 2011, 369; Kudlich, JA 2011, 66; Kuhlen, JR 2011, 246; Radtke, GmbHR 2010, 1121; Saliger, NJW 2010, 3195; ders., ZIS 2011, 902; Wattenberg/Gehrmann, ZBB 2010, 507; Wessing/Krawczyk, NZG 2010, 1121; Safferling, NStZ 2011, 376; Theile, ZIS 2012, 616 (621). _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 56 Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht _____________________________________________________________________________________ der dem unternehmerischen Fehlverhalten anderer Personen – etwa Organen einer Personengesellschaft – fehlt. Dieser Nachweis ist nicht zu führen. Denn weder lässt sich dartun, dass die Verletzung der kaufmännischen Sorgfalt bei allen Kapitalgesellschaften zu einem Sozialschaden führt, der den Einsatz des Strafrechts legitimiert; noch lässt sich erklären, weshalb dieselben Handlungsweisen in Unternehmen mit anderer Rechtsform generell keinen Unwert enthalten sollen. Kurzum: Der geplante Tatbestand ist nicht hinreichend differenziert und geht deshalb zu weit.39 Personell enger gefasst ist ein Vorschlag Kasiskes, der Angestellte oder Mitglieder eines Organs eines Kreditinstituts einer strafrechtlichen Sonderhaftung auszusetzen beabsichtigt.40 Auch dieses Vorhaben soll die objektiven und subjektiven Zurechnungsvoraussetzungen absenken, um die hohen Hürden des Untreuetatbestands zu unterlaufen.41 So werden Handlungen, die den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Wirtschaft widersprechen, bereits dann pönalisiert, wenn sie den Bestand des Kreditinstituts gefährden. Damit entfällt der vom BVerfG für § 266 StGB verlangte Nachweis eines konkret bezifferten Vermögensschadens. Zudem ist Strafe auch für leichtfertiges Verhalten vorgesehen – damit wird der häufig schwierige Nachweis eines Schädigungsvorsatzes obsolet. Strafbarkeitsbegrenzend wirkt jedoch, dass die Strafe an die objektive Bedingung einer Gefährdung des Finanzsystems (§ 48b Abs. 2 KWG) geknüpft wird. Dies macht zugleich die spezifische Schutzrichtung des vorgeschlagenen Tatbestandes deutlich. Er will nicht den Schutz des Vermögens der Banken verstärken; er soll Gefahren für das Finanzsystem vorbeugen.42 In die gängige Rechtsgutsterminologie übersetzt: Geschützt werden Allgemeinrechtsgüter, nicht Individualrechtsgüter. Dieselbe Schutzrichtung verfolgen die Straftatbestände, die der Regierungsentwurf vom 6. Februar 2013 enthält. Sie sind eine Reaktion auf die „unzureichende[n] Möglichkeiten, Geschäftsleiter von Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Versicherungsunternehmen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, wenn das Institut bzw. das Versicherungsunternehmen durch Missmanagement in eine Schieflage geraten ist.“43 Ausdrücklich heißt es, die Tatbestände wendeten sich gegen Pflichtverletzungen, die nicht nur das 39 Kritik an der Weite des Tatbestandes auch bei Waßmer, FAZ v. 11.April 2012, S. 19. 40 Kasiske, ZRP 2011, 137. 41 Kasiske, ZRP 2011, 137 (138). 42 Vgl. Kasiske, ZRP 2011, 137 (138): „Die spezifische Unrechtsdimension der Finanzkrise besteht aber darin, dass durch riskante Geschäfte nicht nur das Vermögen von Banken geschädigt wurde, sondern diese Kreditinstitute dadurch teilweise an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht und sie eine existenzielle Gefahr für das Finanzsystem verursacht wurden [...].“ 43 Entwurf eines Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen, S. 2, 40, 64. Abrufbar unter http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetze stexte/Gesetzentwuerfe_Arbeitsfassungen/AbschirmungBankenrisiken.html (13.2.2013). einzelne Unternehmen, sondern das Finanzsystem als Ganzes gefährdeten. Der Verweis auf den Schutz des Finanzsystems bietet Tatbeständen eine konzeptionelle Basis, deren Einsatz zum Schutz des Vermögens oder anderer Individualrechtsgüter unverhältnismäßig wäre. Denn ohne einen funktionierenden Finanzmarkt ist ein modernes Wirtschaftsleben nicht denkbar. Das Finanzsystem zu gefährden heißt daher, die ökonomische Basis des Staates und der Bürger und damit eine grundlegende Voraussetzung der personalen Freiheit aller zu unterminieren.44 Dies übertrifft den Unwert von Vermögensdelikten, von Delikten zum Nachteil einzelner Branchen (wie die von § 265 StGB besonders geschützte Versicherungswirtschaft) oder von Straftaten gegen den Wettbewerb bei weitem. Aus diesem Grund sind auch Sondervorschriften wie jene des Regierungsentwurfs gerechtfertigt, die geringere tatbestandliche Voraussetzungen enthalten als bspw. § 266 StGB (dazu VI.). IV. Politisches Wirtschaftsstrafrecht 1. Einordnung Derartige Vorschriften verlassen indes mit ihren großzügigen Zurechnungsvoraussetzungen den dogmatischen und wegen ihrer besonderen Schutzrichtung auch den konzeptionellen Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts. Um dies deutlich zu machen, hat Naucke die einprägsame Bezeichnung „politisches Wirtschaftsstrafrecht“ gewählt. Es folgt der beschriebenen Tendenz zu einer Sonderdogmatik, wie die Ausführungen Nauckes zu § 283 StGB deutlich machen. Die Strafbarkeit der Verantwortlichen von Banken wegen Bankrotts scheitert an § 283 Abs. 6 StGB, der die Strafbarkeit an die Einstellung der Zahlungen bzw. die Eröffnung des Insolvenzverfahrens knüpft. Dem sind Banken wie die IKB und die HypoRealEstate durch staatliche Rettungsmaßnahmen entkommen. Obschon § 283 Abs. 6 StGB nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lässt, ist für Naucke die Wortlautgrenze „überspringbar“.45 Diese Auffassung ist – um das Mindeste zu sagen – in hohem Maße begründungspflichtig.46 Naucke bemüht denn auch Argumente unterschiedlicher Ebenen. Auf der staatsrechtlichen Ebene anzusiedeln ist das Argument, die staatliche Rettung privater Finanzinstitutionen sei „außerhalb republikanischer Verfassungsregeln“ er- 44 Zum wechselseitigen Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und Freiheit grdl. Eucken, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 2 (1949), 1; zur ordoliberalen Freiburger Schule Albert, in: Goldschmidt (Hrsg.), Wirtschaft, Politik, Freiheit, 2005, S. 405. 45 S. Naucke (Fn. 7), S. 64. Rechtsstaatlich einwandfrei hingegen die rechtspolitische Lösung von Schünemann (Fn. 5), S. 101 f. 46 Vgl. zur Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips statt aller Roxin (Fn. 35), § 5 Rn. 1 ff. Zur Herkunft umfassend Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 17 ff.; Schreiber, Gesetz und Richter, Studien zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, 1976, passim. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 57 Michael Kubiciel _____________________________________________________________________________________ folgt.47. Doch haben die Rettungsmaßnahmen nicht nur die Zustimmung des Bundestags gefunden.48 Nach allem, was man weiß, waren sie auch notwendig, um einen gefährlichen Dominoeffekt bei den Banken, einen Run der Bürger auf ihre Einlagen und einen Zusammenbruch der (Finanz-)Wirtschaft zu verhindern. Die Rettung systemrelevanter Banken entsprach also dem Gemeinwohl, oder anders: der volonté générale, und genügt damit den Anforderungen einer republikanischen Demokratietheorie.49 Naucke wendet zudem ein, das Abstellen auf den Wortlaut des § 283 Abs. 6 StGB führe zu einer sachlich unbegründeten Bevorzugung von Bankverantwortlichen.50 Belohnt würden nicht Unternehmer, die durch wirtschaftliches Geschick die Insolvenz abgewendet hätten; privilegiert würden vielmehr Vertreter der Finanzwirtschaft, weil allein sie die Möglichkeit besäßen, „über das Handeln staatlicher Stellen Straffreiheit zu erlangen.“51 Das daraus abzuleitende methodischteleologische Argument lautet: Die Straffreistellung der Bankverantwortlichen entspricht nicht dem Zweck des § 283 Abs. 6 StGB, daher findet diese Strafbarkeitsvoraussetzung keine Anwendung. Dieser Gedankengang überzeugt nicht. Denn die Strafbarkeit wegen Bankrotts wird nicht an die Insolvenz geknüpft, um Unternehmer zu belohnen, die durch wirtschaftliches Geschick ihre Unternehmen zahlungsfähig halten. Im Hintergrund des Abs. 6 steht nicht der Gratifikationsgedanke, sondern eine utilitaristische Erwägung: Ein wirtschaftliches Unternehmen, das sich gerade aus einer Krise he-rauszuarbeiten versucht, soll nicht durch die Einleitung potenziell existenzbedrohender Strafverfahren geschwächt werden.52 Im Fall der geretteten Banken wird diese 47 Naucke (Fn. 7), S. 66. Zum parlamentarisch-repräsentativen System als verbindliche „Grundform“ der Demokratie des GG BVerfGE 102, 224 (234 f.); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 3; Ziekow, Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages, Bd. 1, Gutachten/Teil D: Neue Formen der Bürgerbeteiligung?, 2012, S. 19 f. 49 Für Rousseau schöpft die Selbstgesetzgebung ihren Sinn und ihre Berechtigung nicht aus der Form – der unmittelbaren Beteiligung der Bürger an der Abstimmung –, sondern aus einer Orientierung der Bürger am Gemeinwohl. S. Rousseau, in: Brockard (Hrsg.), Vom Gesellschaftsvertrag, 1977, S. 27, 113, 117. S. ferner Böckenförde (Fn. 48), § 34 Rn. 32; Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 (203 f.); Pawlik, in: Joerden/ Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, 2004, S. 115 (S. 120). Zu diskursiven Demokratiekonzepten Ziekow (Fn. 48), S. 22 f. 50 Naucke (Fn. 7), S. 64. 51 Naucke (Fn. 7), S. 64 f. 52 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 60. Aufl. 2013, Vor § 283 Rn. 4, 5; Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 3. Aufl. 2010, Vor § 283 Rn. 102; s.a. Tiedemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 9/2, 12. Aufl. 2009, Vor § 283 Rn. 87. 48 Zweckrichtung nicht offenkundig verfehlt; daher besteht auch kein Anlass für eine teleologische Reduktion der Vorschrift. Will man Nauckes Kritik am „Zusammenwirken von Personen in politisch machtvollen Geldorganisationen und finanziell abhängiger Politik“53 ein rechtstheoretisches Argument abgewinnen, ließe sich sagen: Weil die Banken Regierung und Parlament zur Rettung gezwungen haben, ist die Berufung auf § 283 Abs. 6 StGB rechtsmissbräuchlich. Jedoch ist es, anders als Nauckes Ausführungen glauben machen, kein unzulässiger politischer Einfluss gewesen, der die Politik zur Rettung der Banken motivierte, sondern die Größe und Verflechtung, kurz: die Bedeutung der Banken für das Finanzund Wirtschaftssystem. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Nauckes Hauptargumentationsstrang. Denn wenn sich die 2008 drohenden Gefahren verwirklicht hätten, wäre der Schaden nicht auf „in Ziffern messbare Vermögensschäden“ beschränkt geblieben; Schaden hätte auch das politische und ökonomische System genommen, das die Freiheit der Bürger gewährleistet.54 Sein treffendes Resümee lautet daher: „(D)as Nutzen von Wirtschaftsmacht ist politische Straftat, wenn diese Macht das verfasste gesellschaftliche System, das der Freiheit dienen soll, beschädigt oder zerstört.“55 2. Erscheinungsformen Naucke nähert sich dem Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat rechtshistorisch. Seine rechtsgeschichtliche Erzählung beginnt bei den Nürnberger Prozessen gegen Vertreter der I.G. Farben sowie gegen Verantwortliche der Konzerne Krupp und Flick.56 Nach Nauckes Auffassung haben diese Verfahren die „epochemachende“ Regel der Hauptverbrecherprozesse, dass die Ausübung staatlicher Macht kein Strafausschließungsgrund darstelle, bruchlos auf die Ausübung wirtschaftlicher Macht übertragen.57 Die Verfahren seien nicht von „anspruchsvollen Präventions- und Steuerungszielen“ geleitet gewesen, sondern hätten lediglich das durch wirtschaftliche Macht begangene Unrecht herausstellen und individuell zurechnen sollen.58 Straftheoretisch gewendet ging es in diesen Verfahren also nicht um Prävention, sondern um Vergeltung. Dies trifft zwar zu.59 Doch war das Unrecht, das der Internationale Militärgerichtshof den Angeklagten zuschrieb, kein genuin wirtschaftsstrafrechtliches: Angeklagt waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch die Versklavung und Ausbeutung von Kriegsgefangenen, „Fremdarbeitern“ und KZ-Häftlingen. Der Identifizierung möglicher Tatbestände eines politischen Wirtschaftsstrafrechts dient Nauckes Analyse des – noch 53 Naucke (Fn. 7), S. 66. S.a. Fischer, ZStW 123 (2011), 816 (820). 54 Naucke (Fn. 7), S. 61. 55 Naucke (Fn. 7), S. 58. 56 S. dazu auch Jeßberger, JZ 2009, 931; Jung, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, Dargestellt am Verfahren gegen Friedrich Flick, 1992, S. 86 ff. 57 Naucke (Fn. 7), S. 15. 58 Naucke (Fn. 7), S. 16. 59 S. dazu Kubiciel, in: Löhnig/Preisner/Schlemmer (Hrsg.), Reform und Revolte, 2012, S. 217 (S. 223) m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 58 Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht _____________________________________________________________________________________ von der Staatsanwaltschaft der DDR betriebenen – Ermittlungsverfahrens gegen Erich Honecker wegen (wirtschaftlichen) Hochverrats. Dieses Verfahren durchzieht nach seiner Auffassung der „naturrechtliche Satz: wer die Bürger seines Volkes durch falsche Entscheidungen um die wirtschaftliche Existenz bringt, muss sich diese Entscheidung objektiv und subjektiv zurechnen lassen.“60 Eine politische Wirtschaftsstraftat milderer Form stellt für Naucke die „politische Untreue“ dar. Von einer solchen könne gesprochen werden, wenn in Folge der Ausübung wirtschaftlicher Macht dem Wirtschaftssystem und damit den Einzelnen, die von diesem System abhängig sind, schwere Schäden zugefügt werden.61 Ein aktuelles Beispiel, in dem die Verantwortlichkeit für eine derartige „bürgerfeindliche Politik“ gerichtlich geprüft worden ist, sieht Naucke in dem Verfahren eines isländischen Sondergerichts gegen den früheren Ministerpräsidenten Geir Haarde wegen seiner Mitverantwortlichkeit für die Bankenund Staatskrise.62 Doch auch in Deutschland ist nach Nauckes Auffassung das politische Wirtschaftsstrafrecht längst Wirklichkeit – wenn auch in alltäglicher, weniger auffälliger Einkleidung. Die „positivrechtliche Heimat“ des politischen Wirtschaftsstrafrechts in Deutschland sei der Untreuetatbestand.63 Dieser habe beispielsweise bei der sogenannten Parteienuntreue dazu herhalten müssen, ein „zutiefst politisches Geschehen strafrechtlich zu erfassen“.64 Auch diejenigen, die sich mit dieser Interpretation der von Naucke angeführten Entscheidungen nicht anfreunden können, müssen zugestehen, dass die Grenzen des § 266 StGB jedenfalls erreicht sind, wenn nicht nur das Vermögen eines Einzelnen geschädigt, sondern die Wirtschaftsordnung und damit die Freiheit aller Bürger bedroht worden ist.65 V. Bewertung Diese Unrechtsdimension können – wie unter III. 2. gezeigt – auch andere Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts nicht angemessen abbilden. Sollte die bestehende Tendenz zur „Divisionalisierung“ des Strafrechts fortgesetzt66 und das StGB um einen Abschnitt über „Straftaten gegen die wirtschaftliche Ord- nung“ ergänzt werden,67 indem dann besondere Zurechnungsregeln zur Anwendung kämen? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob die Schaffung entsprechender Tatbestände zur Erreichung eines legitimen Gemeinschaftszieles geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.68 Falls ein Tatbestand wie die „politische Untreue“ lediglich das besondere Unrecht herausstellen soll, wie Naucke betont,69 liegt der Einwand nahe, es werde bloß symbolisches Recht geschaffen. Ein solches Strafrecht begründet jedoch die Gefahr, dass mit Verweis auf die strafrechtliche (Schein-)Lösung die Durchführung notwendiger Maßnahmen wie eine dichtere nicht-strafrechtliche Regulierung der Finanzmärkte und eine stärkere kreditwirtschaftsrechtliche Aufsicht unterlassen wird.70 Wenn das Strafrecht hingegen auch dazu eingesetzt werden soll, künftige Krisen zu verhindern, wie Naucke immerhin andeutet,71 stellt sich die Frage, ob ein politisches Wirtschaftsstrafrecht dazu überhaupt in der Lage ist. Daran lässt sich zweifeln. Denn in der praktischen Anwendung dürfte ein Tatbestand wie die politische Untreue Schwierigkeiten aufwerfen, welche die unter II. 2. geschilderten Probleme des Wirtschaftsstrafrechts bei weitem übertreffen. Im Unterschied zu § 266 StGB müsste nämlich nicht nur die Verursachung eines Vermögensschadens individuell zugerechnet werden. Zugerechnet werden müsste (auch) eine freiheitsgefährdende Beeinträchtigung des Wirtschaftssystems. Diese Zurechnung kommt einer Herkulesaufgabe gleich, die den verfassungsgerichtsfesten Nachweis der Höhe eines Vermögensschadens als eine leichte Fingerübung erscheinen lässt. Denn anders als in dem von Naucke gewählten Beispiel der DDR lässt sich die Spur der Verantwortung in einer global verflochtenen Finanzwelt nicht entlang der Befehlskette einer Kommandowirtschaft zurückverfolgen. Der Schaden an der Wirtschaftsordnung kann in der Regel nicht einem einzelnen Akteur zugerechnet werden, so dass die von Lüderssen und anderen gehegten Zweifel an der strafrechtlichen Individualisierbarkeit der Verantwortung für die Finanzmarktkrise im Hinblick auf diesen Sozialschaden berechtigt sind.72 Ein derart ausgestaltetes politisches Wirtschaftsstrafrecht vermag die Lücken des geltenden Rechts nicht zu schließen. 60 Naucke (Fn. 7), S. 31. Naucke (Fn. 7), S. 36. 62 Naucke (Fn. 7), S. 39 ff. Das Gericht hat festgestellt, Geir Haarde habe während der Krise des Jahres 2008 notwendige Maßnahmen unterlassen und damit seine verfassungsrechtlichen Pflichten verletzt. Von der Festsetzung einer Strafe – die Staatsanwaltschaft hatte eine zweijährige Freiheitsstrafe gefordert – hat das Gericht gleichwohl abgesehen. Dazu Spiegel online v. 23.4.2012, im Internet abrufbar unter www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/finanzkrise-in-island-expremier-traegt-mitschuld-an-finanzkrise-a-829313.html (22.1.2013). 63 So mit Hinweis auf die Strafverfahren zu den illegal akquirierten Parteispenden, den „schwarzen“ Parteikassen und den Anerkennungsprämien Naucke (Fn. 7), S. 47 ff. 64 Naucke (Fn. 7), S. 49. 65 Naucke (Fn. 7), S. 47 ff. 66 Dazu Rotsch, ZIS 2007, 260 (265), der damit den Trend zur Schaffung eigenständiger Unrechtsbereiche bezeichnet. 61 VI. Perspektive: Die „kleine Lösung“ Gleichwohl kann auf das Strafrecht nicht verzichtet werden. Denn eine ausgeweitete strafrechtliche Verantwortung von Bankverantwortlichen könnte einen Effekt auslösen, der bereits auf dem Feld der Korruptionsbekämpfung sichtbar und durchaus wirksam geworden ist: die Verstärkung von 67 Von „Taten gegen die rechtliche Organisation des Freiheitsschutzes“ und Tatbeständen zum „Schutz einer republikanischen Staatsform“ spricht Naucke (Fn. 7), S. 62. 68 Zuletzt BVerfGE 120, 224 (239 ff.) 69 So Naucke (Fn. 7), S. 5. 70 Vgl. zu dieser Gefahr Hassemer, NStZ 1989, 553 (556); Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 247 f. 71 I.d.S. Naucke (Fn. 7), S. 9. 72 S.o. Fn. 4. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 59 Michael Kubiciel _____________________________________________________________________________________ Compliance-Bemühungen innerhalb der Unternehmen.73 Wenn nämlich Unternehmensleitungen nicht nur für das eigene Fehlverhalten strafrechtlich haften, sondern ihnen – unter bestimmten Bedingungen – auch das Verhalten ihrer Angestellten zu-gerechnet werden kann,74 dürften auch Vorstände und Aufsichtsräte von Banken genügend Anreize für die Verstärkung der Compliance-Initiativen in ihren Häusern verspüren.75 Dies könnte sich als lohnend erweisen. Denn Compliance-Programme führen den Bankmitarbeitern nicht nur die rechtlichen Grenzen des Handelns vor Augen; die nachhaltigste Wirkung dieser Programme besteht in der Schaffung einer betrieblichen „Legalitätskultur“, die dafür sorgt, dass Regeln nicht nur aus Furcht vor Strafe, sondern aus intrinsischen Gründen respektiert werden.76 Zur Auslösung einer Compliance-Welle in den Banken dürfte wegen der Komplexität der zu regelnden Materie indes mehr notwendig sein als die Schaffung eines Tatbestandes oder einiger weniger Tatbestände. Anstatt einer „großen Lösung“ ist einer kleinteiligen der Vorzug zu geben: der Präzisierung und strafrechtlichen Flankierung kreditwirtschaftlicher Primärregeln.77 Hinsichtlich der Verzahnung des Bankrechts mit dem Strafrecht ließe sich das Umweltstrafrecht mit der umweltverwaltungsrechtlichen Akzessorietät seiner Tatbestände als gesetzgeberische Blaupause nutzen. Die Straftatbestände könnten also entweder Bezug auf das Kreditwesengesetz oder auf Verfügungen der kreditwirtschaftlichen Aufsichtsbehörden nehmen, sollten sich die Primärregeln erst durch eine Einzelfallkonkretisierung aufstellen lassen. Diesem Ansatz folgt der Regierungsentwurf vom 6. Februar 73 Grundlegend zu Compliance und Strafrecht, Rotsch, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, 1. Teil, 4. Kapitel. Allgemein zur Bedeutung von Compliance für die Korruptionsbekämpfung Dieners, in: Dölling (Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, 4. Kap. Rn. 83 ff. Umfassend zur Thematik Compliance und Unternehmensstrafrecht Bock, Criminal Compliance, 2011, passim; Sieber, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 449. 74 Zur Haftung der Leitungsebene für Compliance-Verstöße Rotsch, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), Festschrift für Imme Roxin am 15. Mai 2012, 2012, S. 485. 75 Dass „Praktiker zu späterer Stunde“ gern auf den Umstand hinweisen, Compliance-Systeme „seien auch sinnvoll, um für den Fall der Fälle die Vorstände oder Geschäftsführer vor Haftung zu bewahren“, berichtet Leyendecker, SZ v. 14.1.2011, im Internet abrufbar unter www.sueddeutsche.de/wirtschaft/siemens-korruptionsaffaeredas-ist-wie-bei-der-mafia-1.1046507 (22.1.2013). Zur Compliance in Banken Frisch, in: Derleder/Knops/Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2. Aufl. 2009, § 7. 76 Dazu Kubiciel, in: Linnan (Hrsg.), Legitimacy, Legal Development and Change, 2012, S. 419 (S. 428). S. ferner Sieber (Fn. 73), S. 474. 77 S.a. Wohlers, ZStW 123 (2011), 791 (794 f.). 2013. Er hebt die bislang in einem Rundschreiben der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht enthaltenen Mindestanforderungen an das Risikomanagement in Gesetzesrang (§ 25c Abs. 3a und Abs. 3b KWG) und sieht in § 54a Abs. 1 KWG eine strafrechtliche Ahndung diesbezüglichen Fehlverhaltens vor, wenn das Institut in Folge der Pflichtverletzung in seinem Bestand gefährdet wird. § 54a Abs. 2 KWG lässt die fahrlässige Herbeiführung einer Bestandsgefährdung für eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren genügen und umgeht damit die oben unter II. 2. gezeigten Probleme beim Nachweis eines Schädigungsvorsatzes.78 Die anderen im vorliegenden Beitrag identifizierten Zurechnungsprobleme spricht nur die Gesetzesbegründung an. Dort liest man zum einen, die Strafbarkeit wegen der Verursachung einer Bestandsgefährdung werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass staatliche Maßnahmen den Eintritt der Unternehmenskrise verhindern.79 Zum anderen verlangt § 54a KWG keinen Nachweis einer Gefährdung des Finanzsystems; vielmehr zeigen die Motive, dass der Gesetzgeber den Eintritt eines solchen Risikos bei einer Gefährdung eines Finanzinstituts unwiderleglich vermutet.80 Während letzteres lediglich den Regelungshintergrund des § 54a KWG erläutert, stellt ersteres eine Strafbarkeitsausdehnung dar, die sich auch im Gesetzestext wiederfinden sollte. Es sind zwar weitergehende Maßnahmen als die von der Bundesregierung beabsichtigten vorstellbar.81 Doch sollte man sich über eines nicht täuschen: Über eines sollte all dies nicht hinwegtäuschen: Selbst wenn wir der Aufforderung von Stiglitz folgen und aus der zurückliegenden Krise lernen, werden wir auch künftig mit Finanzkrisen zu rechnen und zu leben haben. Sie resultieren nämlich aus dem Gewinnstreben der Akteure auf den globalisierten Finanzmärkten – und sind damit Folge zweier unveränderlicher Gegebenheiten. Weder lässt sich das Rad der Globalisierung zurückdrehen noch können Finanzkaufleute in wohltätige Beamte verwandelt werden. Letzteres ist bereits Platon als „lächerliche“ Vorstellung erschienen.82 78 S. o. Fn. 43. Entwurf (Fn. 43), S. 40 f., 64. 80 Entwurf (Fn. 43), S. 40 („und damit“). 81 Schröder, Europa in der Finanzfalle, 2012, S. 106 ff. 82 Platon, hrsgg. von Apelt, Die Gesetze, Bd. 2, 1917, Vers 918e. Dazu und zur Figur des Kaufmanns in der abendländischen Tradition Hénaff, Der Preis der Wahrheit, Gabe, Geld und Philosophie, 2009, S. 95 ff. 79 _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 60 The Penal Policy of Human Rights By Prof. Dr. Augusto Jobim do Amaral, Porto Alegre (PUCRS)* This essay intends to demonstrate the contours of a deleterious configuration of human rights as backing for the punitive wish, in other words, how the discourse of human rights can be channeled into punitive demands leveraged by the will to punish, which sequesters democracy and ultimately neutralizes its political effects and blocks its very achievement. I. About the meaning of the proposed matter It is well-known that the configurations of punishment, in their various strata and not only institutional ones, amount to a huge public power representation vector to be driven by various interests. Perhaps in few places the amount with which the genuine connection between desire and power can be so well represented.1 Therefore, the penal discourse is the place where the most profound yearnings are quickly revealed, including those of emancipation. The language of punishment, even though it may well be associated to the best of intentions, is deeply seducing, as we know that the discourse has long been more than what the desire expresses or hides, but it is the very desire, it translates not only the struggles or domination systems, but it reveals that for which one fights – ultimately, the power we wish to take possession of. II. The Criminal Law/Right of the Punitive Left Such considerations only intend to stress the need to renew the warning about a phenomenon that could be eventually be named the “punitive left”. It certainly does not specifically concern legislative practices, but it elevates the very interpretative mechanisms of the legal actors in the confrontation with matters more sensible to demands against “the ones above”. In short, it is marked by the “claim for extension of the punitive reaction to conducts traditionally immune to the intervention of the penal system”.2 Getting straight to the point, it concerns aspirations of specific groups (such as the feminist and ecological movement) which have been expanded to the preoccupation with the so called golden criminality, notably the abuses of the political and economical powers. A persecutory furor, often hysterical and irrational, usually monopolized by the right wing in the legitimization of reactionary forces, ultimately reintroduces the worst of authoritarianism in criminal law. This happens because, when encouraging a rupture with the essential liberties of the Rule of Law, in the excitement of * Doctor of High Contemporary Studies from the University of Coimbra – Portugal; Master and Specialist in Criminal Science from PUCRS and Professor of the Criminal Law and Penal Procedure Department of the same Institution. Professorresearcher of the Interdisciplinary Study Center of the 20th Century (CEIS 20) of the University of Coimbra. 1 Foucault, A Ordem do Discurso, Aula inaugural no Collège de France, pronunciada em 02 de dezembro de 1970, 1996, p. 10 et seq. 2 Karam, Discursos Sediciosos: crime, direito e sociedade 1/1 (1996), p. 79. getting to those less affected by the penal system, they often to not realize that such offense reaches exactly the usual “clients” of the system3 who routinely suffer its strong interference, because of the very selectiveness of the penal system. The (not so) new formations of a punitive tendency on the left, which is another face of the traditional repressive belief, only brings a new weakening of the essential rights. “Equally trying to legitimize the penal system, this new tendency conceals punitive wishes under the cloak of an interpretation of the Constitution and the need to replace liberal and individualist ideas about essential rights for concepts that put the social rights in action, extracting alleged criminalizing obligations therefrom, under the illusory prospect of turning the penal system into an alleged instrument of social transformation or emancipation of the oppressed.”4 Quite close to the neoliberal heralds (who are certainly less deluded), what is achieved in this regard is at most the punishment of some member or other of some less affected stratum. In the extremely few cases in which hegemonic conflicts allow for the overthrowing of some person responsible for facts of this kind, this happens because of such person's vulnerability located in a relation of power.5 However, the price of this sacrifice is ultimately the awful legitimization of the penal system as a whole6, i.e., of that same repressive, stigmatizing and essentially unequal-selective mechanism.7 They forget that the exceptionality of the penal system's action is inherent to its essence, and also peremptorily forget the noticeable functionality of any penal system in handling illegalities differently, i.e., not caring about overcoming criminality of any nature. It would be frightening and amazing, unless we could not see the immense willingness of certain sectors and political forces to adhere to a system willing to reproduce inequality and suffering under this study focus, seemingly for some momentary enjoyment of punitive reac3 Batista, Punidos e Mal Pagos: violência, justiça, segurança pública e direitos humanos no Brasil de hoje, 1990, p. 39. 4 Karam, Recuperar o Desejo da Liberdade e Conter o Poder Punitivo, Vol. 1, Escritos sobre a Liberdade, 2009, p. 4. 5 The far from contingent but structural aspect of the selectivity of the penal system and especially the illusion of lack of coverage that such situation attempts to create cannot be overemphasized. See Zaffaroni/Batista/Alagia/Slokar, Direito Penal Brasileiro, Vol. 1, Teoria Geral do Direito Penal, 2003, p. 49-51. 6 Zaffaroni, in: Cóppola (comp.), Derechos Fundamentales y Derecho Penal, 2006, p. 70. 7 Batista, Introdução Crítica ao Direito Penal Brasileiro, 8th ed. 2002, p. 24-26. The vast sources about the core point of the penal system (and it criminal law), both unequal, is a central issue in Baratta, Criminologia Crítica e Crítica do Direito penal: introdução à sociologia do direito penal, 2nd ed. 1999, p. 159-170. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 61 Augusto Jobim do Amaral _____________________________________________________________________________________ tion channeled to another direction. At some time concerned with some social transformation utopia, they seem to embark on the contradiction of intending to use a tool that is part of the problem for the solution of this same confusion. A certain left-wing spectrum, under hypocritical political pragmatism, announces new enemies of social cohesion: now “the ones above” – the same batteries, with signs reversed. Although incorporating libertarian ideals and knowing how to recognize and break from any form or authoritarianism, such sectors ultimately serve as protection and revitalization of the more reactionary discourse of the repressing „penal right wing“ (obviously under a new guise of defense and achievement of the „real“ Democratic State Ruled by the Law). Hence the criminal law/right of the punitive left. By accepting the rationale of penal repression, it enlarges the State's punishing power and finally accepts the dynamics of violence and the exclusion included therein. Any desire for freedom is lost in the entanglements of the will to punish.8 8 The stamp of selectivity of the penal system is unavoidable. As demonstrated for a long time, the penal system works as an epidemic, affecting preferably those with low defenses (Zaffaroni, Sistemas Penales y Derechos Humanos en América Latina [Primer Informe], Documentos y cuestiones elaborados para el seminario de San José [Costa Rica], 11 al 15 de Julio 1983, 1984, p. 159-165). One does not escape this dynamics when dealing with higher social strata. It is the very police provision to govern the society. Such chosen ones, now from higher floors, will be equally summoned as new scapegoats (Girard, A Violência e o Sagrado, 1990, p. 91115). Penal pornography (Wacquant, Punir os Pobres: a nova gestão da miséria nos Estados Unidos [A onda punitive], 3rd ed. 2007, p. 9), under which we are sensationally submitted by means of spectacular operations (always given cool names, since a marketing product must be attractive), forced temporary and preventive incarcerations, often in violation of the laws themselves, should not fail to convey the image that the system is legitimate and less selective. The very actions that allege to reduce selectivity will operate the punishment of the usual prisoners. Selectivity or rather the inequality of the penal system does not materialize in an element to be reduced considering it very application. It is necessary to recognize when this takes new directions, choosing at certain times people who are not usually part of the penal system. In order to reject such arguments, one could say – not without a considerable amount of hypocrisy – that if we chose the „repressivist-emancipatory” direction we would be at least reducing the inequality of the penal system and beginning to demonstrate that all social strata are eventually controlled. It is a happy illusion. Selection and punishment are indiscernible: trying to abolish the former can only lead to the unavoidable suppression of the latter. And ostentation in the fight against inequality only contributes to worsen the scenario, thus reaffirming the mechanisms of repression. The alternative to „democratic incarceration” is accompanied by the Rule of Law violating Democracy (Santoro, Cárcel y Sociedad Liberal, 2008, p. 162). Otherwise, one forgets that new selective processes will internally affect these new targets, without ex- It is extremely important to stress, in short, that such symptoms of the so called democratic left have sources in common – which perhaps could even be translated as an ordinary political platform – with parties of such different political structures in the sense of forming some similar political identity, something as if it were a new mechanism of partisan “subjectivation”. The derivation of punitive schemes and its populism of the so called conservative or neoliberal dens are quite noticeable. However, shifting the focus and getting closer to how the „emancipation“ discourse can contain penal authoritarianism inverters can be ever more precious. This, in a different manner, criminologically speaking, is part of the inventory (not to say the remains) of the inheritance of a certain critical criminology,9 inattentive to its own “fire warnings”10. The “paradigm of new criminalization”11, resulting from the criticism of criminal law as a “class instrument”, can be depicted as we have seen, at least in Brazil, through the Constitution, since the 90’s. In the event we divided the directions of the results of the critical criminology criticism in two currents,12 on the one hand, because of the class nature attributed to criminal law, we could easily conclude that we should reject it. On the other hand, in a manner more suitable to these left-wing punitive movements, we would have the demand for equalitarian application thereof. This sector shall remain faithful to the spirit of it and deals with reversing the use of criminal law as an additional means to protect the interest of the weak. It also supports the criminalization and utilization of criminal law properly to protect and castigate violations to human rights, again making use of its own reversal for its alleged protection. Formerly, decriminalize because criminal law attacks us, now, criminalize because criminal law protects us? Deep inside, the criticism in this regard contained repudiation not to criminal law itself, to the way it was being used. Such irony: the concept of human rights serving to expand criminalization by the very cluding the continuous reproduction and creation of spaces of exception inside the penal system. From a media perspective, the return may be huge, as it would show its „effective” universality and equality – a false maneuver to bestow legitimacy upon the penal machinery. And when the emphasis on the crusade against criminals (powerful or otherwise) becomes everyone's mission, not just between Police-Department of Justice-Judiciary, but of the people as a moral subject (Foucault, Estratégias, poder-saber, Coleção Ditos e Escritos IV, 2nd edition 2006, p. 163), a police-oriented society is no longer fiction. If that which is solidly built disappears in the air, i.e., time goes by and the memory of spectacular scenes perish, the door of the exceptional guarantees of yore remains pried open. 9 Baratta (fn. 7), p. 202. 10 Benjaminian shades, paraphrasing Löwy (Walter Benjamin: aviso de incêndio, Uma leitura das teses „Sobre o conceito de história”, 2005, p. 33 et seq.). 11 Cohen, Visions of Social Control, Crime, Punishment and Classification, 1999, p. 254-260. 12 Larrauri, La Herencia de La Criminologia Crítica, 1991, p. 223-224. _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2013 62 The Penal Policy of Human Rights _____________________________________________________________________________________ sectors of the progressivist movements that used to criticize the way the penal system works. They can be new moral entrepreneurs13 supporting the investment in the extremely questionable and previously attacked symbolic function of criminal law, now seen as positive. In a way, they disseminate the hegemonic discourse of criminal law as a defense means by associating with the control instances. Larrauri says: “a estos nuevos movimientos no se les escapa la (doble) paradoja de que la ampliación de la criminalización se debiese, precisamente, a las mismas fuerzas opuestas a la criminalización, y que movimientos normalmente contestatarios con el Estado acudiesen ahora a éste en busca de ayuda e intervención.”14 Not only by resorting to penal help but most of all by shifting from the right focus, they ignore a re-victimization – by the re-regulation of the conflictive situation – of the same protection targets (for instance, women and environment protection), precisely through moving efforts away from more effective solution, apart from ultimately pulverizing certain suitable mobilization around these issues by seeing them already in the realm of penal answer.15 The penal system does not relieve suffering. At most, it replaces suffering with resentment, depression or another mechanism that will eventually be channeled into producing greater pain.16 It handles pains, allowing for the legitimization of an even more violent exercise, encouraging the most perverse feelings of revenge. That is its scandal, which never ceases to materialize. It is quite perceptible at this point that our argument bends to the opposing side. Naturally, there is no reason to ignore the huge advancement of, shall we say, a more original current of critical criminology: it is correct to say that criminal law may be accused of protecting essentially the interests of the powerful, that it is used disproportionately against more vulnerable social sector; it is correct to implement a radical transformation in order to avoid further suffering. However, its use in the best of cases is ineffective to resolve social conflicts and it ultimately serves to increase the caused evil and suspend the conflict rather than resolve it. It stigmatizes the subject, offers false solutions and does not satisfy the victim itself in any extent. The line of discussion must contain the full rejection of criminal law as a way to prevent punishment or offenses. And in this regard, on a preliminary basis, it does not refrain from taking the problems raised by social demands seriously.17 13 Becker, Outsiders, Studies in the Sociology of Deviance, 1963, p. 147-162. 14 Larrauri (fn. 12), p. 218. 15 About the „re-regulating is resolving” myth, see Zaffaroni/ Batista/Alagia/Slokar (fn. 5), p. 54-56. 16 Myra y Lopez, Quatro gigantes da alma, O medo, o amor, a ira, o dever, 1960, p. 112. 17 Anticipating any counterpoint, the elision of the presence of procedural guarantees is not excluded from this vision. No other meaning is assigned to penal science but the fixation of guarantees, but this does not include the argument of the urgency to see them ultimately association with the punish- The great enlargement of the punitive power through the inquisitive elements that are permanently present in the general system operators, further helped on the left by a touch of constitutional lawfulness, allows our democracy to be categorized, to some extent, as representing a “cool authoritarianism”18. However, the alleged criminalizing obligations, derived from an interpretation of the Constitution, may often be nothing more than a distortion. The protection of legal assets is a necessary condition, but it is not sufficient to legitimize the penal prohibition.19 Assuming that the penal system only acts in a negative way, i.e., providing remedy, protection or avoidance of the conducts it criminalizes in an improper manner, the fact that it is simultaneously an instrument for positive action is a contradiction. In other words, the penal system is not an effective mechanism for the protection of essential rights except on an individual basis – this would be genuine “penal remedy”. Therefore, the ordinances contained in section 5 of the Constitution of the Federal Republic of Brazil, the source from which a large part of the penal constitution that we have will be taken, impose state intervention, but for the purpose of creating material, economical, social and political conditions for the achievement of those essential rights, and not on a criminalizing level. Once again, the so called left-wing legitimizing discourse slips towards this rationale.20 III. Will to Punish and Penal Populism: archetypes for a penal policy of human rights All this movement is intrinsically attached to an even greater dynamics. There is a deep constant which, notwithstanding, emerges as a basic symptom in such political environments, to some extent, named by Salas as a will to punish. Here a much more diffuse and enlarged amalgamation is naturally gathered, apart from the juridical actors involved in the criminal matter. A punitive fervor invades the democratic societies beyond the courts of justice, with their help and also with the help of a certain part of the left, on the pretext of some devoment in some legitimized form. The endorsement that is assumed is not the need for punishment, but the submission of the potestas puniendi to legal control (penal procedure is one of these avenues), not entailing the acceptance of this punitive model. See Amaral, Violência e Processo Penal: Crítica Transdisciplinar sobre a Limitação do Poder Punitivo, 2008, p. 117 et seq. 18 Zaffaroni, O Inimigo no Direito Penal, 2007, p. 70-81. 19 Staechelin, in: Instituto de Ciencias Criminales de Frankfurt (ed.), La insostenible situación del Derecho Penal, 2000, p. 289-304. 20 Obviously, the repressive network would not be stopped this way in all cases. Even with this observation of unnecessary criminalization, in the context of the Brazilian constitution, several examples of expansionist thrusts in criminal law would remain. Even the constitutional level ignores the ineffectiveness of the penal system and invests in it, even when the protective provisions make no mention to criminalization, except through the punitive yearning of the legislative actors involved. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 63 Augusto Jobim do Amaral _____________________________________________________________________________________ tion to the “victims”. A judge once involved by state ineptitude, with the demands for judicialization inherent to basic citizen rights, is now raised to the position of political actor par excellence in criminal terms: Judges now “are only visible in red”.21 In a social enclosure surrounded by risk, where the management of dangers has become essential and the demonization of the other has a captive place, the latency of the victimizing state channels penal populism. The shaping triad of this state of things is summarized on the basis of, as described by Salas: a strong police, a disciplinarian Bench and right of exception always ready to act. Thus, the central question about penal populism must consider the figure that violently embodies the collisions of the yearnings of punishment: a role that is played by the victim „Loin d´être l´apanage des partis extrêmes, il caractérise tout discours qui appelle à punir au nom des victimes bafouées et contre des institutions disqualifiées. Il naît de la recontre d´une pathologie de la représentation et d´une pathologie de l´accusation: réduite à une communauté d´émotions, la société démocratique ‘sur-réagitʼ aux agressions réelles ou supposées, au rique de basculer dans une escalade de la violence et de la contre-violence. Toute hésitation serait l´indice d´une faiblesse. Tout prudence, une marque de complicité.”22 In this pathology, one does not want the authorities to be weak and complacent to crime, since security has become an absolute right straightly aligned with the “public”. Moderation is not compatible with the exacerbation of social reaction, hence a profound deficit − not to say paralysis) of the 21 Justice will only be of interest to the public in its acute form, where there is crime, a criminal court, a game of life and death. Maybe this could be explained by a double movement identified by Foucault. Justice enveloped by an „administration” comparable to the other State powers suffered double movement, according to him, forwards and backwards: it lets go of an even greater domain of businesses that are regulated behind themselves (like the struggles on an economic level) and furthermore it deviates greatly of the „social” functions of everyday care. It is certain that it should not act only as a fortress (even if access thereto can sometimes represent such a thing), but it is ironic that it is flexible, penetrable and transparent. It is in its realm that the organization of disorder produces useful effects. It is in the judiciary mechanism that cares for us that disorder produces order. In three ways, the author shall say: it produces „acceptable irregularities” under which we are in tolerance consented by everyone; it produces „usable asymmetry”, securing advantages to some that other ignore or cannot have; finally, most of all, it produces something of the highest value in civilizations such as ours – social order. Foucault says – not without huge shades of Kafka – after all the picture of the judiciary appliances as one of those pieces of machinery of Jean Tinguely, „full of impossible wheels, of blades that drag nothing and gears that feign: all the things that ‘do not workʼ make ‘it moveʼ.” (Foucault, O Limão e o Leite, 2010, p. 237-239). 22 Salas, La Volunté de Punir, Essai sur le populisme penal, 2010, p. 12 and 14. mediation imposed to democratic societies. It is then that the very democracy is exposed to these threats, which believes to puts its very fundamentals to the test. It is interesting to systemize this movement in key points with some strength. We analyze that the rise of a securityoriented society invades the practices playing a certain leading role, at least in the West beginning in the 70’s. Taken as the central topic of the political discourse per se, the (in)security and its war rhetoric (which confounds internal and external security) attracts not only the right-wing discourses (that were always there: in times of prosperity, with its politically correct discourse, but which in hard times will call the shots for a channel giving access to repression – xenophobia, terrorism, sexual crimes, drugs etc.), not only political leaders but also, in its determination to fight against impunity and equality vis-à-vis the law, legal activism, which now gains public space as a crime-fighting tool. Penal populism clearly becomes a major component of democratic life. A purely repressive “right to punish” combined with an (effervescent) opinionated democracy is merely a small sample of attractive promises (to voters) of this political discourse of media-oriented emotion. Its irruption acquires three essential elements: radical punishment; the total indifference regarding any effectiveness of these policies (as it is the impact it has on public opinion that counts) and strict laws promising to reduce criminality.23 It is the time of the victims. The first combat and punishment plan is installed by a victimizing imaginary real and fertilizes the soil for the figure of the avenger, precisely of the “accusatory victim”. Could we risk saying that the victim of yore has become the persecutor of today? The demonization of the opponent is only the other side of the rhetoric of the martyr and the fight against evil. The dramatization of the penal scenario comes in handy in this radical separation between anger and pity. The fight of good against evil in a degraded democracy of individuals a role that is played by the victim exacerbates the return of the victim and especially places the moment of penal procedure in what could be described as “democracy of the complaining”24. The moral and populist crusades disrupt any balance that could be between the force and form that constitutes the Rule of Law. It is as if, once the irrational portion of power were rehabilitated, there would be a steep dive in the originating violence that properly inaugurates the state entity. In this critical point, the roles of victims and executioner become interchangeable.25 23 Salas (Fn. 22), p. 57. Salas (Fn. 22), p. 84 and 90. 25 For Packer, according to a classic scheme, the legal appliance may operate as an assembly line, assuming two operation levels: initially, crime control, headed by the police and by the Department of Justice, and a second one, regarding the respect to due process, under the authority of the judge. In fact, these would rather be two regulating models of criminal procedures that would lead us to perceive an antinomy in the heart of criminal justice. The author says: “Two models of the criminal process will let us perceive the normative antinomy at the heart of the criminal law. These models are not 24 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2013 64 The Penal Policy of Human Rights _____________________________________________________________________________________ The passion for punishment, fed by penal populism, is imposed most of all by affection. Any understanding look on the accused one is broken, to the extent that collective indignation relegates this look to evil personified. But how could one resist the embrittlement that affects democracies involved in this penal ostentation? How to keep away the intoxication (hallucination) of a demagogical community of emotion? Will the danger, as revealed in irrationality, properly come through the best possible democratic justification: the rights of men, i.e., the formation of a penal policy of human rights? The denaturation of its role of limiting the punitive exercise is the announced archetype of its own corrosion. The repressive injunction, which leads to the multiplication of cases of incrimination, reinforces not only legislative and police activism but also the judicial realm, seeking the (sterile) protection of human rights, which is often equivalent to exposing an illusory protection through the reinforcement of the interdict. When the reference was lost, the fruitless reiteration of the legal (criminalizing) instance only reveals the failure of its authority. One resorts to the triumph (or consolation?) in criminal law just like the allies create in the illusory “Maginot Line”26, as a way to safeguard themselves against the Nazi approach. The offensive of a punitive moralism seems to have opted for the explicit choice of values inherent to the total indifference to the rights of offenders. We are faced with democracy thrown against itself, where the return of the demands for control, safety and punishment march triumphantly over the very personal rights. To the labeled Is and Ought, nor are they to be taken in that sense. Rather, they represent an attempt to abstract two separate value systems that compete for priority in the operation of the criminal process. Neither is presented as either corresponding to reality or representing the ideal to the exclusion of the other. The two models merely afford a convenient way to talk about the operation of a process whose day-to-day functioning involves a constant series of minute adjustments between the competing demands of two values systems and whose normative future likewise involves a series of resolutions of the tensions between competing claims.” (Packer, Limits of the Criminal Sanction, 1968, p. 153). Thus, the first is a chain (literally) responsible, programmed and prepared to turn a suspect into a convict, while the second becomes an obstacle in this course, which makes the protection of the accused one a core value. The repressive system, increasingly impregnated by the ideology of the “just deserts”, has been appropriated and represented by penal justice to the detriment of the second, exactly to bestow credibility upon the institution. By imposing the corollary of the efficiency paradigm, on the one hand, this value acts mostly on the smaller criminality with a number of provisions that pragmatically claim the culpability of the defendant; regarding the „big” criminality, there is the penal procedure of exception, not only with special procedures, but most of all with the permanent and general possibility of breaking the rule through the very open provision of the laws. 26 Metaphor used by Pires, Revue de droit pénal et de criminologie 2/81 (2001), 145-170. extent that human rights become a policy, we would add the term penal to the expression of Marcel Gauchet27. A fundamentalist derivation conducted by the reversal of human rights through excess is perceived. A left outside the left, to paraphrase the French author. The penal effects of a repressing and criminalizing policy, founded on the protection of essential rights, are experimented signs within the disconcerting faces of the new democracy, identifiable at least since the post-war period and reaching its peak at least since the 70’s/80’s. Which, it should be noted, had a deep effect in the Brazilian constitution. A triumphant democracy now returns – and the Brazilian case is also a noteworthy example – in a penal activism in the name of its very supreme values, surreptitiously imploding its own bases. The statement made in 1980 that the rights of men are not a policy and restated in 2000, once reread, may reveal precisely a threatening reversal that can be viewed in the emancipation of man from the level of his rights: the collective alienation tends to multiply. Hence the reinforcement of the role of the state which, in a matter of penal control, triggers a deepening of social anonymity and an aggravation of the disregard for the public thing. In other words, human rights cannot be a policy, except on the condition of being able to recognize and overcome the alienating dynamics of individualism that they naturally convey.28 The consolidation of human rights as an undeniably greater ideological and political factor in recent times, exactly then violations thereof are becoming so natural, should not lose sight that, when placed as the epicenter of the democracies, they may become the reason for their difficulty to become a policy. The greatest proof of this is their criminalizing penal expression. Gauchet’s argument helps us think about the questioning of the penal culture issue under different values. Under the focus built so far, we are led to accept the idea that such platform – the channeling of the demands for protection of human rights towards a penal bias and all the punitive and populist vision of their actors implied therein – comes as an additional variable of the collective impotence to turn these rights into a material political action measure going beyond the sterile penal proposition. When democracy is no longer contested, it triumphs towards the idle consolidation of the rights its states, disregarding any social-historical consideration – Gauchet’s diagnosis – and the practical contradictions start to appear. Its internal substance and even its governing power are depleted. Furthermore, this could mean a certain loss of power, in this new conjuncture, of political and social discourses, which are absorbed by these very principles, which fail to nurture de27 Gauchet, A Democracia contra ela mesma, 2009, p. 360 and 38. It is known that it used to be a current problem in the seventies and had been covered by other authors such as Lefort, with Espirit magazine going as far as holding a meeting about the topic at the end of the decade: „Are the rights of men a policy?”. Lefort, A Invenção Democrática, Vol. 3, Os limites da dominação totalitária. Coleção Invenções Democráticas, 3rd ed. 2011, p. 59-86. 28 Gauchet (fn. 27), p. 53-54, 62-63 and 69-71. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 65 Augusto Jobim do Amaral _____________________________________________________________________________________ mocracy itself. In the penal realm, can this be clearer when the unchanging discourses of expansion of the punitive power are similar either at east or at west?29 Hence the weakening of the collective through an alleged individual affirmation, the realm of the individual in the society to the detriment of the society of the individual – if they can be separated and do not represent the basic problem of the matter. Regardless, in the field of political mechanism itself, human rights as a promise of power become dispossession under the effect of the liberation of the particularities in which they are translated. Particularities channeled towards the power to punish point to a complete depletion of its ideals under the mantle of an alleged emancipatory protection. If they can affirm the bases on which we are gathered, they offer little in terms of the effective fabrication of the beingin-a-set, and because of this deficiency the ultimately make 29 When they become a belief and amount to a sheer act of ideological faith, democracy gains a huge space in long strides. That is because these rights have the effectiveness of filling a void and may become a powerful means to transform the future in the lack of a great vision about tomorrow. But it must be noted: by doing it, „they say nothing about the reasons that make things be as they are”, frenetically surrendering to the ideas about means to modify them. What does it mean? There is serious disqualification in the search for explanations – after all, trying to learn, in this regard, means agreeing to the unacceptable. Thinking in terms of criminal politics, not thinking in terms of the defense of urgent criminalization, in the swelling of the State in penal persecution and severe punishment, means being against something that should be made immediately and being an accomplice of this crime. A new kind of Machiavellism arises on the foreground of democracies. The good one, „dedicated to the celebration of man and right, intended to preach the just causes and good feelings without failing to witness its humaneness, its compassion for the victims, its concern with the wounds of the world.” They refer to a separation between the ideal and the real that the governments now deal in, running the risk of they themselves becoming the scapegoats of the resistance of the real to the ideal. The move to consensual ideology is an escape from the age of confrontations, an agreement made around the rights leading to a „depoliticization of means” benefitting the powers that, in this new political art, are its mere enforcers. Hence the precariousness of any position of power in the core of our pacified regimes. A necessarily frustrated expectation will be the core of our policy: „consensus democracy is discontented democracy.” In this new system of the beliefs, there will be room for the appreciation of the intentions only. For the power, as the vector of the possible, a „policy of intentions” will suffice, of generous good will, indifferent to the denial of the real. Nevertheless, this makes prosecutors immune, regardless of the consequences of their provisions. In this regard, most of all, the problem will have been felt and will not be attributable to anyone in particular. A promise of power, of achievement of the rights of man, ultimately becomes an unintelligible potency, i.e., the grave of politics. (Gauchet [Fn. 27], p. 340-341 and 348-350). room for impotent reproduction, which is enabled by relapsing into the excess penal power. It is up to us to know whether this is what we want: to dive into the vertigo of an intimate degradation of democracy attested by this self-destructive temptation.30 Thus, the militant ardor tends to disrupt any alliance between justice thinking and the thought of a person’s right, and the claims for justice start to relate to the representation of the victims. In short, the protective system of human rights is ultimately reversed and contradicts its own principles. Under the mantle of penal policy, they become excellent narcotics seeking to compensate for the diffuse social evils. More directly, an ideological reversal31 of human rights is installed given the identification of its “policy” with the imposition of power and becomes the strongest support of security policies. The justice institutions, perhaps more than any other, are faced with populist effects. When, in an initial political moment, democracy reacts voluntarily, pragmatically and immediately to the crime, moved by the partiality of emotion, the Department of Justice or the Police authorities come to the rescue of a threatened society. However, the opposite is assumed in the judicial moment, which is prudently and deliberately stopped by its procedural course. Some cult to surrender may lead the legal institutions not to resist and become vulnerable to opinion agitation. And the ineligible law of the judges as public servants implies – associated to this greater exposure to media-oriented discussions and the criticism receive, as it is obvious that it has to deal with any majorities, hence its counterpower of tutelage of minorities, hence its legitimacy32 – greater responsibility still tied to the powers arising therefrom: “un juge enrôlé dans une croisade contre le crime n´est plus à sa place de tiers impartial; il prende le rôle d´un ‘saint belliqueuxʼ voué à une mission sacrée, au risque de briser les principes qui gouvernent sa fonction.”33 IV. Positions – Repressive Democracy There is a pronounced force that owes little to any outside focus except to the dissemination of a viral strategy that corrodes the social body and democracy itself. Today we could talk about hyperterrorism or any other formation of some concept of enemy34 without going through what really mat30 Gauchet (Fn. 27), p. 360-365. Hinkelammert, in: Herrera Flores (ed.), El Vuelo de Anteo: Derechos Humanos y Crítica de la Razón Liberal, 2000, p. 79113; Herrera Flores, Teoria Crítica dos Direitos Humanos: Os Direitos Humanos como produtos culturais, 2009, p. 68 et seq. 32 Ferrajoli, Derecho y Razón: Teoría del Garantismo Penal, 1995, p. 578-581. 33 Salas (fn. 22), p. 234. 34 The more diffuse the concept, the more it suits an opportunist appropriation, as warned by Derrida. The dominant power will be the one that is able to impose and legitimize, even legalize (as it is always a matter of law), in a national or worldwide stage, the terminology and interpretation that is 31 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2013 66 The Penal Policy of Human Rights _____________________________________________________________________________________ ters. If we want to use Derrida's denomination, there is a certain internal terror that produces “self-immunization” in democracy – as it is known that the worst and most effective form of terrorism, even if it seems foreign or international, is the one that installs an inside threat and reminds that the enemy is also lodged within the system – i.e., it destroy its immunity defenses, subverts its languages and weakens its institutions. The September 11 event35 only exposed the selfdestruction of the democratic defense mechanisms according to a mental impact of an evil that leads to counterviolence in its image. Both torture in the name of democracy allied to war culture and the punitive rhetoric in the name of the victim bestow a powerful élan upon the political discourse. “A democracy that does not understand its own global disposition which constitutes half of its being, that is no longer attentive to the coexistence of its portions turned into a purpose in itself, is a democracy that no longer understands the bases on which it rests and the instruments it needs. It no longer knows how to confer a statute upon the limits of historical community thanks to which it is capable of acting upon itself, it no longer has the meaning of authority appliance that allows it to be applied to itself.”36 There is an implacable law that regulates this entire selfimmunity process, i.e., a rationale that leads democracy to work for itself in an almost suicidal manner, exactly to immunize its own protection. Initially it should be triggered by an event which, as such, carries some inappropriatability as we have said, some incomprehensibility. This transgression of a new kind entails a trauma, a wound marked not only in memory. In this point it is healthy to rethink this capable temporality to be conveyed in punitive populism. The idea of 9-11 as a “major happening” (but the scheme remains strict for our analysis) allows us to clearly perceive that it is the future that determines this inappropriatability, not the present or the past. Speaking of traumatism, it is produced by the threat that the worst is yet to come – “an unpresentable future (to come)”, the fear of what has happened will not be greater than the fear and imminence of a future aggression. That is why the “unpresentable future” governs a rationality of a permanent state of readiness and anticipation of all kinds of repressive means in a sort of continuous state of defense that most suitable to it within a certain situation. Derrida, in: Borradori, Filosofia em Tempo de Terror: diálogos com Jürgen Habermas e Jacques Derrida, 2004, p. 112-119. Also about the troublesome concept of terrorism, see: Zaffaroni (fn. 18) p. 65-69. 35 Towards a meaning of expropriation according to Derrida: „an event is what emerges, and when it emerges, it emerges to surprise me, to surprise and suspend the comprehension: an event is most of all that which I do not understand. It consists of that, that which I do not understand: that which I do not understand: my incomprehension. [...] Hence the inappropriabilty, the unpredictability, the absolute surprise, the incomprehension, the misunderstanding laughter, the unforeseeable news, the purse singularity, the absence of horizon.” (Derrida [fn. 34] p. 100 and 104. 36 Gauchet (Fn. 27), p. 363. invents and feeds its own monstrosity that it alleges to exceed: “What will never be forgotten, thus, is the perverse effect of self-immunity in itself. Now we know that repression, both in the psychoanalytic and political sense – be it through the policy, the military or the economy, ultimately produces, reproduces and regenerates the very thing it intended to disarm.”37 The dissolution of politics through collective emotions exists in an atmosphere of universal war against crime. The acclamation that makes it all homogeneous is more viable. The appeal of power is sent to imaginary people much more suitable to an ideology that presumably categorizes the plurality of the real people as ungovernable. The empty place of power once supposed by Lefort38 as the principle of democracy, which must represent a perpetual democratic abstaining from accepting ultimate fundamentals providing about last certainties, is easily filled today by any punitive demand. Agamben39 recalls that, in 1928, Carl Schmitt tried to establish the constituent meaning of the acclamations in public law when dealing of the relationship of the People with the Democratic Constitution in his Theory of the Constitution. There the German theoretician indissolubly associates acclamation to democracy and to the public sphere (the people). For him, the public opinion is a modern form of acclamation and here is where the essence of its political meaning can be found. Even not ignoring the dangers of certain social forces driving the public opinion and the will of the people, this would be a minor problem, provided the capacity that he considered decisive for the political existence of the people is assured:40 the categorical refoundation of politics from the decision that distinguishes a friend from and enemy (Freund und Feind).41 As stated by Agamben, it is the acclamation that seems to belong to the tradition of authoritarianism, most of all, from the layer of glory (the author’s core preoccupation)42 which, 37 Derrida (fn. 34), p. 106-109. Lefort (fn. 27), p. 92-93. 39 Agamben, Il Regno e la Gloria, Per una genealogia teologica dell´economia e del governo, Homo sacer, II. 2., 2009, p. 277279. 40 Schmitt, Teoría de la Constitución, 2001, p. 238 and 241. 41 Schmitt, Concepto de lo político, 2006, p. 31. 42 Power as a political government of men, traces of which can be found in the researches of Foucault, is also the interest of Agamben. In this regard, about the genealogy of governability, the government should be placed in its theological locus in the trinity oikonomia. This provision, which we had the opportunity to comment on, is conceived as a privileged laboratory to observe the governmental machine. But it is on the correlation between oikonomia and glory that it invests, i.e., the question is asked: why does power need the glory and what is the relationship between glory and economy? Thus, between the power as government and effective management and power as ceremonial and liturgical royalty, a vast field is opened to identify Glory as the central arcane of power and ask about the indissoluble connection that ties it to government and oikonomia. In short, we are faced with the acclama38 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 67 Augusto Jobim do Amaral _____________________________________________________________________________________ in modern democracies, was shifted to the ambit of public opinion. What is in discussion, in short, is the multiplication and the dissemination of the function of glory (with all the hues of liturgy and ritual revamped) now concentrated on the media, which means the effectiveness of acclamation. What we have commented about some democracy of consensus also begins to make sense. On the one hand, stressing even more the position about the transformation of the democratic institutions, we can see, according to the author, that the theoreticians of the “communication-people” – such as Habermas43, who advocates a popular sovereignty totally emancipated from a “substantial people-subject”, but entirely resolved in private communicative processes which, according to his idea of public sphere, regulate the flow of political opinion and will formation – ultimately surrender the public power to specialists and the media. One falls into a kind of media-oriented and objective glory of social communication.44 The richness of the writing of the Italian professor lies in the demonstration that both government by consent and social communication actually refer to acclamations: “il consenso può essere definito senza difficoltà, parafrasando la tesi schmittiana sull´opinione pubblica, come ‘la forma moderna dell´acclamazioneʼ” (poco importa che l´acclamazione sai espressa da una moltitudine fisicamente presente, come in Schmitt, o dal flusso delle procedure comunicative, come in Habermas)45. Thus, the “society of the spectacle” takes on a new meaning and strength. Glory ultimately becomes the substance from which the politicity will take its criteria, and where the people, either real or communicational, of the contemporary consensual democracies ultimately lie. Which warns us about the dangers of consensus in democracy, notably the media-oriented acclamations for punishment via, for instance, the authoritarianism of human rights in criminal law. The populist theme carries the disquieting progress of a democracy increasingly opposing to a disagreement of opinions. The tyranny of urgency regarding crime leads us to try to shift especially the scenario of punitive populism, apart from this own and proper will to punish, so we may obliquely question the “reason” itself of a punitive desire or populist acclamation for punishment which may somehow move these practices in a general fashion. This helps us reduce the scale and expand the field of vision so we can place, in a jointly manner, apart from the phenomena of the political-criminal tory and dexologic aspect of power, identifiable today in the mass media and contemporary democracies by its government by consent or consensus democracy. This somehow allows for the capturing of the central void of the governmental machine, getting closer to the thoughts of Lefort, the most power-laden symbol, i.e., the empty throne, which is the very symbol of Glory (Agamben [fn. 39], p. 187-284). 43 Habermas, Mudança Estrutural da Esfera Pública, Investigações quanto a uma categoria da sociedade burguesa, 1984, p. 13-41. 44 Agamben (fn. 39), p. 279-280. 45 Agamben (fn. 39), p. 283. actors and the juridical-penal actors, the social context even more deeply under the same register. For this purpose, with the help of Laclau, we can view populism as a means to build politics, as it is a phenomenon contained in the entire community space. Even though it is a social rationale that goes through a number of phenomena, our concern includes taking it by surprise in configurations inherent to punitive demands. The rationale of populism and the very method of formation of the collective identities go through the assumption of support in the study of smaller units, not groups, but demands. That is why one bestows centrality upon affection as a constituent of any social tie. An alternate view of populism may see it as a constant of political action. And its conceptual vagueness and imprecision cannot get lost in a mere and crude political operation. On the contrary, there is a performative act46 endowed with its own rationale in the indetermination of populism, as it is this very simplification that allows for the association of heterogeneous demands. Regarding these games of difference that gain a hegemonic centrality, in the illustration of several penalizing efforts in various fields, often with contradicting supporting interests, they are catapulted to empty expressions (these are the so-called juridical assets) that firmly tie up the chain of punitive discourse. If populism is vague and undetermined at this point, it is exactly to be endowed with internal cohesion in the end.47 In this current, the social demands, when not met, because of an institutional inability to solve them differentially, end up potentializing a certain equivalent, shall we say “simplifying” load among them. Which ultimately forms a chain, a unification of demands, in the case under analysis, easily around the punitive question.48 Since the construction of the people is a political act par excellence, the tour court policy – in which the formation of opposing frontiers within the social realm summoning new subjects and the productions of empty expressions for the purpose of unifying equivalence chains in a set of heterogeneous demands is essential – and the defining spirit of populism, and seemingly of any political intervention, one must exercise the critical patience of following where these expressions may float to. More straightforwardly, one may ask: what if for the constitution of the people in this empty expression certain contingency leads to penal simplification? Aren’t the very provision of the Constitution, in turn, and more broadly the value Democracy, within a scenario of punitive ostentation conducted by a game of differences, the empty expressions ready to define a repressive penal policy within this context? It should be said that there is such centrality of the punitive power in the current constitutional democratic scheme that it is not risk to see the stage of the relations of force, contingent historical articulation (in the discontinuous succession of hegemonic formations) increasingly contain political identities ready to demand the hegemony of the punitive discourse. In short, this is the stress on populist trends and the answers have surfaced naturally. 46 Laclau, La razón populista, 2010, p. 32. Laclau (fn. 46), p. 95. 48 Laclau (fn. 46), p. 99 and 102. 47 _____________________________________________________________________________________ ZIS 1/2013 68 The Penal Policy of Human Rights _____________________________________________________________________________________ Recover the desire for liberty and not let it be buried by punitive demands will never be an easy task. If in modern democratic societies the greatest hazard, as described by Christie,49 is not offense per se, but that the fight against it leads to the worst forms of totalitarianism, consequently resignation and pessimism cannot be greatly emphasized, let alone in dark times. Not yielding in the discourse of resistance, which is also inherent to criminal law, escaping from the Zeitgeist that was often used as an attempt to justify the worst atrocities committed in decadent times, seems to be the test to be taken repeatedly when facing the barriers overthrown by the State of Police. 49 Christie, La Industria Del Control Del Delito, ¿La Nueva Forma de Holocausto?, 1993, p. 24. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 69 Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 und in der Strafprozessordnung Italiens Von Dr. Paola Maggio, Palermo I. Die neueren italienischen Rechtsvorschriften: ein Überblick Der italienische Gesetzgeber hat kürzlich die Entnahme von biologischem Material reglementiert und eine nationale DNADatenbank eingerichtet (Gesetz vom 30.6.2009, Nr. 85, Autorisierung der Ratifizierung des Präsidenten der Republik für den Beitritt zum Prümer Vertrag über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration). Dies wurde ermöglicht durch eine sorgfältige Abwägung zwischen einer solchen Notwendigkeit positiver Reglementierung des genetischen Profils, das für die strafrechtlichen Verfahren nützlich ist,1 um Straftäter zu ermitteln einerseits, und der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Vertraulichkeit von personenbezogenen Daten andererseits2. Die Notwendigkeit des Schutzes der Privatsphäre geht daraus klar hervor, insb. wenn man die Speicherung genetischer Profile in Datenbanken betrachtet, die von dem Zentrallabor typisiert werden (Art. 5-20 Gesetz Nr. 85/2009). Die Bedeutung des Gutes der persönlichen Freiheit wird besonders deutlich bei der Reglementierung der Entnahme biologischen Materials und genetischer Tests, die von den Behörden während des gesamten Strafverfahrens angeordnet werden können (Art. 24-29).3 Die beiden Kernpunkte des Gesetzes stellen die Synthese zweier verschiedener Aspekte4 dar, wodurch die Ge- 1 Der Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale, Beschl. v. 9.7.1996 – Nr. 238 = Cassazione penale 1997, 315), orientierte sich vor allem an dem Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 13 der Verfassung und erklärte Art. 224 Abs. 2 der italie-nischen StPO für verfassungswidrig, in dem Ausmaß, in dem er dem Richter erlaubt, im Rahmen der Ermittlung Maßnahmen anzuordnen, die zwar in jedem Fall die persönliche Freiheit des Verdächtigen oder Beschuldigten oder eines Dritten betreffen, aber „außerhalb der speziell vom Gesetz vorgesehenen Fälle und Verfahren.“ 2 Krit. äußerten sich über den tatsächlichen Erfolg dieser Bilanz: Tonini, in: Tonini/Felicioni/Scarcella (Hrsg.), Banca dati nazionale del DNA e prelievo biologico, Gli Speciali di Diritto Penale e Processo, 2009, 3; ders., Diritto penale e processo 2010, 884; Scarcella (Hrsg.), Prelievo del DNA e Banca dati nazionale, 2009, passim; Marafioti/Luparia (Hrsg.), Banca Dati e accertamento penale, 2010, passim; Giostra, Giurisprudenza italiana 2010, 1217; Conti (Hrsg.), Scienza e processo penale, 2011, passim. 3 Für eine solche Betrachtung s. im Kern Felicioni, in: Tonini/ Felicioni/Scarcella (Fn. 2), S. 6. 4 Die ursprüngliche Anomalie wird unterstrichen von Tonini, Diritto penale e processo 2010, 883, wonach die zwei „Entitäten“ interne Konflikte schaffen. Insb. kollidiert die hohe Aufmerksamkeit auf die strenge Vertraulichkeit mit dem niedrigen Wert des Beweisrechts, das dem Verteidiger zuerkannt wird. samtbetrachtung in einigen Punkten ein wenig unharmonisch wirken mag. Die italienische Adaption wurde, wenn man die auf eine Änderung zielende Entscheidung des Verfassungsgerichts5 in Betracht zieht, spät vorgenommen,6 denn das Verfassungsgericht hatte schon 1996 den Gesetzgeber aufgefordert, den DNA-Beweis zu reglementieren. Mit der Verfassungswidrigkeit des Art. 224 Abs. 2 der italienischen StPO, hat das Verfassungsgericht beanstandet, dass es in der Praxis zur Gewohnheit geworden ist, die Zwangsentnahmen in die üblichen Maßnahmen der Ermittlung einzureihen, die der italienische Richter in Anwendung dieses Artikels anordnen kann. In diesem bekannten Urteil hatte das italienische Verfassungsgericht besonderen Wert auf die Notwendigkeit gelegt, die Verfahrensnotwendigkeiten und das Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 13 der italienischen Verfassung zu harmonisieren. Zwar betonte die italienische Rechtslehre die Notwendigkeit, das Prozess-System unter Beachtung der unverzichtbaren Garantien für den Angeklagten7 dem wissenschaftlichen Fortschritt anzupassen. Die Strafprozessordnung von 1988 hatte aber nicht die Verwendung des DNA-Beweises vorgesehen. In Folge der Feststellung der Rechtswidrigkeit durch das Verfassungsgericht war in Italien die Bestimmung des genetischen Profils ausschließlich auf die Fälle beschränkt, in denen es möglich war, die Probe im Wege der Einwilligung der betreffenden Person zu bekommen, oder durch die Sammlung der zufällig hinterlassenen Spuren oder sogar durch eine Entnahme ohne Wissen der Person. Zum Beispiel wurde ein Serienmörder, der Täter vieler Straftaten war, durch die Analyse seines Speichels auf der Tasse Kaffee in der Bar, die er meistens aufsuchte,8 identifiziert. Erst 2005 griff aber der italienische Gesetzgeber zum ersten Mal ein, allerdings in nicht ganz konsequenter Weise. Mit dem Gesetz vom 31.5.2005 – Nr. 155 konnte die Kriminalpolizei die Freiheit der Person beschränken, um zwecks Identifizierung eine biologische Probe (Art. 349 Abs. 2 iStPO) oder aber eine dringende Untersuchung anzuordnen (Art. 354 Abs. 3 iStPO). Dafür bedurfte es nur einer mündlichen Erklä- 5 Corte Costituzionale, Beschl. v. 9.7.1996 – Nr. 238 = Cassazione penale 1997, 315. Zu diesem Thema s. Vigoni, Rivista italiana di diritto e procedura penale 1996, 1022. 6 Giostra, Giurisprudenza italiana 2010, 1217 (1219). 7 Vassalli, Rivista italiana di diritto e procedura penale 1961, 55. Unter den wichtigsten Studien in diesem Bereich seien erwähnt: Dominioni, La prova penale scientifica, Gli strumenti scientifico-tecnici nuovi o controversie di elevata specializzazione, 2005, 15 ff.; Lorusso, La prova penale, Bd. 1, 2008, 326. S.a. Conti, Rivista italiana di diritto e procedura penale 2010, 1204. 8 Pinna, Corriere della sera v. 7.5.1998, S. 7, abrufbar unter http://archiviostorico.corriere.it (20.1.2013). _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 70 Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 _____________________________________________________________________________________ rung der Staatsanwaltschaft, die jedoch schriftlich bestätigt werden musste. Die Besonderheit des Gesetzes bestand vor allem darin, dass der Staatsanwalt in der direkten Ausübung dieser Befugnis gehemmt war. Die eklatante Verletzung der Garantie des Schutzes vor Strafverfolgung in Art. 13 der italienischen Verfassung wurde durch die ausschließliche Verwendung der Entnahme zum Zweck der Identifikation ausgeglichen, wobei die Voraussetzung der dringenden Notwendigkeit Bedenken hervorrief, da die Entnahme normalerweise nicht zeitgebunden ist. Außerdem hemmte die legislative Lücke bezüglich der Reglementierung einer nationalen DNA-Datenbank theoretisch eine Verwendung der Entnahme während eines Prozesses durch einen Vergleich der Profile mit denjenigen, die in der gleichen Datenbank aufbewahrt wurden. In der Praxis gab es jedoch in den verschiedenen italienischen Polizei-Datenbanken nicht vorschriftsmäßig aufbewahrte Daten, die es tatsächlich erlaubten, Profile in einer Situation gesetzgeberischer Ineffizienz zu vergleichen und zu verwenden.9 Im Hintergrund stand die Einhaltung grundlegender Prinzipien der Freiheit, der Privatsphäre und der Gesundheit des Einzelnen, die angesichts der Möglichkeit einer Nötigung des Willens der betroffenen Person gefährdet waren. Ebenso offensichtlich bestand die Gefahr der Verletzung der Würde und der Privatsphäre der Person. Weitere internationale Mahnungen, die darauf drängten, dem Prümer Vertrag beizutreten, bewirkten schließlich, dass mit dem Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85, die Materie geregelt wurde. Der italienische Gesetzgeber hat im Wesentlichen ein System entwickelt, das sich auf Art. 13 Abs. 2 der Verfassung bezieht und das die Garantie für den Schutz vor Strafverfolgung hinsichtlich aller freiheitsbeschränkenden Maßnahmen enthält. Der Richter ordnet mit einer Verfügung, die zu begründen ist, die Entnahme des biologischen Materials an, das für den Sachverständigen für die Durchführung der Analyse des genetischen Profils (Art. 224bis iStPO) erforderlich ist. Die zwangsweise Entnahme ist nur dann zulässig, wenn dies absolut notwendig für den Beweis einer Straftat ist, die vom Gesetz als schwerwiegend festgelegt worden ist. Während des Ermittlungsverfahrens beantragt der Staatsanwalt beim Gericht, wenn eine entsprechende Entnahme unerlässlich ist, deren Autorisierung durch den Richter (Art. 359bis Abs. 1 iStPO); in Eilfällen könnte die Notwendigkeit einer gerichtlichen Entscheidung zu schweren und irreparablen Beeinträchtigungen der staatsanwaltlichen Ermittlungen führen, und der Staatsanwalt kann daher mit einer zu begründenden Verfügung die Entnahme anordnen, in den nächsten 48 Stunden muss er aber die Bestätigung der Verfügung bei Gericht beantragen (Art. 359bis Abs. 2 iStPO). Art. 349 Abs. 2 iStPO erlaubt in- 9 Der Datenschutzbeauftragte hatte am 19.9.2007 die Notwendigkeit aufgezeigt, diese Thematik explizit und einheitlich zu regulieren, damit gewährleistet sei, dass die größeren Chancen, die durch die Identifikation einzelner Personen im Strafverfahren gegeben sind, mit spezifischen, effektiven und unmissverständlichen Garantien zum Schutz der betroffenen Personen verbunden werden. dessen der Kriminalpolizei, eine Zwangsentnahme anzuordnen, die lediglich der Identifizierung dient. Im heiklen Spannungsfeld zwischen dem Interesse an der Ermittlung von Straftaten und dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen ist es verboten, Maßnahmen durchzuführen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Gesundheit der Person sowie eines ungeborenen Kindes gefährden könnten, oder nach medizinischen Erkenntnissen Leiden von erheblichem Ausmaß verursachen könnten (Art. 224bis Abs. 4 iStPO). Es ist zwingend vorgeschrieben, alle Maßnahmen unter Beachtung der Würde und Privatsphäre derer, die Gegenstand dieser Untersuchungen sind, anzuordnen (Art. 224bis Abs. 5 iStPO). Außerdem schreibt das Gesetz ein graduelles Vorgehen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit vor: Bei gleichem zu erwartendem Ergebnis müssen Techniken gewählt werden, die einen möglichst geringen Eingriff im Hinblick auf die körperliche Freiheit und auf die physische und die psychische Unversehrtheit des Verdächtigen darstellen. Zudem ist der Einsatz von Zwangsmitteln nur solange erlaubt, wie es für eine Durchführung der Entnahme einer Probe unbedingt nötig ist (Art. 224bis Abs. 6 iStPO). Damit wird also das Kriterium der „minimalen Beeinträchtigung“ bestätigt, welches erfordert, unter verschiedenen Optionen diejenige zu wählen, die den Rechten des Einzelnen10 den geringstmöglichen Schaden (minimum vulnus) zufügt. II. Gemeinsame Kernfunktionen und unterschiedliche Merkmale im Vergleich mit der deutschen Regelung Auch wenn man die verschiedenen verfahrensrechtlichen Systeme in Deutschland und Italien klar unterscheidet, die durch nicht immer vergleichbare Prozessformen charakterisiert sind, ermöglicht die jüngste italienische Anpassung einen Vergleich11 mit der deutschen Gesetzgebung. Man kann bei einigen Themen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede entdecken, die auch im Hinblick auf das Ziel schrittweiser Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen von Interesse sind.12 Viele Ähnlichkeiten lassen sich im Bereich der Definitionen finden. Die italienische Regelung, die in Art. 6 Gesetz Nr. 85/2009 getroffen worden ist, enthält die Definitionen der DNA, der biologischen Probe, des Profils, und der Beweisstücke. In Deutschland sind dagegen diese obengenannten Begriffe nur implizit im Inhalt der Paragraphen §§ 81 ff. der 10 Giostra, Giurisprudenza italiana 2010, 1217 (1220). Nach Donini, Il volto nuovo dell’illecito penale. La democrazia penale tra differenziazione e sussidiarietà, 2004, S. 189 ff., insb. S. 196, trägt der Vergleich, im modernen Sinne verstanden, dazu bei, Konzepte zu relativieren und sie in einen historischen Kontext zu setzen, ohne dass man sich dadurch jedoch das Ziel versperrt, Kategorien, die miteinander in Verbindung stehen, aufzubauen und strukturelle Analysen zu den Fällen und Konzepten durchzuführen. Hierzu s.a: Moccia, Comparazione giuridica e diritto europeo, 2005, S. 4 ff. 12 Zur Gültigkeit dieser Methode allgemein: Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, passim. 11 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 71 Paola Maggio _____________________________________________________________________________________ deutschen StPO enthalten, wo auf die Spuren, auf das genetische Material, auf die biologischen Proben und auf die Untersuchungen Bezug genommen wird (§§ 81e, 81a, 81c StPO). Der italienische Gesetzgeber und die deutsche StPO benutzen somit im Wesentlichen ähnliche Begriffe.13 Wesentliche Gemeinsamkeiten findet man auch in den beiden Systemen, wenn man das Augenmerk auf die Datenbanken und die für die Kontrollen verantwortlichen Personen richtet.14 In Italien unterstehen die nationale DNA-Datenbank, die sich im Innenministerium (Amt für öffentliche Sicherheit) befindet, und das Zentrallabor für die nationale DNA-Datenbank, das sich im Justizministerium (Amt für Gefängnisverwaltung) befindet, der jeweiligen Aufsicht des Datenschutzbeauftragten, und dem nationalen Komitee für Biosicherheit und Biotechnologie. Diese Funktionen zielen im Wesentlichen auf die Einhaltung der Bestimmungen über die Methoden zur Analyse von Proben und biologischen Proben (Art. 11) sowie auf die Modalität der Verarbeitung, des Datenzugriffs und der Rückverfolgbarkeit von Proben (Art. 12). Die Notwendigkeit der Professionalität des Personals und der Geheimhaltung der Daten führte zur Einführung einer besonderen Dienstanweisung, die einem Beamten Strafe androht, wenn er Daten oder Informationen entgegen den geltenden Gesetzesbestimmungen verwendet oder weitergibt (Art. 14 Gesetz Nr. 85/2009). Es ist ausdrücklich vorgeschrieben, dass nur die DNA-Sequenzen, die nicht dazu geeignet sind, eventuelle pathologische Umstände einer Person zu identifizieren, Objekt der Analyse sein dürfen (Art. 11 Abs. 3 Gesetz Nr. 85/2009); in perfekter Analogie dazu verbietet das deutsche System gem. § 81g Abs. 2 DNA-Profile zu benutzen, die anderen Zwecken als denen strafrechtlicher Ermittlungen dienen, z.B. wenn es um Erhebungen zur Person geht oder um Erhebungen zum genetischen Erbe des Täters.15 Wie schon erwähnt, wurde in Italien der Erwerb einer biologischen Probe bzw. die Menge der zu entnehmenden organischen Substanz einer untersuchten Person bei Erstellung eines Gutachtens geregelt (Art. 224bis iStPO, eingeführt durch Art. 24 Gesetz Nr. 85/2009), ebenso der Ablauf einer staatsanwaltlichen Ermittlung (Art. 359bis iStPO, eingeführt durch Art. 25 Gesetz Nr. 85/2009). Wenn das Einverständnis des Betroffenen fehlt, schreibt die Regelung über die Zwangsentnahme vor, dass der Richter die Entnahme anordnet, ggf. auch nachträglich. Viele Zweifel ruft der Begriff des „Einverständnisses“ hervor, weil er eine Art Passepartout darstellen könnte, das es ermöglicht, für jede Straftat eine Entnahme anzuordnen, auch in Fällen von lediglich hinlänglicher Relevanz (und nicht nur in solchen absoluter Notwendigkeit, wie sie für die Zwangsentnahme eigentlich erforderlich ist), und unter Missachtung der Grenzen, die der Gesetzgeber für die erzwungene Entnah13 S.a. §§ 81e, 81h StPO. In § 81g Abs. 1 wird das „Modell der DNA-Identifizierung“ in Betracht gezogen. Das deutsche Strafrecht berücksichtigt den Schutz und die Behandlung von Daten insbesondere im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG). 14 Man denke an den Datenschutzbeauftragen. 15 Nach § 81g Abs. 2 S. 2 StPO erlaubt es die Analyse, die DNA und das Geschlecht zu identifizieren. me gezogen hat, die von dem Schutz für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit geprägt sind.16 Dies weist Analogien zu dem üblichen Verfahren in Deutschland auf, wo § 81g StPO eine Aufhebung des Schutzes vor Strafverfolgung vorsieht, falls eine schriftliche Einwilligung der untersuchten Person vorliegt und diese Person vollständig über den Zweck informiert worden ist, der mit einer Entnahme und der Speicherung der Daten verfolgt wird. Ähnlich den Bestimmungen des deutschen Gesetzes, das vorsieht, dass das organische Material, das erhoben und gesammelt wurde, durch Gutachter analysiert wird (§ 81 StPO und § 244 Abs. 4 und 5 StPO), regelt das italienische System das Verfahren. Die italienischen Sachverständigen müssen in speziellen Registern eingetragen sein (Art. 221 iStPO), während die Staatsanwaltschaft und die privaten Parteien des Verfahrens das Recht haben, ihre eigenen Gutachter zu benennen (Art. 225 iStPO). Die Ergebnisse aller Untersuchungen werden in die mündliche Verhandlung eingeführt (Art. 501 iStPO). Das Ergebnis des Gutachtens der DNA stellt einen Beweis dar,17 der nicht für die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person, sondern nur für deren Identität ausschlaggebend ist. Das Gericht muss daher dieses Ergebnis sorgfältig vergleichen mit den zusätzlichen Ermittlungsergebnissen oder mit den Indizien, so dass selbst dort, wo es einen Zusammenhang zwischen der Identität des Angeklagten und einer DNA-Spur gibt, nur gefolgert werden kann, dass das Material vom Täter selbst stammt, nicht auch, dass die Person selbst der Täter ist.18 Die Typisierung, die in Zukunft vor allem dem Nationallabor anvertraut werden soll, wurde in Italien bisher von qualifizierten Polizeibehörden durchgeführt (RIS Carabinieri, Spurensicherung). Die betroffenen Parteien können sich jedoch weiterhin an Experten oder an private spezialisierte Firmen wenden. Bzgl. der biologischen Proben von nicht identifizierten Leichen oder Blutsverwandten von vermissten Personen wurde in Italien die DNA-Typisierung und Identifikation derselben mit dem Zweck vorgeschrieben, einen direkten19 oder indi- 16 S. Tonini, Diritto penale e processo 2010, 883 (886 ff.). In der Rechtsprechung zum Konsens, der die Entnahme von Proben des Angeklagten legitimiert, s. die Akten des Corte Cassazine (Sekt. I), Urt. v. 23.10.2008, in: Cassazione penale 2009, 4349. 17 Ubertis, Cassazione penale 2008, 6; Marafioti, in: Marafioti/ Luparia (Fn. 2), S. 11. Analog dazu, Maiwald, in: Marini (Hrsg.), Bioetica e diritto penale, 2002, S. 7. 18 Vgl. Richter des Ermittlungsverfahrens Brescia, Urt. 17.3.2010, nachzulesen auf der Internetseite der ital. Tageszeitung „La Repubblica“ (www.repubblica.it [20.1.2013]). Die Maßnahme formuliert klar die Auswirkungen der Anwendung der DNA-Beweise und ihre Einbeziehung auf die Überzeugung im Verfahren. Der Ausgang eines anderen sehr be-kannten Gerichtsverfahrens in Italien wird interpretiert von Caprioli, Cassazione penale 2009, S. 1867 ff. 19 Es sei auf die Leiche eines Toten verwiesen, die auf den Hinweis eines Mitschuldigen aufgefunden wurde. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 72 Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 _____________________________________________________________________________________ rekten20 Zusammenhang mit dem Strafverfahren herzustellen. Eine solche Typisierung muss nicht vom zentralen Labor vorgenommen werden, da sie auch durch forensische Laboratorien, die die Ergebnisse ihrer Analyse der Datennationalbank zusenden, durchgeführt werden kann. In Italien wird das biologische Material von Verdächtigen, Angeklagten oder Verurteilten, die in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt sind, von Gesetzes wegen auf direktem Wege abgenommen, ohne dass es einer richterlicher Genehmigung bedarf. Die Gründe für einen solchen Umgang mit Strafverfolgten sind nachzulesen im Bericht zum Gesetzesentwurf, welcher zum Gesetz Nr. 85 aus dem Jahr 2009 führte. Sie implizieren eine Art „Absorption“ der Beschränkung des Rechts auf Privatsphäre i.R.e. weitgehenden Unterdrückung der persönlichen Freiheit. Dieses Vorgehen sollte aber aus meiner Sicht auch in parte qua das Recht auf einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung beinhalten. In Deutschland erfolgt nach dem Gesetz vom 12.8.2005 die einstweilige Entnahme in Folge richterlicher Anordnung gem. den Vorschriften des § 81g (Genehmigung des Gerichts oder in dringenden Fällen Anordnung der Staatsanwaltschaft oder ihrer Hilfsbeamten), verbunden mit der Notwendigkeit, die betroffene Person über den Zweck der Entnahme aufzuklären. Es gibt daher keine Differenzierung, die auf dem status libertatis basiert. Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verfahrens nach § 81g StPO gelten unabhängig von der Tatsache, ob die betroffene Person Angeklagter,21 in Untersuchungshaft oder bereits verurteilt ist, da die DNA-Analyse in Deutschland tendenziell direkt darauf ausgerichtet ist, künftige Straftaten zu vermeiden. Ein systematische Vergleich der Unterschiede zeigt demgemäß: Der italienische Gesetzgeber erachtet es für notwendig, die DNA-Analyse je nach Lage des Prozesses oder des Zustandes der von der Maßnahme betroffenen Person zu regeln. Ein allgemeines Gesetzesmerkmal sowohl in Italien als auch in Deutschland ist hingegen der Bestimmtheitsgrundsatz. Gerade in der italienischen Gesetzgebung sehen die Vorschriften vor, dass eine Entnahme typischerweise nur dann vorgenommen werden kann, wenn es sich um vorsätzliche Straftaten handelt, wenn es sich um begangene oder versuchte vorsätzliche Straftaten handelt, für die das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht oder für andere bestimmte Straftaten, die ausdrücklich im Gesetz festgelegt sind.22 Im Wesentlichen ähnlich geregelt scheinen in den italienischen und deutschen Systemen auch die Bedingungen für den Zugang zu den nationalen DNA-Datenbanken. Dieser ist in Italien der Kriminalpolizei und den Justizbehörden erlaubt, ausschließlich für die persönliche Identifikation und für die Zwecke der internationalen Polizeizusammenarbeit. Die betroffenen Parteien können zu den gleichen Zwecken Informationen, die in der nationalen DNA-Datenbank enthalten sind, abfragen. Falls jedoch die Polizei einen Antrag stellt, ist die Genehmigung des Gerichts erforderlich (Art. 12 Abs. 2 Gesetz Nr. 85/2009). Die italienische Rechtslehre, die die erneu- erten Regelungen im Wesentlichen positiv beurteilt, hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass die Reglementierung des Zugangs zur nationalen Datenbank und zum Zentrallabor der DNA in der Tat nicht dazu beigetragen hat, die genetischen Profile in den Datenbanken, die bereits bei den verschiedenen Polizeibehörden existierten, einer Regelung darüber zu unterwerfen, wie die biologischen Proben aufbewahrt werden sollten.23 Eine bedeutende Lücke im italienischen System bezieht sich also auf die fehlende Ordnung in der Kette der Aufbewahrung, angesichts der schwerwiegenden Manipulationen, die vorkommen könnten und die die Ergebnisse kompromittieren könnten.24 III. Die Verfahrensneuerungen Wie oben ausgeführt, kann gemäß der jüngsten italienischen Rechtsvorschriften die Entnahme von biologischen Proben (Haare, Haut, Schleimhaut) bei lebenden Personen vom Staatsanwalt gemäß Art. 224bis iStPO angeordnet werden, auch wenn die betroffene Person der Entnahme nicht zustimmt. Die Ausführung kann auf zweierlei Weise erfolgen: In der Regel muss der Staatsanwalt einen Antrag auf Ermittlungshandlungen beim Richter einreichen, der diesen bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen genehmigt (Abs. 1). In dringenden Fällen, wenn es Grund zu der Annahme gibt, dass die Verzögerung zu schweren oder irreparablen Schädigungen der Untersuchung führen kann, kann die Staatsanwaltschaft die Durchführung mit einem mit Gründen versehenen Dekret anordnen, das die gleichen Bestimmungen enthält, wie in Art. 224bis Abs. 2 iStPO. Der Staatsanwalt verfügt dabei die zwangsweise Vorführung, wenn die Person, die sich der Entnahme unterziehen muss, nicht vorstellig wird, ohne triftige Gründe vorzubringen, oder er ordnet die Zwangsmaßnahme an, wenn die Person sich weigert zu erscheinen. Es gelten die rechtsstaatlichen Sicherungen die mit den Vorkehrungen aus Art. 224bis iStPO im Zusammenhang stehen, und die Nichteinhaltung der Bedingungen führt zur prozessualen Nichtigkeit des Vorgangs und zu unverwertbaren Ergebnissen. Die Palette der von einer eventuellen Entnahme betroffenen Personen ist sehr breit, tatsächlich weist die im ersten Absatz des Artikels 224bis iStPO, enthaltene Definition: Person, „die sich der Untersuchung durch den Sachverständigen unterziehen muss“ eindeutig darauf hin, dass, außer dem Angeklagten, diese Personen auch Dritte sein können, was somit auf die Regelung in Art. 133 iStPO verweist, die die Zwangsvorführung von anderen Personen als dem Beschuldigten regelt. Der italienische Gesetzgeber hat vorgesehen (Art. 225bis Abs. 2 lit. f iStPO), dass die Anordnung eines Gutachtens die Modalitäten der Ermittlung und der Entnahme darzustellen hat. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Bestimmung bewirkt die Unverwertbarkeit der Ergebnisse. Nach Art. 72ter disp. att. (d.h.: Anordnungen zur Durchführung) iStPO, muss im Bericht über die Maßnahmen zur Entnahme der biologi23 20 Dies gilt für Funde infolge von Unglücksfällen. 21 § 81g Abs. 4 StPO. 22 Art. 9 Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85. Tonini (Fn. 2), S. 3. Kürzlich hat der italienische Gerichtshof die unterlassene Aufbewahrungskette sanktioniert: Corte Cassazione (Sekt. III), Urt. v. 19.1.2010, Diritto penale e processo 2010, 1076. 24 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 73 Paola Maggio _____________________________________________________________________________________ schen Proben oder über die Durchführung der ärztlichen Untersuchungen ausdrücklich erwähnt werden, ob die Person, die einer Untersuchung unterzogen wird, eventuell ihre Zustimmung erteilt hat, wodurch sie jede Form von Zwang, der sie ausgesetzt werden könnte, ausgeschlossen ist. In diesem Fall leitet sich aus Art. 224b Abs. 2e und Abs. 6 iStPO, die doppelte Modalität einer Zwangsentnahme ab, zu der eine Zustimmungsverweigerung führen kann, nämlich, dass einerseits die betroffene Person unter Zwang einer Entnahme zugeführt wird, und andererseits die Zwangsvollstreckung der Entnahme oder eine ärztliche Untersuchung vorgenommen wird.25 Die relevanten Regelungen in Bezug auf die Anordnungen werden von Art. 224bis Abs. 2 iStPO, festgelegt und dienen unter Androhung der Unverwertbarkeit dazu, alle Garantien zum Schutz der betroffenen Person zu verstärken. Die Ungültigkeit ist von Art. 180 iStPO vorgesehen. Wird aber die Person, gegen die ermittelt wird oder der Angeklagte durch keinen Anwalt vertreten, so ist diese Ungültigkeit absolut gem. Art. 224bis Abs. 7 iStPO. Nach der neuen Gesetzeslage erscheinen verfahrensrechtliche Sanktionen für Verstöße gegen Anordnungen bei Entnahmen nicht völlig überzeugend. Während bei einer Zwangsentnahme, die den Untersuchungen des Sachverständigen dient, die Nichteinhaltung der Anordnungen, was die Achtung der Würde und die Entnahme betrifft, nicht sanktioniert wird, wird bei einer Entnahme zu Ermittlungswecken die Unverwertbarkeit von Maßnahmen und die Unbenutzbarkeit von Informationen, die so gewonnen wurden, gemäß Art. 359bis Abs. 3 iStPO bestimmt. Zusätzlich zur Gerichtsverhandlung, wo Gutachten in die Beweiserhebung einbezogen werden können, hat Art. 392bis iStPO, einen weiteren Fall vorgesehen, der streng genommen nicht der Anforderung der Unaufschiebbarkeit entspricht.26 Um ein solches Gutachten einzuholen, müssen zwingend bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. In diesem Zusammenhang verfügt das Gericht die zwangsweise Beweisaufnahme nur, insoweit das Gutachten für die Beweisführung absolut unverzichtbar ist.27 Die gesetzgeberische Entscheidung für ein derart restriktives Vorgehen hat die Möglichkeit für die Polizei eingeschränkt, zwangsweise Proben von Speichel oder Haaren zu entnehmen. Dies ist ausschließlich zum Zwecke der Identifizierung der Verdächtigen möglich (Art. 349 Abs. 2bis iStPO).28 25 Das italienische Gesetz sieht auch vor, dass „der Einsatz von körperlichem Zwang nur für die notwendige Zeit für die Beurteilung der Entnahme oder der Ermittlung zulässig ist.“ 26 S. die allgemeinen Beschreibungen des Instituts bei Cuomo/ Sciolfi, L’incidente probatorio, 2008, S. 20. 27 Man muss gegen jedes Verbrechen, das vorsätzlich oder unbeabsichtigt begangen oder versucht worden ist, für das im Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorgesehen ist, vorgehen. Die Untersuchung muss außerdem in Bezug auf die Erhebung von biologischem Material oder die Vornahme medizinischer Tests angemessen und verhältnismäßig sein. 28 Das zitierte Gesetz von 2009 hat so die Möglichkeit der Anordnung aufgehoben, die der Kriminalpolizei, mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft, die Zwangsentnahme von bio- Nach der Änderung von Art. 349 Abs. 2 iStPO, eingeführt durch Art. 10 d.l. 27.7.2005 – Nr. 144, konvertiert im Gesetz v. 31.7.2005 – Nr. 155, ist die zwangsweise Erhebung des biologischen Materials einer lebenden Person durch die Kriminalpolizei nur noch zur Identifizierung der Person gestattet.29 Diese Einschränkung kann aber den Zweifel an der Folgerichtigkeit der Reglementierung nicht überwinden, da die Möglichkeit der Kriminalpolizei, Zwangsentnahmen durchzuführen, wenn auch nur zum Zwecke der Identifizierung, sich nicht mit dem neuen Modell, das auf den Schutz vor Strafverfolgung gestützt ist, verträgt, insbesondere wenn man bedenkt, dass die gleiche Macht der Staatsanwaltschaft nicht erteilt wurde. Die Gewinnung biologischen Materials von Personen oder Sachen wird durch Art. 354 und 348 Abs. 4 iStPO geregelt, sowohl für die Durchsuchung vor Ort als auch für die Handlungen oder Maßnahmen, die von den Polizeikräften durchgeführt werden, die mit besonderen technischen Möglichkeiten ausgestattet sind.30 Da diese Tätigkeit sehr delikat ist, weil sie oft auch das Ergebnis der gesamten Untersuchung des Falles in Frage stellen kann, sollte sie jedoch de lege ferenda unter Anwesenheit eines Rechtsbeistands während des Lokaltermins stattfinden, unter ähnlichen Formalitäten wie sie für eine technische Ermittlung des Staatsanwalts vorgesehen sind. Nach Art. 349 Abs. 2bis iStPO folgen die Regeln für die identifizierenden Proben jenen, die für die traditionellen fotografischen Erhebungen und Fingerabdruckuntersuchungen vorgesehen sind, auch wenn keine strenge Reihenfolge i.S.e. Vorzugs der ersteren Beweismittel gegenüber den letzteren erkennbar ist. Die italienische Polizei kann daher das biologische Material von Dingen oder Orten erheben, während die Entnahme dieses Materials von Personen nur dann möglich sein wird, wenn diese zustimmen. Daher hat sich der italienische Gesetzgeber jüngst entschieden, die Vorschriften über die Erfassung und dringend durchzuführende Ermittlung zu regeln, die von der Polizei vorgenommen werden: Die Identifizierung des genetischen Profils muss durch eine technische Untersuchung, einen Sachverständigenbericht oder ein Gutachten folgen (Art. 10 Gesetz Nr. 85/ 2009). Durch die Rechtsprechung hatte es jedoch schon vorher eine Unterscheidung zwischen der Entnahme der Probe gegelogischem Material erlaubte (Art. 354 Abs. 3 iStPO). Diese wird im Regelfall dem zuständigen Richter bei gerichtlichen Gutachten oder Beweisanhörungen zugestanden. 29 Ein Überblick über die Änderung bei Spangher, Studium iuris 2006, 40 (41). 30 S. Corte Cassazione (Sekt. II), Urt. v. 24.9.2008, C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 242094, wonach die Entnahme von biologischen Spuren auf einem Objekt am Ort des Verbrechens und die anschließende Analyse der DNA-Poly-morphismen zur Identifizierung der genetischen Profile und für Vergleichszwecke verwendet werden können, wenn es nicht möglich war, die Garantien für das defensive Vorgehen bei einmaligen, unwiederholbaren Ermittlungsvorgängen durch die Staatsanwaltschaft zu beobachten, sofern die Voruntersuchung gegen Unbekannt durchgeführt wurde. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 74 Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 _____________________________________________________________________________________ ben, die als Sammlung oder Gewinnung von Daten verstanden wird, und der darauf folgenden technischen Beweisführung, die zu einer kritischen Auswertung und Beurteilung derselben führt.31 Die Möglichkeit, die Ermittlung zu wiederholen, hängt von der Menge des übrigen biologischen Materials ab und spiegelt sich in ihrer Nutzbarkeit im Prozess.32 In der Kombination der Bestimmungen der Art. 224bis und 72bis Abs. 2 disp. att. (d.h.: Anordnungen zur Durchführung) iStPO, in Italien durch das Gesetz Nr. 85/2009 eingeführt, wurden einige Voraussetzungen aufgestellt, die für die Gewinnung von biologischem Material und die medizinischen Ermittlungen bei Minderjährigen oder bei Personen, die unzurechnungsfähig oder unmündig sind, gelten. Für Kinder und Unzurechnungsfähige oder Unmündige wurde ausdrücklich festgelegt, dass sie der Zustimmung eines Elternteils oder eines Vormunds bedarf. Falls kein Vormund anwesend oder erreichbar ist, kommt es zu einem Interessenkonflikt, der dem Gutachter unterbreitet werden muss. Der Vormund kann bei den Untersuchungen und bei der Blutabnahme anwesend sein. Im Hinblick auf Blutsverwandte,33 welche im italienischen Rechtssystem einen ausdrücklichen Zeugenschutz genießen, wurde im Zusammenhang mit den Verpflichtungen aus Art. 199 iStPO konsequenterweise analog die Möglichkeit vorgeschlagen, die Entnahme auf die Einwilligung des Betroffenen zu stützen34. Im Gegensatz zur deutschen Regelung (§ 81h StPO), hat das Gesetz Nr. 85/2009 keine besonderen Regeln für einen Massentest in Italien aufgestellt. Dies führte zu Kritik, wo es um die Zwangsmaßnahmen geht, die Personen betreffen, welche in die Aufklärung einer Straftat einbezogen werden, wie z.B. das Opfer, aber auch Verwandte oder Dritte, die völlig fremd sind.35 In Ermangelung einer Unterscheidung zwischen einem beschuldigten Dritten, Beschuldigtem oder Angeklag31 Ex plurimis Corte Cassazione (Sekt. I), Urt. v. 13.11.2007, C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 239101. Laut Corte Cassazione. (Sekt. I), Urt. v. 2.2.2005, C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 233448, „geht es um ein Gutachten oder um eine unwiederholbare technische Untersuchung, so ist die Entnahme der DNA des Verdächtigen durch die Beschlagnahme von Gegenständen, die seine Spuren enthalten, nicht als invasiv oder als den Willen beugend zu betrachten. Bei den folgenden Vergleichungshandlungen durch den Gutachter ist es hingegen auf alle Verteidigungsgarantien zu achten.“ In der italienischen Lit. vgl. Giunchedi, Gli accertamenti tecnici irripetibili, Tra prassi devianti e recupero della legalità, 2009, passim; Montagna, in: Gaito (Hrsg.), La prova pe-nale, Bd. 2, 2009, S. 51 (insbes. S. 58 ff.). 32 Vgl. Corte Cassazione (Sekt. I), Urt. v. 7.10.2005 – Leitsatz Nr. 39826; Giunchedi, Guida al diritto 17/2006, S. 107. In Bezug auf andere Typologien s.a. Corte Cassazione (Sekt. I), Urt. v. 1.12.2000, C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 219445. 33 In Bezug auf spezifische Probleme s.: Spriamo, Diritto penale e processo 2005, S. 347 ff. 34 Felicioni (Fn. 3), S. 18 ff.; Santosuosso/Gennari, Diritto penale e processo 2007, 395 (400). 35 Felicioni (Fn. 3), S. 18 ff. S. jedoch die Zweifel bei Marafioti (Fn. 17), S. 7. ten, ist die Regelung über das Recht, sich vom Anwalt seines Vertrauens unterstützen zu lassen, nicht klar. Es scheint jedoch vorteilhaft, dieses Recht in jedem Fall der geschädigten Person zuzugestehen. Ein weiterer Schwerpunkt der Thematik – mit nachhaltigen Auswirkungen auf beide Systeme – betrifft das zu entnehmende Material. Die italienische Gesetzgebung scheint hier einen Mangel an Kohärenz zwischen den verschiedenen Bestimmungen aufzuweisen, die durch das Gesetz Nr. 85/2009 eingeführt worden sind: Im Falle der Entnahme bei Personen, die in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt sind (Art. 9) bezieht sich das Gesetz in der Tat nur auf die Mundschleimhaut; im Fall der Identifizierung des Verdächtigen durch die Polizei (Art. 349 Abs. 2bis iStPO), bezieht sich das Gesetz nur auf den Speichel oder auf die Haare; was andererseits die Maßnahmen des Gerichts (Art. 224bis iStPO) betrifft, so ist die Reglementierung komplett, denn sie bezieht sich auf die Haare, die Schamhaare oder die Schleimhaut des Mundes. Allerdings stellt die Entnahme der Mundschleimhaut, die von den Mitarbeitern der Polizei oder einer Person des medizinischen Dienstes der Polizei durchgeführt wird, sicherlich einen größeren Eingriff als die bloße Entnahme von Speichel dar; außerdem ist sie noch nicht ausdrücklich in ihrer konkreten Ausführung vom Gesetzgeber geregelt, der lediglich vorschreibt, eine Niederschrift über die Entnahmen aufzusetzen und bei der Entnahme bestimmte Vorsichtsmaßnahmen zu gewährleisten. Art. 9 Abs. 5 Gesetz Nr. 85/2009, ordnet über die Forderung eines Protokolls hinaus an, dass die „Maßnahmen tatsächlich unter Berücksichtigung der Würde und Privatsphäre derjenigen, die diesen Maßnahmen ausgesetzt sind, durchgeführt werden.“36 Analogien gibt es hier in der deutschen Praxis, wo häufig Körperzellen durch einen Abstrich der Mundschleimhaut37 entnommen werden, wobei diese Form der Entnahme von Speicheldrüsenzellen streng genommen nicht in den Bereich der physischen Eingriffe fällt, mit der Folge, dass die Entnahme auch von der Polizei durchgeführt werden kann, ohne notwendigerweise einen Arzt zu beteiligen. Wesentliche Voraussetzung ist jedoch, dass die betroffene Person kooperiert; wenn sie die Zusammenarbeit verweigert, wird sie sich einer zwangsweisen Blutentnahme durch einen Arzt stellen müssen. Art. 224bis iStPO (eingeführt durch das Gesetz Nr. 85/ 2009) enthält einen Verweis auf „medizinische Tests“, hält aber nicht genauer fest, welche Inhalte diese Untersuchungen haben, die nicht wenige Interpretationsprobleme aufgeworfen haben. In der Vergangenheit wurde es in der Praxis zugelassen, Röntgenbilder (sie wurden auch durch den begleitenden Bericht des Gesetzes 85/2009 zugelassen) oder Ultraschall36 EGMR (GK), Urt. v. 11.7.2006 – 54810/00 (Jalloh v. Deutschland), Rn. 109. 37 Krause, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 2, 26. Aufl. 2008, § 81g Rn. 72. Es sind Entnahmen aus der Nase, aus dem After oder der Vagina gestattet. Was den Samen des Angeklagten betrifft, ist es ratsam, ihn nicht zu benutzen, wenn man die Möglichkeit hat, andere Körpersubstanzen zu erhalten. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 75 Paola Maggio _____________________________________________________________________________________ aufnahmen zu verwenden (die jedoch von dem begleitenden Bericht zu diesem Gesetz ausgeschlossen werden). Diese wurden bei verdächtigen Personen mit dem Ziel durchgeführt, Verpackungen oder Hüllen, in denen Drogen versteckt waren, gezielt zu finden. In diesem Punkt scheint der italienische Gesetzgeber diejenigen weitverbreiteten juristischen Positionen berücksichtigt zu haben, die allerdings sehr umstritten sind, welche die oben genannten Maßnahmen in die Gruppe der Straftaten mit Freiheitsberaubung einreihen, bei denen eine Leibesvisitation38 durchgeführt wird, die mit Hilfe des medizinischen Personals erfolgt. Art. 224bis Abs. 4 iStPO, enthält überdies ein ausdrückliches Verbot, im Falle von Gutachten des Gerichts, von gesetzwidrigen Maßnahmen, welche das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Gesundheit der Person oder des ungeborenen Kindes gefährden können oder nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der Medizin zu erheblichen Schmerzen führen können. Wenn man diese Regelung in Verbindung mit Art. 191 iStPO liest, kann man im Falle einer Zuwiderhandlung die Nichtverwertbarkeit der Handlung folgern. Art. 224bis Abs. 5 iStPO, erfordert auch, dass die Maßnahmen „unter Achtung der Würde und der Privatsphäre derjenigen durchgeführt werden, die diesen ausgesetzt sind. Auf jeden Fall sind bei gleichem zu erwartenden Ergebnis weniger einschneidende Techniken zu wählen.“ In vollkommener Übereinstimmung mit der Regelung des italienischen Gesetzes Nr. 85 aus dem Jahr 2009 gibt es auf der deutschen Seite einen weitgehenden Schutz für die Gesundheit des Beschuldigten (§ 81a Abs. 1 Nr. 2 StPO) sowie für andere Rechtsgüter, die eng mit der Würde der Person und der Respektierung der Privatsphäre in Verbindung stehen. So werden z.B. Techniken ausgeschlossen, welche die Würde des Menschen antasten, und zwar auch da, wo es sich um körperliche Untersuchungen handelt, die an sich vom Standpunkt der körperlichen Integrität aus (wenn es sich nicht um einen körperlichen Eingriff im eigentlichen Sinne handelt)39 ungefährlich sein sollen. § 81d StPO berücksichtigt die Eingriffe in den Intimbereich und bestimmt im spezifischen Fall, dass entsprechende Maßnahmen von Personen durchgeführt werden, die das gleiche Geschlecht wie der Angeklagte haben. Die genannten Vorschriften nehmen Bezug auf die Systeme beider Länder und wurden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einem bekannten Urteil bestätigt. Dieses Urteil kritisiert die Praxis in Deutschland, insofern es hier eine Verletzung des Art. 3 EMRK sah. Bei dieser Gelegenheit erfolgte eine Neubestimmung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Werte von Würde und Anstand. Das Gericht sah diese Werte i.S.e. unmenschlichen und erniedrigenden Be38 Corte Cassazione (Sekt. IV), Urt v. 2.12.2005, Cassazione penale 2006, S. 3555: „Was die Leibesvisitation betrifft, ist die Röntgenaufnahme eine legitime Art der Ausführung derselben, die zwingend verwendet werden darf, sofern sie von geschultem medizinischem Personal durchgeführt wird und in Übereinstimmung mit dem Stand der Technik erfolgt; davon nicht umfasst ist die Leibesvisitation im Körperinneren.“ 39 Der Fall bezog sich auf eine Phallographie: Krause (Fn. 37), § 81a Rn. 56. handlung40 als beeinträchtigt an. Im konkreten Fall wurde ein Brechmittel gegen den Willen des Angeklagten verabreicht, um ein Rauschgift, das vom Angeklagten verschluckt worden war, zurückzugewinnen. IV. Der Aufbewahrungszeitraum Ein weiteres heikles Thema, bei dem der italienische Gesetzgeber eingegriffen hat, ist der Aufbewahrungszeitraum und die Aufbewahrung der Proben und Profile. So fordert Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 85/2009, dass nach der Identifizierung einer Leiche oder der Überreste einer Leiche sowie nach der Entdeckung einer vermissten Person von Amts wegen die DNA-Profile gelöscht werden, die gem. Art. 7 Abs. 1 lit. c erfasst wurden, sowie die Zerstörung des dazugehörigen biologischen Materials. Was hingegen die Personen betrifft, die in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden, besteht von Amts wegen die Notwendigkeit, das genetische Profil zu löschen und die biologischen Proben zu zerstören, wenn bei der Entnahme ein Verstoß gegen die Anordnungen von Art. 9 begangen wurde. Art. 9 bezieht sich sowohl auf in die Straftat verwickelte Personen als auch auf passiv Beteiligte der Ermittlungen und auf das Objekt der Entnahme sowie auf die Modalitäten der Maßnahmen (Art. 13 Abs. 3). Es ist jedoch nicht vorgesehen, dass die beteiligten Parteien das Recht haben, i.d.S. einen Antrag auf Löschung an das Gericht zu stellen. Die Löschung wird stets ex officio vorgenommen, und zwar nach einem endgültigen Freispruch, weil kein Verbrechen mehr anzunehmen ist oder weil der Angeklagte dieses Verbrechen nicht begangen hat oder weil sie vom Gesetz nicht als Straftat definiert ist. In diesen Fällen ist es vorgeschrieben die DNA-Profile zu löschen, die gem. Art. 9 Gesetz Nr. 85/ 2009 erfasst wurden, sowie die Zerstörung der dazugehörigen biologischen Proben (Art. 13 Abs. 1 Gesetz Nr. 85/ 2009) vorzunehmen.41 In allen anderen Fällen (Art. 13 Abs. 4) bleibt das DNA-Profil in der nationalen DNA-Datenbank für den Zeitraum gespeichert, der in der Durchführungsverordnung festgelegt worden ist, in Absprache mit der Behörde für den Schutz der persönlichen Daten, aber nicht länger als vierzig Jahre nach dem letzten Umstand, der für die Eingliederung der Daten bestimmend war; die biologische Probe wird für den Zeitraum aufbewahrt, der in der Durchführungsverordnung bestimmt worden ist42, im Einvernehmen mit dem Datenschutzbeauftragten, und in keinem Fall länger als zwanzig Jahre nach dem letzten Umstand, der zur Entnahme geführt hat. Die Bestimmungen, die vom italienischen Gesetzgeber eingeführt wurden, dürften durchaus der Verpflichtung entsprechen, die vom Ministerkomitee des Europarats in der Empfehlung R (92) v. 10.2.1992 formuliert wurde. Außerdem geben sie auch eine Antwort auf die präzisen Hinweise, die in einem anderen wichtigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs 40 EGMR (GK), Urt. v. 11.7.2006 – 54810/00 (Jalloh v. Deutschland), Rn. 109. 41 Es werden deshalb Freisprüche ausgeschlossen, die sich z.B. auf die Verjährung einer Straftat stützen. 42 Bislang wurde in Italien die Reglementierung der Durchführung des DNA-Gesetzes noch nicht erlassen. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 76 Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 _____________________________________________________________________________________ zur Menschenrechtskonvention43 gegeben wurden, wo die Aufbewahrung der genetischen Daten in den Datenbanken einer strengen Regelung unterworfen wurde. In der Tat legte der Europäische Gerichtshof einen „angemessenen Zeitraum“ für die Verfolgung der Zwecke fest, zu denen diese Daten archiviert wurden, mit dem Ziel eines Ausgleichs zwischen dem notwendigen Einsatz von technischen Hilfsmitteln bei Ermittlungen und der gebotenen Achtung der Privat- und Familiensphäre, die in Art. 8 EMRK verankert ist. Auf der einen Seite ist es in der Tat erlaubt, das Recht auf Schutz der persönlichen und genetischen Daten dem Interesse an der „Bestrafung von Straftaten“ hintanzustellen, gleichzeitig wurde jedoch angeordnet, strenge Kontrollen durchzuführen, um die Maßnahmen der einzelnen Staaten zu überprüfen, die es erlauben, die Daten von Seiten der Behörden aufzubewahren und zu verwenden, ohne dass der Betroffene seine „Zustimmung“ gegeben hat. Das Ergebnis war ein generelles Verbot von Formen allgemeiner und undifferenzierter Speicherung der Daten für alle europäischen Verfahrensordnungen, ungeachtet der Schwere der Straftaten, für die eine Person verantwortlich gemacht wird und unabhängig vom Alter. Ebenso unzulässig ist die unbegrenzte Speicherung von Daten, vor allem wenn es um Personen geht, die in der Zwischenzeit von den Anschuldigungen freigesprochen worden sind.44 Allerdings hätte das Gesetz Nr. 85/2009 eine noch intensivere und klarere Unterscheidung machen müssen (insbes. im Hinblick auf die Datenbank und das Zentrallabor) zwischen biologischen Proben und genetischem Profil, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die biologische Probe eine Vielfalt von Merkmalen festzustellen erlaubt und es gestattet, auch die Krankheiten einer Person oder ihre Erbanlagen zurückzuverfolgen, im Gegensatz zu dem genetischen Profil, das demgegenüber engere Verwendungszwecke hat, da es sich nur um einen Bruchteil der DNA handelt.45 Die reformierte Regelung sieht stattdessen nur die Zerstörung von biologischen Proben vor, aus denen im Laufe des Verfahrens oder bei der Untersuchung und der technischen Ermittlung, die von den Justizbehörden als Beweismittel angeordnet werden, genetische Profile typisiert wurden, während es nicht das Schicksal des biologischen Materials und der DNA-Profile reglementiert, die auf die lebende Person rück43 EGMR (GK), Urt. v. 4.12.2008 – 30562/04, 30566/04 (S. und Marper v. Großbritannien) = Rivista italiana di diritto e procedura penale 2009, 345; Sartoretti, Il diritto alla privacy tra sicurezza e principio di proporzionalità, il punto di vista della corte europea dei diritti dell’uomo = Diritto pubblico comparato ed europeo 2009, 585. Diesbezüglich s.a. Canzio, in: Scarcella (Fn. 2), S. S. 293. 44 Eine effektive Zusammenfassung der Entscheidung befindet sich bei Chiavario, Diritto processuale penale, Profilo istituzionale, 5. Aufl. 2012, S. 404. 45 Tonini (Fn. 2), S. 4, ist der Meinung, die Beachtung der Privatsphäre hätte das biologische Spurenmaterials intensiver als das genetische Profils schützen müssen, denn das besagte Spurenmaterial gelte als potentielle Quelle zahlreicher und sensibler Informationen, während das genetische Profil hauptsächlich zur Identifizierung diene. führbar sind. Analog dazu sind die Ergebnisse nicht biologischen Materials nicht reglementiert (und das daraus resultierende typisierte genetische Profil), das von der Kriminalpolizei aufgenommen wurde, gem. Art. 349 Abs. 2bis iStPO. In der Tat hat Art. 72quater Abs. 1 disp. att. (d.h.: Anordnungen zur Durchführung) iStPO die Zukunft der biologischen Probe geregelt, die aus Entnahmen gem. Art. 224 und 359bis iStPO stammt: Der Richter, der im Zuge einer Gutachtenserstellung eine Entnahme anordnet, muss die Zerstörung der biologischen Probe unmittelbar nach der Fertigstellung des Berichts anordnen, es sei denn, er hält es für unerlässlich, dass das biologische Material gespeichert wird. In Italien ist somit die Verpflichtung die Proben zu zerstören durch die Möglichkeit der Aufbewahrung stark beschränkt und durch das verschwommene Kriterium der Unentbehrlichkeit relativiert. Die Modalitäten, wie die Profile Eingang in die nationale Datenbank finden, sind im Wesentlichen zwei: Wenn das Strafverfahren noch nicht eröffnet worden ist, ist die jeweilige Justizbehörde (Staatsanwaltschaft oder Gericht) verpflichtet, die genetischen Profile auf die Datenbank zu übertragen, die für die Aufbewahrung und den Datenabgleich zuständig ist (Art. 10 Abs. 1 Gesetz); wenn jedoch die DNA-Typisierung noch nicht durchgeführt wurde und der Urteilsspruch rechtskräftig geworden ist oder ein Dekret zur Archivierung erlassen worden ist, muss die Staatsanwaltschaft, die beim vollstreckenden Gericht die Analyse der DNA beantragt, für die Übersendung der biologischen Proben in ein qualifiziertes Labor sorgen, wobei das Labor auf die Typisierung der Profile und die anschließende Übermittlung der Daten an die nationale DNA-Datenbank spezialisiert sein muss (Art. 10 Abs. 2 Gesetz). Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Verfahren wegen der Nichteinhaltung der Kriterien der Verhältnismäßigkeit und der Risikominimierung kritisiert werden kann. Denn so ist potenziell jedes Verbrechen betroffen und die Rechte von Dritten, Opfern und Zeugen können beeinträchtigt werden.46 Darüber hinaus gibt es im italienischen Gesetz Nr. 85/2009 eine erhebliche Gesetzeslücke, die von Anfang an hervorgehoben worden ist, was die fehlende Regelung der Zukunft der genetischen Archive betrifft, die sich von der Nationaldatenbank unterscheiden, und vor allem, was die Aufbewahrung von Daten bei der Polizei betrifft oder in anderen spezialisierten Laboratorien, die von der Justiz zugelassen worden sind. Dies bestätigt die Risiken eines Missbrauchs von personenbezogenen Informationen, die aus der molekulargenetischen Analyse stammen, und es zeigen sich zahlreiche Lücken im Daten- und Personenschutz, die hinsichtlich dieses speziellen Interesses bis auf den heutigen Tag bestehen. 46 Tonini (Diritto penale e processo 2010, 883 [888]), hat die Reglementierung des Art. 10 Gesetz besonders hart kritisiert, denn die in der Datenbank gespeicherte Profile sind sowieso in den jeweiligen Prozessen identifizierbar. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 77 McMahan, Kann Töten gerecht sein? Pawlik _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Jeff McMahan, Kann Töten gerecht sein?, Krieg und Ethik, aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, 226 S., € 39,90 Sowohl in der Alltagsmoral als auch im Recht ist das Institut der Notwehr fest verankert. Ein rechtswidriger Angriff bewirkt danach eine normative Entwaffnung des Angreifers. Dieser muss die zur Abwehr erforderlichen Gegenmaßnahmen dulden, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn er dadurch seinerseits zu Tode kommt. Die gleiche normative Asymmetrie zwischen Angreifern und Verteidigern sollte, wie der an der Rutgers University lehrende Philosoph Jeff McMahan geltend macht, auch im Krieg gelten, denn dieser sei als eine Art Notwehr im Großen aufzufassen. Keine legitimen Angriffsziele stellten deshalb diejenigen Kombattanten dar, „die auschließlich deshalb kämpfen, um sich und andere unschuldige Menschen vor einer unrechtmäßigen Angriffsbedrohung zu schützen, und die, von den unrechtmäßig agierenden Aggressoren abgesehen, niemanden bedrohen“. Die ungerechten Angreifer seien demgegenüber zur Duldung der ihnen geleisteten Gegenwehr verpflichtet. „Eine Person kann kein Recht auf Verteidigung gegen eine drohende Schädigung haben, die zu erleiden sie sich haftbar gemacht hat“, das gelte im Krieg nicht anders als im Frieden. Zwar könne die Verantwortung der angreifenden Soldaten gemindert sein, sei es, weil sie im Fall einer Wehrdienstverweigerung empfindliche Strafen hinnehmen müssten, sei es, weil sie aufgrund von Informationsmängeln die Ungerechtigkeit des von ihnen geführten Krieges verkennen. Aus diesem Grund seien „die allermeisten der ungerechten Kombattanten keine Verbrecher, weder im moralischen noch im rechtlichen Sinne“. Von einem gänzlichen Fortfall ihrer moralischen Verantwortung könne wegen des hohen moralischen Unwertgehalts eines ungerechten Krieges jedoch allenfalls in Ausnahmefällen die Rede sein. „Das heißt also, dass es im Falle der ungerechten Kombattanten so gut wie immer eine Grundlage für die Haftbarkeit gibt.“ Das Beste, was ungerechte Kombattanten tun könnten, sei deshalb, sich so rasch wie möglich zu ergeben. Der Argumentation McMahans liegt die Überzeugung zugrunde, es sei nicht nur begrifflich möglich, sondern sogar ethisch geboten, zwischen gerechten und ungerechten Kriegen zu unterscheiden. Das heutige Völkerrecht teilt diese Auffassung bekanntlich nicht. Statt das Verhältnis der Kombattanten beider Seiten nach dem Muster der Notwehr zu konstruieren, geht es von deren normativer Gleichheit aus. Solange die Kombattanten die Regeln des ius in bello beachten, verhalten sie sich demnach rechtmäßig, gleichgültig, auf welcher Seite sie kämpfen. McMahan erkennt ausdrücklich an, dass es für diese Sicht der Dinge gute Gründe gibt. Zum einen würde der Verzicht auf die rechtliche Gleichstellung der Kombattanten es der ungerechten, aber siegreichen Seite erleichtern, den von ihr besiegten gerechten Kombattanten Strafen aufzuerlegen. Zum anderen sei das völkerrechtliche ius in bello in erster Linie daran interessiert, die kriegsbedingte Gewalt und Zerstörung in Grenzen zu halten. Da aber damit zu rechnen sei, dass all das, was den Gerechten erlaubt sei, auch von den sich selbst im Recht fühlenden Ungerechten getan werden würde, sei es aus Gründen der Schadensbegrenzung sinnvoll, die Handlungsspielräume beider Seiten möglichst eng zu fassen. Diese Erwägungen dürfen McMahan zufolge jedoch nur die rechtliche, nicht aber die ethische Bewertung kriegerischer Auseinandersetzungen bestimmen. An die Stelle der „nahezu ausschließlichen Beschäftigung mit den Folgen“, wie sie die Perspektive des Kriegsvölkerrechts kennzeichne, habe die Moralphilosophie vielmehr vorrangig die „Achtung vor den Rechten“ der Betroffenen zu setzen. Wo Konsequentialismus war, soll Kantianismus – oder was sich ein Amerikaner darunter vorstellt – werden, auf diese Formel läuft McMahans Kritik an der Gleichstellung gerechter und ungerechter Kombattanten letztlich hinaus. Damit macht McMahan es sich jedoch entschieden zu einfach. Anfechtbar sind sowohl McMahans These, dass ein Krieg in normativer Hinsicht einer Notwehrsituation entspreche, als auch seine Annahme, dass die Gleichstellung aller Kombattanten den Rückgriff auf ein konsequentialistisches Begründungsmodell erfordere. Krieg und Notwehr unterscheiden sich vielmehr erheblich. So erklärt sich die Weite des Notwehrrechts daraus, dass dieses Recht ausschließlich das Verhältnis zwischen Verteidiger und Angreifer betrifft, während zumal moderne Kriege massive Auswirkungen auf Nichtkombattanten haben. Vor allem aber ist die Verantwortung der meisten ungerechten Kombattanten für den kriegerischen Konflikt weitaus geringer als die des Angreifers in einer typischen Notwehrsituation. Wie oben erwähnt, spricht McMahan diesen Umstand zwar an, seine Auswirkungen sucht er jedoch zu minimieren. Die „Erreichung der gerechten Sache“ habe ein solches Gewicht, dass ihr gegenüber die geminderte Verantwortlichkeit der angreifenden Soldaten in aller Regel eine quantité negligeable darstelle. Diese Behauptung ist allerdings ein drastisches Beispiel jenes Konsequentialismus, dessen Überwindung McMahan sich auf die Fahne geschrieben hat. In der Begründungslogik eines kantianisch geprägten Ansatzes liegt es demgegenüber, den Haftungsumfang der einzelnen Konfliktbeteiligten an ihrer individuellen Verantwortlichkeit auszurichten. Der Einsicht, dass die je individuellen Verantwortungsanteile der Kombattanten beider Seiten sich zumeist nicht erheblich voneinander unterscheiden, wird die Annahme eher gerecht, dass sämtliche Konfliktbeteiligten gemeinsam dafür verantwortlich sind, die Kriegsschäden möglichst gering zu halten und einen künftigen Friedensschluss nicht durch eine moralische oder gar strafrechtliche Brandmarkung der Gegenseite zu erschweren. Darin äußert sich jenes Minimum an Solidarität, das selbst diejenigen, die rechtswidrig angegriffen werden, ihren Kontrahenten schulden. Dies ist zugegebenermaßen ein anspruchsvolles Ansinnen. Seine Erfüllung wird freilich dadurch erleichtert, dass nicht nur Gründe der Moral, sondern auch Klugheitserwägungen zu seinen Gunsten sprechen, denn wer kann schon darauf rechnen, dass er stets auf der Seite der Sieger stehen wird? Die Unterstellung sämtlicher Kombattanten unter ein einheitliches Verhaltensregime ist, so gesehen, nichts anderes als der rechtstechnische Ausdruck jener Minimalsolidarität, die sie einander sogar in der Situation eines _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 78 McMahan, Kann Töten gerecht sein? Pawlik _____________________________________________________________________________________ kriegerischen Konflikts schulden. Den äußerst begrenzten Handlungsspielräumen der einzelnen Soldaten, auf deren Knochen der Krieg schließlich ausgetragen wird, trägt dieses Begründungsmodell allemal besser Rechnung als die allzu abstrakte Notwehrkonstruktion McMahans. Prof. Dr. Michael Pawlik, LL.M., Regensburg _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 79 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Manfred Heinrich/Christian Jäger/Hans Achenbach/Knut Amelung/Wilfried Bottke/Bernhard Haffke/Bernd Schünemann/Jürgen Wolter (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, de Gryuter, Berlin 2011, 2000 S., € 399,Wer den Jubilar in jüngerer Zeit erlebt hat, mag nicht glauben, dass er im Jahr 2011 seinen 80. Geburtstag begangen hat. Ohnehin ist allein sein „summing up“ als Nestor der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft am Ende von Tagungen schon jede Reise – und manche Vortrags- und Diskussionsödnis – wert: In seiner unnachahmlichen Weise fasst er Vorträge und Debatte zusammen, glossiert sie, mit Charme und Witz manchen Beitrag überzeichnend, eingehüllt in eine Suada von Lob, angereichert mit versteckten Widerhaken wie auch gelegentlicher Ironie – aber immer voller menschlicher Wärme. An diesen extemporierten Auftritten könnte sich mancher Rhetorikprofessor oder -coach eine dicke Scheibe abschneiden – von den kollegialen Schrecken der Hörsäle ganz zu schweigen. Aber der schlagende Beleg für das schiere Faktum jenes bemerkenswerten Ereignisses ist die Existenz der nachfolgend vorzustellenden, zweibändigen Festschrift. An ihr haben, nachdem die Ehrengabe zum 70. Wiegenfest noch von den (zumeist) älteren Zunftgenossen bestritten wurde, nunmehr – bis auf Ausnahmen namentlich aus seinem Schülerkreis – vornehmlich jüngere Kolleginnen und Kollegen und solche aus dem Ausland mitgewirkt. Verlegerisch betreut wurde die Festschrift, wie ihre Vorgängerin, vom Verlag de Gruyter, was für eine gediegene, haptisch angenehme Ausgabe bürgt. Kleiner Wermutstropfen ist lediglich, dass der Verlag sich bemüßigt gefühlt hat, dem Zeitgeist (Stichwort „Eyecatcher“) hinterherzuhecheln, indem er das noble, graphisch höchst gelungene, Firmenlogo auf den Rücken der beiden Bände zu zwei „Goldflecken“ verhunzt hat. Im Folgenden seien die Beiträge kurz aufgeführt – und, je nach Neigung des Verf., gelegentlich mit kleinen Anmerkungen garniert, mal etwas gründlicher vorgestellt. I. Den Reigen eröffnet Hörnle mit einem freundlichkritischen Blick auf „Claus Roxins straftheoretische[n] Ansatz“. Sie teilt den Roxinschen Ansatz, die negative Generalprävention in der Straftheorie beizubehalten, sie aber bei der Strafzumessung durch den Schuldgrundsatz zu zähmen. Doch will sie dieses Vorgehen anders, unter Rückgriff auf Hart, begründen: Institutionen und deren Verteilungsregeln dürften verschiedenen Grundsätzen folgen – und müssten es hier sogar: Kriminalstrafe lasse sich durchaus präventiv konzipieren, ohne dass die konkrete Strafverhängung sich ähnlich orientieren müsse. Dem folgt Prittwitz, Strafrecht als propria ratio. Hier setzt er sich u.a. mit Haffkes Ablehnung des Strafrechts als „ultima ratio“ kritisch auseinander; Prittwitz schreibt diesem Rechtsgebiet eine eigenständige Dimension zu, die zwischen illiberaler (sicherheitversprechender) Kontrolldichte und liberaler Risiko-Akzeptanz changiere. Aber Strafrecht sei per se riskant, weil es in Kauf nehme, übertreten zu werden. Wenn man dieses Resultat nicht wolle, etwa im atomaren Sicherheitsrecht, sei eigentlich kein Platz für diesen Rechtstyp. Kindhäuser behandelt: „Wie man Verbrechen vorbeugt“ – Zu Cesare Beccarias Konzeption der Kriminalprävention. Er ordnet Beccaria als frühen Kommunitaristen ein, eine Sichtweise, die Kindhäuser als (gegenüber dem als statisch klassifizierten Liberalismus) dynamische, an der politischen Tugend ausgerichtete Sicht einstuft. Sie verstehe sich als durch die konkrete Gesellschaft und Zeit geprägt. Aus ihr erwachse die Obliegenheit zur Rechtstreue, sie zu verfehlen, führe zur Schuld. Doch sieht Kindhäuser in dieser Konzeption auch die Gefahr, dass sie eine bestimmte Gesinnung voraussetze, während er dem Recht nur die Aufgabe vindiziert, nur die äußerliche Befolgung seiner Imperative zu verlangen. Jiménez wendet sich einer „Annäherung an das interkulturelle Fundament des Strafrechts“ zu. Jäger (Der Feind als Paradigmenwechsel im Recht – Zu Existenz und Tauglichkeit eines Feindstrafrechts als Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaats) und ebenso Polaino-Orts (Grenzen vorverlagerter Strafbarkeit: Feindstrafrecht) greifen das intensiv diskutierte Thema „Feindstrafrecht“ i.S.v. Jakobs auf. Dabei wiegelt Jäger, bei grundsätzlich kritischer Tendenz, freilich insoweit zu Unrecht ab, als er, nach Aufzählung allerlei polizeirechtlich konzipierter Befugnis-Erweiterungen vermeint, noch gebe es kein „Feindstrafrecht“, weil das Recht noch nicht direkt an den „Feind“ anknüpfe. Da lese ich §§ 89a, 89b, 91, 129a, 129b StGB aber anders, von vielen Maßregel-Regeln ganz zu schweigen. Und Polaino-Orts widerspricht ihm denn auch – sachlich – sogleich, indem er eine Eloge auf das „Feindstrafrecht“ hält und es nicht nur als durchaus vorhandenes, sondern sogar rechtsstaatsverbürgendes (!) Recht ansieht. Partiell dreht sich um das „Feindstrafrecht“ auch der Beitrag von Wittig (Die Herausforderung des liberalen Strafrechts durch die politische Philosophie Giorgio Agambens), wenn auch in einem noch radikaleren Zugriff: Der „heilige Mensch“, in Agambens Verständnis: der mit einem Bann belegte Mensch, habe ein „heiliges“ Leben, weil er zwar getötet, aber nicht geopfert werden dürfe. Dies verknüpft Agamben in dunkler Manier mit C. Schmitts Souveränitätsbegriff: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist“. In verquaster Assoziation erstreckt er diese Gedanken auf die Biopolitik (etwa bei Hirntoten) oder KZ-Lagerinsassen („Lager als nómos der Moderne“). Einleuchtend sieht Wittig diese Konzeption als noch radikaler als die von Jakobs an, weil der Souverän, unabhängig vom Verhalten des Betroffenen, bestimme, wer homo sacer sei. Auch wenn ein Aufsatz nicht reichen dürfte, um dem Konzept auch eines umstrittenen Denkers gerecht zu werden, hat Wittig jedenfalls ihr Urteil plausibel gemacht, Agamben sei in vielem „unklar“. Es folgt ein erster deutlicher Themenschwerpunkt, der sich um den „Rechtsgutsbegriff“ dreht: Ab S. 131 („Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? – Zur Unverbrüchlichkeit des Rechtsgutsdogmas“) bläst M. Heinrich zur unverzüglichen Verteidigung jenes _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 80 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ Topos. Schon Roxin hatte in der Hassemer-Festschrift1 beklagt, dass namhafte Autoren den Rechtsgutsbegriff für untauglich zur Gesetzgebungskritik hielten; so Stratenwerth2, Hirsch3 und Jakobs4. Heinrich reklamiert sodann eine „Verfeinerung“ des Rechtsgutsgedankens für sich, indem er die selbstverständliche Teleologik des Rechtsgutsgedankens (Was soll – für wen – wovor geschützt werden?) in ein „Dreistufenschema“ überhöht. Für eine Wiederbelebung des Rechtsgutsgedankens, der durch die Inzestentscheidung des BVerfG5 nur vordergründig als auch verfassungsrechtlich belangreiche exegetische Potenz liquidiert erschien, spricht sich auch Polaino Noverete aus (Rechtsgüterschutz versus Bestätigung der Normgeltung?: Die Norm sei die Form, das Rechtsgut der Inhalt) – beide Begriffe seien also notwendig aufeinander angewiesen. Und auch Romano (Zur Legitimation der Strafgesetze – Zu Fähigkeit und Grenzen der Rechtsgutstheorie) bricht, zwischen beiden Vorgenannten, eine Lanze für den Rechtsgutsgedanken, freilich schon etwas skeptischer. Auch Scheinfeld (Normschutz als Strafrechtsgut? – Normentheoretische Überlegungen zum legitimen Strafen) behandelt diese Thematik und wendet sich gegen BVerfGE 120, 224. Wie weit der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum reiche, sei gerade die zentrale Frage. Er veranschaulicht die Problematik u.a. am Beispiel der Organentnahme bei Anenzephalen, also Personen ohne Groß- und Mittelhirn. Das Bundesverfassungsgericht6 hatte noch vermeint, in jenem Inzest-Falle Stübing sei das Schutzgut „Familie“ nicht berührt. Eine Bestrafung sei trotzdem verfassungskonform, weil die Strafvorschrift „hier Gewicht“ gewinne durch die Absolutheit, mit der sie umfassende, situationsunabhängige Beachtung erheische. Roxin, heißblütiger Urteile gewiss unverdächtig, hat dies, vornehm in der Form, vernichtend in der Sache, dahin charakterisiert: „das ist ein ernsthaft nicht vertretbarer Gedanke“7. Jedenfalls macht Scheinfeld plausibel, dass der Normschutz als Strafrechtsgut hochproblematisch ist. Da das Thema gleichsam „in der Luft lag“, finden sich noch weitere Beiträge zur Frage des „Rechtsguts“, so von Greco (Gibt es Kriterien zur Postulierung eines kollektiven Rechtsguts). Dieser stellt dazu folgende drei Regeln auf: (1) Wenn eine 1 Roxin, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 573 ff. 2 Stratenwerth, in: Eser (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998. S. S. 377 ff. 3 Hirsch, in: Courakis (Hrsg.), Die Strafrechtswissenschaften im 21. Jahrhundert, Festschrift für Professor Dr. Dionysios Spinellis, 2001, S. 425 ff. 4 Jakobs, in: Shiibashi (Hrsg.), Festschrift für Seiji Saito, 2003, S. 770 (S. 780 ff.). 5 BVerfGE 120, 224 (241 ff.); dagegen Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Vor § 32 Rn. 12. 6 BVerfGE 120, 224 (251). 7 Roxin, StV 2009, 549 (so auch schon in der Sache: Hörnle, NJW 2008, 2087; zust. auch Scheinfeld, in: Heinrich/Jäger u.a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, S. 183 [S. 195 ff.]). Strafnorm ohne die Prämisse von der Existenz „kollektiver Rechtsgüter“ nicht legitimierbar wäre, sei dies kein Grund, ein solches Rechtsgut zu fordern. (2) Wenn eine Vielzahl von Individuen ein Interesse am Schutz eines Gutes hätte, sei dies gleichfalls kein Grund, ein „kollektives Rechtsgut“ zu fordern. (3) Es sei unzulässig, ein „kollektives Rechtsgut“ zu fordern, wenn die Beeinträchtigung dieses Rechtsgutes immer zugleich die Beeinträchtigung eines Individualrechtsgutes voraussetze. Damit hätte er – zumindest – eine Vielzahl von pseudo„kollektiven Rechtsgütern“ eliminiert. Volk (Gefühlte Rechtsgüter?) spricht sich für eine Erweiterung des Rechtsgutsbegriffs auch in Richtung des Tabu-Schutzes aus, – mit Rücksicht auf die „Behavioral Ecconomics“ (hier bezieht sich Volk u.a. auf Kahnemann/ Tversky8). Er verweist darauf, dass im Bereich der Wirtschaft auch unvernünftige Entscheidungen strafrechtlich geschützt seien. (Das gilt im Privaten an sich nicht minder – wenn sich der Staat nicht zunehmend bemüßigt fühlte, dem Bürger vorzuschreiben, was ihm fromme. Exzesshaftes Beispiel: der neuere Nichtraucherschutz.) Volk sieht zwar (S. 222), dass, wer unvernünftig entscheide und sich auf Gefühl und Intuition berufe, sich gleichwohl wegen Untreue strafbar mache, wenn er andere schädige. Die kühne und unerläutert bleibende These, die sich daran anschließt, lautet aber: „Der Schaden allein kann den Unterschied zum Gefährdungsdelikt nicht ausmachen – welche Schäden „Unvernunft“ an den Kapitalmärkten zum Nachteil anderer auszurichten vermag, weiß jeder. Argumentation mit „Freiheit“ und „Schaden“ liefern keine Letztbegründung.“ Das hat aber auch noch nie einer behauptet: Stets geht es um das Wie der Schadensgenerierung. Die Topoi, die die „Behavioral Ecconomics“ aufdecken, sind interessant, besagen, wie Volk selbst einräumt, zunächst aber einmal „nicht viel“. Wer sein (wohlmöglich Schwarz-)Geld in windige Anlagen steckt, wird i.d.R: nicht strafrechtserheblich geschädigt („je höher die Rendite, desto höher ist das Risiko!“). Wenn aber die Banken im sog. Subprime-Markt Ramschpapiere an ahnungslose Kunden verhökert haben, wobei die Ratingagenturen ihnen sogar noch Bestnoten verliehen hatten, ist es genau das, was das Tun zu einem strafrechtserheblichen macht: ein für die Kunden verschleiertes Glücksspiel mit garantiert schlechtem mittelfristigem Ausgang – um der Maximierung des kurzfristigen eigenen Profits willen. Die Entdeckung jener wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten hindern Volk freilich nicht, mit dem Jubilar, bereichsweise dem Tabuschutz (Schutz „homogener Überzeugungen“) das Wort zureden. Es ist dann nur nicht recht zu erkennen, was ein solchermaßen ausgefranster „Rechtsgutsbegriff“ (vgl. dazu noch einmal Volk, S. 224 f.) noch für eine wirkliche systemische Korrekturleistung gegenüber gesetzgeberischen „Begehrlichkeiten“ erbringen soll. Duttge (Strafbarkeit des Geschwisterinzestes aufgrund „eugenischer Gesichtspunkte“?) stellt zutreffend heraus, dass für das Inzest-Urteil des BVerfGE die „ergänzend“ als Strafgrund herangezogenen „eugenischen Gesichtspunkte“ (das strafbewehrte Inzestverbot lasse sich daher [auch] „unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als 8 Kahnemann/Tversky, Prospect Theory, Econometrica, Vol. 47, No. 2 (March 1979), 263 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 81 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ irrational ansehen, BVerfGE) in Wirklichkeit zentraler Argumentationsbaustein gewesen seien: Denn nur so sei erklärlich, wieso das Handlungsunrecht sich auf den Vollzug des Beischlafes beschränke (was freilich nicht mit dem Umstand richtig harmonisierbar ist, dass nur erwachsene Geschwister sich dieser Tat strafbar machen können. Denn der Geschlechtsverkehr von z.B. 17jährigen birgt die gleichen Gefahren!?). Mit Recht betont Duttge, dass auch andere sexuelle Handlungen zu „familienschädlichen Wirkungen“, Störungen der „sozialen Rollenverteilung“ und des „familiären Ordnungsgefüges“ (BVerfG), – genauso wie freilich auch andere sexuelle Handlungen – zu derartigen Wirkungen führen können. Mit Recht sieht er zudem den Aspekt aus dem Max Planck-Gutachten völlig übergangen, dass der Inzest meist nicht die Ursache, sondern die Folge zerrütteter Familien, sei. Mit Roxin beanstandet Duttge, dass „unerfindlich“ bleibe, „welche „Familie“ unter diesen Umständen überhaupt noch geschädigt werden könne“. Mit berechtigtem Hohn fragt er, ob allein die Intensität des staatlichen Zwangseingriffs auf der Rechtfolgenseite bei ansonsten gleicher Werthaltung (keine tolerierbare Fortpflanzung bei erwartenden erblichen Schädigungen) den entscheidenden Unterschied zwischen dem Erbgesundheitsgesetz vom 14.7.1933 und der heutigen Rechtslage ausmache. Auch Duttge streicht heraus, dass ein tiefer Graben in der Argumentation des BVerfG zwischen der Sprechblase [H.-U. P.] vom Ultima-ratio-Prinzip für Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Kriminalstrafe (BVerfG: das Verhalten sei „in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich“9) und dem Mittelsatz im gerichtlichen Syllogismus sei, dass das Entstehen von Erbschäden „nicht ausgeschlossen werden könne“10. Hier vermisst Duttge mit Recht den „hinreichenden Rechtsgutsbezug“, wie er verbreitet in der Literatur gefordert wird, etwa von Roxin11, also ein substantielles, spezifisches Schädigungspotential für das jeweilige Rechtsgut. Er verlangt mit v. Hirsch die Feststellung eines „hinreichend manifesten“ Zurechnungszusammenhangs zwischen dem in Frage stehenden Verhalten einerseits und der „möglichen Gefährdung oder Beeinträchtigung“ andererseits. Mit Recht betont Duttge, dass jedenfalls nicht das Leid der Eltern und der präsumtiven Kinder das BVerfG umgetrieben haben könne, denn das neue Gendiagnostikgesetz lege die Entscheidungsbefugnis über die Ermittlungen des erbbedingten Schädigungsrisikos ganz in das Belieben der präsumtiven Eltern. Duttge sieht in dem Anders-Behandeln der geschwisterlichen Entscheidung einen Verstoß gegen die Einheit der Rechtsordnung gegenüber der sonst betonten Autonomie der präsumtiven Eltern, ob sie etwas über allfällige genetische Defekte ihres Nachwuchses wissen wollten. Er betont noch einmal die Unsicherheit des zugrundeliegenden statistischen Materials für valide Aussagen über Schadensrisiken. Deswegen gelangt er zu dem Schluss, dass der sexuelle Verkehr bei nicht ausschließbaren, unbekannten oder nicht leicht zu er9 BVerfGE 120, 224 (240). BVerfGE 120, 224 (247). 11 Roxin (Fn. 1), S. 573 (S. 589). 10 kennenden Dispositionen zu entsprechenden Erbschäden ein erlaubtes Risiko sei. Es folgen Ontiveros Alonso (Die freie Entfaltung der Persönlichkeit – Ein würdevolles Rechtsgut in einem Rechtsstaat) und Peralta (Motive im Tatstrafrecht), ersterer mit einem traurig stimmenden Blick auf die Verhältnisse in Mexiko, letzterer mit dem Vorschlag, sich von der Betrachtung der Motive auch in der Strafzumessungslehre soweit zu lösen, wie diese sich nicht im objektiven Tatbestand niederschlügen. Es folgen drei Beiträge zu der strafrechtserheblichen Judikatur unseres „höchsten Laiengerichts“, wie ein renommierter Staatsrechtslehrer das BVerfG zu titulieren beliebte: Hettinger (Auf einen Schelmen anderthalbe? – Zum Fehlgebrauch einer misslungenen Rechtsfigur) befasst sich mit § 244 Abs. 3 StGB n.F., der Einführung von „minderschweren Fällen“ als vermeintlichem Kompensat für den ohnehin dogmatisch durch einen ignoranten, dafür aber immer in Eile agierenden Strafgesetzgeber im 6. StrRRefG vollends verunklarten § 244 StGB (unter tätigem „Vorschub-Leisten“, wie das in verquastem Juristen-Deutsch so schön heißt, durch das BVerfG in re § 113 Abs. 2 StGB, wo man – nachdem man eine rigide Gesetzesdeutung eingestielt hatte, gleich die [scheinbar unverzichtbare] Ausflucht über eine Strafzumessungsregel [unbenannter „besonders schwerer Fall“] andiente). Besonders apart: Bevor man sehen kann, ob eine besonders milde Varietät vorliegt, muss man erst einmal die Tatbestandsmäßigkeit feststellen. Die viel gerügte, völlig unnötige tatbestandliche Unbestimmtheit wird also durch diesen (maßstabslosen) Zusatz nicht im Geringsten entschärft. Hettingers Philippika endet mit der – leider eher rhetorischen – Frage, ob der gesetzgeberische „Sinkflug“ anhalte. Man muss – sie voller Bedauern – zutiefst bejahen! Dannecker behandelt „Das Verbot unbestimmter Strafen: Der Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Deliktsfolgen“ und behandelt dort ablehnend das Judikat des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Vermögensstrafe, indem er dem Minderheitenvotum beispringt und dieses noch vertieft. Schulz (Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz – Zur Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2010) befasst sich ebenfalls mit einem BVerfG-Judikat, nämlich dem zur Verfassungsmäßigkeit des § 266 StGB. Er streicht heraus, dass das Gericht dem Art. 103 Abs. 2 GG das Erfordernis der Vorhersehbarkeit von präzisierenden Änderungen der Rechtsprechung entnehme und sich behufs der für erforderlich gehaltenen Kontrolldichte eine Überprüfung der entsprechenden Obersätze vorbehalte. Mit Recht moniert er, dass sich das Gericht den Konsequenzen seiner Axiomatik aber partiell sogleich wieder entziehe, indem es dem BGH einen Vertretbarkeits-Spielraum einräume. Er stellt die Argumentation in einen größeren methodologischen und historischen Zusammenhang und begrüßt diese Entwicklung – auch vor dem europäischen Rechtshintergrund. Als zweiter Block schließen sich Beiträge zum Allgemeinen Teil an: Tavares behandelt „Handlungseinheit und Konkurrenz bei nicht zweckorientiertem Handeln“: Auf der Basis eines von ihm „performativ“ genannten Handlungsbegriffs, in dem menschliches Verhalten als Kommunikationsverfahren _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 82 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ zu verstehen sei, in dem sich die Objekte der äußeren Welt „empirisch und normativ als Umstände der Verhaltensorientierung“ aufdrängten, definiert er Handlungseinheit als Situation, bei der der „Täter nicht bei jedem Akt des Handlungsvollzuges die Umstände seiner kleinen Lebenswelt in seinen Orientierungsobjekten bzw. Risikoverfahren zu aktualisieren“ brauche. Serrano González de Murillo („Sonderwissen“ des Handelnden und objektives Gefahrurteil“) betont das Erfordernis, bei dem Fragenkreis auf das abzuheben, was der Täter gewusst habe – und nicht auf das, was er hätte wissen können. Sanchez-Ostiz fragt: „Ist die „objektive Zurechnung“ objektiv und zurechnend?“ und verneint dies, indem er zu einer früheren, durch die modernen Zurechnungslehren (die er als „bloße“ hermeneutische Bewertungen von bereits Zugerechnetem bezeichnet) „überwundenen“ Zurechnungslehre zurückzukehren und eine Philosophie des Handelns zu erarbeiten empfiehlt. Kontrapunktisch singt Rotsch das hohe Lied auf die normative Zurechnung: „Objektive Zurechnung bei ‚alternativer Kausalität‘“, die er freilich in manchem für präzisierungsbedürftig hält. Er greift BGHSt 39, 195 auf, in dem er den zweiten Schuss als Fall der vollendeten vorsätzlichen Tötung klassifiziert (gegen den BGH, der Versuch und § 222 StGB angenommen hatte). Wegen der Ex-postBeurteilung (und weil er die Kumulation der Teilmengen der Giftgaben betrachtet) gelangt er in dem klassischen Beispielsfall der „alternativen Kausalität“ (unabhängige Verabreichung von jeweils tödlichen Dosen Gift) zu jeweils versuchtem § 212 StGB/§ 211 StGB (wobei das Mischungsargument bei unterschiedlichen Tötungstechniken natürlich versagt, dafür aber schönerweise gleich die Anwendung des in dubio und damit den Versuch „garantiert“). Jedenfalls lehnt Rotsch die Unterscheidung zwischen kumulativer und alternativer Kausalität ab, weil es lediglich auf eine Ex-post-Betrachtung ankomme. Wieso jedoch jemand, der mit Tötungsvorsatz eine tötungstaugliche Technik einsetzt und auch einen Toten produziert, sich „Glückspilz“ (nämlich: bloßer Versuchstäter) nennen dürfen soll, weil ein anderer just das gleiche tut, wird nicht erläutert. Beckemper (Unvernunft als Zurechnungskriterium in den „Retterfällen“) hebt als Entscheidungskriterium für die Strafbedürftigkeit auf die Schutzbedürftigkeit und nicht auf die soziale Erwünschtheit des Rettungsverhaltens ab. Dabei soll die Freiwilligkeit in Abhängigkeit von der jeweiligen Norm gebildet werden, in normativierender Parallele zu Roxins Argumentation bei § 24 StGB. (Ergo: sinnvolle Rettungsversuche unterfielen der Rettungspflicht [incl. der aus § 323c StGB], unvernünftige nicht). Aus der selbst aufgespannten Falle der Gleichbehandlung von Garanten- und § 323c StGB-Pflichten glaubt Beckemper mittels der Zumutbarkeit schlüpfen zu können. Stuckenberg greift das nämliche Thema auf („‚Risikoabnahme‘ – Zur Begrenzung der Zurechnung in Retterfällen“) und nimmt dabei den jüngeren gegen den älteren Roxin in Anspruch. Er hält mit jenem die Trennung der Verantwortungsbereiche, die „Risikoabnahme“ durch Risikosozialisierung, für maßgeblich, um eine sich perpetuierende Zurechnungskette unterbrechen zu können. Die strafrechtliche Zurechnung von Retterschäden müsse unterbleiben, weil sie sonst die Rettungstätigkeit stören könne, wobei er auch auf §§ 24 und 306e StGB verweist. Putzke bejaht in: „Pflichtdelikte und objektive Zurechnung – Zum Verhältnis der allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen zu den Merkmalen des § 25 StGB“ zwar Pflichtdelikte, aber versteht sie anders als der Jubilar: Die Pflichtenstellung besage nichts für die Täterschafts-Stellung. Täterschaft liege immer dann vor, wenn sich der Akteur keines tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft handelnden Zwischengliedes bediene, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. Zwar erledigten sich dann manche Streitfragen nicht, würden aber an die gebührende Stelle verschoben, – in die objektive Zurechnung. Wie er dann aber den Fall eines zwischengeschalteten „absichtslos-dolosen“ Werkzeugs in einen solchen Fall einer Sonderpflichts-Verletzung umdeutet („es spricht nichts gegen eine Zurechnung“), den mögen die „schiefen Worte“ und die Lokalisierung an der „falschen Stelle“ seitens der h.M. nicht mehr ganz so zu schrecken. Widmaier (Der Zitronensaft-Fall – Zum Risikozusammenhang nach Aufklärungsmängeln bei der ärztlichen Heilbehandlung) bescheinigt zunächst dem BGH in dem berühmt-berüchtigten Zitronensaft-Fall eine „erfrischende Entdramatisierung des Geschehens“. Anhand einer Abwandlung des Falles (Saft-Gabe schon bei Schließung der OP-Wunde) veranschaulicht er seine Forderung, dass bei einem Einsatz unüblicher ärztlicher Techniken die Gefahr sich in spezifischer Weise im tödlichen Verletzungserfolg niedergeschlagen haben müsse (Lehre vom Schutzzweck der Norm i.S.v. Roxin). B. Heinrich (Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale) lehnt in seinem Beitrag einen solchen Irrtum als Fall des § 16 StGB ab und unterwirft ihn dem § 17 StGB. Auch andere Topoi in jene Richtung (Parallelwertung in der Laiensphäre/Kenntnis des Begriffskerns/des sozialen Sinns) verwirft er als zu schwammig und vermeint mit dem „Irrtum über einen tatsächlichen Umstand“ einen klaren und klar begrenzten Gegenstand des § 16 StGB ausgemacht zu haben. Nun mag man zugestehen, dass die Abgrenzung von deskriptiven und normativen Merkmalen schwierig ist – und manche Lösung der h.M., wie Heinrich zuzubilligen ist, etwas Gewolltes an sich hat. Aber wie man bei Begriffen wie „Ehre“, „Urkunde“, ja sogar bei „üble, unangemessene Behandlung“ dieser Dimension stringent glaubt entraten zu können, ohne die hermeneutische Sinndimension auszublenden, erscheint zweifelhaft. Es ist schon so, dass, wie bei Midas, dem alles, was er berührte, zu Gold wurde, alles, was das Recht „anfasst“ (das scheint mir Heinrich [S. 457], zu bagatellisieren), zumindest auch zu etwas Normativem wird. Wieder anders (und wohl genau gegenteilig) sieht Papathanasiou das nämliche Problem in ihrem Beitrag „Die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters – Vorschlag eines verfassungsbezogenen Kriteriums als Alternative zur Parallelwertung in der Laiensphäre“. Der Titel offenbar ihre Zielvorstellung: Im Verständnishorizont des Täters müsse sich die gesetzgeberische Grundentscheidung hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals widerspiegeln. Das ist eine gewisse Präzisierung. Wenn Papathanasiou das freilich an der Entscheidung BGH NJW 2007, 524 exemplifiziert, so kann man an der Leistungsfähigkeit der These schon wieder zweifeln. Dort hatte der BGH ohne Skrupel „Pilze“ unter die Pflanzen gezählt und damit – sektoral – dem BtMG zu unterwerfen _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 83 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ vermocht. Diese wortlautsprengende Auslegung wurde mit dem besonders eindrucksvollen Argument gestützt, man kaufe Pilze auch gemeinhin beim Obst- und Gemüsehändler. In der Konsequenz dieser „Logik“ dürfte man auch Zigaretten und Zeitungen als Pflanzen einstufen, – weil man diese auch bei vielen Gemüsehändler feilgeboten findet. Rönnau (Zur Lehre vom bedingten Einverständnis) will sich gleichfalls von Willensfiktionen der h.M. lösen und stärker auf objektive Komponenten, etwa des Wegnahmebegriffs, abheben. Etwa bei der missbräuchlichen Automaten-Nutzung fehle es an der diebstahlstypischen Friedensstörung, weil der Nutzer „nicht ‚sozial inadäquat‘“ in einen „gleichsam ‚für Eingriffe geöffneten‘ Herrschaftsbereich“ eindringe. Dass das sozial adäquat sein soll, erscheint mir mehr als zweifelhaft – dass es von der Risikoaufteilung angemessen ist, nicht: Wer sich der Automatisierung bedient (um nicht persönlich anwesend sein und selbst Überwachungsdienste leisten zu müssen), muss sich die Folgen seiner „Bequemlichkeit“ entgegenhalten lassen. Es folgt ein weiterer Schwerpunkt mit Einwilligungsfragen aus dem medizinischen Bereich: Cancio Meliá eröffnet mit: „Autonomie und Einwilligung bei ärztlicher Heilbehandlung – Eine Skizze aus spanischer Perspektive“. Er stellt das spanische Patientenautonomie-Gesetz vor. Vieles entspricht der deutschen Rechts-/Rechtsprechungslage, wenngleich der Autonomie-Schutz in den §§ 223 ff. StGB nicht ganz unstreitig ist. Dabei sei die Autonomie aber oft in einen Kampf mit paternalistischen Zügen vermeintlich verobjektivierter Patienteninteressen verstrickt. Böse (Zur Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen einwilligungsunfähiger Erwachsener) macht den Willen des Betroffenen stark, indem er ihm eine Veto-Macht einräumt, die lediglich bei Todes- oder der Gefahr erheblicher Gesundheitsbeeinträchtigungen von der Betreuer-Entscheidung majorisiert werde und sogar Zwangsanwendung gestatten könne. Ebenfalls mit den §§ 1901a ff. BGB befasst sich Sternberg-Lieben (Gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung: offene Fragen im Strafrecht, insbesondere bei Verstoß gegen die prozeduralen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB). Seine (plausible) These: Verstieße ein Arzt, ein Patientenvertreter (und mutmaßlich selbst ein Dritter) gegen die prozeduralen Anforderungen der §§ 1901a ff. BGB, so mache er sich nicht strafbar, wenn er nur der Patientenverfügung folge, wohl aber (nach §§ 223 ff. StGB), wer eine verfügungswidrige Weiterbehandlung verantworte – entgegen entsprechender (interessegeleiteter) Begleitmusik aus mancher Ärzteposaune. Der Sterbehilfe wenden sich gleich mehrere Autoren zu: Fischer (der selbst an der bekannten Putz-Entscheidung12 mitgewirkt hat), weist in „Direkte Sterbehilfe – Anmerkung zur Privatisierung des Lebensschutzes“ noch einmal – mit Recht – darauf hin, dass die unbeabsichtigte Inkaufnahme von tödlichen Folgen einer Behandlung nichts an der Vorsätzlichkeit der Tötung ändere. Er betont andererseits die Maßgeblichkeit der Privatautonomie, hält – mit Recht – die Unterscheidung von „aktiver“ und „passiver“ Sterbehilfe für „überholt und irreführend“ und regt an, § 216 StGB in seiner Absolutheit 12 BGHSt 55, 191. intensiver zu diskutieren (namentlich in Situationen faktischer Unmöglichkeit für den Patienten, sich selbst zu töten). Rosenau (Aktive Sterbehilfe) spricht sich sogar dezidiert für eine – begrenzte – Freigabe der aktiven Sterbehilfe aus, obwohl er meint, dass diese Fälle sich bereits über § 34 StGB erfassen ließen. Doch wegen der Komplexität der Argumentation und der Umstrittenheit der Frage befürwortet er eine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Während mir die Analogie zu § 34 StGB die Möglichkeiten dieses Instrumentes zu sprengen scheinen, ist der Tendenz der Argumentation, durchaus auch aus den aufgeführten Gründen, uneingeschränkt beizutreten. Auch Joerden knüpft an jenes o.a. Judikat mit einer Betrachtung eines methodologischen Aspektes an: „Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt“. Zunächst sieht er, mit dem BGH, keine Möglichkeit, die §§ 1901a ff. BGB als Rechtfertigung zu deuten. Er entnimmt dem o.a. Judikat eine teleologische Restriktion des § 216 StGB im Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Sodann unterscheidet er, traditionell, zwischen Verhaltens- und Zurechnungsregeln. Dieser Sicht stellt er eine gegenläufige Sicht entgegen, in der die Begriffe von ihren Bewertungsgegenständen her bestimmt werden, etwa in der experimentellen Philosophie. Joerden veranschaulicht dies an einem Beispiel, das jenen Knobe-Effekt veranschaulicht, in dem Beurteiler eines ähnlich gelagerten Falls die subjektive Haltung eines Protagonisten mal als vorsätzlich und mal als unvorsätzlich einstufen, je nachdem, ob er etwas (für Dritte) Nachteiliges oder etwas Vorteilhaftes in Aussicht nimmt. Joerden fragt sich, warum der Begriff des Eventualvorsatzes bei supererogatorischem („überpflichtgemäßem“) Verhalten nicht parallelisiert wird und sieht den Grund in der Unterschiedlichkeit der Situationen: hie Straftat/dort Supererogation. Ähnliches sieht Joerden in der Argumentation des BGH, sieht aber auch, dass es für eine methodisch stringente Auflösung eine gesetzgeberische Entscheidung à la § 214 AE-Sterbebegleitung geben müsste. Núñez Paz (Zur Straferheblichkeit des Abbruchs der ärztlichen Behandlung in irreversiblen vegetativen Stadien) argumentiert in die nämliche Richtung – auf der Basis von rechtsvergleichenden Betrachtungen. Ein weiterer Akzent liegt, aus gegebenem Anlass, auf der Frage nach der Legitimierbarkeit von Folter. Den Reigen eröffnet Gómez Navajas (Darf der Staat foltern?) der die Frage noch knapp, aber plausibel, verneint. Mitsch (Verhinderung lebensrettender Folter) schlägt sich bekanntlich auf die Gegenseite. In seinem Beitrag glaubt er ein zusätzliches Argument für seine Sicht über die Überlegung zu finden, ob derjenige strafrechtlich für den Tod des Opfers verantwortlich sei, der es unterlasse, das Leben des Opfers durch Anwendung von Folter zu retten. (Gegenposition etwa: Lüderssen und der Jubilar). Ähnliche Überlegungen wie bei Mitsch finden sich schon bei Erb oder Merkel. Schlüsselsatz, und gleichwohl in der Argumentation mir dunkel geblieben, ist S. 646: „Dass ohne das normative Korrektiv der objektiven Zurechnung an der objektiven Tatbestandsmäßigkeit des folter- und rettungsverhindernden Verhaltens als Totschlag oder gar Mord nicht gezweifelt werden kann“. Wie das Verhindern von verbotswidrigem Verhalten, ob nun mit oder ohne „objektive Zurechnung“, in irgendeiner rechtlich belangreichen Form objektiv _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 84 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ tatbestandsmäßig sein kann, ist mir offengestanden nicht recht nachvollziehbar. Der kruziale Punkt bleibt immer, ob es irgendeine Rechtfertigung für die Folter geben kann. Mit Rücksicht auf Art. 1 Abs. 1 GG stellt Mitsch die These auf, einen Schutz des abstrakten Prinzips „Folterverbot“ um jeden Preis dürfe es nicht geben“ (S. 649/650). Dem folgt die zweite These: „Richtiger Ansicht nach ist die Menschenwürde nicht abwägungsresistent“ (Mitsch, S. 650 – gegen Roxin [und auch meine Sicht13]). Bei der Abwägung erscheint Mitsch als gewichtiger Abwägungsfaktor das im extremen Maß rechtswidrige Vorverhalten des Gefolterten: „Warum an der Menschenwürde des Entführers ein wesentlich höheres Erhaltungsinteresse bestehen soll als an der des Entführten, ist nach allem nicht einzusehen.“ „Deswegen könne die Tötung des Entführten auch nicht durch Notstand gerechtfertigt werden“ (S. 651). Ab dann diskutiert Mitsch die Frage der normativen Zurechenbarkeit. Er rekurriert dabei auf die beiden Topoi „unerlaubtes Risiko“ und „adäquate Verwirklichung dieses Risikos im eingetretenen Erfolg“ als Kriterien für die objektive Zurechenbarkeit (S. 652/653). Er betont, dass der Folterverhinderer die Risikolage nicht geschaffen hat. Deswegen generiert er ein „‚sekundäres‘ Risiko“, durch welches weder das Primärrisiko ersetzt noch dessen Verwirklichung verhindert worden sei, in Anlehnung an Renzikowski. Zentralbegriff sei das Zerstören einer Chance, wobei Mitsch sieht, dass es sich (nach h.M.) um eine „unerlaubte Rettungschance“ handelt (S. 653). Angesichts dessen kommt Mitsch – im Wege eines argumentum ad absurdum – zu dem Ergebnis der h.M., dass eine Verhinderung der Rettungsfolter nicht sein dürfe – wegen deren Prämisse, dass jene selbst ihrerseits rechtswidrig sei. Da er diese Prämisse aber nicht teilt, ist sein Fazit (S. 655), dass die Folter zur Lebensrettung straflos sei und die Verhinderung dieser Rettungsfolter daher strafbar. Engländer (Die Pflicht zur Notwehrhilfe) entnimmt (S. 658 f.) – mit Stimmen aus der Rechtsprechung und der Literatur und gleichwohl erstaunlicherweise – dem § 323c StGB die Pflicht (Pflichtengefälle [?]), bestmögliche Hilfe zu leisten (die Worte betreffs des Gebotenen changieren: „wirksamste“/„optimale“). (Bei einem Garanten ist dies sicher unumstritten). Sodann diskutiert Engländer Zumutbarkeitsfragen, die einige erst der Schuld zuordnen. Dies hält Engländer in den Fällen der Kollision gleichrangiger Interessen für unzutreffend (S. 661/662). Er sieht allerdings darin auch keinen Tatbestandsausschluss, wie andere Stimmen, sondern, mit weiteren Autoren, ein Rechtfertigungsproblem (Aufhebung eines tatbestandlichen Handlungsgebots). Die Rechtfertigung des Unterlassens der erforderlichen Notwehrhilfe seitens eines Garanten bestimme sich nach § 34 StGB. Ab S. 665 diskutiert Engländer, wie es sich bei für den Nothelfer ungefährlicher Notwehrhilfe verhalte. Im konkreten Fall müsste etwa ein Wachmann einen Dieb niederschießen, wenn er anders das Eigentum seines Geschäftsherrn nicht retten könnte (S. 695). Engländer stört, dass die Verpflichtung des privaten Nothelfers dann erheblich über die der staatlichen Gefahrenabwehrorgane hinausginge (vgl. Art. 4 Abs. 2 BayPAG). Entgegen manchen Stimmen der Literatur, auch des Jubilars, 13 Vgl. Paeffgen (Fn. 5), Vor § 32 Rn. 151. lehnt Engländer § 32 StGB als hoheitliche Eingriffsgrundlage ab (§ 32 StGB genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen einer gefahrenabwehrrechtlichen Befugnisnorm, S. 666). Dann aber sei es axiologisch ungereimt, dem Privatmann höhere Gefahrtragungslasten aufzuerlegen als professionellen Gefahrenabwehrorganen. Deswegen stünden auch dem Privatmann dort, wo der Amtsträger ein Entschließungs- und Auswahlermessen habe, solche Entscheidungsspielräume zu. Aus § 12 Abs. 2 SchwKG und aus Art. 12a GG schlussfolgert Engländer, dass der Staat auch in „anderen zugespitzten Bedrohungssituationen von seinem Bürger zur Verteidigung besonders gewichtiger Interessen ausnahmsweise die Tötung menschlichen Lebens“ fordern dürfe. Während einige die Gewissensfreiheit als rechtfertigende Kraft ansähen, legten die meisten ihr allenfalls die Qualität eines Entschuldigungsgrundes bei (S. 670). Engländer möchte hingegen die verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4, Abs. 1 GG bei der Ausdeutung der Gewissensfreiheit thematisieren und dabei die Wechselwirkungslehre anwenden (S. 670). Wenn die Gewissensbetätigung sich innerhalb der verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4 Abs. 1 GG halte, die ihrerseits im Lichte des eingeschränkten Grundrechts zu definieren seien, so sei der Täter gerechtfertigt. Sinn (Recht im Irrtum?) behandelt den irrigen Einsatz staatlicher Waffengewalt im Rahmen eines UN-Mandates aufgrund einer nur gemutmaßten Rechtfertigungssituation und gelangt auf S. 679 zu dem Ergebnis, dass die Putativnotwehr zu einem „Recht im Irrtum“ bei Soldaten führe. Wenn die Handlungsanforderungen „vom Täter nicht erfüllt werden konnten, weil der Irrtum unvermeidbar war, so kann ihm die Motivation nicht als falsch vorgeworfen werden. Jene Ansicht bleibt die Erklärung schuldig, wie sich der Irrende richtig verhalten solle, was die behauptete rechtliche Handlungsanforderung ist.“ (Dabei übersieht Sinn freilich, dass die Vermeidungsanforderungen bei der Fahrlässigkeit und bei dem § 17 StGB entschieden unterschiedlich sind – nach h.M.) Sinn begründet aber sogar eine positive Rechtfertigung (S. 679 ff.): Mit Roxin hält er einen rechtfertigenden Offensivnotstand auch dann für möglich, wenn Leben gegen Leben stehe, sofern die Gefahr aus der Sphäre des Notstandsadressaten/-opfers komme. Die an sich nicht statthafte Abwägung Leben gegen Leben sei also, laut Roxin „in Grenzfällen unvermeidbar“. (Dabei wird allerdings mit keinem Wort begründet, warum die „Gefahr“ aus der Sphäre des [letztlichen] Notstandsopfers herrührt – wenn es denn doch nur eine Putativgefahr war. Sind die Opfer der Attacke des Oberst Klein im Kundus deswegen „zu Recht“ gefallen, weil Taliban-Kämpfer derartige Überfälle auf Tanklastwagen schon gemacht haben oder ihnen solche zuzutrauen sind, oder sich einige von ihnen zu den einfachen Bürgern gesellt haben?!). Auf S. 683 f. bildet Sinn ein Beispiel eines auf einen Halt gebietenden Posten zufahrenden Zivilisten: Der schießende Soldat ist nach Sinn gerechtfertigt (!) – wegen Erlaubnistatbestandsirrtums (ein Ergebnis, das mir, jenseits der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, verfehlt erscheint: Dem Zivilisten schreibt er eine Verantwortlichkeit für die Gefahr zu, weil er sich rechtswidrig verhalten habe, weil er einen pflichtwidrigen Übergriff in eine fremde Rechtssphäre zu begehen droh- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 85 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ ten [phänotypisch mag man das im polizeilichen StörerJargon so sehen; – aber vielleicht klemmte auch nur das Gasoder Bremspedal?]). Ein bei dem Jubilar natürlich zu erwartender Schwerpunkt der Beiträge liegt bei Schuld-Fragen: Crespo (Schuld und Strafzwecke) pflichtet Roxins präventiver Vereinigungstheorie bei; er untersucht den verwandten Schuldbegriff, die Struktur der Schuld in Relation zum Unrecht und die Funktion der Schuld bezüglich der Strafzwecke und betont durchgängig die begrenzende Aufgabe dieses Topos. Nach Schroth (Strafe ohne nachweisbaren Vorwurf) erscheine es angesichts neuerer Erkenntnisse der Neurobiologie fraglich, ob der Mensch überhaupt die Fähigkeit besitzt, „anders handeln“ zu können, ob also überhaupt eine Freiheit nachweisbar sei, die ein Täter missbraucht haben könne. Allerdings erscheint Schroth die These, dass Willensfreiheit existierte, „durch die Neurobiologie bisher nicht widerlegt“. Doch könne der Richter die Handlungsfreiheit nicht nachweisen (vor dieser Aufgabe könne der „Strafrichter nur versagen“). Hierzu ließen sich keine beweisbaren Feststellungen treffen, „dies folgt schon aus der Logik der Beweisführung“. Unter kurzer Skizzierung verschiedener Kriminalitätstheorien bestätigt Schroth noch einmal, dass Anders-Handeln-Können jedenfalls im Strafprozess nicht nachzuweisen sei. Aus den Schuldgefühlen des Täters könne man derartiges nicht ableiten. Stuckenberg u.a. hielten dafür, dass im Strafprozess nur das durchschnittliche Können zu ermitteln sei. Davon abgewichen zu sein, begründe die Vorwerfbarkeit des Verhaltens. Dies hält Schroth für eine „Scheinlösung“. Dem Täter werde vorgeworfen, durchschnittlichem Können nicht genügt zu haben. Damit sei jedoch nicht nachgewiesen, dass er auch in der Lage gewesen sei, durchschnittlichem Können zu genügen. Auch die Charakterschuldlehre verwirft Schroth wegen mangelnder Beweisbarkeit im Prozess (dem Täter müsste nachgewiesen werden, dass er sein Leben aus eigenem Antrieb heraus hätte anders gestalten und einen anderen Charakter hätte bilden können). Ein derartiger Nachweis könne nicht gelingen. Fazit: Die Idee der Vorwerfbarkeit einer Straftat existiere im Strafrecht nur als „angemessene Fiktion“. Gegen Jakobs’ funktionelle Schuldlehre wendet er ein, dass, wenn Schuld aus generalpräventiven Bedürfnissen bestimmt werde, sie ihren begrenzenden Charakter verliere. Außerdem gehe der Zusammenhang zwischen der Legitimität einer Norm und der Schuld des Normbrechers verloren, wenn man den funktionalen Schuldbegriff verwende: „Die Garantie des Erhalts einer Ordnung bezieht sich auf jede Ordnung, nicht auf die richtige Ordnung. Zudem fehle bei einem funktionalen Schuldverständnis der notwendige Zusammenhang von Strafe und Freiheit, auf den nunmehr eingegangen werden soll.“ Stattdessen müsse Strafe von einem „Anspruch des Staates“ her gedacht werden, „der gegenüber jedem einzelnen Rechtsgenossen begründet erhoben, vom Gesetz festgelegt und sanktionsbewehrt sei. Er sei gerichtet auf „ein Verhalten jedes Bürgers, das sich in den vom Gesetz abgesteckten Freiheitsräumen hält und die rechtlich geschützten Interessen anderer nicht verletzt.“ Der sittliche Anspruch des Strafrechts werde nicht mehr individualethisch mit der Schuld begründet, sondern durch den Schutz von Rechtsgütern mittels Strafdrohung und Strafverhängung, was Freiheit überhaupt erst ermögliche. Trotzdem will Schroth an der Notwendigkeit von Schuld festhalten „Schuld kann nämlich auch verstanden werden als Verfehlung einer Pflicht, deren Erfüllung von jedem Bürger erwartet wird, soweit er als Normadressat angesehen werden kann.“ In Anlehnung an Ellscheid/Hassemer bezieht er sich hierzu auf eine Aussage von Roxin: „Schuld ist ‚Unrecht des Handelns‘ (i.S.d. Strafgesetzbuchs) trotz normativer Ansprechbarkeit“, womit er sich schwerlich der Probleme der prozessualen Beweisbarkeit enthoben haben dürfte. Hoyer (Normative Ansprechbarkeit als Schuldelement) wendet sich demgegenüber gegen Roxins gemischt empirisch-normativen Schuldbegriff, der ein „Bollwerk rechtsstaatlicher Eingriffsbegrenzung“ gegenüber der Verfolgung „der gemeinwohlbezogenen ‚präventiven Ziele des Staates‘“ bilden soll. Strafe dürfe also „nicht zum Ausgleich der Schuld, sondern nur zu präventiven Zwecken verhängt werden“. Nach Hoyer müsse in dubio pro reo deswegen bei rechtswidrigem Verhalten nicht etwa von fehlender, sondern von bestehender Schuld ausgegangen werden, insbesondere also auch von Willensfreiheit im Sinne der geistigen und seelischen Möglichkeit zum rechtmäßigen Verhalten. Die Willensfreiheit sei mit „wissenschaftlich-empirischen Mitteln nicht möglich zu beweisen“. Der Täter müsse aber nach Roxin normativ ansprechbar sein – und zwar im Augenblick des Versuchsbeginns. Die Ansprechbarkeit müsse gegenüber einer Verhaltensnorm gegeben gewesen sein, bei deren Erfüllung die unrechtsbegründende Tatbestandsverwirklichung ausgeblieben wäre. Allerdings setze Roxin normative Ansprechbarkeit und Willensfreiheit nicht in eins. Diesbezüglich enthalte sich Roxin jeglicher Stellungnahme, außer derjenigen zum Agnostizismus. Hoyer hält Roxin, m.E. nicht zu Unrecht, entgegen, dass Willensfreiheit trotz ihrer empirischen Unerweislichkeit normativ dem Akteur zugeschrieben würde, wodurch sein gemischter Schuldbegriff in Wirklichkeit ein rein normativer werde. Hoyer erwägt, die Willensfreiheit anders zu fundieren, – durchaus in Anlehnung an Roxin, nämlich auf der Basis der „gesellschaftlichen Realität“, derzufolge „das unbefangene Selbstverständnis des normalen Menschen auf diesem Freiheitsbewußtsein beruht und […] eine sinnvolle Ordnung des menschlichen Soziallebens ohne die wechselseitige Zubilligung von Freiheit nicht möglich ist“. Dem hält Hoyer entgegen, dass solche Selbsteinschätzungen nichts über die Realität besagten, und beruft sich dabei u.a. auf Nietzsche. Hoyer zeigt schön die Zirkularität des deterministischen Weltbildes, das, wie Roxin zugibt, dazu führe, dass diese Ansprechbarkeit in Wirklichkeit eine bloße Vermutung sei. Hoyer dagegen will den Schuldbegriff erweitern und auch auf die Fälle erstrecken, in denen der Täter „sich durch sein eigenes rechtswidriges Verhalten als normativ nicht ansprechbar erwiesen hat“ – jedenfalls unter gewissen Umständen. Die normative Ansprechbarkeit dürfte nicht aus der Ex-post-Sicht betrachtet werden, sondern aus einer Ex-ante-Sicht: „Für den Deterministen ergibt sich die Legitimität der Strafnorm daraus, dass die Fähigkeit des Täters, sich durch die Verhaltensnorm ansprechen zu lassen, zur Tatzeit nicht eindeutig als defizitär erkennbar war, so dass ihr Bestehen einkalkuliert und die Bereitschaft, gegebenenfalls von ihr Gebrauch zu machen, _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 86 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ durch die Strafnorm gestärkt zu werden“ verdiene. Der ex ante als normativ ansprechbar geltende Täter möge sich dann ex post als tatsächlich nicht ansprechbar erweisen. Das wirke sich aber eben nicht bei der Strafandrohungsnorm, sondern allenfalls bei der Bestrafungsnorm aus. Merkel (Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit) befasst sich ebenfalls mit Roxins Schuldverständnis und fragt sich, was genau „normative Ansprechbarkeit“ bedeute, sowie, ob diese dem Schuldprinzip und den § 20 StGB genüge, „weil sie dem ‚Andershandelnkönnen‘, ohne es jemals zu erreichen, doch so nahe wie möglich“ komme und „daher kurzerhand als sein Surrogat genommen“ werden könne. Als Intermezzo befasst er sich mit Herzbergs deterministischer Lehre von der Charakterschuld. In dem subjektiven Erleben der eigenen Entscheidungsfreiheit sehe Herzberg das, was er „kleine Willensfreiheit“ nenne. Herzberg lese § 20 StGB so, dass schuldunfähig nur der Täter sei, „der gerade wegen seiner ‚krankhaften seelischen Störung‘ usw.“ so handele, wie er handele und nicht etwa, wie ein normaler Straftäter, wegen seines schlechten Charakters, seiner Gier […] oder irgendeines anderen, vom ‚ersten (biologischen) Stockwerk‘ des § 20 StGB nicht erfassten Motivs. Herzberg wendet sich damit auch und gerade gegen Roxins These, die Willensfreiheit müsse normativ gesetzt werden. Merkel habe in seiner Monographie diese Lehre aus materiellen Gründen abgelehnt, weil sie „ein evidentes und schwer lösbares Gerechtigkeitsproblem“ erzeuge.14 Herzberg sehe zwischen Lob und Tadel eine unmittelbare Korrelation und rekurriere mit seiner Modellierung einer Charakterschuld auf Schopenhauer. Merkel bestreitet diese Parallele zwischen Lob und Tadel, stellt aber gegen Herzbergs universal geteilte Intuition nur eine eigene, nämlich: Selbst wenn der Helfer nicht anders hätte handeln können, wäre ihn nicht zu loben ein Verstoß gegen profunde Regeln des sozialen Lebens, und rekurriert dabei auf „Gründe anthropologischer, soziologischer, psychologischer, ja evolutionsbiologischer Art“. „Es dürfte für soziale Gruppen ein Selektionsvorteil sein, über solche Regeln des Lobens und Dankens ein zwischenmenschliches Klima kooperativer Freundlichkeit zu begünstigen.“ (Warum das so ist, dafür bleibt Merkel eine wirkliche Begründung schuldig. Zumindest vor der Hand steckt in diesem Aspekt m.E. aber auch die Begründung für die Berechtigung von Tadel!). Merkel meint, dass die Gründe, um einen Schuldvorwurf und Strafe zu legitimieren, weitere seien als „bloß täterinterne Grundlagen“, nämlich „solche außerhalb seiner Person und seiner Eigenschaft zur Tatzeit“. „Diese Gründe seien solche der gesellschaftlichen Normverteidigung und daher utilitaristischer Herkunft.“ Die Auffassung, dass Schuldvorwurf und Strafe trotz fehlender Willensfreiheit berechtigt seien, weil das Motiv der Tat (jenseits von §§ 19 und 20 StGB) Ausdruck des Charakters des Handelnden sei, lehnt er ab. Mit Recht wendet Merkel hiergegen ein, dass man dann, wenn man für seine Handlung nichts könne, auch für seinen Charakter nichts könne. Merkel problematisiert dann anhand von verschiedenen, teils stattgehabten Fällen kriminogene Veränderungen an Menschen, teils durch Operationen, teils durch 14 Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008. Medikamentengabe u.ä.m., und fragt, ob die Personen deswegen schon ausnahmslos zu exkulpieren seien. Daraus folgert er, dass die Dichotomie „Krankheit oder Charakter“ als materielle Grundlage der Schuldunfähigkeits-Bestimmung zu „grob“ sei. Sodann weist er auf die schwere andere seelische Abartigkeit hin, die Herzberg – aus seiner Sicht konsequent – für verfehlt hält. Das Kriterium des „Andershandelnkönnens“ „taugt in seiner Wörtlichkeit nichts“. Stattdessen führt Merkel den Begriff der Autonomie ein: „Ein hinreichendes Maß an (sei es determinierter) Fähigkeit zur motivationalen und also normativen Selbstkontrolle“. Er räumt ein, dass das eine „sehr abstrakte Formel“ sei. Ansprechbarkeit sei ein Dispositionsprädikat (wie löslich, zerbrechlich, biegsam). Er räumt ein, dass die Frage, ob der Täter zum Tatzeitpunkt für ein anderes Handeln ansprechbar gewesen sein müsse, genau so wenig entscheidbar sei, wie die Frage, ob er die Triebe zur Tat nicht hätte unterdrücken können. Doch mache die Problematik solcher Erwägungen auch die ganz andere Behauptung sinnlos, der Täter habe im Moment seiner Tat gleichwohl die dispositionelle Eigenschaft der „normativen Ansprechbarkeit gehabt“. „Der Täter habe die Disposition, in bestimmten Situationen tatsächlich normadäquat zu reagieren“ und „in der Tatsituation hat er aber nicht normadäquat reagiert“: Verantwortlichkeit sei nicht die Fähigkeit zum anders Handeln im Zeitpunkt der Tat, „wohl aber eine bestimmte Form von Autonomie, eine hinreichende (dispositionelle) Fähigkeit zur Handlungskontrolle, die selbstverständlich auch in einer determinierten Welt möglich ist“ – womit Merkel letztlich doch Roxin folge. T. Walter (Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar? – Die Regeln zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche) befürwortet die genannte Analogie, soweit Merkmale betroffen seien, die Ursachen menschlicher Schwächen umschrieben und deshalb nicht nur als äußerer Sachverhalt vorlägen, sondern sich auch in der Täter-Subjektivität spiegeln müssten. Gropp („Conduct that the Actor Should Realize Creates a Substantial and Unreasonable Risk – Anmerkungen aus der Ferne zum Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts.“) betrachtet in Anlehnung an eine Formulierung in Section 939 (!) der Wisconsin Statutes die Generierung des Fahrlässigkeitsvorwurfs. Mit dem Jubilar hält er die Feststellung der Sorgfaltspflichtwidrigkeit schon normentheoretisch nicht für ein Tatbestandselement, wie er denn Pflichtverletzungen insgesamt nicht für Teile der Tatbestandsmäßigkeit hält (sondern für deren „normative Grundlagen“). Stattdessen propagiert er ein Zurückbleiben hinter dem für den Täter erfüllbaren Standard, woraus dann eine substanzielle Gefahr resultieren müsse. Dem müsse eine bewusste oder unbewusste subjektive Fahrlässigkeitskomponente korrespondieren. Die Frage der Unerlaubtheit der Gefahrenverursachung sei kein Tatbestands-, sondern ein Rechtswidrigkeits-Problem. Fletcher (Strafrecht ohne Straftäter) behandelt die Lubanga-Entscheidung der Pre-TrialChamber des IStGH, in der diese Kammer die von Fletcher (m.E.: mit Recht, siehe aber sogleich Ambos) als schädliche Verwischung von Täterschaft und Teilnahme gerügte Sicht des Jugoslawien-Tribunals zu überwinden sucht (Doktrin [von einer „Theorie“ zu sprechen, wäre mehr als ein Euphemismus: Es ist ein Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt!] _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 87 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ des „joint criminal enterprise“, vergleichbar der „Pinkerton liability des Common law). Doch lanciert die nämliche Entscheidung eine andere Rechtsfigur – mit dem gleichen Effekt – die „vicarious liability“ aus dem Vertragsrecht (für den Geschäftsherrn gilt in puncto Verrichtungsgehilfen: „qui facit per alios facit per se“). Dabei problematisiert Fletcher die wechselseitige Zurechnung – ohne freilich auf die in Deutschland gängigen Kriterien einzugehen. Sein Vorschlag: Auf das Erfordernis von „Tätern“ zu verzichten und sich mit GehilfenDelikten zufrieden zu geben. Dabei nimmt er selbst eine Anleihe aus dem Vertragsrecht des Common law: Der ein wohltätiges Geschenk Versprechende sei an sein Versprechen so gebunden, als erhielte er eine Gegenleistung. Das Argument für diese Doktrin lautet: Alle Schenker hätten sich untereinander eine Gegenleistung erbracht. Statt auf den Selbstbindungswillen des Promissors einer Stipulatio abzuheben (wie es das Römische Recht tut), rekurriert man auf fiktionale „Gegenseitigkeiten“ und offenbart eine Dogmen-Fixierung, die die kontinental-europäischen, namentlich deutschen Verschrobenheiten, locker in den Schatten stellt. Das begleitende Sachproblem, jene wirklichen Täterschaftskriterien (nach deutscher Doktrin: gemeinsamer Tatplan, gemeinsame Ausführung in arbeitsteiliger Tatherrschaft) auch zu beweisen, sei von mir keineswegs bagatellisiert. Aber sie mit einer Absenkung der Anforderungen beheben zu wollen, führt dann zu einer Elastitzität in den Grundlagen, die bemerkenswert zur Doktrinarität im Detail kontrastiert. Zu dem im vorigen Beitrag nur indirekt angeklungen Topos der „Organisationsherrschaft“ verhalten sich gleich mehrere Beiträge: Schünemann (Schrumpfende Basis, wuchernder Überbau? – Zum Schicksal der Tatherrschaftsdoktrin nach 50 Jahren) bricht eine Lanze für die Organisationsherrschaftsi.R.d. Tatherrschaftslehre, die sogar der Oberste Gerichtshof Perus in seinem Fujimori-Judikat (eigentlich „Barrios AltosLa Cantuta“, vgl. den folgenden Beitrag) aufgegriffen habe – und wendet sich damit dezidiert und detailliert gegen die Attacken von Haas und Rotsch auf diese „Erfindung“ seines Lehrers. Freilich sieht er bei jenem Urteil, wie bei dem Aufgreifen jener Konzeption durch den BGH Verunklarungen, die ihm in Bezug auf die „entgrenzende“ Adaption durch den BGH gar einem „Pyrrhus-Sieg“ ähnlich zu sein scheint („Wissen des Hintermanns um die Tatgeneigtheit des Vordermanns“). Schünemann arbeitet bei seiner Deutung der Organisationsherrschaft mit „quantitativ abstufbaren“ Topoi: „Rechtsgelöstheit, strukturelle Zwangsausübung“, „Fungibilität“ der Ausführenden und „fraglose Ausführungsbereitschaft“, die in unterschiedlicher Intensität, nur insgesamt „deutlich ausgeprägt“ vorliegen müssten. Passend zur vorherigen Thesis befasst sich Abanto Vásquez (Verdirbt die Organisationsherrschaft die Tatherrschaftslehre?) intensiver mit dem Fujimori-II-Judikat (s.o.) und der iberischen und iberoamerikanischen Judikatur gegen ehemalige Dikatoren. Er befürwortet die Zurechnungsfigur der „Organisationsherrschaft“, sieht sie auch als in der Praxis bewährt an, zöge jedoch eine ausdrückliche Regelung vor – auch angesichts unrühmlicher Fälle der Auslegung durch die junge peruanische Rechtsprechung. Er weist auf die differenzierende portugiesische Lösung hin und darauf, dass man bis 1851 in Preußen eine intellektuelle Urheberschaft kannte. Ambos (Zur „Organisation“ bei der Organisationsherrschaft) dämpft die Einschätzung Roxins, die Organisationsherrschafts-Lehre habe sich international weitgehend durchgesetzt, ein wenig. Ambos setzt sich mit der Kritik an einem staatsbürokratisch verstandenen Organisationsbegriff kritisch auseinander und empfiehlt eigene Ergänzungen, um einem gemischt individuell-kollektiven Zurechnungsmodell im Völkerstrafrecht zum Siege zu verhelfen. Um nicht-staatliche, paramilitärische Gruppen (wie im Katanga-/Ngudjolo-Chui-Fall) einbeziehen zu können, bedürfe es (noch, H.-U. P.) weicherer Kriterien. Dazu gehöre freilich nicht das von Roxin bereits akzeptierte „Tatbereitschafts“-Kriterium als mögliches Substitut für die „Fungibilität“. Denn Organisationsherrschaft setze Herrschaft über diese, und nur indirekt über die Mitglieder der Organisation voraus. Ambos zeigt die Mehrstufigkeit des kolumbianischen Geheimdienstes als „Staat im Staate“ auf, mit der Todesschwadron „Colina“ als unterster Ebene. Aber was man hier, mit dem Denckerschen „Zurechnungsprinzip Gesamttat“ noch der staatlichen Organisationsspitze zurechnen können möge, passe nicht zu den kongolesischen Söldnerbanden. Anders als Fletcher befürwortet Ambos deswegen die Zurechnungsfigur des „joint criminal enterprise“. Man müsse deshalb die strikt hierarchische, bürokratisch Machtstruktur in den afrikanischen Fällen durch jene „weicheren“ Kriterien („persönliche Autorität“ selbst bei anonymer Beziehung zum Ausübenden) ersetzen. Dafür möchte Ambos die mittlere Befehlsebene aus der Zurechnung ausblenden, und nur die Organisationsspitze in Anspruch nehmen. Andererseits seien „‚teilherrschende‘ Beteiligte“ „allenfalls Mittäter“ (? – gemeint sein sollen die Leiter selbständiger Subsysteme), was nicht recht zum gerade ausgerufenen Rigorismus passt. Pariona verteidigt sein Verständnis von Pflichtdelikten, wonach die Verletzung von Sonderpflichten nur die Täterschaft begründe, dagegen nicht das Unrecht, und dass täterschaftsbegründende Pflichten strafrechtliche seien. Das habe zur Folge, dass Täter nur sei, wer eine ihm obliegende strafrechtliche Sonderpflicht verletze (namentlich gegen Gössel und Stein). Heghmanns (Mehrfache Beihilfe) spricht sich für die im Titel seines Beitrags genannte Möglichkeit einer mehrfachen Beihilfe i.d.F. einer mehrfachen Risikosteigerung aus, die sich von dem durch den Haupttäter mediatisierten Rechtsgutsangriff löse. Kudlich (Berufsbedingtes Vorschubleisten?) befasst sich u.a. auch mit Roxins ZurechnungsausschlussFigur der „neutralen Beihilfe“ und erwägt, die für diese entwickelten Korrektive auch auf Fälle wie § 233a StGB zu erstrecken. Doch zeigt er, dass man damit nicht auskomme, sondern auf die allgemeine Zurechnungsdogmatik zurückgreifen müsse. Bei bloßem dolus eventualis des Beherbergers, Transporteurs etc. verlangt Kudlich, dass gerade durch diesen Unterstützungsbeitrag der „späteren Straftat Vorschub geleistet“ werde. Doch wieso das etwa bei einem „Herbergsvater“ (dem die vorgebliche Mädchenklasse ungewöhnlich attraktiv, aber gleichzeitig verschüchtert erscheinen mag) nicht der Fall sein soll, bleibt mir unklar. Da scheinen mir Roxins „deliktischer Sinnbezug“ des unterstützenden Tuns und die „erkennbare Tatgeneigtheit“ des Haupttäters schon eher selektionstaugliche Kriterien. Küper verhält sich zu _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 88 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ „Anmerkungen zum Irrtum über die Beteiligungsform – Die irrige Annahme ‚tatherrschaftsbegründender Umstände‘ als Versuchs-, Teilnahme- und Fahrlässigkeitsproblem“: Küper diskutiert diese traditionsreiche dogmatische „Hochreck“Konstellation, verwirft die vertretenen Lösungen und gibt eine Fahrlässigkeits-Haftung des „Hintermanns“ zu erwägen. Dazu muss er freilich, mit einer Reihe von neueren Stimmen, die traditionelle Sicht vom Aliud-Verhältnis zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat zugunsten eines Einschlussverhältnisses aufgeben. Olmedo Cardenete (Zum Versuch beim echten Unterlassungsdelikt) schichtet diesen vom Versuch des unechten Unterlassungsdelikts dadurch ab, dass ersterer nur durch Verhaltenstypisierung, unabhängig von dem Erfolg, definiert werde, während beim letzteren der Erfolg die zentrale Bezugsgröße sei. Pawlik beschließt den ersten Halbband mit: „Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils – Bemerkungen zur Lehre von den Garantenpflichten“. Er sucht die Diskussion um die Garantenpflichten von ihrer heutigen Beschränkung auf die Unterlassungsdelikte zu lösen und auf eine traditionsreiche, viel grundlegendere, sogar staatstheoretische Fundierung zurückzuführen – die Differenz zwischen negativen und positiven Pflichten – und geht der Frage nach, inwieweit man letztere verstraftatbestandlichen dürfe. Er hält Kant vor, zwei unvereinbare Thesen aufgestellt zu haben: die „Parallelität von Pflichtenart und Begehungsform sowie die Beschränkung des Rechtsbereichs auf negative Pflichten“. Doch habe er sich immerhin auf die zentrale Frage kapriziert, welche Pflichten der Staat zwangsweise, notfalls durchs Strafrecht, durchsetzen dürfe; dabei habe für ihn das Unterlassen nur eine periphere Rolle gespielt. Demgegenüber habe Feuerbach zwar den ersten Fehler Kants beibehalten, aber den zweiten, richtigen Gedanken verdrängt. Zu unterlassen sei Gegenstand von Pflichten, Gebote gebe es nicht. Für strafrechtliche Unterlassungen habe er daher einen speziellen Rechtsgrund benötigt, aus Vertrag oder Anzeige- oder Amtspflichten oder ähnliches. Den Versuch, Unterlassen als Begehung zu deuten, verfolgt Pawlik dann bis Nagler, der die Garantenpflicht als Handlungsäquivalent für ein Tun herausgearbeitet hat. Im Anschluss an Hegel, A. Merkel und Jakobs will Pawlik darüber hinaus: Respekt vor der Rechtssphäre anderer sei die strafrechtliche Grunderwartung, nicht etwaige Solidaritätspflichten. Dies ermögliche erst dem Einzelnen, sein Leben zu leben. Doch könne auch die Organisation des eigenen Rechtskreises oder die Übernahme bestimmter Tätigkeiten den Schutz jener Fremdinteressen von eigenem Verhalten abhängig machen, weswegen negative Pflichten sehr wohl positive Handlungsgebote auslösen könnten. Und damit ist Pawlik bei einer hegelianischen Zuständigkeitsbegründung: Nicht wie bei Kant als Folge des kategorischen Imperativs muss ich meinen Pflichtigkeiten nachkommen, sondern als Folge des Umstandes, dass ich als Person anerkannt sein will; ich könne die mir „auferlegten Zuständigkeiten nicht zurückweisen, ohne (mich) selbst als Inhaber einer Sphäre rechtlich garantierter Organisationsfreiheit aufzuheben“, oder: „Pflichterfüllung ist der Preis der Freiheit“ (Jakobs). Daraus leitet Pawlik gewisse Meliorisierungspflichten zugunsten des Rechtsbestandes ab (etwa: Steuer- oder Zeugenpflichten). Daneben treten laut Pawlik die Garantenpflichten kraft übernommener Sonderrolle, diejenige (u.a.) zwischen Eltern und Kindern (wegen Rückzug des Staates aus dieser Relation und Anerkennung ihrer Autonomie) oder bei interpersonalen (versicherungsartigen) Beistandsversprechen wie etwa der Ehe. II. Der zweite Band eröffnet mit Fragen des Besonderen Teils und hier mit Ackermann: „Sträflicher Leichtsinn“ oder strafbarer Betrug? – Zur rationalen Kriminalisierung der Lüge“ behandelt die Differenz zwischen dem deutschen und dem schweizerischen Betrugstatbestand – und singt das hohe Lied auf letzteren: Wie in der römischen Rechtsparömie „ius vigilantibus scriptum“ schützt die Schweiz nicht vor plumpen Täuschungen, auf die nur sehr Leichtgläubige hereinfallen (allerdings wird auf Opferseite danach differenziert, inwieweit man zur Sorgfalt in der Lage ist.) Gaede (Die objektive Täuschungseignung als Ausprägung der objektiven Zurechnung beim Betrug) wendet ähnliche Überlegung i.R.v. der „objektiven Zurechnung“ an. Dabei durchmisst er nicht nur allerlei Tiefen und Untiefen des Betrugstatbestandes, sondern auch der Doktrin von der objektiven Zurechnung. Er verlangt eine qualifizierte Gefahrschaffung bei der Täuschung und, dass sich in den Zwischenerfolgen (Irrtum, Vermögensverfügung) die mit der Täuschungshandlung gesetzte Erfolgsgefahr realisiert haben müsse. Isfen („Das Leben ist wie ein Schneeball“ oder Strafrechtliche Relevanz von enttäuschten Zukunftserwartungen im Wirtschaftsverkehr) nimmt mit dem Titel Bezug auf die Biographie von Warren Buffet und kontrastiert dessen Sichtweisen mit den Vorgehensweisen des Schneeballsystem-„Königs“ Madoff. Isfen behandelt Fälle von Kapitalanlagebetrügereien unter der wirtschaftsfreundlichen, aber kühnen (und mit den Überbuchungspraktiken der Fluglinien etwas blässlich unterlegten) Prämisse, dass eine „Erwartungshaltung i.S.e. planerischen und operativen Vorwegnahme eines fortlaufenden bzw. steigenden Zuflusses von im Einzelnen nicht näher bestimmten Einnahmen immanent“ sei. Er behandelt den Kapitalanlagebetrug, die Umsatzsteuerverkürzung auf Zeit und die Untreue bei der Kreditvergabe und dort insbesondere die Fälle „in der Mitte“. Isfen will seine, die wirtschaftlichen Realitäten (Prognoseunsicherheiten) nach seiner Sicht ernster nehmenden Erkenntnisse fruchtbar machen, bei der auch die vom Jubilar als Wertungsakt umschriebene Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit dienstbar macht. Dabei sucht er den unterschwelligen Ansatz: „Wer die Kompetenz hat, hat auch stets die Kenntnis“ zu desavouieren. Dass hier eine vertiefende Gesamtschau erforderlich ist, erscheint unbezweifelbar (obwohl die Analyse der subjektiven Tatseite bei komplexen Tötungsdelikten deren auch nicht entraten kann). Die Frage aber, wie man das sich bewusst Blind-Machen für die Risiken von Kapitalanlagen oder das Sich-Berufen auf die Urteile von hochstilisierten Ratingagenturen (die doch nichts anderes als Lohnknechte und Kumpane in einem groß angelegten Täuschungsmanöver u.a. bei den Sub-prime-Papiere-Emissionen waren) in dem Kontext einordnen soll, wird damit nicht beantwortet. Achenbach (Vermögen und Nutzungschance – Gedanken zu den Grundlagen des strafrechtlichen Vermögensbegriffes) spricht sich für ein stärker am Faktischen ausgerichtetes Verständnis des Ver- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 89 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ mögensbegriffs aus, das die personalen Entfaltungs- und Nutzungschancen umfasse (die sich auch auf Objekte von – liebevoll umschriebenem – Affektionsinteresse erstrecke). Subjektiver Rechte in Bezug auf die Objekte oder Rechte bedürfe es nicht; es genüge, wenn die Beziehungen dem Recht nicht widersprächen. Maiwald (Absatz und Absatzhilfe im Tatbestand der Hehlerei und die „Formel“ des Bundesgerichtshofs) rügt hier die mangelnde Abgrenzungstauglichkeit der BGH-Formel, die bei den Modalitäten „Absetzen“ und „Absatzhilfe“ keinen Erfolg voraussetze: „jede vom Absatzwillen getragene vorbereitende, ausführende oder helfende Tätigkeit, die geeignet ist, den Vortäter bei seinem Bemühen um wirtschaftliche Verwertung der ‚bemakelten‘ Sache zu unterstützen“. Er analysiert die Formel sub specie ihrer Vorverlagerung des Vollendungszeitpunkts in das phänotypische Vorbereitungsstadium und der „Eignung zur Aufrechterhaltung“. Mit Recht rügt er die durch die Restriktionsbemühungen heraufbeschworenen Unklarheiten sowie die bei „neutralen“ Handlungen (illustriert am Kugelschreiber-Kauf, der den „Absatz“-Brief ermöglichen soll, und gegeißelt mit der diesbezüglichen Dolus-eventualis-Variante). Auch bei dem Eignungs-Kriterium widerspreche sich der BGH in verschiedenen Fällen der überwachten bzw. von verdeckten Ermittlern eingestielten Kontakte. Maiwald plädiert für den Verzicht auf die „Vorbereitungsvariante“ und das „Eignungskriterium“, indem der BGH den Erfolg (wieder) zur Voraussetzung erheben solle. Zöller (Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen als Vortat der Geldwäsche) rügt, dass bei den angezogenen Tatbeständen Bestrafungswünsche mit rechtsstaatlichen Garantien kollidierten. Er schlägt bei § 261 StGB vor, dass für das „Herrühren“ der Akteur „‚als Mitglied‘ einer Vereinigung“ gehandelt haben müsse. Für die Beteiligung an §§ 129, 129a StGB als Vortat zu § 261 StGB spielt Zöller die verschiedenen Tatmodalitäten durch und verlangt überall teleologische Restriktionen. Außerdem beanstandet er mit Recht die judiziellen Lockerungen an den Vortat-Nachweis und sieht dort Verstöße gegen die Unschuldsvermutung, den In-dubio- sowie den Anklage-Grundsatz (Folge: Aufklärung der Vortat-Umstände und Einbeziehung in den Anklagesatz nach § 200 StPO seien unverzichtbar). Saliger (Schutz der GmbH-internen Willensbildung durch Untreuestrafrecht?) behandelt das Judikat BGHSt 55, 266 (Trienekens). I dieses Verfahren war Saliger als Verteidiger involviert. Er zeigt auf, dass die vom 2. Senat vorgenommenen Haftungsausweitungen mit den Restriktionen des BVerfG zu § 266 StGB unvereinbar seien. (Letzteres verlange eine restriktive, auf „klare und deutliche [evidente] Fälle“ beschränkte Deutung). Daran hapere es aber bei der vom BGH statuierten Loyalitätspflicht gegenüber dem anderen (49 %-)Gesellschafter. Auch habe der BGH die Rechtsgüter vertauscht, indem er das formlose Einverständnis des Mehrheitsgesellschafters für nicht ausreichend erklärt habe. Krey (Finanzmarktkrise und deutsches Strafrecht – Verantwortlichkeit von Bankvorständen für hochspekulativen Handel mit Asset Backed Securities [durch Vermögenswerte besicherte Wertpapiere] auf der Basis von US Subprime Mortgages [minderwertige US-Hypotheken]) befürwortet eine diesbezügliche Strafverfolgung und rügt das zögerliche Verhalten der Staats- anwaltschaften. Er sieht zwar die Probleme für die Behörde, die personell für solche Mammutverfahren nicht zureichend ausgestattet seien und sich zudem ungern mit wirtschaftlich potenten, zudem mit der politischen Klasse stark vernetzten und z.T. personenidentischen Gegnern einließen (zumal sie es dann mit der Phalanx der tüchtigsten Strafverteidiger zu tun bekämen, die sich eben nur Bankenvorstände und aufsichtsräte leisten können, was das Verfahren zusätzlich in die Länge zieht). Krey zeigt auf, dass der § 266 StGB nicht selten gegeben sein dürfte (incl. subjektiver Tatseite). Nachdem er solchermaßen die Staatsanwaltschaften peitscht, ihre Arbeit endlich zu tun, zieht er seiner Attacke dann sogleich wieder die Zähne, indem er meint, als Sanktion reichten § 56b Abs. 2 Nr. 2 StGB oder § 153a StPO. Die Durchführung des Verfahrens würde schon das allgemeine Normvertrauen hinreichend wieder stabilisieren. Abgesehen davon, dass das nach einer Zweckentfremdung des Strafverfahrens „riecht“ – wo es doch eine Sanktion ermöglichen, aber nicht darstellen soll (!) –, kann ich die Quelle des plötzlichen Mitleids nicht erkennen (die armen Banker, die um ihrer Boni willen ganze Volkswirtschaften in den Ruin geritten haben, hätten gleichsam „schon genug gelitten“, wenn denn überhaupt einmal ein Verfahren gegen sie durchgeführt wurde). Heine (Der staatliche Ankauf von strafbar erlangten Steuer-Daten deutscher Steuerhinterzieher) erneuert seine Philippika gegen die deutsche „Datenhehlerei“. Er legt dar, wieso dies strafbares Tun nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG sei. Was er zur „Unbefugtheit“ ausführt (die Anzeige-Berechtigung erlaube keine Straftatbegehung zur Unterfütterung des Anzeigegegenstandes – wohl wahr, doch betrifft das nicht das Amtswalterverhalten), überzeugt mich freilich nicht (unter der Prämisse, dass Regelungen wie Kronzeugen, Legitimität der Verwendung von durch fremde Straftaten erlangten Beweismitteln u.ä.m. nicht aufgehoben werden).15 Die m.E. überzeugende Antwort auf manche von Heine aufgeworfene Fragen gibt Erb (Inwieweit schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“?). Er hält das Tun der deutschen Steuerfahnder für tatbestandslos, übersieht aber keineswegs den nicht unproblematischen Beweiswert von Beweisen, die um des eigenen finanziellen Vorteils willen geliefert werden, sowie wegen der die Grenzen hoheitlicher Verfolgungspraktiken möglicherweise erodierenden Wirkung erfolgreicher Ankaufversuche. Wolfslast (Gesundheitszeugnis ohne Untersuchung – Zum Tatbestandsmerkmal der Unrichtigkeit im Sinne des § 278 StGB) nimmt einen für den Betroffenen tragisch endenden, realen Fall, der aber eher einer Professorenphantasie entsprungen zu sein scheint, zum Anlass, um die Strafbarkeit des im Titel umschrieben Verhaltens plausibel zu machen. Unter dem 4. Abschnitt „Kriminalpolitik und Sanktionen“ eröffnet Lascano mit „Kriminalpolitische Parameter der Verfassung zum Aufbau des Tatbestands“. Lascano diagnostiziert einen Auffassungswandel beim Jubilar bezüglich des Verhältnisses von Tatbestandsmäßigkeit i.e.S. und Rechtswidrigkeit, weg von einem zweistufigen Gesamtunrechtstatbestand, hin zu einem dreigliedrigen, und analysiert, inwieweit die damit berührten Fragen durch die argentinischen Verfassungsprin15 Vgl. dazu Paeffgen, Bonner Rechtsjournal 2010, 12 ff. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 90 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ zipien beeinflusst werden. Lascano sympathisiert mit der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen und sucht die Rechtfertigung schon in die Zurechnungsstrukturen unter Rückgriff auf Verfassungsbestimmungen zu integrieren. Zapatero (Die Todesstrafe – Plädoyer für ein weltweites Moratorium) knüpft an die Millenniumserklärung von Annan vor der UN an und will sie mit dem im Titel umschrieben Ziel weitertreiben. Müller-Dietz (Zur sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs) lenkt den Blick auf die deplorabelen Umstände, unter denen viele Angehörige von zum Freiheitsentzug Verurteilten leiden, und spricht sich für eine familienfreundliche(re) Handhabung der Strafzumessung aus. Rissing-van Saan (Neuere Aspekte der Sicherungsverwahrung im Kontext der Rechtsprechung des EGMR) spricht sich für eine restriktive Berücksichtigung der Judikatur des EGMR zu Art. 7 Abs. 2 EMRK aus, da das Gericht die bürgerschützende Funktion der Sicherungsverwahrung überhaupt nicht in den Blick genommen habe. Sie misst der EMRK und dem EGMR eine weit geringere Bedeutung bei, als es jüngere Verfassungsgerichts-Judikate scheinen lassen. Das sieht Schöch (Sicherungsverwahrung und Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) partiell anders. Auch wenn er die die EGMR-Entscheide für „nicht durchweg überzeugend“ hält, sieht er die BRD – unter dem Druck der EGMR-Judikatur – mit dem Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung auf einem richtigen Weg. Lediglich mit den Schwierigkeiten der Kriminalprognose bei nur einer Anlasstat empfiehlt er, behutsamer umzugehen, angesichts des hohen Irrtumsrisikos zulasten der Verurteilten. Hier schlägt er, anstelle der ihm überfordert erscheinenden zwei Gutachter, nach ausländischem Vorbild vor, interdisziplinär zusammengesetzte Gutachterkommissionen einzuschalten. Sánchez Lázaro (Eine Dekonstruktion der Maßregeln der Besserung und Sicherung) versucht, ausgehend von einem Entscheid des Tribunal Supremo Spaniens, mittels einer schematisierten, sich mathematisch darbietenden Betrachtung darzulegen, dass aus Gründen des Freiheits- und Menschenwürdeprinzips die freiheitsentziehenden Maßregeln fragwürdig und jedenfalls zurückzudämmen seien. Auch bei der Sicherungsverwahrung sieht er durch die Rechtsprechung des deutschen BVerfG die beiden vorgenannten Grundsätze entleert. Als 5. Abschnitt folgt das Strafverfahrensrecht. Hier betrachtet Jung den „Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht“ – bis hin zu dem Bild von der „Justiz als Theater“. In der Reform der letzten Jahrzehnte macht er zwei Gewinner aus: die Staatsanwaltschaft (der er als Kompensat für den Machtzuwachs mehr Unabhängigkeit wünscht, um einen „Administrativprozess“ zu vermeiden) – und das Opfer. (Nicht erwähnt hat er die Polizei [als Arme und Unterleib der Staatsanwaltschaft], der am meisten zusätzliche Kompetenzen zugeflossen sind. Denn auch die Kulissenschieber gehören zum Theater.) Wolter (Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht – Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht) zieht – wie nach dem Titel nicht anders zu erwarten – herzerfrischend über Gesetzgeber und Judikatur von BVerfG und BGH her und gelangt zu einem „niederdrückenden“ Ergebnis: Verfassungswidriges, handwerklich schlecht Gemachtes, Fehlerhaftes mit Verstößen gegen die Zuständigkeit, Systemloses und Inkonsequentes findet er dort aneinandergereiht. Schließlich spießt er BGHSt 54, 69 mit dessen Abwägungsfetischismus auf, vor dem Hintergrund einer allgemeinen Idolisierung des ‚ungeschrieben Verfassungsauftrags‘ zur Aufrechterhaltung und Effektuierung der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“. Anders als früher befürwortet Wolter nicht mehr eine Gesamtreform der StPO, sondern eine solche in Teilen – unter stärkerer Berücksichtigung der österreichischen Errungenschaften. Kühne (Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren – Zugleich eine Stellungnahme zum Beschluss des BVerfG vom 9.11.2010) greift noch einmal das bereits angezogene Thema der Steuerdaten-CD auf, sieht die DatenNutzung in einer Schweizer, deutschem materiellem und Verfassungs- sowie Völkerrecht widersprechenden Weise bemakelt und spricht sich, in deutlicher Kritik von BVerfG NJW 2011, 2417, für ein Beweisverwertungsverbot aus. Pastor (Eine Frist, die keine ist? – Über die Durchführung des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist) eröffnet mit einer steilen Aussage, die ich für zumindest dubios halte: „Die Dauer des Prozesses“ bedeute „nichts anderes als die prozessuale Aufhebung der Unschuldsvermutung“. (Der Prozess hebt die Unschuldsvermutung nicht auf und falsifiziert sie auch nicht. Vielmehr ist es seine Aufgabe, den Tatvorwurf zu klären. Und bis zur Rechtskraft des Urteils wirkt die Unschuldsvermutung.16) Dennoch ist die von Pastor vertretene Kernaussage nur allzu berechtigt: Dass überlange Verfahren ein rechtsstaatliches Kernproblem des Strafprozessrechtes seien. Bei der Ausdeutung dessen, was angemessene Dauer i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ist, findet er die anschauliche Bezeichnung: „Theorie der Nicht-Frist“, weil in der Rechtsprechung des EGMR keine wirkliche Befristung aus der Norm folge, sondern ein „amöbenhaftes“ Gebilde, ein „offener Maßstab“, in dem viele Parameter Berücksichtigung fänden, und deren Verletzung einen „Ausgleich“ erfordere. Pastor verlangt demgegenüber, dass der Gesetzgeber eine absolute Höchstfrist setzen müsse, deren Überschreitung zur Einstellung führen müsse. (Da aber Prozesse Interaktionen sind, haben es auch der Beschuldigte und sein Verteidiger nicht unbeträchtlich in der Hand, das Verfahren zu verlängern. Solange Pastor nicht geklärt hat, wie mit der Möglichkeit eines selbstinduzierten Prozesshindernisses umzugehen sein soll, dürfte seine These nicht viele Anhänger bei den staatlichen und gesetzgeberischen Stellen finden). G. Schäfer (Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter) befasst sich mit berechtigtem Unmut mit dem Sachverhalt, der BGH NStZ 2010, 711 = StV 2010, 553, zugrunde lag. Dort war dem Ermittlungsrichter zwar ein belastendes Gutachten des Verfassungsschutzes, aber nicht das zum gegenteiligen Schluss gelangende entlastende Gutachten des BKA vorgelegt worden. Das veranlasste diesen zur Anordnung einer Telefonüberwachung, während der Beschwerdesenat, in Kenntnis beider Gutachten, das Vorliegen eines für § 100a StPO ausreichenden Verdachtes verneinte. Schäfer verlangt mit Recht, dass entsprechende Anträge – trotz oft bestehender Eilbedürf16 Ausführlich dazu Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 42 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 91 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ tigkeit – die Funktion des Ermittlungsrichters ernst nehmen, wofür er verschiedene Vorschläge macht, u.a. die Vorlegung der vollständigen Akten. (Doch geböte es die intellektuelle Redlichkeit der zuarbeitenden Dienststellen, um nicht gleich an § 344 StPO zu erinnern, auf ein derartiges, geradezu peremptorisch wirkendes Beweismittel hinzuweisen, damit der Ermittlungsrichter nicht, in der Fülle des Materials erstickend, über diese, möglicherweise nur kurze, Stellungnahme hinwegblättert). Nach Diskussion eines weiteren Falles weist Schäfer auf die Möglichkeit einer dadurch ausgelösten Staatshaftungsklage hin. Wohlers (Vorbefassung durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses) unterfüttert mit Belegen aus der EGMR-Judikatur und der Empirie (lediglich < 10 % Freisprüche nach einem einmal eröffneten Hauptverfahren), dass der Beschuldigte sich mit materiellem Grund nicht mehr mit einem unbefangenen (weil mit dem eröffnenden Richter personenidentischen) Richter konfrontiert fühlt.17 Ostendorf (Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers – dargestellt am Fall eines abgenötigten Geständnisses), behandelt anhand eines hoch bedenklichen Falles beim LG Kiel, wie die Beschuldigtenrechte gegenüber der Ermittlungsgruppe nicht öffentlich ermittelnder Polizeibeamte gewahrt werden kann. Dort hatte sich ein Verdeckter Ermittler in das Vertrauen eines psychisch schwerbelasteten Mordverdächtigen eingeschlichen (der diesen schließlich für seinen „einzigen Freund“ hielt) und diesem unter Ausnutzung der so erzeugten emotionalen Abhängigkeit ein „Geständnis“ entlockt, das ein Sachverständiger später als falsch einstufte. Ostendorf plädiert für eine stärker justizielle Kontrolle, zumal der Sachverständige haarsträubende Vernehmungs-Umstände zutage gefördert hatte (u.a. hatte der Beschuldigte 1,7 ‰ BAK – und blieb ohne Verteidiger, weswegen die fünfstündige Vernehmung generös auch nur als „Gespräch“ bezeichnet wurde). Zusätzlich fordert er – überzeugend – Informationen aus einem derart erlisteten „Vertrauensverhältnis“ als Fall des § 136a StPO anzusehen. Renzikowski (Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers im Lichte von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und des 6th Amendments zur US-Verfassung) zeigt auf, dass bei ähnlicher Ausgangslage zwischen der USamerikanischen und deutschen Rechtslage die Judikatur des BGH sich die vertrauten Abwägungsschlupflöcher lässt, währen der Supreme Court, wenn auch nur bereichsweise, konsequenter zu Werke gehe. Mit Fug tritt Renzikowski der auch in der verfassungsgerichtlichen Judikatur (neuerdings) wieder idolisierten „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ als „argumentum totum superveniens“ entgegen und betont das Fairness-Gebot i.S.d. EGMR-Verständnisses und das Erfordernis angemessener Verteidigungs-Möglichkeit bereits im Ermittlungsverfahren. Jahn (Die Grenzen der Editionspflicht des § 95 StPO – Ein Beitrag zur Systematik der strafprozessualen Vorschriften über die Beschlagnahme) lenkt die Aufmerksamkeit auf diese namentlich in Wirtschaftsstrafsachen zunehmend bedeutsam werdende Frage. Denn dort fänden sich nicht selten betriebsinterne Ermittlungsergebnis17 Vgl. dazu auch Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. IV, 4. Aufl. 2011, Vor § 198 Rn. 10, 16. se, die ohne die Schutzgarantien der StPO erhoben worden seien. Um flächendeckenden Editionen vorzubeugen, verlangt Jahn, dass tatsachenbasierte Anhaltspunkte für die Beweiserheblichkeit der Unterlagen vorliegen müssten. Überdies begrenzten Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote diese Pflichtigkeit. Androulakis (Das Wesen des strafrechtlichen Beweises und seine Bestandteile, unter Einschluss seiner revisionsrechtlichen Kontrolle – Die Falsifizierung durch den vernünftigen Zweifel) spricht sich unter Berücksichtigung der US-Judikatur zu dem ungeschriebenen, aber für verfassungskräftig gehaltenen Erfordernis des „proof beyond reasonable doubt“ für eine Überprüfbarkeit der richterlichen Überzeugungsbildung aus. Dabei betont er mit Recht, dass es nicht um die Substitution der tatrichterlichen Überzeugung durch die des Revisionsgerichts gehe: Denn dieses sei nicht „Richter der konkreten Sache“, sondern „des konkreten Urteils“. Er verweist dabei empfehlend auf einen griechischen Revisionsgrund der fehlenden oder mangelhaften Urteilsbegründung. Murmann (Probleme der gesetzlichen Regelung der Absprachen im Strafverfahren) zeichnet ein resignatives Bild von dem per Gesetzgebung und Revisionsjudikatur Erreichbaren zur Korrektur der instanzgerichtlichen Exzesse (von dem Einfluss der Wissenschaft will man schon gar nicht mehr sprechen, da deren nur allzu berechtigten Kritiken von der Praxis als das bekannte Schrubben der Wildsäue an der Rinde von „Deutschlands Eiche“ eingestuft wurde). Entgegen dem, was in der Praxis läuft (und was der Gesetzgeber als Feigenblatt vor die Blößen seiner unsäglichen Regelung gehängt hat), betont Murmann, dass – mit Rücksicht auf das (verfassungskräftige) Schuldprinzip – das „Erfordernis der Sachverhaltsaufklärung nicht zur Disposition“ stehe. Damit ist dem Deal aber an sich schon der gedankliche Todesstoß verpasst. Bei der Analyse des Absprachegegenstandes i.S.d. § 257c StPO bestreitet er den Belang der „schlanken“ Geständnisse als verhandelbare Strafzumessungstatsache, jedenfalls in der gängigen Nachhaltigkeit (ca. 1/3 Strafrabatt). Aber auch die erreichbare Verfahrenskürzung oder Schonung der Opferzeugen pervertiere das Strafverfahren wie die Strafzumessung. Momsen (Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bei Verfahrensabsprachen) zeigt das Trauerspiel des Bedeutungsverlustes des Hauptverhandlungsprotokolls nach („natürlich“, muss man nunmehr leider schon sagen) einer Mehrheitsbilligung des schandbaren Entscheides des Großen Senats durch das BVerfG, durch das Zusammenspiel von Negativattest und Rügeverkümmerung. Er arbeitet die Friktionen zwischen § 273 und § 274 StPO im Absprache-Fall heraus und spricht sich für die Ausweitung des Ton-Sitzungsprotokolls aus, das durch die neuen Techniken problemlos möglich wäre. Radtke (Die Bedeutung der Beschwer im Rechtsmittelsystem der StPO – Überlegungen anhand von Entscheidungen bezüglich stationärer Maßregeln der Besserung und Sicherung) spricht sich dafür aus, die Beschwer durch den Tenor (und nicht allein durch die Entscheidungsgründe) für die Rechtsmittel-Zulässigkeit für maßgeblich zu halten. Für den Fall diskriminierender Inhalte der Begründung erwägt er Rückausnahmen, die aber wohl außerhalb der regulären Revision stünden, ebenso bei unterlassenen Entscheidungen, Maßnahmen usw., wenn denn die nicht berücksichtigte Norm be- _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 92 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ schuldigten-schützend sei. Pérez-Barberá (Die Ausweitung der Revision – Ein neues Verständnis der sogenannten Leistungsmethode) erinnert anlässlich der Ausweitung der Revisionskontrolle in Argentinien durch die Judikatur des Obersten Gericht an die Leistungsmethode von Peters, die er zu verbessern vorschlägt. Pérez-Barberá unterscheidet zwischen Inferenz- (bewertende Aussagen) und Unmittelbarkeitsaussagen in den Urteilsgründen und hält bzgl. der ersteren eine revisionsgerichtliche Kontrolle für möglich. Dies möchte er jedoch auf beschuldigten-begünstigende Rechtsmittel beschränken. Den vorletzten, 6. Abschnitt „Europäisches, außereuropäisches und supranationales Strafrecht“ beginnt Hilgendorf (Von der juristischen Entwicklungshilfe zum Rechtsdialog – Prolegomena zu einer Außenwissenschaftspolitik des Rechts). Hilgendorf plädiert für eine Außenwissenschaftspolitik angesichts der Bedeutung, die die deutsche Strafrechtsdogmatik in Ostasien, Südamerika und der Türkei habe, trotz aller nationalen Besonderheiten. Er befürwortet vielfältige Formen von Kooperation und wendet sich gegen die anglo-amerikanischen Formen des Wissenschafts-Ratings („Impact-Factor“). Ferré Olivé (Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt): In einer Tour d’horizon, angefangen vom falangistischen Spanien über die Prozesse in Nürnberg und Tokio bis zu den Internationalen Strafgerichtshöfen, betrachtet er die Schwierigkeiten, die Bewältigung der Untaten in den überwundenen Gewaltherrschafts-Formen durch die Strafjustiz angemessen zu gestalten. Er rügt die Straffreistellungen in Chile und Brasilien und lobt Roxins Zurechnungsfigur der mittelbaren Täterschaft kraft organisierter Machtapparate, exemplifiziert an der Judikatur in mehreren südamerikanischen Staaten. Harms und Knauss (Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der strafrechtlichen Rechtssetzung der Europäischen Union – Eine Zwischenbilanz) singen das hohe Lied auf die europäische Einigung und deren Folgen auf eine vereinfachte grenzüberschreitende Strafverfolgung, sind aber u.a. der (z.T. hanebüchenen) Unterschiede in den Strafbarkeits-Einschätzungen der einzelnen EU-Länder durchaus gewärtig. Leider wähnen sie das Problem mit dem Placebo des Verhältnismäßigkeits-Vorbehalts gelöst. Da beschleichen mich denn doch schwerwiegende Zweifel, angesichts der bisweilen auf Lug und Trug beruhenden Ausweitung der EUMitgliedschaften und der von den Altmitgliedern und den EU-Institutionen mit auf geifernder Erweiterungseuphorie gegründeter, gewollter Selbstblendung übersehenen Defizite in dem Justiz- und Grundrechtestandard. Überdies bauen jetzt sogar einige Mitgliedstaaten im Wege eines materialen Détournement de pouvoir ihre Rechtsordnung um, und desavouieren diese Sicht noch zusätzlich. Welcher konzeptionelle Nonsens unter dem Deckmantel „Europa“ auf uns zurollt, hat Esser in seinem Beitrag „Auswirkungen der Europäischen Beweisanordnung auf das deutsche Strafverfahren“ auf das Ernüchterndste auseinandergefaltet, indem wir nahezu durchgängig unter das Niveau des bei uns national Erreichten gehen würden (was ja auch keineswegs als Goldstandard zu prädikatisieren ist). Um Hettinger zu zitieren, setzt man in Brüssel noch anderthalben Schelmen auf einen, indem man auf die EBA (noch vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist) gleich noch mutmaßlich zwei (!) Entwürfe für eine Europäischen Ermittlungsanordnung folgen lässt. Satzger (Auf dem Weg zu einer „europäischen Rechtskraft“?) mahnt zur Vorsicht bei der gegenseitigen Anerkennung im Zusammenhang mit Art. 54 SDÜ und kritisiert den vom EuGH befürworteten Automatismus. Gleichzeitig erinnert er an einen von ihm schon früher empfohlenen Ordre-public-Vorbehalt.18 Santana Vega (Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit: Eine europäische Perspektive) erinnert an die von Roxin ausgesprochene Warnung vor der „Flucht in das Strafrecht“ und formuliert dann, in schöner Klarheit: Diese kehre ständig wieder, „nicht nur [als] staatlichen Eingriff in die kollektiven oder supraindividuellen Rechtsgüter […], sondern dies auch unter dem Vorwand der Sicherheit, des punitiven Populismus oder einer verschärften symbolischen Funktion des Strafrechts“ (man meint, man läse die geheime Handlungsanweisung sowohl an den deutschen wie den europäischen Strafgesetzgeber). Leider erwachse mit dem EGMR gegen strafrechtliche Unterdrückung von Meinungsäußerungen ein eher schillernder, unsteter Bundesgenosse. Klar spricht Santana Vega sich gegen Leugnungs- und Verharmlosungs-Tatbestände aus – und damit auch gegen Jakobs’ KlimaschutznormenLehre. Díaz-Aranda bejaht die Frage „Ist die deutsche Strafrechtsdogmatik auf die strafrechtliche Problematik Mexikos anwendbar?“ grundsätzlich und illustriert dies u.a. an zwei Zurechnungs-Problemfällen in der mexikanischen Justiz. Er weist aber auch auf die sich schrecklich verschärfende Kriminalitätslage in seinem Land hin. Sarrabayrouse (Die Gesetzgebungstheorie: Eine Grenze für die Ausweitung des Strafrechts? Ihre Entwicklung und Perspektiven in Argentinien – Zugleich eine vergleichende Darstellung) zeichnet ein sehr optimistisches Bild von einer neuen WissenschaftsDisziplin, der Gesetzgebungstheorie, ihren Aufgaben und Möglichkeiten. Ganz am Schluss deutet er auch Probleme an – mit dem Stichwort „Blumbergstrafrecht“ (Vater eines Entführungsopfers habe die nachfolgende Gesetzgebung stark beeinflusst). In Zeiten, in denen Gesetzentwürfe in große Anwaltskanzleien „outgesourced“ werden, wie dies wohl auf Pidgin-Deutsch heißt, habe ich Zweifel, ob für die Strukturanalyse dieses – nicht selten kümmerlichen, jedenfalls stark interessegeleiteten – Tuns das Wort „Wissenschaft“ schon adäquat ist. Wang (Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie) wirft einen interessanten Blick auf die innerchinesische Strafrechtsentwicklung, namentlich die Zurückdrängung der Todesstrafe, die Weiterentwicklung der Nicht-Freiheitsstrafe und – dem zugrundeliegend – auf das Ringen um die Strafzwecke. Stojanović (Die Verbrechenslehre aus der Sicht des serbischen Strafrechts) stellt die Entwicklung des serbischen Strafrechts seit der Staatsgründung vor und belegt manche Parallele, z.T. mit zeitlicher Verzögerung, zur deutschen Dogmengeschichte. Ida (Neuere Entwicklungen im japanischen Strafrecht im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen) diagnostiziert eine steigende Tendenz zur Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes, was aber – mit Rücksicht auf die gesellschaftlichen Veränderungen – seine Billigung findet, aber auch einen Hang zur Verschärfung, was er missbilligt. Yamanaka (Warum ist die Organentnahme in Japan so 18 Dafür i.Ü. in der Sache auch Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275 (352 ff.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 93 Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag Paeffgen _____________________________________________________________________________________ schwierig? – Bemerkungen zum japanischen Organtransplantationsgesetz) zeichnet die Entwicklung von einer sehr strengen Einwilligungslösung (mit der Folge weniger Transplantationen) zu einer, von Yamanaka für widersprüchlich-mehrdeutig gehaltenen, erweiterten Lösung, in der auch die Familie ein Entscheidungsrecht ausüben könne, wenn der Patientenwille undeutlich sei. Novoselec (Die Rezeption der Tatherrschaftslehre im kroatischen Strafrecht) zeichnet die schwankende Geschichte der Rezeption dieser Doktrin in dem noch jungen Staat nach. Jovančević (Akzessorische Natur der Teilnahme im serbischen Strafrecht) bietet eine ähnlich Betrachtung vom Siegeszug der limitierten Akzessorietät in Serbien. Morillas Cueva (Städtebaudelikte zwischen Realität und Expansion) zeichnet eine unterschiedliche Entwicklung dieser Deliktstypen zwischen Deutschland und Spanien. Er befehdet die unsystematische, aber sich ständig verschärfende Bewältigungstechnik in Spanien und sieht das stark verwaltungsakzessorische deutsche Recht im Vorteil. Carmona Salgado (Die Neuregelung von Mobbing am Arbeitsplatz und auf dem Immobiliensektor im spanischen Strafgesetzbuch) zeichnet ein sehr ausdifferenziertes Bild von der z.T. nicht eben stimmigen Rechtssituation bzgl. des vertikalen, horizontalen und sexuellen Mobbings in Spanien – und wartet neben der Fülle der Tatbestände mit einer besonderen Delikatesse eines „systematisch arbeitenden“ Gesetzgebers auf: Mobbing im Immobilienbereich – zudem noch in zwei Tatbeständen. Militello (Die Reform der Delikte gegen den Staat in Italien) beschreibt die Entwicklung des Staatsschutzes im (faschistisch gegründeten) Codice Rocco und dessen Reform – und hier speziell auch des in diesen Abschnitt integrierten Bekämpfens von kriminellen Vereinigungen. Cavaliere (Ansätze zur Kritik des Drogenstrafrechts – aus einer italienischen Perspektive) wendet sich deutlich gegen das prohibitionistisch geprägte italienische Drogenstrafrecht und bezeichnet es als „inhuman“. Dass es zudem zur Überlastung der Strafrechtspflege und des Strafvollzuges beiträgt, ist ein weiteres, freilich nicht nur italienisches Problem. Sözüer (Die strafrechtliche Bewertung des tödlichen polizeilichen Schusswaffeneinsatzes gegen Flüchtige in der Türkei) berichtet über die Novellierung des türkischen Rechts unter dem Einfluss mehrerer Verurteilungen der Türkei durch den EGMR. Er sieht einen wesentlichen Unterschied zu der früheren Rechtspraxis darin, dass heute Anklagen auch zu Verurteilungen führten. Szwarc („Sportdelikte“ im polnischen Strafrecht) stellt die Anti-Korruptions- und -Doping-Tatbestände vor (wobei in Polen, scheint’s, Doping gar keine so große Rolle zu spielen scheint). Cuerda Riezu proklamiert „Die Verfassungswidrigkeit der lebenslangen und sehr langen Freiheitsstrafe im spanischen Recht“. Die – bemerkenswerte – These, die Cuerda Riezu in seinem Beitrag zu erhärten sucht, steckt schon im Titel: Verfassungswidrigkeit der langen Freiheitsstrafe. (Man beachte, dass das Lebenslänglich selbst unter Franco abgeschafft war und seither nicht wieder eingeführt worden ist, was die Volkspartei jetzt aber zu ändern wünscht). Rivero García (Das kubanische Strafprozessrecht – Notwendigkeit einer Reform) bläst zum Aufbruch für eine Prozessreform des noch stark vom alten spanischen Recht (1889), trotz sowjetischer Einflüsse, geprägten status quo. Ähnliches tut auch Bejatović (Aktuelle Fragen zur laufenden Reform der Straf- prozessgesetzgebung in Serbien), der nach der Reform des materiellen Rechts eine Zeit der Revision des formalen Rechts angebrochen sieht. Córdoba (Das abgekürzte Verfahren in Argentinien) rügt in schlüssiger Manier, dass Argentinien mit seinem neuen „abgekürzten Verfahren“ den Anforderungen der Verfassung und denen internationaler Verträge nicht genüge. Queralt (Vorläufige Festnahme und Identitätsfeststellung im spanischen Recht: verfassungsrechtliche und gesetzliche Bestimmungen) schildert die Neuerungen dieser polizeilichen Befugnis und betont dabei besonders den Verhältnismäßigkeits-Aspekt. Yoshida (Beteiligung des Tatopfers am Strafverfahren in Japan – Ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück?) rügt die neu eingeführten Möglichkeiten des Tatopfers, auf die Strafzumessung Einfluss zu nehmen, wenn und soweit der Angeklagte im Gerichtssaal die Kommunikation mit jenem verweigert. Kaiafa-Gbandi (Private Überwachung im Sicherheitsstaat und faires Strafverfahren am Beispiel der griechischen Rechtsordnung) sieht eine ständig um sich greifende Erweiterung von privaten Sicherheitseinrichtungen und verlangt staatliche Schutzmechanismen gegen die solchermaßen generierten Beweismittel wie auch gegen deren Gewinnung. Als letztes Kapitel folgt das 7. mit dem Thema „Kriminologie“. Dölling (Über das Böse aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht) diskutiert die Phänomene des „Bösen“ als soziales Konstrukt und wendet sich dezidiert gegen Jakobs’ Depersonalisierung des Nicht-prinzipiell-Rechtsbefolgungswilligen als „Feind“. Kölbel (Gewissensmobilisierung durch Strafrecht?) bricht eine Lanze für die Gewissensindifferenz des Strafrechts und weist beiläufig auch auf die Schwierigkeiten hin, im Strafverfahren konzeptionell „Reue“ zu induzieren. Anastasopoulou (Zur aktuellen Leistungsfähigkeit des viktimologischen Ansatzes) diskutiert den Opferschutz bei verschiedenen Tatbeständen und verlangt eine Differenzierung nach der Selbstschutzmacht der jeweiligen Opfertypengruppe III. Zu den Beiträgen ließe sich leicht mehr, Positives wie Kritisches, sagen. Aber der Rezensent hofft, mit den gelegentlichen Touchées das Interesse der Leser geweckt zu haben: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. […], so gebt es gleich in Stücken.“ Unbestreitbar ist, dass die Festschrift in ihrer imponierenden Gesamtheit ein beredtes – und würdiges – Zeugnis für das überragende Ansehen von Claus Roxin in der nationalen wie internationalen Fachwelt ablegt. Es bleibt nur, dem Jubilar auch von dieser Stelle zuzurufen: Möge er noch lange die Zunft mit seinen anregenden, immer lösungsfördernden Beiträgen bereichern! Vor allem aber möge ihm weiterhin die Gesundheit und der Lebenselan beschieden sein, die Dinge noch zu tun, die er selbst sich vorgesetzt hat, in Harmonie begleitet von seiner nicht minder geschätzten Gattin, die, nota bene, in diesem Jahr gleichfalls für ihr rechtswissenschaftliches, aber auch ihr anwaltliches Wirken, mit einer Festschrift und einer Sonderausgabe dieser Zeitschrift19 geehrt wurde. Prof. Dr. Hans-Ullrich Paeffgen, Bonn 19 ZIS 5/2012. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 94 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Hans-Ullrich Paeffgen /Martin Böse/Urs Kindhäuser/ Stephan Stübinger/Torsten Verrel/Rainer Zaczyk (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, Duncker & Humblot, Berlin 2011, 1697 S., € 298,I. Durch die allein schon vom Umfang her fulminante Festschrift wird eine Rechtswissenschaftlerin geehrt, die über fast alle Probleme der Strafrechtsdogmatik und deren Methode geschrieben hat. Ingeborg Puppes Werk zeichnet sich in besonderer Weise durch analytische Klarheit und methodische Präzision aus. Eigenschaften, die zu vermitteln ihr stets ein dringliches Anliegen war, zumal in einer Zeit, in der juristische Halbbildung staatlich organisiert wird: Für die Grundlagenfächer Rechtsphilosophie, Methodenlehre, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie reicht in fast allen Bundesländern die Teilnahme an nur einer Veranstaltung in einem der Fächer für die Zulassung zur ersten juristischen Staatsprüfung. Die systematische Erfassung und Auseinandersetzung mit den Methoden der Rechtsgewinnung, die in der Praxis erforderlich sind, ist also in der Juristenausbildung im Grunde nicht vorgesehen. Wissenschaftliches Arbeiten kann aber erst dann beginnen, wenn die Studierenden lernen, den ihnen vorgelegten Stoff eigenständig zu anlysieren und die verschiedenen Rechtsaufassungen kritisch zu prüfen.1 Es verwundert daher nicht, dass Ingeborg Puppe dieser fatalen Entwicklung entgegentrat, etwa in ihrem bescheiden „Kleine Schule des juristischen Denkens“ genannten Buch, das in Wahrheit eine – unbedingt lesenswerte – Hohe Schule juristischer Methodik enthält. Angesichts der vielen und von der Jubilarin „stets mit Leidenschaft geführten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen“ waren die Herausgeber, so liest man im Vorwort, „ein wenig in Sorge“, ob sich das „etwas dämpfend auf die Bereitschaft auswirken würde, an dieser Festschrift mitzuarbeiten“ (S. VII). Die Festschrift ist der beeindruckende Nachweis, dass solcherlei Befürchtungen unbegründet waren: 97 Autoren und Autorinnen aus dem In- und Ausland erwiesen Ingeborg Puppe die Ehre. Bei diesem Umfang versteht sich von selbst, dass nicht alle Beiträge erwähnt werden können, geschweige denn: näher betrachtet. Auch die „verschwiegenen“ sind allemal lesenswert. Die in dieser Rezension angesprochenen Aufsätze sind also das Ergebnis einer subjektiven Auswahl, ausgerichtet an den Vorlieben des Rezensenten. II. Die drei ersten Abschnitte der Festgabe befassen sich mit „Rechtsphilosophie“ (S. 3 bis 92) sowie „Rechtstheorie und Methodenlehre“ (S. 93 bis 324) und „Rechtsgeschichte“ (S. 325 bis 342). Hruschka würdigt in seinem Aufsatz „Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts“ (S. 17 ff.) die Leistun- 1 So zutreffend Rüthers, JuS 2011, 865: „Wozu auch noch Methodenlehre? – Die Grundlagenlücken im Jurastudium“. gen der Aufklärungsphilosophie für das Strafrecht,2 namentlich zur Funktion des Strafrechts in einem Rechtsstaat. Hegels Philosophie gilt als schwierig. Die Entwicklung der Gedanken vollzieht sich nicht selten in überraschenden Bewegungen, in denen blitzend scharfe Thesen von Wendungen abgelöst werden, die einem den Boden, auf dem man soeben noch sicher zu stehen glaubte, unter den Füßen weg zu ziehen scheinen.3 Wolfgang Schild zeigt, dass die verbreitete Auffassung,4 Hegels Theorie von der Strafe sei eine „absolute“, also eine Vergeltung des verbrecherischen Unrechts, die jede Berücksichtigung eines Strafzwecks – wie Besserung des Delinquenten, generalpräventive Abschreckung, Bestärkung des Rechtsvertrauens bei der rechtstreuen Bevölkerung – ablehne, nicht richtig ist. Es gehe vielmehr in den insoweit allzu oft missverstandenen Passagen der maßgeblichen Werke Hegels nicht um eine Theorie der Strafe, sondern um eine Theorie der Strafrechtsinstitution (S. 78 ff.). Wie wichtig diese Klarstellung ist, mag daran deutlich werden, dass Hegels (nicht existierende) Theorie von der absoluten Strafe als Grundlage wirrer Forderungen herhalten muss wie dem „Anspruch des Opfers auf Wiederverletzung“.5 Volker Haas macht „Methodische, rechtstheoretische und materiell-rechtliche Anmerkungen zum normativen bzw. unbestimmten Rechtsbegriff“ (S. 93 ff.). Hans Joachim Hirsch beklagt mit gebotener Deutlichkeit den Niedergang der deutschen Strafgesetzgebung: „Der Umgang des Gesetzgebers mit dem StGB und die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Berichtigung unterlaufener gesetzestechnischer Fehler“ (S. 105 ff.). Der Beitrag sei allen Parlamentariern zur Lektüre empfohlen: Ihnen wird die Schamesröte ins Gesicht steigen. Ergänzen lässt sich die Reihe der von Hirsch genannten Negativbeispiele um die Regelung des § 81h Abs. 3 S. 1 und S. 2 StPO: Durch den Verweis in Satz 1 (auch) auf § 81g Abs. 2 S. 1 StPO enthält § 81h StPO zwei voneinander abweichende Vernichtungsregeln. Der Bundesgerichtshof wird sich in Kürze voraussichtlich mit den daraus ergebenden Problemen zu befassen haben.6 Bernd Schünemann untersucht „Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz“ (S. 243 ff.) am Beispiel der verfassungsfeindlichen Sabotage (§ 88 StGB), während sich Hans Kudlich der Bedeutung der „Regeln der Grammatik“ für die Auslegung zuwendet (S. 123 ff.). 2 Vgl. dazu auch aus neuerer Zeit Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009; Rez. Pawlik, ZIS 2011, 262. 3 Vgl. nur Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2010, S. 113 ff. 4 Etwa Roxin, JuS 1966, 377; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1969, S. 294 f. Zweifel an diesem Hegel-Bild aber bei H. Mayer, in: Bockelmann (Hrsg.), Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, 1969, S. 74. 5 Dornseiff, Recht und Rache – Der Rechtsanspruch auf Wiederverletzung, 2003. 6 Im anhängigen Revisionsverfahren 3 StR 117/12. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 95 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ Heribert Ostendorf erinnert an den „Düsseldorfer Majdanek-Prozess“ (S. 325), in dem das Verhalten einiger (nicht: aller!) Verteidiger beschämend und zum Teil weit über das erlaubte Maß hinausging. Rechtsanwalt Bock z. B. reiste offenbar nach Anklageerhebung nach Israel, um dort unter Verheimlichung seines Verteidigerstatus´ Zeugen zu beeinflussen;7 Bock war es auch, der – schier unglaublich den Antrag stellte, eine Zeugin wegen Beihilfe zum Mord festnehmen zu lassen, die als Häftling Zyklon B zur Gaskammer schleppen musste. Ostendorfs Beitrag ist nicht nur historisch interessierten Lesern zu empfehlen, sondern auch all solchen Anwälten, die den gebotenen und mitunter auch hart und entschlossen zu führenden Kampf um die Sache mit Klamauk8 verwechseln und so nicht nur unmittelbar das Ansehen der Anwaltschaft schädigen, sondern mittelbar auch das wertvolle Institut der Strafverteidigung als solches. III. „Strafrecht Allgemeiner Teil“ ist der vierte und längste Abschnitt der Festschrift überschrieben, wobei Manfred Maiwalds Aufsatz zur „Krise der Tatbestandslehre“ (S. 695 ff.) nach Auffassung des Rezensenten besser im zweiten Kapitel „Rechtstheorie und Methodenlehre“ untergebracht gewesen wäre – wie umgekehrt der schöne Beitrag Klaus Lüderssens über „Spontaneität und Freiheit – Zu neuen Aspekten moderner Hirnforschung für Strafrecht und Kriminologie“ (S. 65 ff.) besser hier im „Strafrecht AT“. Wie auch immer: 1. Die Diskussion um die einverständliche Fremdgefährdung einschließlich ihres Verhältnisses zur einverständlichen Fremdschädigung bzw. eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder -schädigung wird in jüngerer Zeit besonders lebhaft geführt, nachdem sich der vierte Strafsenat des BGH in einer viel beachteten Entscheidung mit einer einschlägigen 7 Der Nebenklägervertreter Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul erstattete daraufhin Strafanzeige, worauf RA Bock um Entpflichtung bat. Das Gericht entsprach dem. Im Memoirenband „In Robe und Krawatte – Vor Gericht der BRD“ ist der Majdanek-Prozess nicht näher beschrieben, wohl aber der Auschwitz-Prozess vor dem LG Frankfurt/Main (S. 151 ff.) und das Verfahren „Dora-Mittelbau“ vor dem LG Essen (S. 257 ff.). 8 Der Begriff „Klamauk“-Verteidigung wird hier in bewusster Abgrenzung zum (zu Unrecht) negativ besetzten Begriff der „Konflikt“-Verteidigung benutzt. Denn: Was ist am Konflikt, der – wie gesagt – nichts mit unsinnigem Klamauk gemein hat, so furchtbar schlimm? Was ist denn das Strafverfahren anderes als ein regelgeleiteter, ritualisierter Konflikt? Dennoch ist es eine bare Selbstverständlichkeit, dass höfliche Umgangsformen und ein verbindlicher Ton gewahrt werden. Die wahre Kunst der Verteidigung wird sich sehr häufig gerade darin zeigen, dass der Kampf um die besseren Argumente dem Machtkampf oder sogar dem „totalen Krieg im Gerichtssaal“ überlegen ist. Es gehört zur Aufgabe der Verteidigung, vermeidbare Konflikte auch tatsächlich zu vermeiden. Mit unsachgemäßem „Kuschelkurs“ hat das nichts zu tun. Beispiele für Klamauk etwa bei Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten – Anträge und Erklärungen im „Baader-Meinhof-Prozess“, 1992, S. 150 ff. Konstellation zu befassen hatte.9 Knapp zusammengefasst, betraf die Entscheidung ein von vier jungen Männern mit zwei Fahrzeugen auf einer zweispurigen Autobahn durchgeführtes Rennen mit einer Geschwindigkeit von 240 km/h und mehr. Die beiden Fahrer versuchten, ein unbeteiligtes drittes Auto gleichzeitig zu überholen, einer rechts, einer links. Aufgrund einer zu hektischen Lenkbewegung eines der „Rennfahrer“ geriet dessen Fahrzeug ins Schleudern, und es kam zum Unfall: der Beifahrer starb. In Frage stand die Verurteilung der beiden Fahrer wegen fahrlässiger Tötung. Der BGH bejahte sie: „Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen strafloser Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -schädigung und der – grundsätzlich tatbestandsmäßigen – Fremdschädigung eines anderen“ sei „die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme“. Beim Überholvorgang aber habe die Tatherrschaft bei den beiden Fahrern gelegen. Es befassen sich gleich mehrere Autoren mit diesen Fragen, zumal sich auch die Jubilarin zur Entscheidung des BGH geäußert hatte.10 Uwe Murmann schreibt zur „Zur Einwilligungslösung bei der einverständlichen Fremdgfährdung“ (S. 767 ff.). Ihm bereitet die argumentative Gemengelage aus Akzessorietäts- und Zurechnungserwägungen in der erwähnten Entscheidung BGHSt 53, 55 beträchtliches Unbehagen, und er versucht, eine schärfere Erfassung der Fremdgefährdungsfälle anhand von Maßstäben zu entwickeln, die allgemein für die Fahrlässigkeitstatbestände gelten. Günter Stratenwerth (S. 1017 ff.: „Einverständliche Fremdgefährdung bei fahrlässigem Verhalten“) macht sich dafür stark, die einverständliche Fremdgefährdung bei fahrlässigem Verhalten aus dem Katalog besonderer Fallgruppen zu streichen: Die Rechtsordnung, so argumentiert er in Anlehnung an die Jubilarin, gebe dem Einzelnen zwar nicht die Freiheit, sich vorsätzlich von einem anderen töten zu lassen (§ 216 StGB), aber sie gebe ihm die Freiheit, sich in Gefahr zu begeben, auch in eine Lebensgefahr (S. 1023). Rolf D. Herzberg untersucht, ob die frei verantwortliche Selbstgefährdung des Opfers zu einer Entlastung des Täters führen kann (S. 497 ff.). Herzberg differenziert anhand des von ihm im Beitrag klug entwickelten Kriteriums der Unausweichlichkeit: Es komme darauf an, ob sich der Suizident der Wirkung des kausalen Beitrages, nachdem der Beteiligte ihn geleistet hat, noch aus eigener Kraft habe entziehen können, z.B. durch NichtSchlucken des ihm verschafften Giftes. Dann sei die Zurechnung unterbrochen. Anders sei es aber etwa beim Erschießen, dem Hinab-Stoßen in den Abgrund oder dem Injizieren des unabwendbar tödlichen Giftes (S. 513). Henning Radtke untersucht „Objektive Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht bei Mitwirkung des Verletzten und Dritter an der Herbeiführung des Erfolges“ (S. 831 ff.). Er gelangt in Bezug auf 9 BGHSt 53, 55 m. Anm. Duttge, NStZ 2009, 690; Kühl, NJW 2009, 1158; Renzikowski, HRRS 2009, 352; Roxin, JZ 2009, 399. Auch im Fall des bei dem G8-Gipfel in Heiligendamm zu Tode gekommenen Polizisten Benjamin B. wurde die Problematik virulent; OLG Rostock, Beschl. v. 27.6.2011 – 1 Ss 32/11 I 43/11. 10 Puppe, GA 2009, 486. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 96 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ BGHSt 53, 55 zu dem Ergebnis, dass nach dem von ihm allein für maßgeblich gehaltenen Kriterium der Eigenverantwortlichkeit eine eigenverantwortliche Entscheidung des Beifahrers, sich dem Risikopotenzial der zum Tode führenden Situation auszusetzen (Überholvorgang bei einer Geschwindigkeit, die die zulässige um beinahe das doppelte überschritt, und extrem geringer Seitenabstand der am Vorgang beteiligten Fahrzeuge), jedenfalls „auf der Grundlage der in der Tatsacheninstanz getroffenen Feststellungen“ nicht angenommen werden könne (S. 846). Auch Horst Schlehofer hebt hervor, dass die eigenverantwortliche Entscheidung des Opfers das Unrecht einer Lebensgefährdung durch einen anderen durchaus beseitigen könne. Erst wenn sie sich nicht nur auf die bloße Lebensgefährdung, sondern auf die vorsätzliche Tötung durch einen anderen beziehe, dann, so Horst Schlehofer zutreffend, werde ihr durch § 216 StGB die unrechtsausschließende Wirkung versagt (S. 955). Schwerpunkt seines Aufsatzes „Pflichtwidrigkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang als Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen?“ (S. 953 ff.) ist aber das Problem des Unrechtsausschlusses bei hypothetischer Einwilligung. Schlehofer gelangt zu dem Ergebnis, dass die „objektive Zurechnung“, sprich: Pflichtwidrigkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang, auf die Rechtswidrigkeitsebene zu übertragen seien: Nur so lasse sich auf der Rechtswidrigkeitsebene eine der Entstehungsgeschichte und der Systematik des Gesetzes widersprechende Erfolgshaftung vermeiden (S. 965), weshalb auch die hypothetische Einwilligung den Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht ausschließe (S. 970). 2. Das Thema „Rechtswidrigkeit“ wird auch von anderen Autoren aufgegriffen. Wolfgang Frisch befasst sich mit der Regelung des § 34 StGB, von der man rund 40 Jahre nach ihrer Einführung in das Gesetz meinen könnte, dass zumindest die mit ihr zusammenhängenden grundsätzlichen Probleme hinreichend geklärt seien. Indessen: Es erscheint z. B. nach wie vor unsicher, ob § 34 StGB nur Fälle des Agressivnotstandes erfasst, bei der die Gefahrenabwehr durch die Inanspruchnahme eines unbeteiligten Rechtsgutes erfolgt, oder auch solche des Defensivnotstandes, bei dem sich die Notstandshandlung gegen die Person richtet, von der die Gefahr ausgeht. Diese Unklarheiten sind, wie Frisch in seinem grundlegenden Beitrag „Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien“ (S. 425 ff.) herausarbeitet, Folge von Defiziten in der theoretischen Fundierung des Notstandsrechts. Die Lösung bestehe im Versuch, über das für den Bereich der Grundrechtskollisionen entwickelte Prinzip der praktischen Konkordanz11 die konkurrierenden Interessen durch Abstriche auf beiden Seiten zu versöhnen und in ihrem Kernbereich zu erhalten (S. 448). Dabei verkennt Frisch keineswegs, dass es Kollisionsfälle gibt, die sich durch praktische Konkordanz nicht lösen lassen. Man denke an das von Terroristen entführte Passagierflugzeug, das zum Absturz auf ein Atomkraftwerk gebracht wird: Die Annahme eines Defensivnotstandes im Verhältnis zu den Flugzeuginsassen überzeugt nicht. Denn die Gefahr geht ersichtlich vom Flug- zeug aus, nicht jedoch von den Insassen; und die vom Flugzeug ausgehende Gefahr kann den Insassen schwerlich überzeugend zugerechnet werden.12 Die Entscheidung des Problems hängt, wie Frisch richtig ausführt, entscheidend davon ab, ob sich in Notstandslagen, in denen der Verzicht auf die Rettungshandlung (Abschuss des Passagierflugzeuges) dem betroffenen, ohnehin verlorenen Gut nicht helfen und nur zu zusätzlichen schweren Folgen an anderen Gütern führen würde, eine Ausnahme vom sonst notwendigen Erfordernis des Überwiegens des geretteten Gutes begründen lässt – etwa mit der Erwägung, dass das Verbot der Rettungshandlung hier keine sinnvolle Funktion mehr erfüllen könne (S. 450). Detlef Krauß, am 30. Juni 2010 viel zu früh und unerwartet vor der Publikation der Festschrift verstorben13, untersucht kritisch den Grundsatz, dessen Bedeutung als Orientierungshilfe auf dem Pfad der Notwehr bislang unangefochten ist, nämlich: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ (S. 635 ff.). Seine Reflexion endet mit der auf den ersten Blick überraschenden, aber in Anbetracht der zuvor ausgebreiteten Überlegungen dann doch keinesfalls von der Hand zu weisenden Forderung: „Was die deutsche Notwehrdogmatik völlig unnötig belastet, ist die ideologische Überhöhung mit allgemeinen Grundsätzen und wertorientierten Bekenntnissen im gedanklichen Umfeld der Rechtsbewährung. Dieser aufgeladenen Rhetorik ist entgegen zu wirken. Wenn der Satz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ aus allen Lehrbüchern gestrichen würde, wäre das ein guter Anfang“; sehr spannend! 3. Eine ganze Reihe von Beiträgen ist dem Komplex „Täterschaft und Teilnahme“ gewidmet. Diethelm Klesczewski nimmt den Leser mit auf eine tour d’horizon durch die „Grundformen beteiligungsdogmatischer Systembildung in Europa“ (S. 613 ff.). Günther Jakobs untersucht die Konsequenzen, die sich aus dem Verständnis der „Mittäterschaft als Beteiligung“ ergeben (S. 547 ff.), während Rudolf Rengier „Die Zurechnung von einzelnen objektiven Tatbeiträgen gem. § 25 Abs. 2 StGB“ zu seinem Thema macht (S. 849 ff.). Pablo Manalich erläutert „Die Struktur der mittelbaren Täterschaft“ (S. 709 ff.), Kay Schumann den „Täter und sein Opferwerkzeug“ (S. 971 ff.) und Jan C. Joerden stellt Überlegungen zur „Anstiftung als Aufforderung zu freiverantwortlichem deliktischem Verhalten“ an (S. 563 ff.). Die Aufsätze von Andreas Hoyer „Brauchen wir eine fahrlässige Mittäterschaft?“ (S. 515 ff.) und Thomas Rotsch „Gemeinsames Versagen: Zu Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft“ (S. 887 ff.) runden die Themen zu „Täterschaft und Teilnahme“ ab. 4. Aktuelle Bezüge weisen auch auf die Aufsätze von Heiko Lesch „Zur Amtsträgereigenschaft der Aufsichtsräte von kommunalen Gasversorgungsbetrieben“ (S. 685 ff.), Frank Saliger „Public Private Partnership und Amtsträgerstrafbarkeit“ (S. 933 ff.) und Klaus Bernsmann „Irrtum und Amtsträgerbegriff“ (S. 361 ff.) sowie Carsten Momsen „Der 12 So zutreffend Merkel, JZ 2007, 373 (384 f.). Zu seinen Ehren erschien soeben: Heine/Pieth/Seelmann (Hrsg.), Wer bekommt Schuld? Wer gibt Schuld? – Gesammelte Schriften von Detlef Krauß, 2011. 13 11 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck 1999, Rn. 317 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 97 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ Compliance-Officer als Unterlassungsgarant – Ein neues Zurechnungsmodell oder ein weiterer Schritt auf dem Weg der Evaporation von Zurechnungsparametern?“ (S. 751 ff.). Lesch stellt klar, dass die Amtsträger-Eigenschaft eines solchen Aufsichtsrates jedenfalls deshalb scheitere, weil er keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme (S 693). Saligers Untersuchung zur PPP, ein für die Strafrechtswissenschaft noch relativ junges Thema, das er anhand des Kölner Müll-Falles14 aufbereitet, endet mit der Feststellung, dass die Rechtsprechung des BGH zur Amtsträger-Eigenschaft bei Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Zusammenhang mit einer „sonstigen Stelle“ im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c) StGB grundsätzlich billigenswert sei, aber der eingrenzenden Weiterentwicklung bedürfe. Dies gelte insbesondere für den Bestellungsakt und die Konkretisierung der Behördenäquivalenz nach der Gesamtbewertungslehre am Bild des „verlängerten Armes“ des Staates. Mitarbeiter, so Saliger, in gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen unterfielen bei aktiver Beteiligung des Privaten grundsätzlich nicht § 11 Abs. 1 Nr. 2 c) StGB. Sie kämen jedoch unter weiteren Voraussetzungen (Gesamtbewertungslehre) als Amtsträger in Betracht, wenn der Private nur passiv beteiligt sei. 5. Aus Praktikersicht seien aus den übrigen Aufsätzen besonders hervorgehoben die Beiträge von Cornelius Prittwitz „Risikovorsatz und Vorsatzgefahr – zum Verständnis und zur strafrechtlichen Relevanz des Verdrängens“ (S. 819 ff.) und Bernd-Rüdeger Sonnen zur „Systematisierung der Strafzumessung“ (S. 1007 ff.). Der schöne Beitrag von Hans-Ullrich Paeffgen zum beinahe ewig anmutenden Konflikt „Rücktrittshorizont vs. fehlgeschlagener Versuch“ (S. 791 ff.) ist darüber hinaus auch allen in der Ausbildung befindlichen Juristen zu empfehlen, lässt sich der Beitrag doch auch als einprägsames Kompendium der nicht immer einhelligen Rechtsprechung lesen. Gleiches gilt sicher auch für die Aufsätze von Lothar Kuhlen („Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen“; S. 669 ff.) und Franz Streng („Der Eintritt der Regelwirkung in Versuchskonstellationen – ein Beitrag zum Umgang mit den ‚besonders schweren Fällen‘“; S. 1025 ff.). Zwar gibt es mehrdeutige Verhaltensweisen, bei denen die Abgrenzung von Tun und Unterlassen erhebliche Probleme bereiten kann. Auch wer nicht daran glaubt, dass sich diese einer Lösung zuführen lassen, die in allen Streitfragen eine sichere und praktikable Entscheidung gewährleistet, wird nach Lektüre des Aufsatzes von Kuhlen doch einräumen müssen, dass sie sich zu einem erheblichen Teil mit einfachen dogmatischen Regeln lösen lassen. Streng neigt trotz spürbaren Unbehagens an der Regelbeispielstechnik (S. 1037: Es werde „ein bedenkliches Maß an Unbestimmtheit in die Strafdrohungen hinein getragen“)15 zu einer Analogie mit den 14 BGHSt 50, 299 m. Anm. Noltensmeier, StV 2006, 132; Radtke, NStZ 2007, 57; ferner: Zwiehoff, in: Putzke u.a. (Hrsg.) Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag am 14. Februar 2008, 2008, S. 155. 15 Diesbezügliche Bedenken auch schon bei Neuhaus, DRiZ 1989, 95: „Die Auswahl der Strafrahmen bei unbenannten Strafänderungsgründen“. Regeln über die Versuchsstrafbarkeit, wobei positiv zu vermerken sei die Offenheit der Regelbeispiele für einen Ausstieg aus der Strafrahmen-Erhöhung in Fällen atypisch geringen Handlungs- und/oder Erfolgsunrechts bei nicht (vollständiger) Erfüllung der im Tatentschluss enthaltenen Regelmerkmale. IV. 26 Beiträge sind in den Kapiteln „Strafrecht Besonderer Teil“, „Nebenstrafrecht, insbesondere Medizinstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht“ sowie „Internationales und Europäisches Strafrecht sowie Völkerstrafrecht und Europarecht“ versammelt. Nicht wenige dieser Beiträge sind eng mit Fragen aus dem „Strafrecht Allgemeiner Teil“ verknüpft. So etwa der Aufsatz von Detlev Sternberg-Lieben, der sich mit der „Strafbarkeit nach §§ 222, 229 StGB durch Rauschgiftüberlassung an den freiverantwortlichen Konsumenten“ (S. 1283 ff.) befasst. Sein Fazit lautet, dass angesichts des Schutzzwecks der §§ 29, 30 BtMG – und nur innerhalb ihrer tatbestandlichen Reichweite – im Fahrlässigkeitsbereich ausnahmsweise die Mitwirkung an einer entsprechenden Selbstverletzung strafbar bleibt. Martin Böse stellt die „Vorsatzanforderungen bei Blankettgesetzen am Beispiel des Kartellrechts“ dar (S. 1353 ff.), und auch Harro Otto schneidet in seinem Beitrag ein Problem des Allgemeinen Teils an, nämlich das des dolus eventualis. Im Zentrum seines Aufsatzes steht aber die in jüngster Zeit heftig diskutierte Frage nach dem „Schaden bei der Untreue“ (S. 1247 ff.), namentlich in Form einer schadensgleichen Vermögensgefährdung. Otto zeichnet schön die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nach16 und gelangt nach eingehender Analyse zu dem überzeugenden Ergebnis, dass man zunächst auf die „dubiose Konstruktion“ der schadensgleichen Vermögensgefährdung verzichten solle, weil selbst eine konkrete Vermögensgefährdung begriffsnotwendig niemals ein Vermögensschaden oder Vermögensnachteil sein könne, denn die Gefahr eines Schadens – ob abstrakt, konkret oder abstrakt-konkret – sei nun einmal nicht identisch mit dem eingetretenen Schaden. Sachlich komme es auf die Bewertung von z.B. der Forderung einerseits und der Sicherheit anderseits an. Solche Bewertung sei keineswegs unmöglich, gehöre sie doch zum alltäglichen Geschäft von Bankkaufleuten und Finanzbuchhaltern. Notfalls sei die Vernehmung eines in diesem Bereich ausgewiesenen Sachverständigen erforderlich (S. 1266). Auch Rainer Keller widmet seine Aufmerksamkeit § 266 StGB, d.h. der „Strafbare[n] Untreue und Gemeinwohlbindung von Gesellschaftsvermögen“ (S. 1189 ff.). Gabriele Zwiehoff untersucht ebenfalls ein aktuelles Problem des Untreuetatbestandes, nämlich die in der sog. VWAffäre17 bedeutsam gewordene Frage nach dem Verhältnis von „Untreue und Betriebsverfassung“ (S. 1337 ff.). Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass das „Schmieren“ eines Betriebsratsmitglieds eine Straftat nach § 119 Abs.1 Nr. 3 BetrVG sei. Darüber hinaus aber auch einen Schaden im Sinne des § 266 StGB zu bejahen, hieße aber, den im Rahmen der Gesamtsaldierung zu Grunde zu legenden wirtschaftlichen 16 BGH NJW 1979, 512; BGHSt 46, 30; 47, 148; 51, 100; 53, 99. 17 BGH NJW 2010, 92. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 98 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ Wert eines reibungslos funktionierenden Betriebsrates zu ignorieren (S. 1350). Mit Blick darauf, dass die Jubilarin ihre wissenschaftliche Karriere mit einer Promotion zum Thema „Die Fälschung technischer Aufzeichnungen“ begann, kann nicht überraschen, dass den Urkundsdelikten eine ganze Reihe von Beiträgen gewidmet ist. Jörg Eisele nimmt zwei aktuelle (und gegenläufige) Entscheidungen zum Anlass, der Frage nachzuspüren, ob die „Fälschung beweiserheblicher Daten bei Anmeldung eines Ebay-Accounts unter falschem Namen“ (S. 1091 ff.) den Tatbestand des § 269 StGB verwirklicht oder nicht;18 angesichts einer geschätzten Zahl von ca. 15 Millionen Ebay-Nutzern in Deutschland ein Problem von erheblicher praktischer Bedeutung. Eisele bejaht die Tatbestandsmäßigkeit. Volker Erb legtt überzeugend die „Unvereinbarkeit der Zufallsurkunde mit einem dogmatisch konsistenten Urkundenbegriff“ dar (S. 1107 ff.). Andreas Ransiek stellt in seinem Aufsatz „Aussteller einer Urkunde und Täter der Falschangabedelikte“ gegenüber (S. 1269 ff.) und entwickelt, wie und welche Konsequenzen sich aus der Dogmatik der Urkundsdelikte für die Auslegung der Falschangabedelikte ergeben: Auch bei ihnen mache nur derjenige unrichtige Angaben, dem eine Erklärung als Urheber zuzurechnen sei. Bei manchen Tatbeständen folge das schon zwanglos daraus, dass sie als Sonderdelikte ausgestaltet seien. Gleiches gelte aber auch, wie Ransiek überzeugend ausführt, für Allgemeindelikte wie § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Alle anderen Personen kommen, so Ransiek richtig, als Täter oder Mittäter nicht in Frage. Thomas Fischer bespricht in „Störung des Öffentlichen Friedens (§ 130 Abs. 4 StGB): Strafwürdigkeit als Tatbestandsmerkmal“ (S. 1119 ff.) die sog. Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,19 die sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Revisionsurteil des BVerwG befasste, durch das das Verbot einer öffentlichen Versammlung „in Gedenken an Rudolf Heß“ im August 2005 in Wunsiedel letztinstanzlich bestätigt wurde.20 Walter Kargl greift dass durch die Daschner-Entscheidung21 virulent gewordene Thema „Aussageerpressung und Rettungsfolter“ auf (S. 1163 ff.). Ein besonders wichtiger Beitrag, denn die ausnahmslose Ächtung der Folter ist inzwischen auch in Deutschland ins Wanken geraten: Christian Starck z. B schreibt in seinem GrundgesetzKommentar, unter engen Voraussetzungen – wenn nämlich Würde gegen Würde stehe und keine andere Rettung möglich sei – dürfe die Folter zunächst angedroht und gegebenenfalls unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch vollzogen werden. Der Heidelberger Staatsrechtlehrer Winfried Brugger geht noch einen Schritt weiter. In der Juristenzeitung 18 Verneinend: OLG Hamm StV 2009, 475 f.; bejahend: KG Berlin KR 2009, 807. 19 BVerfG NJW 2010, 47 m. Anm. Degenhart, JZ 2010, 306; Hörnle, JZ 2010; 310; Michael, ZJS 2010, 155; Volkmann, NJW 2010, 417. 20 BVerwGE 131, 216 m. Anm. Enders, JZ 2008, 1092. 21 Vgl. zum Sachverhalt und den damit verbundenen Rechtsfragen etwa Neuhaus, GA 2004, 523. kommt er zu dem Ergebnis, unter bestimmten Umständen dürfe die Polizei nicht nur foltern, sondern „sie muss es auch“.22 Isensee behauptet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, es gebe ein ungeschriebenes, gleichwohl verfassungsimmanentes Notrecht zum Schutz des Bürgers, und dies fordere unter Umständen den staatlichen Eingriff.23 Und auch im „Maunz-Dürig“ unternimmt es der Bonner Strafrechtslehrer Matthias Herdegen, die Fundamentalnorm des Art. 1 GG, die das Folterverbot in seiner Absolutheit und Ausnahmslosigkeit stützt, auf ein normales Grundrecht herunter zu schrauben, welches man einschränken könne wie die anderen Grundrechte auch.24 Die Liste ließe sich unter Nennung von namhaften Strafrechtswissenschaftlern fortsetzen. Kargl legt den Finger in die Wunde und untersucht das Folterverbot im Lichte des Rechtsgüterschutz-Konzepts. Ralf Krack stellt die Frage „Sind Bestellungen zu Belästigungszwecken eine Betrugskonstellation?“ (S. 1205 ff.) und verneint sie. Klaus Letzgus macht die gesetzgeberischen Bemühungen für eine „Strafrechtliche Bekämpfung der Zwangsheirat“ zum Gegenstand seines Beitrages (S. 1231 ff.), Frank Zieschang arbeitet heraus, dass „Das Mordmerkmal ‚mit gemeingefährlichen Mitteln‘“ mit einer ganzen Reihe von Ungereimtheiten verbunden ist, wenn man die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zur Ausfüllung dieses Tatbestandsmerkmales zu Grunde legt. Zieschang erläutert, was maßgeblich ist: Ob nämlich aus der Sicht ex ante in der konkreten Situation durch das Verhalten des Täters auf Grund des eingesetzten Tatmittels neben dem ausgewählten Opfer kumulativ andere Menschen ihr Leben verlieren können. Da es um ein gefährliches Verhalten für die Allgemeinheit gehe, also für viele Menschen, sei die Mindestzahl der potentiell Beeinträchtigten, so wird man Zieschang ohne Weiteres beipflichten können, bei zehn Menschen anzusiedeln. Zustimmen wird man Zieschang auch darin, dass von dem Mordmerkmal die Mehrfachtötung nicht erfasst ist. Auch Jan Zopfs greift eine Inkonsequenz bei Anwendung der herrschenden Meinung auf, nämlich im Zusammenhang mit „Täterschaft und Teilnahme bei der Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB)“ (S. 1323 ff.). Er wendet sich dagegen, dass parteiergreifende psychische Beihilfe vor Ort für ein täterschaftliches Beteiligen ausreiche. Denn dann würde derjenige als Täter bestraft, der einen bereits Mitraufenden nur bestärkt, während derjenige, der einen bisher unbeteiligten Zuschauer zum Mitschlagen anstiftet, nur als Teilnehmer belangt werden würde. Nach der von Zopfs im Beitrag entwickelten Ansicht kann solches Verhalten hingegen – seinem Unrechtsgehalt entsprechend – als Beihilfe und Anstiftung eingestuft werden. Außerdem lasse, so Zopfs, sein Modell die nach h.M. notwendige Unterscheidung zwischen schlägereikonstitutiver und sekundärer Beteiligung entfallen. V. Der Beitrag von Karl Heinz Gössel „Verkauf und Erwerb unrechtmäßig erworbener Daten sowie deren Verwertbarkeit im Strafverfahren“ (S. 1377 ff.) leitet über zu den 22 Brugger, JZ 2000, 165. FAZ v. 21.1.2008, S. 10. 24 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz [Stand 51. Ergänzungslieferung 2007] Art. 1, Fn. 43 f. 23 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 99 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ abschließenden Kapiteln „Allgemeines Prozessrecht“ und „Verfassungsrecht“. Gössel entwickelt, dass mangels einer die Erhebung oder Verarbeitung der auf CD übertragenen Daten der deutschen Kunden der Credit Suisse erlaubenden Rechtsnorm nicht nur die Verwertung dieses Beweismittels im Strafverfahren unzulässig wird, sondern auch die Erhebung oder Verarbeitung dieser Daten „unbefugt“ im Sinne der §§ 44 Abs. 1, 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG sei (S. 1399). „Zum Zeugenbeistand zwischen Strafvereitelung und Parteiverrat“ lautet der Titel des von Hans Dahs verfassten Aufsatzes (S. 1545 ff.), in dem er an Hand einiger Fallkonstellationen ausführt, dass der Rechtsanwalt im Strafverfahren einen „gefahrgeneigten Beruf“ ausübt, bei dem an seinen Scharfsinn, seine rechtliche Sensibilität und seine Entscheidungskraft (hier: bei der gebotenen Mandatsbeendigung) hohe Anforderungen gestellt werden. Uwe Hellmann nimmt sich des Themas „Straf- und zivilprozessrechtliche Konsequenzen der elektronischen Aktenführung“ an (S. 1579 ff.). Henning Rosenau setzt sich mit der seit dem 4. August 2009 auch in Deutschland gesetzlich verankerten Regelung der verfahrensbeendenden Absprache (§ 257 c StPO) auseinander, einer Reform, die wohl wie keine andere die Gemüter in der deutschen Strafprozessrechtswissenschaft bewegt hat. Die Literatur hat sich überwiegend ablehnend geäußert, auch hohe Justizpraktiker schmähen die Entwicklung heftig als Schande für die Justiz25 und sehen den deutschen Strafprozess „vor die Wand gefahren“. Man stehe am Grab des deutschen Strafprozesses und singe dessen Todesmesse.26 Möglicherweise, so Rosenau, wäre die Diskussion weniger schrill und deutlich versöhnlicher ausgefallen, hätte man einem bestimmten methodischen Aspekt mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, nämlich dem der rechtsvergleichenden Analyse. Im Beitrag „Plea bargaining in deutschen Strafgerichtssälen: Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe am Beispiel der Absprachen im Strafverfahren“ (S.1597 ff.) zeigt Rosenau, dass die gerade im Strafrecht immer noch allzu oft vernachlässigte Rechtsvergleichung eine Hilfswissenschaft ist, die als wichtige Erkenntnisquelle zur Klärung von Rechtsfragen beitragen kann und daher als Methode und Ergänzung des überlieferten Methodenkanons herangezogen werden sollte. Dabei erläutert er auch, wie man lege artis vorzugehen hat, wenn man sich mit ausländischen Rechtsordnungen beschäftigt (S. 1603 ff.). Torsten Verrel hat sich mit seinen Ausführungen zur „Selbstbelastungsfreiheit und Täuschungsverbot bei verdeckten Ermittlungen“ (S. 1629 ff.) ein nicht nur brandaktuelles, sondern auch praktisch höchst bedeutsames Thema vorgenommen: Es entspricht der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des EGMR, dass das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ein Kernstück des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fairen Verfahrens darstellt. Dieses Recht soll den Betroffenen vor unzulässigem Zwang durch die Behörden schützen. Der EGMR hat zwischenzeitlich aber auch ent- schieden, dass sich der Schutz vor Selbstbelastung nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Beschuldigte Zwang widerstehen musste. Die Selbstbelastungsfreiheit diene prinzipiell der Freiheit einer verdächtigen Person, zu entscheiden, ob sie aussagen oder schweigen will. Diese Freiheit werde aber unterlaufen, wenn die Behörden gegenüber einem schweigenden Beschuldigten eine Täuschung anwenden, um ihn belastende Geständnisse zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten und die so erlangten Erkenntnisse als Beweise in den Prozess einführen.27 Doch liegt darin entgegen erstem Anschein keine Ausdehnung des Nemotenetur-Grundsatzes auf einen generellen Schutz vor Täuschungen28, und: Wo wäre dann die Grenze zu ziehen? Eine wichtige Frage, denn der Bundesgerichtshof befindet sich wie Verrel im Einzelnen darlegt, auf einem Schlingerkurs (S. 1632 ff.); schlimmer noch: Geradezu verwirrend und konturlos ist das jüngste Urteil des 1. Strafsenats, in dem die akustische Überwachung eines vermeintlich unüberwachten Ehegattengespräches in dem Besuchsraum einer Untersuchungshaftanstalt auf der Grundlage „einer Gesamtschau der Umstände“ – im Ergebnis zutreffend – als ein zur Unverwertbarkeit führender Verstoß gegen die Verfahrensfairness angesehen wird.29 Verrel schreibt dazu richtig, dass solches Vorgehen mit einer soliden strafprozessualen Argumentation nur wenig zu tun habe und entwickelt stattdessen einen „Schutz vor qualifizierter Heimlichkeit“. Ausgehend von dem Gedanken, dass die StPO verdeckte Ermittlungen als solche durch §§ 110a ff. dem Täuschungsverbot entzogen und insbesondere die Verwendung einer Legende erlaubt hat, könne es nur um die Anwendung von darüber hinausgehenden Irrtumserregungen gehen, wie sich im Übrigen auch aus § 110c S. 2 und S. 3 StPO ergebe (S. 1640). Jedenfalls dürfe die Beurteilung der Zulässigkeit verdeckter Befragungen nicht von dem ebenso zufälligen wie manipulierbaren Umstand abhängen, ob der Beschuldigte bereits offen vernommen worden ist. In Abgrenzung zu der durch §§ 110a ff. StPO legalisierten „einfachen“ Täuschung über die Ausforschungsintention Verdeckter Ermittler werde die Schwelle zu § 136a StPO (oder dessen analoger Anwendung) erst bei einer qualifizierten Täuschung überschritten. Diese liege insbesondere dann vor, wenn die Kontaktperson ein besonderes Vertrauensverhältnis oder ein Abhängigkeitsverhältnis durch Lügen aufgebaut und dazu ausgenutzt habe, dem Beschuldigten Äußerungen zum Tatgeschehen zu entlocken. Darunter falle etwa die gezielte Anbahnung eines Liebesverhältnisses als sogar besonders anstößiger Täuschungsfall; oder die Drohung mit dem Abbruch einer Sonderbeziehung (einzige externe Kontaktperson, die aktuell für Lockerungen unentbehrlich war und eine Lebensperspektive nach dem Vollzugsende bot). Auch im klassischen Zellengenossen-Fall30, in dem sich der Mithäftling durch Gespräche über eine Flucht, gemeinsame Deliktsbegehungen und eine Strafvereitelung sowie 25 27 Eschelbach, HRRS 2008, 190; Fischer, StraFo 2009, 177 (188); Pfister, StraFo 2006, 349 (352). 26 Schünemann, ZRP 2009, 104 (107); beeindruckend seine kleine Monografie „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“, 2005. Grundlegend EGMR StV 2003, 259 m. Anm. Gaede (sog. Allan-Entscheidung). 28 EGMR NJW 2010, 213 (sog. Bykov-Entscheidung). 29 BGH NStZ 2009, 519. 30 BGHSt 34, 362 m. Anm. Neuhaus, NJW 1990, 1221. _____________________________________________________________________________________ ZIS 2/2013 100 Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Neuhaus _____________________________________________________________________________________ durch eine falsche Selbstbezichtigung in das Vertrauen des zunächst überhaupt nicht mitteilungswilligen Beschuldigten einschlich, sei das Verhalten des Spitzels deutlich über die Verheimlichung seiner Absichten hinausgegangen. Dem wird man uneingeschränkt zuzustimmen haben. Felix Herzog stellt in seinem Aufsatz „Strafrecht, Armut und soziale Gerechtigkeit“ (S. 1647 ff.) vor allem die neuen Ergebnisse des finnischen Kriminalwissenschaftlers Lappi-Seppälä vor, der sich mit der Frage auseinander setzte, wie sich soziale Verhältnisse und Modelle der sozialen Wohlfahrt auf die strafrechtlichrepressive Sozialkontrolle und auf die Belegung der Gefängnisse auswirken. Zusammenfassen kann man das Ergebnis dieser (aber auch anderer neuerer Studien) mit den bekannten Worten des großen Gustav Radbruch, dass es nämlich „des Strafrechts fragwürdige Aufgabe [ist]..., gegen den Verbrecher nachzuholen, was die Sozialpolitik für ihn zu tun versäumt hat. Bitterer Gedanke, wie oft die Kosten des Verfahrens und Vollzuges, vor der Tat aufgewendet, genügt hätten, das Verbrechen zu verhindern!“31. Auch dieser Aufsatz sei Kriminalpolitikern und solchen, die sich dafür halten, dringend zur Lektüre empfohlen. Die Menschenwürde steht im Mittelpunkt der die Festschrift abschließenden Aufsätze. Eric Hilgendorf thematisiert „Instrumentalisierungsverbot und Ensemble-Theorie der Menschenwürde“ (S. 1653 ff.) und Brigitte Kelker untersucht „Grundfragen eines Zusammenhangs zwischen Menschenwürde und Strafrecht“ (S. 1673 ff.). VI. Die Festschrift zu Ehren von Ingeborg Puppe ist ein wahrlich fulminanter Band, ein im besten Sinne „dickes Stück“, in das zu vertiefen sich lohnt. Der hohe Preis wird manchen potentiellen Käufer abschrecken. Aber für den Strafjuristen, der wissenschaftlich arbeitet oder auch nur einfach Spaß an intellektueller Auseinandersetzung hat, ist es eine Freude, den „Ziegelstein“ nach Hause zu tragen und sich in ihm mit beträchtlichem Gewinn fest zu lesen. Herzlichen Glückwunsch Ingeborg Puppe zu diesem Geschenk, dieser besonderen Ehrung! Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Rechtsanwalt & Fachanwalt für Strafrecht, Dortmund/Bielefeld 31 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1929, S. 105 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 101