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BEST OF
eBooks der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Frankfurter Allgemeine Archiv
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher
Key Account Management Archivpublikationen:
Christine Pfeiffer-Piechotta c.pfeiffer-piechotta@faz.de
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2014 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelbild: © F.A.Z.-Archiv / Trötscher
ISBN: 978-3-89843-378-8
Inhalt
Vorwort 9
Liebe Leserinnen und Leser �����������������������
10
In der Provence und an der Côte d‘Azur 11
Vor uns wölbt sich das Meer – Von Ludwig Harig ��������
13
Von Apps und anderen Spionen 29
Ausgespäht vom eigenen Smartphone – Von Michael Spehr Internet-Tipps – eine Auswahl – Von Birgitta Fella �
31
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40
Von der Faszination der Mathematik 42
Kreise, Kugeln, Zufälle: Überall spukt herum –
Von Albrecht Beutelspacher �����������������������
44
In der Bretagne 66
Poullaouën: Der Kuhschwanz auf dem Altar bringt Segen –
Von Elke Sturmhoebel ���������������������������
68
Dänemark von Belt bis Sund 75
Forellenfischen auf Fünen: Ein Plan B fürs Abendessen –
Von Elke Sturmhoebel ���������������������������
77
Alternative Heizanlagen 85
Wir verstecken einen Eisspeicher im Garten –
Von Georg Küffner �����������������������������
87
Auf den finnischen Schären 92
Anstrengend sind nicht nur die Mücken –
Von Matthias Hannemann ������������������������
94
Karl und Europa: Wirkung bis in die Gegenwart 104
Der Mann, der Europa aufräumte – Von Andreas Kilb ����
106
In Irlands Westen 120
Achill Island: Ansichten einer Insel – Von Christiane Zwick Das sollten Sie klicken �������������������������
122
131
Hirnforschung: Wer ist der Käpt’n im Kopf? 133
Gehorsam: Ich erfüllte eine Aufgabe – Von Jenny Niederstadt 135
Kreuzfahrt in die Arktis 144
Eis mit Stil – Von Verena Mayer Aus dem Maschinenraum �������������������
146
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154
Den Emotionen auf der Spur 155
Trauertäler und Freudenhügel – Von Ulrich Mees �������
157
Inside the Company: Die National Security Agency 163
Totale Überwachung – Von Thomas Gutschker ���������
Interessantes aus dem Internet – Von Hans Peter Trötscher �
165
170
Sehnsuchtsorte in Andalusien 172
Costa de Huelva: Ja, wo hängen sie denn? –
Von Rolf Moenikes ����������������������������
174
Tipps für die Reise – Von Birgitta Fella 179
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Wenn Maschinen denken: Künstliche Intelligenz 186
Simulanten des Gehirns: Kann man das Denkorgan
nachbauen? – Von Joachim Müller-Jung �������������
188
Denkende Maschinen im Web – Von Birgitta Fella 192
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Futurologie: Wenn Fiction Science macht 195
Ideen aus dem Weltall – Von Philipp Krohn �����������
197
Lektüretipps: Gestern war Heute die Zukunft –
Von Birgitta Fella �����������������������������
205
Klassische Führungsprobleme 206
Phrasenparade – Von Julia Löhr �������������������
208
Aussichten: „Green Economies“ oder große Irreführung? 212
In die Biotonne – Von Winand von Petersdorff ���������
214
Fahrtbericht Porsche Cayman 220
Dem großen Bruder auf den Fersen –
Von Michael Kirchberger ������������������������
222
Management in Umbruchzeiten 228
»Auch Bleiben tut weh« – Von Thomas Reinhold Lese- und Internettipps �������
230
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236
Elisabeth II. und die Idee der Monarchie im 21. Jahrhundert 238
Einmal Buckingham Palace – Von Bernhard Heimrich ����
240
The Royal Collection: Interessantes rund um den
Königshof – Von Hans Peter Trötscher ���������������
249
Philologie des Elbischen: Die Sprachen Mittelerdes 255
Sag es auf Sindarin – Von Ulf von Rauchhaupt ���������
257
Weltkriegs-Schauplatz: Heimatfront 267
Ohrenzeugen des Ersten Weltkriegs – Von Reinhard Pabst Weltkriegs-Chronik – Von Hans Peter Trötscher �
269
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276
Marcel-Reich-Ranicki: Ein sehr großer Mann 282
Ein Leben – Von Claudius Seidl �������������������
Meilensteine einer Karriere – Von Birgitta Fella ��������
284
288
Benedikt XVI.: Der deutsche Papst und die Deutschen 292
Wir waren Papst – Von Frank Lübberding Chronik – Von Doris Kappes �������������
294
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298
Modemacher im Porträt 307
John Galliano: Ein Schatten seiner selbst –
Von Alfons Kaiser und Anke Schipp ����������������
309
Die Welt des schönen Scheins – museal 315
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Joachim Gauck 318
Der Präsident als Seelsorger der Nation –
Von Berthold Kohler ���������������������������
320
Weiterführende Literatur 324
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Wer hört auf die Stimme des Volkes? 326
Wie soll es sein? – Von Professor Dr. Werner J. Patzelt ����
328
Wie das heutige Arabien entstand 341
Arabellion und Scharia – Von Wolfgang Günter Lerch Materialien zur Vertiefung ����
343
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347
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
mit diesem kleinen Leseproben-eBook wollen wir Ihnen einen
Eindruck von der Qualität und Inhaltsstärke der F.A.Z.-eBookReihe vermitteln. Die Vielfalt der behandeltem Themen reicht von
der unterhaltsamen Reisereportage einer arktischen Kreuzfahrt bis
zur hochanalytischen Abhandlung über die Vorteile repräsentativer
Demokratiemodelle. Eine Vielfalt, wie Sie sie Tag für Tag in den
Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung finden. Das beste aus
diesen Beiträgen haben wir für Sie ausgesucht, mit reichhaltigen
Zusatzmaterialien ergänzt, mit hochwertigem Bildmaterial illustriert und zu spannenden und informativen eBooks neu arrangiert.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre und hoffe, Sie
damit für unsere eBook-Reihe begeistern zu können.
Hans Peter Trötscher
Programmleiter
P.S. Sie sind stets auf der Suche nach einem anspruchsvollen,
zugleich aber individuellen Präsent für Ihre Geschäftspartner,
Kunden oder Mitarbeiter?
Christine Pfeiffer-Piechotta, Key Account Management Archivpublikationen, erstellt Ihnen gerne ein maßgeschneidertes Angebot:
telefonisch unter 069/7591-2912 oder per E-Mail unter c.pfeifferpiechotta@faz.de.
In der Provence und an
der Côte d‘Azur
Reiselesebuch
Provence – Côte d’Azur
eBook
Umfang: ca. 450 Seiten
Mit 49 Abbildungen
Juli 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-294-8
ISBN PDF: 978-3-89843-293-1
Preis: 12,99 €
Vor uns wölbt sich das Meer
In den frühen Fünfzigern mit Vaters Auto
an die Côte d'Azur – Ein Nachmittag
mit Südwörtern
Von Ludwig Harig
W
ie oft sind wir bei dem Städtchen Serves im Rhônetal an der
hohen Bruchsteinmauer vorbeigebraust, haben mit Zeigefingern die romanischen Arkaden in die Luft gezeichnet und laut
ausgerufen: »Hier fängt der Süden an!« Als wir zum ersten Mal
hinkamen und von weitem schon diese zyklopische Wand aufragen
sahen, verschlug es uns die Stimme: auf der Mauerkrone blühende
Agaven im Maulbeergestrüpp, stinkender Goldregen vor dem Bahndamm und zwischen den Zähnen feiner, von den Reifen der Autos
aufgewirbelter Sandstaub, der nach Salzwasser schmeckte.
So ist es geblieben, mehr als vierzig Jahre danach. Immer
noch blüht die Agave, stinkt der Goldregen, immer noch schnarren
Zikaden, krabbeln Schnurfüßler, dampft die mythische Erde: Pans
Weinhumpen hängt mit abgegriffenem Henkel am Lorbeerstrauch,
wo ihn Vergil schon hingehängt hat, und im Nymphengarten sitzt
Aristophanes und speist Erdbeeren und Myrrhen, Mädchennasch-
werk. »Nur sehe ich weit und breit keine Nymphe mehr«, sagt
Brigitte, »und der dicke Pan hat sich sicher auch verdrückt. Nicht
einmal die Mauer hat gehalten, was sie damals versprach. Sie ist
gar kein schönes altes Bauwerk aus roten und braunen und gelben
Natursteinen, wie wir es in Erinnerung haben, sondern eine graue
Betonwand, durch Rundbögen verstärkt. Und was mir noch auffällt:
Stand die Mauer früher nicht viel näher an der Straße?«
Schon mit zwanzig wollten wir den Süden sehen und es den
Idolen aus Mode, Film und illustrierten Blättern gleichtun, in Nizza
auf der Promenade des Anglais unter Palmen spazieren gehen, in
Cannes an der Croisette einen Pernod trinken, Eis schlecken im
Eispalast, Austern essen an der Austernbude, baden in der Badebucht. Bizarre Geschichten aus der Boulevardpresse hatten Staub
aufgewirbelt: Ein amerikanischer Millionär bewundert dreißig
Jahre lang von seiner Yacht aus das Bergmassiv des Estérel und
stirbt an einer Halsstarre, die ihm den Hauptnervenstrang abdrückt;
eine schwedische Filmschauspielerin lehnt in ihrem Garten mit
Vorliebe am Stamm eines Trompetenbaums, wird von einer Kreuzotter gebissen und stirbt am Schlangengift.
Das war noch vor der Zeit, als Brigitte Bardot ihre Sommertage
in St. Tropez zubrachte und Françoise Sagan im offenen Sportwagen
durch die Gegend kutschierte und barfuß das Gaspedal bediente –
doch es kitzelte uns in der Fußsohle schon ein paar Jahre zuvor, und
so waren wir nicht mehr zu halten und brachen im Sommer 1953
zum ersten Mal in den Süden auf.
Wir reisten zu dritt: Brigitte, mein Bruder Hermann und ich.
Wenn ich mir das ganze Drum und Dran dieser Reise heute ins
Gedächtnis zurückrufe, kommt es mir vor, als seien damals drei
arglose bunte Vögel unterwegs gewesen, auf gut Glück ins Eldorado auszuziehen. Nur wer Tollheit mit Abenteuerlust verwechselt,
hätte in uns Nachäffer der drei Musketiere vermuten können, die
seinerzeit hoch zu Ross das halbe Europa unsicher gemacht haben.
Wir hatten es nicht darauf abgesehen, unser Leben aufs Spiel zu
setzen, an Halsstarre zu sterben wie der Millionär oder am Schlangenbiss zugrunde zu gehen wie die Filmschauspielerin – uns stach
der Hafer, mit imposantem Automobil und forschem Auftreten ein
bisschen Staub aufzuwirbeln.
Kaum in Lothringen angekommen, liefen uns die Kinder nach.
Der Mercedes nämlich, den Vater gekauft hatte – Kabriolimousine,
Typ 170V, Vorkriegsmodell – war kein gewöhnliches Auto: Die
Trittbretter schwangen sich ausladend an den beiden Seitenfronten
des Wagens entlang, die Türgriffe, chromblitzend und solide gefertigt, lagen handlich zwischen Daumen und Fingern, der Kühlergrill glitzerte wie das Gitter eines mondänen Kachelofens, und wir
dahinter, auf breiten Lederpolstern, lehnten uns bei heruntergedrehten Scheiben lässig aus dem Fenster, lauschten dem Rauschen
der Reifen und dem behaglichen Brummen des Motors. Hermann
hatte das Auto neu lackiert, das frische Grün aus Vaters Firmenfarbe
hellte nun das vornehme Mercedesschwarz auf, die Farbenkombination war ungebräuchlich und so augenfällig, dass die lothringischen
Kinder dem Wagen oft bis ans Ende der Ortschaft hinterherliefen.
Unterwegs wollten wir uns nirgends länger aufhalten als nötig. Nur
in Seurre machten wir Station, dort blieben wir für einen Abend und
eine Nacht bei Roland Cazet, meinem Freund aus der Lyoner Zeit.
Die Landschaft der Provence und der Küstenabschnitt der Côte d’Azur gehören zur
südostfranzösischen Region Provence-Alpes-Côte d’Azur mit den Départements Alpesde-Haute-Provence, Alpes-Maritimes, Bouches-du-Rhône, Hautes-Alpes, Var und
Vaucluse. F.A.Z.-Karte Levinger
Am nächsten Morgen brachen wir beizeiten auf: Es lockte der
Süden, Nur ein paar Kilometer hinter Seurre bogen wir rechts auf
die schnurgerade Straße nach Chalon ab. Zwischen den Ortschaften
erhöhten wir das Tempo, fuhren mit größerer Geschwindigkeit über
die weit geschwungenen Bodenwellen, rollten durch die Burgundi-
sche Pforte die Saône entlang bis vor die Hügel der Monts d'Or. Am
Flussufer schlugen wir unser Zelt auf, wie der junge Jean-Jacques
Rousseau, der einst flussabwärts in der Stadt Lyon eine Nacht an
der Saône verbracht hatte: verzaubert vom rosigen Abendgewölk,
verzückt vom Gesang der Nachtigallen.
Heute wie vor vierzig Jahren führt die alte N 7 durch hinziehende Straßendörfer die Rhône entlang. Das verwaschene Bleu und
Gelb und Rosa der Häuserfronten ist noch blasser geworden und
erinnert an die Charmeusefarben der Damenunterwäsche aus den
Fünfzigern. In Montélimar schwenkt der Verkehr um die Altstadt
herum, durchquert die breite Platanenallee, in der Kunstmaler
und Souvenirhändler ihre Stände aufgeschlagen haben. Den weltberühmten Nougat von Montélimar gibt es immer noch in Pappschachteln, die den rotweißen Kilometersteinen der Nationalstraße
nachgebildet sind, klein- und großformatig, mit pfiffigen Werbeaufschriften. Damals fuhren wir in jede Stadt hinein, bestiegen das
antike Theater von Orange, tanzten über die Brücke von Avignon,
tranken vom warmen Brunnenwasser der Cours Mirabeau in Aix-enProvence und brachten den halben Nachmittag an einem winzigen
Caféhaustischchen zu.
Aix-en-Provence besuchten wir diesmal nicht, wechselten von
der Autoroute du Soleil zur Provençale und entdeckten von weitem
das Gebirge Sainte-Victoire, das Cézanne in vielen Abwandlungen
immer wieder gemalt hat: ein mit bizarrer Spitze gezacktes ungleichschenkliges Dreieck, das beim Vorüberfahren wie ein umgedrehter
Tanzknopf einen Halbkreis um die eigene Achse schlägt. Nach und
nach gibt es den langgestreckten Gebirgsrücken hinter sich frei,
Buckel und Schultern scheinen mit Panzerstahl überzogen, der wie
poliert in der Sonne glänzt. An den Böschungen der neuen Trasse,
wo die Haut der Erde noch nicht wieder nachgewachsen ist, bündeln
sich schräg liegende Gesteinsmassen zu einem gelbroten Adergeflecht. Im Kalkstein schimmern Ginsterkissen und üppige Bukette
der Spornblume, hingehauchte Tupfer von Altrosa, gemischt aus
Weiß und Karmesinrot. »Vor uns im Schein der virgilischen Sonne
das Gebirge Sainte-Victoire, ungeheuer groß, zart und blau, die
Täler des Montaignet, der Viadukt des Pont de l'Arc, die Häuser,
das Rauschen der Bäume, die viereckigen Feldstreifen«, schreibt
Joachim Gasquet, der vor hundert Jahren noch näher als wir heute
bis zum Standort des Malers herangegangen war.
Vor vierzig Jahren fanden wir den rechten Weg wie im Traum.
Zwischen runden, schwarzen Schieferkuppen, tief ins Dunkel
getrieben vom Hartlaub dichter Kastanien- und Korkeichenwälder
und nur selten erhellt von gelbweißen Kalkwänden, durchquerten
wir schlafwandlerisch das Massif des Maures, stiegen von Passhöhe zu Passhöhe empor, wechselten in kurvenreiche Talfahrten
über, und ich genoss, wenn ich am Steuer saß, das Zurückschalten
in den scharfen Kehren.
„Rasche Wendung des Weges: Vor uns wölbt sich das Meer.
Grün des Olivengeheges rennt jetzt neben uns her,
brennende Fahnen aus Halmen, Drahtverhau der Kakteen.
Weiße Villen mit Palmen steigen, fallen, vergehn.
Weggeschmolzen die Linien, feurig flirrt der Asphalt.
Nur noch die schwankenden Pinien haben Stand und Gestalt.“
Es war der 5. August 1953, ein sonnendurchglühter Mittwochnachmittag. Ich saß auf einem Stein, mein Notizbuch auf den Knien,
und kam mir vor wie Gottfried Benn beim Dichten, von Kopf bis
Fuß wie ein Pantoffeltierchen mit Flimmerhaaren bedeckt. Es
sind aber keine Sporen und Algen, die das Wimperhaar heranwedelt, sondern Wörter – es sind Wörter mit Rausch- und Wallungswert, Südwörter, Schamanenwörter, die den Himmel von Sansibar
und das Meer der Syrten herbeizaubern können. Aber aufgepasst:
»Nicht immer sind diese Flimmerhaare tätig«, verrät Gottfried Benn
in seinem Marburger Vortrag, »sie haben ihre Stunde.« Und genau
diese Stunde der unermüdlichen Flimmerhaare war an jenem Mittwochnachmittag hinter Roquebrussanne im Maurengebirge herangekommen: Ich sitze auf einem Felsbrocken und betrachte zum ersten
Mal in meinem Leben das Meer. Was für eine Aufregung, was für
ein Glück! Mein Herz klopft, mein Schädel raucht, die geheimnisvollen Flimmerhaare zucken und zittern und tasten Südwörter
herbei. Obwohl von diesem sagenumwobenen Mittelmeer nur ein
matter Schimmer hinter Felsnasen zu sehen ist, fliegen Namen von
legendären Buchten und Stränden durch die Gegend, liegt mythisches Gewese in der Luft. Unternehmungslustig, wie ihnen nachgesagt wird, sind diese Südwörter in Aktion, durchstoßen Zusammenhänge, zertrümmern Wirklichkeit und schicken sich an, die Welt
neu zu erschaffen. »Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen, und
Jahrtausende entfallen ihrem Flug«, ruft Gottfried Benn, und so
wirbelt mein Stift die Südwörter über das Papier, drängt sie in neue
Zusammenhänge, verschmelzt sie zu neuen Wirklichkeiten. Wie die
Wörter glänzen! Die Sonne streichelt sie und reibt sie immer wieder
blank. Die alten sind in den Schatten gewichen. Heute kann ich's ja
zugeben: An diesem ominösen 5. August, hoch oben im Kalkgeröll
des Massif des Maures, fühlte ich mich als dichtender Halbgott, der
sogar Gottfried Benn in den Schatten stellt.
Als wir jetzt wieder hinkamen, fanden wir die Stelle nicht mehr.
Wir irrten durchs Gebirge, vergebens. Hinter keiner Felsnase blinzelte das Meer hervor. Am Spätnachmittag erreichten wir Hyères,
durchquerten die Palmenallee, fuhren zwischen Flughafen und
Salinen über die Halbinsel nach Giens. Damals wehte ein frischer
Wind, und es roch nach Salz. Heute steigt aus dem verschilften
Becken der Pestgestank von faulem Fisch und Vogelkadaver. In den
Salzlachen verrotten Pflanzen, über den Salzhügeln kreisen Schwalbenschwärme auf der Jagd nach Insekten. In Giens ist Jahrmarkt
mit Trachtenfest: Ein Reiter, zu Pferd auf dem Weg in den Friseursalon, stößt mit dem Kopf gegen den Türbalken. Wir sind in ein Tollhaus geraten, entrinnen ihm nur mit allerletzter Mühe. Gibt es am
Strand von Hyères noch den geruhsamen Blick auf die Reede? Gibt
es auf der Insel Porquerolles noch den begehrten Nacktbadestrand?
Wir fahren immerzu, es gibt kein Halten, kein Rasten, kein Bleiben,
die Parkplätze sind besetzt, die Straßen verstopft, wir quälen uns
unentwegt voran in der Illusion, immerwährendes Fahren müsste
ein lohnendes Ziel in Sicht bringen.
Auch Le Lavandou, einst Fischerdörfchen, ist jetzt ein Touristenzentrum. Zwischen Residence de la Plage und Domaine des
Mandariniers dämmert das alte L'llot Fleuris im Halbschlaf vergessener Sommerpaläste hin. Tauch- und Segelschulen, in schäbiger
Leichtbauweise konstruiert, verstellen den Blick auf die Mole. Über
den Bootsmasten flattern blauweißrote Wimpelchen, winden und
verdrehen sich, als müssten sie sich inmitten trostlosen Cabanenund Budengewirrs vor Lachen krümmen. Ein alter Fischer mit
Ringelhemd und Schirmmütze sitzt zwischen Fischladen und
Crêperie vor einem Knäuel salzgebeizter Netze, schaut auf, nimmt
seine Pfeife aus dem Mund und grüßt kopfnickend. Er lächelt, sein
dicker Zeh hat sich in den Maschen verfangen und zwingt ihn, auf
dem Pflaster zu verharren. Gestenreich winkt er einen jüngeren
Fischer zum Plausch herbei. Zuerst schreien und lachen sie, dann
werden sie leiser und ernster und haben schließlich keine Worte
mehr. »Unter ihrem Ringelhemd spüren / sie den kalten Haifischzahn«, schrieb ich damals in einem Gedicht.
Das war der Süden! Das waren die Strände, die wir suchten!
Wir steuerten den Mercedes über eine Bodenwelle, ließen ihn an
der ausgestreckten Hand des Patrons entlang bergab unter eine Pinie
rollen und schlugen im feingemahlenen Sand unser Zelt auf. Fast
vergessene Tage an der Bucht von Le Lavandou! Wir schwammen,
spielten Ringtennis, spielten Wasserball, spielten Fußball, einmal
trat ich mit nacktem Fuß in einen Agavenstrunk. Eine tiefe Wunde
klaffte, Blut lief über den Fuß, die Narbe ist heute noch zu sehen. Bei
jedem Wetterumschlag rötet sie sich und ruft mit sanftem Kitzeln
den Südseestrand von Cap Bénat in Erinnerung zurück.
Ein Zelt ist kein Hotelzimmer, der blaue Himmel kein Ziegeldach. Eine Trainingshose ersetzt kein Beinkleid aus Gabardine,
eine Gummisandale keinen Lederschuh. Wir liefen herum wie die
Landstreicher, hausten wie die Pfadfinder, lebten von der Hand in
den Mund. Wir hatten nicht gelernt, den feinen Pinkel hervorzu-
kehren, und hinter unserer Kabriolimousine liefen dort unten in den
mondänen Alleen keine kleinen Kinder mehr her.
Wem waren wir eigentlich gefolgt in diesem Sommer 1953 beim
Aufbruch in den Süden, der uns den Duft der großen weiten Welt in
die Nase blies: irgendeiner zauberkräftigen Pansmusik oder dem
aufputschenden Trommeln der Zigarettenindustrie? Wollten wir
tatsächlich forsch auftreten, ein bisschen Staub aufwirbeln, ein bisschen Wellen machen? Geschmack am eleganten Leben finden? Wir
stürzten uns kopfüber in die herzhaften Sommerlüste, schwammen
im Meer, bräunten in der Sonne, fuhren ziellos mit dem Auto an der
Küste entlang und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein.
Wir kurvten durch Croix-Valmer und Ramatuelle, kutschierten durch
St-Tropez und Ste-Maxime, schauten nur mit halbem Auge nach den
Häusern, mieden Kirchen und Kapellen, übergingen die bronzenen
Standbilder auf den alten Stadtplätzchen mit Naserümpfen. Sogar ein
paar Jahre danach noch ließen wir Kirchen und Klöster und Museen
trotz ihrer vielgepriesenen Schätze links liegen, stürzten uns lieber
ins Wellenbrausen des Meers als in den Redestrom eines Reiseführers, lauschten lieber dem Zikadenschnarren als dem Tönen einer
Orgel. Zweimal hintereinander verbrachten wir die Ferien in SteMaxime im Hotel Mirador, badeten tagsüber in der Bucht, ließen uns
bräunen in der Sonne. Spätnachmittags, wenn die Gluthitze nachgelassen hatte, fuhren wir nach Ramatuelle ans Grab von Gérard
Philipe, dessen Filme mit Martine Carol und Gina Lollobrigida uns
von den wöchentlichen Kinobesuchen in Erinnerung waren, spielten
Boule im Hotelgarten, tranken Gin-Fizz zum Apéritif, schlüpften in
unsere schicksten Sommerkleider, kutschierten nach dem Abend-
essen nach St-Tropez und saßen bis spät nachts in der Tropicana-Bar.
Dort tranken wir wieder Gin-Fizz, wechselten zum Pernod über und
hörten Don Byas auf dem Tenorsaxophon.
Jetzt, beim Wiederkommen, graust es uns. Was hat St-Tropez
ein schäbiges Flair angenommen! Vom Parkplatz am Frachthafen,
zwischen Lagerschuppen und Einkaufsbaracken, strömt die Menge
an den Staffeleien der Kitschmaler vorbei zu den Anlegestellen
der Yachten. Ein Tanklaster pumpt Öl in ein haushohes Motorboot, ein verdreckter Container steht quer zum Fußgängersteig.
Von den alten Häuserfronten blättert die Farbe, vor den legendären
Bars der fünfziger Jahre gammeln Markisen und Jalousielamellen
in der scharfen Salzluft. Ein Serviermädchen, Typ Brigitte Bardot,
X-Beine, Schmollmund, runde Brüste, mit quergestreiftem Ringelhemd und enger weißer Hose, balanciert mit Crêpes und Cidreflaschen durch die Holzschemelreihen. Die Berge der Maures sind
hinter tief gestaffelten Metallkulissen in weite Ferne gerückt. Was
uns früher anzog, stößt uns heute ab: Knalliges Gelb mischt sich mit
schreiendem Rot der Reklameschilder, auf blankem Falschsilber des
Blechs spiegelt sich das Geglitzer der Boote. Hinter Barrieren, Holzblöcken und Palettenstößen steht Pierre André de Suffren, Landeshauptmann und Träger des Großkreuzes von Jerusalem, in Bronze
gegossen vor dem Hotel Sube, Johnny Hallyday auf seiner Harley
Davidson ziert ein farbenprächtiges Plakat.
Ärger mit dem Getriebe
Wie freundlich uns im Sommer 1953 die Landschaft entgegenkam!
Sie stand nicht einfach da, sie spreizte sich mit Zypressenreihen,
zierte sich mit Oleander- und Kakteengewinden wie die Bühne für
ein bukolisches Theaterstück. Sie hob und senkte sich, dreht sich
in den Kehren und kam uns, in verschiedenerlei Gestalt verwandelt, bis vor die Räder gerollt: Bestickte Paradeteppiche der Küstenhügel wallten über die Häuser hinweg und schütteten Blüten auf
den Asphalt, klobige Steinriesen des Estérel in goldbraune Panzer
gehüllt, schritten über die Straße und setzten ihre Füße ins Meer.
Wohlbehütet in kühlen Ledersesseln, uns fest verlassend auf
die reibungslosen Abläufe des Wellen- und Räderspiels, rollten wir
durch Cannes und Nizza. Und doch, das Auto war nicht unverwüstlich. Schon in der Calanques des Issambres, wo Hermann in den
engen Kehren ständig runter- und raufschalten musste, drang aus
dem Innern des Getriebes ein feines Sirren an mein Ohr. Zuerst knisterte es nur hin und wieder, zischelte und rieselte, schien mir aber
nicht erwähnenswert. Doch beim Hinauffahren nach Villefranchesur-Mer krachte es in einer Kurve derart schrill und abscheulich,
dass Hermann und Brigitte das Spektakel in meinem Ohr auf einmal
nicht mehr für eine Einbildung meiner hypochondrischen Natur
halten konnten.
Am steilen Hang, im Garten einer Villa, bezogen wir einen
Campingplatz. Unter einem Feigenbaum schlugen wir unser Zelt
auf, stellten den Wagen in der Einfahrt ab und gingen in den darauffolgenden Tagen nur noch zu Fuß. »Das Getriebe muss sich von den
Strapazen erholen«, meinte Hermann, »ihr werdet's erleben, in ein
paar Tagen ist von dem Geräusch nix mehr zu hören.«
Anderntags in aller Herrgottsfrühe schlugen wir das Zelt ab,
packten unsere Sachen zusammen und traten die Rückreise an.
Adieu denn, schöner, krummer Feigenbaum von Villefranche!
Immer, wenn ich seitdem eine frische Feige esse, denke ich an ihn;
immer, wenn unser Auto lauter brummt als gewöhnlich, kommt er
mir in den Sinn! Irgendwo in Cannes, mitten im dichtesten Stadtverkehr, zerbarst das Gehäuse. Auf dem Weg zu einer Reparaturwerkstatt, nachdem das Mahlen und Stampfen die Ausmaße einer
modernen kakophonischen Musik angenommen, holte Hermann
mit einem letzten Fußdruck auf Gaspedal zu einer schwelgerischen
Kadenz aus. Nur das Räderwerk der künstlichen Nachtigall im
Märchen von Andersen hat sein Leben in einem so dramatischen
Todeskampf ausgehaucht wie das Getriebe von Vaters Mercedes.
Nach einer Schrecksekunde fiel das Wort Differential, dem ein
paar andere hartklingende Wörter folgten: brisé, cassé, éclaté. Der
kalte Schauer lief uns über den Rücken. O nein, meinte der Patron
der Reparaturwerkstatt, es bestehe überhaupt kein Grund zur Sorge.
Die zerbrochenen Teile seien leicht zu beschaffen, in zwei, drei
Tagen habe er sie aus Nizza oder Toulon herbeigeholt, und der
Schaden sei im Nu behoben. Wir räumten den Kofferraum aus, und
mit Sack und Pack zogen wir auf den Campingplatz von La Napoule.
Hier, im schönsten Pinienhain des Südens, schlugen wir unser
Zelt auf und lebten mit französischen und holländischen und schweizerischen Campern wie die Faune und Nymphen, sprangen im Wald
umher, schwammen im Meer und kamen uns vor wie die unsterblichen Halbgötter. In diesem Hain hätten wir ausgeharrt, bis die Pinienzapfen gefallen wären! Und zu unserem Glück dauerte es nicht
zwei, drei Tage, es dauerte zwei, drei Wochen, bis das zersprungene Differential wieder repariert war. So vergnügten wir uns an
Ort und Stelle, und endlich hatten wir, was wir suchten, tummelten
uns den ganzen Tag am Strand, schwammen im Meer, bräunten in
der Sonne – und kein mondänes Getue! Kein Chateaubriand konnte
so schmackhaft sein wie Steaks und Pommes frites vom Budengrill,
kein Mouton-Rothschild so süffig wie ein algerischer Mascara aus
der Literflasche!
Tagsüber in den Schwimmpausen und spätnachmittags vor dem
Abendimbiss lag ich im Sand und schmökerte: Ich las Hans Falladas
Roman »Wolf unter Wölfen«. In irgendeiner Pappschachtel gibt es
ein Foto, darauf liege ich bäuchlings im Sand neben dem Zelt, das
Buch in beiden Händen vor dem Gesicht, dass man den Titel lesen
kann. Noch heute erinnere ich mich an die Geschichte vom verzweifelten Deutschen der Inflationszeit. Vielleicht die anderen, dachte
ich, ja die anderen sind die Wölfe, räkelte mich im Sand und genoss
das schöne Leben in der Sonne.
Abschied von Pan
Ende August kam Bescheid aus der Werkstatt: »Das Differential
ist repariert, der Mercedes wieder fahrbereit und kann abgeholt
werden.« Mit dem Bus fuhren wir hin, gingen schnurstracks an die
Kasse und nahmen die Rechnung in Empfang. Die Höhe der Summe
habe ich vergessen, doch erinnere ich mich an unser jähes Erschrecken. Nicht einmal unsere Armbanduhren und Brigittes Halskettchen mit dem vielgeliebten Aquamarin als Pfand samt aller zusammengekratzten Francstücke hätte ausgereicht, sie zu begleichen.
Keine Bange, wir sollten die Rechnung getrost einstecken und von
zu Hause aus die Summe per Banküberweisung herschicken, sagte
der Patron, er habe sich die Autopapiere und die Nummernschilder
genau angeschaut und schließe daraus, dass wir so gut wie keine
Ausländer seien. Und auf unserem Führerschein, fügte er aufgeräumt hinzu, sei jeder Vordruck auch in französischer Sprache zu
lesen, vom moteur über den cachet bis zur signature. Seine schlitzohrige Miene verriet uns: Er war alles haargenau durchgegangen:
Zulassung, Führerscheine, Versicherungspapiere, vielleicht hatte er
sich sogar die eingestanzte Motornummer notiert.
Als wir dann, schon auf dem Nachhauseweg, noch einmal am
Camp de la Pinède vorüberfuhren, grüßten wir mit lautem Hallo und
wilden Gebärden. Bocksfüßiger, ziegenbärtiger Pan, so sanft hingeschmiegt zwischen den beiden Flüsschen haben wir deinen lieblichen Hain nie wiedergesehen! Vierzig Jahre danach, zum Golfplatz
arriviert, liegt er eingezwängt zwischen vierspuriger Fahrstraße,
ausbetoniertem Flussbett und frisch geschotterter Bahntrasse, mit
Hügelchen und Bodenwellen, Flachbahnen und Sandkuhlen, kurz
geschoren bis zum letzten Grün hinter einem Maschendrahtzaun
versperrt. An der Meerseite gegenüber protzen das Strandhotel und
der Bootshafen, jenseits der Flussbrücke die Restaurants, Agenturen,
Tankstellen und eine Reihe mehrstöckiger Hochhäuser mit Park und
Tennisplätzen dahinter.
Hinter Cannes biegen wir landeinwärts ab nach Vallauris. Ein
Dörfchen mit schmaler, aufsteigender Straße ist uns in Erinnerung
geblieben, am Ende, hoch oben links von der Kirche, ein Plätzchen
mit dem Standbild eines Schafhirten. Hier arbeitete Picasso seinerzeit, zeichnete, malte, töpferte, modellierte die Hirtenplastik für
das Plätzchen. Damals haben wir Ausschau nach ihm gehalten, wir
haben ihn nirgendwo entdeckt. Heute ist die Straße vollgestopft mit
Töpferwaren: Teller und Tassen, Vasen, Kännchen, Schüsseln, aber
auch Hühner und Tauben, Stiere und Fische. Jedes Haus ist eine
Galerie, jeder Keller ein Ausstellungsraum für Villen- und Brunnenanlagen aus Keramik. Obwohl es so aussieht, als hätte Picasso
jeder Suppenterrine, jedem Eierbecher, jedem Sparschwein seinen
Fingerabdruck hinterlassen: Die Töpfererde von Vallauris, der er
ihre Körperlichkeit, ihre Schwere genommen und die er ins Stofflose
der Kunst gewendet hat, ist unter den Fingern schlechter Keramiker
wieder Material geworden: Essgeschirr, Tafelzubehör, Gebrauchsgegenstand. In Picassos Bronzefigur L'homme au mouton auf dem
Marktplätzchen neben der Kirche hat der alte Pan die Züge eines
Menschen angenommen. Ein kahlköpfiger Hirt, den Blick nach
innen gekehrt, mit breiten, schweren Händen, trägt das Lamm
gegen seine Brust gepresst: Tier und Mensch gehören untrennbar
zusammen, drei Beine des Lamms und drei Finger des Hirten sind
eng ineinander geknotet.
Gesättigt von den Farben und Klängen treten wir auf die
Terrasse des Herrenhauses, hoch über klobiger Bruchsteinmauer.
Vor uns wölbt sich das Meer. Wir sind aber in einen anderen Süden
zurückgekehrt. Hier, wo er mit unstofflichen Instrumenten über
Menschenlärm und Autogetöse hinwegtönt, ist er eine schöne Idee.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.1995
Von Apps und anderen
Spionen
Die Daten-Enteignung
eBook
Umfang: ca. 215 Seiten
Mit 14 Abbildungen
Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung
Februar 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-284-9
ISBN PDF: 978-3-89843-283-2
Preis: 12,99 €
Ausgespäht vom eigenen
Smartphone
Abgehört wird nicht nur von oben. Wer sein
Handy mit Apps bestückt, gibt gleich seine
privaten Daten preis.
Von Michael Spehr
I
n Zeiten von NSA, Prism und Tempora kann es nicht schaden,
mal einen Blick auf die eigene Überwachungszentrale in der
Hosentasche zu werfen. Sie heißt Smartphone. Beim Test des neuen
Huawei Ascend P6 stießen wir auf seinen eingebauten »Berechtigungsmanager«, der interessante Hinweise liefert, auf welche Daten
und Dienste welche App zugreifen will. Diese Huawei-Software
unterbindet gegebenenfalls solche Spähaktionen, sie stellt sich in
den Weg. Denn wer denkt schon daran, dass ein kleines Hilfsprogramm sich selbst Rechte einräumen möchte wie: »Speicherkarteninhalte ändern«, »voller Netzwerkzugriff«, »ausgehende Anrufe
umleiten«, »Kontakte auslesen«, »SMS lesen und schreiben« und
schließlich sogar »die Kamera jederzeit und ohne Ihre Bestätigung
nutzen«.
Bei der Installation einer neuen Android-Software werden zwar
die »App-Berechtigungen« kurz auf dem Bildschirm eingeblendet.
Aber wie bei den »Allgemeinen Geschäftsbedingungen« liest das
kaum jemand, und man kann nur in Gänze annehmen oder ablehnen.
Die Möglichkeit, lediglich einzelne Rechte zu gewähren, bietet
Android nicht. In Vorfreude auf die neue Software nickt man schnell
ab, ohne sich Gedanken zu machen. Vor allem fragt niemand, ob
und warum beispielsweise ein simpler Taschenrechner den Zugriff
auf den momentanen geografischen Standort des Nutzers anfordert.
Auch Google als Betreiber des »Play« genannten App-Kaufhauses unternimmt solche Prüfungen nicht. Geht es um gefährliche und schadhafte Apps, steht Android unangefochten an der
ersten Stelle. Und umgekehrt: Fast alle Schadsoftware-Attacken
auf Mobilgeräte richten sich an Android-Nutzer. Dazu kommt, dass
ein weiteres Einfallstor vom Anwender selbst in wenigen Schritten
geöffnet werden kann, wenn er nämlich die Installation von Apps
»unbekannter Herkunft« in der Geräteverwaltung erlaubt. Dann
lassen sich Programme jenseits des Play-Store installieren, etwa
von der Speicherkarte. Das ist nicht an sich verwerflich, kann aber
gefährlich werden.
Zurück zum Huawei-Berechtigungsmanager: Selbst wenn man
mit der gebotenen Distanz nur »seriöse« Anwendungen installiert
und um alle halbseidenen einen großen Bogen macht, ist man doch
erstaunt, welche Rechte sich einzelne Apps herausnehmen, und
zwar ohne nachvollziehbare Begründung. Die von Facebook zum
Beispiel will im Grunde genommen alles. Bei unserer näher inspizierten Auswahl, die natürlich nicht repräsentativ ist, weckte das
Telefonbuch des Smartphones stets die höchsten Begehrlichkeiten.
Fast alle Apps spähen Kontakte, Rufnummern und Adressen aus.
Etwa die Podcast-App »Pocket Cast«, die von uns gekauft
wurde: Dieses Audio-Programm will den Zugriff aufs Telefonbuch und die Telefonnummer des Geräts ebenso erfassen wie die
gewählten Rufnummern. Es gibt keinen Grund dafür. Man könnte
argumentieren, dass eine Podcast-App die Audio-Wiedergabe bei
eingehenden Anrufen unterbrechen muss, also deshalb den Zugriff
auf das Telefon fordert. Die Annahme führt jedoch in die Irre. Denn
als wir mit der Huawei-Software die angeforderte Berechtigung
verweigerten, funktionierte Pocket Cast trotzdem ohne Einschränkungen.
Diese Beobachtung lässt sich durchaus verallgemeinern: Apps
fordern mehr Rechte an, als sie für ihr einwandfreies Funktionieren
benötigen, sie nehmen sich, was sie bekommen können. Große
Aufmerksamkeit fand unlängst der von der Nachrichtenseite Golem
beschriebene Skandal um den »Superrapper und die SamsungSpyware«: Der koreanische Smartphone-Hersteller bot den Besitzern einiger Galaxy-Geräte die Möglichkeit, das neue Album des
Rappers Jay-Z vorab unentgeltlich zu hören. Dazu konnte man
keineswegs die Musiktitel laden, sondern musste eine App installieren, die laut Golem auf die Systemsteuerung und den Speicher
der Hardware zugreift. Außerdem will sie »den per GPS ermittelten
Standort des Nutzers wissen sowie Details über dessen Anrufe und
die Netzwerkkommunikation«. Wozu die Daten dienen, schreiben
die Kollegen, »ist nicht ersichtlich. Die App verfügt nicht über eine
Funktion, für die sie nötig wären.«
Die Rechte von Apps im Zaum zu halten kann also sinnvoll sein.
Man darf annehmen, dass viele Gratisangebote an erster Stelle dazu
dienen, Android-Nutzer auszuspionieren. Jenseits der Huawei-Software gibt es einige Apps, die Ähnliches leisten, sie setzen aber in der
Regel ein »gerootetes« Android-Gerät voraus. Das Rooten erlaubt
tiefgehende Eingriffe ins System und ist nur mit etlichem Aufwand
zu bewerkstelligen. Wer sich auf diesen Weg einlassen will, suche
anschließend zum Beispiel nach »LBE Privacy Guard«. Eine Alternative kann »SRT App Guard« sein, das jedoch nicht über Google
Play erhältlich ist. Es deinstalliert die zu kontrollierende App, modifiziert sie und richtet sie erneut ein. Anschließend funktionieren
allerdings Updates der betreffenden App nicht mehr.
So gesehen kann man Huawei nur loben, dass ein sehr mächtiges Werkzeug unentgeltlich bereitgestellt wird – und mit allen
nur denkbaren Android-Apps ohne Einschränkung zusammenarbeitet. Dass man mit ihm auch bei jeder einzelnen App den Netzwerkverkehr kontrollieren und beschränken kann, sei nur am Rande
erwähnt.
Abschließend ein Seitenblick auf die Apple-Welt. Hier geht es
etwas zivilisierter zu. Cupertino hat den hauseigenen App Store
besser im Griff, es wird intensiver geprüft, die Richtlinien sind
strenger. Was unter Android nur wie hier beschrieben funktioniert,
ist gleich von Haus als Berechtigungsmanagement im iOS-Betriebssystem eingebaut. Unter »Einstellungen« und »Datenschutz« lässt
sich differenziert und jederzeit einstellen, welche App auf welche
privaten Daten (Standort, Kontakte, Kalender, Fotos und mehr)
zugreifen darf. Wer mit iPad und iPhone unterwegs ist, kann auch
als Laie mit einem Blick kontrollieren und zu neugierige Apps mit
einem Handgriff in die Schranken weisen.
Zwei scharfe Kontrolleure: Links Apple auf dem iPhone, rechts Huawei für sein
Ascend P6. Foto: Michael Spehr / F.A.Z.
Datenhunger am Beispiel der nimmersatten Facebook-App
Zusammen mit WhatsApp ist die Facebook-Software die meistinstallierte für Android. Auch im Datenhunger spielt sie in der ersten
Reihe und fordert nahezu alle denkbaren Berechtigungen an. Hier
ein (gekürzter) Auszug aus der App-Beschreibung. Facebook kann
demnach auf Folgendes zugreifen:
1. Ihre Konten
Konten erstellen und Passwörter festlegen: Ermöglicht der App,
die Konto-Authentifizierungsfunktionen des Konto-Managers zu
verwenden, einschließlich der Funktionen zum Erstellen von Konten
sowie zum Abrufen und Festlegen der entsprechenden Passwörter.
Konten hinzufügen oder entfernen: Ermöglicht der App, Konten
hinzuzufügen und zu entfernen oder deren Passwörter zu löschen
2. Standort
Genauer Standort: Ermöglicht der App, Ihre genaue Position
anhand von GPS-Daten oder über Netzwerkstandortquellen wie
Sendemasten oder W-Lan zu ermitteln.
Ungefährer Standort: Ermöglicht der App, Ihren ungefähren
Standort zu ermitteln. Diese Standortangabe stammt von Standortdiensten, die Netzwerkstandortquellen wie etwa Sendemasten oder
W-Lan verwenden.
3. Netzkommunikation
Zugriff auf alle Netzwerke: Ermöglicht der App die Erstellung von
Netzwerk-Sockets und die Verwendung benutzerdefinierter Netzwerkprotokolle.
4. Telefonanrufe
Telefonnummern direkt anrufen: Ermöglicht der App, ohne Ihr
Eingreifen Telefonnummern zu wählen.
5. Telefonstatus und Identität abrufen
Ermöglicht der App, auf die Telefonfunktionen des Geräts zuzugreifen. Die Berechtigung erlaubt der App, die Telefonnummer
und Geräte-IDs zu erfassen, festzustellen, ob gerade ein Gespräch
geführt wird, und die Rufnummer verbundener Anrufer zu lesen.
6. Speicher
USB-Speicherinhalte ändern oder löschen.
7. System-Tools
Verknüpfungen installieren: Ermöglicht der App das Hinzufügen von
Verknüpfungen ohne Eingriff des Nutzers.
Akkudaten lesen: Ermöglicht der App, den momentan niedrigen
Akkustand zu erkennen.
8. Informationen zu Ihren Apps
Aktive Apps abrufen: Ermöglicht der App, Informationen zu aktuellen und kürzlich ausgeführten Aufgaben und Apps abzurufen.
9. Kamera
Bilder und Videos aufnehmen: Ermöglicht der App, Bilder und
Videos mit der Kamera aufzunehmen. Die Berechtigung erlaubt
der App, die Kamera jederzeit und ohne Ihre Bestätigung zu
nutzen.
10. Benutzeroberfläche anderer Apps
Über anderen Apps einblenden: Ermöglicht der App, über andere
Apps oder Teile der Benutzeroberfläche zu zeichnen. Dies kann
sich auf die Oberfläche in jeder App auswirken oder die erwartete
Darstellung in anderen Apps verändern.
11. Mikrofon
Audio aufnehmen.
12. Ihre sozialen Informationen
Anrufliste bearbeiten: Ermöglicht der App, das Anrufprotokoll Ihres
Geräts zu ändern, einschließlich der Daten über ein- und ausgehende Anrufe.
13. Kontakte lesen
Ermöglicht der App, Daten zu den auf Ihrem Gerät gespeicherten
Kontakten zu lesen, einschließlich der Häufigkeit, mit der Sie
bestimmte Kontakte angerufen, diesen E-Mails gesendet oder anderweitig mit ihnen kommuniziert haben. Diese Berechtigung ermöglicht der App, Ihre Kontaktdaten zu speichern.
Kontakte ändern: Ermöglicht der App, Daten zu den auf Ihrem Gerät
gespeicherten Kontakten zu ändern, einschließlich der Häufigkeit,
mit der Sie bestimmte Kontakte angerufen, diesen E-Mails gesendet
oder anderweitig mit ihnen kommuniziert haben. Die Berechtigung
ermöglicht Apps, Kontaktdaten zu löschen.
14. Anrufliste lesen
Ermöglicht der App, das Anrufprotokoll Ihres Geräts zu lesen,
einschließlich der Daten über ein- und ausgehende Anrufe. Diese
Berechtigung ermöglicht Apps, Daten Ihres Anrufprotokolls zu speichern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.7.2013
Internet-Tipps – eine Auswahl
Wer zum Thema Datenschutz eine kurze Auswahl
hilfreicher Webseiten sucht, ist hier richtig.
Von Birgitta Fella
www.bitkom.org
Datenschutz im Internet, eine repräsentative Untersuchung der
BITCOM aus dem Jahr 2011 zum Thema Daten im Internet aus
Nutzersicht.
www.bsi-fuer-buerger.de
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik informiert
über Fragen zur IT-Sicherheit.
www.klicksafe.de
Die EU-Initiative will vor allem Kindern und Jugendlichen für die
kompetente und kritische Nutzung von Internet und Neuen Medien
sensibilisieren.
www.prism-break.org
Empfehlungen von Software und Alternativen zu den gängigen
Betriebssystemen und Suchmaschinen.
www.selbstdatenschutz.info
Tipps zur „digitalen Selbstverteidigung“: Datenschutz und
Verschlüsselung in Eigenregie.
www.surfen-ohne-risiko.net
Informationen zu Regelungen zum Datenschutz für Kinder auf den
Seiten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend.
www.wakeupinternet.com
Der Verein Wake Up Internet will über die Notwendigkeit des
Schutzes von Persönlichkeitsdaten im Internet aufklären.
Von der Faszination
der Mathematik
Die Schönheit der Zahlen
eBook
Umfang: ca. 260 Seiten
Mit 18 Abbildungen,
Buch- und Filmtipps
September 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-376-1
ISBN PDF: 978-3-89843-375-4
Preis: 9,99 €
Kreise, Kugeln, Zufälle:
Überall spukt Π herum
Was für eine Zahl! Sie ist irrational, ja sogar
transzendent. Und in verrückter Weise normal.
Von Albrecht Beutelspacher
A
m 18. Januar 1897 wurde im Parlament des amerikanischen
Bundesstaates Indiana in erster Lesung ein Gesetz behandelt,
das nichts weniger wollte als »eine neue mathematische Wahrheit«
zu etablieren und damit einen Beitrag zur Erziehung zu leisten. Der
Gesetzestext selbst ist kurz, aber weder klar noch eindeutig. Allerdings wird das Problem, das mit diesem Gesetz gelöst werden soll,
klar benannt: die Quadratur des Kreises.
Diese sprichwörtliche Redewendung hat einen sehr präzisen
Ursprung und Inhalt: Man soll zu einem Kreis ein Quadrat konstruieren, das genau den gleichen Flächeninhalt wie der Kreis hat.
Nicht annähernd, also »approximativ«, sondern genau. Außerdem
sind die Mittel vorgeschrieben: Man darf nur die klassischen Werkzeuge verwenden, nämlich Zirkel und Lineal. Die Quadratur des
Kreises ist unmittelbar verbunden mit einer der interessantesten und
geheimnisvollsten Zahlen überhaupt, nämlich mit der Kreiszahl Π.
Diese Zahl tritt bei praktisch allen Berechnungen am Kreis auf: Man
erhält den Umfang, indem man seinen Durchmesser mit Π multipliziert. Man erhält den Flächeninhalt, indem man den Radius quadriert
und das Ergebnis mit Π multipliziert. Die Frage nach der Quadratur
des Kreises kann auch so gestellt werden: Lässt sich mit Zirkel und
Lineal eine Strecke der Länge Π konstruieren?
Sie erinnern sich vielleicht daran: Π = 3,14. Aber das stimmt
nicht. Jedenfalls nicht genau. Π ist nicht genau 3,14, sondern nur
ungefähr.
Der Kampf um das richtige Π ist ein durchgängiges Thema der
Geschichte der Mathematik.
Bereits den Babyloniern und den Ägyptern war um 2000
v. Chr. die Tatsache bekannt, dass sich bei jedem Kreis das
gleiche Verhältnis von Umfang zum Durchmesser ergibt. So
rechneten die Babylonier mit 3,125 und die Ägypter mit 256/81,
das macht 3,16049. Auch die Bibel lässt Rückschlüsse auf einen
Wert von Π zu. Im 1. Buch der Könige heißt es: »Und er
machte das Meer (ein Wasserreservoir) von einem Rand zum
anderen zehn Ellen weit..., und eine Schnur von dreißig Ellen
war das Maß ringsherum.« Daraus ergibt sich die bereits für
die damalige Zeit schlechte Näherung von Π = 3. Archimedes
war der erste, der nicht versuchte, Π exakt anzugeben. Er gab
obere und untere Schranken für den Wert von Π an: Π > 3
10/71, Π < 3 1/7.
Den Weltrekord in der Berechnung von Π hält der Japaner Yasumasa Kanada von der Universität Tokio. Er hat im Jahre 1999 sage
und schreibe 206 Milliarden Stellen von Π berechnet.
Das Geheimnis der Zahl Π liegt in der Unvorhersehbarkeit ihrer
Ziffernfolge. Wie geht es nach 3,14159 weiter? Es gibt kein Muster
dafür. Wer es nicht weiß, weiß es eben nicht. Mathematiker sind in
der Lage, diese Unregelmäßigkeit in den Griff zu bekommen: Sie
können sie nicht aufheben, aber immerhin ausdrücken, wie unregelmäßig Π ist.
Zunächst ist Π in einer Hinsicht unendlich: Der Dezimalbruch
von Π bricht nie ab. Auch nach 206 Milliarden Stellen ist nicht nur
kein Ende in Sicht, sondern es ist aussichtslos: Ein Ende wird es nie
geben. Insofern ist die Suche nach immer mehr Stellen eine echte
Sisyphusarbeit.
Π ist irrational. Das bedeutet, dass es in diesen unendlich vielen
Stellen kein sich wiederholendes Muster gibt. Das heißt nicht, dass
wir bis jetzt keines gefunden haben, sondern dass es keines gibt. Das
wissen wir. Denn es wurde bewiesen, und zwar im Jahre 1761 von
Johann Heinrich Lambert.
Π ist sogar transzendent. Das bedeutet, dass sich Π durch keine
noch so komplizierte Gleichung exakt ausdrücken lässt. Genauer
gesagt: Es gibt kein Polynom (mit rationalen Koeffizienten), das Π
als Nullstelle hat. Das scheint ein technisches Resultat zu sein, hat
aber eine dramatische Konsequenz: Die Quadratur des Kreises mit
Zirkel und Lineal ist unmöglich! Diese Erkenntnis geht auf Ferdinand Lindemann 1882 zurück. Der Beweis übersteigt den Schulstoff bei weitem.
Π bietet bis heute ungelöste Probleme. Viele glauben, dass die
Ziffern von Π wie zufällig verteilt sind. Sie sind natürlich nicht
zufällig, sondern jede einzelne ist wohlbestimmt. Aber man kann
ja mal testen. Wenn in der Dezimalbruchentwicklung von Π keine
Null vorkommen würde, wäre die Ziffernfolge hinter dem Komma
nicht zufällig. Aber eine Null kommt vor, zum ersten Mal an der 31.
Stelle. Auch 00 müsste vorkommen, auch 007, auch Ihr Geburtsdatum, kurz: Jede endliche Folge von Ziffern müsste vorkommen.
Auch die digitalen Versionen des Films »Herr der Ringe« oder des
Textes auf diesen Seiten müssten irgendwann in Π vorkommen.
Die Mathematiker nennen diese Eigenschaft, etwas phantasielos,
»normal«. Die Frage lautet also, ob Π normal ist – eine bis heute
unbewiesene Vermutung. »Normal« ist nicht dasselbe wie »irrational«, auch für Mathematiker nicht: Eine Zahl ist normal, wenn
jede Ziffer oder Ziffernkombination mit gleicher Wahrscheinlichkeit
wie eine andere Ziffer oder gleichlange Ziffernkombination auftritt.
Im Laufe der Geschichte wurden viele Methoden entwickelt, um
Π zu berechnen. Eine Formel, die viel bessere Ergebnisse liefert als
alle vorher dagewesenen, ist die zentrale Formel auf diesen Seiten,
die das Mathematikgenie Shrinivasa Ramanujan 1914 aufgestellt
hat. Links vom Gleichheitszeichen steht schlicht und einfach Π.
Die rechte Seite der Formel hingegen ist nicht nicht einfach. Und
alles andere als elegant. Schwer zu merken. Kaum vorstellbar, wie
jemand darauf kommt. Aber sie ist unglaublich effizient. Sie stellte
1914 alle Berechnungsverfahren in den Schatten. Man kann sie
vergleichen mit einem Liebhaber, der sich Π annähern möchte. Ein
stürmischer Liebhaber: Jeder Summand liefert etwa acht korrekte
Nachkommastellen von Π. Mit dieser Reihe wurde erstmals die
Millionengrenze an Nachkommastellen überschritten, allerdings
erst rund 70 Jahre nach Ramanujans Entdekkung, denn es musste
noch das richtige Werkzeug erfunden werden: der Computer. Auch
heute noch ist diese Formel in einigen Computeralgebra-Systemen
eingebaut.
Aus dem Indiana-Gesetz von 1897 lassen sich verschiedene
Werte von Π herauslesen: Π = 3,2 oder Π = 4. Ganz ohne Zweifel
könnte man mit diesen Werten rechnen. Sogar viel einfacher. Aber
leider wären die Ergebnisse sinnlos. Zum Glück hat ein Mathematiker die Parlamentarier darauf hingewiesen, dass sie sich mit diesem
Gesetz unsterblich blamieren würden, und so wurde die weitere
Behandlung des Gesetzentwurfs nach der zweiten Lesung im Senat
am 12.2.1897 auf unbestimmte Zeit verschoben.
Der Autor lehrt Mathematik an der Universität Gießen.
Rechtecke im Kreis.
Eine Möglichkeit, den Flächeninhalt eines Kreises und damit Π zu
berechnen, beruht darauf, die Kreisfläche von innen mit Rechtecken
aufzufüllen. Diese Methode wurde im 17. Jahrhundert in Japan
entdeckt. Stellen wir uns einen Kreis mit dem Radius 1 vor. Sein
Flächeninhalt ist dann Π. Von diesem Kreis betrachten wir nur ein
Viertel; der Viertelkreis hat also den Flächeninhalt Π/4. Wir teilen
den Radius des Viertelkreises gleichmäßig in eine gewisse Anzahl
von Strecken, zum Beispiel in 14 Teile. Über jeder dieser Teilstrecken errichten wir ein Rechteck, das den Kreis von innen berührt.
Der Flächeninhalt der Rechtecke ist einfach zu bestimmen: Die
Grundstrecke hat man selbst gewählt, und die Höhe kann man mit
Hilfe der Formel für den Kreis x² + y² = 1 ausrechnen. Die Fläche
eines Rechtecks ist Grundseite mal Höhe. Schließlich muss man die
Flächeninhalte der Rechtecke addieren und erhält so eine Näherung
an die Zahl Π/4. Die Approximation wird um so besser, je feiner man
den Radius unterteilt.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Die Definition der Zauberzahl: Umfang durch Durchmesser.
Wenn man den Umfang und den Durchmesser eines Kreises misst,
zeigt sich, dass der Umfang immer um einen konstanten Faktor
größer ist. Wenn der Durchmesser 1 m beträgt, dann ist der Umfang
etwa 3,14 m. Wenn der Durchmesser 2 m ist, dann ist der Umfang
etwa 6,28 m usw. Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Umfang
zu Durchmesser eines Kreises ist immer die gleiche Zahl. Diese
Konstante bezeichnet der griechische Buchstabe Π. Es gilt also:
Umfang : Durchmesser = Π, oder Umfang = Durchmesser mal Π.
Die ersten Näherungswerte für Π wurden einfach gemessen. Der
griechische Mathematiker und Physiker Archimedes (287-212 v.
Chr.) war der erste, der einen systematischen Weg gefunden hat, Π
jedenfalls prinzipiell beliebig genau zu berechnen. Seine Methode
bestand darin, den Umfang des Kreises durch Vielecke anzunähern,
deren Seiten alle gleich lang und deren Winkel alle gleich groß sind.
Konkret hat er dieses Verfahren mit je einem 96-Eck innerhalb und
außerhalb des Kreises durchgeführt und erhielt dabei die Abschätzung 3 10/71 < Π < 3 1/7.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Grüße aus Monte Carlo.
Der Flächeninhalt eines Kreises mit Radius r ist Πr². Der Flächeninhalt des Quadrats um den Kreis ist 4r². Das Verhältnis der beiden
Flächeninhalte ist also Π/4. Mit anderen Worten: Der Kreis hat
einen Anteil von 78,5% der Quadratfläche.
Stellen wir uns vor, dass die gesamte Quadratfläche von Punkten
übersät ist. Dann liegen etwa 78% innerhalb und der Rest außerhalb des Quadrats.
Mit diesem Ansatz kann man Π durch ein Zufallsexperiment
bestimmen: Man wirft zufällig Pfeile auf die quadratische Scheibe
und bestimmt den Anteil der Pfeile, die innerhalb der Kreisscheibe
landen. Diese Zahl ist etwa Π/4. Die Annäherung wird besser, je
öfter man wirft.
Die Mathematiker nennen solche Experimente, in denen der Zufall
eine entscheidende Rolle spielt, aus offensichtlichen Gründen
»Monte-Carlo-Methoden«. Sie spielen eine gewaltige Rolle in
Computerexperimenten, wie sie beispielsweise von der Klimaforschung verwendet werden. Und aus der heutigen Physik ist Monte
Carlo nicht mehr wegzudenken.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Der Inhalt einer Kugel? Π gibt Auskunft.
Dieses Bild soll das Grabmal des Archimedes (287–212 v. Chr.)
geschmückt haben. Archimedes war stolz auf seine Herleitung
des Volumens der Kugel. Sie beträgt genau ein Drittel des Volumens des sie umgebenden Zylinders. Dies hat Archimedes mit Hilfe
eines dritten Körpers, nämlich eines Doppelkegels, bewiesen, der
dem Zylinder »einbeschrieben« war: Der Doppelkegel füllte den
Zylinder so gut es eben ging aus. Archimedes kam zu dem Ergebnis:
Das Volumen einer Kugel mit Radius r ist 4Πr³ mal 1/3.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Kreispackung: Π hilft ordnen.
Wie dicht lassen sich Münzen gleicher Größe packen? Mit anderen
Worten: Welchen Prozentsatz eines Tisches können wir mit Münzen,
die nicht übereinanderliegen dürfen, überdecken? Antwort: Am
besten geht es mit der »hexagonalen« Packung. Mit ihr lassen sich
gut 90 Prozent der Tischfläche mit Münzen überdecken.
Genauer stellt man sich vor, dass die ganze Ebene mit Kreisscheiben
gleicher Größe belegt ist. Die Dichte dieser sogenannten »Packung«
ist der Anteil der Fläche, den die Kreisscheiben einnehmen. Die
Dichte der hexagonalen Packung ist genau Π/2<Wurzel>3. Das ist
viel besser, als wenn man die Münzen »quadratisch« anordnet, wenn
man sie also auf die Felder eines (beliebig groß gedachten) Schachbretts legt. Auch wenn sich die Münzen berühren, erhält man nur
eine Dichte von gut 78 Prozent.
Dass die hexagonale Packung die bestmögliche ist, lässt sich nicht
ganz einfach beweisen. Es gelang in voller Allgemeinheit erst in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Kugelpackung: Wie stapelt man Äpfel? So wie auf dem Markt,
meinte Gauß.
Die Frage nach der dichtesten Kugelpackung ist noch viel schwieriger als die nach der dichtesten Kreispackung. Das Problem geht
zurück auf Johannes Kepler (1571–1630), der in einer Abhandlung
über Schneeflocken auch darauf zu sprechen kam, wie dicht Kerne
von Früchten, zum Beispiel Granatäpfel, gepackt werden können.
Als Mathematiker ließ er sich zwar von der konkreten Fragestellung
inspirieren, abstrahierte aber davon und stellte die Frage nach der
dichtesten Kugelpackung.
Auch hier bietet sich eine »hexagonale« Packung an: Man beginnt
mit einer Schicht Kugeln, die man in einem hexagonalen Muster
legt (rechtes Bild): Das ist schon mal die optimale Methode, Kugeln
zu plazieren.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Die zweite Schicht darüber sieht genauso aus, nur dass die Kugeln in den
Lücken der ersten Schicht liegen (oben). Entsprechend bildet man die
dritte Schicht, und so geht es immer weiter. Man kann die Dichte dieser
Packung ausrechnen – wiederum mit Π: Sie beträgt p/<Wurzel>18;
man kann mit ihr also etwa 74 Prozent des Raumes ausfüllen.
Man hat keine dichtere Packung gefunden, konnte aber lange Zeit
nicht beweisen, dass es keine dichtere geben kann. Einen ersten
Durchbruch schaffte der große deutsche Mathematiker Carl Fried-
rich Gauß, der 1831 diese Vermutung bewies – allerdings unter der
einschränkenden Voraussetzung, dass die Kugeln der Packung ein
regelmäßiges Muster bilden.
Das Problem im allgemeinen blieb aber ungelöst. Es faszinierte
durch die Spannung zwischen der Einfachheit der Fragestellung und
der offensichtlichen Schwierigkeit eines Beweises. So etwas kommt
in der Mathematik öfter vor, es sei nur an den vielbeschrieben Satz
von Fermat erinnert.
Es kursierte das geflügelte Wort, dass »die meisten Mathematiker
glauben und alle Physiker wissen, dass es keine dichtere Kugelpackung gibt«. Hier wurden freilich die Marktfrauen vergessen, die
ihre Apfelsinen oder Äpfel in aller Welt hexagonal stapeln, als hätten
sie Gauß gelesen.
Erst im Jahr 1998 gelang es Thomas Hales zu beweisen, dass diese
Packungsmethode die dichteste ist.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Π lässt sich experimentell bestimmen: Buffons Trick.
Mit Hilfe des Zufalls lässt sich Π auch auf folgende Weise
bestimmen, die von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon
(1707–1788) erstmals 1777 beschrieben wurde: Wir stellen uns
einen Boden mit gleich dicken Dielen vor. Auf diesen lassen wir
zufällig einen Stab (eine Nadel) fallen, dessen Länge genau die
Breite der Dielen ist. Der Stab kann so fallen, dass er ganz auf
einer Diele liegt oder dass er die Trennungskante zwischen zwei
Dielen berührt (»Treffer«). Dieses Experiment führen wir oft durch.
Wenn wir dann die Anzahl der Würfe durch die Anzahl der Treffer
teilen und diese Zahl noch mit 2 multiplizieren, erhalten wir eine
Annäherung an Π. Aber Achtung: Diese Annäherung erfordert
unglaublich viele Würfe.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Π präsentiert uns auch die Fläche eines Kreises.
Die Zahl Π kann nicht nur dazu benutzt werden, den Umfang eines
Kreises zu bestimmen, sondern dient auch zur Ermittlung seines
Flächeninhalts. Dazu gehen wir am besten vom Radius, also vom
halben Durchmesser aus. Ein Kreis, dessen Radius 1 m ist, hat einen
Flächeninhalt von Π Quadratmeter. Wenn sich der Radius verdoppelt, vervierfacht sich der Flächeninhalt. Das heißt, ein Kreis mit
dem Radius 2 m hat den Flächeninhalt 4Π, also etwa 12,5 m². Im
allgemeinen hat ein Kreis mit Radius r den Flächeninhalt Πr². Das
bedeutet: Der Flächeninhalt eines Kreises ergibt sich, indem man
zunächst ein Quadrat zeichnet, dessen Seitenlänge der Radius des
Kreises ist, und dessen Flächeninhalt dann mit Π multipliziert.
F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring.
Das Erstaunliche ist, dass die gleiche Zahl Π, die sich zur Berechnung des Umfangs eines Kreises eignet, auch hier verwendet wird.
Der erste, der eine Beziehung zwischen Kreis und Quadrat suchte,
war Anaxagoras von Klazomenai (um 500–428 v. Chr.). Kurze Zeit
später versuchten Antiphon und Bryson aus Heraklea, den Kreisinhalt zu bestimmen, indem sie dem Kreis Vielecke einbeschrieben
und deren Fläche berechneten. So erhielten sie eine Approximation
an die Kreisfläche.
In der Ziffernfolge hinter dem Komma ist alles möglich. Selbst
die digitale Version dieses Textes taucht dort irgendwann
einmal auf.
Und außerdem noch eine Abwandlung davon.
Shrinivasa Ramanujan
Der Entdecker unserer großen Π-Formel auf diesen Seiten hieß
Shrinivasa Ramanujan, einer der genialsten Mathematiker aller
Zeiten. Er wurde 1887 in Südindien geboren, wuchs in ärmlichen
Verhältnissen auf und besaß keine abgeschlossene Universitätsausbildung.
Foto: Archiv.
Seine mathematische Bildung bestand ausschließlich darin, dass
er eine Formelsammlung gelesen hatte: 3000 Formeln hintereinander, ohne Kommentare. Und man kann sagen, dass er selbst
Mathematik in diesem Sinne betrieben hat: Er hat Formeln aufgestellt. Bewiesen hat er sie nicht, die Notwendigkeit eines strengen
Beweises sah er bis zum Ende seines Lebens im Grunde nicht ein.
Aber er produzierte Formeln. Formeln im Überfluss. Formeln, die
zu einem großen Teil Ausblicke in unerforschtes Gebiet weit vor der
damaligen mathematischen Forschung waren. Die Formel für Π
ist eine unter vielen; ihre Bedeutung wurde erst lange nach seinem
Tod erkannt.
Der Engländer G. H. Hardy (1877–1947), selbst ein Star-Mathematiker seiner Zeit, hatte Ramanujan gewissermaßen entdeckt und
nach England geholt. Aber es war das spleenige England kurz nach
der Jahrhundertwende, das steife England der gesellschaftlichen
Riten, und es war das dunkle England des Ersten Weltkriegs. Ramanujan erhielt zwar hohe Ehrungen, zum Beispiel die Aufnahme in
die Royal Academy, aber er wurde krank, todkrank.
Er konnte nach dem Ersten Weltkrieg nach Indien zurückkehren,
lebte dort aber nur noch kurze Zeit und starb im Jahre 1920 in
Madras.
Π Das ist die linke Seite der Gleichung. Hier steht die Zahl, die
wir bestimmen wollen. Diese Seite der Gleichung sieht einfach
aus, aber im Grunde ist sie ja auch nur eine Frage. Denn Π ist
die große Unbekannte. Wenn wir etwas über wissen wollen, dann
müssen wir rechte Seite der Gleichung zu Rate ziehen. Wie gut die
Gleichung ist, zeigt sich daran, wie viel man aus rechten Seite über
Π erfahren kann.
= Am Gleichheitszeichen erkennen wir, dass es sich um eine Gleichung handelt. Es setzt die linke Seite und die rechte Seite der
Gleichung in Beziehung. Nicht in irgendeine Beziehung, sondern
in die engste Beziehung überhaupt: die Gleichheit. Die beiden
Seiten gehören nicht nur so eng zusammen wie zwei Liebende,
sie sind nicht nur so ähnlich wie eineiige Zwillinge, sie gleichen
sich nicht nur wie ein Ei dem andern, sondern sie sind gleich.
Identisch. Eine Gleichung sagt nicht mehr und nicht weniger,
als dass die linke Seite gleich der rechten Seite ist. Auf beiden
Seiten steht eine Zahl, und die Gleichung drückt aus, dass die
Zahl auf der linken Seite gleich der Zahl auf der rechten Seite
ist. Nicht ungefähr, sondern exakt. Das klingt banal. Die Power,
die in einer Gleichung steckt, erkennt man, wenn man die Seiten
einzeln betrachtet. Die linke Seite sieht noch überschaubar aus,
während rechts ein unübersichtliches Formelkonglomerat lauert.
Aber diese Vorstellung ist falsch. In Wirklichkeit ist es so, dass
die rechte Seite ganz einfach ist – jedenfalls so, dass wir sie
ausrechnen können. Vielleicht nur mit Mühe, aber immerhin.
Links steht dagegen im wesentlichen nur ein Symbol für die Zahl,
die wir berechnen wollen: Π. Diese Gleichung sagt: Wenn Du Π
bestimmen möchtest, dann kannst Du das machen, indem Du die
rechte Seite dieser Gleichung berechnest. Eine klare Anweisung.
√ Das Wurzelzeichen findet sich auf jedem Taschenrechner. Wenn
man erst 8 und dann die Wurzeltaste drückt, zeigt einem der Rechner
die Zahl 2,828427125 an. Diese Zahl hat Eigenschaft, dass sie, mit
sich selbst multipliziert, wieder die Ausgangszahl 8 ergibt. Die Zahl
√8 gesprochen »Wurzel acht«) ist nicht exakt gleich 2,828427125.
Sie ist eine irrationale Zahl. Das bedeutet, dass unendlich viele
Dezimalstellen aufweist, die sich auch nicht von einer gewissen
Stelle an wiederholen.
∞ Diese liegende 8 ist das Zeichen für Unendlich. In der Mathematik
spielt die Unendlichkeit eine wichtige Rolle. Die meisten Aussagen
der Mathematik beziehen sich auf unendlich viele Objekte: alle
Zahlen, alle Primzahlen, alle Nachkommastellen von Π, alle rechtwinkligen Dreicke usw. Manche sagen, Mathematik sei die einzige
Wissenschaft, die objektiv überprüfbare Aussagen über die Unendlichkeit machen kann. Das geht so weit, dass der Mathematiker
Hermann Weyl (1885-1955) die Mathematik »die Wissenschaft des
Unendlichen« genannt hat. Er sagt: Die Mathematiker erfinden
endliche sprachliche Konstrukte, mit denen sie Fragen beantworten
können, die wesenhaft unendlich sind. Das sei ihre »glory«.
∑ Das ist ein griechischer Buchstabe, das große Sigma. Es schreckt
manche ab. Aber seine Bedeutung ist simpel, und als Element der
mathematischen Sprache ist es ein geniales Instrument: Es erlaubt,
unendlich viele Zahlen auf einen Streich darzustellen. Unter dem
Sigma steht etwas: n = 0. Das bedeutet: Ich muss in dem folgenden
Ausdruck zunächst für n die Zahl 0 einsetzen. Wenn man das macht,
erhält man eine Zahl. Dann setzt man in den Ausdruck n =1 ein und
erhält wieder eine Zahl. Dann setzt man n = 2 ein, erhält wieder
eine Zahl. Und alle diese Zahlen werden zusammengezählt, also
summiert (daher Sigma!). Wie lange muss man das machen? Das
steht über dem Sigma-Zeichen: Unendlich. Das heißt: nie aufhören.
Nicht bei einer Billion, nicht bei einer Quadrillion, nicht bei einer
Quintilliarde. Nie.
! Das Zeichen für »Fakultät«. 3! heißt »Drei Fakultät«, n! daher
»n Fakultät«. Das ist eine Kurzschreibweise. 12! bedeutet: Multi-
pliziere alle natürlichen Zahlen von 12 bis 1, das heißt: 12! =
12·11·10·9·8·7·6·5·4·3·2·1. Was das ergibt, kann auch der billigste
Taschenrechner ausrechnen. (4n)! bedeutet: Berechne zunächst 4n
und wende darauf das Fakultätszeichen an. Für n erhält man daher
(4·3)! = 12! = 479.001.600.
Merkwürdige Zahlen Wie kommt jemand denn auf solche Zahlen
und überhaupt auf so eine Formel? Das fällt doch keinem normalen
Menschen ein! So ist es wohl. Diese Formel findet man nicht zufällig.
Auch nicht durch systematisches Probieren. »Man« findet diese
Formel überhaupt nicht. Sie ist der Gedankenblitz eines Mathematikers: Shrinivasa Ramanujan war mit den Zahlen auf du und
du. Er war Tag und Nacht auf der Suche nach ihren Geheimnissen.
Er suchte Eigenschaften von bestimmten Zahlen, Beziehungen
zwischen Zahlen und vieles mehr. Es wurde von ihm erzählt, er
sei mit den Zahlen befreundet. Und zwar nicht pauschal mit allen,
sondern mit jeder einzelnen. Er kannte die Eigenheiten, die Besonderheiten und die Schönheit jeder einzelnen Zahl. Außerdem war er
unglaublich empfänglich für Inspirationen. So fand er viele Formeln,
die Eigenschaften von Zahlen ausdrücken. Er war dermaßen genial,
dass er die Formeln einfach »sah«. Formale Beweise für ihre Richtigkeit waren ihm lästig, denn sie lenkten ihn nur von neuen Inspirationen ab.
n-1 Gesprochen: »hoch minus eins«. Das ist der Kehrwert. Zum
Beispiel ist 3-1 = 1/3 oder 10-1 = 0,1 oder (0,2)-1 = 5. In unserer
Π-Formel bedeutet das, dass man zunächst den Ausdruck in der
großen Klammer berechnet und dann den Kehrwert davon bestimmt.
Schrittweise Annäherung: Mit dieser Formel lässt sich der Wert von
Π annähernd bestimmen – mit beliebiger Genauigkeit. Mit jedem
Schritt werden weitere Stellen errechnet. Bei dieser Formel sind
es pro Schritt acht neue Stellen hinter dem Komma. Aber die Zahl
Π wird nie fertig dastehen. Auch wenn man noch so weit geht: Es
handelt sich immer nur um eine Approximation – allerdings eine,
die rasant besser wird.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.01.2002
In der Bretagne
Die französische Atlantikküste
eBook
Umfang: ca. 189 Seiten
Mit 14 Abbildungen
April 2013
ISBN (ePub): 978-3-89843-261-0
ISBN (PDF): 978-3-89843-262-7
Preis: 9,99 €
Poullaouën: Der Kuhschwanz
auf dem Altar bringt Segen
Und die Gavotte schenkt Glück: Zum Tanzen in
die Bretagne
Von Elke Sturmhoebel
D
ie Dorfbewohner haben einander untergehakt. Hände fassen
Hände. Alles, was Beine hat in Poullaouën, ist zur Nacht der
Gavotte gekommen, denn jeder kann sie tanzen. Die Schrittfolge im
Viervierteltakt ist kinderleicht: 1-2-3 nach links, 1-2-3 nach vorn.
Kurz-kurz-lang, kurz-kurz-lang.
Das halbe Dorf tanzt wie in Trance. Die Menschen gehen
ganz im Rhythmus auf. Drei Schritte zur Seite, drei nach
vorn. Die »Poullaouënnaise« schmiedet die Dorfgemeinschaft
zusammen, die Gavotte verbindet. Auch für Fremde öffnet sich
die Kette. Man lächelt einander zu, spricht mit den Augen. Bei
der lauten Musik kommen Schwierigkeiten mit der Verständigung
gar nicht erst auf.
Ursprünglich tanzte die Landbevölkerung die Gavotte –
vornehmlich im Winter, um sich aufzuwärmen. Durch den Komponisten Jean-Baptiste Lully gelangte der Tanz in die Ballettmusik für
den Sonnenkönig und wurde Mode am Hofe Ludwig XIV. Getanzt
wurde in barocker Manier: paarweise und in Kolonnenaufstellung. Heute ist die Gavotte wieder ein Volkstanz und Oberbegriff
für mehrere Kreis- und Kettentänze im Kreiz Breizh, dem Inneren
der Bretagne. In Poullaouën, einem Dorf mit knapp anderthalbtausend Einwohnern mitten im grünen Hügelland, wird die Gavotte
montagne getanzt. Dort ist die »Nuit de la Gavotte« im September
die schönste Nacht des Jahres.
Die Musiker auf der Bühne wechseln alle halbe Stunde. Beim
»Kan ha Diskan« schmettern Gesangsduos unisono das Lied zur
Gavotte. Dann wieder liefern sich Klarinetten, auf Bretonisch »Treujenn Gaol« (Kohlstrunk), ein Gefecht und bringen die Tänzer auf
Trab. Und wenn Sonneurs mit Binioù und Bombarde loslegen, ist
an Gespräche im Saal überhaupt nicht mehr zu denken. Die durchdringende Schalmei führt die Melodie an und wird vom Binioù kozh,
einem Verwandten des schottischen Dudelsacks, begleitet.
Binioù und Bombarde gehören zu den wichtigsten Instrumenten
in der bretonischen Volksmusik. Auf einer traditionellen Hochzeit
spielen Sonneurs zum Tanz auf. Bei Prozessionen marschieren sie
voraus, damit auch das Ende des Festzugs noch etwas von der Musik
mitbekommt. In alter Zeit saßen die Sonneurs rittlings hoch oben
auf einem Cidrefass, und unten wurde getanzt, erzählt Yvon Le
Coant, der in dem kleinen Badeort Binic die Instrumente Binioù und
Bombarde in Handarbeit baut. Die Mundstücke der Bombarden, die
er aus verschiedenen Edelhölzern schnitzt, haben ein ganz besonderes Merkmal: Sie spiegeln die bauchige Fassform wider. Seit mehr
als dreißig Jahren beliefert Le Coant Musiker in ganz Europa. Lange
habe es gedauert, in die eingeschworenen Folk-Kreise einzudringen:
»C'était la galère.« Knochenarbeit war das.
Mit rund viertausend Konzerten und dreihundert Festivals im
Jahr ist die Bretagne eine Hochburg der Musik. Die Bandbreite
reicht vom »Festival Interceltique« in Lorient, das Hunderttausende anzieht, bis zum kleinen »Fest-noz«, dem Tanzvergnügen auf
dem Lande. Mehr als die Hälfte des Schallplattenangebots traditioneller französischer Musik wird heute in der Bretagne produziert.
In bretonischen Pipebands, den Bagadoù, spielen insgesamt etwa
achttausend Sonneurs. An jedem ersten September-Wochenende
seit nunmehr fünfzig Jahren wetteifern Musiker um das »Championnat des Sonneurs« in dem Weiler Gourin, die besten werden unter
Beteiligung des Publikums gekürt.
Vor fünfzig Jahren lag die Kultur brach in der Bretagne. Als
man in den vierziger Jahren versuchte, eine Blaskapelle nach schottischem Vorbild aufzubauen, meldeten sich in der ganzen Region
nicht mehr als fünfzehn Sonneurs. »Vor dem Krieg konnte man hier
nicht leben«, bekräftigt die Stadtführerin Eveline Gardon in Dinan.
Erdrückend sei die Armut gewesen, und oft reichte das Geld allenfalls für ein paar Pfannkuchen aus Buchweizenmehl.
Für rückständig und frömmelnd hielt man die Bretonen, die seltsame Heilige verehrten. »Les Ploucs« wurden sie im übrigen Frankreich genannt – eine Anspielung auf die Namen Tausender Dörfer,
die mit den Buchstaben »Pl« beginnen und damit auf die Pfarrei
verweisen. Noch bis 1951 war es den Schülern in der Bretagne bei
Strafe verboten, ihre Sprache zu sprechen. Es kann nicht verwundern, dass den Bretonen die Freude an der Musik verging. Erst Alan
Stivell, der bretonisch singende Barde mit der keltischen Harfe, gab
seinen Landsleuten ihre Identität zurück, als er im Jahre 1972 in
der Pariser Konzerthalle Olympia unter tosendem Beifall seinen
»keltischen Rock« präsentierte. Inzwischen ist die am weitesten im
Westen gelegene Region Frankreichs keine Last mehr, sondern Lust:
Ferienziel für Millionen.
Den ganzen Sommer über wird in der Bretagne musiziert und
getanzt. Bei einem Pardon zum Beispiel, dem Prozessionsfest zu
Ehren eines der angeblich 7777 Heiligen – die meisten von ihnen
wüsste wohl nicht einmal der Papst zu benennen. Der siebenundachtzig Jahre alte Jean-Maria Le Scraigne erinnert sich hingegen
noch genau, wie es war, wenn früher alle auf dem Vorplatz der
Kirche St.-Herbot die Gavotte tanzten, sobald sie die Büschel von
Kuhschwänzen auf den Altar gelegt hatten: Drei Schritte nach
links, drei nach vorn. Der Brauch, Schwanzhaare von Rindern zum
Weihen in die Kapelle zu bringen, wird in Plonévez-du-Faou immer
noch gepflegt, denn der heilige Herbot ist nach wie der Schutzpatron
des Viehs. Als er ein kleiner Junge war, sagt Monsieur Le Scraigne,
war die Zeremonie noch aufwendiger. Dreimal wurden damals die
Kühe und Ochsen um die Kirche getrieben.
In Poullaouën bereitet sich der Verein Dans Tro, Bretonisch
für Kreistanz, schon Wochen vorher auf die Nacht der Gavotte
vor. Am dritten September-Wochenende wird sich dort wieder für
einige Stunden alles Leben um die Volksmusik drehen. Am Freitagabend werden »Gwerzioù« vorgetragen. Die keltischen Balladen
handeln von Liebe, Treue, Tod und anderen Tragödien – den alten
Geschichten eben. Am Samstag finden Unterweisungen im Wech-
selgesang »Kan ha Diskan« statt, um das bretonische Liedgut einzuüben. Mancher Kursteilnehmer kommt aus Paris und sogar von noch
weiter her, um den Gavottegesang unter Anleitung einer Musikpädagogin zu erlernen. Die Texte der bis zu fünfzig Strophen langen
Lieder sind allgemein bekannt, doch Noten oder gar Partituren für
den »Kan ha Diskan« gibt es nicht.
Prominentes Gründungsmitglied des Vereins ist Erik Marchand.
Der Mittfünfziger wohnt in Poullaouën und ist einer der bekanntesten
und eigenwilligsten Interpreten des Gwerz-Gesangs. Als Sänger und
Klarinettist spielt er in mehreren Formationen zusammen mit Jazzund Rockmusikern, oft auch mit Instrumentalisten aus Rumänien.
Keltischer Folk sei die Basis seiner Kompositionen, sagt Marchand.
Die modale Musik habe viele Gemeinsamkeiten mit der arabischen
Musik aus Nordafrika, der Türkei oder Persien. Erik Marchand gilt als
experimentierfreudig. Die Volksmusik, die er meint, sei keine volkstümliche Musik, sondern ein Kulturgut, das sich weiterentwickelt.
Kein Sommerwochenende in der Bretagne, an dem nicht in
irgendeinem Weiler ein Fest-noz stattfinden würde. Die Gavotte
aber wird ausschließlich im »Argoat« getanzt, dem Hinterland
der Bretagne. Vom »Land der Wälder«, so lautet die Übersetzung
des Begriffs, ist allerdings nicht mehr viel übrig. Fast alle Bäume
wurden in früheren Zeiten für den Schiffbau abgeholzt. Geblieben
ist ein Landstrich mit Hügeln, hübschen Dörfern aus Schiefer und
Granit, und grünen Wiesen.
Auch in der Gemeinde Huelgoat steht der namensgebende Hochwald nicht mehr. Stattdessen liegen überall Felsen herum. Korrigans,
lustige Kobolde, tanzten des Nachts singend zwischen den Granit-
blöcken, sagt Jean-Maria Le Scraigne, der Besucher herumführt.
Wie die zum Teil haushohen Felsen hierherkamen, weiß niemand.
Vielleicht habe ein Riese auf der Durchreise das Durcheinander
angerichtet, nachdem ihm die Einheimischen nur Buchweizenpfannkuchen vorsetzten. Bevor er nach Irland übersetzte, soll er wütend
Steine aus dem Finistère nach Huelgoat geworfen haben. Vielleicht
sei hier in Urzeiten aber auch das Meer gewesen, und davon seien
nur die Felsen übrig.
Sicher indes ist: Nirgendwo im Argoat ist Armor weit entfernt.
»Armor«, das Land des Meers, ist das Département Côtes d'Armor.
An der dreihundertfünfzig Kilometer langen Küste am Ärmelkanal
reihen sich hübsche Seebäder und familienfreundliche Badeorte aneinander. In Paimpol machen Plakate auf das Festival du Chant de Marin
im August aufmerksam. Alle zwei Jahre werden dort Seemannslieder gesungen. Die klagenden Schreie der Möwen am Hafen tönen
wie Bombarden. Diese Klänge vernehmen Spaziergänger auf dem
Küstenwanderweg GR 34 ständig. Der einstige Zöllnerpfad – im siebzehnten Jahrhundert eingerichtet, um den Schmuggel aus England zu
unterbinden – säumt die gesamte Bretagne.
In Ploumanac'h sonnen sich junge Leute auf rundgeschliffenen
rosa Felsblöcken. Das Peitschen der Brandung klingt mitunter wie
das asthmatische Pfeifen des Dudelsacks. Das blaue Firmament
über der nur neun Kilometer langen Côte de granit rose sieht aus,
als tanzten wolkige Schäfchen auf der Himmelswiese.
Plouha liegt an der höchsten Steilküste der Bretagne. Die
Gemeinde markiert zugleich die Sprachgrenze, östlich davon wird
kein Bretonisch mehr gesprochen. In der Kapelle Kermaria-an-
Iskuit, direkt an der Straße D 21, bilden Papst, Kaiser, Wucherer,
Edelmann, Knappe, Bauer, Handwerker und viele andere eine
Menschenkette, die sich zu einem makabren Reigen schließt. Denn
auch ein Skelett mit hämischem Grinsen hat sich unter die siebenundvierzig Gestalten gemischt. Ungeachtet von Stand und Herkunft
zieht der Tod jeden in seinen Reigen, wollen die Fresken aus dem
späten fünfzehnten Jahrhundert sagen. Denn im Tanz sind alle gleich.
Reise-Tipps:
Tanz und Musik: Rencontres Internationales de Harpe Celtique,
immer im Juli in Dinan; Festival du Chant de Marin, im August in
Paimpol; Festival Interceltique, im August in Lorient; Nuit de la
Gavotte, im September in Poullaouën.
Informationen im Internet: www.rendezvousenfrance.com,
www.bretagnereisen.de, www.urlaub-bretagne.net.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2007
Dänemark von Belt
bis Sund
Reiselesebuch Dänemark
eBook
Umfang: ca. 175 Seiten.
Mit 30 Abbildungen
Juni 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-298-6
ISBN PDF: 978-3-89843-297-9
Preis: 9,99 €
Forellenfischen auf Fünen: Ein
Plan B fürs Abendessen
Meerforellen zu fischen ist nicht leicht. Zwar
kümmert man sich rund um Fünen gut um
Bestand und Lebensraum, doch die sensiblen
Tiere beißen nicht bei jedem an.
Von Elke Sturmhoebel
Z
uckt da was? – Nein, wieder nichts! Anstatt einer prächtigen Meerforelle baumelt nur ein Bündel Seegras am
Haken. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn das Anfängerglück die alte Anglerregel – »Tausendmal werfen, bis eine
anbeißt« – widerlegt hätte. Also weiter: Angel auswerfen, Bügel
umlegen, kurbeln. Der Füne Flemming Pedersen steht unterstützend zur Seite. »Du machst das richtig gut«, lobt der FishingGuide meine zielgenauen Weitwürfe. Fishing for compliments
ist aber nicht genug. Ein kapitaler Fisch sollte es schon sein.
Irgendwann wird doch von den fünfhunderttausend Meerforellen, die seit 2001 Jahr für Jahr ausgesetzt werden, mal eine
anbeißen.
Früh übt sich, wer Forellen fangen will. Fischernachwuchs in fünischer Marina. Foto:
Visitdenmark.dk
Fünen, die zweitgrößte Insel Dänemarks zwischen Jütland und
Seeland, zählt zu den besten Meerforellenrevieren Europas. Das
liegt nicht allein an dem Besatz mit Jungfischen aus hiesiger Brut
oder an den günstigen Strömungsbedingungen entlang der 1100
Kilometer langen Küste. Als besonders befruchtend erwies sich
das fünische Meerforellenprojekt, das entwickelt wurde, um den
Lebensraum der Fische zu verbessern. Seit 1990 werden Wasserläufe renaturiert und wieder passierbar gemacht. Denn wie auch die
Lachse wandern Meerforellen zum Laichen an den Ort ihrer Geburt
zurück. Fünfundzwanzig Flüsse und Bäche sind auf der Ostseeinsel inzwischen barrierefrei. Auf vierhundert Kilometern haben die
Salmoniden somit freie Bahn.
Für einen Angler ist eine Meerforelle das höchste Glück auf
Erden. Am besten gleich einen Kaventsmann von achtzig Zentimeter
Länge. Kein leichtes Unterfangen – die zum Fisch des Jahres 2013
gekürte Meerforelle hat einige Tricks auf Lager, sich dem Angler
zu entziehen. Das Geschöpf ist ausgesprochen sensibel und noch
dazu wetterfühlig. Salmo trutta trutta hat es gern wechselnd bewölkt
und liebt leichten auflandigen Wind. Schlägt das Wetter um, wird
sie depressiv und beißt schlecht. Es braucht den richtigen Köder,
um ihren Appetit anzuregen. Ob Blinker, Wobbler, Spinner oder
Fliege – das hängt eher vom Geschmack des Anglers ab. Hat eine
silberblanke Meerforelle endlich zugeschnappt, muss sie wenigstens
vierzig Zentimeter lang sein, sonst wird sie behutsam zurückgesetzt.
Wir stehen in der Wathose bis zu den Knien im Wasser und
werfen unentwegt die Leine aus. Ich habe mich für einen kupferfarbenen Blinker entschieden, zum Anbeißen schön. Sobald der
Köder das Wasser berührt, muss er sofort wieder eingeholt werden,
denn die Meerforelle schwimmt dicht unter der Wasseroberfläche.
»Nicht zu schnell kurbeln«, mahnt Flemming. »Hektik verscheucht
die Fische.« Einzig Hornhechte jagten gern der Nahrung hinterher.
Langsam merke ich die ungewohnte Betätigung in den Schultern. »Kurbeln und werfen Sie nicht bis zum Bandscheibenvorfall«, war im Angelführer Fünen zu lesen. Für gute Tipps ist man ja
immer dankbar. Ewig kann man ohnehin nicht auf der Stelle stehen.
Trotz Wathose kriecht die Kälte langsam hoch. Da muss man sich
bewegen und sein Glück ein Stück weiter versuchen.
Leichter Wind kräuselt das Meer. Fischreiher fliegen über die
Bucht. Kormorane hocken auf Pfählen im Wasser und breiten die
Flügel aus. Schweinswale habe er noch nicht ausblasen sehen, sagt
Flemming und runzelt die Stirn. »Sie treiben sich hier rum, wenn
es etwas zu fressen gibt«, erklärt er. Die Meerforellen würden dann
in den ufernahen Leopardengrund hechten. Zwischen Sand, Steinen,
Seegras und Blasentang fühlten sie sich gut getarnt. Also: Keine
Schweinswale, keine Meerforellen. Ergo: Hier können wir lange
warten.
»Nicht alles, was stinkt, ist tot. Manchmal ist es nur ein Angler«,
wird gern gescherzt. Inzwischen ist Angeln in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nach Fußball und Tennis liegt Angeln auf
Platz drei der Vereinssportarten. Mehr als dreieinhalb Millionen
aktive Angler allein in Deutschland sind ein Wirtschaftsfaktor. Mit
Ausrüstung und Outfit lässt sich gut Geld verdienen. Eine einfache
Ausstattung kostet wenigstens dreihundert Euro., aber man könnte
ebenso das Zehnfache ausgeben. Für die modebewusste Dame sind
sogar Angelruten in Pink und Lavendel im Angebot. In den Frauen
steckt ohnehin Potential, nur knapp 18 Prozent der angelbegeisterten
Deutschen sind weiblich.
Dem großen Heer an Petrijüngern hat sich auch der Ferienhausanbieter Novasol zugewendet. Insgesamt 2.700 Fishing-Häuser
in Deutschland, Skandinavien, Österreich, Polen und Ungarn, oft
mit Steg und eigenem Boot, stehen zur Auswahl. Allein in Däne-
mark sind mehr als neunhundert Urlaubsdomizile in Ufernähe
verzeichnet. Oft ausgestattet mit Filetierplatz, Trockenraum für
Angelzeug und Wathose sowie einer großen Gefriertruhe. Zudem
informiert der Katalog, welche Fische vor Ort wann beißen. Wo sie
beißen, steht dort allerdings nicht, das weiß aber gegebenenfalls
der Fishing-Guide. So einer wie Flemming Pedersen. Er hat Erfahrung, immerhin angelt er fünfzig bis hundert Meerforellen im Jahr.
Er holt sein Handy heraus und zeigt ein Foto von sich mit einem
prächtigen Burschen im Arm.
Schöner noch als Angeln, sagt Flemming, sei es, Meerforellen beim Laichgeschäft zu beobachten. Zu sehen, wie das Weibchen im braunen Laichkleid mit der Schwanzflosse eine Grube ins
Kiesbett gräbt, die Eier ablegt, die anschließend vom Männchen
besamt werden. Manchmal gibt das Männchen nicht acht, weil
er sich seiner Sache sicher fühlt. Daher passiere es, dass ihm ein
Bachforellenjüngling aus dem Hinterhalt dazwischenfunkt, erzählt
Flemming. So ein junger Spund, gerade geschlechtsreif, will ja
auch mal ran.
Die Schonzeit für Meerforellen auf dem Laichweg ist vom
16. November bis 15. Januar. Nach dem Abstieg ins Meer sind die
Fische abgekämpft und ausgehungert. Für Angler wären sie nun
leichte Beute. Doch wer will schon so ein Exemplar, das kaum
Fleisch auf den Gräten hat und auch kulinarisch kein Genuss
ist? Ende Februar, Anfang März, wenn sich die Meerforellen mit
Garnelen, Krebstieren, Insekten und kleinen Fischen aufgepäppelt haben, lohnt es sich wieder, die Rute auszuwerfen. Doch mit
dem Frühlingsvollmond ist erneut Schluss. Dann laichen nämlich
die Seeringelwürmer, schwimmen zu Abertausenden im freien
Wasser und den Meerforellen geradewegs ins Maul. Klar, dass
jeglicher Blinker verschmäht wird. Das große Fressen dauert aber
nur drei Tage. Danach beißen die Meerforellen wieder, bis es ihnen
im seichten Küstengewässer zu warm wird und sie weiter herausschwimmen.
Auch der Herbst ist eine gute Zeit. Jedoch haben sich schon bei
vielen Meerforellen die Flanken braun gefärbt. Sie werden dann
demnächst ihre Laichgründe ansteuern. Und wer würde schon eine
Meerforelle auf dem beschwerlichen Weg zur Hochzeit abfangen
wollen? Bleibt die Hoffnung auf einen flotten Grönländer am Haken,
der schon groß, für Sex aber noch zu jung ist. Oder einen Überspringer, der mit dem Laichen mal aussetzt – die Laune der Natur
sichert so das Überleben der Art.
Wir hatten bisher kein Glück. Flemming brauchte seinen
Kescher nicht hervorzuholen. Für den geplanten Grillabend
wollen wir noch mal unser Bestes geben und wünschen uns
gegenseitig »Knæk og Bræk« – etwa Knicken und Brechen,
dänisch für »Petri Heil!« Die Männer zeigen vollen Einsatz,
sie gehen bis zum Bauchnabel ins Wasser und nehmen in
Kauf, dass Dünungswellen in die Wathose schwappen. Dazu
sind wir Frauen bei aller Liebe nicht bereit und verdrücken
uns in seichtes Gewässer. Hat nichts genützt. Alle hatten mehr
oder weniger Fischkontakt, aber keinen am Haken. Fische
werden wir uns nun im Laden besorgen müssen, der hat allerdings schon zu. Bleiben für den Grill nur noch Koteletts aus
der Kühlung.
Fünische Forellen
Den staatlichen Angelschein für Küstenfischerei gibt es in Postämtern, Touristenbüros sowie im Internet unter www.fisketegn.dk. Die
Jahreskarte kostet 19 Euro, die Wochenkarte 13 Euro, die Tageskarte 5 Euro. Ein Fishing-Guide für vier Personen kostet etwa 335
Euro pro Tag. Für vier Stunden 200 Euro, für jede weitere Stunde
40 Euro.
Die »Seatrout open«, der Wettbewerb um die größte Meerforelle auf Fünen, findet jährlich im April und im Oktober statt:
www.go-fishing.dk.
Den Katalog mit Angler-Häusern gibt es bei Novasol-Fishing,
Gotenstraße 11, 20097 Hamburg, Telefon: 040/688715177. Das
gesamte Angebot findet sich auch unter www.novasol-fishing.de.
Alles Wissenswerte über Meerforellen steht im Internet auf
www.seatrout.dk (auch deutsch)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.2013
Alternative Heizanlagen
Renovieren,
aber richtig
Dossier (PDF)
Umfang: ca. 25 Seiten
Mit 2 Abbildungen
September 2014
ISBN: 978-3-89843-299-3
Preis: 4,99 €
Wir verstecken einen
Eisspeicher im Garten
Mitten im Sommer ans Heizen denken. Warum
nicht. Kalt wird es wieder schneller, als uns lieb
ist. Zudem lassen sich alte Anlagen jetzt ohne
Komfortverlust tauschen – und die eine oder andere
Heiztechnik schafft es, fast nebenbei, zu kühlen.
Von Georg Küffner
Ö
l, Gas, Strom, Holz oder Umweltwärme? Auf den ersten Blick
scheint die Suche nach dem »optimalen Brennstoff« und
damit indirekt auch der »ultimativ besten« Heiztechnik keine große
Herausforderung zu sein. Doch wer für ein neu zu bauendes Haus
oder sein in die Jahre gekommenes Eigenheim aus dem nicht gerade
kleinen Strauß angebotener Lösungen eine auswählen muss, erfährt
schnell, dass es Patentrezepte nicht gibt.
Die versprechen zwar gerne die zu Rate gezogenen, meist von
Interessen gelenkten »Experten«, doch wer sich in diese nicht ganz
einfache Materie einarbeitet, der merkt rasch, dass jede Immobilie
nach einem maßgeschneiderten Konzept verlangt.
So kann etwa der Bewohner eines nur schlecht wärmeisolierten
und nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand zu dämmenden
Hauses die Vorzüge der heute als Stand der Technik geltenden
Brennwerttechnik nur zum Teil ausschöpfen, ist er doch auf
vergleichsweise hohe Heizwasser-Vorlauftemperaturen angewiesen,
will er seine Wohnstube warm bekommen. Mit vergleichsweise
hohen Systemtemperaturen lässt sich jedoch der besagte Brennwerteffekt gar nicht erzielen – das Ausnutzen der mit den Rauchgasen
in den Schornstein strömenden Kondensatwärme. Denn will man
die »ernten«, darf das aus den Heizkörpern zurück zum Kessel fließende Heizwasser nicht wärmer als 55 Grad sein.
Für welche Heiztechnik soll man sich entscheiden? Wer sich
diese Frage stellt, sieht sich rasch mit einer unübersichtlichen
Gemengelage aus Vor- und Nachteilen konfrontiert, die aufzulösen
so manchen Bauherrn überfordert. Bevor man die falsche Entscheidung trifft, macht man lieber nichts. Nur so ist zu erklären, dass
in deutschen Heizungskellern jede Menge Oldtimer vor sich hin
arbeiten und deutlich mehr Öl und Gas schlucken, als dies neue
Anlagen tun würden. Erst wenn es gar nicht anders geht, entweder
der Vorordnungsgeber bestimmten Anlagetypen den Weiterbetrieb
versagt oder die Kessel schlicht den Geist aufgeben, wird investiert.
Ganz vorne in der Gunst der Kunden rangieren öl- und gasbetriebene Anlagen, sie haben aber den »Nachteil«, auf endliche
fossile Energieträger angewiesen zu sein – und »schädliches« CO2
auszustoßen. Dieses Manko umschifft, wer sich für das Heizen mit
Umweltwärme entscheidet. Doch auch hier liegen die Dinge deutlich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint, so werden
etwa die Kompressoren von Wärmepumpen mit Hilfe von elektrischem Strom angetrieben, so dass deren Umweltfreundlichkeit von
der Zusammensetzung des für die Stromerzeugung verantwortlichen
Kraftwerkparks – wie von der Leistungsfähigkeit (Wirkungsgrad)
der jeweiligen Anlage abhängt.
Und nicht jede Wärmepumpe arbeitet so ökologisch wie es in
den Prospekten der Hersteller mitunter recht pauschal angepriesen
wird. Bei Wärmepumpen – und das gilt vor allem für die Nachrüstung von Altimmobilien – ist für die Effektivität des Gesamtsystems das Zusammenspiel mit Radiatoren und Umwälzpumpe ganz
entscheidend. Wichtig ist, auf das Leistungsvermögen der anzuschaffenden Wärmepumpe zu achten. Denn wählt man hier eine
oder zwei Nummern zu klein, werden bei einigen Wärmepumpen an
kalten Tagen elektrische Widerstandsheizstäbe (Tauchsieder) zugeschaltet, deren Betrieb nur dann gestattet sein sollte, wenn sie mit
Ökostrom befeuert werden.
Und auch das ist wichtig: Für den Betrieb einer Wärmepumpe
müssen nicht zwangsläufig Löcher (Erdsonden) in den Boden
gebohrt werden, um an die hier im Erdreich gespeicherte Sonnenwärme heranzukommen. In den gemäßigten Zonen Deutschlands
(etwa dem Breisgau) erzielt man auch mit Luft-Wasser-Wärmepumpen gute Ergebnisse. Und für Bauherren, denen die Behörden
aus Grundwasserschutzgründen das Bohren von Erdsondenlöchern
untersagen, ist der sogenannte Eisspeicher eine interessante Option:
Wie bei klassischen Wärmespeichern, die auf eine effektive
(Wärme-)Isolierung angewiesen sind, übernimmt der ungedämmte,
einer klassischen Wasserzisterne ähnliche Eisspeicher die Aufgabe,
die mit Hilfe von Solar-Kollektoren eingefangene Sonnenwärme
zu speichern. Die Temperatur des Speicherwassers übersteigt, da
der unter der Grasnarbe des Vorgartens zu versteckende Tank nicht
isoliert ist, kaum die 20-Grad-Grenze. Muss sie auch nicht, denn
das Prinzip des Eisspeichers setzt auf die Kristallisationswärme, die
beim Phasenübergang von flüssig zu fest anfällt.
Davon fällt reichlich an. Denn die freigesetzte Erstarrungswärme, wie dieser Zustandswechsel auch genannt wird, entspricht
der Energiemenge, die man benötigt, um Wasser von null auf 80
Grad zu erhitzen. Oder anders ausgedrückt: Um 0,126 Kubikmeter
Eis von null Grad in gleich kaltes Wasser umzuwandeln, ist eine
Energiemenge erforderlich, die einem Liter Heizöl entspricht.
Den im Garten sieht man nicht: Der Eisspeicher verschwindet unter die Erde.
Zusammengefasst bedeutet das, meist gegen Ende der Heizperiode
hat die Wärmepumpe so viel Wärme aus dem Speicher geholt, dass
der beginnt durchzufrieren. Erst wenn dieser Prozess abgeschlossen
ist, muss entweder nach dem Tauchsiederprinzip elektrisch zugeheizt werden – oder man nimmt eine kleine Gastherme in Betrieb,
die man als Leistungsreserve vorhält. Ein weiterer Vorteil dieses
Systems: Im späten Frühjahr und Sommer kann der Eisspeicher zum
Kühlen der Wohnstube genutzt werden. Dazu wird nicht Heizwasser,
sondern gekühltes Eiswasser durch das Rohrsystem der Fußbodenheizung geschickt.
Innovativ, aber noch keineswegs etabliert – zumindest für den
Einsatz im Ein- und Zweifamilienhaus – sind Mikro-Heizkraftwerke.
In Industrie und bei Stadtwerken hat sich die auch als Kraft-WärmeKopplung bekannte Technik seit langem bewährt. Im Leistungsbereich von wenigen kW ist man jedoch über erste Achtungserfolge
nicht hinausgekommen. Zwar bieten mehrere Hersteller die meist
von (außen befeuerten) Stirlingmotoren angetriebenen Generatoren – die Abwärme nutzt man zum Heizen – an, doch eine ernst
zu nehmende Konkurrenz zur etablierten Heiztechnik ist hier noch
nicht entstanden. Das kann sich ändern, wie auch BrennstoffzellenHeizungen ganz langsam in den Markt drängen. Der Grund: Mit
beiden Techniken, dem Mikro-BHKW als auch der Brennstoffzellen-Heizung kann man seinen Strom selbst erzeugen und sich
damit vom Strommarkt mit tendenziell weiter steigenden Preisen
abkoppeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.7.2014
Auf den finnischen
Schären
Reiselesebuch Ostsee
eBook
ca. 300 Seiten
Mit 30 Abbildungen und zahlreichen Reisetipps.
Mai 2012
ISBN (ePub): 978-3-89843-165-1
ISBN (PDF): 978-3-89843-160-6
Preis: 14,99 €
Anstrengend sind nicht nur
die Mücken
Die finnischen Schäreninseln kann man
mit dem Boot erkunden, aber auch mit dem
Fahrrad. Dann zeigt sich das Inselreich
von seiner romantischen Seite. Doch dafür
braucht es kräftige Waden.
Von Matthias Hannemann
D
ie Dämmerung brach herein und Lauri nahm die Beine von
den Pedalen. Er postierte sein Rad am Waldrand. Auch
diejenigen stoppten, die hinter ihm fuhren, und legten die Räder
ins Gras. Ein Elch, dachten sie. Und an den Schnaps, den sie
eben noch getrunken hatten, zum Abschluss der ersten Etappe.
Also folgten sie Lauri auch jetzt, stumm ins Gebüsch sich schlagend, einen Hügel hinauf, bis Lauri wieder stehenblieb. Und
triumphierte. Denn das hier war größer, bedeutender als jeder
Elch. Es war der Beweis dafür, dass unsere Radtour von Turku
in die Schärenwelt sich irgendwie natürlich in Finnlands Traditionen einfügte: Vor uns lag ein Stück Fels, vor Jahrtausenden zu
einer ebenen Scheibe geklopft und von Menschenhand so kreisförmig mit Steinen belegt, dass alle Skeptiker verstummen müssen,
die geglaubt hatten, man habe hier dem Rad nicht schon immer
gehuldigt. »Dreiundzwanzig«, sagte Lauri, unser Fahrradscout
aus Turku, »hier in den Schären liegen dreiundzwanzig solche
Kreisformationen, die aussehen wie ein großes Rad.« Und kletterte wieder zu seinem Rad hinunter, trotzig fast, um die letzten
Meter bis zur Pension in Nagu vorwegzurollen. Dort machte er
sein Fahrrad vor den Holzwänden fest und verschwand in einem
der kargen Zimmer, die nach Orten benannt sind wie die Insel
»Bengtskär«, auf der sich der schönste aller Leuchttürme der
Ostsee findet.
Niemand sollte den Finnen vorwerfen können, ihre Liebe zum
Rad sei noch recht jung und die Wurzeln dieser Liebe unergründlich. Hatten wir vielleicht allzu kritisch geschaut, als uns Lauri in
Turku auf den Weg brachte? Dann tut es uns leid. Denn die Küste
vor Turku ist ein wirklich schönes Fahrradgebiet. Die kargen kleinen
und dichtbewaldeten größeren Inseln nahe der Åland-Inseln sind so
zersplittert, als habe der russische Bär beim Aufräumen ein großes
Stück Natur zertrümmert und die hübschen Scherben, um Platz zu
schaffen, einfach in die Fahrrinne zwischen Finnland und Schweden
gekehrt.
Auf den Åland-Inseln gibt es wundervolle Wanderwege entlang der Küsten. Hier ein Picknickplatz in der Nähe von Mariehamn auf Fasta Åland. Foto: © Hans Peter Trötscher
Ohne eigenes Segelboot freilich, ohne einen Einheimischen, der die
Badefelsen am Wasser kennt, ist dieses Schärenpuzzle aus zwanzigtausend Teilen kaum zu erfassen. Den Sommersitz der finnischen
Präsidenten ausgenommen, die seit je im Schutze der Inseln ihre
Rosen züchten und das Wasser genießen, war der Südwesten des
Landes über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten. Bis der Zusammenbruch der Sowjetunion auch die finnische Wirtschaft mit sich
riss, tat sich die Bevölkerung schwer damit, sich für den Tourismus
im eigenen Land zu erwärmen und von schwedischen Verhältnissen
zu träumen.
Denn so idyllisch sich Turku mit seiner Burg, seiner Universität, seinen Ausschankbooten am Fluss und der nahe gelegenen
Ostsee auch ausnehmen mag: Die großen Seen Kareliens, die Stillleben mit Kanu und Birkenhain, die das Finnland-Bild im Ausland
prägen, treffen für die Regionen an der Südwestspitze des Landes
nicht zu. Und meist ist es wohl auch so, dass man an Schweden und
nicht Finnland denkt, wenn von der schönen Schärenlandschaft
Skandinaviens die Rede ist.
Erst vor zehn Jahren wurde die Idee geboren, in der
mit Dämmen, Brücken und Fähren vernetzten Inselwelt einen
Radrundweg auszuweisen. Eine Tour entlang des »Schärenringwegs« hat es in sich, nicht nur weil reine Fahrradwege in vielen
Abschnitten fehlen. Auch topographisch ist die Strecke nicht zu
unterschätzen, denn die Inseln der Schärenlandschaft sind nicht
flach, sondern kleinere und größere Hügel. Das Radfahren ist eine
ewige Kurbelei leicht bergan, an blühenden Feldern und Wäldern
vorbei, mit kunstvoll betonierten Brücken über dem Meer als
Höhepunkt. Zwar hat Lauri, der Erfinder des Ganzen, natürlich
recht, wenn er im Davonschnurren ruft: »Nicht aufgeben, auf jeden
Anstieg folgt eine Abfahrt.« Auf viele der Abfahrten folgt sogar
eine kurze Fährfahrt mit den kostenpflichtigen weißen oder kostenlosen gelben Fähren. Ihre Abfahrtszeiten sind die größte Herausforderung der Streckenplanung.
Das Radfahren geht in die Beine – zumal dann, wenn man
Tourenradkönigen wie Lauri ausgeliefert ist. Selbst die gemütlichen Stunden in Höfen, die über Lesezimmer, Bewirtung und
Weinkeller verfügen, beklagte er wie sonst nur Landsmann Kimi
Räikkönen einen Boxenstopp. Auf der Tagesetappe von Nagu
in die Gegend um Velkuaa trieb er uns erst in eine Kirche aus
Feldstein, in der einst die älteste Orgel Finnlands, das NaguPositiv, gefunden und nach Helsinki verfrachtet wurde, dann in
das Museum eines Modellbaumeisters, der aus Föhre, Weide und
Nussbaumholz Hunderte Schärenschiffe schnitzte und ein ebenso
einsamer wie penibler Träumer gewesen sein muss. Schließlich
schob er, hundert Meter abseits des Asphalts, sein Fahrrad zu
einem Turm hinauf, von dem aus tapfere Frauen, genannt »Lottas«,
während des Krieges den Himmel bewacht haben. Am Horizont
waren eine stumme Passagierfähre und weiße Segel zu sehen, in
Richtung Turku die Portalkräne der großen Werften, in denen die
Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg U-Boote bauen ließen und
so die Bestimmungen des Versailler Vertrags heimlich umgingen.
Bei alledem warf uns Lauri auch noch, ohne die Geschwindigkeit
zu verringern, Geschichten zu. Jene etwa über den Polarforscher
Salomon André, der im Herbst 1893 in Stockholm an einem Heiß-
luftballon-Wettbewerb teilnahm und bis in die Schären abtrieb.
Oder jene über einen Mann, der den umgekehrten Weg nahm, teils
zu Fuß und teils per Schiff. »Lenin?«, keuchte ein Herr mittleren
Alters aus unserer Gruppe. »Hat Lauri gerade gesagt, dass Lenin
von hier aus über die Ostsee floh?« Prompt sprang ihm die Fahrradkette ab.
Doch Lauri, gesegnet mit dem lexikographischen Gedächtnis
eines Dolmetschers und durchtrainierten Beinen, war nicht zu
stoppen. Schon fuhr er wieder vorn, im Peloton, mit einem fröhlichen Lied in fließendem Deutsch auf den Lippen: »Jetzt fahrn wir
übern See, übern See, jetzt fahrn wir übern See«. Nicht einmal die
boshaftesten finnischen Mücken konnten ihm etwas anhaben, weil
er eine Finnenrüstung trug, um die wir ihn sehr beneideten: lange
Ärmel, lange Hosen und zentimeterdicke Socken. »Der Fahrtwind
hilft«, sagte er, »und wenn Sie Glück haben, suchen sich die Biester
den weniger bekleideten Nachbarn als Opfer aus.« Lauri, das war
ein Mann im Glück.
Unsere Fahrräder aber schienen immer schwerer zu werden.
Spätestens seit sie von der bunten Fähre herabgerollt waren,
begannen wir zu ahnen, dass es auch bei einer Radtour am Meer
mit einigen munteren Pedalumdrehungen nicht getan ist. Der Wald.
Die See. Ein Holzhaus mit Forke. So ging das stundenlang. Erst die
Fischersiedlung »Herrankukkaro« bei Rymättylä, ein kleiner Ort,
der als Gäste vorzugsweise gestresste Mitarbeiter ideenloser Kreativabteilungen anzieht, bot sich uns die Gelegenheit, die Räder für
eine Viertelstunde an einen Holzstoß zu lehnen, durchzuschnaufen
und erschöpft, wie wir waren, an unseren Waden zu kratzen.
Lange ausruhen konnten wir nicht, denn schon stand dieser
Mann mit stämmigem Körper und Bart vor uns: Pentti-Oskari
Kangas, ein Saunabetreiber, Mitglied einer Band, die, wenn wir
es richtig verstanden, unter dem Namen »Die sieben wahnwitzigen Brüder« für ein denkwürdiges Kapitel der Musikgeschichte
Finnlands verantwortlich sein soll. Wir hielten ihn für ein finnisches Gesamtkunstwerk. Doch obwohl er wortkarg blieb und
den schwärzesten aller Kaffees nördlich von Istanbul serviert:
Irgendwie wollte sich Kangas nicht in unser Finnland-Bild fügen.
Er war nüchtern. Er trug ein Hawaiihemd. In seinem Gesicht lag,
als er auf dem Steg im Schilf stand und die Arme verschränkte, ein
Hauch von Zufriedenheit, so als habe das Easy Going hier unten
im Südwesten Finnlands sein Versteck. »Herrankukkaro«, sagte
er mit einer so brunnentiefen Stimme, dass die R nur so knarrten,
und breitete die Arme aus. Ehrfürchtig folgten wir ihm auf einen
der schmalen Pfade, die sich überall auf dem Anwesen zwischen
Bäumen, Sträuchern und Saunahütten entlangschlängeln. Ganz so,
als seien diejenigen, die hier in Gruppen übernachten und badend
und schwitzend konferieren, im Grunde ihres Herzens unterwegs
zu einem Verschlag, wie man ihn sich zuletzt als Kind im Wald
baute. Im Vorbeigehen bewunderten wir an den Wänden der Holzhütten Schneeschuhe und allerlei rostige Öllampen, am Wasser die
vielen Angelruten, Körbe und Netze. Eine der Saunen biete bis
zu einhundertzwanzig Menschen Platz und sei eine der größten
der Welt, sagte Kangas stolz. Gelegentlich, zumal bei vorwiegend
weiblicher Kundschaft, sei sie der Ort, an dem er gemeinsam mit
anderen bekannten Jazzmusikern noch einmal seiner Karriere als
Musiker nachhänge und Konzerte gebe. Wenn man den bewaldeten
Hügel des Anwesens hinaufgeht, ein steiler Weg, der per Fahrrad
nicht zu bewältigen ist, steht dort nicht nur ein Hochsitz, umgebaut
zum zweigeschossigen Abort mit Blick über die Hütten und Lagerfeuer auf das Wasser, sondern auch ein Baumhaus in Vogelhäuschenform. In seinem Inneren lässt sich die Nacht auf einem luxuriösen Gesundheitsbett erleben, samt drahtloser Internetanbindung,
wie überall in der Fischersiedlung. Hübsch anzusehen ist Herrankukkaro, eine Ansammlung finnischer Klischees, vermischt mit
einem Hauch von Nostalgie.
Wahrscheinlich hat die Siedlung ihre verträumte Aufmachung schlicht dem unternehmerischen Kalkül von Pentti-Oskari
Kangas zu verdanken, der auch Kapitän eines eigenen Schärendampfers aus den dreißiger Jahren ist. Es zeugt aber auch davon,
dass Finnland, das heute Gummistiefel und morgen Mobiltelefone produziert, wie das Unternehmen Nokia es vormacht, sich
eben anzupassen versteht – an die spezifischen Bedürfnisse der
jeweiligen Zeit.
Unsere Bedürfnisse erkannte Kangas zugleich. Er wühlte, kaum
dass er uns beim Wadenkratzen erwischt hatte, mit einem Mal in
seinen Hosentaschen und kramte ein aus Holz gebautes Vogelhaus hervor: ein winziges, kaum daumengroßes Vogelhaus mit
Giebel, Loch und kleiner Stange, das in seiner Handfläche fast zu
verschwinden drohte und doch so gut zu diesem holzverschlagenen
Ort passte. »Wissen Sie was, Sie nehmen es einfach mit«, sagte
Kangas und steckte das Häuschen in eine unserer Satteltaschen.
»Wenn jetzt der Sommer kommt«, fügte er dann hinzu, »wird das
Haus Ihnen helfen. Wir haben es für die Mücken gebaut, die hier
manchmal allgegenwärtig sind.« Wir bedankten uns artig, prüften
noch einmal den Luftdruck der Reifen und klappen die Ständer hoch.
Ein Mückenhaus? In Finnland ist es manchmal besser, keine schwierigen Fragen zu stellen und einfach zu schweigen.
Wie eine Mahnung lag das Mückenhaus im Gepäck, wie eine
Warnung, vor der nächsten Fahrradtour durch die finnische Schären
nur ja das Mückenspray nicht zu vergessen und keinem Finnen mehr
zu glauben, was er erzählt. Denn am Ende zählte jeder von uns mehr
als dreiundzwanzig Mückenstiche an jeder Wade, und je stärker wir
kratzten, umso schwerer fiel es uns, der Botschaft des Mückenhäuschens mit einer Mischung aus Romantik, Sturheit und Humor zu
begegnen – so wie es die Finnen können.
Reiseinfos:
Radtour im Schärenreich
Organisierte Fahrradtouren entlang des Schärenringwegs bietet
der Reiseveranstalter Turku Touring an: Turku Touring, Aurakatu 4,
20100 Turku, Telefon: 0 03 58/22 62/74 44, Fax: 0 03 58/22 62/76 79,
im Internet: www.turkutouring.fi, E-Mail: turku.touring@turku.fi.
Übernachtungen: Ferienhäuser und Pensionen auf den Schären
können im Internet unter www.archipelagobooking.fi gebucht
werden, Übernachtungen im Fischerdörfchen Herrankukkaro auf
der Website www.herrankukkaro.fi.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2008
Karl und Europa:
Wirkung bis in die
Gegenwart
Karl der Große
eBook
Umfang: ca. 215 Seiten
Mit 17 Abbildungen
Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung
August 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-288-7
ISBN PDF: 978-3-89843-287-0
Preis: 7,99 €
Der Mann, der Europa
aufräumte
Es ist »Karlsjahr«: Überall erinnern
Ausstellungen an den Frankenkaiser. Aber
haben wir nichts Besseres zu tun? Was verbindet
uns mit einem Mann, der vor 1200 Jahren starb?
Von Andreas Kilb
J
etzt feiern sie wieder. Ein »Karlsjahr« ist ausgerufen, nach
dem Schillerjahr, dem Kleistjahr, dem Friedrich-der-GroßeJahr, und der Kulturbetrieb eilt zu den Fahnen. Die Beiräte
haben getagt, die Kuratoren gesammelt, die Minister ihre Einladungen erhalten, und jetzt regnet es Karls-Ausstellungen: in
Aachen, der alten Kaiserstadt, in der auch der unvermeidliche
Karlspreis verliehen wird – in diesem Jahr bekommt ihn Ex-EURatspräsident Van Rompuy –, geht es vom Rathaus (»Orte der
Macht«) über das neue »Centre Charlemagne« (»Karls Kunst«)
bis zur Domschatzkammer (»Verlorene Schätze«); dazu gibt es
noch mal drei Museums-Events im rheinischen Pfalzstädtchen
Ingelheim, unter den Stichworten »Prachtort«, »Pfalzansichten«
und »Personenkult« und natürlich mit »Originalfunden aus der
Karolingerzeit«.
Das Deutsche Historische Museum in Berlin, dessen KarlsAusstellungsprojekt irgendwann im Planungsstadium erstickt ist,
präsentiert Ende Februar einen von den Kuratoren ersatzweise
zusammengepuzzelten Essayband namens »Kaiser und Kalifen.
Karl der Große und die Mächte am Mittelmeer um 800«, und in
Zürich geht am kommenden Sonntag die Themenschau »Karl der
Große und die Schweiz« zu Ende. Dafür wird in Graubünden weitergefeiert, wo im Kloster Müstair ein dem heiligen Karl gewidmetes
Chorwerk aufgeführt und in einer Freilichtinszenierung am Ufer
des Silvaplanersees seiner wagemutigen Überquerung des Umbrailpasses im Winter 774 gedacht werden soll. Eine Sonderausstellung
über die Geburt des Schweizer Käses aus dem Geist der karolingischen Reformpolitik wurde in letzter Minute abgesagt.
Was soll das alles? Brauchen wir das? Müssen wir uns an Karl
den Großen erinnern, nur weil er am 28. Januar vor zwölfhundert Jahren im damals biblischen Alter von sechsundsechzig starb?
Haben wir nichts Besseres zu tun, als bei »Europa« immer noch an
die Karolinger zu denken, diese Sippe von Schlächtern und Ehebrechern, die sich aus der Hefe des nachrömischen Landadels zu Herrschern des Frankenreichs aufschwang, die alten Merowingerkönige
ins Kloster schickte und irgendwann nach 900, von Auszehrung und
Familienhader gebeutelt, ruhmlos erlosch? Was haben wir mit Karl
am Hut, wenn uns schon Bismarck und der Alte Fritz mittlerweile
wie versteinerte Großechsen eines vordigitalen, unmotorisierten,
präkambrischen Erdzeitalters erscheinen?
Fangen wir mit dem Einfachsten an. Wir, hier im Westen, leben
seit Jahrhunderten (und nicht erst seit Anbruch der Moderne) in
Groß- und Kleinstädten, die von Stadträten (und nicht von Agas,
Muftis, Mandarinen, Emiren, Metropoliten) regiert werden und
durch Handelswege verbunden sind; Kirche und Rathaus liegen
darin weit auseinander. So wie auf dem ganzen Kontinent: hier die
christliche Hauptstadt Rom, dort die Metropolen der Staaten. Hier
Kaiser (Kanzler, Premier, Präsident), da Papst. Unser Wissen wird
in Bibliotheken und Archiven aufbewahrt, deren älteste auf die
Klöster des Mittelalters zurückgehen; unsere Bildung, wenn auch
im Verblassen, reicht bis in die griechisch-römische Antike zurück.
Unsere Vorstellungen von Politik, Gesellschaft, res publica stammen
aus dem römischen Staatsrecht, das von fleißigen Mönchshänden
abgeschrieben und vor dem Verschwinden bewahrt wurde.
Und nun schauen wir in die Mitte des achten Jahrhunderts
nach Christus. Das Imperium der Römer ist verschwunden, an
seiner Stelle breiten sich im Westen das fränkische und im
Osten das verkleinerte byzantinische Reich aus. Dazwischen
eine Menge Wildwuchs: Baiern (sic!), Thüringer, Langobarden,
Awaren, Bulgaren. Der Norden, Skandinavien und Russland, ist
heidnisch, der ganze Süden, von den Pyrenäen bis zum Indischen
Ozean, mohammedanisch. In der Zone dazwischen, die noch nicht
»Europa« heißt, ist das antike Wissen teils erstarrt (Byzanz), teils
vergessen. Nördlich der Alpen sind die Städte verschwunden oder
auf die Größe von Kastellen geschrumpft. Könige können nicht
lesen. Priester verstehen das Vaterunser nicht, das sie beten. Irische
Mönche gründen Einsiedeleien in römischen Ruinen. Die Schrift-
kultur erlischt fast völlig, es gibt so wenige Dokumente, dass spätere
Amateurhistoriker, an Papierquellen gewöhnt, die ganze Epoche für
gefälscht und erfunden halten. Nacht herrscht im Abendland.
Kindkönig des Westens
In diese Welt wird Karl, ältester Sohn des fränkischen Hausmeiers
Pippin, im April 747 oder 748 hineingeboren. Pippin ist Alleinherrscher in Frankien, aber ihm fehlt die Königswürde. Und nun erlebt
der siebenjährige Karl etwas, das zuvor undenkbar schien: Der Papst
persönlich, Stephan II., kommt zu Pippin und salbt ihn und seine
Söhne zu Königen. Stephan braucht Hilfe gegen die Langobarden,
die Rom bedrohen. Er ernennt Pippin zum Schutzherrn der Römer.
Und Pippin zieht nach Italien und treibt die Langobarden zurück.
Die fränkisch-römische Connection ist etabliert. Das Abendland
aber hat einen neuen Anführer: Karl.
Denn das historisch Entscheidende und Folgenreiche an der Papstreise nach Reims im Jahr 754 ist nicht, dass sie Pippins Machtstellung
legitimiert. Sondern dass sie Karl, seinen Erben, zum Auserwählten
macht. Er ist der erste Kindkönig des Westens, der vom Stellvertreter
Christi gesalbt wird. Viele werden ihm folgen; aber er erkennt als Erster,
was die Geste des Papstes bedeutet: ein neues Reich.
In Konstantinopel liegt zur selben Zeit der ikonoklastische
Kaiser Konstantin V., den die siegreichen Bilderfreunde später in
ihren Chroniken als »Kopronymos«, »Drecksname«, schmähen
werden, im Clinch mit seinem Klerus. Ein Putschversuch scheitert.
Konstantins Ikonoklasmus verschärft sich. Als er stirbt, hinterlässt
er einen kränkelnden Sohn. Dessen Frau Irene ist Bilderverehrerin.
Nach dem Tod ihres Gatten übernimmt sie die Macht. Jetzt schlägt
das Pendel zurück, der Götzendienst an den Ikonen wird Staatsprogramm. 796 lässt Irene ihren Sohn und Mitherrscher Konstantin
blenden und regiert allein. Nicht nur der Papst, dem der übersteigerte Bilderkult suspekt ist, blickt jetzt misstrauisch nach Byzanz.
Eine Frau an der Spitze des Reiches ist in römischer Tradition
undenkbar. Die Ordnung der Christenheit wankt. Das Imperium
braucht einen neuen Beschützer.
Es ist die Konstellation, in der Karl die Herrschaft im Frankenreich
antritt und ausbaut. Zunächst folgt er der klassischen Hausmachtstrategie seiner Vorgänger: Kriegszüge gegen Mauren (wo er sich vor Saragossa eine blutige Nase holt), Sachsen und Slawen. Aber dann regelt
er die italienischen Angelegenheiten – endgültig. 774 wird der letzte
Langobardenkönig Desiderius ins Kloster geschickt, Papst Hadrian
bestätigt die Übertragung von dessen Krone an die Franken. Jetzt fehlt
nur noch die dritte und letzte Stufe der Reichsgründung, die Kaiserkrönung in Rom am Weihnachtstag des Jahres 800.
Das alles kann man, sauber nach Themenkreisen sortiert, bei
Johannes Fried nachlesen, in einer bei C. H. Beck verlegten Monographie, die sich auf gut 600 Textseiten erfolgreich bemüht, nicht
allzu professoral zu wirken (auch wenn ein Satz wie der über die
»erfrischende Sinnlichkeit« Karls dann doch genau so altbacken
klingt, wie er nicht klingen soll). Vor allem aber kann man bei Fried
lesen, wie Karl auf seinen zunächst langsamen, dann aber, nach dem
frühen Tod seines Bruders Karlmann, rasanten und unaufhaltsamen
Machtzuwachs reagierte. Nämlich wie ein allmächtiger, alles verstehender, allseitig interessierter Bürokrat.
Denn Karl will aufräumen in der Welt, die ihm gehorcht. Kaum hat
er seinen Hofstaat in Aachen etabliert, fängt er an, alles zu vereinheitlichen, die Sprache, die Bildung, den Kalender, die Verwaltung
seiner Hausgüter, die Steuern, die Militärdienste. Aus England,
Italien, Nordspanien lässt er Gelehrte nach Aachen kommen, fördert
ihren Wettstreit, belohnt sie mit Pfründen. In den Schriften seines
Lehrers Alkuin tritt er selbst als Schüler auf, stellt unbedarfte Fragen,
lässt sich sophistisch aufs Glatteis führen, staunt über die Möglichkeiten der Dialektik.
Kaiser ohne Hauptstadt
Zugleich wird er, wenn es ans Eingemachte geht wie bei Kriegsführung und Glaubensbekenntnis, zum Tyrannen, erteilt Befehle,
verteilt Strafen. Wer die Messe verfälscht oder heidnischen Praktiken frönt, verliert seinen Kopf, wer die Heerfolge verweigert wie
der bayerische Herzog Tassilo, wird auch nach zwanzig Jahren noch
abgesetzt. Die Christenheit soll geordnet den Jüngsten Tag erwarten,
der nach Auskunft der Astrologen entweder im Jahr 801 oder auch
erst in tausend Jahren kommt. Genaues weiß man nicht, Politik ist
ein Geschäft mit Variablen, doch der kluge Hausvater sorgt vor. Und
genauso vorsorgend hat Karl seine Kaiserkrönung geplant. Er hätte
versuchen können, seinen Hofstaat in die verfallene Residenz des
Augustus auf dem Palatin zu verlegen, in der noch ein paar Jahrzehnte zuvor der byzantinische Statthalter amtiert hatte; aber sein
Instinkt sagte ihm, dass der Papst und er nicht in der gleichen Stadt
regieren konnten, und diese Einsicht war die Geburtsstunde des
Okzidents. Aus der Spannung zwischen dem Kaiser ohne Hauptstadt und dem Kirchenfürsten ohne Reich erwuchs die Städtekultur
des Mittelalters, so wie aus der karolingischen Bildungsreform nach
unzähligen Rückschlägen und Irrwegen der Geist der Scholastik und
des Humanismus erblühte, und beides zusammen brachte die europäische Neuzeit in Gang, die weltumspannende Epoche des Fortschritts, in der wir immer noch leben.
Aber Karl der Franke war nicht nur ein großer Aufräumer,
sondern auch ein begnadeter Selbstdarsteller, der seine Körperkräfte, neben den üblichen königlichen Sports des Jagens und
Schlachtenschlagens, vor allem im Wasser inszenierte. Er schwamm
in Bächen und Flüssen, und er nahm seinen halben Hofstaat mit
zum Baden in die warmen Quellen Aachens; bisweilen, berichtet
sein erster Biograph Einhard, planschten mehr als hundert Leute
mit ihm. Dieser Schwimmerkult ist ein ganz eigenes Kapitel der
europäischen Herrschergeschichte, und deshalb hat vielleicht doch
nicht der wackere Johannes Fried den interessantesten Beitrag zum
Karlsjahr geschrieben, sondern der gerade wegen seiner Publikationen zu einem gefälschten Galileo-Buch vielgescholtene Berliner
Kunsthistoriker Horst Bredekamp. Bredekamp nämlich erkennt in
seiner bei Wagenbach erschienenen Studie über »Karl den Großen
und die Bildpolitik des Körpers« in den Badefreuden des Monarchen ein sehr modernes Rollenverhalten wieder, dessen jüngere
Beispiele die Dauerschwimmer Mao Tse-tung und Wladimir Putin
bieten: der Regent als Ikone der Naturbeherrschung und Lenker der
geschichtlichen Ströme.
Dieselbe »fluide Stabilität«, die Mischung aus Jovialität und
Härte, die Karls Regierungsstil prägte und mit der er Gesandte aus
Bagdad und Konstantinopel zur Verzweiflung brachte, zeigt sich,
so Bredekamp, auch in der Kunstproduktion seiner Zeit: die spiegelnden Bronzetüren der Pfalzkapelle, die fließenden Gesten der
Buchmalereien, eine Reiterstatue des Theoderich als Brunnenfigur,
eine römische Bärin als Vorbild für die Löwenköpfe am Dom. Mag
sein, dass die Bildwissenschaft à la Bredekamp gelegentlich ans
Spekulative grenzt, für Historiker ist sie eine Fundgrube: weil sie
Wissen und Anschauung nicht trennt, sondern verbindet.
Karl, »der Große«? Ja, wenn es groß ist, dass einer die Chance
nutzt, die ihm die Geschichte bietet, aus Kalkül wie aus Instinkt,
aus Lust an der Macht wie am Erfolg, dann war er groß. Das heißt
nicht: gut. Aber wer fragt schon nach Kollateralschäden, wenn es
um Europa geht. Damals wie heute
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.01.2014
Karls-Chronik
Die wichtigsten Daten zu Karl dem Großen
687 Schlacht von Tertry: Pippin II. (Karls Urgroßvater) gewinnt als Hausmeier des neustrischen Teilreiches die Herrschaft über das gesamte Frankenreich.
714 Karls Großvater Karl Martell wird Frankenherrscher.
732 Schlacht bei Tours und Poitiers: Sieg des Frankenheeres über die
Araber.
748 Karl der Große wird geboren.Tassilo III. wird Herzog von Bayern.
751 Die Langobarden erobern Ravenna und bedrohen damit den päpstlichen Einflussbereich.Karls Vater Pippin III. setzt den letzten Merowingerkönig Childerich III. ab und begründet die Dynastie der Karolinger. Geburt
von Karls Bruder Karlmann.
752 Papst Zacharias schenkt Pippin III. die „Sandalen Christi“.
753 Feldzug Pippins III. gegen die Sachsen.
754 Papst fordert bei Pippin III. Waffenhilfe gegen den Langobardenkönig Aistulf. Stephan II. salbt Pippin III. und seine Söhne in Saint-Denis.
Die Franken werden Schutzherren des Papsttums. In der »Pippinischen
Schenkung« überantwortet Pippin III. der Kirche die Gebiete der Langobarden in Norditalien.
756 Pippin III. besiegt die Langobarden unter König Aistulf.
757 Desiderius wird König der Langobarden. Der Herzog der Bayern
leistet Pippin III. den Vasalleneid. Der byzantinische Kaiser Konstantin V.
schenkt Pippin III. eine Orgel, die somit erstmals im Westen bekannt wird.
758 Zweiter Feldzug Pippins III. gegen die Sachsen, er erzwingt jährliche
Tributzahlungen.
763 Der Herzog von Bayern verweigert Pippin III. die Heerfolge und
bricht damit seinen Vasalleneid.
768 Tod Pippins III. Karl der Große und Karlmann werden gemeinsam
Könige des Frankenreichs
769 Rebellion Hunalds gegen die Franken in Aquitanien. Karlmann
weigert sich, mit Karl gegen die Rebellen zu ziehen. Karl der Große
heiratet eine Tochter des Langobardenkönigs Desiderius.
771 Nach dem Tod Karlmanns wird Karl der Große Alleinherrscher. Karlmanns Familie flüchtet an den Hof des Königs der Langobarden. Karl
verstößt die Langobardenprinzessin und heiratet seine zweite Frau Hildegard.
772 Der Langobardenkönig Desiderius versucht vergeblich, den neuen
Papst Hadrian I. zu frankenfeindlicher Politik zu bewegen. Karl der Große
beginnt den Krieg gegen die Sachsen, erobert die Eresburg und zerstört
das Heiligtum Irminsul. Das fränkische Heer überquert die Alpen. Karl der
Große – Alpenüberquerung.
773 Hadrian I. bittet Karl den Großen um Hilfe gegen die Langobarden.
Karl führt seine Truppen erstmals über die Alpen nach Italien. Desiderius zieht sich nach Pavia zurück, sein Sohn mit Karlmanns Familie nach
Verona. Rachefeldzug der Sachsen gegen das Frankenreich.
774 Karl der Große feiert das Osterfest in Rom und bestätigt gegenüber
Papst Hadrian I. die »Pippinische Schenkung«. Pavia fällt nach langer
Belagerung. Karl zwingt Desiderius in ein Kloster und krönt sich selbst
zum König der Franken und Langobarden.
775 Karl der Große zieht gegen die Sachsen. Er erobert die Hohensyburg und stellt die zerstörte Eresburg wieder her. Tod Konstantins V., des
Kaisers des Byzantinischen Reichs, ihm folgt sein Sohn Leo IV.
777 Karl der Große beruft in Paderborn erstmals einen Reichstag auf sächsischem Boden ein. Widukind, Herzog der Sachsen, bleibt dem Reichstag
fern und bittet Dänemark um Hilfe gegen die Franken.
778 Karl der Große zieht auf Bitten des Herrschers von Saragossa in den
Krieg ins arabische Spanien. Auf dem Rückzug aus Spanien kommt es zu
schwerem Kampf mit den Basken, Markgraf Hroutland stirbt bei einem
Nachhutgefecht. Auf dieses bezieht sich das Rolandslied. Sachsen fallen
ins fränkische Rheinland ein
779 Karl der Große führt einheitliche Maßsysteme für den königlichen
Fuß als Längen- und das »Karlspfund« als Gewichtsmaß ein.
780/781 Zweiter Romzug Karls
782 Sachsen wird von Karl in Grafschaften eingeteilt. Karl erlässt die
»Capitulatio de partibus Saxoniae«: Ausübung der germanischen Religion
wird mit dem Tod bestraft. In der Schlacht am Süntelgebirge vernichten
die Sachsen ein fränkisches Heer. Blutgericht in Verden an der Aller,
wobei Karl angeblich 4500 Sachsen hinrichten lässt (»Sachsenschlächter«).
Kultureller Aufschwung (Bildung, Dichtung, Buch- und Baukunst), ausgehend vom Hof Karls (»karolingische Renaissance«). Karl der Große.
783 Erneute Aufstände erschüttern Sachsen. Die Rebellen unterliegen bei
Detmold und Osnabrück. Karls zweite Frau, Hildegard, stirbt. Karl heiratet
Fastrada.
785 Kapitulation Widukinds. Widukind kapituliert vor den Franken und
lässt sich in Attigny taufen. Karl der Große ist Taufpate.
786 Verschwörung des Grafen Hardrad in Thüringen
787 Beilegung des Bilderstreits – Ikonen-Verehrung wird erlaubt, Anbetung verboten. Dritter Romzug. Feldzug gegen die Bayern
788 Karl der Große setzt Tassilo III. ab. Bayern wird dem Frankenreich
einverleibt. Beginn einer mehrjährigen Auseinandersetzung zwischen
Franken und Awaren.
789 Erster Feldzug Karls des Großen gegen die Slawen. Seine Truppen
dringen bis zur Peene vor. Allmähliche Entfremdung zwischen Franken
und Byzantinern. Erlass der „Admonitio Generalis“, einer „Allgemeinen
Ermahnung“, die zum Teil auf päpstlichen Dekretalen und Canones basiert
und in der Karl sowohl den Klerus zur Ordnung ruft als auch sein politisches Reformprogramm verkündet.
792 Der älteste Sohn Karls des Großen, Pippin der Bucklige, unternimmt
einen Umsturzversuch und scheitert.
793 Beginn der Wikingerzeit mit dem Überfall auf das englische Kloster
Lindisfarne. Verwaltungsreform im Frankenreich
794 Auf der Frankfurter Synode wendet sich Karl der Große gegen die
Bilderverehrung. Tod seiner dritten Frau Fastrada, Heirat mit Liutgart
795 Karl der Große gründet die Spanische Mark.
797 Karl der Große lockert seine Politik in Sachsen durch den Erlass des
milderen »Capitulare Saxonicum«. Harun ar-Raschid und Karl der Große
nehmen diplomatische Beziehungen auf
799 Attentat auf Leo III. Als Verbrecher angeklagt, flieht der Papst zu Karl
dem Großen nach Paderborn.
800 Krönung zum Kaiser. Karl zieht nach Rom. Leo III. wird von allen
Vorwürfen freigesprochen und leistet einen Reinigungseid. Leo III. krönt
Karl den Großen in der Petersbasilika zum römischen Kaiser. Karls letzte
Frau, Liutgart, stirbt.
802 Fränkische Verwaltungsreform: Karl der Große führt eine Art Schulpflicht ein, die Institution der Königsboten („Missi“) wird wiederbelebt und von allen Waffenfähigen wird der Treueeid verlangt. Beginn der
Aufzeichnung der fränkischen Volksrechte. Der Elefant »Abul Abbas«, ein
Geschenk Harun al-Raschids an Karl den Großen, erreicht Aachen und
erregt großes Aufsehen. Die Sachsen erhalten weitgehend ihr altes Volksrecht zurück.
803 Tod der byzantinischen Kaiserin Irene.
804 Letzter Feldzug der Sachsenkriege.
805 Feldzüge der Franken in Böhmen.
806 Karl der Große lässt das byzantinische Venedig besetzen.
807 Karl der Große entscheidet, nur noch Freie mit großem Grundbesitz
dürften in den Krieg ziehen: Entstehung des Rittertums.
810 Errichtung des Limes Saxoniae.
811 Friedensvertrag zwischen den Dänen und Karl dem Großen.
812 Karl der Große wird gegen die Herausgabe Venedigs von Konstantinopel als weströmischer Kaiser anerkannt.
813 Karl der Große erhebt seinen Sohn Ludwig zum Mitkaiser und Reichserben.
814 Karl der Große stirbt, Ludwig der Fromme wird sein Nachfolger.
In Irlands Westen
Irland
eBook
Umfang: ca. 170 Seiten
Mit 41 Abbildungen
Juli 2013
ISBN (ePub): 978-3-89843-253-5
ISBN (PDF): 978-3-89843-254-2
Preis: 9,99 €
Achill Island: Ansichten
einer Insel
Vor fünfzig Jahren hat Heinrich Böll in seinem
»Irischen Tagebuch« Achill Island verewigt –
eine Spurensuche am Rande Europas
Von Christiane Zwick
M
it dem Tag hat sich das Wasser zurückgezogen, und die sechs
Kilometer von der kleinen Quelle unterhalb der Minaun
Cliffs bis in den Ort Keel werden zur perfekten Kulisse für einen
Abendspaziergang. Ein Abendspaziergang, wie ihn Heinrich Böll
oft unternommen hat, als er 1954 in »Bervies Guesthouse« direkt
am Strand wohnte.
Der damals 36-jährige Familienvater war an den nordwestlichen
Rand Europas gereist, um weit weg vom Durcheinander des Hausbaus in Köln-Müngersdorf zunächst am »Brot der frühen Jahre« zu
arbeiten. Den Tipp, nach Achill Island zu fahren, hatte er in Dublin
bekommen, in Deutschland war die größte Insel Irlands kaum
bekannt. Böll beförderte sie in die Weltliteratur und sicherte ihr den
Status eines deutschen Sehnsuchtsortes. Ihm selbst wurde sie zur
zweiten Heimat. Fünfzig Jahre sind seit Erscheinen des »Irischen
Tagebuchs« vergangen.
Es ist dunkel geworden an der Küste. Ein Hund bellt von Dookinella herüber, in der Luft liegen Salz und der Rauch eines Torffeuers.
Am Tag beherrscht hier gelbes und blaues Neopren das Bild, Surfer
lassen sich von den Wellen auf den Sand spülen. Der knapp siebenhundert Meter hohe Slievemore hat einiges an Wildheit und Geheimnis
eingebüßt. Der Hexensabbat, den Böll dort hinzuzuphantasieren
vermochte, müsste heute im Ring der Neubauten abgehalten werden.
Rad fahren auf Achill nur noch die Touristen. Die meisten Einheimischen legen die
beschwerlichen Wege lieber mit dem PKW zurück… Foto: Norbert Eisele-Hein /
Tourismireland.
Im Zentrum von Keel klafft dort, wo das »Village Inn« stand, ein
umfangreiches Loch. Auch gegenüber eine Baustelle: »Keel House«
steht leer, das Haus, das Böll schon im Jahr nach seinem ersten
Besuch für seine Familie anmietete. Ein Schild am Zaun verkündet
Instandsetzungsarbeiten. Achill Island profitiert sichtlich von der
seit zwölf Jahren anhaltenden irischen Hochkonjunktur.
Ein Stück die Straße nach Dooagh hinauf parken vor der Praxis
des Inselarztes Autos neuester Baujahre. Doktor Edward King
kommentiert augenzwinkernd: »Die Herzkrankheiten nehmen zu.
Damals mussten die Leute fit genug sein, um in die Praxis meines
Vaters zu radeln. Heute fährt keiner mehr Rad.« Sein Vater war mit
Heinrich Böll befreundet gewesen. Mit literarischen Folgen: Die
Geschichte »Die schönsten Füße der Welt« erzählt von der Angst
der Arztfrau um ihren Mann, der nachts entlang der Klippen über die
rutschige Schotterstraße zu einer Gebärenden fahren muss.
Das »Irische Tagebuch« ist kein Tagebuch. Aber ein Buch, in dem
Böll »ich« sagt und mit vielen »wir« seine Frau und seine drei Söhne
miteinbezieht. Seit gerade vier Jahren konnte der inzwischen bekannte
Nachkriegsautor von seinen Honoraren leben, seit zwei Jahren häuften
sich die Preise. Und 1955 war dann sogar ein Urlaub drin. Ein Urlaub
mit Familie und Schreibmaschine. Die ging zwar auf dem Bahnhof
kaputt, konnte aber schnell repariert werden. Böll gönnte sich einen
Ausflug in die Zeitlosigkeit. Statt auf unbestechliche Wirklichkeitsbefragung setzte er auf Farben und phantastische Effekte. So erhielt bei
ihm Doktor King für die geglückte Geburtshilfe an Stelle der üblichen
Suppenhühner einen riesigen Kupferkessel aus der vor Achill untergegangenen spanischen Armada. Was für ein glänzender Kontrapunkt zu
den, in Bölls Augen, mit Würde ertragenen ärmlichen Verhältnissen.
Die teils verdichtete, teils erdichtete Erzählung wurde richtungweisend für alle Irlandberichte, die später kamen.
Am Strand von Keel nimmt Karl-Heinz Vondracek hinter gegen
den Wind aufgehäuften Steinen Platz und klopft an ihnen seine
Pfeife aus. Frau und Kind warten im Wohnwagen mit dem Abendessen. Die Klippen schimmern rötlich, Gischt knistert wie Guinnessschaum auf dem Sand. Eine kleine Rauchpause noch. Der weißbärtige Regierungsschuldirektor erzählt, dass ihm das »Irische Tagebuch« 1979 das erste Mal den Weg nach Achill Island gewiesen
hatte. »Als Gott die Zeit gemacht hat, hat er genug davon gemacht«,
sagt Vondracek und zitiert ein altes irisches Sprichwort, das Böll
für einen Seitenhieb gegen seine wirtschaftswunderseligen Landsleute nutzte. Marcel Reich-Ranicki erkannte in dem Band sogar ein
»verstecktes Deutschlandbuch«. Das in allen, die auf der Suche nach
gesellschaftlichen Andersorten waren, Reiselust weckte.
...oder mit dem Motorrad. Da springen die sonst mehrheitlich glücklichen irischen
Kühe lieber mal in den Straßengraben. Foto: Nutan / Tourismireland.
Der deutsch-irische Schriftsteller Hugo Hamilton, der vor kurzem
auf Bölls Spuren recherchiert hat, vermutet, dass seine Leser auf
ihren Irlandreisen eine »Idee von Heimat entwickeln« wollten. Die
Kriegs- und Nachkriegskinder sehnten sich nach einer Zusammengehörigkeit, in der nichts Völkisches an klang, nach vom Nationalsozialismus unverdorbener Vergangenheitsbindung. Hamilton muss
damit richtig liegen, denn schon der Wegbereiter verweilt aufatmend
im Anblick irischer Ruinen, die eben nicht von Bombardements
herrühren: »Zeit und Elemente haben alles in unendlicher Geduld
weggefressen, was nicht Stein war, und aus der Erde wachsen
Polster, auf denen diese Gebeine wie Reliquien ruhen.«
Heinrich Böll hatte den Krieg gehasst, unter seiner Sinnlosigkeit,
der Schikane der Vorgesetzten und der eigenen Unfreiheit gelitten.
Viele seiner Feldpostbriefe erzählen davon. Mit simulierten Krankheiten und gefälschten Urlaubsscheinen hatte er sich gedrückt, wo er
nur konnte. Nach Kriegsende galt Bölls ganzes Interesse der Gegenwart, die durch das eilig abgeschlossene Gestern beeinflusst wurde.
Genau im Zentrum befindet sich das Bild der Armut. Im Zentrum
des »Irischen Tagebuches« und im Zentrum der Insel. Die von Böll
als »Skelett einer menschlichen Siedlung« beschriebenen siebzig
Ruinen reihen sich parallel zum Hang des Slievemore. Sie verfallen
dort seit mehr als hundertfünfzig Jahren, seit der großen Hungersnot.
Weder Zaun noch Wege regeln den Zugang zum »Deserted Village«.
Schafe nagen an der dünnen Grasnarbe zwischen den dachlosen
Gemäuern. Steine kippeln unter den Füßen der Neugierigen. Es ist
der Ort, der sich auf Achill Island am wenigsten verändert hat. Feldsteingiebel weisen auf schnell ziehende Wolken. Im Süden glitzern
die breite Bucht von Keel und ein inmitten von Wiesen gelegener
Binnensee. Von Westen her schleicht Nebel in das Ruinendorf. Die
Gevierte sind drei Schritte breit und sechs Schritte lang. Familien
mit sechs Kindern haben hier gelebt. »Hier stand der Herd« – »Dort
das Bett« – »Hier über dem Kamin hing das Kruzifix«, beschreibt
Böll das Rekonstruktionsspiel, das er mit seinen Kindern spielte und
das sich jedem hier aufdrängt.
Die Forschungsarbeit des Archäologen Simon O'Faolain
erschließt Besuchern heute unscheinbarste Details. Wenn man ganz
genau hinsieht, entdeckt man auf der Innenseite vieler Giebelwände
ein Loch. In ihm war der Ring eingelassen, an dem die Kuh festgebunden wurde. Ihr Körper habe das Haus gewärmt und dafür ein
Drittel des Wohnraums beansprucht, erklärt der Grabungsleiter. Die
Rinne am Boden leitete die Gülle ab. Die Kinder schliefen auf einer
halben Etage über dem Vieh, der Platz der Alten war eine gemauerte Bank am Feuer.
Die alten Steine zeugen am Ende doch von Gewaltherrschaft.
Wegen der Kartoffelfäule konnten die Bauern in den 1840er Jahren
ihre Pacht nicht mehr bezahlen und wurden von den Verwaltern
der englischen Landlords vertrieben. Diesen Teil der Geschichte
hat Böll ausgespart. Einen einzigen Satz über den von der Insel
gejagten englischen Verwalter Boycott, »an dem die Bevölkerung
das Boykottieren erfand«, leistet er sich. Einem Deutschen stand es
keine zehn Jahre nach dem Krieg nicht an, die Besetzung Irlands
durch die Briten zu kritisieren.
Millionen Iren wanderten in den der Hungersnot folgenden
hundert Jahren aus. Noch zwischen 1951 und 1961 verließen jähr-
lich 40.000 Menschen, also ein Prozent der Bevölkerung, die
Heimat. Mayo, der Verwaltungsbezirk, zu dem Achill Island gehört,
war besonders betroffen. Erst in den neunziger Jahren wendete
sich das Blatt. Der einmal zu Spottpreisen verscherbelte Boden
ist teuer geworden. Staatliche Förderungen heizen den Bauboom
auf der abgelegenen Insel an, »Holiday Homes« entstehen zehnergruppenweise. Die Besitzer der kargen Torfflächen sind zu kleinen
Vermögen gekommen. Den Geldsegen legen viele der 2700 Insulaner in Eigenheimen an, für die amerikanische Vorabendserien Modell gestanden zu haben scheinen. Irland liegt in punkto
Neubauten im europäischen Vergleich an der Spitze. Und am Toastregal von Diarmuid Gieltys kleinem Laden trifft man neuerdings
Gastarbeiter aus Polen und Pakistan.
Dass Diarmuid Gielty, der als Elektriker in Dublin gut verdient
hatte, den Dorfladen von Dooagh übernahm, ist für seinen Vater
Michael das beste Zeichen einer Zeitenwende: »Wir fuhren nach
Schottland, um Löcher für Kartoffeln zu buddeln, und nach England,
um dort Eisenbahnschienen zu verlegen. Nur um ein paar Pfund
zu verdienen. Die Jungen würden keinen Spaten mehr in die Hand
nehmen.« »Die Jungen«, wirft sein Sohn ein, »nehmen fleißig
Kredit auf und genießen das neue Lebensgefühl.« Das Wirtschaftswunder ist nun in Irland sesshaft geworden.
Michael Gielty ist Ruhe bis heute fremd, der 73-Jährige war
zeit seines Lebens in Bewegung. Seine Füße stecken in Reflektorturnschuhen, wiegen hin und her, während er an der mit norwegischem Lachs und irischem Lamm gefüllten Tiefkühltruhe über das
Schicksal vieler Generationen auf Achill nachdenkt. »Es ist nett,
jetzt all diese Ausländer hier zu sehen. Für uns gab es kaum Bildung
und zu wenig Arbeit. Wir hatten keine Wahl, als wegzugehen, um
wiederzukommen.« Gielty wirft den Kopf für einen Lacher in den
Nacken.
Die Ersten, die Bölls Protagonisten mit der Kamera suchten,
brachte der Schriftsteller selbst ins Land. Nach seinem Drehbuch entstand 1961 der Film »Irlands Kinder«. Im Bild wie im
Buch: das Ruinendorf, die Kirche, der Pub. Doch der Kommentar
verharrt in schwer verdaulicher Litanei auf dem Leid der Armut und
des Abschieds. Der irische Schriftstellerkollege John O'Donovan
beschwerte sich öffentlich über das Bild einer »most hapless and
helpless and hopeless race«.
Doch nicht den Film, sondern das Buch haben Irlandreisende
bis heute im Gepäck. Seit 1961 passt es auch in die schmalste Reisetasche. Das »Irische Tagebuch« erschien damals als Nummer eins
des neugegründeten Deutschen Taschenbuch Verlags. Der Verlagsleiter Heinz Friedrich war ein Freund Bölls und wie dieser Mitglied
der Gruppe 47. Der DTV-Band entwickelte sich zum »Longseller«.
Bis heute wurden weit über eine Million Exemplare in 54 Auflagen
verkauft. Die englische Übersetzung haben sich der Arzt, der Lehrer
und die Galeristen gekauft. Die meisten anderen haben nur von
ihr gehört. In diesem Jahr soll das »Irish Journal« an der Schule
gelesen werden. »Es wurde Zeit«, sagt Edward King. Schließlich
seien sie ziemlich stolz, dass Heinrich Böll Achill Island ins Herz
geschlossen habe.
Eine Plakette an der Toreinfahrt weist das »Heinrich Böll
Cottage« heute als Rückzugsort für Stipendiaten aus, deren Ruhe-
bedürfnis man bitte respektieren möge. Der nächste Künstler kommt
aber erst morgen. John McHugh schließt die Pforte auf. Hinter
den Fuchsien kauern zwei weiße Häuser, umschwirrt von Wolken
winziger Störenfriede. Mückenstiche liegen wohl unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle großer Geister. Für 100.000 Pfund habe
das Heinrich-Böll-Komitee das Cottage von der Familie des 1985
verstorbenen Literaturnobelpreisträgers gekauft, erzählt McHugh.
Die jährlichen Kosten von 25.000 Euro bringen kulturfreundliche
Unternehmer von der Insel auf. Der schlaksige Bildhauer im löchrigen T-Shirt ist der Vorsitzende des Komitees, zu dem auch der
Arzt gehört. In jedem September sichten sie die Bewerbungen von
Schriftstellern und Autoren, die meisten aus den Vereinigten Staaten
und aus Irland. Wer ausgewählt wird, darf zwei bis vier Wochen
kostenfrei hier wohnen.
Die Räume sind schlicht möbliert, die schicke rote Küche ist
funkelnagelneu. Die Kamine mit ihren geschnitzten Einfassungen
wurden frisch lackiert. Der Blick vom Schreibtisch geht durchs
Fenster nach Norden. Dort unten in der Bucht von Dugort bläst
der Wind scharfen Sand gegen die Beine sonnengeröteter Urlauber.
Doch der Trubel der Ferienmonate findet in ausreichender Entfernung im Nebel statt. Nichts, was ablenken könnte.
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 22.4.2007
Das sollten Sie klicken
http://www.irisches-tagebuch.com René Böll hat zusammen mit
Freunden und Familienmitgliedern eine Webseite zu Heinrich Bölls
irischem Tagebuch ins Netz gestellt. Die Flash-Version der Seite ist
lohnender, wird aber noch aufgebaut.
http://www.achilltourism.com Nochmals Böll: Praktischer OnlineWegweiser für alle, die auf Bölls Spuren wandeln wollen: Wo ist die
Kneipe, wo der Supermarkt und wann die Lesung?
http://www.islandireland.com/Pages/history.html Abriss irischer
Geschichte. Praktische Links zu Museen und Forschungseinrichtungen.
http://entertainment.ie Was ist wann wo los in Irland? Guter Überblick über die Kulturtermine.
https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/
ei.html Die CIA weiß praktisch alles über Irland. Hier werden Sie
zum Mitwisser.
http://www.ria.ie Man hat zwar keinen König mehr, immerhin
aber noch eine Royal Society. Die Acadamh Ríoga na hÉireann
stellt auf Ihrer Webseite viele Irland-Publikationen für gehobene
Ansprüche vor.
http://www.ahg.gov.ie Gaetacht. Die offizielle Webseite des Kultusministeriums, die für diejenigen, die des Gälischen nicht mächtig
sind, auch eine englischsprachige Variante vorhält.
http://www.youtube.com/watch?v=mmkaWZ9ieGU Altes Filmzeugnis vom Set Dance.
Hirnforschung: Wer ist
der Käpt’n im Kopf?
Hirnforschung
Das Abenteuer unseres
Bewusstseins
Hirnforschung
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Umfang: ca. 170 Seiten
Mit 10 Abbildungen
Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung
September 2012
ISBN ePub: 978-3-89843-251-1
ISBN PDF: 978-3-89843-252-8
Preis: 9,99 €
Gehorsam: Ich erfüllte
eine Aufgabe
Das Milgram-Experiment.
Von Jenny Niederstadt
D
er Apparat, der die Welt schockierte, steht heute in Akron. Die
Kleinstadt in Ohio beherbergt das Archiv der amerikanischen
Psychologie. Dort ist die Maschine hinter Glas zu sehen. Sie zeigt
30 Hebel, 30 Kontrolleuchten. Jeder Schalter steht für eine Voltzahl, von 15 bis 450 Volt. Die Stromstärken sind in acht Gefahrengruppen eingeteilt, von »leichter Schock« über »Gefahr: bedrohlicher Schock« bis hin zu »XXX«. Wer einen Hebel des »Schockgenerators« umlegt, hört ein Summen, Lichter blitzen auf, und der Zeiger
des Spannungsmessers schlägt aus.
Die Maschine ist eine Attrappe. Doch als Stanley Milgram 1961
mit dem Generator sein legendäres Experiment startete, dachten die
Versuchsteilnehmer, sie würden mit den Stromschlägen Menschen
quälen. Ein vermeintlicher Versuchsleiter forderte die Testperson
am Generator auf, immer stärkere Stromschläge zu verabreichen.
Dies erfordere ein wissenschaftliches Experiment über das menschliche Gedächtnis (siehe »Foltern für die Forschung«). 63 Prozent
von Milgrams Probanden gingen daraufhin bis zum Äußersten: Sie
waren bereit, ihr Gegenüber im Namen der Wissenschaft mit 450
Volt zu foltern, einen an die Elektroden der Maschine angeschlossenen Schauspieler, der darauf trainiert war, Schmerzen und Qual zu
zeigen, sobald ein Hebel umgelegt wurde. Bei 450 Volt reagierte er
nicht einmal mehr, sondern lag wie tot auf seinem elektrischen Stuhl.
Die Öffentlichkeit war geschockt, als Stanley Milgram seine
Ergebnisse veröffentlichte. Der Professor der Universität Yale
berichtete zum Beispiel von einem Inspektor der Wasserwerke, der
nach dem Experiment sagte: »Ich glaubte wirklich fest, dass der
Mann tot war, bis wir die Tür aufmachten. Als ich ihn sah, sagte
ich: ›Großartig, das ist ganz großartig.‹ Aber es hätte mich nicht
beunruhigt, wenn er tot gewesen wäre. Ich erfüllte eine Aufgabe.«
Die Teilnehmer waren zu Werkzeugen der Macht geworden,
sie hatten ihren moralischen Kompass verloren. Milgrams Experimente gehören mittlerweile zu den berühmtesten Versuchen der
Psychologie. Von Anfang an waren sie umstritten – und gelten doch
bis heute als Wegweiser. Sie zeigen, wie Autoritäten Menschen das
Verantwortungsgefühl rauben können.
Und sie bleiben aktuell: Im vergangenen Jahr sollten Milgrams
Thesen die Verbrechen in Abu Ghraib erklären. In dem Militärgefängnis folterten amerikanische Aufseher irakische Häftlinge. Die
Sozialpsychologin Susan Fiske untersuchte die Vorfälle und zog
Parallelen zum Milgram-Experiment. »Menschen können unglaublich destruktiv handeln, wenn es ihnen von legitimierten Autoritäten
befohlen wird«, sagt die Princeton-Professorin. Das gelte nicht nur
im Krieg gegen den Terror, sondern etwa auch im Wirtschaftsleben:
Das Verhalten von Führungskräften sei ausschlaggebend dafür,
welche Atmosphäre in einem Unternehmen herrsche. Wer seine
Autorität ausnutze, um Mißtrauen und Haß zu schüren, schaffe so
den Nährboden für Mobbing.
Fiskes Analyse fußt auf einer umfassenden Datenbasis: Sie
prüfte 25.000 Studien und damit das Verhalten von insgesamt acht
Millionen Testpersonen. Wird die Psychologin heute gefragt, ob
jeder gewöhnliche Achtzehnjährige zum Folterer werden könnte, hat
sie eine Antwort: »Ja, leider, so wie jeder andere auch.«
Fiskes Studie zu Abu Ghraib erinnert an die Schriften Hannah
Arendts. Die Philosophin hatte 1961 vom Eichmann-Prozess in
Jerusalem berichtet. Der NS-Verbrecher sei kein Sadist, kein Ungeheuer, so Arendt, sondern ein korrekter Bürokrat, der blind Befehle
befolgte. Ihr Konzept von der »Banalität des Bösen« erschütterte
Stanley Milgram. Er war erst 30, als er seine Experimente in der
Kleinstadt New Haven startete – kurz zuvor waren Arendts Schriften
in den Vereinigten Staaten erschienen.
Der Psychologe zweifelte zunächst an seinem Versuchsaufbau,
als er feststellte, dass mehr als die Hälfte seiner Probanden bereit
war, einen Menschen mit starken Elektroschocks zu quälen. Er
prüfte seine Ergebnisse mehrfach und änderte den Aufbau. Die
Teilnehmer sollten etwa die Hand des vor Schmerzen schreienden
Opfers auf eine Metallplatte pressen, wo es angeblich noch stärkere
Schocks erhielt. Selbst dieser Anweisung folgte jeder dritte.
Seine Ergebnisse seien »deprimierend« und »beängstigend«,
so Milgram – und die Parallelen zum NS-System unübersehbar. Er
bezweifle nun nicht mehr, dass es auch in den Vereinigten Staaten
möglich sei, ein »System von Todeslagern, ähnlich dem der Nazis
in Deutschland«, aufzubauen, schrieb Milgram an die National
Science Association. »Ich fange an zu glauben, dass sich die dafür
nötigen Leute allein in New Haven rekrutieren ließen.«
Der Mensch braucht offenbar kein starkes Motiv, um »seine
Menschlichkeit abzustreifen«, wie Milgram es nannte. Seine
Probanden waren bereit zu töten, nicht aus Notwehr, Verzweiflung
oder Hass, sondern schlicht, um zu gehorchen. Besonders verstörend: Da die Rollen von Täter und Opfer vor dem Experiment
vorgeblich ausgelost wurden, mussten die Probanden sogar glauben,
nur der Zufall habe verhindert, dass sie selbst auf dem elektrischen
Stuhl saßen.
»Es gehört Mut dazu, eine einmal begonnene Handlung als
falsch zu erkennen und sie abzubrechen«, erklärt Dieter Frey,
Psychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wer
bereits dabei ist, Stromschläge von 150 Volt zu erteilen, steigt nicht
leicht aus, wenn er einfach nur die Dosis um 15 Volt erhöhen soll.
»Wir reflektieren unser Handeln nicht mehr bewusst«, sagt Frey,
»und verlieren schließlich das Wissen, dass wir uns frei entscheiden
können.«
Wie die »Macht der Situation« die Entscheidungsfreiheit
einschränken kann, hat auch Philip Zimbardo untersucht. Der amerikanische Psychologe hat mit seinem Stanford-Prison-Experiment
ähnliches Aufsehen erregt wie Milgram. Im Keller der Universität von Stanford hatte er einen Gefängnistrakt nachgebaut. Eine
Gruppe Studenten teilte sich per Los in Wächter und Gefangene auf.
Binnen weniger Tage eskalierte die Situation, die Aufseher quälten
die Gefangenen, die Häftlinge fühlten sich ihnen hilflos ausgeliefert,
obwohl sie das Experiment jederzeit hätten abbrechen können. Im
vergangenen Jahr sagte Zimbardo als Sachverständiger im Prozess
gegen die Gefängniswärter von Abu Ghraib aus. Auch Zimbardo
betont, wie aktuell Milgrams Thesen seien: »Fast jeder von uns
könnte den Platz mit Eichmann tauschen, wenn wir in die Macht
derselben Situation geraten.«
Zu den bekanntesten Kritikern solcher Thesen zählt der Autor
Daniel Goldhagen, der mit seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« auch in Deutschland für eine heftige Debatte über Schuld
und Verantwortung sorgte. Milgram habe eine Situation konstruiert,
in der die Versuchsteilnehmer wenig Zeit hatten, darüber nachzudenken, was sie tun, sagt Goldhagen: »In der realen Welt mordeten
die SS-Offiziere tagsüber und gingen abends zu ihren Familien nach
Hause.« Tatsächlich hätten Menschen »jede Menge Möglichkeiten,
ihr Verhalten zu überdenken und zu verändern. Wenn sie es nicht tun,
so liegt das nicht daran, dass sie Angst vor den Autoritäten haben,
sondern daran, dass sie sich entscheiden, es nicht zu tun.«
Auch Milgrams Biograph, der amerikanische Psychologe
Thomas Blass, entlässt die Probanden nicht aus ihrer Verantwortung: »Wer gehorchte, tat dies aus seinem freien Willen heraus –
niemand hielt den Teilnehmern eine Pistole an den Kopf. Sie ließen
die Rechte der Autorität über die Bedürfnisse der Opfer obsiegen.«
Milgram dagegen erlebte in seinen Studien die Täter als gelähmt.
Der Forscher betonte immer wieder: Die Probanden waren keine
Sadisten. Viele von ihnen zitterten und weinten während des Experiments, einige hatten Krämpfe. Und doch brach nur jeder dritte den
Versuch ab. Sie litten also an der Situation, schienen den Opfern
gegenüber aber gleichgültig zu sein. Waren sie es tatsächlich?
Das Phänomen der Gleichgültigkeit untersuchten einige Jahre
nach Milgram die Sozialpsychologen John Darley und Bibb Latané.
Ein grausamer Mord hatte das Interesse der beiden Wissenschaftler
geweckt. In New York war 1964 eine junge Frau im Hof ihres
Wohnblocks umgebracht worden. Eine halbe Stunde lang hatten 38
Zuschauer beobachtet, wie der Mörder die Frau mehrfach attackierte.
Keiner half oder verständigte auch nur die Polizei.
Die Presse berichtete damals empört über die Zuschauer.
Darley und Latané aber wollten deren Beweggründe erforschen.
Sie stellten dazu eine ebenfalls lebensbedrohliche Situation nach:
einen schweren epileptischen Anfall. Sie sorgten dafür, dass ihre
Probanden Zeugen des Anfalls waren (siehe »Hilfsbereitschaft und
Beobachtung«), und stellten fest, dass die Bereitschaft zur Hilfe
erheblich stieg, wenn sich die Zeugen alleinverantwortlich fühlen.
Waren sie dagegen überzeugt, auch andere könnten aktiv werden,
sank ihr Engagement dramatisch.
»Die soziale Situation kann einen enorm hohen Druck erzeugen«,
sagt Hans-Werner Bierhoff, Sozialpsychologe der Ruhr-Universität
Bochum. Der Mensch sei nun mal ein soziales Wesen und wolle
sich selbst im Notfall konform verhalten. »Sieht er dann, dass kein
anderer reagiert, zögert er selbst auch – oft gegen seinen ursprünglichen Willen.«
Dieser Effekt kann sich steigern bis zur »pluralistischen Ignoranz«, das haben Altruismusforscher wie Bierhoff in zahlreichen
Studien nachgewiesen. Liegt etwa eine Person hilflos am Rand einer
vielbefahrenen Straße, sinkt ihre Chance auf Hilfe dramatisch, wenn
die ersten Autofahrer achtlos am Hilfsbedürftigen vorbeifahren. Die
passiven Vorbilder setzen ein Signal. Doch die soziale Vorbildfunktion lässt sich auch positiv nutzen: Entschließt sich bei einem Notfall
eine erste Person zum Handeln, folgen ihr andere und helfen ebenfalls. Der Bann der Situation ist gebrochen.
Diesen Effekt hatte schon Milgram beobachtet. Er setzte seinen
Tätern am Schockgenerator eingeweihte Mitarbeiter zur Seite.
Diese befolgten zwar zunächst die Anweisungen und gaben dem
»Schüler« leichte Stromschläge. Als sie die Dosis allerdings in den
gefährlichen Bereich steigern sollten, protestierten sie und stiegen
schließlich aus. Das moralische Vorbild beeindruckte die Probanden.
Die Rate des Gehorsams fiel deutlich ab: von 63 auf 10 Prozent.
Gehorsam: Foltern für die Forschung
»Wir zahlen Ihnen vier Dollar für eine Stunde Ihrer Zeit.« Mit
diesem Anzeigentext suchte der Psychologe Stanley Milgram 1961
nach Versuchsteilnehmern. Der Professor der Yale University gab
vor, das Lernverhalten von Menschen erforschen zu wollen. Tatsächlich studierte er den Gehorsam.
Die Teilnehmer des Experiments trafen paarweise im Labor ein,
über die Verteilung der Rollen »Lehrer« und »Schüler« entschied
das Los. Doch die Ziehung war fingiert: Ein Schauspieler übernahm stets die Rolle des Schülers. Auch der Versuchsleiter war in
den Versuch eingeweiht. Er gurtete den Schüler an einen Sessel fest
und befestigte Elektroden an dessen Handgelenken.
Der Proband sollte nun dem Schüler Wortpaare vorlesen und das
Gelernte anschließend abfragen. Unterlief dem Schüler dabei ein
Fehler, sollte der Lehrer dies mit einem Stromschlag bestrafen, mit
jedem weiteren Fehler stieg die Voltzahl.
Tatsächlich erhielt der Schüler aber keinen Elektroschock. Doch
der Schauspieler war trainiert, auf die vermeintlichen Schläge zu
reagieren. Zuerst protestierte er lautstark, später schrie er qualvoll, trat verzweifelt gegen die Wand des Labors, brach schließlich
zusammen und gab keine Antwort mehr. Bei Nachfragen erklärte
der Versuchsleiter, das Experiment erfordere, dass der Lehrer mit
den Stromschlägen fortfahre.
Alle Probanden ließen sich davon zunächst leiten, die ersten Teilnehmer stoppten bei 300 Volt – der Gefahrenstufe, bei der das Opfer
gegen die Wand trat. 63 Prozent setzten die Schockserie bis zur
höchsten Stufe fort.
Hilfsbereitschaft und Beobachtung: Darley und Latané
Die Studenten dachten, sie nähmen an einer Gruppendiskussion teil: John Darley und Bibb Latané, Sozialpsychologen von
der Columbia University und der New York University, setzten
ihre Probanden in Einzelzimmer und sagten ihnen, sie seien
über Mikrophone mit anderen verbunden. Im fingierten Gespräch
hörten die Probanden dann eine Person, die einen epileptischen
Anfall erlitt. Die Psychologen beobachteten die Testperson: Holt
sie Hilfe?
Die Wahrscheinlichkeit steigt, wenn sich die Testperson alleinverantwortlich fühlt: Probanden, die dachten, nur sie seien Zeugen,
holten häufiger und schneller Hilfe. Anderen wurde vermittelt, die
Gruppe bestehe aus drei oder sechs Teilnehmern. Sie kamen dem
»Opfer« nur in 31 Prozent der Tests zu Hilfe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.8.2005
Kreuzfahrt in die Arktis
Kreuzfahrten
eBook
Umfang: ca. 230 Seiten
Mit 43 Abbildungen
Juni 2013
ISBN (ePub): 978-3-89843-249-8
ISBN (PDF): 978-3-89843-250-4
Preis: 12,99 €
Eis mit Stil
Mit beheiztem Whirlpool durch Grönlands
Diskobucht: Auf dem Expeditionsschiff MS Fram
reisen Abenteurer, die kein Abenteuer suchen
Von Verena Mayer
D
ort, wo ich gleich spazieren werde, saß Alfred Wegener
fest, der berühmte Polarforscher. In Uummannaq, einem
winzigen Ort im Nordwesten Grönlands, im Sommer kalt, im
Winter umgeben von Eis. Ich habe Turnschuhe an, Alfred Wegener
trug drei Lagen Robbenfell, selbst im Gesicht. Einem der Männer,
die Wegener begleiteten, musste ein abgefrorener Fuß amputiert
werden.
Alfred Wegener, der Entdecker der Kontinentalverschiebung,
kam als Abenteurer nach Grönland, ich bin Teil einer Expedition.
Eines Expeditionsschiffes, um genau zu sein. Der Unterschied sind
128 Kabinen, beheizte Whirlpools und jeden Tag Frühstücksbuffet.
Alfred Wegener verbrachte seine Tage damit, zu warten, dass das
Eis aufbrach und er Futter für die Islandpferde finden konnte, die
er unbegreiflicherweise dabeihatte, als er 1930 über das Eis ins
Landesinnere gelangen wollte. Ich sehe vom Speisesaal auf die
Eisberge, die im Meer schwimmen wie Eischnee auf Vanillesauce,
und lasse mir Kaffee nachschenken.
Die MS Fram der norwegischen Reederei Hurtigruten, acht
Decks, groß wie ein Wohnblock. In den Sommermonaten fährt das
Schiff die grönländische Küste entlang, durch Fjorde und Buchten,
vorbei an Eisbergen und kalbenden Gletschern. Danach ist es in der
Antarktis unterwegs. An Bord: ein paar hundert Leute in leichter
Kleidung und in Urlaubsstimmung, viele im Ruhestand. Abenteuer
für Leute, die kein Abenteuer suchen.
Das Schiff läuft in den Uummannaq-Fjord ein, Motorboote
bringen uns an Land. Die meisten von uns tragen die blitzblauen
Windjacken, die wir als Willkommensgeschenk auf dem Schiff
erhalten haben. Die Windjackenträger bleiben dann auch immer
zusammen, ein blitzblauer Klecks in der arktischen Landschaft. Als
müsste man sich zusammenschmiegen gegen die Kräfte der Natur.
Alles in Grönland ist hart, auch im Jahr 2009, da sich Grönland
weitgehend von Dänemark unabhängig erklärt hat. Was in Grönland
gebraucht wird, kommt von außerhalb. Dort, wo das Eis auf dem Meer
bis ins Frühjahr so dick ist, dass man darauf Auto fahren kann, warten
sie oft zehn Monate auf ein Versorgungsschiff. Selbst die Abendnachrichten mussten die längste Zeit importiert werden. Sie kamen mit
zweiwöchiger Verspätung auf Videobändern aus Dänemark.
Dementsprechend geschäftig geht es in den paar warmen Monaten
zu, in denen es keine Nächte gibt. Arktische Weideröschen überziehen als pinkfarbener Flaum die Landschaft. In den Häfen werden
Netze geflickt, in den Motorbooten liegt blutiges Fleisch, Teile von
Robben oder einem Zwergwal, die Ausbeute der Jagd. Nur die Schlit-
tenhunde haben Pause. Träge liegen sie an ihren Ketten, ihr gelbes Fell
glänzt in der Sonne, ganze Städte voller schlafender Hunde.
In Uummannaq warten sie schon auf uns. Jedes Kreuzfahrtschiff ist ein Ereignis. Der Tourismus soll, neben Rohstoffen, die
Unabhängigkeit Grönlands von Dänemark finanzieren. Und es
gibt vermutlich nicht viel Abwechslung außer Gruppen blitzblauer
Touristen. Uummannaq ist ein einziges Durcheinander aus Schlitten,
Booten, aufgespannten Fellen. Auf einer Wäscheleine trocknen die
traditionellen perlenbestickten Gewänder und Hosen aus Seehundfell, daneben ist mit Wäscheklammern der Fisch aufgehängt. Eine
Frau mit einer Einkaufstüte unterm Arm schreit etwas in ihr Handy.
Sie hat einen frei laufenden Schlittenhund gesehen, und Schlittenhunden will keiner zu nahe kommen. Sie beißen jede Hand, die sie
nicht füttert.
Vor dem Museum, in dem Alfred Wegeners Pferdeschlitten
ausgestellt ist, steht ein Fischer in grauer Hochwasserhose und
erklärt den Touristen, wie er Heilbutt fängt. Der Fischer hat keine
Zähne mehr im Mund, sein Gesicht ist zerfurcht wie der Berg im
Hintergrund. Im Winter hackt er erst das Eis einen halben Meter
auf, ehe er die Netze auf dem Meeresboden versenken kann. Zum
Aufrollen der dünnen Schnüre muss er die bloßen Hände nehmen.
Und dann sind da noch die Dinge, die man nicht sieht. Im Klassenraum der kleinen Schule erzählt ein 14-jähriges Mädchen von
den Geistern. Das Mädchen heißt Awiak und ist auf den ersten Blick
wie alle Teenager. Sie ist viel im Netz unterwegs und liebt ihren
iPod, auf ihrem T-Shirt steht »I love Nightlife«. Doch dann spricht
Awiak von den Geistern, die den Grönländern bis heute heilig sind.
Sie hat selbst einen gesehen, auf dem Weg zur Schule, er trug ein
Rentierfell. Neulich habe ihr Onkel einem mit der Taschenlampe
ins Gesicht geleuchtet. Da hat der Geist gesagt: »So etwas machst
du nicht noch einmal.«
Ich mache es mir in meiner Kabine, in die mindestens vier Pferdeschlitten von Alfred Wegener passen würden, vor dem Fernseher
gemütlich. Die Kabine ist benannt nach Hermann Georg Simmons,
auch so ein Abenteurer. Er kam als Botaniker nach Grönland, aber
alle auf seinem Schiff haben sich über ihn lustig gemacht. Zwei
eiskalte Winter war er depressiv, dann tat er sich mit dem Schiffskoch zusammen, der ebenfalls Pflanzen sammelte. Er wurde
berühmt. Mein Blick fällt auf die zwei Bierdosen, die im Kabinenpreis inbegriffen sind. Ich nehme sie mit auf das Aussichtsdeck. Uns
Touristen kann der arktische Wind dort nur recht sein: Das Bier wird
so schnell kalt. Eilig spüle ich den Gedanken hinunter.
Vorbei an Eisbergen und kalbenden Gletschern fährt die MS Fram der norwegischen
Reederei Hurtigruten in den Sommermonaten durch Fjorde und Buchten der grönländischen Küste. Foto: MS Fram inmitten der Eislandschaft vor Ilulissat, Reinhard
Utesch – Guest image / Hurtigruten
Wir erreichen Ilulissat, den meistbesuchten Ort Grönlands, bekannt
durch Fräulein Smilla, das war die mit dem Gespür für Schnee.
Gelbe und rote Holzhäuser, ein Fjord voller Eis. Ein Ausflugsschiff bringt mich zu den Eisbergen. Winzige Eisstückchen treiben
auf dem Wasser, sie glitzern im grellen Licht wie ausgestreute
Diamanten. Ein Eisberg sieht aus wie ein Styroporblock, ein anderer
hat so regelmäßige Rillen, als wären sie von einem Bildhauer. Es
ist so still, dass man das Knarren der Eisberge hört. Als wir an einer
tiefblauen Eishöhle vorbeifahren, klingelt mein Handy. Es hat schon
etwas Surreales: Da ist man in einer der rauhesten Weltgegenden,
und überall gibt es Handyempfang, Internet und CNN.
Im klimatisierten Vortragsraum des Schiffs steht Axel Krack, der
rotbärtige Schiffslektor, und hält einen Vortrag über Polarexpeditionen. Er projiziert Bilder von bärtigen und sehr dick angezogenen
Männern an die Wand. Pioniere auf Powerpoint. Alfred Wegener
kehrte aus Grönland nicht mehr zurück. Er kam nicht voran im
Eis, die Temperatur sank auf minus fünfzig Grad, Wegener starb
an Überanstrengung. Einmal, erzählt Krack, sei während seines
Vortrages ein 92-jähriger Mann aufgestanden und habe gesagt, er sei
ein unehelicher Sohn von Roald Amundsen, dem ersten Menschen
am Südpol. Viel näher ist aber auch Axel Krack dem Abenteuer
noch nicht gekommen.
Selbst das Meer scheint für uns stillzuhalten. Wir können
Abende lang draußen an Deck sitzen, einmal schwimmen zwei
Buckelwale vorbei. Das Schiff gleitet Richtung Polarkreis, der in
Grönland »Hundeäquator« heißt. Südlich davon werden Schafe
gezüchtet, daher darf es dort keine Schlittenhunde geben.
Der Süden Grönlands steht im Zeichen der Industrie und der
Rohstoffe. In Sisimiut, der hügeligen Hafenstadt, sieht man als
Erstes riesige Öltanks. Sie sollten die Stadt eigentlich ein Jahr
lang versorgen, inzwischen werden sie alle zwei Monate aufgefüllt.
Energie wird in Grönland mit Diesel erzeugt, und Grönland braucht
sehr viel Energie. Zum Beheizen der bunten Häuser, deren Holzwände so dünn sind wie bei einem Geräteschuppen. Für die Garnelenfabriken, von denen allein jene in Sisimiut täglich 16.000 Liter
Diesel benötigt. Für die Probebohrungen nach Erdöl, das Grönland
einmal absichern soll.
Demnächst soll es eine Aluminiumschmelze geben. Das Aluminium, das in dem aufwendigen Verfahren verarbeitet wird, muss
allerdings erst aus Australien oder Brasilien importiert werden.
Ausgerechnet das Land, das den Klimawandel vermutlich am unmittelbarsten erleben wird, geht mit Ressourcen um, als gäbe es kein
Morgen.
Während das Schiff in Sisimiut im Hafen liegt, führt ein Kajakfahrer den Passagieren die traditionellen Jagdtechniken der Inuit
vor. Wir stehen oben auf dem windgeschützten Deck, unten auf
dem Wasser macht ein Mann im dünnen Schutzanzug eine Eskimorolle nach der anderen. Immer wieder stürzt er sich Kopf voran ins
eisige Wasser, verschwindet unter seinem Kajak, taucht mit rotem
Gesicht wieder auf. Ein winziger Kajak vor einem Kreuzfahrtschiff – das sagt eigentlich alles über die Welten, die in Grönland
aufeinandertreffen.
Vor uns liegt Kangerlussuaq, der ehemalige amerikanische
Militärflughafen mit einer Containerstadt aus den fünfziger Jahren
drum herum, das Ende unserer Expedition. Das Schiff fährt durch
einen schmalen, von Bergen gesäumten Fjord. Ich unterhalte mich
mit einer der Kellnerinnen, Diana Jean, einer zierlichen Frau mit
wippendem Pferdeschwanz. Sie stammt von den Philippinen, wie
so viele, die auf dem Schiff arbeiten. Diana Jean will in zwei Jahren
heiraten, aber vorher will sie die Welt sehen. Einmal, sagt Diana
Jean, ist das Schiff auf einen Eisberg aufgelaufen. Es gab einen
Riesenalarm, und ein anderes Schiff musste kommen und helfen.
Also doch jemand, der hier ein Abenteuer erlebt hat.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.11.2009
Rundumblick von der MS Fram vor Uummannaq. Foto: Trym Ivar Bergsmo / Hurtigruten
Reisetipp
Die MS Fram ist das jüngste Schiff der norwegischen Linie Hurtigruten. »Fram« bedeutet »vorwärts«, und zwar mit 1 Knoten auf
Expeditionsreisen durch die Polarregionen. In den Sommermonaten ist das Schiff auf verschiedenen Routen an der grönländischen Küste unterwegs. Im Winter fährt es in Gewässern der südlichen Erdhalbkugel durch die Antarktis. Weitere Informationen gibt
es bei Hurtigruten im Internet unter http://www.hurtigruten.de/
Expeditions-Seereisen, per Telefon: 040/376930 oder per E-Mail:
info@hurtigruten.de.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.8.2005
Aus dem Maschinenraum
Technische Daten der MS Fram
Länge über alles: 114 Meter \.........../
Breite: 20,20 Meter
Passagierdecks: 7
Höchstgeschwindigkeit: 16 Knoten
Maschinenleistung: 4620 kW
Schiffsgröße: 11647 BRZ
Besatzung: 70
Passagiere: 318
Stapellauf: 2006
Reederei: Hurtigruten ASA
Besonderheiten: Die MS Fram wird ausschließlich auf Expeditionskreuzfahrten eingesetzt. Im Sommer fährt sie in arktischen, im
Winter in antarktischen Gewässern.
Grafik: Hurtigruten
Den Emotionen auf
der Spur
Gefühle
eBook
Umfang: ca. 100 Seiten
September 2013
ISBN (e-Pub): 978-3-89843-257-3
ISBN (PDF): 978-3-89843-258-0
Preis: 7,99
Trauertäler und Freudenhügel
Werden heute wirklich weniger Emotionen
geäußert als vor hundert Jahren? Eine Studie
jedenfalls sieht es so.
Von Ulrich Mees
G
ehen wir heutzutage offener und aufgeschlossener mit Emotionen um als die Menschen vor hundert Jahren? Diese und
andere Fragen zum kulturellen Wandel können anhand quantitativer
Analysen riesiger Mengen von Textdaten beantwortet werden. So
haben amerikanische und britische Forscher mittels Computerprogrammen den digital gescannten Buchbestand von Google auf der
Suche nach Höhen und Tiefen »emotionaler« Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts durchforstet und dabei vier Prozent des gesamten
Buchbestandes analysiert: fünf Millionen englischsprachige Bücher
(PLOS ONE, 2013, 8,3).
Die Autoren verwendeten sechs »Stimmungswortlisten«. Diese
bestehen aus 146 Begriffen für Ärger (anger), 92 Ausdrücken für
Angst (fear), 30 für Ekel (disgust), 224 für Freude (joy), 115 für
Traurigkeit/Trauer (sadness) und 41 für Überraschung (surprise).
Allerdings sind diese Ausdrücke häufig nur lexikalische Variati-
onen desselben Wortes (z.B. depression, depressive, depressing). Es
wurden alle Buchsorten durchkämmt, also neben fiktionalen Werken
auch Sachbücher wie Reparaturanleitungen oder Kochbücher. Für
jeden Begriff aus den sechs Stimmungswortlisten wurde seine
Auftrittshäufigkeit pro Jahr zwischen den Jahren 1900 und 2000
(jeweils einschließlich) ermittelt. Da die Anzahl der gescannten
Bücher in diesen Jahren schwankte, wurde der jährliche Umfang
an Wörtern standardisiert.
Über das Jahrhundert hinweg lassen sich emotionale Gipfel
und Täler finden, wobei das Muster offensichtlich bestimmte große
historische und soziale Trends spiegelt: So gibt es drei »Glücksgipfel«, nämlich die zwanziger Jahre (»Roaring Twenties«) sowie
in abgeschwächter Form die sechziger Jahre (Baby-Boom) und die
Jahre gegen Ende des Jahrhunderts; dagegen bilden die vierziger
und in milderer Form die achtziger Jahre ein »Traurigkeitstal«, da
die Mittelung von »Trauer/Traurigkeit« die von »Freude« überwog
(es wurde die Differenz zwischen »Freudewörtern« und »Traurigkeitswörtern« aus den Stimmungswortlisten als Maß verwendet).
Allerdings fehlt ein entsprechendes Traurigkeitstal gegen Ende des
Ersten Weltkrieges.
Aber was besagen die Ergebnisse? Verwenden wir wirklich mehr
emotionsbezogene Wörter als die Menschen vor hundert Jahren?
Das überraschende Ergebnis der Analyse lautet: Nein, im Gegenteil.
Der Gebrauch von Emotionswörtern ist im zwanzigsten Jahrhundert
stetig zurückgegangen. Es gibt nur eine Abweichung: Angstbezogene Wörter nahmen in ihrer Häufigkeit bis in die sechziger Jahre ab
und seit den siebziger Jahren wieder zu. Sie erreichten gegen Ende
des Jahrhunderts ungefähr wieder ihr Niveau der Jahrhundertmitte.
Übrigens wurde diese Analyse anhand eines Datensatzes wiederholt, der nur fiktionale englische Bücher enthielt. Auch dort fanden
die Autoren der Studie eine ähnliche Abnahme im Gesamtgebrauch
stimmungsbezogener Wörter.
Sind wir wirklich weniger emotional in unserer veröffentlichten
Sprache? Wir leben doch in einer Welt des Fernsehens – das Internet
und die neuen sozialen Medien hatten im zwanzigsten Jahrhundert
noch nicht die heutige Bedeutung –, und Gefühle scheinen allgegenwärtig. Aber nach diesen Forschungsergebnissen irren wir uns.
Sind wir also entgegen unserer eigenen Einschätzung doch eher
coole Asketen, die nur selten ihre Gefühle mitteilen, sie beschreiben
oder über sie schreiben? Feiert die Theorie des Soziologen Norbert
Elias hier ihre empirische Bestätigung, wonach die Menschen sich
im Prozess der Zivilisation aufgrund zunehmender wechselseitiger Abhängigkeiten gezwungen sehen, ihre Affekte immer mehr
zu disziplinieren und zu kontrollieren? Allerdings bezieht sich die
dort postulierte Zunahme an Affektkontrolle primär auf negative
Emotionen wie Scham und Peinlichkeit, nicht auf positive Emotionen wie Freude.
Aber wie vertrauenswürdig sind die Ergebnisse dieser Studie
eigentlich? So kann als Erstes bemängelt werden, dass nur die
Häufigkeit von Stimmungswörtern analysiert wurde, nicht aber
ihre jeweilige Intensität. Es ist vorstellbar, dass im Laufe des
vergangenen Jahrhunderts emotionsrelevante Wörter zwar seltener
verwendet wurden, dann aber durch intensivere Wörter ersetzt
wurden, dass etwa statt von »like« mehr von »love« die Rede ist. In
diesem Fall ließe sich die These der zunehmenden Emotionskontrolle nicht mehr halten.
So zeigt ein Blick auf die sechs Stimmungswortlisten, dass dort
auch Begriffe aufgenommen wurden wie Freundlichkeit, Schüchternheit, Aggressivität oder Brüderlichkeit. Dies sind jedoch keine
Bezeichnungen für aktuelle Emotionen, sondern für überdauernde
Persönlichkeitsmerkmale. Damit sollen latente, stetige Verhaltensbereitschaften beschrieben werden. »Schüchternheit« bezeichnet
das häufige Vorkommen einer sozialen Angst als aktueller Emotion,
»Aggressivität« ein häufiges Manifestieren ärgeraffiner Aggressionen. Wenn jemand als »schüchtern« beschrieben wird, ist dies also
viel gravierender, als wenn er einmal »Angst hat«. Auch hier wäre
zu prüfen, ob der schriftliche Gebrauch solcher emotionsaffiner
Persönlichkeitsmerkmale zugenommen hat, was dann die Häufigkeitsabnahme reiner Stimmungs- und Emotionswörter kompensieren würde.
Und schließlich ist zu kritisieren, dass Emotionen auch anders
schriftlich kommuniziert werden können als durch ausdrückliche
Nennung von Stimmungs- und Emotionswörtern, nämlich durch
Metaphern und Metonymien. Wenn mir jemand auf die Pelle rückt
oder auf den Schlips tritt, gehe ich manchmal in die Luft und
explodiere schließlich. Dies sind geläufige sprachliche Bilder zur
Beschreibung unserer Wut, ohne dass dieses Wort verwendet wird.
Und so ist es auch bei der Metonymie, bei der ein Ausdruck einen
anderen ersetzt, wobei häufig eine Teil-Ganzes-Beziehung zwischen
den beiden Begriffen besteht (»Stahl« für Dolch, »Washington« für
die Vereinigten Staaten). Eine Emotion kann metonymisch durch
ihre (vermeintlichen) physiologischen Effekte ersetzt werden; so
steht eine Wahrnehmungsstörung wie »rotsehen« als unterstellter
Effekt von Wut für diese Emotion. Auch ein aggressiver tierischer
Ausdruck (»knurren«, »brüllen« oder »anschnauzen«) kann metonymisch für die Emotion Wut stehen.
Vortrefflich bringt Wilhelm Busch hier die Teil-Ganzes-Beziehung im Konflikt um die
gut geschützte und materiell abgesicherte Privatsphäre zum Ausdruck: »Der Privatier ganz zornentbrannt, Haut mit dem Säbel umeinand.« Wilhelm Busch: Die Diebe,
Kapitel 2
Wenn man nun liest, dass ein Chef »rotsieht« und einen Untergebenen »anschnauzt«, so ist klar, dass er wütend auf den Untergebenen ist, ohne dass dieses Wort erwähnt wird. Emotionale Metaphern und Metonymien veranschaulichen insbesondere intensive
Gefühle (also etwa Wut statt Ärger). Es ist daher unabdingbar, in
einer Untersuchung eines möglichen Emotionswandels solche
konventionalisierten Ausdruckstypen mit zu erfassen. Denn es kann
nicht ausgeschlossen werden, dass ein
Rückgang der Nennung von Stimmungs- und Emotionswörtern in fiktionalen Werken kompensiert wird durch eine parallele Zunahme emotionaler Metaphern und Metonymien. Das
Fazit fällt ernüchternd aus: So interessant diese große Studie auch
ist, so verbesserungswürdig erscheint sie. Dies aber könnte sich
durchaus lohnen. Für uns wären dabei natürlich auch interkulturelle
Vergleichsstudien mit anders-, etwa deutschsprachigem Textmaterial von besonderem Interesse.
Der Autor lehrte und forschte bis zu seiner Pensionierung Emotionspsychologie an der Universität Oldenburg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.2013
Inside the Company: Die
National Security Agency
National Security
eBook
Umfang: ca. 280 Seiten
Mit 8 Abbildungen
Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung
Februar 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-282-5
ISBN PDF: 978-3-89843-281-8
Preis: 9,99 €
Totale Überwachung
Die NSA will seit 2001 alles wissen
Von Thomas Gutschker
I
m Juni 2008 besuchte Generalleutnant Keith Alexander, der
Chef des amerikanischen Geheimdienstes NSA, seine Mitarbeiter in Menwith Hill. Der Stützpunkt liegt in der englischen Grafschaft North Yorkshire und wird seit den fünfziger Jahren von der
NSA betrieben. Von dort wurde im Kalten Krieg der satellitengestützte Datenverkehr der Sowjetunion abgefangen, es war der wichtigste Knoten im globalen Spionageprogramm »Echelon«. Alexander hatte den Abhörprofis eine schöne »Sommer-Hausaufgabe«
mitgebracht, wie er es formulierte: »Warum können wir nicht alle
Signale zu jeder Zeit sammeln?« So ist es auf einem Dokument aus
der Sammlung des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden
überliefert.
Alexanders »Hausaufgabe« mag überzogen oder gar absurd
wirken – aber nur auf Leute, die nicht zur NSA gehören. Die Mitarbeiter selbst können kaum überrascht gewesen sein: Alles zu wissen
und alles zu speichern war seit 2001 zum neuen Ziel der technischen
Aufklärung geworden. Damit änderte sich auch das Verhältnis zu
den Partnern. Es konnte keine Freunde mehr geben, deren Überwa-
chung tabu war – es sei denn, sie stellten Daten freiwillig zur Verfügung wie die Briten. Nicht einmal die Privatsphäre von Amerikanern
blieb verschont. So entstanden Überwachungsprogramme wie das
von Snowden enthüllte »Prism«, bei dem die NSA Daten amerikanischer Internetkonzerne abzweigt.
Am Anfang dieser Entwicklung stand ein Mann, dessen Name
böse Erinnerungen weckt: John Poindexter. Als Sicherheitsberater Reagans war Poindexter über illegale Waffenlieferungen
an Iran und nicaraguanische Rebellen gestürzt und wegen krimineller Verschwörung verurteilt worden. Anfang 2002 bekam er
seine zweite Chance als Regierungsbeamter. Präsident George W.
Bush machte den früheren Admiral zum Direktor eines Programms
namens »Total Information Awareness«, zu Deutsch: vollständige
Informationskenntnis.
Das Programm war im Pentagon angesiedelt und startete
mit einem Budget von 200 Millionen Dollar im Jahr. Poindexter hatte freie Hand und steckte sich ein ehrgeiziges Ziel. Ein
»Manhattan Project for Counter-Terrorism« wollte er aufbauen
mit den besten Informatikern des Landes – so wie einst Physiker
um Edward Teller die Atombombe gebaut hatten. Nun, im digitalen Zeitalter, sollte diese vernichtende Waffe eine riesige Datensammlung sein.
Poindexter wollte Terroristen aufspüren, die sich scheinbar
normal verhielten – so wie die Attentäter von 9/11. Erst aus der
Kombination vieler einzelner Informationen würde sich ein verdächtiges Muster ergeben, glaubte er. Einkäufe in Online-Shops, Kontobewegungen, Kreditkartenrechnungen, Telefongespräche, E-Mails,
besuchte Websites: das alles sollte in einer Datei zusammengeführt
und mit einer neuartigen Software analysiert werden.
Ein Mitarbeiter Poindexters sagte einmal, die Aufgabe sei
schwieriger als die Suche nach der Nadel im Heuhaufen: »Wir
müssen viele Haufen durchsuchen, nicht bloß einen; es gibt keinen
Kontrast zwischen glänzenden, harten Nadeln und mattem, weichem
Heu; es gibt viele Möglichkeiten, Teile zu Nadeln zusammenzufügen und daraus Gruppen zu bilden; und wir können nicht sagen,
ob eine Nadel oder eine Gruppe gefährlich ist, bevor sie nicht
wenigstens zum Teil zusammengesetzt ist. Im Prinzip müssen wir
alle Nadelteile über die gesamte Zeit verfolgen und alle möglichen
Kombinationen in Betracht ziehen.« Es ging also um totale Überwachung, um Allwissenheit – und so sah auch das Programmsiegel
aus: eine steinerne Pyramide, an deren Spitze ein Auge auf den
Globus blickt.
Poindexter hatte Pech. Das Programm flog auf, Abgeordnete
witterten einen Angriff auf die Freiheitsrechte. Im August 2003
musste der frühere Admiral sein Amt aufgeben, der Kongress
strich die Mittel. Doch damit war das Projekt nur scheinbar
beerdigt. Einzelne Forschungsarbeiten liefen weiter, nun jedoch
unter dem Dach der NSA. Was niemand ahnte: Erst im Nachtschatten des Geheimdienstes ging die Saat auf, die Poindexter
gelegt hatte.
An der Spitze der NSA stand seit 1999 Michael Hayden, ein
Luftwaffen-General. Hayden erkannte rasch, dass die Satellitenspionage an Bedeutung verlor und das weltweite Datennetz keine
Grenzen mehr kannte. So entstand das Projekt, Glasfasernetze anzu-
zapfen – erst auf amerikanischem Boden, dann weltweit. Hayden
trat an den Marktführer QWest heran und köderte dessen Vorstandschef mit lukrativen Verträgen. Der weigerte sich zwar standhaft,
seine Leitungen zur NSA abzuzweigen. Doch fanden die Schnüffler
andere Zugänge. Sie zapften die Anlandepunkte der großen Unterseekabel ebenso an wie Internetknoten von AT&T.
Hayden ermunterte den damaligen Präsidenten Bush nach 9/11,
ein Programm aufzulegen, das es der NSA ohne Auflagen erlaubte,
Amerikaner auszuspähen, die Kontakt zu Terrorverdächtigen hatten.
Es lief drei Jahre lang – bis sich der Justizminister weigerte, es
weiter zu genehmigen. Gleichwohl wurde der Sammeltrieb der NSA
kaum gebremst. Das für Auslandsüberwachung zuständige Sondergericht erlaubte der Regierung nämlich, sämtliche Verbindungsdaten
von Amerikanern zu speichern, die mit Ausländern kommunizieren –
selbst ohne Verdacht. Seit 2001 hat das Gericht von 21.000 Überwachungsanträgen nur zehn abgelehnt.
Unter Hayden wuchs die NSA zu einer Riesenbehörde mit
35.000 Mitarbeitern. Der General ließ gewaltige Datenspeicher
und Analysezentren anlegen – nicht mehr allein am Hauptstandort
in Maryland, sondern über das Land verteilt. Er trieb auch die
Entwicklung von Supercomputern voran, die verschlüsselte Inhalte
knacken können. Im NSA-Forschungsinstitut wurde zu künstlicher Intelligenz geforscht. Ein Programm namens »Aquaint« sollte
simulieren, wie Menschen denken und entscheiden. Ein Senator,
dem es 2003 vorgeführt wurde, schrieb anschließend besorgt in
einem Brief, er fühle sich doch sehr an Poindexters Projekt erinnert.
Keith Alexander folgte 2005 auf Hayden und führte dessen
Kurs fort, bis heute – mit noch mehr Geld und Personal. Als Alexander 2007 den Grundstein für ein Abhörzentrum in Georgia legte,
begrüßte er Mitarbeiter mit den Worten: »Sie verrichten das Werk
des Herrn.« Das war kein Scherz. Es entsprach der NSA-Religion.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.07.2013
Interessantes aus dem Internet
Wir haben eine kleine Sammlung informativer
Webseiten abseits des Web-Mainstream zu­sammen­
gestellt, die ein wenig Licht auf die Aktionen des
amerikanischen Geheimdienstes werfen.
Von Hans Peter Trötscher
http://media.ccc.de/browse/congress/2013/30C3_-_5255_-_en_-_
saal_1_-_201312301400_-_through_a_prism_darkly_-_kurt_
opsahl.html
Kurt Opsahl von der Electronic Frontier Foundation erklärt in
diesem Video auf dem Chaos Communication Congress anschaulich das NSA-Spionageprogramm PRISM.
http://tech.fortune.cnn.com/2013/12/27/nsa-snowden-2013/
CNN stellt die zehn „schockierendsten“ Offenbarungen rund um die
NSA zusammen. Die Seite ist nicht zuletzt interessant für das amerikanische Empfinden rund um die Snowden-Enthüllungen.
http://www.dradiowissen.de/nsa-prism-supergrundrechte-und-kryptoparty.126.de.html?dram:article_id=254564
Das Deutschlandradio präsentiert einen Radio-Talk „Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat“. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage,
was man gegen die allgegenwärtige Überwachung tun kann.
http://www.daten-speicherung.de/index.php/nsa-vs-bnd-warumprism-in-deutschland-undenkbar-ist/
Daten-Speicherung.de erklärt leichtverständlich, wie PRISM funktioniert und welche Möglichkeiten sind dahinter noch verbergen.
https://netzpolitik.org/2013/xkeyscore-nsa-programm-sammeltbeinahe-alles-was-ein-nutzer-im-internet-tut/
Netzpolitik.org über die Datensammelsoftware xkeyscore und die
von Edward Snowden zu diesem Thema vorgelegten NSA-Folien.
https://www.law.upenn.edu/live/files/1718-ambinder10-things
Die University of Pennsylvania stellt eine Faktensammlung um die
Datensammlungder NSA ins Netz.
Sehnsuchtsorte in
Andalusien
Andalusien
eBook
Umfang: ca. 230 Seiten
Mit 16 Abbildungen
Juni 2013
ISBN (ePub): 978-3-89843-261-0
ISBN (PDF): 978-3-89843-262-7
Preis: 9,99 €
Costa de Huelva: Ja, wo
hängen sie denn?
Chamäleonsuche an der Costa de Huelva
Von Rolf Moenikes
K
eines zeigt sich. Keines ist zu sehen. Nicht eines. Kein einziges
Chamäleon. Machen sie sich unsichtbar? Tarnen sie sich mit
ihrem Farbwechselspieltrick? Es ist zum Augenverdrehen.
Nur als Plakatwesen sind sie vorhanden, die exotischen
Verwandlungsechsen. Und das nun unübersehbar. An der »carretera«, der Landstraße von Isla Cristina nach La Antilla, dient ein
Chamäleon zusammen mit Strand, Surfern und Golf als Symbol für
die Natur der nördlichen Costa de la Luz, der Costa Huelva. Es ist
überhaupt erst die wuchtige Werbetafel »Isla Cristina, un mar de
luz«, die die Besucher aufmerksam macht auf das Ungewöhnliche,
Besondere, das es hier geben soll. Denn Golf, Surfen, Strände, das
alles ist selbstverständlich, das gibt es an fast jeder Küste Spaniens.
Aber dieses Tier auf dem Bild sprengt den Rahmen. Das ist ein
Hingucker. Ein Rätsel, ein Fixierbild? Doch was soll es bewirken?
Einen aufmerksam, unruhig oder gar süchtig machen? Chamäleonsüchtig? Aber wo sollen diese Chamäleons sein?
Nun ist ein Chamäleon kein Tiger oder Löwe, es ist eher wie
ein Bernstein an der Ostseeküste. Ein Schatz, und der will gefunden
werden. Durch Zufall oder durch hartnäckiges Aufspüren. So viel
steht fest: Das Chamäleon auf dem Plakat kann einem den ganzen
Urlaub durcheinanderbringen. Denn jetzt, ob bei Tag oder bei Nacht,
am Strand oder auf dem Golfplatz oder inmitten des Lichtmeeres,
regiert nur noch dieser Wahn: Ein Chamäleon muss her.
Dabei wollten wir doch nur die Strände genießen, Strände, die
noch nicht von Touristen überlaufen und noch unverbaut sind. Wir
wollten nach Lepe, Huelva, El Rocío ... ein Chamäleon hatten wir
nicht eingeplant. Aber da es nun einmal der akkreditierte Botschafter
dieser Küste ist, wird es so schwer doch nicht werden, eines der
Tiere herumlaufen oder herumklettern zu sehen. Auf jedem Ast,
jedem Zweig, denkt man angesichts der Werbung, müsste eines
sitzen. Und tatsächlich wird der Waldabschnitt zwischen Isla Cristina und Islantilla sogar »Chamäleonwald« genannt, mitten hindurch
führt die »Chamäleonroute«. Sandiger Buschwald, durchzogen von
einer Eukalyptusbaumallee, hier also ist es zu Hause, das schlafäugige Minimonster.
Und prompt ist da schon wieder ein Bild, ein Chamäleonbild,
eine Chamäleontafel, ein Chamäleonhinweis – ja, ich bin noch da,
mich gibt es hier. Zwischen Wald und Strand hockt es da glotzäugig blinzelnd auf einem Ast, auf ein Opfer lauernd, das es mit
seiner pfeilschnellen Zunge einfangen wird. Eine künstlerische
Darstellung, sicher, oder auch nur der Versuch, aber eben etwas
Ungewöhnliches, Auffallendes. Dieses putzig-schaurige Reptil mit
dem Kringelschwanz und dem gelben Auge erinnert die Strand-
besucher und Sonnensucher übergroß daran, dass es geschützt ist,
geschützt werden will, geschützt werden muss. Wie ein Schrei wird
es verkündet.
Eigentlich müsste das jeder kapieren: Bitte ein Chamäleon nicht
anfassen, nicht aufheben, wenn es aus dem Gezweig gefallen ist,
keinen Ast schütteln, wenn es unbeweglich wie tot daran hängt, auf
Lauer. Am besten, denken wir uns dazu, gar nicht hingucken, so tun,
als hätte man es gar nicht gesehen. Aber das Chamäleon ist sowieso
schlauer. Es wechselt seine Farbe und verschmilzt mit dem Hintergrund. So wird die Tafel auch zur Ermahnung, bloß nicht auf eines
zu treten oder eines vom Zweig zu streifen, ungesehen, en passant.
Blickt gleichzeitig nach vorn und zurück: Das Chamäleon passt in vielfacher Hinsicht
gut nach Andalusien. Foto: fatuartetmj / Fotolia.de
Aber so perfekt können die sich doch gar nicht tarnen, dass sie überhaupt nicht zu sehen sind. Zu sehen jedenfalls sind nur Wiedehopfe,
was auch ein hübsches Bild ist, und diese kecken Blauelstern, die
nur hier heimisch sind. Ob sie die Chamäleons vielleicht weggepickt haben? Möglich ist das schon. Oder ob Chamäleons nicht nur
die Farbe, sondern auch die Form wechseln können?
Als wir nicht länger an diesen Chamäleonspuk glauben wollen –
an den Spuk schon, nicht aber an die Chamäleons –, fällt uns eine
Ansichtskarte in die Hand, und es ergreift uns sofort stummes
Entsetzen, wenn nicht gar Verzweiflung. In einem Schreibwarenladen in Isla Cristina hat sie auf uns gelauert, anders kann man es
nicht nennen, auf uns, die Ungläubigen, die Chamäleonzweifler. Da
ist es also wieder, dieses Reptil, diesmal grün-weiß gestreift, wie
in einem Tarn-Raumanzug steckend, in Lauerstellung positioniert.
Hier, auf dem Bild, ist die Tarnung ganz deutlich zu sehen. Wieso
also nicht auch im Wald?
Einst ein Einwanderer, ist das Chamäleon heute ein authentischer Bewohner unserer Natur: So steht es auf der Rückseite der
Ansichtskarte. Also doch. Wozu sonst auch die Chamäleonbilder auf
den übersichtlichen und bunten Lageplänen von Islantilla, La Antilla
und Isla Cristina, die man in den Touristenbüros erhält? Chamäleons
sind geradezu eine Selbstverständlichkeit hier. Wer sie nicht sieht,
muss sie eben übersehen haben, oder er weiß einfach nicht, dass
es sich um ein Chamäleon handelt. Lieber mit niemandem darüber
sprechen. Man spricht ja auch nicht über das Licht, den Sand, die
Muscheln – die sind einfach da, so wie die Chamäleons. Niemand
sagt, dass er eins gesehen hat. Irgendwie beruhigt das einen, und
man freut sich, an dieser schönen Küste Urlaub zu machen, ohne
von Chamäleons gestört zu werden, weil man sie ja auch nicht stört.
Der ältere Herr, der im portugiesischen Monte Gordo in den
Shuttlebus zum Flughafen Faro einsteigt, setzt sich neben uns.
»Kommen Sie von drüben?«, fragt er. Drüben? Welches Drüben
meint er denn? »Na, Andalusien, auf der anderen Seite des Rio Guardiana, da, wo die Chamäleonküste ist« – und er kichert –, »wo es die
Chamäleons gibt.« Das hat natürlich wieder gesessen. Chamäleons,
Chamäleonküste, ja, ja, von dort kommen wir. Aha, sagt er, ich kann
keine Chamäleons leiden. Deswegen mache ich immer hier Urlaub.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.2.2008
Tipps für die Reise
Von Birgitta Fella
Reiseführer
Andalusien. Baedeker Wissen
Verlag Karl Baedeker / MairDumont, 2013, 487 Seiten, ISBN
978-3829713382
Andalusien. Lonely Planet Reiseführer
Lonely Planet Deutschland, 2013, 411 Seiten, ISBN 978-3-82972288-9
Andalusien. Reiseführer
Von Thomas Schröder, Michael Müller Verlag, 2011, 696 Seiten,
ISBN 978-3-89953-598-3
Andalusien. Zeit für das Beste
Von Andrea Hoffmann, Kay Maeritz, Hans Zaglitsch, Bruckmann
Verlag, 2012, 288 Seiten, ISBN 978-3-7654-5890-3
CityTrip Granada, Sevilla, Córdoba
Von Hans-Jürgen Fründt, Verlag Reise Know-How, 2013, 144 Seiten,
ISBN 978-3-8317-2214-3
Reise-Handbuch Andalusien
DuMont Reiseverlag, 2012, 440 Seiten, ISBN 978-3-7701-7678-6
Wanderführer Andalusien
Von Jürgen Paeger, DuMont-Wanderführer, MairDumont, 2012, 156
Seiten, ISBN 978-3-7701-8043-1
Reiseerzählungen und Bildbände
Das Andalusienbuch. Highlights einer faszinierenden Region.
Kunth Verlag, 2011, Bildband, 256 Seiten, ISBN 978-3-89944822-1
DuMont Bildatlas: Andalusien. Maurische Pracht. Lothar Schmidt,
DuMont Reiseverlag, 2010, ISBN 9783770192038
Hausemer, Georges: Im Land der Mauren und Olivenhaine. Andalusische Streifzüge. Picus Verlag, 2000, 132 Seiten, ISBN 978-385452-728-2
Hintzen-Bohlen, Brigitte: Andalusien. Kunst & Architektur.
h.f.ullmann publishing , 2007, 536 Seiten, ISBN 978-3833143465
Mayer, Heike S.: Unter der Sonne Andalusiens. Reiseerzählung.
Wiesenburg-Verlag, 2010, 196 Seiten, ISBN 978-3-942063-52-4
Neuhaus, Rolf / Serrano, Jesús: Andalusien. Literarische Reisebilder aus dem maurischen Spanien. Klett-Cotta, 2001, 219 Seiten,
ISBN 3-608-93161-9
Neuhaus, Rolf / Pasdzior, Michael: Andalusien. Eine Bilderreise.
Ellert & Richter Verlag, 1998, 96 Seiten, zahlreiche Farbfotografien,
eine Karte, ISBN 978-3892348207
Wissen und Unterhaltung
Bossong, Georg: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur.
Verlag C.H. Beck, 2010, 128 Seiten, ISBN 978-3-406-55488-9
Lehrreich und leidenschaftlich zugleich schaut der Autor zurück auf
Glaube, Dichtung und Wissenschaften in al-Andalus.
Bossong, Georg (Hrsg.): Das Wunder von al-Andalus. Die
schönsten Gedichte aus dem Maurischen Spanien. Verlag C.H. Beck,
2005. 350 Seiten, ISBN 978-3-406-52906-1
»Die Symbiose von arabischer und hebräischer Sprachkultur,
von muslimischem und jüdischem Geist bringt Wunder hervor –
ihre Konfrontation kann nur Ungeheuer gebären«, urteilt
Bossong in seiner Anthologie zum poetischen Erbe Andalusiens.
Das Buch versammelt nicht nur viele schöne alte Gedichte,
sondern es ist auch eine Kollektion faszinierender Dichterbiographien.
Falcones, Ildefonso: Die Pfeiler des Glaubens. Historischer Roman.
Goldmann Verlag, 2012, 928 Seiten, ISBN 978-3-442-47775-3
Der Roman handelt von dem Konflikt zwischen Morisken und
Christen im 16. Jahrhundert in Andalusien.
Hemingway, Ernest: Tod am Nachmittag. rororo Taschenbücher
Nr.22609, Rowohlt Verlag, 2007, 477 Seiten, ISBN 978-3-49922609-0
Hemingway beschreibt und analysiert präzise und eindringlich
das Ritual der Kämpfe zwischen Torero und Stier, mit zahlreichen
Bildern dramatischer Momente des Stierkampfs, die Hemingway
selbst kommentiert hat.
Hofmann, Felix (Hrsg.): Andalusische Ansichten. Lesebuch nicht
nur für Reisende, Verlag Winfried Jenior, 1996, 240 Seiten, ISBN
978-3-928172-79-0
Diese Anthologie präsentiert Texte aus der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, die sich kritisch mit der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung in Andalusien auseinandersetzen.
Hottinger, Arnold: Die Mauren. Arabische Kultur in Spanien.
Wilhelm Fink Verlag, München / Verlag Neue Zürcher Zeitung,
Zürich, 2005 (2. Auflage), 496 Seiten, ISBN 978-3-7705-3075-5
Der Arabist und Nahost-Journalist dokumentiert die arabische
Geschichte Spaniens ohne Verklärung. Das fast 500 Seiten starke
Werk ist eine maßvolle, bisweilen auch kritische Huldigung an die
maurische Kultur.
Hunke, Sigrid: Allahs Sonne über dem Abendland. Fischer
Taschenbuch, 2009 (6. Auflage) 375 Seiten, ISBN 978-3-596150885
Vorurteilsfrei und detailreich führt uns Sigrid Hunke in dem 1960
erstmals erschienenen Werk die Vorreiterrolle der islamischen Welt
und die arabischen Wurzeln Europas vor Augen.
Irnberger, Harald: Andalusische Arabesken. Literarische Streifzüge. Artemis & Winkler, 2002, 250 Seiten, ISBN 978-3-53807147-6
Der literarische Reiseführer folgt Autoren und Büchern, Literatur
und Geschichte auf einer Rundreise durch eine der ältesten Kulturlandschaften Europas.
Kennedy, Alison L.: Stierkampf. Klaus Wagenbach Verlag, 2001,
160 Seiten, ISBN 978-3803131577
Der Autorin gelingt es, die Intensität des Stierkampfs in starke Worte
zu fassen. Sehr persönlich schreibt sie über ihre Reise nach Spanien
und über den Stierkampf, bei dem es um Menschen geht, die »ihr
Leben riskieren, um davon zu leben«.
Knipp, Kersten: Flamenco. Suhrkamp Verlag, 2006, 244 Seiten,
ISBN 978-3-518-45824-2
Der Autor fasst 150 Jahre Flamencogeschichte unterhaltsam und
informativ zusammen und belebt die Musikgeschichte mit zahlreichen Anekdoten, literarischen und politischen Zitaten.
Menocal, María Rosa: Die Palme im Westen. Muslime, Juden
und Christen im alten Andalusien. Kindler, 2003, 383 Seiten, ISBN
978-3463404301 (gebraucht erhältlich)
Die anschauliche und lebendig erzählte Geschichte der maurischen
Herrschaft in al-Andalus ist ein Plädoyer für die Tugend der Toleranz zwischen den Weltreligionen.
Neuhaus, Rolf: Der Stierkampf. Eine Kulturgeschichte. Insel
Verlag, 2007, 338 Seiten, mit zahlreichen Fotografien, ISBN 978-3458-34952-5
Spanienkenner Rolf Neuhaus hat eine sorgfältig recherchierte, mit
Details zwischen harten Fakten und wirkungsmächtigen Legenden
gespickte Geschichte des Stierkampfs geschrieben.
Neuhaus, Rolf: Fiestas. Spanien im Festrausch. Verlag Winfried
Jenior, 1999, 304 Seiten, ISBN 978-3-934377-30-1
In keinem anderen europäischen Land wird derart gerne, exzessiv
und ausgefallen gefeiert wie in Spanien. Das Buch erklärt Motive,
Sinn und Hintergründe der spektakulären Massenamüsements und
trägt zum Verständnis der kollektiven Volksfesträusche bei. Zum
Abschluss führt ein Kalender mehr als achthundert der wichtigsten
spanischen Volksfeste auf.
Stark, Günther: Spuren des Flamenco. Geschichte einer Afición.
Akademische Verlagsgemeinschaft München, 2009, 304 Seiten,
ISBN 978-3-86924-954-4
Als 19jähriger geht der Autor nach Andalusien, um den Spuren
seiner „Afición flamenca“ zu folgen: in jenes „heiterste Andalusien, in seinen äußersten, vom Meerwind erfrischten Westen, wo die
Epiphanie des Flamenco, der Triumph dieser strengen, hieratischen
Kunst in strahlender Popularität sich zuerst ereignete“.
Tietje, Ute: Andalusische Küche. Iberische Köstlichkeiten mit
maurischem Erbe. Buffalo Verlag, 2010, 104 Seiten, 978-39809141-4-7
Das Buch enthält eine Sammlung von mehr als 100 Rezepten aus
der andalusischen Küche.
Wenn Maschinen denken:
Künstliche Intelligenz
Denken 3.0
eBook
Umfang: ca. 204 Seiten
Mit zahlreichen Tipps für die Vertiefung des Themas
November 2013
ISBN (e-Pub): 978-3-89843-259-7
ISBN (PDF): 978-3-89843-260-3
Preis: 9,99 €
Simulanten des Gehirns:
Kann man das Denkorgan
nachbauen?
Unterkomplex: Was im Computer und Labor
wächst
Von Joachim Müller-Jung
K
aum einer, der vor anderthalb Jahren »Watson« in der amerikanischen Quizsendung »Jeopardy!« erlebte, konnte sich der
Faszination des unsichtbaren Androiden entziehen. Der Supercomputer beantwortete mit atemberaubender Leichtigkeit und in annähernd natürlicher Sprache die gestellten Fragen und besorgte sich
aus einer gewaltigen Datenbank die Fakten, die er zur Beantwortung der Fragen benötigte – erfolgreicher als die beiden bis dahin
erfolgreichsten Spieler aus dem amerikanischen Kulturkreis des
Homo sapiens. Watson schien das menschliche Gehirn nicht nur
zu imitieren, er war in der Verarbeitung bestimmter Informationen
sogar leistungsfähiger. Die meistgestellte Frage lautete deshalb
auch: Wie nah sind Ingenieure und Informatiker der Simulation
unseres Gehirns schon gekommen?
Berichte über digitale Netzwerkintelligenz, wie sie »Blue
Brain« an der École Polytechnique in Lausanne verkörpert, beeindruckten die Fachleute. Mit mehr als einer Million Nervenzellen
und aufbauend auf extrem detaillierten Analysen der Architektur,
Verschaltung und Signalübertragung wurde zumindest ein kleiner
Ausschnitt der Großhirnrinde nachgebaut. Gerald Edelman ließ
Computersimulationen von Milliarden Nervenzellen fertigen, auch
Modelle mit bis zu hundert Milliarden Zellen wurden bekannt. Doch
das alles Entscheidende, was man von einer Simulation erwarten
darf, die Funktionalität und damit die Erledigung elementarer kognitiver Funktionen – Denken, Lernen, Gedächtnis – bis hin zur Realisierung der Verhaltensweisen, sind die Maschinenhirne schuldig
geblieben.
Genaugenommen ist es sogar ziemlich ernüchternd, was die
programmierten Denksklaven zu leisten imstande sind. Das menschliche Gehirn mit seinen Tausenden von Zelltypen und seinen Abermilliarden Verknüpfungen, dem Netz an Leitungsbahnen und
Synapsen, nachzuempfinden, ist offensichtlich eine Herkulesaufgabe, die sämtliche Kapazitäten an Soft- und Hardware noch weit
übersteigt. In der Zeitschrift »Science« (Bd. 338, S. 1202) war
nachzulesen, wie weit und doch primitiv die Simulationsversuche
heute sind. Chris Eliasmith und seine Kollegen von der University
of Waterloo in Kanada haben mit ihrem Model »Spaun« (Semantic
Pointer Architecture Unified Network) »erstmals ein funktionierendes Hirn«, – bestehend aus 2,5 Millionen vernetzten Neuronen –
imitiert, wie sie schreiben. Fundamentale Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Kognition und Verhalten seien realisiert worden. Was genau
darunter zu verstehen ist, lässt die Beschreibung der Aufgaben
erahnen, die das Computerhirn absolvierte: Es waren primitive
Aufgaben wie das Erkennen von Zahlen auf einem Bildschirm, das
Abrufen derselben aus dem Arbeitsspeicher und das Nachzeichnen
mit Hilfe eines mechanischen Arms. Aufgaben wurden gestellt, die
auch in Multiple-Choice-Intelligenztests vorkommen: »123; 567;
34?« oder »0074=74; 0024=24; 0014=?«.
Spaun absolvierte alle acht unterschiedlichen Herausforderungen bravourös. Seine neuronale Hierarchie war erstaunlich
komplex. Verschiedene Zentren und ihre wichtigsten Neurone im
menschlichen Gehirn, etwa die visuellen und motorischen Zentren
oder die Schaltstelle für Entscheidungen im Vorderhirn, der präfrontale Kortex, sowie Teile des Thalamus wurden nachempfunden.
Ein digitales Konstrukt, das mit Informationen ähnlich wie sein
Vorbild arbeitete. Die Nervenzellen produzierten typische elektrische Erregungen, Aktionspotentiale, und sie »feuerten« in Gruppen
oder modulierten die Signale. Und auch komplexe Schaltkreise mit
mehreren Zentren wurden hergestellt. Doch im Endeffekt war, das
räumen die Forscher ein, die statistische Verarbeitung der ein- und
ausgehenden Signale völlig anders als beim Vorbild. Mathematisch
gesehen sind Gehirn und Spaun zwei verschiedene Welten. Vor allem
aber ist das Modell nicht in der Lage, Neues zu erlernen. Spaun ist
mehr oder weniger auf die Lösung der paar Aufgaben festgelegt, für
die er konstruiert war. Damit fehlt dem Hirnnachbau etwas, das die
Evolution schon bei einfachsten Organismen ins Werk gesetzt hat.
In gewisser Weise ähnelt der digitale Simulationsversuch dem
grobschlächtigen Ansatz von Ed Boyden vom Massachusetts Insti-
tute of Technology, mit einem fünfzig Dollar teuren photolithographischen Verfahren aus der Halbleiterindustrie einen Ausschnitt der
Großhirnrinde in der Petrischale nachzubauen. In der Zeitschrift
»Advanced Materials« berichtet er, wie seine Gruppe aus einem
Konglomerat aus Hydrogel und diversen Hirnzelltypen dreidimensionale Gewebestücke erzeugte: Das Gel wurde schichtweise aufgeklebt, die Zellen wurden eingeschlossen und durch Auflegen einer
Maske mit Ultraviolettlicht bestrahlt. Das Ergebnis waren Kunsthirnwürfel, in beliebigen 3D-Formen und angereichert mit Nervenzellen, die Verknüpfungen bildeten – sofern sie ausreichend Platz
zum Wachsen hatten. Der Haken: Ob diese Gewebestücke, die
Boyden schon »als mögliche Transplantate für die Regeneration
von Hirngewebe nach Schlaganfall, Hirntrauma oder neurodegenerativen Erkrankungen« sieht, jemals funktionstüchtig arbeiten,
steht in den Sternen. Die Forscher aus Massachusetts wären nicht
die Ersten, die die Komplexität des Gehirns massiv unterschätzen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.12.2012
Denkende Maschinen im Web
Dass es nicht ohne Konflikte abläuft, wenn
Maschinen zu denken beginnen, lässt sich
anhand der hier zusammengestellten Weblinks
gut nachvollziehen.
Von Birgitta Fella
Bitkom – der Hightech-Verband
BITKOM ist das Sprachrohr der IT-, Telekommunikations- und
Neue-Medien-Branche in Deutschland. Auf der Homepage sind
viele Informationen aus der Branche und über neue Entwicklungen,
Statistiken und Marktdaten.
dasgehirn.info – Der Kosmos im Kopf
Webseite mit anschaulichen Informationen über neurowissenschaftliche Forschung und Aufbau und Funktion des Gehirns, mit zahlreichen Fotos, Videos und einem 3D-Modell, das eine faszinierende
Entdeckungsreise durch das Gehirn verspricht.
IBM Watson
IBM stellt Watson vor, ein Computerprogramm aus dem Bereich
der Künstlichen Intelligenz. Der Super-Computer Watson gewann
2011 in der amerikanischen Quizshow »Jeopardy!« gegen zwei
Quiz-Großmeister. Watson schien das menschliche Gehirn nicht nur
zu imitieren, er war in der Verarbeitung bestimmter Informationen
sogar leistungsfähiger. Die Technologie soll im Gesundheitswesen
und in der Finanzwelt zum Einsatz kommen.
Prävalenz der Internetabhängigkeit – PINTA -Studie
Bericht der Drogenbeauftragen über Computerspiel- und Internetsucht, die PINTA-Studie kann in einer Kurzfassung und der
kompletten Endfassung herunter geladen werden.
Spaun – Videos for Spaun simulations
Forscher der University of Waterloo in Kanada haben mit ihrem
Model »Spaun« (Semantic Pointer Architecture Unified Network)
ein funktionierendes Hirn – bestehend aus 2,5 Millionen vernetzten
Neuronen – imitiert. Die Videos zeichnen unterschiedliche Herausforderungen an das künstliche Gehirn nach.
www.faz.net/digitaldenken
Sind der Preis für Maschinen, die denken, Menschen, die es nicht
mehr tun? Der Literaturagent John Brockmann hat führenden
Erforschern und Entwicklern der Netzkultur die Frage gestellt,
welchen Einfluss das Internet auf ihr Denken nimmt. Die F.A.Z.
hat einige der Antworten dokumentiert und eine Leserumfrage
dazu ergänzt.
www.futurict.eu
FuturICT als ein wissenschaftliches Projekt der ETH Zürich mit
dem Ziel, Wissen zu bündeln, um damit die Welt asl Computersimulation darzustellen. Durch interdisziplinäre Vernetzung soll es die
Weisheit der Vielen nutzen und die kollektive Intelligenz fördern.
www.turing-galaxis.de – Versuch einer Kartographie
Blog und Diskussionsforum über die Digitalisierung der Gesellschaft und deren kulturelle und individuelle Auswirkungen.
www.znl-ulm.de – TransferZentrum für Neurowissenschaften und
Lernen
Das TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL)
verknüpft Gehirn- und Bildungsforschung. Bildungsrelevante
Erkenntnisse der Neurowissenschaften werden hier von der Theorie
in die Praxis übertragen.
Futurologie: Wenn
Fiction Science macht
Blick in die Zukunft
eBook
Umfang: ca. 260 Seiten
Mit 17 Grafiken und Abbildungen,
Lesetipps der F.A.Z.-Redaktion und Bücherliste
Oktober 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-292-4
ISBN PDF: 978-3-89843-291-7
Preis: 12,99 €
Ideen aus dem Weltall
Sciencefiction lässt mögliche künftige Welten
sichtbar werden. Aus den ausgedachten
Konzepten wurde schon so manches reale
Produkt. Das nutzen immer mehr Unternehmen,
um auf neue Innovationen zu kommen.
Von Philipp Krohn
M
an könnte das hier alles für furchtbar skurril halten. Ein
Sciencefiction-Fan verwirklicht sich seinen Traum, baut
die größte Spezialbibliothek in Europa auf und schreibt auf seine
Visitenkarte »Vorstand/CEO«. In den Keller lässt er eine Leseecke
bauen, in der Weltraumfans auf Perry-Rhodan-Sesseln alle StarTrek-Bände durcharbeiten können. Den Raum betreten Besucher
durch einen Torbogen, der ebenfalls aus Perry-Rhodan-Romanen
gestaltet ist, 250.000 Bücher findet der Nerd in der öffentlichen
Bibliothek. Die Horrorabteilung ist mit Fledermausschmuck ausstaffiert, in der Märchenecke finden Lesungen auf einem Himmelbett
statt.
Nur ist das alles gar nicht so skurril, finden zumindest immer
mehr Manager aus der deutschen Wirtschaft, die bei »CEO« Thomas
Le Blanc um Hilfe bitten. Der Bibliotheksgründer und frühere Journalist aus dem hessischen Wetzlar hat sein schräg wirkendes Hobby
erst zum Beruf gemacht und dann auch noch eine neuartige Unternehmensberatung darauf aufgebaut. Seine Lektüretipps reichen von
Asimoff bis Benford, von Frank Herbert bis Bradbury, von Eschbach
bis Herbert W. Franke. Und weil er seit fünf Jahrzehnten so ungefähr alles kennt, was in der Sciencefiction-Literatur von Relevanz
ist, erkennen Innovationsmanager und Produktentwickler in ihm
und seiner stiftungsfinanzierten Sammlung einen wertvollen Schatz.
»Früher hat sich nur das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt für uns interessiert«, erinnert sich Le Blanc. »In diesem Jahr
hat sich das ziemlich geändert: plötzlich will eine große Zahl von
Institutionen einen literarischen Blick in die Zukunft wagen.«
Ermüdet von den abstrakten Prognosen der Zukunftsforscher suchen
sie in den fiktiven Szenarien der Romanciers nach Hinweisen, wie
die Welt von morgen aussehen könnte. »Und zu meiner Überraschung sind sie nicht nur an den Szenarien interessiert, sondern
auch an Kreativitätsmethoden, um auf neue Ideen zu kommen«,
sagt Le Blanc.
Wer in den vergangenen Jahren den öffentlichen SciencefictionDiskurs ein bisschen verfolgt hat, findet das womöglich gar nicht
so ungewöhnlich. Spätestens in dem Moment, in dem der Unterhaltungselektronikkonzern Samsung vor einem kalifornischen Gericht
Bilder aus Stanley Kubricks Filmmeisterwerk »2001: Odyssee im
Weltraum« als Beweismaterial einsetzte, wurde klar, dass Sciencefiction für Unternehmen mehr ist als eine Spielerei. Im Plagiatsstreit mit dem Wettbewerber Apple präsentierten die Südkoreaner
ein Szenenfoto, das einen flachen Computer ohne Tastatur zeigt.
Damit wiesen sie den Vorwurf zurück, dem Konkurrenten eine
Idee gestohlen zu haben: Wenn schon Kubrick im Jahr 1968 solche
Objekte vorführte, könne es mit der Urheberschaft von Apple für
den Tabletcomputer nicht weit her sein.
Doch zurück nach Wetzlar: Auch Christian Küchenthal saß
schon auf dem Perry-Rhodan-Sessel im zweiten Untergeschoss.
Der in der Chemiesparte tätige Innovationsmanager von Merck
war schnell von dem weißhaarigen und -bärtigen Bibliotheksleiter Le Blanc überzeugt. »Wir suchten nach Antworten, wie wir
auf Zukunftstrends kommen könnten«, erzählt er. »Wir wollten
wissen, wie die Welt in einigen Jahrzehnten aussieht und wie
wir davon profitieren können, indem wir einen Mehrwert für die
Kunden schaffen.« Mit knapp 20 Kollegen ließ er sich auf den
Workshop in der Phantastischen Bibliothek ein. »Der Sciencefiction-Autor nimmt die aktuelle soziale und technologische Situation und versucht, sie durch Übertreibung in die Zukunft zu projizieren«, sagt Küchenthal. In Gruppenarbeit spielten er und seine
Truppe zwei Szenarien durch: Wie sähe eine Welt aus, in der man
nur noch laufen darf, und wie eine, in der man gar nicht mehr
laufen darf? Welche technologischen und sozialen Folgen hätte
ein Kometeneinschlag? Der Merck-Manager ist in seinem Urteil
kaum zurückhaltend: »Durch die Frage, was das für uns heißt,
kamen Ideen auf, die wir sonst nie gehabt hätten.« Werden andere
Manager von ihren Vorgesetzten zum Teil noch mitleidig angeschaut, wenn sie ihnen von der Ideenschmiede in Wetzlar erzählen,
unterstützen ihn seine Vorgesetzten. »Durch dieses Verfahren
verstehen wir besser, was vielleicht künftig einmal wichtig werden
könnte«, sagt Küchenthal.
Welches innovative Potential in der phantastischen Literatur
steckt, hat auch die European Space Agency in den Niederlanden
schon vor mehr als einem Jahrzehnt entdeckt. Im September 2002
veröffentlichte die Behörde einen Bericht, in dem sie Technologien
aus der Sciencefiction-Literatur zusammentrug – in der Hoffnung,
weltraumtechnische Anwendungen weiterzuentwickeln: Antriebstechniken auf Basis der Raum-Zeit-Krümmung, Fusions- oder
Ionentriebwerke, Weltraum-Laser und magnetische Schilder, verzögerungsfreie Kommunikation. »Auch hoffte man, dabei Einfälle und
Anregungen für potentielle langfristige Forschungs- und Entwicklungsarbeiten der europäischen Raumfahrt zu gewinnen«, schrieb
der damalige ESA-Projektleiter David Raitt in dem Bericht.
Zahllose Beispiele lassen sich finden, wie fiktive Ideen eines
Tages politische oder ökonomische Realität wurden. Eines der spektakulärsten stammt aus der Atomphysik: Der britische Romancier
H.G. Wells sagte um 1910 eine bestimmte Kettenreaktion in der
Atomtechnik voraus. Der ungarische Physiker Leo Szilárd, der an
der Entwicklung der Atombombe in Amerika beteiligt war, berichtete später, diese Passage habe bei ihm den entscheidenden Impuls
gesetzt, in eine bestimmte Richtung weiterzudenken. Später hat dies
die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie ermöglicht. Ähnlich
war es in der amerikanischen Marine, die vor dem ersten Weltkrieg einen Wettbewerb für ein U-Boot ausschrieb. Der zweitplazierte Teilnehmer orientierte sich an Jules Vernes »Nautilus«. Das
Konzept einer in der Tiefsee schwimmenden Geheimwaffe war zwar
ungeeignet für den damaligen Bedarf, die Küsten zu schützen. Jahre
später erinnerte man sich aber des Entwurfs und baute U-Boote nach
dem »Nautilus«-Vorbild.
Noch wirtschaftlicher wurde es bei anderen Autoren: Der französische Schriftsteller Albert Robida erdachte sich schon vor mehr als
100 Jahren Flachbildschirme und Videokonferenzen. Teledoktoren,
wie sie zum Teil in der Gesundheitsvorsorge eingesetzt werden,
kommen bei dem aus Luxemburg stammenden Romanschreiber
Hugo Gernsback vor. Kleine Bücher namens Opton, bei denen
man die Inhalte auf eine Seite ziehen kann wie heute auf ein Tablet,
beschrieb der polnische Kultautor Stanislaw Lem.
Martin Cooper, der Vater des Mobiltelefons, der 1973 mit einem
Motorola-Prototyp das erste schnurlose Telefonat machte, beschrieb,
wie unmittelbar er für seine Idee von Sciencefiction beeinflusst
wurde. Dabei war es ihm fast ein bisschen unangenehm, dass sein
Modell eher einem Ziegelstein ähnelte als den coolen Handgeräten,
mit denen die »Enterprise«-Besatzung von Captain Kirk, Pille und
Mr. Spock kommunizierte. Die lässigen Handbewegungen, mit
denen sie die Klappe ihres Utensils öffneten, habe ihn zu seinem
Motorola-Handy inspiriert, sagte Cooper in der Dokumentation
»Expedition Weltall«. Ähnliches könnte für die Handbewegung
gelten, mit der Tom Cruise in dem Film »Minority Report« seinen
Bildschirm steuert und die verdächtig an das Blätterverfahren bei
Apples iPads erinnert.
Besonders einflussreich scheint Kubricks »Odyssee im Weltraum« gewesen zu sein. Der Bordcomputer Hal, gegen dessen
zunehmendes Eigenleben der Protagonist Dave Bowman in der
Galaxie ankämpft, hat die Fähigkeit, Emotionen zu imitieren. Die
Firma Affective Media stellte später ein Programm her, das Gefühle
aufgrund der Stimmlage interpretieren kann. Das Filmkunstwerk sei
aber weit davon entfernt, Unternehmen den Weg gewiesen zu haben,
sagt der Berliner Filmwissenschaftler Rolf Giesen. »Der Film
›2001‹ war ein Werbefilm für die Zukunft«, sagt er. »Viele Firmen
lieferten Designs, um in dem Film vertreten zu sein.« Der Glaube,
dass Geisteswissenschaftler in Filmen und Romanen die Produktwelt der Zukunft erdächten, gehe fehl, meint Giesen und spricht von
einer sublimen Propaganda: »Hier werden utopische Vorstellungen
propagiert, die unterschwellig vermarktet werden.«
Wenn etwa in Luc Bessons »Das fünfte Element« fliegende
Autos für die Mobilität der Zukunft sorgen, sei das ein subtiler
Versuch, heutige Produktwelten auf morgige Welten zu übertragen. »Das gegenwärtige Konsumverhalten wird auf die Zukunft
gedrückt«, sagt Giesen. Bis heute ließen sich Science-Fiction-Filmer
von Forschungslaboren der Unternehmen mit Prototypen bedienen.
Auf einer cool wirkenden Plattform wie dem Film »Matrix« von den
Wachowski-Geschwistern würden dann Leitgedanken und Normen
vorgestellt, die in der Zukunft bestimmend sein könnten. Mit einer
schrittweisen Unterwanderung der Massenkultur hätten Technologiekonzerne so die Bereitschaft dafür geweckt, Szenarien wie in
George Orwells Dystopie »1984« freiwillig gut zu finden.
Zurück in die Phantastische Bibliothek in Wetzlar: Für den Film
träfen die Analysen Rolf Giesens zu, sagt Bibliothekar und Unternehmensberater Thomas Le Blanc. Romane indes böten einen freieren Rahmen, über die Limitierungen der echten Welt hinauszu-
gehen. Warum aber suchen immer mehr Unternehmen seinen Rat?
»Meine Erklärung ist die, dass Produktzyklen immer kürzer werden.
Ideen müssen ganz neue Anwendungen beinhalten«, sagt Le Blanc.
»Doch auf diese Ideen kommt man offenbar nicht mit herkömmlichen Kreativitätsmethoden.«
Die Beschäftigung mit Sciencefiction könne möglichen
Entwicklungen keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen. Ratschläge
könne er den Unternehmen deshalb nicht geben. »Dadurch, dass
es widersprechende Szenarien gibt, laufen wir nicht Gefahr, eine
mögliche Entwicklung überzubewerten«, sagt er. Zudem habe kein
einziger Sciencefiction-Autor vorhergesagt, welchen immensen
Einfluss der Computer auf das Alltagsleben der Menschen in der
heutigen Zeit haben würde. Immerhin aber glaubt er, dass die allzu
häufig naturwissenschaftlich-technisch geprägten Geschichtenerzähler ihren Lesern noch einiges zu sagen haben: zur Cyborgisierung etwa – also der Kombination von Mensch und Maschine, zur
Virtualität einer körperlosen Welt, zur erdnahen Raumfahrt und zum
Megathema Umwelt/Energie/Ressourcen.
Am Ende werden die technisch orientierten SciencefictionAutoren sicherlich mehr Einfluss haben als die Träumer und
Märchenonkel. Das beklagte der österreichische Schriftsteller
Robert Musil schon in seinem »Mann ohne Eigenschaften«. Von
den romantischen Vorstellungen der Mobilität und der Kommunikation sei wenig übrig geblieben, beklagt er in einer Passage
seines 2000-Seiten-Romans: »Allerdings, es ist nicht zu leugnen,
daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit
einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man
sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn
war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als
ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehen
schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegung der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und
Traum verloren.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.2013
Lektüretipps: Gestern war
Heute die Zukunft
Von Birgitta Fella
A. Brehmer (Hrsg.): Die Welt in 100 Jahren. Nachdruck mit einem
einführenden Essay »Zukunft von gestern« von Georg Ruppelt.
Georg Olms Verlag Hildesheim/Zürich 2014.
Elisabeth Burgoyne Corbett: New Amazonia – A Foretaste of the
Future, 1889. Nachdruck British Library, Historical Print Editions
2011.
Albert Robida: Das elektrische Jahrhundert. Hillger, Berlin 1899.
Antiquarisch.
Ri Tokko: Das Automatenzeitalter. Amalthea-Verlag, Wien 1930.
Neuausgabe mit einem Vorwort des Herausgebers Ralf Bülow,
Shayol Verlag, Berlin 2004.
H.G. Wells: The Shape of Things to Come, 1933. Nachdruck
Penguin Classics 2010.
Englischer Text online.
Klassische
Führungsprobleme
Führung im Unternehmen
eBook
Umfang: ca. 116 Seiten
Mit 3 Abbildungen
Mai 2013
ISBN (ePub): 978-3-89843-239-9
ISBN (PDF): 978-3-89843-240-5
Preis: 12,99 €
Phrasenparade
Wolkig und weichgespült geht es zu im deutschenglischen Management-Kauderwelsch.
Von Julia Löhr
W
enn Unternehmen ihre Geschäfte neu sortieren, dann
sind Schlagwörter nicht weit entfernt. »Score« nennt
die Lufthansa ihr jüngstes Strategieprogramm, »Turbine 2013«
lautet die Losung bei Air Berlin. Daimler trimmt sich unter
dem Motto »Fit for Leadership«, Thyssen-Krupp vertraut
auf »Impact 2015«. Dynamik sollen diese Wortschöpfungen
ausstrahlen, die Investoren beeindrucken, die Belegschaft motivieren. Doch jenseits der Chefetagen werden sie vor allem
als eines gesehen: als schöne Ausdrücke für unschöne Sparmaßnahmen. Längst sprechen Lufthanseaten statt von »Score«
von »Scare«. Aus dem Zukunftsmantra ist ein Sinnbild des
Schreckens geworden.
Es wird in Deutschland oft beklagt, wie groß die Kluft geworden
ist zwischen »denen da oben« und »denen da unten«. Viele Bürger
haben ein schlechtes Bild von Unternehmen im Allgemeinen und
Managern im Besonderen. Doch kaum jemand spricht darüber, dass
dies nicht nur mit den hohen Gehältern und dem zuweilen recht
eigennützigen Verhalten von manchen Verantwortlichen zu tun hat,
sondern auch damit, wie diese kommunizieren.
In der Wirtschaft ist ein sprachliches Paralleluniversum
entstanden, das sich vom Alltagsdeutsch immer weiter entfernt.
Es ist eine Welt, in der »Spiky Leader« Wörter wie »Inspire« oder
»Outperform« zum Unternehmensziel erheben, das es der Öffentlichkeit in einem »innovativen Storytelling-Ansatz über alle Erlebnisbereiche« zu vermitteln gilt. In der »Strategic Roadmap« wird
sich auf »Leading-Edge-Wissen«, »Insights« und »Business Intelligence« »committed«. Und wer Arbeitsplätze abbauen will, vermeidet
das böse Wort der Kündigung mit dem Begriff »Career Transition«.
Wolkig und weichgespült geht es zu im deutsch-englischen
Management-Kauderwelsch. Es ist ein Himmelreich für Plattitüden.
Vielen »Briefings«, »Meetings« und »Proposals« ist der Inhalt
abhandengekommen – oder er wird so gut versteckt, dass ihn nur
Eingeweihte finden. Sätze wie »Unser bewährtes Geschäftsmodell
liefert das Rüstzeug für eine nachhaltige und erfolgreiche Zukunft«
oder »Die Marken-Leitidee wird zielgruppengenau über alle relevanten Touch Points hinweg auf den Punkt polymorph ausgesteuert«
tun niemandem weh. Aber sie nutzen auch niemandem.
Nur wenige Unternehmen gehen damit so selbstkritisch – oder
zumindest so selbstironisch – um wie der Technologiekonzern IBM,
der das »Buzzword Bingo« zum Thema eines Werbespots machte
und all die Parolen vom »zielorientierten nachhaltigen durchschlagenden Web 3.0« persiflierte. In den meisten Fällen halten die
Verantwortlichen ihre Ausdrucksweise dagegen für ganz normal.
Das ist fast noch erschreckender als die Phrasenparade selbst.
Ein Grund für diese Entwicklung dürfte die Angst vieler
Vorstände sein, etwas Falsches zu sagen. Etwas, das die Öffentlichkeit zusammenzucken lässt. Oder, schlimmer noch, etwas, das
juristisch gegen einen verwendet werden könnte. So wie jene
Äußerung des früheren Deutsche-Bank-Chefs Rolf-Ernst Breuer
zur zweifelhaften Kreditwürdigkeit des Medienunternehmers Leo
Kirch. Der Rechtsstreit, der daraus erwuchs, beschäftigt nun schon
seit elf Jahren Anwälte und Gerichte – und kostet die Bank viel
Geld.
Neben der Furcht vor juristischen Folgen fördert auch der tiefe
Glaube an die Kraft des Apparats den Hang, mit vielen Worten
wenig zu sagen. Vor allem in großen Unternehmen umgeben sich
die Führungskräfte mit einem Heer von Dienstleistern, um ja
alles richtig zu machen. Strategieberater, Kommunikationsberater,
Imageberater, dazu noch Redenschreiber, Marketingspezialisten
und Anwälte: Jeder feilt hier ein bisschen, poliert dort ein bisschen.
Übrig bleiben die bekannten Allgemeinplätze.
Es ist keine Option, sich statt ins Vage in die Sprache der Technokraten zu flüchten. Wenn der Chef eines Flughafenbetreibers
die lärmgeplagten Anwohner mit Verweisen auf Einzelschallereignisse, qualifiziertes Monitoring sowie aktiven und passiven
Schallschutz zu beruhigen versucht, mag das inhaltlich richtig und
wichtig sein. Nur versteht es kaum jemand. Unvergessen auch die
hölzernen Worte von Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler
nach der Insolvenz der Drogeriekette Schlecker: »Jetzt gilt es, für
die Beschäftigten schnellstmöglich eine Anschlussverwendung
selber zu finden.«
Um einen Ausweg aus der allgemeinen Sprachlosigkeit zu
finden, bedarf es nicht viel. Ein wenig Mut und Achtsamkeit reichen
schon aus. Wer regelmäßig innehält und die eigene Wortwahl hinterfragt, wird feststellen, dass er auf so manche liebgewonnene Floskel
oder so manchen Fachausdruck getrost verzichten kann, ohne sich
damit rechtlich in Gefahr zu begeben. Wer sein Umfeld ermuntert, es
ihm gleichzutun: umso besser. So wie der Versandhändler Otto, der
seine Mitarbeiter im Callcenter seit einiger Zeit anhält, auf jegliche
Wortakrobatik zu verzichten. Statt »Die Überprüfung durch unsere
Qualitätssicherung hat den von Ihnen aufgezeigten Mangel bestätigt« heißt es im Gesprächsleitfaden nun kurz und klar: »Sie haben
recht, Ihr Pulli war mangelhaft. Dafür entschuldigen wir uns.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.2013
Aussichten:
„Green Economies“ oder
große Irreführung?
Umwelt und Wachstum
eBook
ca. 120 Seiten
September 2012
ISBN (ePub): 978-3-89843-157-6
ISBN (PDF): 978-3-89843-155-2
Preis: 12,99 €
In die Biotonne
Energiepflanzen schaden der Natur, verteuern
das Brot und bringen fürs Klima wenig
Von Winand von Petersdorff
D
ie Verführung liegt in der Schlichtheit des Gedankens: Die
Umwandlung von Bioenergiepflanzen in Energie sei zwangsläufig klimaneutral. Bei der Verbrennung der Biomasse könne nur
so viel CO2 frei werden, wie die Biomasse vorher aufgenommen
hat. Dieses Argument ist die Voraussetzung für die staatliche Förderung der Bioenergie.
Biomasse spielt eine zentrale Rolle im Energiewendedrama der
Bundesregierung. Denn die Ökoenergiequelle hat gegenüber der
Photovoltaik und der Windkraft den unschätzbaren Vorteil, zuverlässig Strom zu liefern, auch wenn gerade keine Sonne scheint
und kein Wind weht. Deswegen wohnt ihr das Potential inne, die
schmutzigen Energieträger Kohle, Erdgas und Öl zu verdrängen.
Das ist schön ausgedacht. Doch leider ist die Ökoenergie gar
keine. Das haben zahlreiche Wissenschaftler schon immer gesagt
und nun mit besonderem Gewicht die Nationale Akademie der
Wissenschaften Leopoldina, die der Bundesregierung empfiehlt, die
Förderung des Ausbaus zu stoppen.
Unter Bioenergie versteht man die Energie, die aus Verbrennung nichtfossiler pflanzlicher Biomasse stammt oder aus Biokraftstoffen, die aus Biomasse hergestellt wurden. Die Förderung
nimmt in Deutschland grob zwei Wege. Zum einen wird die
Umwandlung von Biogas in Strom und dessen Einspeisung mit
einem Festpreis vergütet, der über den Marktpreisen für Strom
liegt. Das ist so organisiert wie die Förderung von Windkraft und
Photovoltaik. Zum anderen zwingt der Bund die Mineralölindus­
trie, dem Treibstoff Biokraftstoff beizumischen. Der wird aus
Getreide gewonnen.
Man darf sagen: Die Förderung wirkt auf eindrucksvolle Weise.
In ganz Deutschland sind zum Beispiel rund 7.300 Biogasanlagen
entstanden. Das hat den Ackerbau hierzulande dramatisch verändert.
Für die meisten Biogasanlagen wird Mais eingesetzt, der in riesigen
Bottichen von Mikroben in Gas umgewandelt wird. Rund um die
Anlagen wird deshalb Mais angebaut. Allein in Niedersachsen hat
sich der Maisanbau seit 2004 verdoppelt. Auf jedem dritten Hektar
Ackerfläche des Agrarlandes steht inzwischen Mais.
Was für eine Karriere! Als das grüne Denken noch naturverbunden war, erntete die Maispflanze größten Unmut der Ökos. Die
Pflanze ist der Prototyp der intensiven Landwirtschaft, verlangt viel
Stickstoffdünger, macht anderen Pflanzen und Tieren (außer Wildschweinen) das Leben schwer und begünstigt Bodenerosion. Diese
Argumente mussten zurücktreten hinter dem politischen Wunsch,
die Energiewende real werden zu lassen. Verdrängt oder kleingeredet wurde ferner die wissenschaftliche Erkenntnis, dass der Anbau
das Klima negativ beeinflusst, weil durch die intensive Stickstoff-
düngung Lachgas freigesetzt wird, dass schädlicher auf die Klimaentwicklung wirkt als CO2.
Schwer wiegt, dass die Energiepflanzen jene Pflanzen
verdrängen, die für Tierfutter und Brot angebaut werden. Das
erzeugt Knappheiten und hohe Preise, die für reiche Europäer erträglich scheinen, für Bürger armer Länder aber bedrohlich werden
können. Gerade die Produktion von Biokraftstoff ist auf Importe
angewiesen. In Lateinamerika und Teilen Asiens weichen Viehhalter und Bauern für Brot- und Futtergetreide auf Flächen aus, die
als ökologisch schützenswert gelten. Keine Nachhaltigkeitsverordnung der Bundesregierung kann das verhindern. Und das Schlimme
ist, jeder weiß es längst.
Fossile Spuren im Stadtverkehr. F.A.Z.-Foto / Frank Röth
Eine Vermutung verdichtet sich zunehmend. Die Energiewende
entpuppt sich als Projekt, deutschen Landwirten neue Einkommensquellen zu verschaffen ohne nennenswerten Beitrag zur Abmilderung des menschengemachten Klimawandels. Ein Großteil der
Solaranlagen ist auf bäuerlichen Scheunen installiert, die meisten
Windräder stehen auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, die Bioenergiepflanzen ohnehin, und die meisten Investoren für die Biogasanlagen sind ebenfalls Bauern. So ist es naheliegend, dass die konventionelle Landwirtschaft zu den tapfersten Verteidigern des Förderregimes gehört. Sie ist Nutznießer einer der größten Umverteilungen
zu Gunsten der Land- und Immobilienbesitzer in Deutschland
überhaupt. Milliarden Euro wandern jährlich von normalen Stromkunden zu den Ökostromern der Landwirtschaft.
Allerdings gewinnen nicht alle Bauern. Biogasanlagen-Betreiber
haben es inzwischen schwer, genügend Biomasse zu auskömmlichen Preisen zu erhalten. In der Regel haben sie, um ihre Anlagen
zuverlässig bestücken zu können, Ländereien im Umfeld der Anlage
gepachtet. Das hat die Pachtpreise nach oben gebracht und Missmut
unter Landwirten erzeugt, die ebenfalls pachten müssen.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.7.2012
Lesetipps:
Damit lesen Sie sich in die Umwelt-Ökonomie ein
Eine Auswahl von Hans Peter Trötscher
Daniel Boese: »Wir sind jung und brauchen die Welt«. Wie die Generation Facebook den Planeten rettet. Mit einem Vorwort von Harald Welzer.
Oekom Verlag, München 2011.
BUND et al.(Hg.): Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten
Welt. Fischer Verlag. Frankfurt 2008
Paul Collier: »Der hungrige Planet«. Wie können wir Wohlstand mehren,
ohne die Erde auszuplündern. Aus dem Englischen von Martin Richter.
Siedler Verlag, München 2011.
Christiane Paul: »Das Leben ist eine Öko-Baustelle«. Mein Versuch,
ökologisch bewusst zu leben. Ludwig Verlag, München 2011.
Lutz Peters: Klima 2055. Olzog Verlag. München 2007. 176 Seiten.
Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. Verlag
C.H. Beck München 2010.
Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon. Econ Verlag. Berlin 2008. 477
Seiten. 24,90 Euro
Laurence C. Smith: Die Welt im Jahr 2050. Die Zukunft unserer Zivilisation. DVA Verlag München, 22,99 Euro.
Joachim Weimann: Die Klimapolitik-Katastrophe. Metropolis-Verlag.
Marburg 2008.
World Bank: World Development Report 2010. World Bank. Washington
2009. 417 Seiten. (auch kostenlos als Pdf-Datei).
Fahrtbericht
Porsche Cayman
Testbericht
Porsche Cayman S
Dossier (PDF)
Umfang: 1 Seite
Mit 1 Abbildung
September 2012
Preis: 1,99 €
Dem großen Bruder
auf den Fersen
Der Mittelmotor-Sportwagen von
Porsche könnte fast der bessere Elfer sein.
Zumindest für jene, die Freude an der
Kurvenhatz haben und eher ein Spielzeug
suchen, als nur von A nach B kommen
zu wollen.
Von Michael Kirchberger
D
ie gute Nachricht zuerst: Porsche fahren ist günstig
geworden. Wer immer schon von einem 911 Carrera
geträumt hat, angesichts der Preise für den Klassiker dann
doch lieber Abstand genommen hat, der könnte sich von einem
Cayman umstimmen lassen. Hier beginnt das Fahrvergnügen
schon bei 51.385 Euro. Und die bissige S-Variante des zweitürigen Sport-Coupés für 64.118 Euro knüpft auch hinsichtlich
der Motorleistung an den Elfer an. 325 PS (239 kW) liefert
der 3,4-Liter-Boxer, ganze 25 PS fehlen dem kleineren Porsche
zum 911.
Wobei das Wort »fehlen« der Sache nicht gerecht wird. Der Cayman
S ist ein Leichtgewicht, 1.320 Kilogramm wiegt er unbeladen. Er
trägt seinen Sechszylinder-Boxer nicht im Heck wie der Elfer, das
Triebwerk lauert gut versteckt, doch stets präsent direkt hinter den
beiden Sitzen. Das führt zu einer ausgewogeneren Gewichtsverteilung als beim größeren Bruder. Das Ergebnis sind ein überaus agiles
Kurvenverhalten und Fahrleistungen, die selbst hochge-schraubte
Erwartungen übertreffen. Um keine Missverständnisse zuzulassen:
Der Cayman S ist kein Kerl für alle Tage. Allenfalls dann, wenn
sein Eigner die allein glücklich machende Fortbewegungsweise
auf Rädern in maximaler Längs- und Querbeschleunigung sieht.
In diesen Betriebszuständen helfen die aufpreispflichtigen, aber
fein geschnittenen Sportsitze (3.617 Euro) mit großem Erfolg. Sie
bleiben nach vielen Kilometern bequem und erfüllen die Funktion
von Hüfthalter und Schulterstütze gleichermaßen. Der Nachteil: Ihre
Rückenlehnen lassen sich nicht verstellen. Dies und die knappen
Maße der lederbezogenen Schalen führen dazu, dass der CaymanPilot wie einzementiert hinter dem Lenkrad hockt.
Die Sitze behindern beim Ein- und mehr noch beim Aussteigen.
Auf dem Türschweller mit der linken Hand abstützen, den Körper
aus dem Sitz hieven und dann irgendwie die Beine an der A-Säule
vorbei ins Freie bugsieren ist noch die eleganteste Art, aus den
Niederungen des Sportcoupés in eine aufrechte Haltung zu gelangen.
Das ist vielleicht während einer Ausfahrt am Sonntag akzeptabel.
Zum Brötchenholen empfehlen wir andere Autos.
Zudem ist das Arbeitsgeräusch des Motors im gemischten
Fahreinsatz auf Dauer anstrengend. Besonders in Verbindung mit
der 2.165 Euro teuren Sportabgasanlage dröhnt das Triebwerk
wie der Komtur in Mozarts Don Giovanni. Der bassige Klang
mag beim engagierten Fahren erfreuen, auf längeren Strecken
über die Autobahn erschwert er Plaudereien mit dem Beifahrer
und nervt auf Dauer. Das kann einem Sportwagen nicht unbedingt angelastet werden, nur soll niemand hinterher sagen, wir
hätten nicht gewarnt.
Also Schluss mit den Alltagsfahrten und hinein in den natürlichen Lebensraum eines Porsche. Der beginnt am Ende der Ebene
mit ihren langen Geraden in den ersten Kurven des Mittelgebirges.
Mit einem Motorjauchzer stürzt sich der Cayman in die erste
Biegung, das Doppelkupplungsgetriebe gibt beim Zurückschalten
automatisch Zwischengas, kein Schleppmoment der Maschine soll
den sauberen Strich um die Ecke stören. Die neue elektrisch unter-
stützte Lenkung gibt genaue Rückmeldungen vom Traktionszustand. Der im Vergleich zum Vorgänger um sechs Zentimeter längere
Radstand hat den Cayman milder gemacht, seine Zähne jedoch sind
schärfer denn je. Der Übergang von Haft- zu Gleitreibung ist ein
fließender Moment, der dem Fahrer bei ausgeschalteten Stabilisierungshelfern Zeit zum Handeln gibt. Das plötzliche Eindrehen des
Sportwagens gehört der Vergangenheit an, nie wirkt das Heck zu
leicht. Der Motor gibt den Drehzahlkönig und erlaubt sich in keinem
Moment und auch nicht im Ansatz Anzeichen von Schwäche.
Gasgeben im Kurvenausgang gelingt ohne zeitlichen Versatz. Die
Automatik vertrödelt keinen Lidschlag mit Schaltzeiten. Manuelles
Schalten ist nur etwas für Puristen, zumal die Schaltwippen am
Lenkrad 417 Euro Aufpreis kosten. Wie vom Katapult geschossen,
hetzt der Cayman auf die nächste Biegung zu. Kurz davor packen
die gut 8.000 Euro teuren Keramikbremsen zu, und auch bei dieser
Übung zeigt der kleine Porsche Biss. Die rückhaltende Wirkung des
Sicherheitsgurtes ist dabei eine große Hilfe, so mächtig sind seine
Verzögerungswerte. Dass die Anlage fein dosierbar bleibt, steigert
das Vergnügen nochmals.
Der Boxer brüllt vor Lust, wenn es in 4,7 Sekunden von 0 auf
100 km/h geht. Wer allerdings einen Blick der Bewunderung auf
den Muskelmann hinter den Sitzen werfen will, wird enttäuscht.
Die meisten Servicearbeiten werden von unten erledigt, erst bei
größerem Aufwand entfernen die Mechaniker die Abdeckung unter
der Heckklappe. Nur die beiden Einfüllöffnungen für Öl und Wasser,
deren Deckel wie Stoßdämpferabdeckungen aussehen, lassen auf
die Motorlage schließen.
Wer den Gasfuß zügelt, erlebt den Cayman S als gezähmtes
Raubtier. Sogar das Doppelkupplungsgetriebe gibt sich alle Mühe,
den Treibstoffkonsum zu bändigen. Kommt der hinterradgetriebene
Wagen zum Stehen, wird der Boxer in Windeseile abgestellt. Beim
Lösen der Bremse erwacht er wieder zum Leben, nimmt ohne das
markentypische Bellen beim Starten seine Arbeit auf. Ein sanfter
Charakterzug, der jeden Straßenanwohner versöhnt. Den Durchschnittsverbrauch haben wir mit 9,7 Liter Super-Plus-Treibstoff
errechnet, immerhin 1,7 Liter mehr, als die Messnorm ausweist. 64
Liter Tankinhalt ergeben akzeptable Reichweiten.
Die Federung passt sich den Fahrzuständen an, verliert jedoch
nie ihren angemessenen Komfort. Sie ist straff, nicht hart, und
so haben wir schlechte Fahrbahnen in manch einem Kleinwagen
als unangenehmer empfunden als im Cayman S. Dies steigert
gemeinsam mit den gewachsenen Innenraummaßen sowie dem auf
425 Liter gestiegenen Kofferraumvolumen (150 Liter vorne, 275
Liter hinten) schließlich doch seine Alltagstauglichkeit.
Beschränken muss sich der Cayman-Fahrer allerdings beim
Mitnehmen von den liebgewonnenen Reiseutensilien. Die Zahl der
Ablagen im Innenraum ist schnell erschöpft, und die aus dem Armaturenbrett ausfahrenden Getränkehalter stören nicht nur das Raumempfinden, sondern auch die Optik. Wer nicht vergeblich einen
passenden Platz für Straßenatlas oder mobile Navigationsgeräte
suchen möchte, muss 3.147 Euro für das Porsche Kommunikationsmanagement inklusive des Navigations-Moduls ausgeben.
Ein Schnäppchen ist der Cayman S sicher nicht. Wer sich die
feinen Zutaten wie das Doppelkupplungsgetriebe, die adaptive Fahr-
werksregelung, die Keramikbremsen, das Sport-Chrono-Plus-Paket
oder individuelle Sitze und Räder leistet, überweist mehr als 80.000
Euro auf das Händler-Konto. Aber dann trennen den MittelmotorSportler immer noch gut 10.000 Euro von einem 911 Carrera. Und
dem fehlen dann in der Grundausstattung all die begehrenswerten
Extras.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2013
Management in
Umbruchzeiten
Change!
eBook
Umfang: ca. 212 Seiten
8 Abbildungen
Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung
Oktober 2013
ISBN ePub: 978-3-89843-229-0
ISBN PDF: 978-3-89843-228-3
Preis: 12,99 €
»Auch Bleiben tut weh«
Wenn ein Unternehmen ein anderes schluckt,
fragen sich Tausende Mitarbeiter: Bleiben oder
Gehen? Nur keine Kurzschlussreaktion, lautet
ein Rat. Das ist leicht gesagt.
Von Thomas Reinhold
H
err Ripken, es tut uns fürchterlich leid, der Konzern hat eine
Entscheidung getroffen: Von Ihren 150 Leuten werden 150
Leute gehen. Sie haben 6 Wochen Zeit, mit den Leuten die entsprechenden Vereinbarungen zu treffen. Unterstützung von Ihrer Personalabteilung haben Sie ja zahlreich, da sitzen zwei Leute in der Zentrale, die können Ihnen helfen.« Michael Ripken ist Anfang dreißig,
Führungskraft einer Bank, als der Vorsitzende des Verwaltungsrats ihm die niederschmetternde Botschaft überbringt. »6 Wochen.
100 Prozent der Belegschaft. Alles meine Leute!« Ripken hat keine
Wahl. Er ist der Boss, er will es seinen Leuten sagen, er will noch
Einfluss nehmen, will es erträglicher machen. Doch eine Trennung bleibt eine Trennung. Als alles vorbei ist, kann Ripken sechs
Monate lang nicht mehr richtig schlafen. Auch er arbeitet nicht mehr
in dieser Bank.
So passiert es immer wieder, vielleicht auch während der
größten Bankübernahme in Deutschland seit zehn Jahren. Commerzbank kauft Dresdner: 9.000 der 67.000 Stellen beider Häuser sollen
wegfallen. Die Filialen wird es treffen, Verwaltungsstäbe, das
Investmentbanking. Details sind noch nicht bekannt. Kündigungen,
so heißt es, sollen weitgehend vermieden werden. Doch was heißt
das schon konkret?
»Die Führungskräfte in den mittleren Ebenen haben eine riesige
Not«, sagt Buchautor und Berater Laurenz Andrzejewski, der sich
seit vielen Jahren mit dem steten Wandel von Unternehmen und
ihrer Trennungskultur befasst und der Ripkens lebendige Erinnerungen auf seiner Internetseite zitiert. Mitarbeiter, Personalmanager, selbst Führungskräfte auf der obersten Etage können sich
oft nicht von ihrer Angst lösen, beobachtet Andrzejewski immer
wieder: In jeder unfreiwillig erlebten beruflichen Umbruchsituation entstünden drei grundlegende Sorgen. Die nackte Existenzangst führt zu Gerangel. Stehe ich noch auf wichtigen Mail-Verteilern, erfahre ich noch, was ich für die Arbeit brauche? Dazu die Positionsangst: Sitze ich künftig noch in einem Büro mit drei Fenstern
oder im Dunkeln am Ende des Ganges? Und schließlich die Leistungsangst: Wie gehen wir mit noch mehr Arbeit und Druck um?
Gerade am Anfang einer Integration leiden Motivation und
Produktivität der Mitarbeiter, mithin die Wirtschaftlichkeit des
gesamten Unternehmens.
Tatsächlich geht es für den Einzelnen nicht darum, herauszufinden, wie stark bedroht er objektiv ist. »Das lässt sich kaum
beschreiben«, sagt der Unternehmensberater Winfried Berner, der
sich auf Change Management spezialisiert hat, »es geht darum, wie
stark sich ein Mitarbeiter subjektiv bedroht fühlt.« Berner hat ein
Buch zum Thema geschrieben. »Bleiben oder Gehen« heißt es –
genau die Frage, die viele Banker jetzt in ihrem Kopf bewegen.
In jeder Phase der Veränderung steht die Frage – und die
mögliche Antwort – in einem neuen Licht. In Manager-Seminaren
wird eine »Change-Kurve« gezeichnet: gefühlte Kraft zur Selbststeuerung in Beziehung zur Zeit. Auf den Schock einer Übernahme (Selbstwertgefühl sinkt) folgen Leugnung der Lage (Kraft
scheint zu wachsen), die quälende Einsicht (Kraft sinkt nochmals
stark), erste Akzeptanz (Kraft steigt jetzt wirklich wieder), Berappeln, neue Realität.
Ein typischer Fall, wie zwei Unternehmen mühselig als eines
laufen lernen müssen, ist der Kauf der Berliner Schering AG durch
die ungleich größere Bayer AG vor zwei Jahren. »Die Frage, wer
bleibt, hat uns über Monate beschäftigt«, erzählt eine IT-Projektleiterin in Berlin. Bei Schering hatten sie und ihre Kollegen lange
Zeit Angst, dass das Top-Management Entscheidungen über ihre
Köpfe hinweg fällt – und ohne konkrete Ahnung davon, was für ihre
Forschungs- und Entwicklungsabteilungen wichtig war. »Wir hatten
das Gefühl, wir könnten verlieren, was wir uns über Jahre aufgebaut
hatten«, erinnert sich die 45 Jahre alte Frau.
In der hellen Aufregung des Anfangs »kann man das Tagesgeschäft eigentlich erst mal vergessen«, sagt Berater Berner. Viele
Leute steckten ihren Kopf in den Sand – mit einer selbstbetäubenden Hoffnung: Wenn wir nur so weitermachen wie bisher, wird
auch alles so bleiben wie bisher. Das führe aber dazu, dass die Leute
wertvolle Zeit vertrödelten, in der sie sich besser über ihre Lage und
ihr weiteres Vorgehen klarwerden sollten.
Zwar lässt sich nicht beschließen, nicht ängstlich zu sein. Aber
entscheidend ist die Frage: Was ist mein Plan B? Darüber machten
sich die wenigsten Gedanken, sagt Berner. Es bedeute mehr als
mangelndes Selbstmarketing. Strategisches Denken in eigener
Sache, daran fehle es.
Manager, die Entscheidungen über Personal zu treffen haben,
können nicht detailliert die Arbeitsleistung und Lebensläufe
Tausender Mitarbeiter recherchieren. Sie werden ein Verfahren
wählen, das auf alle angewandt wird. Darauf könne man sich
einstellen, glaubt Berner. Was habe ich für das Unternehmen getan,
warum sollte ich weiter dazugehören? »Seien Sie vorbereitet auf
diese Fragen, reflektieren Sie das«, rät auch Andrzejewski.
5.000 Mitarbeiter zählte Schering 2006 in Berlin, Hunderte
mussten gehen, die Leverkusener schickten viele ihrer Leute in
die Hauptstadt. Das ging nicht ohne Konflikte: »Bei Schering gibt
es eine Diskussionskultur, jeder wird gehört. Die bei Bayer ticken
anders«, glaubt die Schering-Ingenieurin. Das zeige sich bis heute
in Besprechungen: »Die Berliner führen das Wort, die Leverkusener sagen lieber nichts Falsches.« Ihr neues Team arbeitet seit
Februar. »Natürlich haben wir alle diese Spielchen zur Teamfindung
gemacht, denn es gab großes Misstrauen auf beiden Seiten. Heute
ist die Situation besser geworden, aber die Harmonie und Effizienz
von früher ist weg.«
Der Wandel bedeute nicht nur Trennung, sondern auch Versetzung oder Qualifizierung, sagt Andrzejewski. »Da wird jemandem
eine Schulung und ein neuer Posten in London angeboten. Aber der
Mann hat seine Beziehungen in Groß-Gerau.« So wird der Veränderungsdruck eine echte Belastung. »Glauben Sie nicht, dass der Mann
sich freut. Auch bleiben tut weh.«
So weit können die Frankfurter Banker noch gar nicht sein.
Oliver Maassen, Personalleiter des Geschäftskundenbereichs der
italienischen Unicredit, die vor Jahren die Hypo-Vereinsbank
übernommen hat, weiß von seinen Kollegen, dass sie Angst vor
Kurzschlussreaktionen der Mitarbeiter haben. Denn sie haben
ein Problem, etwa wenn sie mit zwölf Leuten planen, und dann
entscheiden sich drei weitere, doch lieber zu kündigen.
Aber jetzt bewerben? »Als Personalmanager halte ich das
für die denkbar schlechteste Reaktion«, sagt Maassen. Es sei der
falsche Zeitpunkt: »Versetzen Sie sich in die Situation der Firma,
die eine Bewerbung von einem solchen Banker erhält. Ich würde
mich fragen, warum der sich ausgerechnet jetzt anbietet. Glaubt
er, er sei schon abgeschrieben? Und wenn er das heute schon
weiß, dann hat er wohl auch bisher einiges falsch gemacht.«
Wenn der Mann gut wäre, müsste sein Arbeitgeber alles tun, ihn
zu halten.
»Deshalb gibt es eine klare Maxime für die Personalarbeit: So
schnell wie möglich mit den Schlüsselpersonen sprechen. Sicherheit vermitteln.« Die Mitarbeiter als wichtigste Ressource des Unternehmens? Das sei keine hohle Formel, betont Maassen. »Ich erlebe
immer mehr, dass Manager sich gerade in solchen Situationen um
ihre Leute bemühen. Wir reden über die obersten 15 Prozent. Denen
wird früh gesagt: Wir wollen dich, wir brauchen dich, bitte bleib
da.« Aber das heiße eben auch, dass 85 Prozent ein solches Zeichen –
zunächst – nicht bekommen.
In dieser diffusen Lage hält Berater Berner etwas Trost parat:
»Die allerwenigsten Manager sind so dumm, dass sie sich schlechte
Leute holen und damit ihr künftiges Ergebnis gefährden.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.2008
Lese- und Internettipps
Change Management ist keine einfache
Angelegenheit. Mit den hier genannten Werken
bekommen Sie einen guten Start ins Thema.
Michael Berger, Jutta Chalupsky, Frank Hartmann: Change Management – (Über-)Leben in Organisationen. Verlag Dr. Götz Schmidt, Gießen
2008.
Klaus Doppler, Christoph Lauterburg: Change Management – Den
Unternehmenswandel gestalten. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008.
John P. Kotter: Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt.
Verlag Droemer/Knaur, München 2006.
Thomas Lauer: Change Management – Grundlagen und Erfolgsfaktoren.
Springer Verlag Berlin / Heidelberg 2010.
Torsten Oltmanns, Daniel Nemeyer: Machtfrage Change: Warum Veränderungsprojekte meist auf Führungsebene scheitern und wie Sie es besser
machen. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010.
http://widawiki.wiso.uni-dortmund.de/index.php/Change_Management
Kurzabriss zum Thema Change Management im wissenschaftsdidaktischen Wiki der Universität Dortmund.
http://www.changemanagement.bdu.de/change-management/changemanagement-tools/
Der BDU stellt in aller Kürze die wichtigsten Change-Management-Tools
vor.
http://www.changemanagement.bdu.de/media/256648/whitepaper-trendsim-changemanagement.pdf
Whitepaper Changemanagement Trends zum Download.
http://www.change-management-toolbook.com/
Das Change-Management-Toolbook (englisch).
http://www.mindtools.com/pages/article/newPPM_87.htm
Change Management Werkzeuge von Mindtools (englisch).
http://www.strategy-business.com/article/rr00006?pg=all
Die Hauptprinzipien des Change Management auf „strategy + business“
(englisch).
Elisabeth II. und die
Idee der Monarchie im
21. Jahrhundert
Elisabeth II.
eBook
Umfang: ca. 290 Seiten
Mit 15 Abbildungen
Literaturtipps mit Kurzrezensionen und kuriosen Internetlinks
September 2013
ISBN ePub: 978-3-89843-233-7
ISBN PDF: 978-3-89843-234-4
Preis: 9,99 €
Einmal Buckingham Palace
Das zweite elisabethanische Zeitalter
Von Bernhard Heimrich
W
er eine Königin besucht, kann etwas erzählen. Also fangen
wir an. »Zum Palast bitte«, sagt der Fahrgast. »Buckingham?« fragt der Taxifahrer. »Zum Buckingham-Palast«, bestätigt der Fahrgast ergriffen. Der Fahrer nickt, stellt den Zähler an und
macht sich auf den Weg. Der Passagier hinten lauert. Der Fahrer
vorne schweigt. Das kann doch nicht alles gewesen sein?
In Paris war das ganz anders gewesen. Als der Taxifahrer hörte,
er möge zu »Notre Dame« fahren, hat er den Gast zuerst einmal
geduldig gefragt, ob er eine Ahnung habe, wie viele Kirchen es
in Paris gebe, die Notre Dame heißen. Dürfe es vielleicht Notre
Dame de Lorette sein, schlug er vor, oder lieber Notre Dame de la
sowieso? Oder wieder eine andere? »Notre Dame!« wiederholt der
Fremde kläglich. »Kein Problem«, sagt der Fahrer munter. Es war
ihm überhaupt nur um seinen Stolz auf sein Wissen und die vielen
Kirchen seiner Hauptstadt gegangen. Oder war da nicht auch noch
eine Ahnung von Nation, von großer Geschichte im Schatten dieser
Kirchen? Ist nicht Paris einmal eine Messe wert gewesen? War sein
König nicht der allerchristlichste? Gehört zur Nationalliteratur nicht
auch ein Glöckner von, pardon, Notre Dame? Was für Paris die
vielen leeren Kirchen sind, sind für London die vielen bewohnten
Paläste. Dort leben die, die schon immer in Palästen gelebt haben.
Unser Taxifahrer zählt nicht dazu, und deshalb hatte die Fahrt
eigentlich auch ein kleiner Test zum Pegelstand einer englischen
Seele sein sollen.
Das Ergebnis ist ebenso enttäuschend wie, ein wenig früher, die
Suche im Telefonbuch. Da steht »Buckingham Palace« eingestreut
irgendwo zwischen »Buckingham Balti House«, offenbar einer indischen Speisegaststätte, »Buckingham Arms«, was schon wieder auf
eine Kneipe schließen lässt, oder »Buckingham Dry Cleaners«; und
auch die Telefonnummer macht mit ihrem kleinbürgerlichen Durcheinander beliebiger Ziffern nichts von sich her.
»Wo soll ich Sie denn rauslassen?« fragt der Taxifahrer am
Ziel der unergiebigen Expedition. »Die Wachablösung sehen Sie
am besten von da drüben.« Es ist kurz nach zehn; um elf ist der
wöchentliche Auftritt der zackigsten Ballett-Truppe dieser Erde, der
königlichen Garde. »Hören Sie, ich will in den Palast hinein, nicht
zum Palast!« Das gibt dem Fahrer dann doch einen Ruck. Sogar
das Taxi ruckt ein bisschen, denn eben hat der Fahrer die Zentralverriegelung wieder eingeschaltet. Der Fahrer dreht sich herum,
um den Gast besser studieren zu können. Aber noch immer scheint
ihm der Sinn nicht nach einer Aussprache über die Monarchie zu
stehen. Stattdessen steuert er den nächsten Polizisten an. »Hier ist
einer, der sagt, er will in den Palast«, klagt er. Der Fahrgast fingert
in den Manteltaschen nach diesem elenden Brief, vergebens natürlich. Wahrscheinlich liegt er zu Hause auf dem Schreibtisch. Der
Polizist wirft einen Blick auf den Fahrgast. Wie ein Taliban sieht
der heute aber nicht aus. »Wenn Sie in den Palast wollen, nehmen
Sie am besten den übernächsten Eingang«, sagt er milde. Und das
soll alles gewesen sein?
Gott und ihr Recht. Bei aller „Britishness“ haben die Royals einen erstaunlichen und
doch historisch klar nachweisbaren Hang zu ausländischen Motti. Beim Prince of
Wales ist es sogar deutsch: „Ich dien“. F.A.Z.-Foto / Felix Schmitt.
Eine Einbestellung
Jetzt ist auch der Brief wieder da. Es ist eine Einbestellung zur
Königin. Eine »Einladung« darf man so etwas nicht nennen, das
wäre ungehörig; denn die Königin lädt niemanden ein, höchstens
vielleicht andere Königinnen. Alle übrigen Menschen lädt sie vor.
Denn Höflichkeit ist in Wahrheit gar nicht die Tugend der Gekrönten.
Die Königin also hält heute in ihrem Palast eine »Investitur«. Das
heißt, sie verleiht die Ehrentitel der Saison; und wer eine Einbestellung hat, darf dabei zuschauen. Manchmal wird sogar der eine oder
andere Ausländer bestellt, denn man hat keine Vorurteile. Auch die
Abwägung der Schicklichkeit der Person nimmt bei Fremden und
Untertanen gleichermaßen einige Wochen in Anspruch, bei den
Untertanen womöglich sogar noch ein bisschen länger. Mit der
Vorladung kommt die Regieanweisung. Für den Zuschauer genügt
dunkler Anzug; andere müssen zum Kostümverleih. Ferner flattert
eine rote Karte aus dem Umschlag, die am Außentor »abgegeben
werden muss«. Das ist doppelt unterstrichen. Dann tritt eine weiße
Karte für drinnen in Aktion, die dem Posten »gezeigt, aber keinesfalls ausgehändigt wird!« Diese Anweisung steht in Großbuchstaben.
Am Tor des Buckingham-Palastes ist immer Ferientag. Touristen
posieren abwechselnd für ein Foto. Kinder werden hochgehoben,
damit sie besser durch das Gitter schauen können. Die Polizisten
sind von väterlicher Freundlichkeit und aufgelegt zu den ausführlichsten Auskünften. Zaungäste fixieren mit mörderischer Geduld
die Posten in den Bärenfellmützen, um sie bei einer winzigen Bewegung zu ertappen. Andere stehen in unternehmungsvollem Nichtstun
herum, wie es nur Ausflügler können. Für sie alle ist die Welt an
diesem Tor zu Ende, heute, immer. Doch das ist diesmal nicht die
Welt des Fahrgastes.
Mit weichen Knien, aber dennoch festen Schrittes geht er durch
das Volk hindurch zum Durchlass neben dem großen Tor mit den
güldenen Zinnen. Hier wickelt er seine vielfarbigen Papiere aus,
und dann ist es auch schon geschehen. Ein Schritt, und er ist auf
der erdabgewandten Seite des Schilderhäuschens. Die Zuschauer
schauen ihm durch den Zaun nach, wie ihm noch nie jemand nachgeschaut hat. Bei einem echten Palast ist nicht das Drinsein das
Erbauende, sondern das Hineingehen. Der Königin geht das sicher
jeden Tag so. Hie und da blitzt ein rasch hochgerissener Fotoapparat. Zu Hause wird es einen fruchtlosen Streit geben, wer der
Unbekannte sei.
Die Beziehungen zwischen drinnen und draußen sind rätselhafter, als man denkt. Im Jahr des vierzigsten Thronjubiläums
der Königin 1992 wurde eine Übersicht veröffentlicht, ein Drittel
der Bevölkerung des Königreichs habe angegeben, Elisabeth II.
erscheine ihnen gelegentlich im Traum. Wenn es Nacht wird in
ihrem Reich, besucht sie wie Harun al Raschid das Unterbewusstsein ihres Volkes in den seltsamsten Verkleidungen. In manchen
Träumen tritt sie auf als ein älteres Fräulein mit einem »möblierten
Zimmer« in London; als Bäuerin von einem Hof in Yorkshire;
als Landfahrerin, die in einem Wohnwagen lebt. Wieder anderen
erscheint sie als Tischtennis-Spielerin, als Liftboy oder als Lastwagenfahrerin, und mitunter steht sie wie Theodor im Fußballtor. Und
da es britische Träume sind, gipfelt der Auftritt meistens darin, dass
man das Teewasser aufsetzt.
Das ist die wunderliche Ungereimtheit dieses zweiten elisabethanischen Zeitalters der Insel, das an diesem Mittwoch 50 Jahre
alt wird. Am 6. Februar 1952 war Elisabeth II. ihrem Vater auf
den Thron gefolgt. Im Unterschied zu allen anderen europäischen
Monarchien sieht die britische ihren Sinn, ja ihre verfassungsgemäße Aufgabe immer noch im Ritual der Entrückung. Das ist ihr
Schein, und das ist der Wunschtraum im Schloss, drinnen. Doch die
wahren Träumer im Volk sehen die Königin offenbar nicht so weit
entfernt, sondern geradezu alarmierend nahe.
Die zehn Jahre seit dem »annus horribilis« 1992 waren länger
als die vierzig davor. Auch ohne Umfrage darf man annehmen,
dass die Königin ihren Untertanen heute nicht mehr derart fleißig
im Traum erscheint. Dennoch bleibt der belebende Widerspruch.
Selbst in der Altersgruppe der Sechzehn- bis Vierundzwanzigjährigen, in der vor wenigen Tagen nur noch 18 Prozent angegeben
haben, sie »interessierten sich« für die Königin und all das, sind 70
Prozent der Meinung, die Monarchie solle bleiben. Zum Thronfest
sucht der Palast diese Anhänglichkeit aus der Ferne zu nähren mit
einer Aufstellung über »50 Dinge, die Sie nicht von Ihrer Majestät
gewusst haben«. Hier haben wir natürlich eher statistisches Material für den staatsbürgerlichen Unterricht, angefangen von der Zahl
der Patenkinder und Schoßhunde ihrer Herrscherzeit (jeweils 30)
oder der Staatsbanketts: 80. Doch es wäre nicht England, wenn nicht
von respektloser Hand sogleich eine zweite, inoffizielle Aufstellung
anderer 50 Fakten aus 50 Jahren nachgereicht worden wäre. Diese
Aufstellung beginnt: »Die Königin hat 1990 aufgehört, ihr Haar
mit einer Tinktur namens Schokoladen-Kuss zu färben«, und endet:
»Die Königin liebt Marschmusik, und ihr Fahrer hält im RollsRoyce immer ein Band bereit.«
Teddybär-Picknick
Diese zweite Aufstellung ist aber in Wahrheit ein GesellschaftsSpiel, und zwar in vielerlei Sinn des Begriffs. Denn der »Observer«,
der die Liste veröffentlichte, hat fünf Punkte eingeschmuggelt, die
erfunden sind und vom Leser ausgedeutet werden sollen. Dazu
gehören Nummer 6: »Die Königin hat 1972 einmal Ukulele-Stunden
genommen« und 39: »Beim Staatsbesuch in Australien 1981 wurde
eine künstliche Hand am Autofenster befestigt, weil Ihre Majestät
noch von einer Grippe geschwächt war und nicht dauernd selbst
winken konnte.« Doch die erfundenen und die wahren Tatsachen
sind einander so ähnlich, dass dieses Rätsel schier unlösbar scheint.
Die wahre Lösung ist natürlich, dass Nähe und Ferne, Plausibles
und Wunderliches offenbar auch heute noch miteinander unentwirrbar verflochten sind zu einer eigenen, unnachahmlichen Wirklichkeit. Ein Extra-Hotelzimmer für die Schuhe ihrer Majestät, wenn
dieselbe unterwegs ist? Korrekt. Sie hat einen Dauerauftrag ergehen
lassen an das Ensemble des Londoner Claridge's, »Teddybär-Picknick« zu spielen, wenn ihre Mutter den Raum zum Essen betritt?
Richtig. Ehemann Philip nennt seine Frau »Würstchen«? Na klar.
Über die Mätresse des Kronprinzen hat Elisabeth einmal bemerkt,
Camilla »sieht gebraucht aus«? Doch hier gebietet die Höflichkeit
Schweigen. Es stimmt übrigens.
Altes Gepränge
Alles ist kompliziert, und es ist einfach; zu einfach manchmal. Jene
rote Karte, die einmal im Leben den Unterschied zwischen drinnen
und draußen ausmacht, wollte der Posten am Portal des Palastes
dann gar nicht sehen. Die weiße Karte mit den Großbuchstaben,
ein Herzflattern später, würdigt der Höfling im Foyer nicht einmal
eines Blicks, er winkt einfach in Richtung zum Treppenaufgang. Es
muss am Schneider liegen, dem trefflichen Mister Rowland. Auch
der äußere Ring des Alarmsystems dieses Palastes ist noch von
derselben alten Schule: überreicher Kiesbelag im Innenhof, der
auch dem verstohlensten Schritt ein dröhnendes Echo nachwirft.
Aber beim Waten durch den Kies kann man wenigstens an Schabracken vorbei hastig in ein paar Zimmer spähen. Büros möchte man
sie nicht nennen. Man sieht dunkle Paneele, edle, zierliche Tische,
wohlversehen mit allerhand Schreibgerät und würdevollen Tischlampen. Es scheint aber inzwischen überall elektrisches Licht zu
geben.
Wer im Innenhof noch über Kies gestapft war, schreitet am
Treppenaufgang schon auf Wolken. In der Vorhalle sind in schimmernden Helmen und mit blankem Schwert die Kürassiere aufgezogen. Die zahllosen Höflinge im Ornat sehen aus, als sei jeder sein
eigener Generalfeldmarschall. Aber alle sind überwältigend gütig.
Auf der Treppe schwingt den frohgemuten Aufsteigern von ferne
leichte Musik entgegen. Die Militärkapelle in scharfgebügelten
Rotröcken, der eine oder andere Solist mit schlichtem Goldgehänge, spendet ihre Weisen vom Innenbalkon des Thronsaals. Einem
Stückchen aus der »Leichten Kavallerie« von Franz von Suppé folgt
gerade etwas Gewagteres, eine Rumba. Sachte legt altes Gepränge
seinen Zauber über die Festgemeinde. Herren zupfen an ihren geliehenen Bratenröcken, Damen betrachten die Hüte anderer Damen.
Eine Stunde Warten vergeht wie im Kino.
Die Flügeltür öffnet sich, und die Hausherrin kommt herein.
Geschäftsmäßig, grünes Vormittagskleid mit Handtasche. Vorneweg
zwei Gurkhas, das Gefolge mit dem Lordkämmerer hinterher. Und
auf einmal geht alles wieder viel zu schnell, wie draußen am Tor.
Siebzehn Höflinge nehmen um die Königin Aufstellung: einer kontrolliert die Liste der zu Ehrenden; einer legt den Orden vor; einer
reicht ihn der Königin an; einer flüstert ihr ins Ohr; einer liest laut
den Namen; einer winkt mit der Hand zum Vortreten; einer gebietet
mit dem Finger Halt; einer gibt mit der Augenbraue das Signal, zur
Königin vorzutreten. Die wechselt ein paar Worte mit dem Dekorierten, vielleicht, was Nummer vier ihr gerade ins Ohr gezischelt
hatte. Aus der Tiefe des Saals lässt sich unmöglich ausmachen, in
welchen Ehrenstand gerade »investiert« wird. Ist etwa ein neuer
“Principal Dresser to the Knights of the Thistle” gekürt worden?
Oder ein “Yeoman Bed Goer”? Ein “Hereditary Apothecary to the
Privy Closet”? Dann benommen zwei Schritte rückwärts gehen:
Verbeugung, wenn es ein »Yeoman of the Sock« ist; Hofknicks,
wenn die frisch bestallte »Extra Lady of the Bedchamber« dran war;
und ab nach rechts. Das ist es gewesen. Hundertsechsunddreißig
Mal an diesem Vormittag. Hymne. Die Königin lässt sich beim Herrschen zusehen? Korrekt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.2.2002
The Royal Collection:
Interessantes rund um
den Königshof
Time-Table: Die Lebensdaten der Königin
Von Hans Peter Trötscher
21. April 1926: Königin Elisabeth II. wird als Prinzessin
Elizabeth Alexandra Mary im Londoner Stadthaus Bruton Street
No. 12 geboren. Sie ist die älteste Tochter des Herzogs Albert,
des späteren Königs Georg VI., und seiner Gemahlin Elizabeth,
geborene Lady Bowes-Lyon, Tochter des Earl of Strathmore and
Kingborne.
Dezember 1936: König Eduard VIII., der im Januar seinem
Vater Georg V. auf den Thron gefolgt war, dankt wegen
seiner Beziehung zu der geschiedenen Amerikanerin Wallis
Simpson ab. Sein jüngerer Bruder, Elisabeths Vater, besteigt
als Georg VI. den Thron. Elisabeth, die mit ihrer vier
Jahre jüngeren Schwester Margaret aufwächst, wird damit
Thronfolgerin.
21. April 1947: Elisabeth hält von Südafrika aus ihre erste Rundfunkansprache.
20. November 1947: Elisabeth heiratet Philip Mountbatten, der
wenige Monate zuvor naturalisiert worden war, nachdem er als
Prinz von Griechenland und Dänemark im Krieg in der englischen
Marine Dienst getan hatte. Prinz Philip erhält den Titel Herzog von
Edinburgh.
14. November 1948: Elisabeth bringt den Thronfolger Prinz Charles
zur Welt.
15. August 1950: Prinzessin Anne wird geboren.
6. Februar 1952: In Kenia erreicht Elisabeth die Nachricht vom
Tod ihres Vaters.
2. Juni 1953: Elisabeth wird in der Westminster-Abtei zur Königin
gekrönt.
3. April 1956: Chruschtschow auf Staatsbesuch im BuckinghamPalast.
19. Februar 1960: Prinz Andrew wird geboren.
10. März 1964: Geburt Prinz Edwards.
20. November 1972: Das Königspaar begeht seine silberne Hochzeit.
14. November 1973: Erste Mesalliance des Hauses Windsor: Prinzessin Anne heiratet Mark Phillips. Die von Königin Elisabeth angebotene Peerswürde für Phillips lehnt Anne ab.
6. Februar 1977: Silbernes Thronjubiläum
29. Juli 1981: Prinz Charles heiratet Lady Diana Spencer, Angehörige eines alten englischen Adelsgeschlechts.
21. Juni 1982: Geburt von Charles’ Sohn William.
Prince Charming. Von William versprechen sich viele Briten eine Fortführung der
Monarchie im Sinne Dianas. Er symbolisiert wie kein Zweiter die Zukunft. F.A.Z.Foto / Frank Röth.
9. Juli 1982: Der Arbeitslose Michael Fagan dringt ins Schlafzimmer der Königin ein und trinkt dort eine Flasche Wein aus. Die
Königin unterhält sich mit ihm, bis er von der Polizei verhaftet
wird. Fagan wird schließlich wegen Diebstahls einer Flasche Wein
belangt, aber nicht verurteilt. Fast die gesamten Sicherheitseinrichtungen des Palastes sind defekt oder abgeschaltet.
15. September 1984: Geburt von Charles Sohn Prinz Henry
(genannt Harry).
23. Juli 1986: Heirat Prinz Andrews mit Sarah Ferguson, einer
Bürgerlichen, deren Familie aber von König Karl II. abstammt.
17. Mai 1991: Als erste britische Monarchin überhaupt spricht Elisabeth vor dem amerikanischen Kongress.
24. November 1992: Königin Elisabeth II. spricht in der Londoner
Guilhall von einem «Annus horribilis», einem schrecklichen Jahr.
Im März war die Ehe ihres Sohnes Andrew mit Sarah Ferguson
geschieden worden, im April hatte sich ihre Tochter Prinzessin
Anne scheiden lassen. Im Dezember folgte die offizielle Trennung
des Thronfolgerehepaars Prinz Charles und Prinzessin Diana.
Der Lebensstil ihrer Schwester Margaret hatte ebenso Kritik
hervorgerufen wie die Liebesaffären ihres Sohnes Andrew. In den
Zeitungen wurde darüber debattiert, ob die Königin weiter von der
Einkommensteuer befreit bleiben könne. Im November brannte es
im Chester-Turm von Schloss Windsor, und sogleich wurde in der
Presse die Frage gestellt, ob der Steuerzahler für den umfangreichen
Wiederaufbau aufkommen müsse. Dennoch: Die weitaus meisten
Briten sehen in der Monarchie und in der Person der Königin nach
wie vor eine Gewähr für Stabilität und Kontinuität.
Dezember 1995: Elisabeth empfiehlt Charles und Diana in einem
Brief die Scheidung,
15. Juli 1996: Prinz Charles und Prinzessin Diana lassen sich
scheiden. Ihre Söhne sind Prinz William und Prinz Henry, der Harry
genannt wird.
19. Juni 1999: Prinz Edward heiratet Sophie Rhys-Jones, auch sie
kommt nicht aus dem Adel.
31. August 1997: Prinzessin Diana stirbt in Paris bei einem Autounfall. Königin Elisabeth sieht sich wegen ihres Schweigens zahlreichen Angriffen der Öffentlichkeit ausgesetzt. Sie gibt ihre Zurückhaltung auf, hält eine offizielle Fernsehansprache und setzt die
Trauerfeier für Prinzessin Diana auf den 6. September in der Westminster-Abtei an. 2000 Gäste sind geladen, Hunderttausende Briten
bekunden in London, Millionen Menschen am Fernseher ihre Trauer
um Diana.
9. Februar 2002: Elisabeths Schwester, Prinzessin Margaret stirbt
im Alter von 72 Jahren nach mehreren Schlaganfällen.
30. März 2002: Die Königinmutter stirbt im Alter von 102 Jahren.
9. April 2005: Der Thronfolger Prinz Charles heiratet in zweiter Ehe
Camilla Parker Bowles.
2012: Elisabeth feiert das diamantene Thronjubiläum. Vor 60 Jahren
wurde sie gekrönt.
22. Juli 2013: Geburt von Prinz Williams Sohn George, Elisabeths
Urenkel.
Philologie des Elbischen:
Die Sprachen Mittelerdes
Hobbits, Elben, Zauberringe
eBook
Umfang: ca. 183 Seiten
Mit 5 Abbildungen
Februar 2013
ISBN (ePub): 978-3-89843-237-5
ISBN (PDF): 978-3-89843-238-2
Preis: 9,99 €
Sag es auf Sindarin
Tolkien schuf seine Sprachen nicht für sein
Erzählwerk, sondern umgekehrt. Aber darf man
auch jenseits von Mittelerde damit hantieren?
Ein Blick auf die Philologie des Elbischen
Von Ulf von Rauchhaupt
S
ie heißt Lucia. Die 21-jährige Italienerin studiert Deutsch und
Russisch, auf ihrem Youtube-Kanal aber ist sie in einer anderen
Sprache zu hören: »Átaremma i ëa han ëa, na aire esselya, aranielya na tuluva, na care indómelya, cemende tambe Erumande . . .«
Lucia spricht Quenya, eine Sprache, in der die Elben in J. R. R.
Tolkiens Erzählwerk alte Lieder singen. Im Elben-Alltag dagegen
spricht man Sindarin, in dem sich ebenfalls prima dichten lässt,
wenn vielleicht nicht so vollendet wie in Quenya. Allerdings, jene
Verse auf Lucias Kanal stehen nicht im »Herrn der Ringe«. Es ist das
Vaterunser. »Ich freue mich auf den Tag«, schreibt Lucia dazu, »an
dem Quenya oder Sindarin auf der ganzen Welt gesprochen wird.«
Kann man so – oder überhaupt – für Idiome schwärmen, die
nicht einmal tot sind, weil sie nie lebendig waren? Nun ist Vitalität
bei Sprachen kein ganz klarer Begriff, außer vielleicht für Gegner
des Lateinunterrichts. Lucia mag eine besonders romantische Elbenfreundin sein, allein ist sie damit nicht, und das nicht erst, seit Liv
Tyler in Peter Jacksons »Herr der Ringe«-Verfilmung mit elektronisch tiefer gelegter Stimme auf Sindarin parlierte. Die Elvish
Linguistic Fellowship (E.L.F.) wurde 1988 gegründet und gibt
gleich drei Fachjournale für Elbisch-Studien heraus. Daneben existieren viele Foren, Websites mit elbischer Lyrik und ausführlichen
Sprachkursen samt Übungen. Das kann man für exzentrisch oder
eskapistisch halten, doch dieses Nerdtum hat ein Vorbild: Tolkien
selbst. Im Gegensatz zu anderen artistischen Kunstsprachen (siehe
»Erfundene Idiome«) entsprangen Tolkiens Kreationen keinem literarischen Kalkül. Sie wurden nicht ersonnen, um Geschichten lebendiger zu machen – auch wenn sie genau diesen Effekt haben.
Tolkien schuf das Elbische nicht für Mittelerde, sondern Mittelerde für das Elbische. »Die ›Geschichten‹ wurden eher gemacht, um
den Sprachen eine Welt zu geben als umgekehrt«, schrieb Tolkien
nach Erscheinen des »Herrn der Ringe« im Jahr 1954. »Ich hätte es
vorgezogen, auf Elbisch zu schreiben.«
Den 1937 erschienenen »Hobbit« hatte er noch in rein erzählerischer Absicht geschrieben, um ihn seinen Kindern vorzulesen.
Dabei hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eine Liste mit rund 600
Wortwurzeln angelegt, aus denen er Tausende von Wörtern zweier
Sprachen ableitete, aus denen dann im »Herrn der Ringe« Quenya
und Sindarin wurden. Dem Spracheerfinden hatte Tolkien seit seiner
Jugend gefrönt. Spätestens in seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg
entstand das Elbische und mit ihm die Elben. Dabei ging er mit
der führenden linguistischen Schule seiner Zeit, den sogenannten
Junggrammatikern, davon aus, dass Sprachwandel von beschreibbaren und selbst unveränderlichen Regeln regiert wird. »Er hat
neue Wörter und Namen nicht willkürlich ,erfunden«, erinnerte sich
Christopher Tolkien an das Vorgehen seines Vaters. »Er entwickelte
sie grundsätzlich aus der historischen Struktur heraus. Dabei ging er
von den Wurzeln aus, fügte Präfixe oder Suffixe an, bildete Verbindungen, entschied (oder ›fand heraus‹, wie er es nannte), wann ein
Wort in die Sprache kam, und verfolgte es durch die regelhaften
Abwandlungen, denen die Form dann unterworfen gewesen wäre.«
„Ash nazg durbatulûk, ash nazg Gimbatul, ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul.“ Wer die dunkle Sprache Mordors versteht, hat den meisten Bewohnern Mittelerdes etwas voraus. Selbst Gandalf muss lange forschen, bis er die Ringgravur lesen
und verstehen kann. Foto: © Timo Zier / photocase.com
Daher mussten mit der Sprache auch eine Sprachgeschichte und
mit dieser die Geschichte und Mythologie der Sprechenden entwickelt werden. Mittelerde entstand damit, wie es der Tolkien-Forscher
Helmut Pesch formuliert hat, als »eine Welt aus Sprache«.
Eine solche Welt ist zwangsläufig komplexer als eine, deren
Autor allein der Logik und der Psychologie seiner Figuren
verpflichtet ist. Sie erlaubt ihm aber zugleich einen vergleichsweise
einfachen Stil, bei dem vermeintliche Plattheiten einen tieferen Sinn
haben. So kommt der Namen des Erzbösen Sauron keineswegs vom
griechischen Wort für »Echse«, sondern von dem Quenya-Wort
»saura«, das sich aus der Wurzel »thaw« (»abscheulich«) ergibt.
Schon aufgrund dieser linguistischen Ästhetik gehört Tolkiens
Werk nicht zum Fantasy-Genre, auch wenn er heute als dessen
Erzvater gilt. Trotzdem hat auch seine Ästhetik ihre Quellen. So
gibt es nicht allein deswegen zwei Elbensprachen, damit Sprachgeschichte interessanter wird, sondern weil Tolkien an zwei existenten Sprachen ein besonderes Hörvergnügen hatte. Das war
einmal das Walisische, dem das Sindarin klanglich nachempfunden ist und mit dem es einige Eigenschaften teilt, etwa die,
in bestimmten Fällen anlautende Konsonanten zu verändern. Es
war eine Vorliebe, die Tolkien feststellte, als er einmal die walisische Aufschrift »Adeiladwyd 1887« (»Erbaut 1887«) sah. Und
dann entdeckte er das Finnische. »Das war wie einen Keller
voller Flaschen eines erstaunlichem Weins von nie gekannter Art
und Geschmack zu entdecken«, schrieb er in einem Brief. »Ich
war regelrecht besoffen.« Diesem sprachästhetischen Vollrausch
verdankt sich der Klang des Quenya.
Strukturell ist Quenya allerdings kein Pseudofinnisch, schon
deswegen nicht, weil Tolkien es gleich dem walisisch (und damit
indoeuropäisch) inspirierten Sindarin aus einem Urelbisch ableitet,
während Finnisch nicht zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört.
»Quenya-Nomina sind aber etwa so komplex wie proto-indoeuropäische«, sagt der amerikanische Linguist David Salo, der Peter
Jackson bei seinen Tolkien-Verfilmungen berät, »die Konjugation
der Verben dagegen ist fast schockierend simpel, verglichen mit
Latein oder Altgriechisch.« Die Einflüsse des Altgriechischen auf
das Quenya, die Tolkien selbst erwähnt, sind daher ebenfalls eher
lautlästhetischer Natur. Daran ändert auch nichts, dass es in Quenya
die Tempusform des Aorist gibt, die zwar auch das Griechische
kennt, die aber im Quenya eine andere Bedeutung hat.
Was hingegen geeignet ist, den Quenya-Schüler zur Verzweiflung zu treiben, sind die vielen verschiedenen Fälle bei den
Pronomen. »Die pronomiale Komplexität des Quenya übersteigt
die indoeuropäischer Sprachen bei weitem«, sagt Salo. »Soweit ich
weiß, gibt es nur einige der Algonkin-Sprachen im Norden Nordamerikas, die da herankommen.«
So viel Aufwand konnte Tolkien natürlich nicht bei jeder Sprache
seines Universums treiben. So gibt es nähere Details sonst nur noch
zu der Zwergensprache Khuzdul, für die eine semitische Sprache
Modell stand. Ein Idiom Mittelerdes aber präsentiert Tolkien als
etwas überhaupt nicht organisch und geschichtlich Gewachsenes,
sondern explizit als etwas Artifizielles: die »Schwarze Sprache«,
die Sauron für seine Diener entwickelt hat. Als Herrschaftsinstrument ist sie gleich George Orwells »Neusprech« kalkuliert armselig
gehalten, und lautlich war Tolkien um äußerste Hässlichkeit bemüht.
Das Wort »Nazg« (Ring) entnahm er dem Gälischen, das er nicht
mochte, ebenso wenig übrigens wie das Französische.
Über die Sprachen der übrigen Völker und Geschöpfe Mittelerdes ist aus Tolkiens Werken und Schriften viel weniger zu erfahren.
Im Rahmen seiner Fiktion (seiner »sekundären Welt«, wie die
Tolkien-Philologen lieber sagen) sind sie wenig bis kaum »bekannt«,
jedenfalls sehr viel weniger als Quenya und Sindarin. Aber wie
»bekannt« sind diese? Reicht es, damit Lucias Wunsch zumindest
theoretisch wahr und ein Elbenidiom in unserer Primärwelt eine
gesprochenene Sprache werden könnte?
Quenya und Sindarin sind insofern echte Sprachen, als sie etwa
vom Umfang des Textmaterials her der Norm ISO 639 der International Standard Organisation entsprechen – unter den artistischen
Kunstsprachen gilt das sonst nur noch für das Klingonische. Beide
Elbensprachen verfügen allerdings nur über einen Wortschatz von
jeweils etwa 2.500 Vokabeln. Deutsch dagegen hat mindestens
300.000. Trotzdem sind bereits die ersten Kapitel des Alten und
Teile des Neuen Testaments in Quenya übersetzt worden. Wie ist
das möglich, angesichts des beschränkten Wortschatzes, den Tolkien
hinterlassen hat?
Tatsächlich ist es die synthetische Historizität der Elbenidiome –
die sie von allen anderen Kunstsprachen unterscheidet –, welche hier
weiterhilft. Die Wurzeln und die von Tolkien benutzten Bildungsgesetze ermöglichen es im Prinzip, die Elbensprachen weiterzuentwickeln. Doch es gibt beträchtliche Hindernisse. Mit das größte ist,
dass Tolkien keine fertigen Grammatiken geschaffen hat. Und in
den Aufzeichnungen zu seinen Sprachen war ihm Phonologie stets
wichtiger als Morphologie, ganz zu schweigen von Syntax. Zudem
änderte er die Sprachen immer wieder. »Es gibt eine Quelle, in der
Tolkien ›lá‹ als Quenya für ›ja‹ identifiziert, und eine andere, in
der das gleiche Wort mit ›Nein‹ übersetzt ist«, sagt Thorsten Renk,
Autor elbischer Lyrik und eines Sindarin-Sprachkurses. »Da muss
man dann einfach eine Auswahl treffen.«
Über diese Auswahl müssten sich die Elbisch-Philologen
einigen, was ihnen aber schon an anderer Stelle zuweilen schwerfällt. So hat Peter Jacksons Elbisch-Beauftragter David Salo eine
Sindarin-Grammatik veröffentlicht, der vorgeworfen wird, erschlossene Formen nicht sauber genug von den bei Tolkien belegten zu
unterscheiden und Belegbares zu ignorieren, wo es nicht zu Salos
Ideen passt. Prominentester Kritiker Salos ist Carl Hostetter, der
für Christopher Tolkien den Elbisch-Nachlass seines Vater ediert.
Die Kontroverse ist damit möglicherweise nicht ganz unbelastet
von den Animositäten zwischen dem Tolkien Estate und Jacksons
Verfilmungen.
Die Mediävistin Judith Klinger von der Universität Potsdam
sieht hier aber auch eine grundsätzliche Frage unterschiedlich beantwortet: »Es ist die Frage, ob man die Elbensprachen wie historische, aber fragmentarisch überlieferte Sprachen erforschen oder ob
man sie benutzbar machen will«, sagt Klinger. »Es gibt auch unter
den Sprachhistorikern solche, die beispielsweise das sehr schmale
Korpus des Gotischen erforschen, und solche, die gerne gotische
Texte schreiben möchten und daher das überlieferte Sprachmaterial ergänzen.«
Carl Hostetter hält die Entwicklung solcher neo-elbischen
Sprachen für unpraktikabel. »Tolkien selbst konnte nicht fließend
Quenya oder Sindarin«, schreibt Hostetter. »Und daher wird auch
niemand sonst es jemals können, jedenfalls nicht das Quenya und
Sindarin, das Tolkien entwickelt hat.« Allerdings ist es fraglich, ob
der Schöpfer alles Elbischen von Weiterentwicklungen mehr gefordert hätte als Treue zu seiner Sprachästhetik. Gegen eine Verwendung des Elbischen für primärweltliche Zwecke war er jedenfalls
gewiss nicht. Die Vaterunser-Übersetzung ins Quenya, die Lucia auf
Youtube rezitiert, stammt von Tolkien selbst.
Erfundene Idiome: im Dienste der Völkerverständigung, des
Feminismus und der Filmindustrie
6908 Sprachen werden heute auf der Erde muttersprachlich gesprochen. Fast alle sind natürlich entstanden. Doch das reicht dem
Menschen nicht.
Esperanto wurde 1887 vorgestellt als leicht erlernbares Idiom
für die internationale Verständigung ohne Bevorzugung eines
Kulturraums. Es ist die einzige Kunstsprache mit Muttersprachlern (einige tausend). Verstanden wird es von bis zu zwei Millionen Menschen.
Ido ist eine Weiterentwicklung des Esperanto, die logischer und
einheitlicher sein soll. Die Angaben über die Zahl der Sprecher
schwanken von wenigen hundert bis mehr als tausend.
Interlingua orientiert sich näher an natürlichen (romanischen)
Sprachen als Esperanto, hat dafür eine komplexere Grammatik.
Kaum mehr als tausend Menschen sprechen es.
Afrihili wurde 1970 mit dem Ziel einer panafrikanischen Lingua
franca entwickelt, ist aber weitgehend gescheitert.
Láadan ist eine 1982 als Experiment erdachte feministische Sprache.
Ihre Schöpferin, die Amerikanerin Suzette Eglin, vermutete, dass
natürliche Sprachen strukturell spezifisch männliche Kommunikationsbedürfnisse bedienen. Sätze in Láadan dagegen sollen etwa
neben der Aussage zusätzlich das Gefühl der Sprechenden während
des Sprechakts transportieren.
Brithenig ist ebenfalls ein Experiment, diesmal ein Sprachhistorisches. Sein Erfinder, der Neuseeländer Andrew Smith, versuchte
sich 1996 vorzustellen, was herausgekommen wäre, wenn sich im
England der Völkerwanderungszeit das Latein gehalten und wie
in Frankreich oder Spanien eine romanische Sprache hervorgebracht hätte.
Klingonisch ist neben den Elbensprachen Tolkiens die bekannteste sogenannte artistische Kunstsprache. Sie wurde 1984 von
dem Linguisten Marc Okrand für den dritten »Star-Trek«-Kinofilm
erfunden. Okrand bemühte sich dabei um größtmögliche Unähnlichkeit mit jeder natürlichen irdischen Sprache, trotzdem – oder
gerade deswegen – hat Klingonisch viele Fans. Es gibt ein »Klingon
Language Institute« und Übersetzungen etwa des Gilgamesch-Epos
oder eines Shakespeare-Stücks, eine ganze Oper auf Klingonisch
und den (allerdings gescheiterten) Versuch, ein Kind muttersprach-
lich klingonisch aufzuziehen. Einige Dutzend Menschen können die
Sprache fließend.
Na'vi, die Sprache der blauen Aliens in James Camerons »Avatar«,
wurde 2009 ebenfalls von einem gelernten Linguisten entwickelt.
Inzwischen gibt es eine an polynesischen Sprachen orientierte
Grammatik und einen Wortschatz von 1.500 Vokabeln.
Dothraki spricht das gleichnamige Barbarenvolk in der Fernsehserie »Game of Thrones«. Während die Romanvorlage nur einige
Wörter Dothraki enthält, wurde für den Film wieder ein Sprachschöpfer engagiert, der 1.700 Vokabeln erfand, inzwischen sollen
es mehrere Tausend sein. Der Trend ist klar: Für Filmprojekte im
Bereich Science-Fiction und Fantasy wird der Linguist allmählich
ähnlich wichtig wie der Komponist der Filmmusik.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.12.2012
Weltkriegs-Schauplatz:
Heimatfront
Der Erste Weltkrieg
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Umfang: ca. 210 Seiten
Mit 20 Abbildungen und umfangreichem Zusatzmaterial: Chronik,
Statistik, Personenregister, Buchempfehlungen und Filmtipps
September 2014
ISBN ePub: 978-3-89843-227-6
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Ohrenzeugen des Ersten
Weltkriegs
Im Westen Deutschlands konnte man die
Kanonen von Verdun und Belfort hören
Von Reinhard Pabst
A
lfred Döblin schrieb am 29. März 1916 in einem Brief an
seinen Freund Herwarth Walden: »Mit den Ohren haben wir
die Schlachten von Verdun hier mitgekämpft, orientiere Dich auf
der Karte, wie weit wir von Verdun sind, so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, dass wir
Trommelfeuer unterschieden, Explosionen; ein ewiges Dröhnen,
Bullern, Pauken am westlichen Himmel. Jetzt, seit 1 Woche, ist alles
still; was das ist, wer weiß? Akustisch ist jedenfalls der Angriff auf
Verdun zur Zeit eingeschlafen.« Döblin war zu dieser Zeit als Militärarzt im lothringischen Saargemünd (Sarreguemines), ungefähr
110 Kilometer von Verdun entfernt, tätig (umfassend dokumentiert
in dem unlängst erschienenen Band »Alfred Döblin: ›Meine Adresse
ist: Saargemünd‹. Spurensuche in einer Grenzregion«, zusammengetragen und kommentiert von Ralph Schock, Gollenstein Verlag
2010).
Westfront 1914. Französische Soldaten biwakieren in der Etappe am Südlichen Frontabschnitt. Foto: Jules Gervais-Courtellemont.
Der Döblin-Forschung ist zu dieser Briefpassage bisher erstaunlich
wenig eingefallen. Sie wird zwar immer wieder zitiert, gleich mehrfach etwa in dem aktuellen Tagungsband »Im Banne von Verdun.
Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten
Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen«, herausgegeben von Ralf Georg Bogner (Peter Lang Verlag 2010). Aber noch
nie hat man sich näher mit ihr befasst, geschweige denn sie in die
»Klanglandschaft des Ersten Weltkrieges« (Axel Volmar) eingebettet. Dabei ist Döblins eindrückliches Zeugnis nur eines unter
sehr vielen zur akustischen Wirkung des Einsatzes schwerer Artillerie zwischen 1914 und 1918.
Tagebuch des Schülers Adorno
Dies unterscheide den Ersten Weltkrieg »einzigartig« von allen
früheren Kriegen, heißt es in der Schrift »Die Musik der Schlachten«
des Philosophiestudenten und Infanteristen Hellmuth Falkenfeld
(1916), »dass er seinen schrecklichen Inhalt ebenso sehr dem Ohr
wie dem Auge mitteilt. Das Auge kann man schließen, das Ohr aber
nur verstopfen; wer den Krieg nicht sehen will, muss ihn hören.«
Der akustische Ausnahmezustand, den Julia Encke in ihrer Studie
»Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, 1914–1934«
(Wilhelm Fink Verlag 2006) eingehend untersucht hat, betraf keineswegs nur Armeeangehörige wie Döblin und Falkenfeld.
Schwere französische Artillerie in der Champagne. Die Lautstärke des Kanonendonners und Gefechtslärms war noch in mehr als 100 Kilometern Entfernung zu hören.
Foto: Fotograf unbekannt, aus: Der Weltkrieg im Bild. Verlag: Knaur, Leipzig 1920.
Vom Raum Aachen bis in die Grenzregionen der Schweiz
soll zeitweise »fast täglich« (Robert Walser) selbst über größere
Distanzen hinweg das Kampfgetöse des westlichen Kriegsschauplatzes für die Zivilbevölkerung vernehmbar gewesen sein. Das
belegt eine Vielzahl zeitgenössischer Dokumente, vor allem Leserbriefe und Artikel in Tageszeitungen, naturwissenschaftliche Fachaufsätze über Reichweite und Hörbarkeit des Geschützdonners
sowie Notizen in Tagebüchern und Chroniken, die noch niemand
systematisch gesammelt und ausgewertet hat.
Das Fort Douaumont gehörte zu den Befestigungswerken von Verdun. Auf dem Foto
oben sind am Beginn des unteren Bilddrittels einige Granattrichter zu sehen. Im Laufe
des Jahres 1916 wurde das Fort bis auf ein paar unterirdische Kasematten fast vollständig durch Artilleriebeschuss vernichtet. Foto: Fotograf der Luftaufnahme unbekannt, Wikimedia Commons.
Nur selten konnte die Herkunft des »Gewummers« so genau
bestimmt werden wie im Falle Theodor W. Adornos, der als zwölfjähriger Schüler im Sommer 1916 zusammen mit seiner Mutter
und seiner Tante von Hornberg aus eine Ferienwanderung durch
den Schwarzwald unternahm. Über die Triberger Wasserfälle, den
Stöcklewaldkopf und Furtwangen erreichte man am 23. Juli Hinterzarten, wo die drei, wie Adorno in einem unveröffentlichten Schulaufsatz schrieb, »heftig den Kanonendonner von Belfort hörten«.
Die Angabe lässt sich mühelos mit dem deutschen Heeresbericht
vom selben Tag in Einklang bringen, in dem von »schwerem Feuer
auf die Stadt Belfort« die Rede ist. Das Feuer kam von einer sehr
großen 38-cm-Kanone des Typs »Langer Max« bei Zillisheim im
Elsass, südlich von Mühlhausen (Mulhouse), die zwischen Februar
und Oktober 1916 Belfort unter Beschuss nahm und deren letzte
Überreste noch heute zu besichtigen sind.
Zumeist blieb die Geräuschkulisse jedoch eher diffus, ein
dunkles Rollen und Grollen aus der Ferne, das Karl Jaspers, Gustav
Heinemann, Hans Jonas und anderen Zeitzeugen selbst nach Jahrzehnten im Ohr war. Karl Korn, einer der früheren Herausgeber
dieser Zeitung, schildert in seiner Autobiographie »Die Rheingauer
Jahre« (1986), wie er 1916 im Alter von acht Jahren, bei einem
Verwandten in Rüdesheim am Rhein zu Besuch, von diesem auf
einen Spaziergang in die Weinberge mitgenommen wurde. »Dann
hieß er mich eine Weile ganz still sein. Ob ich etwas höre? Ich
hörte angestrengt und sagte, ja, ein leises Summen. Wir horchten
zusammen, und da war es wieder deutlich zu hören, ein an- und
abschwellendes Summen. Da machte der Onkel Hannes ein sehr
ernstes und bekümmertes Gesicht und sagte, das seien die Kanonen
von Verdun.« Denen, die während des Ersten Weltkriegs Kinder
waren, vermittelte der Kanonendonner eine Ahnung »des Unheimlichen, des Grauens«.
Gestörte Transzendentalphilosophie
In der Universitätsstadt Marburg postierten sich 1916 wiederholt
»lauschlustige und müßige Herren« zu vorgerückter Stunde auf dem
Schlossberg und auf den Lahnbergen, um mit den Ohren vielleicht
etwas von dem zu erhaschen, was man allgemein als »Konzert« der
Haubitzen und Mörser verharmloste (den Gefechtslärm bildeten die
fidelen Marburger sich nur ein, sie waren zu weit weg vom Schuss).
Ein Offizier besichtigt das Ergebnis des Artilleriefeuers im Argonner Wald an der Westfront 1915. Foto: Bundesarchiv, Bild 104-00158.
Dagegen wurde man andernorts in Südwestdeutschland sogar bei
geschlossenen Fenstern durch Kanonendonner »stets unangenehm
an den Krieg erinnert«, so der Oberlehrer Walter Brand in einem
Beitrag für die »Frankfurter Zeitung«. Vom »dröhnenden Krieg«
(Theodor Kramer), der einen bis in die eigenen vier Wände verfolgte,
ließ sich freilich nicht jeder beirren. Im Vorwort zur dritten Auflage
seines Buches »Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die
Transzendentalphilosophie«, verfasst im September 1915, hoffte der
Freiburger Professor Heinrich Rickert, man werde der Arbeit nicht
anmerken, »dass der Kanonendonner von den Vogesen her an vielen
Tagen die Konzentration auf die Welt des Unwirklichen schwermachte«. Die Front ließ uns auch zu Hause nicht los – so formulierte es Benno Reifenberg, einer der früheren Herausgeber dieser
Zeitung, 1960 in Erinnerung an den Kanonendonner des Jahres 1916.
Was diese »Belagerung des Ohrs« (Helmut Lethen) für die Soldaten
auf Heimaturlaub bedeutete und welche Folgen sie für die Moral
der Zivilbevölkerung hatte, wird die künftige Erforschung der Lautsphäre des Ersten Weltkrieges zu klären haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.5.2011
Weltkriegs-Chronik
Von Sarajevo bis Versailles – Entscheidende
politische und militärische Ereignisse
Von Hans Peter Trötscher
28. Juni 1914
In Sarajevo erschießt der bosnisch-serbische Nationalist Gavrilo Princip
den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau. Das
Attentat löst die »Juli-Krise« aus, die in den Krieg führt.
5. Juli 1914
Kaiser Wilhelm II. trifft den österreichischen Botschafter und sichert
Österreich-Ungarn die volle Unterstützung Deutschlands zu („BlankoVollmacht«)
22. Juli 1914
Der französischen Staatspräsident besucht Russland, die Entente-Staaten
sichern sich ihre gegenseitige Unterstützung im Bündnisfall zu.
28. Juli 1914
Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg.
1. August 1914
Wilhelm II. erklärt Russland den Krieg und ordnet die Generalmobilmachung an.
3. August 1914
Deutschland erklärt Frankreich den Krieg und besetzt das neutrale Belgien.
Tags darauf tritt Großbritannien als Schutzmacht Belgiens in den Krieg ein.
26. bis 30. August 1914
Beginn der deutschen Offensive an der Ostfront: Nachdem die russische
Armee in Ostpreußen eingedrungen war, drängen deutsche Truppen unter
Paul von Hindenburg sie in der Schlacht bei Tannenberg zurück.
5. bis 12. September 1914
An der Westfront stehen eine Million alliierte Soldaten 750.000 deutschen
gegenüber. Die Schlachten an der Marne, an der Yser und vor Ypern enden
mit dem Rückzug der Deutschen. Der Schlieffen-Plan war gescheitert.
13. bis 28. September 1914
An der Aisne in Nordfrankreich legen die Deutschen erstmals Schützengräben zur Verteidigung an und leiten damit den Übergang zum Stellungskrieg ein.
20. Oktober bis 18. November 1914
Die Erste Flandernschlacht, auch Ypern-Schlacht, im Raum der belgischen
Kanalküste kostet viele Menschenleben. Den Deutschen gelingt es nicht,
die das britische Korps von seinen Versorgungslinien abzuschneiden.
29. Oktober 1914
Das Osmanische Reich tritt auf der Seite der Mittelmächte in den Weltkrieg ein.
2. November 1914
Russland erklärt dem Osmanischen Reich den Krieg, Großbritannien und
Frankreich folgen. Großbritannien erklärt die Nordsee zum Kriegsgebiet
und errichte eine Seeblockade.
19. Januar 1915
Luftkrieg: Deutsche Zeppeline greifen London an.
4. Februar 1915
Deutschland erklärt die Nordsee um die Britischen Inseln zur Kriegszone
und eröffnet einen massiven U-Boot-Krieg gegen alliierte und neutrale
Handelsschiffe.
7. bis 22. Februar 1915
An der Ostfront siegen die Mittelmächte in der Winterschlacht in Masuren,
die russische Armee zieht sich aus Ostpreußen zurück.
22. April 1915
In der Zweiten Flandernschlacht bei Ypern setzen die Deutschen erstmals
chemische Waffen (Chlorgas) an der Westfront ein.
25. April 1915
Britische, australische, neuseeländische und französische Truppen landen
auf der türkischen Halbinsel Gallipoli.
26. April 1915
Italien tritt auf Seiten der Entente in den Krieg ein.
2. Mai 1915
Erfolgreichste Offensive der Mittelmächte: deutschen und österreichischen
Verbänden gelingt in der Schlacht von Gorlice-Tarnów der Durchbruch.
7. Mai 1915
Deutsche U-Boot versenken das britische Passagierschiff »Lusitania« mit
1198 Menschen an Bord, 1.200 Menschen sterben, darunter mehr als 120
Amerikaner.
23. Juni 1915
Beginn des Gebirgskriegs zwischen österreichischen und italienischen
Truppen. Es wird ein breit angelegter drei Jahre andauernder Stellungskrieg vor allem in den Dolomiten, den Karnischen und den Julischen
Alpen.
25. September 1915
Die Briten setzen in der Nähe der französischen Ortschaft Loos erstmals
Giftgas ein.
14. Oktober 1915
Das Königreich Bulgarien tritt auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg
ein.
21. Februar 1916
Die Schlacht um Verdun beginnt und wird zu einen erbitterten Stellungskampf mit dem Ziel, die Gegner zu zermürben..
29. Februar 1916
Deutschland nimmt den U-Boot-Krieg gegen bewaffnete Handelsschiffe
wieder auf.
31. Mai 1916
Im Skagerrak in der Nordsee treffen die britische und die deutsche Flotte
aufeinander. Das größte Seegefecht in der Geschichte endet unentschieden.
1. Juli bis 18. November 1916
Mit einer britisch-französischen Großoffensive beginnt die Schlacht an der
Somme in Nordfrankreich. Sie gilt als verlustreichste Schlacht des Ersten
Weltkriegs. Am 18. November wird sie ohne eine militärische Entscheidung abgebrochen.
24. Oktober 1916
Aufgrund der Somme-Schlacht muss Deutschland Truppen aus Verdun ab-­
ziehen. Die Franzosen entscheiden bis Mitte Dezember die Materialschlacht
um Verdun für sich, ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs.
1. Februar 1917
Das Kaiserreich erklärt den »uneingeschränkten U-Boot-Krieg«, worauf
die USA die diplomatischen Beziehungen abbrechen.
6. April 1917
Nach der Wiederaufnahme des U-Boot-Krieges treten die USA in den
Krieg ein. Die Vereinigten Staaten erklären Deutschland den Krieg.
14. August 1917
China erklärt den Mittelmächten den Krieg.
6./7. November 1917
In der Oktoberrevolution übernehmen in Russland die Bolschewiken die
Macht.
3. März 1918
Nach Verhandlungen über einen Separatfrieden schließen Russland und
die Mittelmächte den Frieden von Brest-Litowsk. Nach dem Kampfende im Osten will Ludendorff mit einer Großoffensive im Westen eine
Entscheidung erzwingen.
18. Juli 1918
Die Gegenoffensive der Alliierten an der Westfront beginnt zwischen Soissons und Reims.
9. November 1918
Kaiser Wilhelm II. dankt ab und flüchtet in die Niederlande. Friedrich
Ebert (SPD) wird am 10. November zum Vorsitzenden des Rates der
Volksbeauftragten ernannt, die Republik wird ausgerufen.
11. November 1918
In einem Eisenbahnwaggon im französischen Compiègne unterzeichnet
Deutschland den Waffenstillstand mit den Entente-Staaten.
18. Januar 1919
Die Friedenskonferenz in Versailles beginnt ohne Beteiligung der Mittelmächte. Der Vertrag wird Deutschland als Kriegsschuldigen benennen und
die Landkarte Europas verändern.
28. Juni 1919
Das Deutsche Reich unterzeichnet unter Protest den Versailler Vertrag.
Marcel-Reich-Ranicki:
Ein sehr großer Mann
Marcel-Reich-Ranicki und die Frankfurter Allgemeine Zeitung
eBook
Umfang: ca. 335 Seiten
Mit 19 zum Teil unveröffentlichten
F.A.Z.-Fotografien
Bibliographie und Materialsammlung
Oktober 2013
ISBN ePub: 978-3-89843-231-3
ISBN PDF: 978-3-89843-232-0
Preis: 9,99 €
Ein Leben
Goethe, Heine oder Thomas Mann – das waren
Reich-Ranickis Zeitgenossen.
Von Claudius Seidl
E
s sind die Menschen, nicht die Werke, die von uns gehen – aber
wahrscheinlich gab es in jenem Deutschland, zu dem Marcel
Reich-Ranicki sich so selbstbewusst bekannte, niemanden, bei dem
sich das eine vom anderen schwerer trennen ließ. Sein Leben war sein
Werk, sein Werk war sein Leben: Das war die Provokation des Marcel
Reich-Ranicki. Und das bleibt, wenn alle Trauerreden gehalten sind,
die Herausforderung: an uns Deutsche, die wir uns jetzt ohne ihn
zurechtfinden müssen in der eigenen Kultur. An uns politische Wesen,
Meinungsproduzenten, Teilhaber an der demokratischen Öffentlichkeit, die wir glauben, dass Kritik nicht bloß ein schönes griechisches Fremdwort ist für Nörgelei und schlechte Laune. Sondern eine
produktive Kraft und die Pflicht jedes freien Menschen.
Denn einerseits hat ja Reich-Ranicki ein Werk hinterlassen, das
ganz sicher und ungefährdet im Kanon steht. Ausgerechnet er, der,
als er jünger war, die Rolle des Kritikers mit Lust und Temperament genau so spielte, wie das ein deutsches Originalgenie nicht
leiden kann, nämlich scharf, manchmal böse und immer selbstge-
wiss; ausgerechnet er, der mit seiner unmissverständlichen Kritik
so manchen kritisierten Autor zu der Frage provozierte, was denn,
außer Meinungen und Urteilen, dieser Kritiker noch vorzuweisen
habe, ausgerechnet dieser Marcel Reich-Ranicki hat 1999 auf all
diese Fragen eine unwiderlegbare Antwort gegeben. Sein Buch
hieß schlicht »Mein Leben«, und weil das eben dieses Leben war,
das Leben eines Mannes, den die Deutschen ermorden wollten; und
der sich rettete, durch seinen Mut, die Liebe zu seiner Frau und die
Liebe zur deutschen Literatur, deshalb verneigten sich die Leser:
vor diesem Leben. Auf die respektlose Frage, die Marcel ReichRanicki nicht dem ehrbarsten Autor und nicht dem ernstesten Thema
ersparte, die Frage, ob das denn gute Literatur sei, gab es nun eine
Antwort. Reich-Ranicki hatte es allen gezeigt.
Dabei hatte er, andererseits, diese Legitimation gar nicht nötig –
und vielleicht offenbart sich erst jetzt, da er uns zu fehlen beginnt,
wie modern, wie zeitgemäß, wie richtig jene Form der Kritik war,
die Reich-Ranicki immer praktiziert hat. Er schrieb nur über Bücher
und sprach dabei doch immer von der menschlichen Bedingung,
und genau das hat die Kritiker dieses Kritikers so oft zum Widerspruch gereizt. Er vereinfache zu stark, er spitze immer nur zu, was
dem Autor gelungen sei und was nicht. Es fehle ihm das Gespür, die
Texte gegen die Intentionen des Autors zu lesen, er sei nicht auf dem
Stand der Theorie. Und überhaupt, sein Lieblingssatz: »Es gibt gute
Bücher, und es gibt schlechte Bücher« werde dem Reichtum und der
Vielfalt des literarischen Diskurses nicht gerecht.
Reich-Ranicki ließ sich von solchen Einwänden nicht verunsichern. Er hatte ein existentielles Verhältnis zu Büchern, für ihn war
die Literatur eine Frage von Leben und Tod gewesen. Und wie interessant auch immer die Ergebnisse anderer Lektüren waren – ReichRanicki hatte mit den Fragen, die er an die Bücher stellte, doch
immer recht: Er fragte nach dem Leben in der Literatur; er wollte
wissen, ob da zwischen zwei Buchdeckeln die Schönheit sei, die
Wahrheit, die Kritik des schlechten Lebens und, am wichtigsten, der
Vorschein eines besseren. Darunter machte er es nicht – und in den
Kritiken von Marcel Reich-Ranicki kann man lesen, dass man nicht
nur als Autor, sondern auch als Kritiker groß sein muss, um solchen
Fragen gewachsen zu sein.
Wer solche Fragen an die Bücher hat, wird sich mit den
Antworten des Kanons und der Festreden nicht zufriedengeben.
Die deutsche Literatur hatte ihm das Leben gerettet, er revanchierte
sich, indem er die deutsche Literatur am Leben hielt. Goethe, Heine,
Thomas Mann – wer Reich-Ranicki vorwarf, dass er konservativ
sei, hatte das Wichtigste nicht verstanden: Das waren seine Zeitgenossen, seine Gesprächspartner. Gerade als Leser seiner Kolumne in
den vergangenen zehn Jahren konnte man erfahren, wie fremd ihm
aller Kulturpessimismus war und wie unverständlich die Sehnsucht
nach irgendeiner guten alten Zeit. Ohne Bedauern schrieb er von
Autoren, welche überholt, vergessen, dementiert waren vom Lauf
der Zeit. Und umso heftiger beharrte er darauf, dass Goethe nichts
sei, wenn wir Heutigen uns nicht in seinen Figuren erkennten. Und
wenn seine Sätze nicht auch dazu taugten, zum Beispiel das deutsche Fernsehen zu kritisieren.
Denn darum ging es, als Reich-Ranicki damit anfing, auch in
die Fernsehkameras hineinzusprechen. Nicht er biederte sich dem
Medium an. Das Fernsehen lag ihm zu Füßen und gab sich ihm hin.
Reich-Ranicki blieb auch dort Kritiker, in einem emphatischen Sinn:
Er musste nicht einmal über Bücher sprechen – schon wenn er nur
auftrat, war das die Kritik der falschen Verhältnisse. Und wenn er
sprach, war das schon der Vorschein des Besseren.
Und das ist die Zumutung, die uns Reich-Ranicki hinterlassen
hat: Kritik ist kein Luxus, den man sich leistet, wenn alles andere
getan ist. Kritik ist eine Lebenspraxis. Und Kritik ist nichts, wenn
sie sich nicht aus aufrichtiger Liebe speist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.9.2013
Meilensteine einer Karriere
Von Birgitta Fella
Polen
1950Anstellung beim Verlag des Verteidigungsministeriums als Lektor für deutsche Literatur (Warschauer
Verlag)
1951 bis 1952Freier Publizist und Übersetzer, Rezensionen und
Essays für verschiedene polnische Zeitungen und
Zeitschriften, literarische Übersetzungen von
Kafkas Das Schloss und Dürrenmatts Der Besuch
der alten Dame
1953 bis 1954 Publikationsverbot
1955Das Buch Aus der Geschichte der deutschen Literatur 1871–1954 erscheint
Deutschland
1958 bis 1959Freier Literaturkritiker für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und mehrere Rundfunksender
1958 bis 1967 Mitglied der Gruppe 47
1960 bis 1973 Literaturkritiker der Wochenzeitung DIE ZEIT
1964 bis 1967NDR-Rundfunkserie Das literarische Kaffeehaus
(zusammen mit Hans Mayer).
1965 bis 1972 Mitarbeiter der Encyclopaedia Britannica, Literarisches Leben in Deutschland
1966Buchveröffentlichung Wer schreibt, provoziert
1967Buchveröffentlichung Literatur der kleinen Schritte
1968 Gastprofessor für Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts an der Washington University in St. Louis
(USA)
1969Gastprofessor für Deutsche Literatur heute am
Middlebury College (USA)
1970Buchveröffentlichung Lauter Verrisse
1971 bis 1975 Gastprofessor für Neue Deutsche Literatur an den
Universitäten Stockholm und Uppsala (Schweden)
1973 bis 1988 Leiter der Redaktion für Literatur und literarisches
Leben der F.A.Z.
1973 Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln
1974
Beginn der F.A.Z.-Serie »Frankfurter Anthologie«
1974 Honorarprofessor an der Universität Tübingen
1976Heine-Plakette
1977 bis 1986 Sprecher der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises,
dessen Mitinitiator er war
1979 Buchveröffentlichung Entgegnung. Zur deutschen
Literatur der siebziger Jahre
1982 Buchveröffentlichungen Meine Schulzeit im Dritten
Reich und Betrifft Goethe
1985 Buchveröffentlichungen Lauter Lobreden und
Nichts als Literatur
1986 Buchveröffentlichung Mehr als ein Dichter. Über
Heinrich Böll und die Edition Wolfgang Koeppen:
Gesammelte Werke
1987 Thomas-Mann-Preis. Buchveröffentlichung Thomas
Mann und die Seinen
1988 bis 2002 Leiter der literaturkritischen Gesprächsserie Das
Literarische Quartett im ZDF
1989 Bambi-Kulturpreis. Buchveröffentlichung Romane
von gestern – heute gelesen
1990 Buchveröffentlichung Thomas Bernhard
1991 Heinrich Hertz-Gastprofessur an der Universität
Karlsruhe
1994Buchveröffentlichung Die Anwälte der Literatur
1996 Buchveröffentlichung Ungeheuer oben. Über
Bertolt Brecht
1997 Buchveröffentlichung Der Fall Heine.
1998 Buchveröffentlichung Über Hilde Spiel
1999 Die Autobiografie Mein Leben erscheint
2002 Fernsehserie Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen im ZDF
2003 Buchveröffentlichung Der Kanon. Erzählungen
2004 Buchveröffentlichung Der Kanon. Dramen
2005 Buchveröffentlichung Der Kanon. Gedichte
2006 Buchveröffentlichung Der Kanon. Essays
2008 Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises für sein
Lebenswerk
2009 Verfilmung von Mein Leben
2012 Am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer
des Nationalsozialismus, spricht Reich-Ranicki vor
dem Deutschen Bundestag
Benedikt XVI.:
Der deutsche Papst
und die Deutschen
Benedikt XVI.
eBook
Umfang: ca. 390 Seiten
Mit 10 Abbildungen
Mit Beiträgen von Bernard-Henri Lévy, Martin Mosebach, Juan
Manuel de Prada, Karl Kardinal Lehmann u. v. a.
Februar 2013
ISBN ePub: 978-3-89843-243-6
ISBN PDF: 978-3-89843-244-3
Preis: 9,99 €
Wir waren Papst
Günther Jauch macht zwei Talkshows über die
katholische Kirche. Tags darauf tritt Benedikt
XVI. zurück. Man könnte meinen, eine der
bedeutendsten Institutionen der Welt sei in der
Krise.
Von Frank Lübberding
S
eine Rücktrittserklärung formulierte Papst Benedikt XVI. auf
Latein. Darin kommt alles zum Ausdruck, was die katholische
Kirche als Institution prägt. Sie benutzt eine Sprache, die seit mehr
als tausend Jahren nicht mehr als Verkehrssprache benutzt wird. Ihr
historisches Gedächtnis reicht in Zeiten zurück, da ein Ereignis im
13. Jahrhundert zum Maßstab gegenwärtigen Handelns wird. Einen
vergleichbaren Rücktritt eines Papstes, wie er am Montag um 11.48
Uhr bekannt wurde, hatte es zuletzt 1294 gegeben. Beim Rücktritt von Annette Schavan reichte die Erinnerung nur bis zum Freiherrn zu Guttenberg. Wer die Kirche als Institution verstehen will,
muss sich diese soziologische Einzigartigkeit bewusstmachen. Sie
hat fast zweitausend Jahre lang überlebt, obwohl die Kritik an der
moralischen Integrität der Kirche und ihren theologischen Positi-
onen keineswegs neu ist. Der Protestantismus war der historisch
wirkungsvollste Versuch, die Kirche in ihrem institutionellen Kern
anzugreifen. Das ist aber auch schon bald 500 Jahre her.
Natürlich konnte Günther Jauch am Sonntag nicht ahnen, was
am Montag passieren würde. Er hatte sich wegen der Reaktion auf
seine vorangegangene Sendung entschieden, die Debatte über die
katholische Kirche nochmals zu thematisieren. »Die GlaubensFrage: Wie lebensnah ist die Kirche?« war der Titel. Die Fragestellung zeigt schon die Ambivalenz, welche die Kirche heute
erschüttert. Während der Papst den Kardinälen seinen Rücktritt auf
Latein erläutert, sitzen bei Jauch Gäste, die ihren Katholizismus
nur noch mit pragmatischen Argumenten begründen. Oskar Lafontaine brachte zum Ausdruck, warum er bisher nicht aus der Kirche
ausgetreten ist. Allein diese Frage beantworten zu müssen zeigt die
Lage des gegenwärtigen Katholizismus, wenigstens in Europa. »Wir
leben in einer Gesellschaft mit einem rasanten Werteverfall«, sagte
der ehemalige Parteivorsitzende der SPD und der Linken. Daher
wolle er Institutionen unterstützen, die diese Werte noch verträten.
Für Lafontaine ist das etwa die kirchliche Soziallehre. Zudem
empfinde er gegenüber der katholischen Kirche ein Loyalitätsgefühl, weil sie ihm die höhere Schulbildung als Voraussetzung seiner
späteren Karriere ermöglichte.
Diese Sichtweise teilten nicht nur die anderen bekennenden
Katholiken bei Jauch, wie die NRW-Kultusministerin Sylvia Löhrmann, die Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist,
und der Fernsehjournalist Johannes B. Kerner. Es wird die Motivation vieler Menschen sein, die bis heute beiden Kirchen die Treue
halten. Der alte Begriff der Diaspora hat mittlerweile eine neue
Bedeutung bekommen. War es früher ein Ausdruck für die Minderheitsposition der Katholiken in vom Protestantismus dominierten
Regionen, wäre er heute lebensweltlich zu verstehen.
Die katholische Kirche lebt heute nicht nur in Fragen der Sexualmoral in der Diaspora, selbst dort, wo sie noch die Mehrheit stellt.
Ihr Wertegefüge wird von den eigenen Mitgliedern nicht mehr geteilt,
selbst nicht von einer ihrer herausragenden Laien wie Frau Löhrmann. Ob bei der »Pille danach«, der Wiederverheiratung Geschiedener oder der Sichtweise auf Homosexualität: der Geltungsbereich der Kirche beschränkt sich zumeist auf den eigenen Apparat –
und ist selbst dort nicht mehr unumstritten. Bei Jauch sprach der
Hamburger Weihbischof Hans-Joachim Jaschke von der Gefahr
einer »Kirche ohne Menschen« und dass es »so nicht weitergehen«
könne. Die Kirche, so muss man das verstehen, spricht zwar nicht
auf Latein, wird aber trotzdem von vielen nicht mehr verstanden.
Benedikt XVI. verkündete seinen Rücktritt am Rosenmontag, dem
Festtag der Karnevalisten. Wahrscheinlich gibt es in den Zentren
des rheinischen Katholizismus unzählige Katholiken, die sich als
Nonne, Mönch oder Priester verkleidet haben. Hier findet man
durchaus eine Symbolik, die in Rom nicht bedacht worden ist. Die
Kirche als Institution überlebte bisher wegen ihrer starren Strukturen. Vom Papst in Rom bis zum Gemeindepfarrer verkörperte die
Kirche den Glauben als allein legitimierte Instanz zwischen den
Menschen und Gott. Es war kein Zufall, dass der Katholizismus im
16. Jahrhundert als Reaktion auf den Protestantismus den an militärischen Ordnungsprinzipien orientierten Jesuiten-Orden hervor-
brachte. Die organisationssoziologischen Grundlagen sind brüchig
geworden – vom Anspruch Roms auf weltweite Verbindlichkeit
seiner Lehre über den Zölibat bis zur Frage nach der Priesterweihe
für Frauen. Der institutionelle Kern der katholischen Kirche wirkt
heute bisweilen schon so wie eine sich als Nonne verkleidende
Karnevalistin. Ernster nehmen ihn eine Frau Löhrmann, ein Lafontaine oder ein Kerner als Mitglieder ihrer Kirche nicht. Die Katholiken, die das noch anders sehen, sind zu einer Minderheit geworden.
Sie wirken wie aus der Zeit gefallen. So hatte Jauch in seiner ersten
Sendung zum Thema den Publizisten Martin Lohmann eingeladen.
Er hält unverdrossen an dem Führungsanspruch seiner Kirche als
Institution fest – und erntete wütende Reaktionen. Das war einer der
Gründe, warum Jauch das Thema am Sonntag abermals diskutierte.
Aus Benedikt XVI. wird wieder Joseph Ratzinger. Er interpretiert damit das Amt auf höchst moderne Weise. Wo seit 1415 das
Amt mit der Person verschmolz, ist es seit heute eine Funktion in
einer weltweit wirkenden Institution, vergleichbar weltlichen Organisationen. Man kann sich kaum vorstellen, dass dem Papst diese
historische Zäsur nicht bewusst gewesen ist, unabhängig von den
persönlichen Motiven seiner Entscheidung. Die Ankündigung eines
Rücktritts auf Latein und die faktische Sprachlosigkeit in einer
Talkshow – die Krise der katholischen Kirche ist offenbar. Sie ist
wohl nur mit den Folgen des Auftretens Martin Luthers auf dem
Reichstag zu Worms im Jahr 1521 zu vergleichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.02.2013
Chronik
Werdegang und Pontifikat Benedikts XVI.
Von Doris Kappes
16. April 1927: Joseph Ratzinger wird als Sohn eines Gendarmeriemeisters in Marktl am Inn geboren. Seine Kindheit und
Jugend verbringt er überwiegend im oberbayerischen Traunstein.
1946–1951: Studium der Philosophie und Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Freising und an der Universität München.
29. Juni 1951: Priesterweihe im Freisinger Dom St. Maria und St.
Korbinian.
1953: Theologische Dissertation zum Thema „Volk und Haus Gottes
in Augustins Lehre von der Kirche“.
1957: Habilitation an der Universität München über „Die Geschichtstheologie des Hl. Bonaventura“.
1959–1977: Joseph Ratzinger lehrt als Theologieprofessor in Bonn,
Münster, Tübingen und Regensburg.
1962–1965: Zunächst als Berater des Kölner Kardinals Frings,
später als offizieller Konzilstheologe nimmt Joseph Ratzinger am
Zweiten Vatikanischen Konzil teil. Er wirkt an der Ausarbeitung
bedeutender Konzilsdokumente mit und vertritt reformorientierte
theologische Positionen.
25. März 1977: Berufung zum Erzbischof von München und Freising. Rund zwei Monate später folgt die Erhebung in den Kardinalsstand.
25. November 1981: Joseph Kardinal Ratzinger wird von Papst
Johannes Paul II. zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt.
In dieser Funktion erwirbt er sich den Ruf eines strengen Glaubenswächters. Dies zeigt sich insbesondere ab 1983 in seiner kritischen Haltung gegenüber der lateinamerikanischen Theologie der
Befreiung.
6. August 2000: Unter der Federführung Kardinal Ratzingers veröffentlicht die Glaubenskongregation das Dokument „Dominus Jesus“,
das die Einzigartigkeit Christi und der katholischen Kirche vor allen
anderen Glaubensgemeinschaften betont.
19. Januar 2004: In der Katholischen Akademie in Bayern treffen
sich der Philosoph Jürgen Habermas und Kardinal Ratzinger zu
einer mehrstündigen Diskussion zum Thema „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“.
19. April 2005: Nach dem Tod von Johannes Paul II. am 2. April
2005 wird in einem der kürzesten Konklaves der Kirchengeschichte
Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt. Er entscheidet sich
für den Namen Benedikt XVI.
18.–21. August 2005: Seine erste Auslandsreise führt den Papst
zum Weltjugendtag nach Köln. Mit einer Million Gläubigen feiert
er dort den am stärksten besuchten Gottesdienst auf deutschem
Boden.
25. Dezember 2005: Papst Benedikt XVI. veröffentlicht seine erste
Enzyklika „Deus caritas est“ (Gott ist Liebe). Er betont darin die
untrennbare Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe.
20. Mai 2006: Treffen mit dem russisch-orthodoxen Metropoliten
Kyrill. Die Annäherung an die orthodoxe Kirche wird zum zentralen
ökumenischen Bestreben von Benedikts Pontifikat.
25.–28. Mai 2006: Der zweite Auslandsbesuch führt Benedikt
XVI. nach Polen. In der Heimat seines Vorgängers Johannes Paul
II. feiert er mit rund einer Million Gläubigen in Krakau eine
Messe. Zum Abschluss der Reise besucht er das ehemalige deutsche Konzentrationslager Auschwitz und ruft dort zu Versöhnung
und Vergebung auf.
9.–14. September 2006: Benedikt XVI. besucht seine bayerische
Heimat. Insbesondere die „Regensburger Rede“, eine Vorlesung
in der Universität Regensburg am 12. September, stößt auf heftige
Ablehnung in der islamischen Welt. Ein historisches Zitat in seiner
Rede wird als Beleidigung des Propheten Mohammed aufgefasst
und löst einen mehrwöchigen Disput und gewalttätige Proteste aus.
28. November–1. Dezember 2006: Der Besuch Benedikts XVI. in
der Türkei findet unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Mit
Gesten der Versöhnung und Gesprächen bemüht sich der Papst, das
durch die „Regensburger Rede“ zerrüttete Verhältnis zur muslimischen Welt zu normalisieren.
16. April 2007: Der erste Band eines auf drei Teile angelegten theologischen Grundsatzwerkes über „Jesus von Nazareth“ erscheint am
80. Geburtstag des Papstes.
7. Juli 2007: Benedikt XVI. verfügt, dass die Messe nach dem tridentinischen Ritus, d.h. die lateinische Messe in der vorkonziliaren
Form, wieder als gleichberechtigte, wenn auch „außerordentliche“
Form des Gottesdienstes gefeiert werden darf. Die Rehabilitierung
der tridentinischen Messe wird als Zugeständnis an die traditionalistische Priesterbruderschaft St. Pius X. (Piusbruderschaft) gesehen.
10. Juli 2007: In einem vom Papst genehmigten Schreiben der Glaubenskongregation wird den protestantischen Gemeinschaften das
Recht abgesprochen, sich als „Kirche“ zu bezeichnen.
30. November 2007: Papst Benedikt veröffentlicht die zweite Enzyklika seines Pontifikats „Spe salvi“ (Über die christliche Hoffnung).
Februar/März 2008: Eine vom Papst neu formulierte Fassung der
Karfreitags-Fürbitte „Für die Juden“ aus dem vorkonziliaren Messritus von 1962 sorgt für Verstimmung und Proteste in der jüdischen
Welt.
6. März 2008: Benedikt XVI. empfängt erstmals das Oberhaupt der
orthodoxen Christen, Patriarch Bartolomaios I. von Konstantinopel.
15.–21. April 2008: Unter dem Motto „Christ our Hope“ führt die
achte Pastoralreise Benedikt XVI. in die Vereinigten Staaten. Schon
auf dem Flug von Rom nach Washington äußert sich der Papst
„tief beschämt“ über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs durch
Priester in den dortigen Diözesen. Höhepunkte seiner Visite sind
Gespräche im Weißen Haus, eine Rede vor den Vereinten Nationen
und ein Besuch am Ground Zero in New York.
24. Januar 2009: Benedikt XVI. hebt die Exkommunikation von
vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft auf. Unter
ihnen ist auch der Holocaust-Leugner Richard Williamson. Die
Entscheidung des Papstes wird weltweit und auch in Deutschland
stark kritisiert.
8.–15. Mai 2009: Benedikt XVI. besucht Jordanien, Israel und die
palästinensischen Gebiete. Seine allgemein gehaltenen Äußerungen
beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, dass Millionen Juden „getötet“ worden seien, stoßen auf Unverständnis und
Kritik. Auf die Politik der Kurie während des Holocausts geht er
nicht ein.
29. Juni 2009: Benedikts dritte Enzyklika „Caritas in veritate“
(Über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe
und in der Wahrheit) – zugleich seine erste Sozialenzyklika – befasst
sich mit ethischen Aspekten der Globalisierung und der weltweiten
Finanz- und Wirtschaftskrise.
7. November 2009: Papst Benedikt unterzeichnet das Dokument
„Anglicanorum coetibus“. Es ermöglicht Gruppen von Anglikanern
zur katholischen Kirche überzutreten unter weitgehender Beibehaltung ihrer eigenen Tradition.
März 2010: In seinem Hirtenbrief „Scham und Reue“ nimmt Benedikt XVI. Stellung zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen
durch Geistliche. Das Schreiben ist and die Gläubigen in Irland
gerichtet und wirft den dortigen Bischöfen Versagen vor.
11. Juni 2010: Bei einer Messe auf dem Petersplatz bittet der Papst
die Opfer von sexuellen Übergriffen öffentlich um Vergebung.
16.–19. September 2010: Die Seligsprechung des britischen Kardinals John Henry Newman ist für Benedikt XVI. Anlass für den
ersten Staatsbesuch eines Papstes seit dem Bruch des Königreichs
mit Rom im Jahr 1534. Nach kritischer Medienberichterstattung
im Vorfeld des Besuchs gelingt ihm mit seiner Rede in Westminster
Hall eine positive Resonanz in der öffentlichen Meinung.
20. November 2010: Der Papst bewertet die Verwendung von
Kondomen in Zusammenhang mit Aids als „ersten Schritt der
Verantwortung“. Damit setzt er einen neuen Akzent in der bisherigen Sexuallehre der katholischen Kirche.
März 2011: Der zweite Band von Benedikts Trilogie „Jesus von
Nazareth“ erscheint. Sie umfasst den Zeitraum „Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung“.
22.–25. September 2011: Papst Benedikt kommt zum Staatsbesuch nach Deutschland. Stationen seiner Reise sind Berlin,
Erfurt, das Eichsfeld und Freiburg. Die Begegnung mit Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an einer
der Wirkungsstätten Martin Luthers in Erfurt ist trotz der historischen Geste von Enttäuschung im ökumenischen Dialog geprägt.
Bei seinem Abschlussvortrag in Freiburg ruft er zur „Entweltlichung“ der Kirche auf.
Frühjahr 2012: Die Verhandlungen mit der Piusbruderschaft
sind festgefahren. Seit 2009 wurden die Traditionalisten wiederholt erfolglos zur Annahme der „lehrmäßigen Erklärung“ als
Grundlage einer Aussöhnung mit der katholischen Kirche aufgefordert.
23.–29. März 2012: Die Reise Benedikts XVI. nach Mexiko und
Kuba wird als eine der wichtigsten seines Pontifikats angesehen.
Während der Papst in Mexiko der Opfer von Armut und Drogenkrieg gedenkt, ist in Kuba die Religionsfreiheit sein Hauptanliegen.
Ein Treffen mit Fidel Castro erfährt besondere Beachtung.
2. Juli 2012: Papst Benedikt ernennt den Bischof von Regensburg, Gerhard Ludwig Müller, zum Präfekten der Glaubenskongregation, einem der höchsten Ämter in der römischen Kurie und
zugleich das Amt, das Benedikt XVI. selbst fast ein Vierteljahrhundert inne hatte.
14.–16. September 2012: Trotz muslimisch-christlicher Spannungen nach der Veröffentlichung eines Mohammed-Schmähvideos
hält Benedikt XVI. an seiner apostolischen Reise in den Libanon
fest. Er wirbt für den interreligiösen Dialog und die Religionsfreiheit.
November 2012: Der abschließende Band von Benedikts JesusTrilogie mit dem Titel „Prolog – Die Kindheitsgeschichten“ wird
veröffentlicht.
23. Dezember 2012: Der Papst begnadigt seinen ehemaligen
Kammerdiener Paolo Gabriele, der wegen der Weitergabe vertraulicher Dokumente zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. In der
sogenannten Vatileaks-Affäre waren ab 2011 geheime Unterlagen
aus dem Umfeld des Papstes an die Öffentlichkeit gelangt.
11. Februar 2013: Benedikt XVI. erklärt in Rom vor den versammelten Kardinälen, dass er aufgrund seines vorgerückten Alters als
Papst am 28. Februar 2013 um 20 Uhr zurücktreten wird.
Modemacher im Porträt
Modemacher
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mit zahlreichen exklusiven F.A.Z.-Fotos
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John Galliano: Ein Schatten
seiner selbst
Seine Ära bei Dior ist zu Ende. Sein Scheitern
offenbart den Druck, unter dem Designer heute
stehen.
Von Alfons Kaiser und Anke Schipp
E
ine Ära ist zu Ende. Nicht nur die Epoche des Modeschöpfers John Galliano, der nach Antisemitismus-Vorwürfen am
Dienstag vom Modehaus Dior entlassen wurde. Auch die Zeit der
ersten großen Öffnung der Pariser Mode. Nach den Japanern (Kenzo,
Yamamoto, Kawakubo, Watanabe) und den Belgiern (Margiela, van
Noten, Demeulemeester, Bikkembergs) erlebte Paris Mitte der neunziger Jahre eine britische Invasion. John Gallianos Rauswurf ist der
Schlusspunkt dieser Zeit. Stella McCartney, die Chloé zum Erfolg
führte, kehrte 2001 nach London zurück und beschränkte sich auf
ihre eigene Marke. Alexander McQueen, der als Nachfolger Gallianos von 1997 bis 2001 Givenchy einer Radikalkur unterzog, nahm
sich am 11. Februar 2010 das Leben – nachdem auch Isabella
Blow, die große Förderin der britischen Mode, drei Jahre zuvor
Suizid begangen hatte. Und nun muss sich John Galliano auf »John
Galliano« beschränken. Ohne das Geld und den Ruhm von Dior
wird es aber schwierig sein, die eigene Marke zu erhalten: Die für
Sonntag geplante Prêt-à-porter-Schau hat er am Mittwoch schon
abgesagt.
Man könnte die Galliano-Jahre als Fußnote der Modegeschichte
verbuchen. Aber sie sind – in aller Demut – ein Kapitel. Die Japaner
und die Belgier konnten nie die zentralen Häuser entern. Die Briten
hingegen griffen nach den großen Namen Chloé, Dior, Givenchy,
der Amerikaner Marc Jacobs nach Louis Vuitton, Michael Kors
vorübergehend nach Céline. Die Franzosen, die sich so sehr über die
Plünderung ihres kulturellen Erbes ärgerten, spürten die grundsätzlichen Änderungen: Plötzlich waren andere Modemacher, andere
Modestile, andere Modeschulen (Central Saint Martins statt der
École de la Chambre Syndicale) entscheidend. Schon hinter dieser
tektonischen Verschiebung stand Anna Wintour, die britische Chefin
der amerikanischen »Vogue«. Sie förderte die begabten angloamerikanischen Designer und gewann um so größeren Einfluss, je
stärker in der Luxusindustrie fachfremde Manager wie LVMH- und
Dior-Chef Bernard Arnault die Macht übernahmen, die für jeden
sachdienlichen Hinweis dankbar waren.
Für John Galliano wurde ein Kindheitstraum wahr. 1960 in
Gibraltar geboren, woher sein Vater stammte, wuchs er in einfachen
Verhältnissen als Juan Carlos Antonio Galliano auf. Die Familie zog
nach London, als er sechs Jahre alt war. Seine Mutter, eine Andalusierin, stattete ihren Sohn mit Kleidern aus, »die eines kleinen
Prinzen würdig gewesen wären«, wie sein Biograph Colin McDo-
well schrieb. Auf dem Küchentisch brachte sie ihm Flamenco bei.
Früh trug Galliano, der zunächst schlecht Englisch sprach, schüchtern war und in der Schule ein Außenseiter, exzentrische Kleidung als Schutzschild. Er blühte auf, als er in der Garderobe eines
Theaters jobbte und im Fundus stöbern durfte. Seine theatralische
Sendung erfüllte sich später auf dem Laufsteg, als er nicht nur die
Dior-Damen in verschwenderische Kleider steckte, sondern selbst
am Ende in Phantasieuniformen erschien, die viel über ihn preisgaben, weil er sich selbst in einer Rolle zu verbergen suchte. Clown,
Napoleon, Pirat, Christian Dior, Humphrey Bogart: Immer war er
perfekt gestylt von Klaus Stockhausen, dem Mode-Chef der deutschen »GQ«, der für den Astronautenanzug der Couture-Schau im
Juli 2006 weder in Theatern noch in Filmstudios fündig wurde, weil
ihm die Anzüge nach Faschingsbedarf aussahen, der schließlich in
Russland einen Kosmonautenanzug fand, schwer und unbequem
und umständlich und ebenfalls aus anderen Sphären.
Galliano war schon früh in seiner eigenen Umlaufbahn. Anfang
der Achtziger begann er sein Studium an Central Saint Martins
und finanzierte es mit Schreiner-, Verkäufer-, Botenjobs. Seine
Abschlusskollektion von 1984 machte ihn auf einen Schlag bekannt.
Joan Burstein, Mitinhaberin der Boutique Brown's, kaufte die
gesamte Kollektion: »Galliano war anders, aufregend, ein Freigeist.« Tatsächlich scherte er sich wenig um Regeln. Mit McQueen
festigte er den von Vivienne Westwood etablierten Ruf des britischen Designs, das sich aus der Kostümgeschichte ebenso bediente
wie bei der Straßenmode, aus dem Theaterfundus wie aus den
Labors der Technostoffe – und sich damals als Antidot zum grassie-
renden Minimalismus alla milanese verstand. Anna Wintour, deren
»Vogue« vergleichsweise bieder ist, nannte es »eine Art kreativen
Wahnsinn«.
Ein Fall von Selbstversenkung: John Galliano F.A.Z.-Foto / Fricke
Bernard Arnault, der mit Mode und Luxus zum reichsten Franzosen wurde, hatte mit Galliano das große Los gezogen. LVMH
beherrscht das gemischte Doppel. Der Designer ist die kreative
Kraft, der Manager lenkt sie in richtige Bahnen. Marc Jacobs und
Yves Carcelle bei Louis Vuitton machen es glänzend vor, lange
auch John Galliano und Sidney Toledano. Die Manager, charmante
Gesprächspartner, kunstinteressiert und global orientiert, entwickelten das Geschäft systematisch. Doch im Dior-Doppel traten
Risse auf. Gallianos Effekte verpufften, die Spannkraft ließ nach, bei
aller handwerklichen Perfektion und allen geschäftlichen Erfolgen
schlich sich Routine ein. Miuccia Prada, Raf Simons, Alber Elbaz,
Nicolas Ghesquière – sie alle zogen an ihm vorbei.
Für Galliano wuchs der Druck auch mit der wachsenden Marke.
In globalisierten Märkten muss man die Produktpalette erweitern, haben Area-Manager immer mehr Spezialwünsche, kann man
unmöglich alle Kundenwünsche erfüllen. Zwei Hauptkollektionen
fürs Prêt-à-porter musste Galliano pro Jahr entwerfen, zwei CoutureKollektionen, Pre-Collections und Accessoires, zu schweigen von
seiner eigenen Marke mit weiteren zwei Damen- und zwei Herrenkollektionen pro Jahr. Die globale Maschinerie mit gigantischem
Aufwand in Marketing, Vertrieb und Verkauf, Tausenden Mitarbeitern, Hunderten Stores, die Erwartung der Chefs und der Märkte
an »double digit growth«, dazu die Ansprüche an sich selbst, die
konzerninterne Konkurrenz mit Überfliegern wie Marc Jacobs und
Jungtalenten wie dem 36 Jahre alten Riccardo Tisci, seit fünf Jahren
bei Givenchy, der nun sein Nachfolger werden könnte: Solche
Einflüsse führen zu einem Druck, den nur ein Karl Lagerfeld ohne
Rauschgift oder Alkohol auszuhalten in der Lage zu sein scheint.
Das erklärt auch, warum heute die meisten Designer großer Häuser
wie Alber Elbaz (Lanvin), Stefano Pilati (Yves Saint Laurent) oder
Frida Giannini (Gucci) keine eigene Marke haben.
John Galliano hatte zwar Narrenfreiheit, seine überbordende
Phantasie und die theatralische Opulenz ließen sich gut kommerziell
nutzen. Und in der Haute Couture konnte er sich ausleben – zuletzt
im Januar mit der neben Chanel besten Kollektion. Doch wirkten
seine historisierenden Entwürfe zuweilen wie aus dem spiralgebundenen Buch »Les Signes de Reconnaissance de la Maison Christian
Dior«, in dem all die richtigen Farben, Gewebe und Schnitte des
Hauses festgehalten sind.
Der Konzern schmückte sich damit, seine Designer aufzubauen,
und, anders als kurzfristig denkende Investoren ihre Kreativität zu
respektieren. Aber ein Designer kann sich bei einer so großen Marke
höchstens einen Flop erlauben, mehrmals darf er nicht versagen. In
einem Luxuskonzern ist er nur ein Angestellter. Am Ende behalten
die Manager recht.
Zu Gallianos Ende gibt es eine gespenstische Parallele. 1960
hatte Yves Saint Laurent, der nach Diors Tod als blutjunger Designer
die Verantwortung übernommen hatte, in seiner sechsten Saison die
Kundinnen und den Dior-Chef Marcel Boussac mit einer »Beat«Kollektion schockiert. Was für ein Zufall, dass der genialische Designer daraufhin zum Militärdienst einberufen wurde und Boussac
ihn nicht davor bewahrte. Nach drei Wochen Kaserne kam Saint
Laurent in die Psychiatrie. Dort erfuhr er von seinem Partner Pierre
Bergé, dass Dior ihn entlassen hatte. So laut wie heute hörte man
das Aufatmen an der Avenue Montaigne: Er ist weg! Saint Laurent
kam unter eigenem Namen wieder. Bei John Galliano, der in dem
Jahr geboren wurde, in dem YSL bei Dior scheiterte, kann man sich
da nicht sicher sein.
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 3.3.2011
Die Welt des schönen Scheins –
museal
Modemuseen in Europa
Deutschland
Modemuseum auf Schloss Meyenburg in Brandenburg
16945 Meyenburg
Schloss 1
Telefon 033968-50 89 61
Telefax 033968-50 774
http://www.modemuseum-schloss-meyenburg.de/
Modemuseum Schloss Ludwigsburg
Schloss Ludwigsburg
Schlossstraße 30
71634 Ludwigsburg
http://www.schloss-ludwigsburg.de/Modemuseum/232651.html
Mode-Museum Feigel
Von-Speth-Schülzburg-Str. 38
89584 Ehingen-Granheim
http://www.modemuseum-feigel.de/mmf/
Frankreich
Pariser Modemuseum Galliera
10, avenue Pierre 1er de Serbie
Paris
(zur Zeit geschlossen, Wiedereröffnung im Herbst 2013)
Musée de la Mode et du Textile im Musée Les Arts Décoratifs
http://www.lesartsdecoratifs.fr/francais/mode-et-textile/
Les Arts Décoratifs – Mode et textile
107, rue de Rivoli
75001 Paris
Musée Christian Dior
http://www.musee-dior-granville.com
La villa “Les Rhumbs”
50400 Granville
Großbritannien
Fashion and Textile Museum London
The Fashion and Textile Museum
83 Bermondsey Street
London
SE1 3XF
http://www.ftmlondon.org/
The Victoria and Albert Museum London
Cromwell Road
London SW7 2RL
http://www.vam.ac.uk/page/f/fashion/
Fashion Museum Bath
Assembly Rooms
Bennett Street
Bath, BA1 2QH
Tel: +44 (0) 1225 477789
http://www.museumofcostume.co.uk/
Gallery of Costume Manchester
Platt Hall
Rusholme
Manchester, M14 5LL
Tel: 0161 245 7245
http://www.manchestergalleries.org/our-other-venues/platt-hallgallery-of-costume/
National Museum of Costume (Schottland)
http://www.nms.ac.uk/our_museums/museum_of_costume.aspx
Shambellie House
New Abbey, Dumfriesshire
Italien
Galeria del Costume
http://www.uffizi.firenze.it/musei/?m=costume
Joachim Gauck
Joachim Gauck
eBook
Umfang: ca. 215 Seiten
mit Abbildungen
April 2012
ISBN ePub: 978-3-89843-166-8
ISBN PDF: 978-3-89843-161-3
Preis: 12,99 €
Der Präsident als Seelsorger
der Nation
Gauck begleiten gewaltige Erwartungen.
Deutschland sehnt sich nach einem Havel.
Von Berthold Kohler
E
s schien alles endgültig entschieden zu sein, vor zwei Jahren,
als Joachim Gauck sich für die Kluge-Köpfe-Serie der F.A.Z.
fotografieren ließ als Bürger Gauck, mit dem Rücken zum Schloss
Bellevue. Er hatte damals die Wahl zum Bundespräsidenten erwartungsgemäß, wenn auch zu allgemeinem und wohl persönlichem
Bedauern verloren, die Freiheit des Pensionärs aber behalten. Fortan
konnte er tun, was er am liebsten und am besten tat: als Wanderprediger der Demokratie und der Freiheit durchs Land ziehen, mit
einem Ruf wie Donnerhall, jedenfalls im Westen. Er genoss das
Ansehen eines »elder statesman« der Helmut-Schmidt-Klasse,
ohne – die Leitung einer Behörde erhebt noch nicht in diesen Stand –
jemals ein Staatsmann gewesen zu sein.
Seit gestern verlangt das Schicksal diesen Vorschuss von ihm
zurück. Den elften Bundespräsidenten begleiten Erwartungen, wie
sie größer kaum sein könnten. Selbst einem Selbstbewusstsein
wie dem seinen müssen sie Respekt abnötigen. Gauck zieht nicht
nur mit einer überwältigenden Mehrheit, sondern auch mit einem
umfassenden Sanierungsauftrag ins Schloss: Er soll ein Amt, dessen
Würde und Ansehen gelitten haben, wieder zu alter Höhe aufrichten.
Volk und politische Klasse erwarten von ihm, dass er nach einer
hingeworfenen und nach einer gescheiterten Präsidentschaft dem
Verfassungsorgan, das er verkörpert, so viel Glanz verleiht, dass der
alte Satz, (West-)Deutschland habe Glück mit seinen Staatsoberhäuptern gehabt, in Summe wieder stimmt.
Denn die Deutschen hängen an ihrem Paradoxon im Verfassungsgefüge, das Einfluss auf sie ausüben soll, ohne im herkömmlichen politischen Sinne Macht über sie zu haben. Man erwartet
vom Bundespräsidenten, dass er im Fürsorgestaat – für alles hat
die moderne Gesellschaft einen Dienstleister – die Versorgung mit
Geist und Moral sicherstellt. Mehr als den anderen Staatsorganen
wird ihm die Aufgabe politischer Sinnstiftung zugeschrieben. Er
soll Hefe in die gesellschaftlichen Debatten rühren und zugleich den
Kitt liefern, der die Gesellschaft zusammenhält. Ihm gibt man auf,
den Stoff zu weben, aus dem die Träume von einem gerechten und
friedlichen Gemeinwesen sind, in Deutschland und der ganzen Welt.
Diese Jobbeschreibung hat selbst Gauck einmal eine »mission
impossible« genannt. Doch wer sollte sich nach der unglücklichen
Vorgeschichte noch an sie heranwagen, wenn nicht der freischaffende »Demokratielehrer«, der seit zwei Jahren auf Tournee war
mit dem Stück »Wie man es besser machen könnte«? Der Pastor,
der zum Bürgerrechtler wurde, ist den in ihn gesetzten Hoffnungen
zufolge der deutsche Havel, nach dem sich besonders die linken
Intellektuellen im Westen so sehnten – so sehr, dass sie bereitwillig
übersahen, wie fern er ihnen auf manchen Feldern steht. Und dass
der Ostdeutsche im Osten nicht ganz so durchgängig verehrt wird
wie im Westen.
Endlich den Solitär gefunden zu haben, der dem Land der
Dichter und Denker gut zu Gesicht steht, hinderte die Finder freilich nicht daran, ihn noch vor der Wahl in die Schablonen pressen zu
wollen, die man angeblich loswerden wollte. Denkt er auch genug
ans Soziale? Hat er nicht nur ein einziges Thema, die Freiheit?
Ein solcher Vorwurf kann wohl nur in Deutschland erhoben
werden. Er zeigt, wie wenig Wertschätzung die liberale Idee, die
es in deutschen Landen immer schon schwer hatte, in dieser Republik noch erfährt. Und wie sehr ein Bundespräsident nottut, dessen
Lebensthema die Freiheit des Bürgers ist: Freiheit im klassischen
Verständnis als Freiheit vom Staat, aber auch Freiheit zum Engagement, zur Verantwortung, zur »Bezogenheit«, wie Gauck sagt. Als
die Wulffs ins Bellevue kamen, war von den deutschen Kennedys
die Rede. Ihnen folgt jetzt ein Hausherr mit weit geringerem
Glamour-Faktor, der aber den vielzitierten (und wenig beherzigten)
Satz des amerikanischen Präsidenten nicht nur in eigenen Worten,
sondern auch mit eigener Glaubwürdigkeit vortragen kann und wird:
Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern, was du für
dein Land tun kannst.
Es ist damit zu rechnen, dass Gauck bei der Auslegung des
Kennedyschen Imperativs für das höchste Staatsamt für manche
Überraschung sorgen wird. Das mag zu den Gründen der Kanzlerin
gehört haben, ihn abzulehnen, bevor er ihr aufgezwungen wurde.
Gauck ist ihr nicht verpflichtet, was aber auch für sie von Vorteil sein
kann. In jedem Fall belegen die beiden ostdeutschen Protestanten an
der Spitze des deutschen Staates, dass die Wiedervereinigung nicht
nur nach dem Prinzip der Einbahnstraße verlief. Sie führen auch vor,
wie bis zur Unsinnigkeit oberflächlich die Einteilung in »Ossis« und
»Wessis« war und ist. Frau Merkel, die Integrierte, und Gauck, der
Integrierer, könnten nicht viel unterschiedlicher sein, was Temperament, Rollenverständnis und Zugang zur Politik angeht.
Das gilt auch für die Bedeutung, die sie dem Wort im politischen
Prozess geben können. Das Pathos, mit dem Gauck seine Reden
grundiert, mag manchem in Berlin bald als überreichlich erscheinen.
Doch klagt das Volk seit Frau Merkels Amtsantritt über eine Unterversorgung mit rhetorischer Wärme und historischer Verortung. Der
Deutsche lebt gerade in Zeiten der Verunsicherung nicht vom Pragmatismus allein. Der neue Seelsorger der Nation wird auch diese
Lücke füllen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2012.
Weiterführende Literatur:
1. Von Joachim Gauck:
Freiheit: ein Plädoyer. München, 2012 (5. Auflage)
Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München, 2011
In: Christoph Giesa: Bürger. Macht. Politik. Frankfurt am Main 2011
In: Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit. Vereintes
Europa – geteiltes Gedächtnis. Göttingen, 2011.
In: Ulrich Kühne (Hg.): Mutige Menschen. Frauen und Männer mit Zivilcourage. München, 2011
In: Eckart Conze u.a. (Hg.): Die demokratische Revolution 1989 in der
DDR. Wien, 2009.
In: Der Blaue Reiter, Journal für Philosophie. Sonderband Philosophie
im Gespräch. 2007
In: Stephane Courtois u.a. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus.
Sonderausgabe Bd. 1. München, 2004
Plädoyers für Gerechtigkeit. Rostock, 1994
Die Stasi-Akten: das unheimliche Erbe derDDR. Reinbek bei Hamburg, 1991
2. Über Joachim Gauck
Norbert Robers: Joachim Gauck. Vom Pastor zum Präsidenten. Leipzig,
2012
Dieter Bub: Begegnungen mit Joachim Gauck. Halle, 2012.
Albrecht Müller: Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen
muss, damit wir glücklich mit ihm werden. Frankfurt am Main, 2012
Wer hört auf die Stimme
des Volkes?
Volkes Stimme
eBook
Umfang: ca. 130 Seiten
Mit Karikaturen von Greser & Lenz
Juni 2012
ISBN ePub: 978-3-89843-164-4
ISBN PDF: 978-3-89843-159-0
Preis: 7,99 €
Wie soll es sein?
Repräsentative Demokratie und plebiszitäre
Instrumente schließen einander nicht aus.
Weder in der Theorie noch in der Praxis.
Allerdings macht längst nicht jede Form der
Bürgerbeteiligung aus einer guten und stabilen
repräsentativen Demokratie eine noch bessere
und stabilere Regierungsform.
Von Professor Dr. Werner J. Patzelt
D
ie Befürworter einer direkten Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen halten die repräsentative Demokratie
nicht selten für unzulänglich oder gar falsch. Vermutlich ist sie aber
die bestmögliche Weise, um in einem bevölkerungsstarken Land für
gutes Regieren zu sorgen. Die parlamentarische Demokratie, in der
gewählte Volksvertreter entscheiden, ließe sich aber durch weitere
Formen der Bürgerbeteiligung vervollkommnen.
In der Schweiz werden die dafür geeigneten plebiszitären Instrumente unter dem Begriff der »direkten Demokratie« zusammengefasst. Auch in Deutschland ist dieser Begriff populär. Allerdings
ist er hierzulande ein irreführendes Etikett auf einer undurchsichtigen Flasche und deshalb wenig wünschenswert. Erstens wäre
sein Gegenbegriff die »indirekte« Demokratie. Nach allgemeinem
Sprachgefühl ist aber »Indirektes« weniger gut als »Direktes«. Also
wertet allein schon die Rede von der »direkten Demokratie« die
repräsentative Demokratie ab.
Darüber hinaus bezeichnet man in Deutschland mit dem Begriff
»direkte Demokratie« nicht nur die Verwendung plebiszitärer Instrumente, sondern auch die Direktwahl von Bürgermeistern und
Landräten, von Ministerpräsidenten, des Bundespräsidenten oder
bisweilen auch des Bundeskanzlers. Die Direktwahl dieser Amtsträger – oder das Recht, sie abzuwählen – hat aber nichts mit der
Verbesserung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre
Instrumente zu tun. Es geht allein um die Frage, ob auch auf Landesund Bundesebene ein präsidentielles Regierungssystem eingeführt
werden soll. Deshalb ist es nicht sinnvoll, die Entscheidung über
den Typ des Regierungssystems mit der Entscheidung über plebiszitäre Verbesserungsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie
zu verbinden.
Wie aber ließe sich die repräsentative Demokratie durch zusätzliche plebiszitäre Instrumente verbessern? Wenn große Teile der
Bevölkerung den Kurs von Parteien verändern wollen und dabei
auf Widerstand der Parteiführer oder Funktionäre stoßen, können sie
nur etwas erreichen, indem sie diese Parteien bei der Wahl bestrafen.
Der Bürger geht nicht zur Wahl, lässt also seine eigentlich bevorzugte Partei im Stich. Oder er wird zum Wechselwähler und geht
das Risiko ein, mit dem Politikangebot unberechenbar werdender
Parteien sowie mit Zufallskoalitionen leben zu müssen. Er kann sich
auch für eine Protestpartei entscheiden, wie damals für die Republikaner, als die politische Klasse den Wunsch nach Veränderung des
Asylrechts ignorierte, oder wie später für die westdeutsche Linke zur
Strafe für die SPD. Mitunter wird man dann die Geister aber nicht
mehr los, die man einst herbeiwählte. Dieses Vorgehen gleicht der
Krebsbehandlung durch Chemotherapie: Der ganze Körper wird
mit Gift überschwemmt, weil man nirgendwo gezielt ansetzen kann.
Genau das aber können plebiszitäre Instrumente leisten.
Zwischen den Wahlen können öffentlichkeitswirksame Minderheiten leicht glauben machen, hinter ihnen stehe eine Mehrheit.
Das bringt Mehrheitsentscheidungen nicht selten um die allgemeine Akzeptanz und erlaubt es, demokratische Legitimität gegen
rechtsstaatliche Legalität auszuspielen. Wäre da nicht die Möglichkeit wünschenswert, der behaupteten oder gefühlten Mehrheit der
Protestierenden auf den Zahn zu fühlen?
Für plebiszitäte Elemente spricht ein Weiteres: Konflikte
zwischen konkurrierenden Interessenträgern – etwa für oder
gegen Stuttgart 21 – werden bislang als Konflikte wahrgenommen,
in denen »der Staat«, dessen Amts- und Mandatsträger etwas
entschieden haben, und aufbegehrenden »Bürger« gegenüberstehen. Bei einer solchen Frontstellung kann sich jener Teil der
Bürgerschaft wegducken, der die Entscheidung der Amts- und
Mandatsträger befürwortet. Man fordert dann Mut von den Politikern – und bestraft sie bei der nächsten Wahl sowohl für Übermut
beim Durchhalten als auch für Wankelmut beim Nachgeben, beteiligt sich aber nicht selbst am Ringen um den Bestand einer lautstark abgelehnten Entscheidung. Solches Zuschauerverhalten ist
unfair gegenüber politischen Amtsinhabern und schädlich für die
Demokratie.
Wie aber hält man die Befürworter einer politisch angegriffenen Entscheidung zu deren öffentlicher Unterstützung an? Am
besten durch die Verfügbarkeit eines plebiszitären Instruments, das
aus einem Konflikt zwischen »dem Staat« und »den protestierenden
Bürgern« einen ganz normalen Konflikt zwischen Gruppen macht,
die eben unterschiedliche Absichten verfolgen.
Welche plebiszitären Instrumente wären nun aber geeignet, die
Schwierigkeiten der repräsentativen Demokratie zu lindern? Am
allerwenigsten taugt dafür das bekannteste plebiszitäre Instrument:
das von Verfassungsorganen – also »von oben nach unten« – initiierte fakultative Referendum. Gehandhabt wird es meist so, dass
eine Parlamentsmehrheit, eine Regierung, ein Regierungs- oder
Staatschef nach eigenem Ermessen über eine politische Frage eine
Volksabstimmung ansetzt. Eigentlich kann es demokratischer gar
nicht zugehen: Das Volk wird schließlich gefragt, was die politische Klasse tun soll. Doch die Risiken und Nebenwirkungen sind
beträchtlich.
Zunächst hat dieses Instrument zwar viel mit Demokratie,
aber nichts mit Repräsentation zu tun. Vielmehr verschenkt es
deren Mehrwert. In einem Repräsentativsystem ist es nämlich die
Pflicht der Abgeordneten beziehungsweise der von den Abgeordneten getragenen Regierung, und in einem präsidentiellen Regierungssystem auch die des Staatsoberhaupts, Lösungsmöglichkeiten für Probleme auszuarbeiten sowie – in den Grenzen des
freien Mandats – eigenständige Entscheidungen zu treffen. Entsprechend hat das Volk Anspruch darauf, sich nicht selbst zu komplexen
Themen eine Position erarbeiten zu müssen. Also ist es pflichtwidrig,
wenn Repräsentanten sich aus Scheu vor politischen Schwierigkeiten vor einer eigenen Entscheidung drücken.
Genau dazu aber neigt die politische Klasse. Sogar im Deutschen Bundestag, der gewöhnlich allen plebiszitären Instrumenten
abhold ist, erwog man 1991 eine Volksabstimmung über die Frage,
ob das Parlament wohl in Bonn bleiben oder seinen Sitz in Berlin
nehmen solle. Man stelle sich vor, auch Entscheidungen über eine
Reform des Gesundheits- oder Sozialversicherungssystems ließen
sich auf diese Weise auf das Volk abschieben. Rasch erhielte man
eine »Politik des geringsten Widerstandes«, die sich gar noch als
»besonders demokratisch« ausgäbe. Obendrein wäre mit vielen
sachlichen Fehlentscheidungen zu rechnen, da Inhalt, Tragweite und
Zeitpunkt der jeweiligen Volksabstimmung vor allem von taktischen
Erwägungen der Spitzenpolitiker bestimmt würden.
Die Folgen einer alsbald eher schlechten Regierungsführung
müsste sich – wie bei Wahlen – das Volk selbst zurechnen. Die politische Klasse hingegen könnte ihre Hände in Unschuld waschen:
Sie habe ja nur den Bürgerwillen vollzogen und könne nichts dafür,
wenn der bedauerlicherweise auf Nachteiliges ausgegangen sei.
Auf diese Weise wäre ein elementarer Vorteil der repräsentativen
Demokratie verspielt, nämlich der Leistungsdruck auf die politische
Klasse durch ein Karriererisiko für Spitzenpolitiker.
Außerdem wäre, wie die Geschichte lehrt, im Fall von staatlich
initiierten Referenden über Sachfragen das Tor offen für eine manipulative Formulierung der Fragen. Legitimitätsgefährdende Sekundärkonflikte wären die Folge. Darüber hinaus könnte die politische
Klasse durch populistische Volksabstimmungen leicht den komplizierten Interessenausgleich umgehen, der den im Parlament üblichen
Ja/Nein-Abstimmungen zugrunde liegt. Vor allem gibt es aber kaum
einen Schutz davor, dass mit »von oben nach unten wirkenden«
plebiszitären Instrumenten taktisch verfahren wird. Was auf den
ersten Blick wie Demut der Regierenden vor dem Volk anmutet,
erweist sich auf den zweiten Blick als zusätzliches Instrument
persönlicher Machtsicherung von Spitzenpolitikern. »Plebiszitärer
Cäsarismus« oder »Bonapartismus« sind dafür die Fachbegriffe. In
einer Demokratie haben gerade diese Elemente nichts zu suchen.
Überflüssig und politisch riskant sind »konsultative Referenden«. Um Vorlieben der Bevölkerung herauszufinden, sind sie
unnötig; demoskopische Umfragen leisten das genauer und billiger.
Regierende können hingegen mit einer willkürlich entfachten Referendumskampagne von anderen politischen Themen oder von ihnen
lästigen Problemen ablenken.
Alles in allem ist nicht zu erkennen, welchen Vorteil »von oben
nach unten« nutzbare plebiszitäre Instrumente für das Volk haben
sollten. Tatsächlich sind sie auch gar nicht nötig, gibt es doch nicht
weniger als sechs sinnvolle plebiszitäre Instrumente, die allesamt
»von unten nach oben« wirken, wie es jeder Demokratie gut ansteht.
Denn sie zwängen die Repräsentanten einesteils zur Reaktion auf
die Wünsche der Repräsentierten, also dazu, sich auf deren Sichtweisen, Wünsche und Interessen selbst dann einzulassen, wenn
man das lieber vermiede. Andernteils veränderten sie das politische
Klima und Leben sehr, da die politische Klasse während einer Wahlperiode nicht nur das Bundesverfassungsgericht fürchten müsste,
sondern gerade den handlungsfähigen Stimmbürger.
Das erste sinnvolle plebiszitäre Instrument wäre – noch vor aller
Volksgesetzgebung – der Volksantrag. Mit ihm würde vom Parlament oder auch nur von der Regierungsmehrheit gefordert, binnen
einer vorgegebenen Frist einen Gesetzentwurf oder die Eckpunkte
eines Handlungsprogramms vorzulegen. So könnte das Volk seine
Repräsentanten zwingen, sich mit Problemen zu befassen, die sie
bislang nicht aufgreifen wollen. Zugleich müssten sich die Initiatoren eines Volksantrags nicht selbst die Mühe machen, einen
eigenen Lösungsvorschlag auszuarbeiten. Vielmehr könnten sie das,
gemäß den Leitgedanken der repräsentativen Demokratie, weiterhin
für die Pflicht von Abgeordneten und Regierungen halten.
Das zweite Instrument wäre die – üblicherweise dreistufige, von
der Volksinitiative über das Volksbegehren bis zum Volksentscheid
reichende – Volksgesetzgebung. Faktisch handelte es sich um die
Steigerung des Volksantrags zu einer Vorgabe der politischen Richtung. Häufiger verwendet, dürfte dieses Instrument im Voraus erhebliche Wirkungen entfalten und die Politiker antwortbereiter machen,
als sie es ohne das Volk als »alternativen Gesetzgeber« wären.
Das dritte Instrument wäre das fakultative Gesetzesreferendum,
das vor allem aus der Schweiz bekannt ist. Man könnte dazu greifen,
um ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu korrigieren oder
abzuschaffen. Die Wirkung dieses Instruments ginge dahin, dass
Gesetze fortan nicht nur »verfassungsgerichtssicher«, sondern auch
»referendumssicher« sein müssten. Ebendas brächte das Demokratieprinzip zur Geltung und könnte die Rolle des Verfassungsgerichts als letzte, meist von der Opposition angerufene politische
Instanz verringern.
Viertens könnte man das Volk sehr wohl auch über Einzelfragen
entscheiden lassen. In diesem Fall müsste allerdings sichergestellt
sein, dass die politische Klasse keinesfalls eine Handhabe bekommt,
um eigene Verantwortung auf das Volk abzuwälzen. Wie beim fakultativen Gesetzesreferendum müssten auch hier das erste Wort die
Repräsentanten haben, das letzte Wort aber die Repräsentierten.
Wie ließe sich ein solches Verfahren denken? Im Kern handelte
es sich um eine »Vorlageninitiative« mit folgendem Ablauf:
Zunächst hätte das Parlament oder die Regierung – gegebenenfalls
durch Volksantrag dazu aufgefordert – einen Vorschlag zur Lösung
eines Problems zu unterbreiten, etwa über die Eckpunkte einer
Schulreform oder über den Beitritt eines Landes zur EU; sodann
könnte das Volk begehren, dass ihm die Entscheidung über jene
Eckpunkte zur Billigung unterbreitet würden; würde das Antragsquorum erreicht, fände eine Volksabstimmung statt, deren Ergebnis
verbindlich wäre.
Fünftens könnte man festlegen, dass über vorab festgelegte
Entscheidungen ein obligatorisches Referendum abgehalten werden
muss. Einesteils mögen obligatorische Verfassungsreferenden sinnvoll sein. Unterläge nämlich eine Verfassungsänderung einem Referendum, würde dieser Vorbehalt politischen Insidergeschäften und
fragwürdigen Kompromissen enge Grenzen setzen. Andernteils
könnte man in der Verfassung einen Katalog von Themen verankern, die dem Volk so wichtig sind, dass es vor entsprechenden
Entscheidungen gefragt werden müsste. Der Parlamentspräsident –
nicht aber der Regierungs- oder Staatschef – hätte dann ohne Ermessensspielraum und einmalig ein Referendum anzusetzen. Mit dieser
Regelung wäre auch die Möglichkeit ausgeschlossen, dass man das
Volk so lange abstimmen lässt, bis sich das politisch gewünschte
Ergebnis einstellt.
Das sechste plebiszitäre Instrument, das zu erwägen ist, wäre die
Auflösung des Parlaments. Gäbe es diese Möglichkeit, dann könnte
auch eine Parlamentsmehrheit zum Tätigwerden gezwungen werden,
die vom eindeutig artikulierten Mehrheitswillen der Repräsentierten
abweicht. Mit diesem Instrument – das idealerweise dank seiner
erheblichen Vorauswirkung gar nicht erst in die Hand genommen
werden müsste – könnte das Volk auf die unbefriedigende Behandlung eines Volksantrags reagieren oder für eine Parlamentsmehrheit, die im Volk keinen Rückhalt mehr hat, vorgezogene Wahlen
ansetzen. Natürlich dürfte gerade dieses Instrument nicht vorschnell
oder spielerhaft einsetzbar sein, weil doch die ganze Konfliktfähigkeit der Repräsentanten – und somit der Mehrwert von Repräsentation – von der Sicherheit des Mandats abhängt. Dieser Zielkonflikt
ließe sich aber durch eine entsprechende Ausgestaltung des Antragsquorums vermeiden.
Grundsätzlich nutzen plebiszitäre Instrumente nichts, wenn
sie sich praktisch nicht anwenden lassen und deshalb keine politische Vorauswirkung entfalten. Sie nutzen einer repräsentativen
Demokratie auch dann nichts, wenn sie parlamentarische Mehrheiten daran hindern, unter normalen Bedingungen ihre Aufgaben
in der Gesetzgebung und der Kontrolle der Regierung zu erfüllen.
Daher sind mehrere Vorkehrungen erforderlich, um plebiszitäre
Elemente mit einer repräsentativen Demokratie systemverträglich
zu verbinden.
Vor allem müssten sinnvolle Antrags-, Beteiligungs- und
Zustimmungsquoren festgelegt werden. Das Antragsquorum wäre
der Test darauf, welcher Teil des Volkes wirklich hinter einem Volksantrag oder dem Wunsch nach einem fakultativen Gesetzesreferendum steht. Also sollten Antragsquoren einerseits sicherstellen,
dass auch eine Minderheit der Bürgerschaft in einer Weise ihre
Stimme erheben kann, dass sie für den politischen Prozess folgenreich ist; andererseits sollen Quoren verhindern, dass es zu einer
Vielzahl unüberschaubarer, die Wählerschaft nicht mobilisierender
oder rein partikularer Einzelaktionen kommt. Folglich müsste eine
nur mit Anstrengungen zu nehmende Hürde aufgebaut werden. Es
wäre nicht falsch, sie bei jenen fünf Prozent der Stimmberechtigten
anzusetzen, die auch ausreichen, um eine Ein-Themen-Protestpartei
ins Parlament zu schicken.
Sinnvoll wäre der Einsatz plebiszitärer Instrumente aber nur
dann, wenn ihre Ergebnisse die Politik auch bänden. Dem widerspräche eine Regelung, mit der das Parlament das unwillkommene
Ergebnis einer Volksabstimmung per Gesetz gleich wieder ungeschehen machen könnte. Da freilich auch der parlamentarische
Gesetzgeber sich korrigieren darf, wäre es sinnlos, derlei nicht ebenfalls für Volksabstimmungen zuzulassen.
Zu diesem Zweck ließe sich einesteils vorsehen, dass Volksabstimmungen auf dem gleichen Weg korrigiert würden, wie sie einst
zustande kamen: nämlich durch Überwindung eines entsprechenden
Antragsquorums mit anschließender neuerlicher Volksabstimmung.
Andernteils sollen in einer repräsentativen Demokratie die Repräsentanten gerade nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Deshalb wäre es angemessen, dass auch Parlamente die Ergebnisse von Volksabstimmungen korrigieren können. Freilich dürfte
das nicht ohne Vetomöglichkeiten ebenjenes Volkes geschehen, das
zuvor seinen Willen durchgesetzt hat.
Schlüssig wäre eine Regel, dass erst das jeweils nächste Parlament das Ergebnis einer Volksabstimmung durch einen Gesetzes-
beschluss korrigieren dürfte, womit derartige Absichten ein Wahlkampfthema werden könnten. In wünschenswerter Weise überflüssig würde diese Regel jedoch, falls das Instrument des fakultativen Gesetzesreferendums gegen ein solches Korrekturgesetz
verfügbar wäre: Nur angesichts wirklich plausibler Gründe würde
sich unter diesen Umständen eine Parlamentsmehrheit das Risiko
aufbürden, in einer weiteren Volksabstimmung zu unterliegen.
Im Übrigen entfalten plebiszitäre Instrumente ihre Vorzüge nicht
im einmaligen Gebrauch, sondern durch die kontinuierliche Anwendung mitsamt der entstehenden Vorauswirkung. Also täte man nicht
gut daran, ihre praktischen Wirkungen von seltenen Ausnahmefällen her abzuschätzen. In Ländern mit einer langen plebiszitären
Tradition wie etwa der Schweiz wird mit Volksabstimmungen nicht
brachial, sondern besonnen wie mit einem vertrauten Instrument
umgegangen. Es ist durchaus nicht verwegen, auch in einer stabilen
repräsentativen Demokratie wie der deutschen derartige demokratieund bürgerschaftskultivierende Wirkungen zu erwarten.
Es trifft jedenfalls nicht zu, dass plebiszitäre Instrumente immer
nur Populismus und Demagogie entfesselten oder gar nicht anders
könnten, als eine inkonsistente Politik herbeizuführen. Gegen beides
ist übrigens auch der Parteienwettbewerb vor und nach Parlamentswahlen nicht gefeit – ohne dass ihn deshalb jemand beseitigen
wollte.
Legten sich die Deutschen die vorgeschlagenen plebiszitären
Instrumente zu, dann lebten sie zwar immer noch nicht in einer
»vollkommenen Demokratie«. Aber die Zeiten wären vorbei, in
denen man glaubwürdig über die »unvollendete Demokratie«
lamentieren könnte und politische Abstinenz sich durch die angebliche Aussichtslosigkeit bürgergesellschaftlichen Engagements
rechtfertigen ließe. Schon das wäre ein großer Fortschritt.
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 3.6.2011
Wie das heutige
Arabien entstand
Arabellion
eBook
Herausgegeben von
Wolfgang Günter Lerch
Umfang: ca. 173 Seiten
August 2012
ISBN ePub: 978-3-89843-163-7
ISBN PDF: 978-3-89843-162-0
Preis: 3,99 €
Arabellion und Scharia
Fänden sich traditionelle Kräfte und solche
eines säkularen Aufbruchs zusammen, wäre
schon viel gewonnen
Von Wolfgang Günter Lerch
D
ie Voraussagen sind eingetroffen: Bei der ersten freien Wahl
in Tunesien hat die islamisch-integristische Partei Ennahda
(Wiedergeburt) die meisten Stimmen erhalten. So wird sie in der
Verfassunggebenden Versammlung, die eine neue Konstitution
erarbeiten soll, ein gewichtiges Wort (mit)sprechen. Viele Tunesier haben dieser Gruppierung ihre Stimme gegeben, weil die
Neuordnung des Landes ihrer Auffassung nach mehr den islamisch
geprägten Traditionen und Werten und damit ihrer fast eineinhalb
Jahrtausende alten Geschichte entsprechen soll als der Ordnung
des gestürzten Regimes, die den meisten Gängelei und Repression
einbrachte und die sozialen Verwerfungen sowie bedrängende Probleme wie die Arbeitslosigkeit der Jugend nicht beseitigen konnte.
Für Ennahda bedeutet das Wahlergebnis eine Wiedergeburt. In
den siebziger und frühen achtziger Jahren war diese Partei in Tunesien, was in den neunziger Jahren die Nationale Heilsfront (FIS) in
Algerien wurde: eine radikale, doch insgesamt schon differenziertere, auch weniger gewaltgeneigte islamistische Bewegung. Unter
dem im Januar gestürzten Präsidenten Ben Ali war sie verboten
worden, viele ihrer Anhänger wurden inhaftiert. Ihr Vorsitzender
Rachid Ghannouchi floh ins Exil nach London. Nun ist er zurück
und kann den Triumph seiner Partei an der Wahlurne auskosten.
Im Wahlkampf gab sich Ennahda als gemäßigt islamische Gruppierung. Jedoch ist das Misstrauen groß, insbesondere bei jenen
Protagonisten der Arabellion, die der religiös geprägten Lebenswelt der Mehrzahl der Tunesier fernstehen: Verschleiern die Integristen nicht ihre wahren Ziele? Ausgeschlossen ist das nicht – trotz
gegenteiliger Beteuerungen. Sein Vorbild sei die türkische Regierungspartei AKP, sagt Ghannouchi. Sie sei im Islam verwurzelt,
betreibe aber eine eher pragmatische Politik, insbesondere auf dem
Gebiet der Wirtschaft.
Schon jetzt hat das »Abschütteln« (intifada) der arabischen
Autokraten zwischen Tunis und Kairo – zuletzt traf es Gaddafi in
Libyen, Salih im Jemen und Assad in Syrien könnten bald folgen –
gezeigt, dass islamische Kräfte bei der Gestaltung der neuen
Ordnungen überall ein erhebliches Wort mitreden werden. Schon
hat der Nationale Übergangsrat in Libyen mitgeteilt, die Scharia
solle Grundlage des neuen Libyen sein. In Kairo kam es schon im
Sommer zu einer machtvollen Demonstration der Muslimbrüder
auf dem Tahrir-Platz, bei der die ägyptischen Islamisten – auch
sie sind um ein gemäßigtes Image bemüht – die Rechte des Islam
einforderten. Wenn nicht alle Zeichen trügen, werden alle neuen
Ordnungen geprägt sein von größeren Spannungen zwischen stark
islamisch gefärbten konservativen Kräften und den Verfechtern
einer weltlichen Zivilgesellschaft, die am Ursprung der Arabellion standen.
Als gottgegebener religiös-gesellschaftlicher kollektiver »Heilspfad« ist die Scharia eine Ordnung, die zwar interpretiert, aber
nicht verändert werden darf. Daher ist sie bis in die alltägliche
Lebenswelt hinein auf weite Strecken mit der Demokratie westlicher Prägung nicht vereinbar. Dies gilt für ihre Strafpraxis, für das
Familien- und Personenstandsrecht, vor allem jedoch für die individuellen Freiheitsrechte, wie sie in der westlichen Hemisphäre in
Jahrhunderten erkämpft worden sind. Freilich klaffen auch in der
indischen Demokratie die seit Jahrzehnten eingeübten demokratischen Usancen und das Wertesystem der Hindus auseinander –
das Kastenwesen ist Beispiel genug. Auch europäische Länder
waren schon demokratisch verfasst, als ihre allgemein verbindlichen Wertvorstellungen sich von den heute als selbstverständlich erachteten, unter Freiheit subsumierten Regeln noch erheblich unterschieden. Mit dem Segen des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt gestehen viele auch den Chinesen das Recht
auf den eigenen Weg zu.
Die islamische Welt ist in den vergangenen zweihundert Jahren
von zwei großen Strömungen geprägt worden. Zu Beginn des 19.
Jahrhunderts entwarf Mehmed Ali in Ägypten das Modell einer am
Westen und seinem zivilisatorischen Fortschritt ausgerichteten drastischen Modernisierung von oben. Diesem Modell sind über Kemal
Atatürk und den Schah von Iran bis heute viele gefolgt, nicht zuletzt
jene, die nun stürzen.
Die zweite Strömung begann mit dem gegen die westliche
Moderne gerichteten Panislamismus des 19. Jahrhunderts und fand
ihre Fortsetzung in den Richtungen des politischen Islam im 20.
Jahrhundert. In ihrer äußersten Zuspitzung endete der politische
Islam im Terrorismus und verfehlte auch dort, wo er an die Macht
kam, weitgehend seine hochgesteckten ökonomischen und sozialen Ziele.
Dass die Arabellion binnen weniger Jahre zu entwickelten
demokratischen Systemen führen wird, ist schwer zu glauben; doch
jene, die ihre repressiven, teilweise jahrtausendealten Ordnungen
durch etwas Besseres ersetzen wollen, verdienen zunächst einmal
Anerkennung und Zuspruch. Wenn sich in Tunesien, Libyen und
Ägypten traditionelle Kräfte und solche eines zivilen, säkularen
Aufbruchs zusammenfänden, wäre schon viel gewonnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2011
Materialien zur Vertiefung
Literatur
Hamed Abdel-Samad: »Krieg oder Frieden«. Die arabische Revolution
und die Zukunft des Westens. Droemer Verlag, München 2011
Daron Acemoglu / James Robinson: Why Nations Fail. Crown Business,
New York 2012
Seyran Ates: »Der Islam braucht eine sexuelle Revolution«. Eine Streitschrift. Ullstein Verlag, Berlin 2009
Jim al-Khalili: »Im Haus der Weisheit«. Die arabischen Wissenschaften
als Fundament unserer Kultur. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
2011
Tahar Ben Jelloun: »Arabischer Frühling«. Aus dem Französischen von
Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2011
Markus Bickel: »Der vergessene Nahost-Konflikt?« Syrien, Israel,
Libanon, Hizbollah. Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag, London u.
a. 2011
Rainer Hermann: Die Golfstaaten. Wohin geht das neue Arabien? Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011
Abbas Khider: »Die Orangen des Präsidenten«. Roman. Edition Nautilus,
Hamburg 2011
Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. Verlag C.H.Beck, München 2011
Michael Lüders: »Tage des Zorns«. Die arabische Revolution verändert
die Welt. Verlag C.H. Beck, München 2011
Heiner Mühlmann: »Die Natur der arabischen Kultur«. Wilhelm Fink
Verlag, Paderborn 2011
Erhard Oeser: »Das Reich des Mahdi«. Aufstieg und Untergang des ersten
islamischen Gottesstaates 1885–1897. Primus Verlag, Darmstadt 2012
Volker Perthes: »Der Aufstand«. Die arabische Revolution und ihre
Folgen. Pantheon Verlag, München 2011
Michael Thumann: Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt. Eichborn Verlag, Die andere Bibliothek, Frankfurt/Main 2011
Aus dem Internet
http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischer-fruehling/
Die Bundeszentrale für politische Bildung informiert über den Arabischen
Frühling
http://de.qantara.de/Arabischer-Fruehling/78b18/index.html
Die Deutsche Welle mit einem Arabien-Dossier
http://monde-arabe.arte.tv/de/
Reportagen, Filme, Blogs und Clips aus den arabischen Ländern auf
ARTE.
http://www.aljazeera.com/indepth/spotlight/2011/02/2011222121213770475.html
Schwerpunktseite Arabischer Frühling auf Al Jazeera
http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/
Der Arabische Frühling auf FAZ.Net
http://www.arabist.net/
Englischsprachiger Politikblog aus der arabischen Welt
http://www.scienceblogs.de/zoonpolitikon/2011/07/arabischer-fruhlingund-westliche-wahrnehmung.php
Arabellion und westliche Wahrnehmung