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BEST OF eBooks der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frankfurter Allgemeine Archiv Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher Key Account Management Archivpublikationen: Christine Pfeiffer-Piechotta c.pfeiffer-piechotta@faz.de Projektleitung: Franz-Josef Gasterich eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de © 2014 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main. Titelbild: © F.A.Z.-Archiv / Trötscher ISBN: 978-3-89843-378-8 Inhalt Vorwort 9 Liebe Leserinnen und Leser ����������������������� 10 In der Provence und an der Côte d‘Azur 11 Vor uns wölbt sich das Meer – Von Ludwig Harig �������� 13 Von Apps und anderen Spionen 29 Ausgespäht vom eigenen Smartphone – Von Michael Spehr Internet-Tipps – eine Auswahl – Von Birgitta Fella � 31 ������� 40 Von der Faszination der Mathematik 42 Kreise, Kugeln, Zufälle: Überall spukt herum – Von Albrecht Beutelspacher ����������������������� 44 In der Bretagne 66 Poullaouën: Der Kuhschwanz auf dem Altar bringt Segen – Von Elke Sturmhoebel ��������������������������� 68 Dänemark von Belt bis Sund 75 Forellenfischen auf Fünen: Ein Plan B fürs Abendessen – Von Elke Sturmhoebel ��������������������������� 77 Alternative Heizanlagen 85 Wir verstecken einen Eisspeicher im Garten – Von Georg Küffner ����������������������������� 87 Auf den finnischen Schären 92 Anstrengend sind nicht nur die Mücken – Von Matthias Hannemann ������������������������ 94 Karl und Europa: Wirkung bis in die Gegenwart 104 Der Mann, der Europa aufräumte – Von Andreas Kilb ���� 106 In Irlands Westen 120 Achill Island: Ansichten einer Insel – Von Christiane Zwick Das sollten Sie klicken ������������������������� 122 131 Hirnforschung: Wer ist der Käpt’n im Kopf? 133 Gehorsam: Ich erfüllte eine Aufgabe – Von Jenny Niederstadt 135 Kreuzfahrt in die Arktis 144 Eis mit Stil – Von Verena Mayer Aus dem Maschinenraum ������������������� 146 ������������������������ 154 Den Emotionen auf der Spur 155 Trauertäler und Freudenhügel – Von Ulrich Mees ������� 157 Inside the Company: Die National Security Agency 163 Totale Überwachung – Von Thomas Gutschker ��������� Interessantes aus dem Internet – Von Hans Peter Trötscher � 165 170 Sehnsuchtsorte in Andalusien 172 Costa de Huelva: Ja, wo hängen sie denn? – Von Rolf Moenikes ���������������������������� 174 Tipps für die Reise – Von Birgitta Fella 179 �������������� Wenn Maschinen denken: Künstliche Intelligenz 186 Simulanten des Gehirns: Kann man das Denkorgan nachbauen? – Von Joachim Müller-Jung ������������� 188 Denkende Maschinen im Web – Von Birgitta Fella 192 ������ Futurologie: Wenn Fiction Science macht 195 Ideen aus dem Weltall – Von Philipp Krohn ����������� 197 Lektüretipps: Gestern war Heute die Zukunft – Von Birgitta Fella ����������������������������� 205 Klassische Führungsprobleme 206 Phrasenparade – Von Julia Löhr ������������������� 208 Aussichten: „Green Economies“ oder große Irreführung? 212 In die Biotonne – Von Winand von Petersdorff ��������� 214 Fahrtbericht Porsche Cayman 220 Dem großen Bruder auf den Fersen – Von Michael Kirchberger ������������������������ 222 Management in Umbruchzeiten 228 »Auch Bleiben tut weh« – Von Thomas Reinhold Lese- und Internettipps ������� 230 ������������������������� 236 Elisabeth II. und die Idee der Monarchie im 21. Jahrhundert 238 Einmal Buckingham Palace – Von Bernhard Heimrich ���� 240 The Royal Collection: Interessantes rund um den Königshof – Von Hans Peter Trötscher ��������������� 249 Philologie des Elbischen: Die Sprachen Mittelerdes 255 Sag es auf Sindarin – Von Ulf von Rauchhaupt ��������� 257 Weltkriegs-Schauplatz: Heimatfront 267 Ohrenzeugen des Ersten Weltkriegs – Von Reinhard Pabst Weltkriegs-Chronik – Von Hans Peter Trötscher � 269 �������� 276 Marcel-Reich-Ranicki: Ein sehr großer Mann 282 Ein Leben – Von Claudius Seidl ������������������� Meilensteine einer Karriere – Von Birgitta Fella �������� 284 288 Benedikt XVI.: Der deutsche Papst und die Deutschen 292 Wir waren Papst – Von Frank Lübberding Chronik – Von Doris Kappes ������������� 294 ��������������������� 298 Modemacher im Porträt 307 John Galliano: Ein Schatten seiner selbst – Von Alfons Kaiser und Anke Schipp ���������������� 309 Die Welt des schönen Scheins – museal 315 �������������� Joachim Gauck 318 Der Präsident als Seelsorger der Nation – Von Berthold Kohler ��������������������������� 320 Weiterführende Literatur 324 ������������������������ Wer hört auf die Stimme des Volkes? 326 Wie soll es sein? – Von Professor Dr. Werner J. Patzelt ���� 328 Wie das heutige Arabien entstand 341 Arabellion und Scharia – Von Wolfgang Günter Lerch Materialien zur Vertiefung ���� 343 ����������������������� 347 Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, mit diesem kleinen Leseproben-eBook wollen wir Ihnen einen Eindruck von der Qualität und Inhaltsstärke der F.A.Z.-eBookReihe vermitteln. Die Vielfalt der behandeltem Themen reicht von der unterhaltsamen Reisereportage einer arktischen Kreuzfahrt bis zur hochanalytischen Abhandlung über die Vorteile repräsentativer Demokratiemodelle. Eine Vielfalt, wie Sie sie Tag für Tag in den Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung finden. Das beste aus diesen Beiträgen haben wir für Sie ausgesucht, mit reichhaltigen Zusatzmaterialien ergänzt, mit hochwertigem Bildmaterial illustriert und zu spannenden und informativen eBooks neu arrangiert. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre und hoffe, Sie damit für unsere eBook-Reihe begeistern zu können. Hans Peter Trötscher Programmleiter P.S. Sie sind stets auf der Suche nach einem anspruchsvollen, zugleich aber individuellen Präsent für Ihre Geschäftspartner, Kunden oder Mitarbeiter? Christine Pfeiffer-Piechotta, Key Account Management Archivpublikationen, erstellt Ihnen gerne ein maßgeschneidertes Angebot: telefonisch unter 069/7591-2912 oder per E-Mail unter c.pfeifferpiechotta@faz.de. In der Provence und an der Côte d‘Azur Reiselesebuch Provence – Côte d’Azur eBook Umfang: ca. 450 Seiten Mit 49 Abbildungen Juli 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-294-8 ISBN PDF: 978-3-89843-293-1 Preis: 12,99 € Vor uns wölbt sich das Meer In den frühen Fünfzigern mit Vaters Auto an die Côte d'Azur – Ein Nachmittag mit Südwörtern Von Ludwig Harig W ie oft sind wir bei dem Städtchen Serves im Rhônetal an der hohen Bruchsteinmauer vorbeigebraust, haben mit Zeigefingern die romanischen Arkaden in die Luft gezeichnet und laut ausgerufen: »Hier fängt der Süden an!« Als wir zum ersten Mal hinkamen und von weitem schon diese zyklopische Wand aufragen sahen, verschlug es uns die Stimme: auf der Mauerkrone blühende Agaven im Maulbeergestrüpp, stinkender Goldregen vor dem Bahndamm und zwischen den Zähnen feiner, von den Reifen der Autos aufgewirbelter Sandstaub, der nach Salzwasser schmeckte. So ist es geblieben, mehr als vierzig Jahre danach. Immer noch blüht die Agave, stinkt der Goldregen, immer noch schnarren Zikaden, krabbeln Schnurfüßler, dampft die mythische Erde: Pans Weinhumpen hängt mit abgegriffenem Henkel am Lorbeerstrauch, wo ihn Vergil schon hingehängt hat, und im Nymphengarten sitzt Aristophanes und speist Erdbeeren und Myrrhen, Mädchennasch- werk. »Nur sehe ich weit und breit keine Nymphe mehr«, sagt Brigitte, »und der dicke Pan hat sich sicher auch verdrückt. Nicht einmal die Mauer hat gehalten, was sie damals versprach. Sie ist gar kein schönes altes Bauwerk aus roten und braunen und gelben Natursteinen, wie wir es in Erinnerung haben, sondern eine graue Betonwand, durch Rundbögen verstärkt. Und was mir noch auffällt: Stand die Mauer früher nicht viel näher an der Straße?« Schon mit zwanzig wollten wir den Süden sehen und es den Idolen aus Mode, Film und illustrierten Blättern gleichtun, in Nizza auf der Promenade des Anglais unter Palmen spazieren gehen, in Cannes an der Croisette einen Pernod trinken, Eis schlecken im Eispalast, Austern essen an der Austernbude, baden in der Badebucht. Bizarre Geschichten aus der Boulevardpresse hatten Staub aufgewirbelt: Ein amerikanischer Millionär bewundert dreißig Jahre lang von seiner Yacht aus das Bergmassiv des Estérel und stirbt an einer Halsstarre, die ihm den Hauptnervenstrang abdrückt; eine schwedische Filmschauspielerin lehnt in ihrem Garten mit Vorliebe am Stamm eines Trompetenbaums, wird von einer Kreuzotter gebissen und stirbt am Schlangengift. Das war noch vor der Zeit, als Brigitte Bardot ihre Sommertage in St. Tropez zubrachte und Françoise Sagan im offenen Sportwagen durch die Gegend kutschierte und barfuß das Gaspedal bediente – doch es kitzelte uns in der Fußsohle schon ein paar Jahre zuvor, und so waren wir nicht mehr zu halten und brachen im Sommer 1953 zum ersten Mal in den Süden auf. Wir reisten zu dritt: Brigitte, mein Bruder Hermann und ich. Wenn ich mir das ganze Drum und Dran dieser Reise heute ins Gedächtnis zurückrufe, kommt es mir vor, als seien damals drei arglose bunte Vögel unterwegs gewesen, auf gut Glück ins Eldorado auszuziehen. Nur wer Tollheit mit Abenteuerlust verwechselt, hätte in uns Nachäffer der drei Musketiere vermuten können, die seinerzeit hoch zu Ross das halbe Europa unsicher gemacht haben. Wir hatten es nicht darauf abgesehen, unser Leben aufs Spiel zu setzen, an Halsstarre zu sterben wie der Millionär oder am Schlangenbiss zugrunde zu gehen wie die Filmschauspielerin – uns stach der Hafer, mit imposantem Automobil und forschem Auftreten ein bisschen Staub aufzuwirbeln. Kaum in Lothringen angekommen, liefen uns die Kinder nach. Der Mercedes nämlich, den Vater gekauft hatte – Kabriolimousine, Typ 170V, Vorkriegsmodell – war kein gewöhnliches Auto: Die Trittbretter schwangen sich ausladend an den beiden Seitenfronten des Wagens entlang, die Türgriffe, chromblitzend und solide gefertigt, lagen handlich zwischen Daumen und Fingern, der Kühlergrill glitzerte wie das Gitter eines mondänen Kachelofens, und wir dahinter, auf breiten Lederpolstern, lehnten uns bei heruntergedrehten Scheiben lässig aus dem Fenster, lauschten dem Rauschen der Reifen und dem behaglichen Brummen des Motors. Hermann hatte das Auto neu lackiert, das frische Grün aus Vaters Firmenfarbe hellte nun das vornehme Mercedesschwarz auf, die Farbenkombination war ungebräuchlich und so augenfällig, dass die lothringischen Kinder dem Wagen oft bis ans Ende der Ortschaft hinterherliefen. Unterwegs wollten wir uns nirgends länger aufhalten als nötig. Nur in Seurre machten wir Station, dort blieben wir für einen Abend und eine Nacht bei Roland Cazet, meinem Freund aus der Lyoner Zeit. Die Landschaft der Provence und der Küstenabschnitt der Côte d’Azur gehören zur südostfranzösischen Region Provence-Alpes-Côte d’Azur mit den Départements Alpesde-Haute-Provence, Alpes-Maritimes, Bouches-du-Rhône, Hautes-Alpes, Var und Vaucluse. F.A.Z.-Karte Levinger Am nächsten Morgen brachen wir beizeiten auf: Es lockte der Süden, Nur ein paar Kilometer hinter Seurre bogen wir rechts auf die schnurgerade Straße nach Chalon ab. Zwischen den Ortschaften erhöhten wir das Tempo, fuhren mit größerer Geschwindigkeit über die weit geschwungenen Bodenwellen, rollten durch die Burgundi- sche Pforte die Saône entlang bis vor die Hügel der Monts d'Or. Am Flussufer schlugen wir unser Zelt auf, wie der junge Jean-Jacques Rousseau, der einst flussabwärts in der Stadt Lyon eine Nacht an der Saône verbracht hatte: verzaubert vom rosigen Abendgewölk, verzückt vom Gesang der Nachtigallen. Heute wie vor vierzig Jahren führt die alte N 7 durch hinziehende Straßendörfer die Rhône entlang. Das verwaschene Bleu und Gelb und Rosa der Häuserfronten ist noch blasser geworden und erinnert an die Charmeusefarben der Damenunterwäsche aus den Fünfzigern. In Montélimar schwenkt der Verkehr um die Altstadt herum, durchquert die breite Platanenallee, in der Kunstmaler und Souvenirhändler ihre Stände aufgeschlagen haben. Den weltberühmten Nougat von Montélimar gibt es immer noch in Pappschachteln, die den rotweißen Kilometersteinen der Nationalstraße nachgebildet sind, klein- und großformatig, mit pfiffigen Werbeaufschriften. Damals fuhren wir in jede Stadt hinein, bestiegen das antike Theater von Orange, tanzten über die Brücke von Avignon, tranken vom warmen Brunnenwasser der Cours Mirabeau in Aix-enProvence und brachten den halben Nachmittag an einem winzigen Caféhaustischchen zu. Aix-en-Provence besuchten wir diesmal nicht, wechselten von der Autoroute du Soleil zur Provençale und entdeckten von weitem das Gebirge Sainte-Victoire, das Cézanne in vielen Abwandlungen immer wieder gemalt hat: ein mit bizarrer Spitze gezacktes ungleichschenkliges Dreieck, das beim Vorüberfahren wie ein umgedrehter Tanzknopf einen Halbkreis um die eigene Achse schlägt. Nach und nach gibt es den langgestreckten Gebirgsrücken hinter sich frei, Buckel und Schultern scheinen mit Panzerstahl überzogen, der wie poliert in der Sonne glänzt. An den Böschungen der neuen Trasse, wo die Haut der Erde noch nicht wieder nachgewachsen ist, bündeln sich schräg liegende Gesteinsmassen zu einem gelbroten Adergeflecht. Im Kalkstein schimmern Ginsterkissen und üppige Bukette der Spornblume, hingehauchte Tupfer von Altrosa, gemischt aus Weiß und Karmesinrot. »Vor uns im Schein der virgilischen Sonne das Gebirge Sainte-Victoire, ungeheuer groß, zart und blau, die Täler des Montaignet, der Viadukt des Pont de l'Arc, die Häuser, das Rauschen der Bäume, die viereckigen Feldstreifen«, schreibt Joachim Gasquet, der vor hundert Jahren noch näher als wir heute bis zum Standort des Malers herangegangen war. Vor vierzig Jahren fanden wir den rechten Weg wie im Traum. Zwischen runden, schwarzen Schieferkuppen, tief ins Dunkel getrieben vom Hartlaub dichter Kastanien- und Korkeichenwälder und nur selten erhellt von gelbweißen Kalkwänden, durchquerten wir schlafwandlerisch das Massif des Maures, stiegen von Passhöhe zu Passhöhe empor, wechselten in kurvenreiche Talfahrten über, und ich genoss, wenn ich am Steuer saß, das Zurückschalten in den scharfen Kehren. „Rasche Wendung des Weges: Vor uns wölbt sich das Meer. Grün des Olivengeheges rennt jetzt neben uns her, brennende Fahnen aus Halmen, Drahtverhau der Kakteen. Weiße Villen mit Palmen steigen, fallen, vergehn. Weggeschmolzen die Linien, feurig flirrt der Asphalt. Nur noch die schwankenden Pinien haben Stand und Gestalt.“ Es war der 5. August 1953, ein sonnendurchglühter Mittwochnachmittag. Ich saß auf einem Stein, mein Notizbuch auf den Knien, und kam mir vor wie Gottfried Benn beim Dichten, von Kopf bis Fuß wie ein Pantoffeltierchen mit Flimmerhaaren bedeckt. Es sind aber keine Sporen und Algen, die das Wimperhaar heranwedelt, sondern Wörter – es sind Wörter mit Rausch- und Wallungswert, Südwörter, Schamanenwörter, die den Himmel von Sansibar und das Meer der Syrten herbeizaubern können. Aber aufgepasst: »Nicht immer sind diese Flimmerhaare tätig«, verrät Gottfried Benn in seinem Marburger Vortrag, »sie haben ihre Stunde.« Und genau diese Stunde der unermüdlichen Flimmerhaare war an jenem Mittwochnachmittag hinter Roquebrussanne im Maurengebirge herangekommen: Ich sitze auf einem Felsbrocken und betrachte zum ersten Mal in meinem Leben das Meer. Was für eine Aufregung, was für ein Glück! Mein Herz klopft, mein Schädel raucht, die geheimnisvollen Flimmerhaare zucken und zittern und tasten Südwörter herbei. Obwohl von diesem sagenumwobenen Mittelmeer nur ein matter Schimmer hinter Felsnasen zu sehen ist, fliegen Namen von legendären Buchten und Stränden durch die Gegend, liegt mythisches Gewese in der Luft. Unternehmungslustig, wie ihnen nachgesagt wird, sind diese Südwörter in Aktion, durchstoßen Zusammenhänge, zertrümmern Wirklichkeit und schicken sich an, die Welt neu zu erschaffen. »Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen, und Jahrtausende entfallen ihrem Flug«, ruft Gottfried Benn, und so wirbelt mein Stift die Südwörter über das Papier, drängt sie in neue Zusammenhänge, verschmelzt sie zu neuen Wirklichkeiten. Wie die Wörter glänzen! Die Sonne streichelt sie und reibt sie immer wieder blank. Die alten sind in den Schatten gewichen. Heute kann ich's ja zugeben: An diesem ominösen 5. August, hoch oben im Kalkgeröll des Massif des Maures, fühlte ich mich als dichtender Halbgott, der sogar Gottfried Benn in den Schatten stellt. Als wir jetzt wieder hinkamen, fanden wir die Stelle nicht mehr. Wir irrten durchs Gebirge, vergebens. Hinter keiner Felsnase blinzelte das Meer hervor. Am Spätnachmittag erreichten wir Hyères, durchquerten die Palmenallee, fuhren zwischen Flughafen und Salinen über die Halbinsel nach Giens. Damals wehte ein frischer Wind, und es roch nach Salz. Heute steigt aus dem verschilften Becken der Pestgestank von faulem Fisch und Vogelkadaver. In den Salzlachen verrotten Pflanzen, über den Salzhügeln kreisen Schwalbenschwärme auf der Jagd nach Insekten. In Giens ist Jahrmarkt mit Trachtenfest: Ein Reiter, zu Pferd auf dem Weg in den Friseursalon, stößt mit dem Kopf gegen den Türbalken. Wir sind in ein Tollhaus geraten, entrinnen ihm nur mit allerletzter Mühe. Gibt es am Strand von Hyères noch den geruhsamen Blick auf die Reede? Gibt es auf der Insel Porquerolles noch den begehrten Nacktbadestrand? Wir fahren immerzu, es gibt kein Halten, kein Rasten, kein Bleiben, die Parkplätze sind besetzt, die Straßen verstopft, wir quälen uns unentwegt voran in der Illusion, immerwährendes Fahren müsste ein lohnendes Ziel in Sicht bringen. Auch Le Lavandou, einst Fischerdörfchen, ist jetzt ein Touristenzentrum. Zwischen Residence de la Plage und Domaine des Mandariniers dämmert das alte L'llot Fleuris im Halbschlaf vergessener Sommerpaläste hin. Tauch- und Segelschulen, in schäbiger Leichtbauweise konstruiert, verstellen den Blick auf die Mole. Über den Bootsmasten flattern blauweißrote Wimpelchen, winden und verdrehen sich, als müssten sie sich inmitten trostlosen Cabanenund Budengewirrs vor Lachen krümmen. Ein alter Fischer mit Ringelhemd und Schirmmütze sitzt zwischen Fischladen und Crêperie vor einem Knäuel salzgebeizter Netze, schaut auf, nimmt seine Pfeife aus dem Mund und grüßt kopfnickend. Er lächelt, sein dicker Zeh hat sich in den Maschen verfangen und zwingt ihn, auf dem Pflaster zu verharren. Gestenreich winkt er einen jüngeren Fischer zum Plausch herbei. Zuerst schreien und lachen sie, dann werden sie leiser und ernster und haben schließlich keine Worte mehr. »Unter ihrem Ringelhemd spüren / sie den kalten Haifischzahn«, schrieb ich damals in einem Gedicht. Das war der Süden! Das waren die Strände, die wir suchten! Wir steuerten den Mercedes über eine Bodenwelle, ließen ihn an der ausgestreckten Hand des Patrons entlang bergab unter eine Pinie rollen und schlugen im feingemahlenen Sand unser Zelt auf. Fast vergessene Tage an der Bucht von Le Lavandou! Wir schwammen, spielten Ringtennis, spielten Wasserball, spielten Fußball, einmal trat ich mit nacktem Fuß in einen Agavenstrunk. Eine tiefe Wunde klaffte, Blut lief über den Fuß, die Narbe ist heute noch zu sehen. Bei jedem Wetterumschlag rötet sie sich und ruft mit sanftem Kitzeln den Südseestrand von Cap Bénat in Erinnerung zurück. Ein Zelt ist kein Hotelzimmer, der blaue Himmel kein Ziegeldach. Eine Trainingshose ersetzt kein Beinkleid aus Gabardine, eine Gummisandale keinen Lederschuh. Wir liefen herum wie die Landstreicher, hausten wie die Pfadfinder, lebten von der Hand in den Mund. Wir hatten nicht gelernt, den feinen Pinkel hervorzu- kehren, und hinter unserer Kabriolimousine liefen dort unten in den mondänen Alleen keine kleinen Kinder mehr her. Wem waren wir eigentlich gefolgt in diesem Sommer 1953 beim Aufbruch in den Süden, der uns den Duft der großen weiten Welt in die Nase blies: irgendeiner zauberkräftigen Pansmusik oder dem aufputschenden Trommeln der Zigarettenindustrie? Wollten wir tatsächlich forsch auftreten, ein bisschen Staub aufwirbeln, ein bisschen Wellen machen? Geschmack am eleganten Leben finden? Wir stürzten uns kopfüber in die herzhaften Sommerlüste, schwammen im Meer, bräunten in der Sonne, fuhren ziellos mit dem Auto an der Küste entlang und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein. Wir kurvten durch Croix-Valmer und Ramatuelle, kutschierten durch St-Tropez und Ste-Maxime, schauten nur mit halbem Auge nach den Häusern, mieden Kirchen und Kapellen, übergingen die bronzenen Standbilder auf den alten Stadtplätzchen mit Naserümpfen. Sogar ein paar Jahre danach noch ließen wir Kirchen und Klöster und Museen trotz ihrer vielgepriesenen Schätze links liegen, stürzten uns lieber ins Wellenbrausen des Meers als in den Redestrom eines Reiseführers, lauschten lieber dem Zikadenschnarren als dem Tönen einer Orgel. Zweimal hintereinander verbrachten wir die Ferien in SteMaxime im Hotel Mirador, badeten tagsüber in der Bucht, ließen uns bräunen in der Sonne. Spätnachmittags, wenn die Gluthitze nachgelassen hatte, fuhren wir nach Ramatuelle ans Grab von Gérard Philipe, dessen Filme mit Martine Carol und Gina Lollobrigida uns von den wöchentlichen Kinobesuchen in Erinnerung waren, spielten Boule im Hotelgarten, tranken Gin-Fizz zum Apéritif, schlüpften in unsere schicksten Sommerkleider, kutschierten nach dem Abend- essen nach St-Tropez und saßen bis spät nachts in der Tropicana-Bar. Dort tranken wir wieder Gin-Fizz, wechselten zum Pernod über und hörten Don Byas auf dem Tenorsaxophon. Jetzt, beim Wiederkommen, graust es uns. Was hat St-Tropez ein schäbiges Flair angenommen! Vom Parkplatz am Frachthafen, zwischen Lagerschuppen und Einkaufsbaracken, strömt die Menge an den Staffeleien der Kitschmaler vorbei zu den Anlegestellen der Yachten. Ein Tanklaster pumpt Öl in ein haushohes Motorboot, ein verdreckter Container steht quer zum Fußgängersteig. Von den alten Häuserfronten blättert die Farbe, vor den legendären Bars der fünfziger Jahre gammeln Markisen und Jalousielamellen in der scharfen Salzluft. Ein Serviermädchen, Typ Brigitte Bardot, X-Beine, Schmollmund, runde Brüste, mit quergestreiftem Ringelhemd und enger weißer Hose, balanciert mit Crêpes und Cidreflaschen durch die Holzschemelreihen. Die Berge der Maures sind hinter tief gestaffelten Metallkulissen in weite Ferne gerückt. Was uns früher anzog, stößt uns heute ab: Knalliges Gelb mischt sich mit schreiendem Rot der Reklameschilder, auf blankem Falschsilber des Blechs spiegelt sich das Geglitzer der Boote. Hinter Barrieren, Holzblöcken und Palettenstößen steht Pierre André de Suffren, Landeshauptmann und Träger des Großkreuzes von Jerusalem, in Bronze gegossen vor dem Hotel Sube, Johnny Hallyday auf seiner Harley Davidson ziert ein farbenprächtiges Plakat. Ärger mit dem Getriebe Wie freundlich uns im Sommer 1953 die Landschaft entgegenkam! Sie stand nicht einfach da, sie spreizte sich mit Zypressenreihen, zierte sich mit Oleander- und Kakteengewinden wie die Bühne für ein bukolisches Theaterstück. Sie hob und senkte sich, dreht sich in den Kehren und kam uns, in verschiedenerlei Gestalt verwandelt, bis vor die Räder gerollt: Bestickte Paradeteppiche der Küstenhügel wallten über die Häuser hinweg und schütteten Blüten auf den Asphalt, klobige Steinriesen des Estérel in goldbraune Panzer gehüllt, schritten über die Straße und setzten ihre Füße ins Meer. Wohlbehütet in kühlen Ledersesseln, uns fest verlassend auf die reibungslosen Abläufe des Wellen- und Räderspiels, rollten wir durch Cannes und Nizza. Und doch, das Auto war nicht unverwüstlich. Schon in der Calanques des Issambres, wo Hermann in den engen Kehren ständig runter- und raufschalten musste, drang aus dem Innern des Getriebes ein feines Sirren an mein Ohr. Zuerst knisterte es nur hin und wieder, zischelte und rieselte, schien mir aber nicht erwähnenswert. Doch beim Hinauffahren nach Villefranchesur-Mer krachte es in einer Kurve derart schrill und abscheulich, dass Hermann und Brigitte das Spektakel in meinem Ohr auf einmal nicht mehr für eine Einbildung meiner hypochondrischen Natur halten konnten. Am steilen Hang, im Garten einer Villa, bezogen wir einen Campingplatz. Unter einem Feigenbaum schlugen wir unser Zelt auf, stellten den Wagen in der Einfahrt ab und gingen in den darauffolgenden Tagen nur noch zu Fuß. »Das Getriebe muss sich von den Strapazen erholen«, meinte Hermann, »ihr werdet's erleben, in ein paar Tagen ist von dem Geräusch nix mehr zu hören.« Anderntags in aller Herrgottsfrühe schlugen wir das Zelt ab, packten unsere Sachen zusammen und traten die Rückreise an. Adieu denn, schöner, krummer Feigenbaum von Villefranche! Immer, wenn ich seitdem eine frische Feige esse, denke ich an ihn; immer, wenn unser Auto lauter brummt als gewöhnlich, kommt er mir in den Sinn! Irgendwo in Cannes, mitten im dichtesten Stadtverkehr, zerbarst das Gehäuse. Auf dem Weg zu einer Reparaturwerkstatt, nachdem das Mahlen und Stampfen die Ausmaße einer modernen kakophonischen Musik angenommen, holte Hermann mit einem letzten Fußdruck auf Gaspedal zu einer schwelgerischen Kadenz aus. Nur das Räderwerk der künstlichen Nachtigall im Märchen von Andersen hat sein Leben in einem so dramatischen Todeskampf ausgehaucht wie das Getriebe von Vaters Mercedes. Nach einer Schrecksekunde fiel das Wort Differential, dem ein paar andere hartklingende Wörter folgten: brisé, cassé, éclaté. Der kalte Schauer lief uns über den Rücken. O nein, meinte der Patron der Reparaturwerkstatt, es bestehe überhaupt kein Grund zur Sorge. Die zerbrochenen Teile seien leicht zu beschaffen, in zwei, drei Tagen habe er sie aus Nizza oder Toulon herbeigeholt, und der Schaden sei im Nu behoben. Wir räumten den Kofferraum aus, und mit Sack und Pack zogen wir auf den Campingplatz von La Napoule. Hier, im schönsten Pinienhain des Südens, schlugen wir unser Zelt auf und lebten mit französischen und holländischen und schweizerischen Campern wie die Faune und Nymphen, sprangen im Wald umher, schwammen im Meer und kamen uns vor wie die unsterblichen Halbgötter. In diesem Hain hätten wir ausgeharrt, bis die Pinienzapfen gefallen wären! Und zu unserem Glück dauerte es nicht zwei, drei Tage, es dauerte zwei, drei Wochen, bis das zersprungene Differential wieder repariert war. So vergnügten wir uns an Ort und Stelle, und endlich hatten wir, was wir suchten, tummelten uns den ganzen Tag am Strand, schwammen im Meer, bräunten in der Sonne – und kein mondänes Getue! Kein Chateaubriand konnte so schmackhaft sein wie Steaks und Pommes frites vom Budengrill, kein Mouton-Rothschild so süffig wie ein algerischer Mascara aus der Literflasche! Tagsüber in den Schwimmpausen und spätnachmittags vor dem Abendimbiss lag ich im Sand und schmökerte: Ich las Hans Falladas Roman »Wolf unter Wölfen«. In irgendeiner Pappschachtel gibt es ein Foto, darauf liege ich bäuchlings im Sand neben dem Zelt, das Buch in beiden Händen vor dem Gesicht, dass man den Titel lesen kann. Noch heute erinnere ich mich an die Geschichte vom verzweifelten Deutschen der Inflationszeit. Vielleicht die anderen, dachte ich, ja die anderen sind die Wölfe, räkelte mich im Sand und genoss das schöne Leben in der Sonne. Abschied von Pan Ende August kam Bescheid aus der Werkstatt: »Das Differential ist repariert, der Mercedes wieder fahrbereit und kann abgeholt werden.« Mit dem Bus fuhren wir hin, gingen schnurstracks an die Kasse und nahmen die Rechnung in Empfang. Die Höhe der Summe habe ich vergessen, doch erinnere ich mich an unser jähes Erschrecken. Nicht einmal unsere Armbanduhren und Brigittes Halskettchen mit dem vielgeliebten Aquamarin als Pfand samt aller zusammengekratzten Francstücke hätte ausgereicht, sie zu begleichen. Keine Bange, wir sollten die Rechnung getrost einstecken und von zu Hause aus die Summe per Banküberweisung herschicken, sagte der Patron, er habe sich die Autopapiere und die Nummernschilder genau angeschaut und schließe daraus, dass wir so gut wie keine Ausländer seien. Und auf unserem Führerschein, fügte er aufgeräumt hinzu, sei jeder Vordruck auch in französischer Sprache zu lesen, vom moteur über den cachet bis zur signature. Seine schlitzohrige Miene verriet uns: Er war alles haargenau durchgegangen: Zulassung, Führerscheine, Versicherungspapiere, vielleicht hatte er sich sogar die eingestanzte Motornummer notiert. Als wir dann, schon auf dem Nachhauseweg, noch einmal am Camp de la Pinède vorüberfuhren, grüßten wir mit lautem Hallo und wilden Gebärden. Bocksfüßiger, ziegenbärtiger Pan, so sanft hingeschmiegt zwischen den beiden Flüsschen haben wir deinen lieblichen Hain nie wiedergesehen! Vierzig Jahre danach, zum Golfplatz arriviert, liegt er eingezwängt zwischen vierspuriger Fahrstraße, ausbetoniertem Flussbett und frisch geschotterter Bahntrasse, mit Hügelchen und Bodenwellen, Flachbahnen und Sandkuhlen, kurz geschoren bis zum letzten Grün hinter einem Maschendrahtzaun versperrt. An der Meerseite gegenüber protzen das Strandhotel und der Bootshafen, jenseits der Flussbrücke die Restaurants, Agenturen, Tankstellen und eine Reihe mehrstöckiger Hochhäuser mit Park und Tennisplätzen dahinter. Hinter Cannes biegen wir landeinwärts ab nach Vallauris. Ein Dörfchen mit schmaler, aufsteigender Straße ist uns in Erinnerung geblieben, am Ende, hoch oben links von der Kirche, ein Plätzchen mit dem Standbild eines Schafhirten. Hier arbeitete Picasso seinerzeit, zeichnete, malte, töpferte, modellierte die Hirtenplastik für das Plätzchen. Damals haben wir Ausschau nach ihm gehalten, wir haben ihn nirgendwo entdeckt. Heute ist die Straße vollgestopft mit Töpferwaren: Teller und Tassen, Vasen, Kännchen, Schüsseln, aber auch Hühner und Tauben, Stiere und Fische. Jedes Haus ist eine Galerie, jeder Keller ein Ausstellungsraum für Villen- und Brunnenanlagen aus Keramik. Obwohl es so aussieht, als hätte Picasso jeder Suppenterrine, jedem Eierbecher, jedem Sparschwein seinen Fingerabdruck hinterlassen: Die Töpfererde von Vallauris, der er ihre Körperlichkeit, ihre Schwere genommen und die er ins Stofflose der Kunst gewendet hat, ist unter den Fingern schlechter Keramiker wieder Material geworden: Essgeschirr, Tafelzubehör, Gebrauchsgegenstand. In Picassos Bronzefigur L'homme au mouton auf dem Marktplätzchen neben der Kirche hat der alte Pan die Züge eines Menschen angenommen. Ein kahlköpfiger Hirt, den Blick nach innen gekehrt, mit breiten, schweren Händen, trägt das Lamm gegen seine Brust gepresst: Tier und Mensch gehören untrennbar zusammen, drei Beine des Lamms und drei Finger des Hirten sind eng ineinander geknotet. Gesättigt von den Farben und Klängen treten wir auf die Terrasse des Herrenhauses, hoch über klobiger Bruchsteinmauer. Vor uns wölbt sich das Meer. Wir sind aber in einen anderen Süden zurückgekehrt. Hier, wo er mit unstofflichen Instrumenten über Menschenlärm und Autogetöse hinwegtönt, ist er eine schöne Idee. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.1995 Von Apps und anderen Spionen Die Daten-Enteignung eBook Umfang: ca. 215 Seiten Mit 14 Abbildungen Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung Februar 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-284-9 ISBN PDF: 978-3-89843-283-2 Preis: 12,99 € Ausgespäht vom eigenen Smartphone Abgehört wird nicht nur von oben. Wer sein Handy mit Apps bestückt, gibt gleich seine privaten Daten preis. Von Michael Spehr I n Zeiten von NSA, Prism und Tempora kann es nicht schaden, mal einen Blick auf die eigene Überwachungszentrale in der Hosentasche zu werfen. Sie heißt Smartphone. Beim Test des neuen Huawei Ascend P6 stießen wir auf seinen eingebauten »Berechtigungsmanager«, der interessante Hinweise liefert, auf welche Daten und Dienste welche App zugreifen will. Diese Huawei-Software unterbindet gegebenenfalls solche Spähaktionen, sie stellt sich in den Weg. Denn wer denkt schon daran, dass ein kleines Hilfsprogramm sich selbst Rechte einräumen möchte wie: »Speicherkarteninhalte ändern«, »voller Netzwerkzugriff«, »ausgehende Anrufe umleiten«, »Kontakte auslesen«, »SMS lesen und schreiben« und schließlich sogar »die Kamera jederzeit und ohne Ihre Bestätigung nutzen«. Bei der Installation einer neuen Android-Software werden zwar die »App-Berechtigungen« kurz auf dem Bildschirm eingeblendet. Aber wie bei den »Allgemeinen Geschäftsbedingungen« liest das kaum jemand, und man kann nur in Gänze annehmen oder ablehnen. Die Möglichkeit, lediglich einzelne Rechte zu gewähren, bietet Android nicht. In Vorfreude auf die neue Software nickt man schnell ab, ohne sich Gedanken zu machen. Vor allem fragt niemand, ob und warum beispielsweise ein simpler Taschenrechner den Zugriff auf den momentanen geografischen Standort des Nutzers anfordert. Auch Google als Betreiber des »Play« genannten App-Kaufhauses unternimmt solche Prüfungen nicht. Geht es um gefährliche und schadhafte Apps, steht Android unangefochten an der ersten Stelle. Und umgekehrt: Fast alle Schadsoftware-Attacken auf Mobilgeräte richten sich an Android-Nutzer. Dazu kommt, dass ein weiteres Einfallstor vom Anwender selbst in wenigen Schritten geöffnet werden kann, wenn er nämlich die Installation von Apps »unbekannter Herkunft« in der Geräteverwaltung erlaubt. Dann lassen sich Programme jenseits des Play-Store installieren, etwa von der Speicherkarte. Das ist nicht an sich verwerflich, kann aber gefährlich werden. Zurück zum Huawei-Berechtigungsmanager: Selbst wenn man mit der gebotenen Distanz nur »seriöse« Anwendungen installiert und um alle halbseidenen einen großen Bogen macht, ist man doch erstaunt, welche Rechte sich einzelne Apps herausnehmen, und zwar ohne nachvollziehbare Begründung. Die von Facebook zum Beispiel will im Grunde genommen alles. Bei unserer näher inspizierten Auswahl, die natürlich nicht repräsentativ ist, weckte das Telefonbuch des Smartphones stets die höchsten Begehrlichkeiten. Fast alle Apps spähen Kontakte, Rufnummern und Adressen aus. Etwa die Podcast-App »Pocket Cast«, die von uns gekauft wurde: Dieses Audio-Programm will den Zugriff aufs Telefonbuch und die Telefonnummer des Geräts ebenso erfassen wie die gewählten Rufnummern. Es gibt keinen Grund dafür. Man könnte argumentieren, dass eine Podcast-App die Audio-Wiedergabe bei eingehenden Anrufen unterbrechen muss, also deshalb den Zugriff auf das Telefon fordert. Die Annahme führt jedoch in die Irre. Denn als wir mit der Huawei-Software die angeforderte Berechtigung verweigerten, funktionierte Pocket Cast trotzdem ohne Einschränkungen. Diese Beobachtung lässt sich durchaus verallgemeinern: Apps fordern mehr Rechte an, als sie für ihr einwandfreies Funktionieren benötigen, sie nehmen sich, was sie bekommen können. Große Aufmerksamkeit fand unlängst der von der Nachrichtenseite Golem beschriebene Skandal um den »Superrapper und die SamsungSpyware«: Der koreanische Smartphone-Hersteller bot den Besitzern einiger Galaxy-Geräte die Möglichkeit, das neue Album des Rappers Jay-Z vorab unentgeltlich zu hören. Dazu konnte man keineswegs die Musiktitel laden, sondern musste eine App installieren, die laut Golem auf die Systemsteuerung und den Speicher der Hardware zugreift. Außerdem will sie »den per GPS ermittelten Standort des Nutzers wissen sowie Details über dessen Anrufe und die Netzwerkkommunikation«. Wozu die Daten dienen, schreiben die Kollegen, »ist nicht ersichtlich. Die App verfügt nicht über eine Funktion, für die sie nötig wären.« Die Rechte von Apps im Zaum zu halten kann also sinnvoll sein. Man darf annehmen, dass viele Gratisangebote an erster Stelle dazu dienen, Android-Nutzer auszuspionieren. Jenseits der Huawei-Software gibt es einige Apps, die Ähnliches leisten, sie setzen aber in der Regel ein »gerootetes« Android-Gerät voraus. Das Rooten erlaubt tiefgehende Eingriffe ins System und ist nur mit etlichem Aufwand zu bewerkstelligen. Wer sich auf diesen Weg einlassen will, suche anschließend zum Beispiel nach »LBE Privacy Guard«. Eine Alternative kann »SRT App Guard« sein, das jedoch nicht über Google Play erhältlich ist. Es deinstalliert die zu kontrollierende App, modifiziert sie und richtet sie erneut ein. Anschließend funktionieren allerdings Updates der betreffenden App nicht mehr. So gesehen kann man Huawei nur loben, dass ein sehr mächtiges Werkzeug unentgeltlich bereitgestellt wird – und mit allen nur denkbaren Android-Apps ohne Einschränkung zusammenarbeitet. Dass man mit ihm auch bei jeder einzelnen App den Netzwerkverkehr kontrollieren und beschränken kann, sei nur am Rande erwähnt. Abschließend ein Seitenblick auf die Apple-Welt. Hier geht es etwas zivilisierter zu. Cupertino hat den hauseigenen App Store besser im Griff, es wird intensiver geprüft, die Richtlinien sind strenger. Was unter Android nur wie hier beschrieben funktioniert, ist gleich von Haus als Berechtigungsmanagement im iOS-Betriebssystem eingebaut. Unter »Einstellungen« und »Datenschutz« lässt sich differenziert und jederzeit einstellen, welche App auf welche privaten Daten (Standort, Kontakte, Kalender, Fotos und mehr) zugreifen darf. Wer mit iPad und iPhone unterwegs ist, kann auch als Laie mit einem Blick kontrollieren und zu neugierige Apps mit einem Handgriff in die Schranken weisen. Zwei scharfe Kontrolleure: Links Apple auf dem iPhone, rechts Huawei für sein Ascend P6. Foto: Michael Spehr / F.A.Z. Datenhunger am Beispiel der nimmersatten Facebook-App Zusammen mit WhatsApp ist die Facebook-Software die meistinstallierte für Android. Auch im Datenhunger spielt sie in der ersten Reihe und fordert nahezu alle denkbaren Berechtigungen an. Hier ein (gekürzter) Auszug aus der App-Beschreibung. Facebook kann demnach auf Folgendes zugreifen: 1. Ihre Konten Konten erstellen und Passwörter festlegen: Ermöglicht der App, die Konto-Authentifizierungsfunktionen des Konto-Managers zu verwenden, einschließlich der Funktionen zum Erstellen von Konten sowie zum Abrufen und Festlegen der entsprechenden Passwörter. Konten hinzufügen oder entfernen: Ermöglicht der App, Konten hinzuzufügen und zu entfernen oder deren Passwörter zu löschen 2. Standort Genauer Standort: Ermöglicht der App, Ihre genaue Position anhand von GPS-Daten oder über Netzwerkstandortquellen wie Sendemasten oder W-Lan zu ermitteln. Ungefährer Standort: Ermöglicht der App, Ihren ungefähren Standort zu ermitteln. Diese Standortangabe stammt von Standortdiensten, die Netzwerkstandortquellen wie etwa Sendemasten oder W-Lan verwenden. 3. Netzkommunikation Zugriff auf alle Netzwerke: Ermöglicht der App die Erstellung von Netzwerk-Sockets und die Verwendung benutzerdefinierter Netzwerkprotokolle. 4. Telefonanrufe Telefonnummern direkt anrufen: Ermöglicht der App, ohne Ihr Eingreifen Telefonnummern zu wählen. 5. Telefonstatus und Identität abrufen Ermöglicht der App, auf die Telefonfunktionen des Geräts zuzugreifen. Die Berechtigung erlaubt der App, die Telefonnummer und Geräte-IDs zu erfassen, festzustellen, ob gerade ein Gespräch geführt wird, und die Rufnummer verbundener Anrufer zu lesen. 6. Speicher USB-Speicherinhalte ändern oder löschen. 7. System-Tools Verknüpfungen installieren: Ermöglicht der App das Hinzufügen von Verknüpfungen ohne Eingriff des Nutzers. Akkudaten lesen: Ermöglicht der App, den momentan niedrigen Akkustand zu erkennen. 8. Informationen zu Ihren Apps Aktive Apps abrufen: Ermöglicht der App, Informationen zu aktuellen und kürzlich ausgeführten Aufgaben und Apps abzurufen. 9. Kamera Bilder und Videos aufnehmen: Ermöglicht der App, Bilder und Videos mit der Kamera aufzunehmen. Die Berechtigung erlaubt der App, die Kamera jederzeit und ohne Ihre Bestätigung zu nutzen. 10. Benutzeroberfläche anderer Apps Über anderen Apps einblenden: Ermöglicht der App, über andere Apps oder Teile der Benutzeroberfläche zu zeichnen. Dies kann sich auf die Oberfläche in jeder App auswirken oder die erwartete Darstellung in anderen Apps verändern. 11. Mikrofon Audio aufnehmen. 12. Ihre sozialen Informationen Anrufliste bearbeiten: Ermöglicht der App, das Anrufprotokoll Ihres Geräts zu ändern, einschließlich der Daten über ein- und ausgehende Anrufe. 13. Kontakte lesen Ermöglicht der App, Daten zu den auf Ihrem Gerät gespeicherten Kontakten zu lesen, einschließlich der Häufigkeit, mit der Sie bestimmte Kontakte angerufen, diesen E-Mails gesendet oder anderweitig mit ihnen kommuniziert haben. Diese Berechtigung ermöglicht der App, Ihre Kontaktdaten zu speichern. Kontakte ändern: Ermöglicht der App, Daten zu den auf Ihrem Gerät gespeicherten Kontakten zu ändern, einschließlich der Häufigkeit, mit der Sie bestimmte Kontakte angerufen, diesen E-Mails gesendet oder anderweitig mit ihnen kommuniziert haben. Die Berechtigung ermöglicht Apps, Kontaktdaten zu löschen. 14. Anrufliste lesen Ermöglicht der App, das Anrufprotokoll Ihres Geräts zu lesen, einschließlich der Daten über ein- und ausgehende Anrufe. Diese Berechtigung ermöglicht Apps, Daten Ihres Anrufprotokolls zu speichern. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.7.2013 Internet-Tipps – eine Auswahl Wer zum Thema Datenschutz eine kurze Auswahl hilfreicher Webseiten sucht, ist hier richtig. Von Birgitta Fella www.bitkom.org Datenschutz im Internet, eine repräsentative Untersuchung der BITCOM aus dem Jahr 2011 zum Thema Daten im Internet aus Nutzersicht. www.bsi-fuer-buerger.de Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik informiert über Fragen zur IT-Sicherheit. www.klicksafe.de Die EU-Initiative will vor allem Kindern und Jugendlichen für die kompetente und kritische Nutzung von Internet und Neuen Medien sensibilisieren. www.prism-break.org Empfehlungen von Software und Alternativen zu den gängigen Betriebssystemen und Suchmaschinen. www.selbstdatenschutz.info Tipps zur „digitalen Selbstverteidigung“: Datenschutz und Verschlüsselung in Eigenregie. www.surfen-ohne-risiko.net Informationen zu Regelungen zum Datenschutz für Kinder auf den Seiten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. www.wakeupinternet.com Der Verein Wake Up Internet will über die Notwendigkeit des Schutzes von Persönlichkeitsdaten im Internet aufklären. Von der Faszination der Mathematik Die Schönheit der Zahlen eBook Umfang: ca. 260 Seiten Mit 18 Abbildungen, Buch- und Filmtipps September 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-376-1 ISBN PDF: 978-3-89843-375-4 Preis: 9,99 € Kreise, Kugeln, Zufälle: Überall spukt Π herum Was für eine Zahl! Sie ist irrational, ja sogar transzendent. Und in verrückter Weise normal. Von Albrecht Beutelspacher A m 18. Januar 1897 wurde im Parlament des amerikanischen Bundesstaates Indiana in erster Lesung ein Gesetz behandelt, das nichts weniger wollte als »eine neue mathematische Wahrheit« zu etablieren und damit einen Beitrag zur Erziehung zu leisten. Der Gesetzestext selbst ist kurz, aber weder klar noch eindeutig. Allerdings wird das Problem, das mit diesem Gesetz gelöst werden soll, klar benannt: die Quadratur des Kreises. Diese sprichwörtliche Redewendung hat einen sehr präzisen Ursprung und Inhalt: Man soll zu einem Kreis ein Quadrat konstruieren, das genau den gleichen Flächeninhalt wie der Kreis hat. Nicht annähernd, also »approximativ«, sondern genau. Außerdem sind die Mittel vorgeschrieben: Man darf nur die klassischen Werkzeuge verwenden, nämlich Zirkel und Lineal. Die Quadratur des Kreises ist unmittelbar verbunden mit einer der interessantesten und geheimnisvollsten Zahlen überhaupt, nämlich mit der Kreiszahl Π. Diese Zahl tritt bei praktisch allen Berechnungen am Kreis auf: Man erhält den Umfang, indem man seinen Durchmesser mit Π multipliziert. Man erhält den Flächeninhalt, indem man den Radius quadriert und das Ergebnis mit Π multipliziert. Die Frage nach der Quadratur des Kreises kann auch so gestellt werden: Lässt sich mit Zirkel und Lineal eine Strecke der Länge Π konstruieren? Sie erinnern sich vielleicht daran: Π = 3,14. Aber das stimmt nicht. Jedenfalls nicht genau. Π ist nicht genau 3,14, sondern nur ungefähr. Der Kampf um das richtige Π ist ein durchgängiges Thema der Geschichte der Mathematik. Bereits den Babyloniern und den Ägyptern war um 2000 v. Chr. die Tatsache bekannt, dass sich bei jedem Kreis das gleiche Verhältnis von Umfang zum Durchmesser ergibt. So rechneten die Babylonier mit 3,125 und die Ägypter mit 256/81, das macht 3,16049. Auch die Bibel lässt Rückschlüsse auf einen Wert von Π zu. Im 1. Buch der Könige heißt es: »Und er machte das Meer (ein Wasserreservoir) von einem Rand zum anderen zehn Ellen weit..., und eine Schnur von dreißig Ellen war das Maß ringsherum.« Daraus ergibt sich die bereits für die damalige Zeit schlechte Näherung von Π = 3. Archimedes war der erste, der nicht versuchte, Π exakt anzugeben. Er gab obere und untere Schranken für den Wert von Π an: Π > 3 10/71, Π < 3 1/7. Den Weltrekord in der Berechnung von Π hält der Japaner Yasumasa Kanada von der Universität Tokio. Er hat im Jahre 1999 sage und schreibe 206 Milliarden Stellen von Π berechnet. Das Geheimnis der Zahl Π liegt in der Unvorhersehbarkeit ihrer Ziffernfolge. Wie geht es nach 3,14159 weiter? Es gibt kein Muster dafür. Wer es nicht weiß, weiß es eben nicht. Mathematiker sind in der Lage, diese Unregelmäßigkeit in den Griff zu bekommen: Sie können sie nicht aufheben, aber immerhin ausdrücken, wie unregelmäßig Π ist. Zunächst ist Π in einer Hinsicht unendlich: Der Dezimalbruch von Π bricht nie ab. Auch nach 206 Milliarden Stellen ist nicht nur kein Ende in Sicht, sondern es ist aussichtslos: Ein Ende wird es nie geben. Insofern ist die Suche nach immer mehr Stellen eine echte Sisyphusarbeit. Π ist irrational. Das bedeutet, dass es in diesen unendlich vielen Stellen kein sich wiederholendes Muster gibt. Das heißt nicht, dass wir bis jetzt keines gefunden haben, sondern dass es keines gibt. Das wissen wir. Denn es wurde bewiesen, und zwar im Jahre 1761 von Johann Heinrich Lambert. Π ist sogar transzendent. Das bedeutet, dass sich Π durch keine noch so komplizierte Gleichung exakt ausdrücken lässt. Genauer gesagt: Es gibt kein Polynom (mit rationalen Koeffizienten), das Π als Nullstelle hat. Das scheint ein technisches Resultat zu sein, hat aber eine dramatische Konsequenz: Die Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal ist unmöglich! Diese Erkenntnis geht auf Ferdinand Lindemann 1882 zurück. Der Beweis übersteigt den Schulstoff bei weitem. Π bietet bis heute ungelöste Probleme. Viele glauben, dass die Ziffern von Π wie zufällig verteilt sind. Sie sind natürlich nicht zufällig, sondern jede einzelne ist wohlbestimmt. Aber man kann ja mal testen. Wenn in der Dezimalbruchentwicklung von Π keine Null vorkommen würde, wäre die Ziffernfolge hinter dem Komma nicht zufällig. Aber eine Null kommt vor, zum ersten Mal an der 31. Stelle. Auch 00 müsste vorkommen, auch 007, auch Ihr Geburtsdatum, kurz: Jede endliche Folge von Ziffern müsste vorkommen. Auch die digitalen Versionen des Films »Herr der Ringe« oder des Textes auf diesen Seiten müssten irgendwann in Π vorkommen. Die Mathematiker nennen diese Eigenschaft, etwas phantasielos, »normal«. Die Frage lautet also, ob Π normal ist – eine bis heute unbewiesene Vermutung. »Normal« ist nicht dasselbe wie »irrational«, auch für Mathematiker nicht: Eine Zahl ist normal, wenn jede Ziffer oder Ziffernkombination mit gleicher Wahrscheinlichkeit wie eine andere Ziffer oder gleichlange Ziffernkombination auftritt. Im Laufe der Geschichte wurden viele Methoden entwickelt, um Π zu berechnen. Eine Formel, die viel bessere Ergebnisse liefert als alle vorher dagewesenen, ist die zentrale Formel auf diesen Seiten, die das Mathematikgenie Shrinivasa Ramanujan 1914 aufgestellt hat. Links vom Gleichheitszeichen steht schlicht und einfach Π. Die rechte Seite der Formel hingegen ist nicht nicht einfach. Und alles andere als elegant. Schwer zu merken. Kaum vorstellbar, wie jemand darauf kommt. Aber sie ist unglaublich effizient. Sie stellte 1914 alle Berechnungsverfahren in den Schatten. Man kann sie vergleichen mit einem Liebhaber, der sich Π annähern möchte. Ein stürmischer Liebhaber: Jeder Summand liefert etwa acht korrekte Nachkommastellen von Π. Mit dieser Reihe wurde erstmals die Millionengrenze an Nachkommastellen überschritten, allerdings erst rund 70 Jahre nach Ramanujans Entdekkung, denn es musste noch das richtige Werkzeug erfunden werden: der Computer. Auch heute noch ist diese Formel in einigen Computeralgebra-Systemen eingebaut. Aus dem Indiana-Gesetz von 1897 lassen sich verschiedene Werte von Π herauslesen: Π = 3,2 oder Π = 4. Ganz ohne Zweifel könnte man mit diesen Werten rechnen. Sogar viel einfacher. Aber leider wären die Ergebnisse sinnlos. Zum Glück hat ein Mathematiker die Parlamentarier darauf hingewiesen, dass sie sich mit diesem Gesetz unsterblich blamieren würden, und so wurde die weitere Behandlung des Gesetzentwurfs nach der zweiten Lesung im Senat am 12.2.1897 auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Autor lehrt Mathematik an der Universität Gießen. Rechtecke im Kreis. Eine Möglichkeit, den Flächeninhalt eines Kreises und damit Π zu berechnen, beruht darauf, die Kreisfläche von innen mit Rechtecken aufzufüllen. Diese Methode wurde im 17. Jahrhundert in Japan entdeckt. Stellen wir uns einen Kreis mit dem Radius 1 vor. Sein Flächeninhalt ist dann Π. Von diesem Kreis betrachten wir nur ein Viertel; der Viertelkreis hat also den Flächeninhalt Π/4. Wir teilen den Radius des Viertelkreises gleichmäßig in eine gewisse Anzahl von Strecken, zum Beispiel in 14 Teile. Über jeder dieser Teilstrecken errichten wir ein Rechteck, das den Kreis von innen berührt. Der Flächeninhalt der Rechtecke ist einfach zu bestimmen: Die Grundstrecke hat man selbst gewählt, und die Höhe kann man mit Hilfe der Formel für den Kreis x² + y² = 1 ausrechnen. Die Fläche eines Rechtecks ist Grundseite mal Höhe. Schließlich muss man die Flächeninhalte der Rechtecke addieren und erhält so eine Näherung an die Zahl Π/4. Die Approximation wird um so besser, je feiner man den Radius unterteilt. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Die Definition der Zauberzahl: Umfang durch Durchmesser. Wenn man den Umfang und den Durchmesser eines Kreises misst, zeigt sich, dass der Umfang immer um einen konstanten Faktor größer ist. Wenn der Durchmesser 1 m beträgt, dann ist der Umfang etwa 3,14 m. Wenn der Durchmesser 2 m ist, dann ist der Umfang etwa 6,28 m usw. Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser eines Kreises ist immer die gleiche Zahl. Diese Konstante bezeichnet der griechische Buchstabe Π. Es gilt also: Umfang : Durchmesser = Π, oder Umfang = Durchmesser mal Π. Die ersten Näherungswerte für Π wurden einfach gemessen. Der griechische Mathematiker und Physiker Archimedes (287-212 v. Chr.) war der erste, der einen systematischen Weg gefunden hat, Π jedenfalls prinzipiell beliebig genau zu berechnen. Seine Methode bestand darin, den Umfang des Kreises durch Vielecke anzunähern, deren Seiten alle gleich lang und deren Winkel alle gleich groß sind. Konkret hat er dieses Verfahren mit je einem 96-Eck innerhalb und außerhalb des Kreises durchgeführt und erhielt dabei die Abschätzung 3 10/71 < Π < 3 1/7. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Grüße aus Monte Carlo. Der Flächeninhalt eines Kreises mit Radius r ist Πr². Der Flächeninhalt des Quadrats um den Kreis ist 4r². Das Verhältnis der beiden Flächeninhalte ist also Π/4. Mit anderen Worten: Der Kreis hat einen Anteil von 78,5% der Quadratfläche. Stellen wir uns vor, dass die gesamte Quadratfläche von Punkten übersät ist. Dann liegen etwa 78% innerhalb und der Rest außerhalb des Quadrats. Mit diesem Ansatz kann man Π durch ein Zufallsexperiment bestimmen: Man wirft zufällig Pfeile auf die quadratische Scheibe und bestimmt den Anteil der Pfeile, die innerhalb der Kreisscheibe landen. Diese Zahl ist etwa Π/4. Die Annäherung wird besser, je öfter man wirft. Die Mathematiker nennen solche Experimente, in denen der Zufall eine entscheidende Rolle spielt, aus offensichtlichen Gründen »Monte-Carlo-Methoden«. Sie spielen eine gewaltige Rolle in Computerexperimenten, wie sie beispielsweise von der Klimaforschung verwendet werden. Und aus der heutigen Physik ist Monte Carlo nicht mehr wegzudenken. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Der Inhalt einer Kugel? Π gibt Auskunft. Dieses Bild soll das Grabmal des Archimedes (287–212 v. Chr.) geschmückt haben. Archimedes war stolz auf seine Herleitung des Volumens der Kugel. Sie beträgt genau ein Drittel des Volumens des sie umgebenden Zylinders. Dies hat Archimedes mit Hilfe eines dritten Körpers, nämlich eines Doppelkegels, bewiesen, der dem Zylinder »einbeschrieben« war: Der Doppelkegel füllte den Zylinder so gut es eben ging aus. Archimedes kam zu dem Ergebnis: Das Volumen einer Kugel mit Radius r ist 4Πr³ mal 1/3. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Kreispackung: Π hilft ordnen. Wie dicht lassen sich Münzen gleicher Größe packen? Mit anderen Worten: Welchen Prozentsatz eines Tisches können wir mit Münzen, die nicht übereinanderliegen dürfen, überdecken? Antwort: Am besten geht es mit der »hexagonalen« Packung. Mit ihr lassen sich gut 90 Prozent der Tischfläche mit Münzen überdecken. Genauer stellt man sich vor, dass die ganze Ebene mit Kreisscheiben gleicher Größe belegt ist. Die Dichte dieser sogenannten »Packung« ist der Anteil der Fläche, den die Kreisscheiben einnehmen. Die Dichte der hexagonalen Packung ist genau Π/2<Wurzel>3. Das ist viel besser, als wenn man die Münzen »quadratisch« anordnet, wenn man sie also auf die Felder eines (beliebig groß gedachten) Schachbretts legt. Auch wenn sich die Münzen berühren, erhält man nur eine Dichte von gut 78 Prozent. Dass die hexagonale Packung die bestmögliche ist, lässt sich nicht ganz einfach beweisen. Es gelang in voller Allgemeinheit erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Kugelpackung: Wie stapelt man Äpfel? So wie auf dem Markt, meinte Gauß. Die Frage nach der dichtesten Kugelpackung ist noch viel schwieriger als die nach der dichtesten Kreispackung. Das Problem geht zurück auf Johannes Kepler (1571–1630), der in einer Abhandlung über Schneeflocken auch darauf zu sprechen kam, wie dicht Kerne von Früchten, zum Beispiel Granatäpfel, gepackt werden können. Als Mathematiker ließ er sich zwar von der konkreten Fragestellung inspirieren, abstrahierte aber davon und stellte die Frage nach der dichtesten Kugelpackung. Auch hier bietet sich eine »hexagonale« Packung an: Man beginnt mit einer Schicht Kugeln, die man in einem hexagonalen Muster legt (rechtes Bild): Das ist schon mal die optimale Methode, Kugeln zu plazieren. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Die zweite Schicht darüber sieht genauso aus, nur dass die Kugeln in den Lücken der ersten Schicht liegen (oben). Entsprechend bildet man die dritte Schicht, und so geht es immer weiter. Man kann die Dichte dieser Packung ausrechnen – wiederum mit Π: Sie beträgt p/<Wurzel>18; man kann mit ihr also etwa 74 Prozent des Raumes ausfüllen. Man hat keine dichtere Packung gefunden, konnte aber lange Zeit nicht beweisen, dass es keine dichtere geben kann. Einen ersten Durchbruch schaffte der große deutsche Mathematiker Carl Fried- rich Gauß, der 1831 diese Vermutung bewies – allerdings unter der einschränkenden Voraussetzung, dass die Kugeln der Packung ein regelmäßiges Muster bilden. Das Problem im allgemeinen blieb aber ungelöst. Es faszinierte durch die Spannung zwischen der Einfachheit der Fragestellung und der offensichtlichen Schwierigkeit eines Beweises. So etwas kommt in der Mathematik öfter vor, es sei nur an den vielbeschrieben Satz von Fermat erinnert. Es kursierte das geflügelte Wort, dass »die meisten Mathematiker glauben und alle Physiker wissen, dass es keine dichtere Kugelpackung gibt«. Hier wurden freilich die Marktfrauen vergessen, die ihre Apfelsinen oder Äpfel in aller Welt hexagonal stapeln, als hätten sie Gauß gelesen. Erst im Jahr 1998 gelang es Thomas Hales zu beweisen, dass diese Packungsmethode die dichteste ist. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Π lässt sich experimentell bestimmen: Buffons Trick. Mit Hilfe des Zufalls lässt sich Π auch auf folgende Weise bestimmen, die von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788) erstmals 1777 beschrieben wurde: Wir stellen uns einen Boden mit gleich dicken Dielen vor. Auf diesen lassen wir zufällig einen Stab (eine Nadel) fallen, dessen Länge genau die Breite der Dielen ist. Der Stab kann so fallen, dass er ganz auf einer Diele liegt oder dass er die Trennungskante zwischen zwei Dielen berührt (»Treffer«). Dieses Experiment führen wir oft durch. Wenn wir dann die Anzahl der Würfe durch die Anzahl der Treffer teilen und diese Zahl noch mit 2 multiplizieren, erhalten wir eine Annäherung an Π. Aber Achtung: Diese Annäherung erfordert unglaublich viele Würfe. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Π präsentiert uns auch die Fläche eines Kreises. Die Zahl Π kann nicht nur dazu benutzt werden, den Umfang eines Kreises zu bestimmen, sondern dient auch zur Ermittlung seines Flächeninhalts. Dazu gehen wir am besten vom Radius, also vom halben Durchmesser aus. Ein Kreis, dessen Radius 1 m ist, hat einen Flächeninhalt von Π Quadratmeter. Wenn sich der Radius verdoppelt, vervierfacht sich der Flächeninhalt. Das heißt, ein Kreis mit dem Radius 2 m hat den Flächeninhalt 4Π, also etwa 12,5 m². Im allgemeinen hat ein Kreis mit Radius r den Flächeninhalt Πr². Das bedeutet: Der Flächeninhalt eines Kreises ergibt sich, indem man zunächst ein Quadrat zeichnet, dessen Seitenlänge der Radius des Kreises ist, und dessen Flächeninhalt dann mit Π multipliziert. F.A.Z.-Grafik: Karl-Heinz Döring. Das Erstaunliche ist, dass die gleiche Zahl Π, die sich zur Berechnung des Umfangs eines Kreises eignet, auch hier verwendet wird. Der erste, der eine Beziehung zwischen Kreis und Quadrat suchte, war Anaxagoras von Klazomenai (um 500–428 v. Chr.). Kurze Zeit später versuchten Antiphon und Bryson aus Heraklea, den Kreisinhalt zu bestimmen, indem sie dem Kreis Vielecke einbeschrieben und deren Fläche berechneten. So erhielten sie eine Approximation an die Kreisfläche. In der Ziffernfolge hinter dem Komma ist alles möglich. Selbst die digitale Version dieses Textes taucht dort irgendwann einmal auf. Und außerdem noch eine Abwandlung davon. Shrinivasa Ramanujan Der Entdecker unserer großen Π-Formel auf diesen Seiten hieß Shrinivasa Ramanujan, einer der genialsten Mathematiker aller Zeiten. Er wurde 1887 in Südindien geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und besaß keine abgeschlossene Universitätsausbildung. Foto: Archiv. Seine mathematische Bildung bestand ausschließlich darin, dass er eine Formelsammlung gelesen hatte: 3000 Formeln hintereinander, ohne Kommentare. Und man kann sagen, dass er selbst Mathematik in diesem Sinne betrieben hat: Er hat Formeln aufgestellt. Bewiesen hat er sie nicht, die Notwendigkeit eines strengen Beweises sah er bis zum Ende seines Lebens im Grunde nicht ein. Aber er produzierte Formeln. Formeln im Überfluss. Formeln, die zu einem großen Teil Ausblicke in unerforschtes Gebiet weit vor der damaligen mathematischen Forschung waren. Die Formel für Π ist eine unter vielen; ihre Bedeutung wurde erst lange nach seinem Tod erkannt. Der Engländer G. H. Hardy (1877–1947), selbst ein Star-Mathematiker seiner Zeit, hatte Ramanujan gewissermaßen entdeckt und nach England geholt. Aber es war das spleenige England kurz nach der Jahrhundertwende, das steife England der gesellschaftlichen Riten, und es war das dunkle England des Ersten Weltkriegs. Ramanujan erhielt zwar hohe Ehrungen, zum Beispiel die Aufnahme in die Royal Academy, aber er wurde krank, todkrank. Er konnte nach dem Ersten Weltkrieg nach Indien zurückkehren, lebte dort aber nur noch kurze Zeit und starb im Jahre 1920 in Madras. Π Das ist die linke Seite der Gleichung. Hier steht die Zahl, die wir bestimmen wollen. Diese Seite der Gleichung sieht einfach aus, aber im Grunde ist sie ja auch nur eine Frage. Denn Π ist die große Unbekannte. Wenn wir etwas über wissen wollen, dann müssen wir rechte Seite der Gleichung zu Rate ziehen. Wie gut die Gleichung ist, zeigt sich daran, wie viel man aus rechten Seite über Π erfahren kann. = Am Gleichheitszeichen erkennen wir, dass es sich um eine Gleichung handelt. Es setzt die linke Seite und die rechte Seite der Gleichung in Beziehung. Nicht in irgendeine Beziehung, sondern in die engste Beziehung überhaupt: die Gleichheit. Die beiden Seiten gehören nicht nur so eng zusammen wie zwei Liebende, sie sind nicht nur so ähnlich wie eineiige Zwillinge, sie gleichen sich nicht nur wie ein Ei dem andern, sondern sie sind gleich. Identisch. Eine Gleichung sagt nicht mehr und nicht weniger, als dass die linke Seite gleich der rechten Seite ist. Auf beiden Seiten steht eine Zahl, und die Gleichung drückt aus, dass die Zahl auf der linken Seite gleich der Zahl auf der rechten Seite ist. Nicht ungefähr, sondern exakt. Das klingt banal. Die Power, die in einer Gleichung steckt, erkennt man, wenn man die Seiten einzeln betrachtet. Die linke Seite sieht noch überschaubar aus, während rechts ein unübersichtliches Formelkonglomerat lauert. Aber diese Vorstellung ist falsch. In Wirklichkeit ist es so, dass die rechte Seite ganz einfach ist – jedenfalls so, dass wir sie ausrechnen können. Vielleicht nur mit Mühe, aber immerhin. Links steht dagegen im wesentlichen nur ein Symbol für die Zahl, die wir berechnen wollen: Π. Diese Gleichung sagt: Wenn Du Π bestimmen möchtest, dann kannst Du das machen, indem Du die rechte Seite dieser Gleichung berechnest. Eine klare Anweisung. √ Das Wurzelzeichen findet sich auf jedem Taschenrechner. Wenn man erst 8 und dann die Wurzeltaste drückt, zeigt einem der Rechner die Zahl 2,828427125 an. Diese Zahl hat Eigenschaft, dass sie, mit sich selbst multipliziert, wieder die Ausgangszahl 8 ergibt. Die Zahl √8 gesprochen »Wurzel acht«) ist nicht exakt gleich 2,828427125. Sie ist eine irrationale Zahl. Das bedeutet, dass unendlich viele Dezimalstellen aufweist, die sich auch nicht von einer gewissen Stelle an wiederholen. ∞ Diese liegende 8 ist das Zeichen für Unendlich. In der Mathematik spielt die Unendlichkeit eine wichtige Rolle. Die meisten Aussagen der Mathematik beziehen sich auf unendlich viele Objekte: alle Zahlen, alle Primzahlen, alle Nachkommastellen von Π, alle rechtwinkligen Dreicke usw. Manche sagen, Mathematik sei die einzige Wissenschaft, die objektiv überprüfbare Aussagen über die Unendlichkeit machen kann. Das geht so weit, dass der Mathematiker Hermann Weyl (1885-1955) die Mathematik »die Wissenschaft des Unendlichen« genannt hat. Er sagt: Die Mathematiker erfinden endliche sprachliche Konstrukte, mit denen sie Fragen beantworten können, die wesenhaft unendlich sind. Das sei ihre »glory«. ∑ Das ist ein griechischer Buchstabe, das große Sigma. Es schreckt manche ab. Aber seine Bedeutung ist simpel, und als Element der mathematischen Sprache ist es ein geniales Instrument: Es erlaubt, unendlich viele Zahlen auf einen Streich darzustellen. Unter dem Sigma steht etwas: n = 0. Das bedeutet: Ich muss in dem folgenden Ausdruck zunächst für n die Zahl 0 einsetzen. Wenn man das macht, erhält man eine Zahl. Dann setzt man in den Ausdruck n =1 ein und erhält wieder eine Zahl. Dann setzt man n = 2 ein, erhält wieder eine Zahl. Und alle diese Zahlen werden zusammengezählt, also summiert (daher Sigma!). Wie lange muss man das machen? Das steht über dem Sigma-Zeichen: Unendlich. Das heißt: nie aufhören. Nicht bei einer Billion, nicht bei einer Quadrillion, nicht bei einer Quintilliarde. Nie. ! Das Zeichen für »Fakultät«. 3! heißt »Drei Fakultät«, n! daher »n Fakultät«. Das ist eine Kurzschreibweise. 12! bedeutet: Multi- pliziere alle natürlichen Zahlen von 12 bis 1, das heißt: 12! = 12·11·10·9·8·7·6·5·4·3·2·1. Was das ergibt, kann auch der billigste Taschenrechner ausrechnen. (4n)! bedeutet: Berechne zunächst 4n und wende darauf das Fakultätszeichen an. Für n erhält man daher (4·3)! = 12! = 479.001.600. Merkwürdige Zahlen Wie kommt jemand denn auf solche Zahlen und überhaupt auf so eine Formel? Das fällt doch keinem normalen Menschen ein! So ist es wohl. Diese Formel findet man nicht zufällig. Auch nicht durch systematisches Probieren. »Man« findet diese Formel überhaupt nicht. Sie ist der Gedankenblitz eines Mathematikers: Shrinivasa Ramanujan war mit den Zahlen auf du und du. Er war Tag und Nacht auf der Suche nach ihren Geheimnissen. Er suchte Eigenschaften von bestimmten Zahlen, Beziehungen zwischen Zahlen und vieles mehr. Es wurde von ihm erzählt, er sei mit den Zahlen befreundet. Und zwar nicht pauschal mit allen, sondern mit jeder einzelnen. Er kannte die Eigenheiten, die Besonderheiten und die Schönheit jeder einzelnen Zahl. Außerdem war er unglaublich empfänglich für Inspirationen. So fand er viele Formeln, die Eigenschaften von Zahlen ausdrücken. Er war dermaßen genial, dass er die Formeln einfach »sah«. Formale Beweise für ihre Richtigkeit waren ihm lästig, denn sie lenkten ihn nur von neuen Inspirationen ab. n-1 Gesprochen: »hoch minus eins«. Das ist der Kehrwert. Zum Beispiel ist 3-1 = 1/3 oder 10-1 = 0,1 oder (0,2)-1 = 5. In unserer Π-Formel bedeutet das, dass man zunächst den Ausdruck in der großen Klammer berechnet und dann den Kehrwert davon bestimmt. Schrittweise Annäherung: Mit dieser Formel lässt sich der Wert von Π annähernd bestimmen – mit beliebiger Genauigkeit. Mit jedem Schritt werden weitere Stellen errechnet. Bei dieser Formel sind es pro Schritt acht neue Stellen hinter dem Komma. Aber die Zahl Π wird nie fertig dastehen. Auch wenn man noch so weit geht: Es handelt sich immer nur um eine Approximation – allerdings eine, die rasant besser wird. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.01.2002 In der Bretagne Die französische Atlantikküste eBook Umfang: ca. 189 Seiten Mit 14 Abbildungen April 2013 ISBN (ePub): 978-3-89843-261-0 ISBN (PDF): 978-3-89843-262-7 Preis: 9,99 € Poullaouën: Der Kuhschwanz auf dem Altar bringt Segen Und die Gavotte schenkt Glück: Zum Tanzen in die Bretagne Von Elke Sturmhoebel D ie Dorfbewohner haben einander untergehakt. Hände fassen Hände. Alles, was Beine hat in Poullaouën, ist zur Nacht der Gavotte gekommen, denn jeder kann sie tanzen. Die Schrittfolge im Viervierteltakt ist kinderleicht: 1-2-3 nach links, 1-2-3 nach vorn. Kurz-kurz-lang, kurz-kurz-lang. Das halbe Dorf tanzt wie in Trance. Die Menschen gehen ganz im Rhythmus auf. Drei Schritte zur Seite, drei nach vorn. Die »Poullaouënnaise« schmiedet die Dorfgemeinschaft zusammen, die Gavotte verbindet. Auch für Fremde öffnet sich die Kette. Man lächelt einander zu, spricht mit den Augen. Bei der lauten Musik kommen Schwierigkeiten mit der Verständigung gar nicht erst auf. Ursprünglich tanzte die Landbevölkerung die Gavotte – vornehmlich im Winter, um sich aufzuwärmen. Durch den Komponisten Jean-Baptiste Lully gelangte der Tanz in die Ballettmusik für den Sonnenkönig und wurde Mode am Hofe Ludwig XIV. Getanzt wurde in barocker Manier: paarweise und in Kolonnenaufstellung. Heute ist die Gavotte wieder ein Volkstanz und Oberbegriff für mehrere Kreis- und Kettentänze im Kreiz Breizh, dem Inneren der Bretagne. In Poullaouën, einem Dorf mit knapp anderthalbtausend Einwohnern mitten im grünen Hügelland, wird die Gavotte montagne getanzt. Dort ist die »Nuit de la Gavotte« im September die schönste Nacht des Jahres. Die Musiker auf der Bühne wechseln alle halbe Stunde. Beim »Kan ha Diskan« schmettern Gesangsduos unisono das Lied zur Gavotte. Dann wieder liefern sich Klarinetten, auf Bretonisch »Treujenn Gaol« (Kohlstrunk), ein Gefecht und bringen die Tänzer auf Trab. Und wenn Sonneurs mit Binioù und Bombarde loslegen, ist an Gespräche im Saal überhaupt nicht mehr zu denken. Die durchdringende Schalmei führt die Melodie an und wird vom Binioù kozh, einem Verwandten des schottischen Dudelsacks, begleitet. Binioù und Bombarde gehören zu den wichtigsten Instrumenten in der bretonischen Volksmusik. Auf einer traditionellen Hochzeit spielen Sonneurs zum Tanz auf. Bei Prozessionen marschieren sie voraus, damit auch das Ende des Festzugs noch etwas von der Musik mitbekommt. In alter Zeit saßen die Sonneurs rittlings hoch oben auf einem Cidrefass, und unten wurde getanzt, erzählt Yvon Le Coant, der in dem kleinen Badeort Binic die Instrumente Binioù und Bombarde in Handarbeit baut. Die Mundstücke der Bombarden, die er aus verschiedenen Edelhölzern schnitzt, haben ein ganz besonderes Merkmal: Sie spiegeln die bauchige Fassform wider. Seit mehr als dreißig Jahren beliefert Le Coant Musiker in ganz Europa. Lange habe es gedauert, in die eingeschworenen Folk-Kreise einzudringen: »C'était la galère.« Knochenarbeit war das. Mit rund viertausend Konzerten und dreihundert Festivals im Jahr ist die Bretagne eine Hochburg der Musik. Die Bandbreite reicht vom »Festival Interceltique« in Lorient, das Hunderttausende anzieht, bis zum kleinen »Fest-noz«, dem Tanzvergnügen auf dem Lande. Mehr als die Hälfte des Schallplattenangebots traditioneller französischer Musik wird heute in der Bretagne produziert. In bretonischen Pipebands, den Bagadoù, spielen insgesamt etwa achttausend Sonneurs. An jedem ersten September-Wochenende seit nunmehr fünfzig Jahren wetteifern Musiker um das »Championnat des Sonneurs« in dem Weiler Gourin, die besten werden unter Beteiligung des Publikums gekürt. Vor fünfzig Jahren lag die Kultur brach in der Bretagne. Als man in den vierziger Jahren versuchte, eine Blaskapelle nach schottischem Vorbild aufzubauen, meldeten sich in der ganzen Region nicht mehr als fünfzehn Sonneurs. »Vor dem Krieg konnte man hier nicht leben«, bekräftigt die Stadtführerin Eveline Gardon in Dinan. Erdrückend sei die Armut gewesen, und oft reichte das Geld allenfalls für ein paar Pfannkuchen aus Buchweizenmehl. Für rückständig und frömmelnd hielt man die Bretonen, die seltsame Heilige verehrten. »Les Ploucs« wurden sie im übrigen Frankreich genannt – eine Anspielung auf die Namen Tausender Dörfer, die mit den Buchstaben »Pl« beginnen und damit auf die Pfarrei verweisen. Noch bis 1951 war es den Schülern in der Bretagne bei Strafe verboten, ihre Sprache zu sprechen. Es kann nicht verwundern, dass den Bretonen die Freude an der Musik verging. Erst Alan Stivell, der bretonisch singende Barde mit der keltischen Harfe, gab seinen Landsleuten ihre Identität zurück, als er im Jahre 1972 in der Pariser Konzerthalle Olympia unter tosendem Beifall seinen »keltischen Rock« präsentierte. Inzwischen ist die am weitesten im Westen gelegene Region Frankreichs keine Last mehr, sondern Lust: Ferienziel für Millionen. Den ganzen Sommer über wird in der Bretagne musiziert und getanzt. Bei einem Pardon zum Beispiel, dem Prozessionsfest zu Ehren eines der angeblich 7777 Heiligen – die meisten von ihnen wüsste wohl nicht einmal der Papst zu benennen. Der siebenundachtzig Jahre alte Jean-Maria Le Scraigne erinnert sich hingegen noch genau, wie es war, wenn früher alle auf dem Vorplatz der Kirche St.-Herbot die Gavotte tanzten, sobald sie die Büschel von Kuhschwänzen auf den Altar gelegt hatten: Drei Schritte nach links, drei nach vorn. Der Brauch, Schwanzhaare von Rindern zum Weihen in die Kapelle zu bringen, wird in Plonévez-du-Faou immer noch gepflegt, denn der heilige Herbot ist nach wie der Schutzpatron des Viehs. Als er ein kleiner Junge war, sagt Monsieur Le Scraigne, war die Zeremonie noch aufwendiger. Dreimal wurden damals die Kühe und Ochsen um die Kirche getrieben. In Poullaouën bereitet sich der Verein Dans Tro, Bretonisch für Kreistanz, schon Wochen vorher auf die Nacht der Gavotte vor. Am dritten September-Wochenende wird sich dort wieder für einige Stunden alles Leben um die Volksmusik drehen. Am Freitagabend werden »Gwerzioù« vorgetragen. Die keltischen Balladen handeln von Liebe, Treue, Tod und anderen Tragödien – den alten Geschichten eben. Am Samstag finden Unterweisungen im Wech- selgesang »Kan ha Diskan« statt, um das bretonische Liedgut einzuüben. Mancher Kursteilnehmer kommt aus Paris und sogar von noch weiter her, um den Gavottegesang unter Anleitung einer Musikpädagogin zu erlernen. Die Texte der bis zu fünfzig Strophen langen Lieder sind allgemein bekannt, doch Noten oder gar Partituren für den »Kan ha Diskan« gibt es nicht. Prominentes Gründungsmitglied des Vereins ist Erik Marchand. Der Mittfünfziger wohnt in Poullaouën und ist einer der bekanntesten und eigenwilligsten Interpreten des Gwerz-Gesangs. Als Sänger und Klarinettist spielt er in mehreren Formationen zusammen mit Jazzund Rockmusikern, oft auch mit Instrumentalisten aus Rumänien. Keltischer Folk sei die Basis seiner Kompositionen, sagt Marchand. Die modale Musik habe viele Gemeinsamkeiten mit der arabischen Musik aus Nordafrika, der Türkei oder Persien. Erik Marchand gilt als experimentierfreudig. Die Volksmusik, die er meint, sei keine volkstümliche Musik, sondern ein Kulturgut, das sich weiterentwickelt. Kein Sommerwochenende in der Bretagne, an dem nicht in irgendeinem Weiler ein Fest-noz stattfinden würde. Die Gavotte aber wird ausschließlich im »Argoat« getanzt, dem Hinterland der Bretagne. Vom »Land der Wälder«, so lautet die Übersetzung des Begriffs, ist allerdings nicht mehr viel übrig. Fast alle Bäume wurden in früheren Zeiten für den Schiffbau abgeholzt. Geblieben ist ein Landstrich mit Hügeln, hübschen Dörfern aus Schiefer und Granit, und grünen Wiesen. Auch in der Gemeinde Huelgoat steht der namensgebende Hochwald nicht mehr. Stattdessen liegen überall Felsen herum. Korrigans, lustige Kobolde, tanzten des Nachts singend zwischen den Granit- blöcken, sagt Jean-Maria Le Scraigne, der Besucher herumführt. Wie die zum Teil haushohen Felsen hierherkamen, weiß niemand. Vielleicht habe ein Riese auf der Durchreise das Durcheinander angerichtet, nachdem ihm die Einheimischen nur Buchweizenpfannkuchen vorsetzten. Bevor er nach Irland übersetzte, soll er wütend Steine aus dem Finistère nach Huelgoat geworfen haben. Vielleicht sei hier in Urzeiten aber auch das Meer gewesen, und davon seien nur die Felsen übrig. Sicher indes ist: Nirgendwo im Argoat ist Armor weit entfernt. »Armor«, das Land des Meers, ist das Département Côtes d'Armor. An der dreihundertfünfzig Kilometer langen Küste am Ärmelkanal reihen sich hübsche Seebäder und familienfreundliche Badeorte aneinander. In Paimpol machen Plakate auf das Festival du Chant de Marin im August aufmerksam. Alle zwei Jahre werden dort Seemannslieder gesungen. Die klagenden Schreie der Möwen am Hafen tönen wie Bombarden. Diese Klänge vernehmen Spaziergänger auf dem Küstenwanderweg GR 34 ständig. Der einstige Zöllnerpfad – im siebzehnten Jahrhundert eingerichtet, um den Schmuggel aus England zu unterbinden – säumt die gesamte Bretagne. In Ploumanac'h sonnen sich junge Leute auf rundgeschliffenen rosa Felsblöcken. Das Peitschen der Brandung klingt mitunter wie das asthmatische Pfeifen des Dudelsacks. Das blaue Firmament über der nur neun Kilometer langen Côte de granit rose sieht aus, als tanzten wolkige Schäfchen auf der Himmelswiese. Plouha liegt an der höchsten Steilküste der Bretagne. Die Gemeinde markiert zugleich die Sprachgrenze, östlich davon wird kein Bretonisch mehr gesprochen. In der Kapelle Kermaria-an- Iskuit, direkt an der Straße D 21, bilden Papst, Kaiser, Wucherer, Edelmann, Knappe, Bauer, Handwerker und viele andere eine Menschenkette, die sich zu einem makabren Reigen schließt. Denn auch ein Skelett mit hämischem Grinsen hat sich unter die siebenundvierzig Gestalten gemischt. Ungeachtet von Stand und Herkunft zieht der Tod jeden in seinen Reigen, wollen die Fresken aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert sagen. Denn im Tanz sind alle gleich. Reise-Tipps: Tanz und Musik: Rencontres Internationales de Harpe Celtique, immer im Juli in Dinan; Festival du Chant de Marin, im August in Paimpol; Festival Interceltique, im August in Lorient; Nuit de la Gavotte, im September in Poullaouën. Informationen im Internet: www.rendezvousenfrance.com, www.bretagnereisen.de, www.urlaub-bretagne.net. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2007 Dänemark von Belt bis Sund Reiselesebuch Dänemark eBook Umfang: ca. 175 Seiten. Mit 30 Abbildungen Juni 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-298-6 ISBN PDF: 978-3-89843-297-9 Preis: 9,99 € Forellenfischen auf Fünen: Ein Plan B fürs Abendessen Meerforellen zu fischen ist nicht leicht. Zwar kümmert man sich rund um Fünen gut um Bestand und Lebensraum, doch die sensiblen Tiere beißen nicht bei jedem an. Von Elke Sturmhoebel Z uckt da was? – Nein, wieder nichts! Anstatt einer prächtigen Meerforelle baumelt nur ein Bündel Seegras am Haken. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn das Anfängerglück die alte Anglerregel – »Tausendmal werfen, bis eine anbeißt« – widerlegt hätte. Also weiter: Angel auswerfen, Bügel umlegen, kurbeln. Der Füne Flemming Pedersen steht unterstützend zur Seite. »Du machst das richtig gut«, lobt der FishingGuide meine zielgenauen Weitwürfe. Fishing for compliments ist aber nicht genug. Ein kapitaler Fisch sollte es schon sein. Irgendwann wird doch von den fünfhunderttausend Meerforellen, die seit 2001 Jahr für Jahr ausgesetzt werden, mal eine anbeißen. Früh übt sich, wer Forellen fangen will. Fischernachwuchs in fünischer Marina. Foto: Visitdenmark.dk Fünen, die zweitgrößte Insel Dänemarks zwischen Jütland und Seeland, zählt zu den besten Meerforellenrevieren Europas. Das liegt nicht allein an dem Besatz mit Jungfischen aus hiesiger Brut oder an den günstigen Strömungsbedingungen entlang der 1100 Kilometer langen Küste. Als besonders befruchtend erwies sich das fünische Meerforellenprojekt, das entwickelt wurde, um den Lebensraum der Fische zu verbessern. Seit 1990 werden Wasserläufe renaturiert und wieder passierbar gemacht. Denn wie auch die Lachse wandern Meerforellen zum Laichen an den Ort ihrer Geburt zurück. Fünfundzwanzig Flüsse und Bäche sind auf der Ostseeinsel inzwischen barrierefrei. Auf vierhundert Kilometern haben die Salmoniden somit freie Bahn. Für einen Angler ist eine Meerforelle das höchste Glück auf Erden. Am besten gleich einen Kaventsmann von achtzig Zentimeter Länge. Kein leichtes Unterfangen – die zum Fisch des Jahres 2013 gekürte Meerforelle hat einige Tricks auf Lager, sich dem Angler zu entziehen. Das Geschöpf ist ausgesprochen sensibel und noch dazu wetterfühlig. Salmo trutta trutta hat es gern wechselnd bewölkt und liebt leichten auflandigen Wind. Schlägt das Wetter um, wird sie depressiv und beißt schlecht. Es braucht den richtigen Köder, um ihren Appetit anzuregen. Ob Blinker, Wobbler, Spinner oder Fliege – das hängt eher vom Geschmack des Anglers ab. Hat eine silberblanke Meerforelle endlich zugeschnappt, muss sie wenigstens vierzig Zentimeter lang sein, sonst wird sie behutsam zurückgesetzt. Wir stehen in der Wathose bis zu den Knien im Wasser und werfen unentwegt die Leine aus. Ich habe mich für einen kupferfarbenen Blinker entschieden, zum Anbeißen schön. Sobald der Köder das Wasser berührt, muss er sofort wieder eingeholt werden, denn die Meerforelle schwimmt dicht unter der Wasseroberfläche. »Nicht zu schnell kurbeln«, mahnt Flemming. »Hektik verscheucht die Fische.« Einzig Hornhechte jagten gern der Nahrung hinterher. Langsam merke ich die ungewohnte Betätigung in den Schultern. »Kurbeln und werfen Sie nicht bis zum Bandscheibenvorfall«, war im Angelführer Fünen zu lesen. Für gute Tipps ist man ja immer dankbar. Ewig kann man ohnehin nicht auf der Stelle stehen. Trotz Wathose kriecht die Kälte langsam hoch. Da muss man sich bewegen und sein Glück ein Stück weiter versuchen. Leichter Wind kräuselt das Meer. Fischreiher fliegen über die Bucht. Kormorane hocken auf Pfählen im Wasser und breiten die Flügel aus. Schweinswale habe er noch nicht ausblasen sehen, sagt Flemming und runzelt die Stirn. »Sie treiben sich hier rum, wenn es etwas zu fressen gibt«, erklärt er. Die Meerforellen würden dann in den ufernahen Leopardengrund hechten. Zwischen Sand, Steinen, Seegras und Blasentang fühlten sie sich gut getarnt. Also: Keine Schweinswale, keine Meerforellen. Ergo: Hier können wir lange warten. »Nicht alles, was stinkt, ist tot. Manchmal ist es nur ein Angler«, wird gern gescherzt. Inzwischen ist Angeln in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nach Fußball und Tennis liegt Angeln auf Platz drei der Vereinssportarten. Mehr als dreieinhalb Millionen aktive Angler allein in Deutschland sind ein Wirtschaftsfaktor. Mit Ausrüstung und Outfit lässt sich gut Geld verdienen. Eine einfache Ausstattung kostet wenigstens dreihundert Euro., aber man könnte ebenso das Zehnfache ausgeben. Für die modebewusste Dame sind sogar Angelruten in Pink und Lavendel im Angebot. In den Frauen steckt ohnehin Potential, nur knapp 18 Prozent der angelbegeisterten Deutschen sind weiblich. Dem großen Heer an Petrijüngern hat sich auch der Ferienhausanbieter Novasol zugewendet. Insgesamt 2.700 Fishing-Häuser in Deutschland, Skandinavien, Österreich, Polen und Ungarn, oft mit Steg und eigenem Boot, stehen zur Auswahl. Allein in Däne- mark sind mehr als neunhundert Urlaubsdomizile in Ufernähe verzeichnet. Oft ausgestattet mit Filetierplatz, Trockenraum für Angelzeug und Wathose sowie einer großen Gefriertruhe. Zudem informiert der Katalog, welche Fische vor Ort wann beißen. Wo sie beißen, steht dort allerdings nicht, das weiß aber gegebenenfalls der Fishing-Guide. So einer wie Flemming Pedersen. Er hat Erfahrung, immerhin angelt er fünfzig bis hundert Meerforellen im Jahr. Er holt sein Handy heraus und zeigt ein Foto von sich mit einem prächtigen Burschen im Arm. Schöner noch als Angeln, sagt Flemming, sei es, Meerforellen beim Laichgeschäft zu beobachten. Zu sehen, wie das Weibchen im braunen Laichkleid mit der Schwanzflosse eine Grube ins Kiesbett gräbt, die Eier ablegt, die anschließend vom Männchen besamt werden. Manchmal gibt das Männchen nicht acht, weil er sich seiner Sache sicher fühlt. Daher passiere es, dass ihm ein Bachforellenjüngling aus dem Hinterhalt dazwischenfunkt, erzählt Flemming. So ein junger Spund, gerade geschlechtsreif, will ja auch mal ran. Die Schonzeit für Meerforellen auf dem Laichweg ist vom 16. November bis 15. Januar. Nach dem Abstieg ins Meer sind die Fische abgekämpft und ausgehungert. Für Angler wären sie nun leichte Beute. Doch wer will schon so ein Exemplar, das kaum Fleisch auf den Gräten hat und auch kulinarisch kein Genuss ist? Ende Februar, Anfang März, wenn sich die Meerforellen mit Garnelen, Krebstieren, Insekten und kleinen Fischen aufgepäppelt haben, lohnt es sich wieder, die Rute auszuwerfen. Doch mit dem Frühlingsvollmond ist erneut Schluss. Dann laichen nämlich die Seeringelwürmer, schwimmen zu Abertausenden im freien Wasser und den Meerforellen geradewegs ins Maul. Klar, dass jeglicher Blinker verschmäht wird. Das große Fressen dauert aber nur drei Tage. Danach beißen die Meerforellen wieder, bis es ihnen im seichten Küstengewässer zu warm wird und sie weiter herausschwimmen. Auch der Herbst ist eine gute Zeit. Jedoch haben sich schon bei vielen Meerforellen die Flanken braun gefärbt. Sie werden dann demnächst ihre Laichgründe ansteuern. Und wer würde schon eine Meerforelle auf dem beschwerlichen Weg zur Hochzeit abfangen wollen? Bleibt die Hoffnung auf einen flotten Grönländer am Haken, der schon groß, für Sex aber noch zu jung ist. Oder einen Überspringer, der mit dem Laichen mal aussetzt – die Laune der Natur sichert so das Überleben der Art. Wir hatten bisher kein Glück. Flemming brauchte seinen Kescher nicht hervorzuholen. Für den geplanten Grillabend wollen wir noch mal unser Bestes geben und wünschen uns gegenseitig »Knæk og Bræk« – etwa Knicken und Brechen, dänisch für »Petri Heil!« Die Männer zeigen vollen Einsatz, sie gehen bis zum Bauchnabel ins Wasser und nehmen in Kauf, dass Dünungswellen in die Wathose schwappen. Dazu sind wir Frauen bei aller Liebe nicht bereit und verdrücken uns in seichtes Gewässer. Hat nichts genützt. Alle hatten mehr oder weniger Fischkontakt, aber keinen am Haken. Fische werden wir uns nun im Laden besorgen müssen, der hat allerdings schon zu. Bleiben für den Grill nur noch Koteletts aus der Kühlung. Fünische Forellen Den staatlichen Angelschein für Küstenfischerei gibt es in Postämtern, Touristenbüros sowie im Internet unter www.fisketegn.dk. Die Jahreskarte kostet 19 Euro, die Wochenkarte 13 Euro, die Tageskarte 5 Euro. Ein Fishing-Guide für vier Personen kostet etwa 335 Euro pro Tag. Für vier Stunden 200 Euro, für jede weitere Stunde 40 Euro. Die »Seatrout open«, der Wettbewerb um die größte Meerforelle auf Fünen, findet jährlich im April und im Oktober statt: www.go-fishing.dk. Den Katalog mit Angler-Häusern gibt es bei Novasol-Fishing, Gotenstraße 11, 20097 Hamburg, Telefon: 040/688715177. Das gesamte Angebot findet sich auch unter www.novasol-fishing.de. Alles Wissenswerte über Meerforellen steht im Internet auf www.seatrout.dk (auch deutsch) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.2013 Alternative Heizanlagen Renovieren, aber richtig Dossier (PDF) Umfang: ca. 25 Seiten Mit 2 Abbildungen September 2014 ISBN: 978-3-89843-299-3 Preis: 4,99 € Wir verstecken einen Eisspeicher im Garten Mitten im Sommer ans Heizen denken. Warum nicht. Kalt wird es wieder schneller, als uns lieb ist. Zudem lassen sich alte Anlagen jetzt ohne Komfortverlust tauschen – und die eine oder andere Heiztechnik schafft es, fast nebenbei, zu kühlen. Von Georg Küffner Ö l, Gas, Strom, Holz oder Umweltwärme? Auf den ersten Blick scheint die Suche nach dem »optimalen Brennstoff« und damit indirekt auch der »ultimativ besten« Heiztechnik keine große Herausforderung zu sein. Doch wer für ein neu zu bauendes Haus oder sein in die Jahre gekommenes Eigenheim aus dem nicht gerade kleinen Strauß angebotener Lösungen eine auswählen muss, erfährt schnell, dass es Patentrezepte nicht gibt. Die versprechen zwar gerne die zu Rate gezogenen, meist von Interessen gelenkten »Experten«, doch wer sich in diese nicht ganz einfache Materie einarbeitet, der merkt rasch, dass jede Immobilie nach einem maßgeschneiderten Konzept verlangt. So kann etwa der Bewohner eines nur schlecht wärmeisolierten und nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand zu dämmenden Hauses die Vorzüge der heute als Stand der Technik geltenden Brennwerttechnik nur zum Teil ausschöpfen, ist er doch auf vergleichsweise hohe Heizwasser-Vorlauftemperaturen angewiesen, will er seine Wohnstube warm bekommen. Mit vergleichsweise hohen Systemtemperaturen lässt sich jedoch der besagte Brennwerteffekt gar nicht erzielen – das Ausnutzen der mit den Rauchgasen in den Schornstein strömenden Kondensatwärme. Denn will man die »ernten«, darf das aus den Heizkörpern zurück zum Kessel fließende Heizwasser nicht wärmer als 55 Grad sein. Für welche Heiztechnik soll man sich entscheiden? Wer sich diese Frage stellt, sieht sich rasch mit einer unübersichtlichen Gemengelage aus Vor- und Nachteilen konfrontiert, die aufzulösen so manchen Bauherrn überfordert. Bevor man die falsche Entscheidung trifft, macht man lieber nichts. Nur so ist zu erklären, dass in deutschen Heizungskellern jede Menge Oldtimer vor sich hin arbeiten und deutlich mehr Öl und Gas schlucken, als dies neue Anlagen tun würden. Erst wenn es gar nicht anders geht, entweder der Vorordnungsgeber bestimmten Anlagetypen den Weiterbetrieb versagt oder die Kessel schlicht den Geist aufgeben, wird investiert. Ganz vorne in der Gunst der Kunden rangieren öl- und gasbetriebene Anlagen, sie haben aber den »Nachteil«, auf endliche fossile Energieträger angewiesen zu sein – und »schädliches« CO2 auszustoßen. Dieses Manko umschifft, wer sich für das Heizen mit Umweltwärme entscheidet. Doch auch hier liegen die Dinge deutlich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint, so werden etwa die Kompressoren von Wärmepumpen mit Hilfe von elektrischem Strom angetrieben, so dass deren Umweltfreundlichkeit von der Zusammensetzung des für die Stromerzeugung verantwortlichen Kraftwerkparks – wie von der Leistungsfähigkeit (Wirkungsgrad) der jeweiligen Anlage abhängt. Und nicht jede Wärmepumpe arbeitet so ökologisch wie es in den Prospekten der Hersteller mitunter recht pauschal angepriesen wird. Bei Wärmepumpen – und das gilt vor allem für die Nachrüstung von Altimmobilien – ist für die Effektivität des Gesamtsystems das Zusammenspiel mit Radiatoren und Umwälzpumpe ganz entscheidend. Wichtig ist, auf das Leistungsvermögen der anzuschaffenden Wärmepumpe zu achten. Denn wählt man hier eine oder zwei Nummern zu klein, werden bei einigen Wärmepumpen an kalten Tagen elektrische Widerstandsheizstäbe (Tauchsieder) zugeschaltet, deren Betrieb nur dann gestattet sein sollte, wenn sie mit Ökostrom befeuert werden. Und auch das ist wichtig: Für den Betrieb einer Wärmepumpe müssen nicht zwangsläufig Löcher (Erdsonden) in den Boden gebohrt werden, um an die hier im Erdreich gespeicherte Sonnenwärme heranzukommen. In den gemäßigten Zonen Deutschlands (etwa dem Breisgau) erzielt man auch mit Luft-Wasser-Wärmepumpen gute Ergebnisse. Und für Bauherren, denen die Behörden aus Grundwasserschutzgründen das Bohren von Erdsondenlöchern untersagen, ist der sogenannte Eisspeicher eine interessante Option: Wie bei klassischen Wärmespeichern, die auf eine effektive (Wärme-)Isolierung angewiesen sind, übernimmt der ungedämmte, einer klassischen Wasserzisterne ähnliche Eisspeicher die Aufgabe, die mit Hilfe von Solar-Kollektoren eingefangene Sonnenwärme zu speichern. Die Temperatur des Speicherwassers übersteigt, da der unter der Grasnarbe des Vorgartens zu versteckende Tank nicht isoliert ist, kaum die 20-Grad-Grenze. Muss sie auch nicht, denn das Prinzip des Eisspeichers setzt auf die Kristallisationswärme, die beim Phasenübergang von flüssig zu fest anfällt. Davon fällt reichlich an. Denn die freigesetzte Erstarrungswärme, wie dieser Zustandswechsel auch genannt wird, entspricht der Energiemenge, die man benötigt, um Wasser von null auf 80 Grad zu erhitzen. Oder anders ausgedrückt: Um 0,126 Kubikmeter Eis von null Grad in gleich kaltes Wasser umzuwandeln, ist eine Energiemenge erforderlich, die einem Liter Heizöl entspricht. Den im Garten sieht man nicht: Der Eisspeicher verschwindet unter die Erde. Zusammengefasst bedeutet das, meist gegen Ende der Heizperiode hat die Wärmepumpe so viel Wärme aus dem Speicher geholt, dass der beginnt durchzufrieren. Erst wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, muss entweder nach dem Tauchsiederprinzip elektrisch zugeheizt werden – oder man nimmt eine kleine Gastherme in Betrieb, die man als Leistungsreserve vorhält. Ein weiterer Vorteil dieses Systems: Im späten Frühjahr und Sommer kann der Eisspeicher zum Kühlen der Wohnstube genutzt werden. Dazu wird nicht Heizwasser, sondern gekühltes Eiswasser durch das Rohrsystem der Fußbodenheizung geschickt. Innovativ, aber noch keineswegs etabliert – zumindest für den Einsatz im Ein- und Zweifamilienhaus – sind Mikro-Heizkraftwerke. In Industrie und bei Stadtwerken hat sich die auch als Kraft-WärmeKopplung bekannte Technik seit langem bewährt. Im Leistungsbereich von wenigen kW ist man jedoch über erste Achtungserfolge nicht hinausgekommen. Zwar bieten mehrere Hersteller die meist von (außen befeuerten) Stirlingmotoren angetriebenen Generatoren – die Abwärme nutzt man zum Heizen – an, doch eine ernst zu nehmende Konkurrenz zur etablierten Heiztechnik ist hier noch nicht entstanden. Das kann sich ändern, wie auch BrennstoffzellenHeizungen ganz langsam in den Markt drängen. Der Grund: Mit beiden Techniken, dem Mikro-BHKW als auch der Brennstoffzellen-Heizung kann man seinen Strom selbst erzeugen und sich damit vom Strommarkt mit tendenziell weiter steigenden Preisen abkoppeln. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.7.2014 Auf den finnischen Schären Reiselesebuch Ostsee eBook ca. 300 Seiten Mit 30 Abbildungen und zahlreichen Reisetipps. Mai 2012 ISBN (ePub): 978-3-89843-165-1 ISBN (PDF): 978-3-89843-160-6 Preis: 14,99 € Anstrengend sind nicht nur die Mücken Die finnischen Schäreninseln kann man mit dem Boot erkunden, aber auch mit dem Fahrrad. Dann zeigt sich das Inselreich von seiner romantischen Seite. Doch dafür braucht es kräftige Waden. Von Matthias Hannemann D ie Dämmerung brach herein und Lauri nahm die Beine von den Pedalen. Er postierte sein Rad am Waldrand. Auch diejenigen stoppten, die hinter ihm fuhren, und legten die Räder ins Gras. Ein Elch, dachten sie. Und an den Schnaps, den sie eben noch getrunken hatten, zum Abschluss der ersten Etappe. Also folgten sie Lauri auch jetzt, stumm ins Gebüsch sich schlagend, einen Hügel hinauf, bis Lauri wieder stehenblieb. Und triumphierte. Denn das hier war größer, bedeutender als jeder Elch. Es war der Beweis dafür, dass unsere Radtour von Turku in die Schärenwelt sich irgendwie natürlich in Finnlands Traditionen einfügte: Vor uns lag ein Stück Fels, vor Jahrtausenden zu einer ebenen Scheibe geklopft und von Menschenhand so kreisförmig mit Steinen belegt, dass alle Skeptiker verstummen müssen, die geglaubt hatten, man habe hier dem Rad nicht schon immer gehuldigt. »Dreiundzwanzig«, sagte Lauri, unser Fahrradscout aus Turku, »hier in den Schären liegen dreiundzwanzig solche Kreisformationen, die aussehen wie ein großes Rad.« Und kletterte wieder zu seinem Rad hinunter, trotzig fast, um die letzten Meter bis zur Pension in Nagu vorwegzurollen. Dort machte er sein Fahrrad vor den Holzwänden fest und verschwand in einem der kargen Zimmer, die nach Orten benannt sind wie die Insel »Bengtskär«, auf der sich der schönste aller Leuchttürme der Ostsee findet. Niemand sollte den Finnen vorwerfen können, ihre Liebe zum Rad sei noch recht jung und die Wurzeln dieser Liebe unergründlich. Hatten wir vielleicht allzu kritisch geschaut, als uns Lauri in Turku auf den Weg brachte? Dann tut es uns leid. Denn die Küste vor Turku ist ein wirklich schönes Fahrradgebiet. Die kargen kleinen und dichtbewaldeten größeren Inseln nahe der Åland-Inseln sind so zersplittert, als habe der russische Bär beim Aufräumen ein großes Stück Natur zertrümmert und die hübschen Scherben, um Platz zu schaffen, einfach in die Fahrrinne zwischen Finnland und Schweden gekehrt. Auf den Åland-Inseln gibt es wundervolle Wanderwege entlang der Küsten. Hier ein Picknickplatz in der Nähe von Mariehamn auf Fasta Åland. Foto: © Hans Peter Trötscher Ohne eigenes Segelboot freilich, ohne einen Einheimischen, der die Badefelsen am Wasser kennt, ist dieses Schärenpuzzle aus zwanzigtausend Teilen kaum zu erfassen. Den Sommersitz der finnischen Präsidenten ausgenommen, die seit je im Schutze der Inseln ihre Rosen züchten und das Wasser genießen, war der Südwesten des Landes über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten. Bis der Zusammenbruch der Sowjetunion auch die finnische Wirtschaft mit sich riss, tat sich die Bevölkerung schwer damit, sich für den Tourismus im eigenen Land zu erwärmen und von schwedischen Verhältnissen zu träumen. Denn so idyllisch sich Turku mit seiner Burg, seiner Universität, seinen Ausschankbooten am Fluss und der nahe gelegenen Ostsee auch ausnehmen mag: Die großen Seen Kareliens, die Stillleben mit Kanu und Birkenhain, die das Finnland-Bild im Ausland prägen, treffen für die Regionen an der Südwestspitze des Landes nicht zu. Und meist ist es wohl auch so, dass man an Schweden und nicht Finnland denkt, wenn von der schönen Schärenlandschaft Skandinaviens die Rede ist. Erst vor zehn Jahren wurde die Idee geboren, in der mit Dämmen, Brücken und Fähren vernetzten Inselwelt einen Radrundweg auszuweisen. Eine Tour entlang des »Schärenringwegs« hat es in sich, nicht nur weil reine Fahrradwege in vielen Abschnitten fehlen. Auch topographisch ist die Strecke nicht zu unterschätzen, denn die Inseln der Schärenlandschaft sind nicht flach, sondern kleinere und größere Hügel. Das Radfahren ist eine ewige Kurbelei leicht bergan, an blühenden Feldern und Wäldern vorbei, mit kunstvoll betonierten Brücken über dem Meer als Höhepunkt. Zwar hat Lauri, der Erfinder des Ganzen, natürlich recht, wenn er im Davonschnurren ruft: »Nicht aufgeben, auf jeden Anstieg folgt eine Abfahrt.« Auf viele der Abfahrten folgt sogar eine kurze Fährfahrt mit den kostenpflichtigen weißen oder kostenlosen gelben Fähren. Ihre Abfahrtszeiten sind die größte Herausforderung der Streckenplanung. Das Radfahren geht in die Beine – zumal dann, wenn man Tourenradkönigen wie Lauri ausgeliefert ist. Selbst die gemütlichen Stunden in Höfen, die über Lesezimmer, Bewirtung und Weinkeller verfügen, beklagte er wie sonst nur Landsmann Kimi Räikkönen einen Boxenstopp. Auf der Tagesetappe von Nagu in die Gegend um Velkuaa trieb er uns erst in eine Kirche aus Feldstein, in der einst die älteste Orgel Finnlands, das NaguPositiv, gefunden und nach Helsinki verfrachtet wurde, dann in das Museum eines Modellbaumeisters, der aus Föhre, Weide und Nussbaumholz Hunderte Schärenschiffe schnitzte und ein ebenso einsamer wie penibler Träumer gewesen sein muss. Schließlich schob er, hundert Meter abseits des Asphalts, sein Fahrrad zu einem Turm hinauf, von dem aus tapfere Frauen, genannt »Lottas«, während des Krieges den Himmel bewacht haben. Am Horizont waren eine stumme Passagierfähre und weiße Segel zu sehen, in Richtung Turku die Portalkräne der großen Werften, in denen die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg U-Boote bauen ließen und so die Bestimmungen des Versailler Vertrags heimlich umgingen. Bei alledem warf uns Lauri auch noch, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, Geschichten zu. Jene etwa über den Polarforscher Salomon André, der im Herbst 1893 in Stockholm an einem Heiß- luftballon-Wettbewerb teilnahm und bis in die Schären abtrieb. Oder jene über einen Mann, der den umgekehrten Weg nahm, teils zu Fuß und teils per Schiff. »Lenin?«, keuchte ein Herr mittleren Alters aus unserer Gruppe. »Hat Lauri gerade gesagt, dass Lenin von hier aus über die Ostsee floh?« Prompt sprang ihm die Fahrradkette ab. Doch Lauri, gesegnet mit dem lexikographischen Gedächtnis eines Dolmetschers und durchtrainierten Beinen, war nicht zu stoppen. Schon fuhr er wieder vorn, im Peloton, mit einem fröhlichen Lied in fließendem Deutsch auf den Lippen: »Jetzt fahrn wir übern See, übern See, jetzt fahrn wir übern See«. Nicht einmal die boshaftesten finnischen Mücken konnten ihm etwas anhaben, weil er eine Finnenrüstung trug, um die wir ihn sehr beneideten: lange Ärmel, lange Hosen und zentimeterdicke Socken. »Der Fahrtwind hilft«, sagte er, »und wenn Sie Glück haben, suchen sich die Biester den weniger bekleideten Nachbarn als Opfer aus.« Lauri, das war ein Mann im Glück. Unsere Fahrräder aber schienen immer schwerer zu werden. Spätestens seit sie von der bunten Fähre herabgerollt waren, begannen wir zu ahnen, dass es auch bei einer Radtour am Meer mit einigen munteren Pedalumdrehungen nicht getan ist. Der Wald. Die See. Ein Holzhaus mit Forke. So ging das stundenlang. Erst die Fischersiedlung »Herrankukkaro« bei Rymättylä, ein kleiner Ort, der als Gäste vorzugsweise gestresste Mitarbeiter ideenloser Kreativabteilungen anzieht, bot sich uns die Gelegenheit, die Räder für eine Viertelstunde an einen Holzstoß zu lehnen, durchzuschnaufen und erschöpft, wie wir waren, an unseren Waden zu kratzen. Lange ausruhen konnten wir nicht, denn schon stand dieser Mann mit stämmigem Körper und Bart vor uns: Pentti-Oskari Kangas, ein Saunabetreiber, Mitglied einer Band, die, wenn wir es richtig verstanden, unter dem Namen »Die sieben wahnwitzigen Brüder« für ein denkwürdiges Kapitel der Musikgeschichte Finnlands verantwortlich sein soll. Wir hielten ihn für ein finnisches Gesamtkunstwerk. Doch obwohl er wortkarg blieb und den schwärzesten aller Kaffees nördlich von Istanbul serviert: Irgendwie wollte sich Kangas nicht in unser Finnland-Bild fügen. Er war nüchtern. Er trug ein Hawaiihemd. In seinem Gesicht lag, als er auf dem Steg im Schilf stand und die Arme verschränkte, ein Hauch von Zufriedenheit, so als habe das Easy Going hier unten im Südwesten Finnlands sein Versteck. »Herrankukkaro«, sagte er mit einer so brunnentiefen Stimme, dass die R nur so knarrten, und breitete die Arme aus. Ehrfürchtig folgten wir ihm auf einen der schmalen Pfade, die sich überall auf dem Anwesen zwischen Bäumen, Sträuchern und Saunahütten entlangschlängeln. Ganz so, als seien diejenigen, die hier in Gruppen übernachten und badend und schwitzend konferieren, im Grunde ihres Herzens unterwegs zu einem Verschlag, wie man ihn sich zuletzt als Kind im Wald baute. Im Vorbeigehen bewunderten wir an den Wänden der Holzhütten Schneeschuhe und allerlei rostige Öllampen, am Wasser die vielen Angelruten, Körbe und Netze. Eine der Saunen biete bis zu einhundertzwanzig Menschen Platz und sei eine der größten der Welt, sagte Kangas stolz. Gelegentlich, zumal bei vorwiegend weiblicher Kundschaft, sei sie der Ort, an dem er gemeinsam mit anderen bekannten Jazzmusikern noch einmal seiner Karriere als Musiker nachhänge und Konzerte gebe. Wenn man den bewaldeten Hügel des Anwesens hinaufgeht, ein steiler Weg, der per Fahrrad nicht zu bewältigen ist, steht dort nicht nur ein Hochsitz, umgebaut zum zweigeschossigen Abort mit Blick über die Hütten und Lagerfeuer auf das Wasser, sondern auch ein Baumhaus in Vogelhäuschenform. In seinem Inneren lässt sich die Nacht auf einem luxuriösen Gesundheitsbett erleben, samt drahtloser Internetanbindung, wie überall in der Fischersiedlung. Hübsch anzusehen ist Herrankukkaro, eine Ansammlung finnischer Klischees, vermischt mit einem Hauch von Nostalgie. Wahrscheinlich hat die Siedlung ihre verträumte Aufmachung schlicht dem unternehmerischen Kalkül von Pentti-Oskari Kangas zu verdanken, der auch Kapitän eines eigenen Schärendampfers aus den dreißiger Jahren ist. Es zeugt aber auch davon, dass Finnland, das heute Gummistiefel und morgen Mobiltelefone produziert, wie das Unternehmen Nokia es vormacht, sich eben anzupassen versteht – an die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Zeit. Unsere Bedürfnisse erkannte Kangas zugleich. Er wühlte, kaum dass er uns beim Wadenkratzen erwischt hatte, mit einem Mal in seinen Hosentaschen und kramte ein aus Holz gebautes Vogelhaus hervor: ein winziges, kaum daumengroßes Vogelhaus mit Giebel, Loch und kleiner Stange, das in seiner Handfläche fast zu verschwinden drohte und doch so gut zu diesem holzverschlagenen Ort passte. »Wissen Sie was, Sie nehmen es einfach mit«, sagte Kangas und steckte das Häuschen in eine unserer Satteltaschen. »Wenn jetzt der Sommer kommt«, fügte er dann hinzu, »wird das Haus Ihnen helfen. Wir haben es für die Mücken gebaut, die hier manchmal allgegenwärtig sind.« Wir bedankten uns artig, prüften noch einmal den Luftdruck der Reifen und klappen die Ständer hoch. Ein Mückenhaus? In Finnland ist es manchmal besser, keine schwierigen Fragen zu stellen und einfach zu schweigen. Wie eine Mahnung lag das Mückenhaus im Gepäck, wie eine Warnung, vor der nächsten Fahrradtour durch die finnische Schären nur ja das Mückenspray nicht zu vergessen und keinem Finnen mehr zu glauben, was er erzählt. Denn am Ende zählte jeder von uns mehr als dreiundzwanzig Mückenstiche an jeder Wade, und je stärker wir kratzten, umso schwerer fiel es uns, der Botschaft des Mückenhäuschens mit einer Mischung aus Romantik, Sturheit und Humor zu begegnen – so wie es die Finnen können. Reiseinfos: Radtour im Schärenreich Organisierte Fahrradtouren entlang des Schärenringwegs bietet der Reiseveranstalter Turku Touring an: Turku Touring, Aurakatu 4, 20100 Turku, Telefon: 0 03 58/22 62/74 44, Fax: 0 03 58/22 62/76 79, im Internet: www.turkutouring.fi, E-Mail: turku.touring@turku.fi. Übernachtungen: Ferienhäuser und Pensionen auf den Schären können im Internet unter www.archipelagobooking.fi gebucht werden, Übernachtungen im Fischerdörfchen Herrankukkaro auf der Website www.herrankukkaro.fi. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2008 Karl und Europa: Wirkung bis in die Gegenwart Karl der Große eBook Umfang: ca. 215 Seiten Mit 17 Abbildungen Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung August 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-288-7 ISBN PDF: 978-3-89843-287-0 Preis: 7,99 € Der Mann, der Europa aufräumte Es ist »Karlsjahr«: Überall erinnern Ausstellungen an den Frankenkaiser. Aber haben wir nichts Besseres zu tun? Was verbindet uns mit einem Mann, der vor 1200 Jahren starb? Von Andreas Kilb J etzt feiern sie wieder. Ein »Karlsjahr« ist ausgerufen, nach dem Schillerjahr, dem Kleistjahr, dem Friedrich-der-GroßeJahr, und der Kulturbetrieb eilt zu den Fahnen. Die Beiräte haben getagt, die Kuratoren gesammelt, die Minister ihre Einladungen erhalten, und jetzt regnet es Karls-Ausstellungen: in Aachen, der alten Kaiserstadt, in der auch der unvermeidliche Karlspreis verliehen wird – in diesem Jahr bekommt ihn Ex-EURatspräsident Van Rompuy –, geht es vom Rathaus (»Orte der Macht«) über das neue »Centre Charlemagne« (»Karls Kunst«) bis zur Domschatzkammer (»Verlorene Schätze«); dazu gibt es noch mal drei Museums-Events im rheinischen Pfalzstädtchen Ingelheim, unter den Stichworten »Prachtort«, »Pfalzansichten« und »Personenkult« und natürlich mit »Originalfunden aus der Karolingerzeit«. Das Deutsche Historische Museum in Berlin, dessen KarlsAusstellungsprojekt irgendwann im Planungsstadium erstickt ist, präsentiert Ende Februar einen von den Kuratoren ersatzweise zusammengepuzzelten Essayband namens »Kaiser und Kalifen. Karl der Große und die Mächte am Mittelmeer um 800«, und in Zürich geht am kommenden Sonntag die Themenschau »Karl der Große und die Schweiz« zu Ende. Dafür wird in Graubünden weitergefeiert, wo im Kloster Müstair ein dem heiligen Karl gewidmetes Chorwerk aufgeführt und in einer Freilichtinszenierung am Ufer des Silvaplanersees seiner wagemutigen Überquerung des Umbrailpasses im Winter 774 gedacht werden soll. Eine Sonderausstellung über die Geburt des Schweizer Käses aus dem Geist der karolingischen Reformpolitik wurde in letzter Minute abgesagt. Was soll das alles? Brauchen wir das? Müssen wir uns an Karl den Großen erinnern, nur weil er am 28. Januar vor zwölfhundert Jahren im damals biblischen Alter von sechsundsechzig starb? Haben wir nichts Besseres zu tun, als bei »Europa« immer noch an die Karolinger zu denken, diese Sippe von Schlächtern und Ehebrechern, die sich aus der Hefe des nachrömischen Landadels zu Herrschern des Frankenreichs aufschwang, die alten Merowingerkönige ins Kloster schickte und irgendwann nach 900, von Auszehrung und Familienhader gebeutelt, ruhmlos erlosch? Was haben wir mit Karl am Hut, wenn uns schon Bismarck und der Alte Fritz mittlerweile wie versteinerte Großechsen eines vordigitalen, unmotorisierten, präkambrischen Erdzeitalters erscheinen? Fangen wir mit dem Einfachsten an. Wir, hier im Westen, leben seit Jahrhunderten (und nicht erst seit Anbruch der Moderne) in Groß- und Kleinstädten, die von Stadträten (und nicht von Agas, Muftis, Mandarinen, Emiren, Metropoliten) regiert werden und durch Handelswege verbunden sind; Kirche und Rathaus liegen darin weit auseinander. So wie auf dem ganzen Kontinent: hier die christliche Hauptstadt Rom, dort die Metropolen der Staaten. Hier Kaiser (Kanzler, Premier, Präsident), da Papst. Unser Wissen wird in Bibliotheken und Archiven aufbewahrt, deren älteste auf die Klöster des Mittelalters zurückgehen; unsere Bildung, wenn auch im Verblassen, reicht bis in die griechisch-römische Antike zurück. Unsere Vorstellungen von Politik, Gesellschaft, res publica stammen aus dem römischen Staatsrecht, das von fleißigen Mönchshänden abgeschrieben und vor dem Verschwinden bewahrt wurde. Und nun schauen wir in die Mitte des achten Jahrhunderts nach Christus. Das Imperium der Römer ist verschwunden, an seiner Stelle breiten sich im Westen das fränkische und im Osten das verkleinerte byzantinische Reich aus. Dazwischen eine Menge Wildwuchs: Baiern (sic!), Thüringer, Langobarden, Awaren, Bulgaren. Der Norden, Skandinavien und Russland, ist heidnisch, der ganze Süden, von den Pyrenäen bis zum Indischen Ozean, mohammedanisch. In der Zone dazwischen, die noch nicht »Europa« heißt, ist das antike Wissen teils erstarrt (Byzanz), teils vergessen. Nördlich der Alpen sind die Städte verschwunden oder auf die Größe von Kastellen geschrumpft. Könige können nicht lesen. Priester verstehen das Vaterunser nicht, das sie beten. Irische Mönche gründen Einsiedeleien in römischen Ruinen. Die Schrift- kultur erlischt fast völlig, es gibt so wenige Dokumente, dass spätere Amateurhistoriker, an Papierquellen gewöhnt, die ganze Epoche für gefälscht und erfunden halten. Nacht herrscht im Abendland. Kindkönig des Westens In diese Welt wird Karl, ältester Sohn des fränkischen Hausmeiers Pippin, im April 747 oder 748 hineingeboren. Pippin ist Alleinherrscher in Frankien, aber ihm fehlt die Königswürde. Und nun erlebt der siebenjährige Karl etwas, das zuvor undenkbar schien: Der Papst persönlich, Stephan II., kommt zu Pippin und salbt ihn und seine Söhne zu Königen. Stephan braucht Hilfe gegen die Langobarden, die Rom bedrohen. Er ernennt Pippin zum Schutzherrn der Römer. Und Pippin zieht nach Italien und treibt die Langobarden zurück. Die fränkisch-römische Connection ist etabliert. Das Abendland aber hat einen neuen Anführer: Karl. Denn das historisch Entscheidende und Folgenreiche an der Papstreise nach Reims im Jahr 754 ist nicht, dass sie Pippins Machtstellung legitimiert. Sondern dass sie Karl, seinen Erben, zum Auserwählten macht. Er ist der erste Kindkönig des Westens, der vom Stellvertreter Christi gesalbt wird. Viele werden ihm folgen; aber er erkennt als Erster, was die Geste des Papstes bedeutet: ein neues Reich. In Konstantinopel liegt zur selben Zeit der ikonoklastische Kaiser Konstantin V., den die siegreichen Bilderfreunde später in ihren Chroniken als »Kopronymos«, »Drecksname«, schmähen werden, im Clinch mit seinem Klerus. Ein Putschversuch scheitert. Konstantins Ikonoklasmus verschärft sich. Als er stirbt, hinterlässt er einen kränkelnden Sohn. Dessen Frau Irene ist Bilderverehrerin. Nach dem Tod ihres Gatten übernimmt sie die Macht. Jetzt schlägt das Pendel zurück, der Götzendienst an den Ikonen wird Staatsprogramm. 796 lässt Irene ihren Sohn und Mitherrscher Konstantin blenden und regiert allein. Nicht nur der Papst, dem der übersteigerte Bilderkult suspekt ist, blickt jetzt misstrauisch nach Byzanz. Eine Frau an der Spitze des Reiches ist in römischer Tradition undenkbar. Die Ordnung der Christenheit wankt. Das Imperium braucht einen neuen Beschützer. Es ist die Konstellation, in der Karl die Herrschaft im Frankenreich antritt und ausbaut. Zunächst folgt er der klassischen Hausmachtstrategie seiner Vorgänger: Kriegszüge gegen Mauren (wo er sich vor Saragossa eine blutige Nase holt), Sachsen und Slawen. Aber dann regelt er die italienischen Angelegenheiten – endgültig. 774 wird der letzte Langobardenkönig Desiderius ins Kloster geschickt, Papst Hadrian bestätigt die Übertragung von dessen Krone an die Franken. Jetzt fehlt nur noch die dritte und letzte Stufe der Reichsgründung, die Kaiserkrönung in Rom am Weihnachtstag des Jahres 800. Das alles kann man, sauber nach Themenkreisen sortiert, bei Johannes Fried nachlesen, in einer bei C. H. Beck verlegten Monographie, die sich auf gut 600 Textseiten erfolgreich bemüht, nicht allzu professoral zu wirken (auch wenn ein Satz wie der über die »erfrischende Sinnlichkeit« Karls dann doch genau so altbacken klingt, wie er nicht klingen soll). Vor allem aber kann man bei Fried lesen, wie Karl auf seinen zunächst langsamen, dann aber, nach dem frühen Tod seines Bruders Karlmann, rasanten und unaufhaltsamen Machtzuwachs reagierte. Nämlich wie ein allmächtiger, alles verstehender, allseitig interessierter Bürokrat. Denn Karl will aufräumen in der Welt, die ihm gehorcht. Kaum hat er seinen Hofstaat in Aachen etabliert, fängt er an, alles zu vereinheitlichen, die Sprache, die Bildung, den Kalender, die Verwaltung seiner Hausgüter, die Steuern, die Militärdienste. Aus England, Italien, Nordspanien lässt er Gelehrte nach Aachen kommen, fördert ihren Wettstreit, belohnt sie mit Pfründen. In den Schriften seines Lehrers Alkuin tritt er selbst als Schüler auf, stellt unbedarfte Fragen, lässt sich sophistisch aufs Glatteis führen, staunt über die Möglichkeiten der Dialektik. Kaiser ohne Hauptstadt Zugleich wird er, wenn es ans Eingemachte geht wie bei Kriegsführung und Glaubensbekenntnis, zum Tyrannen, erteilt Befehle, verteilt Strafen. Wer die Messe verfälscht oder heidnischen Praktiken frönt, verliert seinen Kopf, wer die Heerfolge verweigert wie der bayerische Herzog Tassilo, wird auch nach zwanzig Jahren noch abgesetzt. Die Christenheit soll geordnet den Jüngsten Tag erwarten, der nach Auskunft der Astrologen entweder im Jahr 801 oder auch erst in tausend Jahren kommt. Genaues weiß man nicht, Politik ist ein Geschäft mit Variablen, doch der kluge Hausvater sorgt vor. Und genauso vorsorgend hat Karl seine Kaiserkrönung geplant. Er hätte versuchen können, seinen Hofstaat in die verfallene Residenz des Augustus auf dem Palatin zu verlegen, in der noch ein paar Jahrzehnte zuvor der byzantinische Statthalter amtiert hatte; aber sein Instinkt sagte ihm, dass der Papst und er nicht in der gleichen Stadt regieren konnten, und diese Einsicht war die Geburtsstunde des Okzidents. Aus der Spannung zwischen dem Kaiser ohne Hauptstadt und dem Kirchenfürsten ohne Reich erwuchs die Städtekultur des Mittelalters, so wie aus der karolingischen Bildungsreform nach unzähligen Rückschlägen und Irrwegen der Geist der Scholastik und des Humanismus erblühte, und beides zusammen brachte die europäische Neuzeit in Gang, die weltumspannende Epoche des Fortschritts, in der wir immer noch leben. Aber Karl der Franke war nicht nur ein großer Aufräumer, sondern auch ein begnadeter Selbstdarsteller, der seine Körperkräfte, neben den üblichen königlichen Sports des Jagens und Schlachtenschlagens, vor allem im Wasser inszenierte. Er schwamm in Bächen und Flüssen, und er nahm seinen halben Hofstaat mit zum Baden in die warmen Quellen Aachens; bisweilen, berichtet sein erster Biograph Einhard, planschten mehr als hundert Leute mit ihm. Dieser Schwimmerkult ist ein ganz eigenes Kapitel der europäischen Herrschergeschichte, und deshalb hat vielleicht doch nicht der wackere Johannes Fried den interessantesten Beitrag zum Karlsjahr geschrieben, sondern der gerade wegen seiner Publikationen zu einem gefälschten Galileo-Buch vielgescholtene Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp. Bredekamp nämlich erkennt in seiner bei Wagenbach erschienenen Studie über »Karl den Großen und die Bildpolitik des Körpers« in den Badefreuden des Monarchen ein sehr modernes Rollenverhalten wieder, dessen jüngere Beispiele die Dauerschwimmer Mao Tse-tung und Wladimir Putin bieten: der Regent als Ikone der Naturbeherrschung und Lenker der geschichtlichen Ströme. Dieselbe »fluide Stabilität«, die Mischung aus Jovialität und Härte, die Karls Regierungsstil prägte und mit der er Gesandte aus Bagdad und Konstantinopel zur Verzweiflung brachte, zeigt sich, so Bredekamp, auch in der Kunstproduktion seiner Zeit: die spiegelnden Bronzetüren der Pfalzkapelle, die fließenden Gesten der Buchmalereien, eine Reiterstatue des Theoderich als Brunnenfigur, eine römische Bärin als Vorbild für die Löwenköpfe am Dom. Mag sein, dass die Bildwissenschaft à la Bredekamp gelegentlich ans Spekulative grenzt, für Historiker ist sie eine Fundgrube: weil sie Wissen und Anschauung nicht trennt, sondern verbindet. Karl, »der Große«? Ja, wenn es groß ist, dass einer die Chance nutzt, die ihm die Geschichte bietet, aus Kalkül wie aus Instinkt, aus Lust an der Macht wie am Erfolg, dann war er groß. Das heißt nicht: gut. Aber wer fragt schon nach Kollateralschäden, wenn es um Europa geht. Damals wie heute Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.01.2014 Karls-Chronik Die wichtigsten Daten zu Karl dem Großen 687 Schlacht von Tertry: Pippin II. (Karls Urgroßvater) gewinnt als Hausmeier des neustrischen Teilreiches die Herrschaft über das gesamte Frankenreich. 714 Karls Großvater Karl Martell wird Frankenherrscher. 732 Schlacht bei Tours und Poitiers: Sieg des Frankenheeres über die Araber. 748 Karl der Große wird geboren.Tassilo III. wird Herzog von Bayern. 751 Die Langobarden erobern Ravenna und bedrohen damit den päpstlichen Einflussbereich.Karls Vater Pippin III. setzt den letzten Merowingerkönig Childerich III. ab und begründet die Dynastie der Karolinger. Geburt von Karls Bruder Karlmann. 752 Papst Zacharias schenkt Pippin III. die „Sandalen Christi“. 753 Feldzug Pippins III. gegen die Sachsen. 754 Papst fordert bei Pippin III. Waffenhilfe gegen den Langobardenkönig Aistulf. Stephan II. salbt Pippin III. und seine Söhne in Saint-Denis. Die Franken werden Schutzherren des Papsttums. In der »Pippinischen Schenkung« überantwortet Pippin III. der Kirche die Gebiete der Langobarden in Norditalien. 756 Pippin III. besiegt die Langobarden unter König Aistulf. 757 Desiderius wird König der Langobarden. Der Herzog der Bayern leistet Pippin III. den Vasalleneid. Der byzantinische Kaiser Konstantin V. schenkt Pippin III. eine Orgel, die somit erstmals im Westen bekannt wird. 758 Zweiter Feldzug Pippins III. gegen die Sachsen, er erzwingt jährliche Tributzahlungen. 763 Der Herzog von Bayern verweigert Pippin III. die Heerfolge und bricht damit seinen Vasalleneid. 768 Tod Pippins III. Karl der Große und Karlmann werden gemeinsam Könige des Frankenreichs 769 Rebellion Hunalds gegen die Franken in Aquitanien. Karlmann weigert sich, mit Karl gegen die Rebellen zu ziehen. Karl der Große heiratet eine Tochter des Langobardenkönigs Desiderius. 771 Nach dem Tod Karlmanns wird Karl der Große Alleinherrscher. Karlmanns Familie flüchtet an den Hof des Königs der Langobarden. Karl verstößt die Langobardenprinzessin und heiratet seine zweite Frau Hildegard. 772 Der Langobardenkönig Desiderius versucht vergeblich, den neuen Papst Hadrian I. zu frankenfeindlicher Politik zu bewegen. Karl der Große beginnt den Krieg gegen die Sachsen, erobert die Eresburg und zerstört das Heiligtum Irminsul. Das fränkische Heer überquert die Alpen. Karl der Große – Alpenüberquerung. 773 Hadrian I. bittet Karl den Großen um Hilfe gegen die Langobarden. Karl führt seine Truppen erstmals über die Alpen nach Italien. Desiderius zieht sich nach Pavia zurück, sein Sohn mit Karlmanns Familie nach Verona. Rachefeldzug der Sachsen gegen das Frankenreich. 774 Karl der Große feiert das Osterfest in Rom und bestätigt gegenüber Papst Hadrian I. die »Pippinische Schenkung«. Pavia fällt nach langer Belagerung. Karl zwingt Desiderius in ein Kloster und krönt sich selbst zum König der Franken und Langobarden. 775 Karl der Große zieht gegen die Sachsen. Er erobert die Hohensyburg und stellt die zerstörte Eresburg wieder her. Tod Konstantins V., des Kaisers des Byzantinischen Reichs, ihm folgt sein Sohn Leo IV. 777 Karl der Große beruft in Paderborn erstmals einen Reichstag auf sächsischem Boden ein. Widukind, Herzog der Sachsen, bleibt dem Reichstag fern und bittet Dänemark um Hilfe gegen die Franken. 778 Karl der Große zieht auf Bitten des Herrschers von Saragossa in den Krieg ins arabische Spanien. Auf dem Rückzug aus Spanien kommt es zu schwerem Kampf mit den Basken, Markgraf Hroutland stirbt bei einem Nachhutgefecht. Auf dieses bezieht sich das Rolandslied. Sachsen fallen ins fränkische Rheinland ein 779 Karl der Große führt einheitliche Maßsysteme für den königlichen Fuß als Längen- und das »Karlspfund« als Gewichtsmaß ein. 780/781 Zweiter Romzug Karls 782 Sachsen wird von Karl in Grafschaften eingeteilt. Karl erlässt die »Capitulatio de partibus Saxoniae«: Ausübung der germanischen Religion wird mit dem Tod bestraft. In der Schlacht am Süntelgebirge vernichten die Sachsen ein fränkisches Heer. Blutgericht in Verden an der Aller, wobei Karl angeblich 4500 Sachsen hinrichten lässt (»Sachsenschlächter«). Kultureller Aufschwung (Bildung, Dichtung, Buch- und Baukunst), ausgehend vom Hof Karls (»karolingische Renaissance«). Karl der Große. 783 Erneute Aufstände erschüttern Sachsen. Die Rebellen unterliegen bei Detmold und Osnabrück. Karls zweite Frau, Hildegard, stirbt. Karl heiratet Fastrada. 785 Kapitulation Widukinds. Widukind kapituliert vor den Franken und lässt sich in Attigny taufen. Karl der Große ist Taufpate. 786 Verschwörung des Grafen Hardrad in Thüringen 787 Beilegung des Bilderstreits – Ikonen-Verehrung wird erlaubt, Anbetung verboten. Dritter Romzug. Feldzug gegen die Bayern 788 Karl der Große setzt Tassilo III. ab. Bayern wird dem Frankenreich einverleibt. Beginn einer mehrjährigen Auseinandersetzung zwischen Franken und Awaren. 789 Erster Feldzug Karls des Großen gegen die Slawen. Seine Truppen dringen bis zur Peene vor. Allmähliche Entfremdung zwischen Franken und Byzantinern. Erlass der „Admonitio Generalis“, einer „Allgemeinen Ermahnung“, die zum Teil auf päpstlichen Dekretalen und Canones basiert und in der Karl sowohl den Klerus zur Ordnung ruft als auch sein politisches Reformprogramm verkündet. 792 Der älteste Sohn Karls des Großen, Pippin der Bucklige, unternimmt einen Umsturzversuch und scheitert. 793 Beginn der Wikingerzeit mit dem Überfall auf das englische Kloster Lindisfarne. Verwaltungsreform im Frankenreich 794 Auf der Frankfurter Synode wendet sich Karl der Große gegen die Bilderverehrung. Tod seiner dritten Frau Fastrada, Heirat mit Liutgart 795 Karl der Große gründet die Spanische Mark. 797 Karl der Große lockert seine Politik in Sachsen durch den Erlass des milderen »Capitulare Saxonicum«. Harun ar-Raschid und Karl der Große nehmen diplomatische Beziehungen auf 799 Attentat auf Leo III. Als Verbrecher angeklagt, flieht der Papst zu Karl dem Großen nach Paderborn. 800 Krönung zum Kaiser. Karl zieht nach Rom. Leo III. wird von allen Vorwürfen freigesprochen und leistet einen Reinigungseid. Leo III. krönt Karl den Großen in der Petersbasilika zum römischen Kaiser. Karls letzte Frau, Liutgart, stirbt. 802 Fränkische Verwaltungsreform: Karl der Große führt eine Art Schulpflicht ein, die Institution der Königsboten („Missi“) wird wiederbelebt und von allen Waffenfähigen wird der Treueeid verlangt. Beginn der Aufzeichnung der fränkischen Volksrechte. Der Elefant »Abul Abbas«, ein Geschenk Harun al-Raschids an Karl den Großen, erreicht Aachen und erregt großes Aufsehen. Die Sachsen erhalten weitgehend ihr altes Volksrecht zurück. 803 Tod der byzantinischen Kaiserin Irene. 804 Letzter Feldzug der Sachsenkriege. 805 Feldzüge der Franken in Böhmen. 806 Karl der Große lässt das byzantinische Venedig besetzen. 807 Karl der Große entscheidet, nur noch Freie mit großem Grundbesitz dürften in den Krieg ziehen: Entstehung des Rittertums. 810 Errichtung des Limes Saxoniae. 811 Friedensvertrag zwischen den Dänen und Karl dem Großen. 812 Karl der Große wird gegen die Herausgabe Venedigs von Konstantinopel als weströmischer Kaiser anerkannt. 813 Karl der Große erhebt seinen Sohn Ludwig zum Mitkaiser und Reichserben. 814 Karl der Große stirbt, Ludwig der Fromme wird sein Nachfolger. In Irlands Westen Irland eBook Umfang: ca. 170 Seiten Mit 41 Abbildungen Juli 2013 ISBN (ePub): 978-3-89843-253-5 ISBN (PDF): 978-3-89843-254-2 Preis: 9,99 € Achill Island: Ansichten einer Insel Vor fünfzig Jahren hat Heinrich Böll in seinem »Irischen Tagebuch« Achill Island verewigt – eine Spurensuche am Rande Europas Von Christiane Zwick M it dem Tag hat sich das Wasser zurückgezogen, und die sechs Kilometer von der kleinen Quelle unterhalb der Minaun Cliffs bis in den Ort Keel werden zur perfekten Kulisse für einen Abendspaziergang. Ein Abendspaziergang, wie ihn Heinrich Böll oft unternommen hat, als er 1954 in »Bervies Guesthouse« direkt am Strand wohnte. Der damals 36-jährige Familienvater war an den nordwestlichen Rand Europas gereist, um weit weg vom Durcheinander des Hausbaus in Köln-Müngersdorf zunächst am »Brot der frühen Jahre« zu arbeiten. Den Tipp, nach Achill Island zu fahren, hatte er in Dublin bekommen, in Deutschland war die größte Insel Irlands kaum bekannt. Böll beförderte sie in die Weltliteratur und sicherte ihr den Status eines deutschen Sehnsuchtsortes. Ihm selbst wurde sie zur zweiten Heimat. Fünfzig Jahre sind seit Erscheinen des »Irischen Tagebuchs« vergangen. Es ist dunkel geworden an der Küste. Ein Hund bellt von Dookinella herüber, in der Luft liegen Salz und der Rauch eines Torffeuers. Am Tag beherrscht hier gelbes und blaues Neopren das Bild, Surfer lassen sich von den Wellen auf den Sand spülen. Der knapp siebenhundert Meter hohe Slievemore hat einiges an Wildheit und Geheimnis eingebüßt. Der Hexensabbat, den Böll dort hinzuzuphantasieren vermochte, müsste heute im Ring der Neubauten abgehalten werden. Rad fahren auf Achill nur noch die Touristen. Die meisten Einheimischen legen die beschwerlichen Wege lieber mit dem PKW zurück… Foto: Norbert Eisele-Hein / Tourismireland. Im Zentrum von Keel klafft dort, wo das »Village Inn« stand, ein umfangreiches Loch. Auch gegenüber eine Baustelle: »Keel House« steht leer, das Haus, das Böll schon im Jahr nach seinem ersten Besuch für seine Familie anmietete. Ein Schild am Zaun verkündet Instandsetzungsarbeiten. Achill Island profitiert sichtlich von der seit zwölf Jahren anhaltenden irischen Hochkonjunktur. Ein Stück die Straße nach Dooagh hinauf parken vor der Praxis des Inselarztes Autos neuester Baujahre. Doktor Edward King kommentiert augenzwinkernd: »Die Herzkrankheiten nehmen zu. Damals mussten die Leute fit genug sein, um in die Praxis meines Vaters zu radeln. Heute fährt keiner mehr Rad.« Sein Vater war mit Heinrich Böll befreundet gewesen. Mit literarischen Folgen: Die Geschichte »Die schönsten Füße der Welt« erzählt von der Angst der Arztfrau um ihren Mann, der nachts entlang der Klippen über die rutschige Schotterstraße zu einer Gebärenden fahren muss. Das »Irische Tagebuch« ist kein Tagebuch. Aber ein Buch, in dem Böll »ich« sagt und mit vielen »wir« seine Frau und seine drei Söhne miteinbezieht. Seit gerade vier Jahren konnte der inzwischen bekannte Nachkriegsautor von seinen Honoraren leben, seit zwei Jahren häuften sich die Preise. Und 1955 war dann sogar ein Urlaub drin. Ein Urlaub mit Familie und Schreibmaschine. Die ging zwar auf dem Bahnhof kaputt, konnte aber schnell repariert werden. Böll gönnte sich einen Ausflug in die Zeitlosigkeit. Statt auf unbestechliche Wirklichkeitsbefragung setzte er auf Farben und phantastische Effekte. So erhielt bei ihm Doktor King für die geglückte Geburtshilfe an Stelle der üblichen Suppenhühner einen riesigen Kupferkessel aus der vor Achill untergegangenen spanischen Armada. Was für ein glänzender Kontrapunkt zu den, in Bölls Augen, mit Würde ertragenen ärmlichen Verhältnissen. Die teils verdichtete, teils erdichtete Erzählung wurde richtungweisend für alle Irlandberichte, die später kamen. Am Strand von Keel nimmt Karl-Heinz Vondracek hinter gegen den Wind aufgehäuften Steinen Platz und klopft an ihnen seine Pfeife aus. Frau und Kind warten im Wohnwagen mit dem Abendessen. Die Klippen schimmern rötlich, Gischt knistert wie Guinnessschaum auf dem Sand. Eine kleine Rauchpause noch. Der weißbärtige Regierungsschuldirektor erzählt, dass ihm das »Irische Tagebuch« 1979 das erste Mal den Weg nach Achill Island gewiesen hatte. »Als Gott die Zeit gemacht hat, hat er genug davon gemacht«, sagt Vondracek und zitiert ein altes irisches Sprichwort, das Böll für einen Seitenhieb gegen seine wirtschaftswunderseligen Landsleute nutzte. Marcel Reich-Ranicki erkannte in dem Band sogar ein »verstecktes Deutschlandbuch«. Das in allen, die auf der Suche nach gesellschaftlichen Andersorten waren, Reiselust weckte. ...oder mit dem Motorrad. Da springen die sonst mehrheitlich glücklichen irischen Kühe lieber mal in den Straßengraben. Foto: Nutan / Tourismireland. Der deutsch-irische Schriftsteller Hugo Hamilton, der vor kurzem auf Bölls Spuren recherchiert hat, vermutet, dass seine Leser auf ihren Irlandreisen eine »Idee von Heimat entwickeln« wollten. Die Kriegs- und Nachkriegskinder sehnten sich nach einer Zusammengehörigkeit, in der nichts Völkisches an klang, nach vom Nationalsozialismus unverdorbener Vergangenheitsbindung. Hamilton muss damit richtig liegen, denn schon der Wegbereiter verweilt aufatmend im Anblick irischer Ruinen, die eben nicht von Bombardements herrühren: »Zeit und Elemente haben alles in unendlicher Geduld weggefressen, was nicht Stein war, und aus der Erde wachsen Polster, auf denen diese Gebeine wie Reliquien ruhen.« Heinrich Böll hatte den Krieg gehasst, unter seiner Sinnlosigkeit, der Schikane der Vorgesetzten und der eigenen Unfreiheit gelitten. Viele seiner Feldpostbriefe erzählen davon. Mit simulierten Krankheiten und gefälschten Urlaubsscheinen hatte er sich gedrückt, wo er nur konnte. Nach Kriegsende galt Bölls ganzes Interesse der Gegenwart, die durch das eilig abgeschlossene Gestern beeinflusst wurde. Genau im Zentrum befindet sich das Bild der Armut. Im Zentrum des »Irischen Tagebuches« und im Zentrum der Insel. Die von Böll als »Skelett einer menschlichen Siedlung« beschriebenen siebzig Ruinen reihen sich parallel zum Hang des Slievemore. Sie verfallen dort seit mehr als hundertfünfzig Jahren, seit der großen Hungersnot. Weder Zaun noch Wege regeln den Zugang zum »Deserted Village«. Schafe nagen an der dünnen Grasnarbe zwischen den dachlosen Gemäuern. Steine kippeln unter den Füßen der Neugierigen. Es ist der Ort, der sich auf Achill Island am wenigsten verändert hat. Feldsteingiebel weisen auf schnell ziehende Wolken. Im Süden glitzern die breite Bucht von Keel und ein inmitten von Wiesen gelegener Binnensee. Von Westen her schleicht Nebel in das Ruinendorf. Die Gevierte sind drei Schritte breit und sechs Schritte lang. Familien mit sechs Kindern haben hier gelebt. »Hier stand der Herd« – »Dort das Bett« – »Hier über dem Kamin hing das Kruzifix«, beschreibt Böll das Rekonstruktionsspiel, das er mit seinen Kindern spielte und das sich jedem hier aufdrängt. Die Forschungsarbeit des Archäologen Simon O'Faolain erschließt Besuchern heute unscheinbarste Details. Wenn man ganz genau hinsieht, entdeckt man auf der Innenseite vieler Giebelwände ein Loch. In ihm war der Ring eingelassen, an dem die Kuh festgebunden wurde. Ihr Körper habe das Haus gewärmt und dafür ein Drittel des Wohnraums beansprucht, erklärt der Grabungsleiter. Die Rinne am Boden leitete die Gülle ab. Die Kinder schliefen auf einer halben Etage über dem Vieh, der Platz der Alten war eine gemauerte Bank am Feuer. Die alten Steine zeugen am Ende doch von Gewaltherrschaft. Wegen der Kartoffelfäule konnten die Bauern in den 1840er Jahren ihre Pacht nicht mehr bezahlen und wurden von den Verwaltern der englischen Landlords vertrieben. Diesen Teil der Geschichte hat Böll ausgespart. Einen einzigen Satz über den von der Insel gejagten englischen Verwalter Boycott, »an dem die Bevölkerung das Boykottieren erfand«, leistet er sich. Einem Deutschen stand es keine zehn Jahre nach dem Krieg nicht an, die Besetzung Irlands durch die Briten zu kritisieren. Millionen Iren wanderten in den der Hungersnot folgenden hundert Jahren aus. Noch zwischen 1951 und 1961 verließen jähr- lich 40.000 Menschen, also ein Prozent der Bevölkerung, die Heimat. Mayo, der Verwaltungsbezirk, zu dem Achill Island gehört, war besonders betroffen. Erst in den neunziger Jahren wendete sich das Blatt. Der einmal zu Spottpreisen verscherbelte Boden ist teuer geworden. Staatliche Förderungen heizen den Bauboom auf der abgelegenen Insel an, »Holiday Homes« entstehen zehnergruppenweise. Die Besitzer der kargen Torfflächen sind zu kleinen Vermögen gekommen. Den Geldsegen legen viele der 2700 Insulaner in Eigenheimen an, für die amerikanische Vorabendserien Modell gestanden zu haben scheinen. Irland liegt in punkto Neubauten im europäischen Vergleich an der Spitze. Und am Toastregal von Diarmuid Gieltys kleinem Laden trifft man neuerdings Gastarbeiter aus Polen und Pakistan. Dass Diarmuid Gielty, der als Elektriker in Dublin gut verdient hatte, den Dorfladen von Dooagh übernahm, ist für seinen Vater Michael das beste Zeichen einer Zeitenwende: »Wir fuhren nach Schottland, um Löcher für Kartoffeln zu buddeln, und nach England, um dort Eisenbahnschienen zu verlegen. Nur um ein paar Pfund zu verdienen. Die Jungen würden keinen Spaten mehr in die Hand nehmen.« »Die Jungen«, wirft sein Sohn ein, »nehmen fleißig Kredit auf und genießen das neue Lebensgefühl.« Das Wirtschaftswunder ist nun in Irland sesshaft geworden. Michael Gielty ist Ruhe bis heute fremd, der 73-Jährige war zeit seines Lebens in Bewegung. Seine Füße stecken in Reflektorturnschuhen, wiegen hin und her, während er an der mit norwegischem Lachs und irischem Lamm gefüllten Tiefkühltruhe über das Schicksal vieler Generationen auf Achill nachdenkt. »Es ist nett, jetzt all diese Ausländer hier zu sehen. Für uns gab es kaum Bildung und zu wenig Arbeit. Wir hatten keine Wahl, als wegzugehen, um wiederzukommen.« Gielty wirft den Kopf für einen Lacher in den Nacken. Die Ersten, die Bölls Protagonisten mit der Kamera suchten, brachte der Schriftsteller selbst ins Land. Nach seinem Drehbuch entstand 1961 der Film »Irlands Kinder«. Im Bild wie im Buch: das Ruinendorf, die Kirche, der Pub. Doch der Kommentar verharrt in schwer verdaulicher Litanei auf dem Leid der Armut und des Abschieds. Der irische Schriftstellerkollege John O'Donovan beschwerte sich öffentlich über das Bild einer »most hapless and helpless and hopeless race«. Doch nicht den Film, sondern das Buch haben Irlandreisende bis heute im Gepäck. Seit 1961 passt es auch in die schmalste Reisetasche. Das »Irische Tagebuch« erschien damals als Nummer eins des neugegründeten Deutschen Taschenbuch Verlags. Der Verlagsleiter Heinz Friedrich war ein Freund Bölls und wie dieser Mitglied der Gruppe 47. Der DTV-Band entwickelte sich zum »Longseller«. Bis heute wurden weit über eine Million Exemplare in 54 Auflagen verkauft. Die englische Übersetzung haben sich der Arzt, der Lehrer und die Galeristen gekauft. Die meisten anderen haben nur von ihr gehört. In diesem Jahr soll das »Irish Journal« an der Schule gelesen werden. »Es wurde Zeit«, sagt Edward King. Schließlich seien sie ziemlich stolz, dass Heinrich Böll Achill Island ins Herz geschlossen habe. Eine Plakette an der Toreinfahrt weist das »Heinrich Böll Cottage« heute als Rückzugsort für Stipendiaten aus, deren Ruhe- bedürfnis man bitte respektieren möge. Der nächste Künstler kommt aber erst morgen. John McHugh schließt die Pforte auf. Hinter den Fuchsien kauern zwei weiße Häuser, umschwirrt von Wolken winziger Störenfriede. Mückenstiche liegen wohl unterhalb der Wahrnehmungsschwelle großer Geister. Für 100.000 Pfund habe das Heinrich-Böll-Komitee das Cottage von der Familie des 1985 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers gekauft, erzählt McHugh. Die jährlichen Kosten von 25.000 Euro bringen kulturfreundliche Unternehmer von der Insel auf. Der schlaksige Bildhauer im löchrigen T-Shirt ist der Vorsitzende des Komitees, zu dem auch der Arzt gehört. In jedem September sichten sie die Bewerbungen von Schriftstellern und Autoren, die meisten aus den Vereinigten Staaten und aus Irland. Wer ausgewählt wird, darf zwei bis vier Wochen kostenfrei hier wohnen. Die Räume sind schlicht möbliert, die schicke rote Küche ist funkelnagelneu. Die Kamine mit ihren geschnitzten Einfassungen wurden frisch lackiert. Der Blick vom Schreibtisch geht durchs Fenster nach Norden. Dort unten in der Bucht von Dugort bläst der Wind scharfen Sand gegen die Beine sonnengeröteter Urlauber. Doch der Trubel der Ferienmonate findet in ausreichender Entfernung im Nebel statt. Nichts, was ablenken könnte. Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 22.4.2007 Das sollten Sie klicken http://www.irisches-tagebuch.com René Böll hat zusammen mit Freunden und Familienmitgliedern eine Webseite zu Heinrich Bölls irischem Tagebuch ins Netz gestellt. Die Flash-Version der Seite ist lohnender, wird aber noch aufgebaut. http://www.achilltourism.com Nochmals Böll: Praktischer OnlineWegweiser für alle, die auf Bölls Spuren wandeln wollen: Wo ist die Kneipe, wo der Supermarkt und wann die Lesung? http://www.islandireland.com/Pages/history.html Abriss irischer Geschichte. Praktische Links zu Museen und Forschungseinrichtungen. http://entertainment.ie Was ist wann wo los in Irland? Guter Überblick über die Kulturtermine. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ ei.html Die CIA weiß praktisch alles über Irland. Hier werden Sie zum Mitwisser. http://www.ria.ie Man hat zwar keinen König mehr, immerhin aber noch eine Royal Society. Die Acadamh Ríoga na hÉireann stellt auf Ihrer Webseite viele Irland-Publikationen für gehobene Ansprüche vor. http://www.ahg.gov.ie Gaetacht. Die offizielle Webseite des Kultusministeriums, die für diejenigen, die des Gälischen nicht mächtig sind, auch eine englischsprachige Variante vorhält. http://www.youtube.com/watch?v=mmkaWZ9ieGU Altes Filmzeugnis vom Set Dance. Hirnforschung: Wer ist der Käpt’n im Kopf? Hirnforschung Das Abenteuer unseres Bewusstseins Hirnforschung eBook Umfang: ca. 170 Seiten Mit 10 Abbildungen Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung September 2012 ISBN ePub: 978-3-89843-251-1 ISBN PDF: 978-3-89843-252-8 Preis: 9,99 € Gehorsam: Ich erfüllte eine Aufgabe Das Milgram-Experiment. Von Jenny Niederstadt D er Apparat, der die Welt schockierte, steht heute in Akron. Die Kleinstadt in Ohio beherbergt das Archiv der amerikanischen Psychologie. Dort ist die Maschine hinter Glas zu sehen. Sie zeigt 30 Hebel, 30 Kontrolleuchten. Jeder Schalter steht für eine Voltzahl, von 15 bis 450 Volt. Die Stromstärken sind in acht Gefahrengruppen eingeteilt, von »leichter Schock« über »Gefahr: bedrohlicher Schock« bis hin zu »XXX«. Wer einen Hebel des »Schockgenerators« umlegt, hört ein Summen, Lichter blitzen auf, und der Zeiger des Spannungsmessers schlägt aus. Die Maschine ist eine Attrappe. Doch als Stanley Milgram 1961 mit dem Generator sein legendäres Experiment startete, dachten die Versuchsteilnehmer, sie würden mit den Stromschlägen Menschen quälen. Ein vermeintlicher Versuchsleiter forderte die Testperson am Generator auf, immer stärkere Stromschläge zu verabreichen. Dies erfordere ein wissenschaftliches Experiment über das menschliche Gedächtnis (siehe »Foltern für die Forschung«). 63 Prozent von Milgrams Probanden gingen daraufhin bis zum Äußersten: Sie waren bereit, ihr Gegenüber im Namen der Wissenschaft mit 450 Volt zu foltern, einen an die Elektroden der Maschine angeschlossenen Schauspieler, der darauf trainiert war, Schmerzen und Qual zu zeigen, sobald ein Hebel umgelegt wurde. Bei 450 Volt reagierte er nicht einmal mehr, sondern lag wie tot auf seinem elektrischen Stuhl. Die Öffentlichkeit war geschockt, als Stanley Milgram seine Ergebnisse veröffentlichte. Der Professor der Universität Yale berichtete zum Beispiel von einem Inspektor der Wasserwerke, der nach dem Experiment sagte: »Ich glaubte wirklich fest, dass der Mann tot war, bis wir die Tür aufmachten. Als ich ihn sah, sagte ich: ›Großartig, das ist ganz großartig.‹ Aber es hätte mich nicht beunruhigt, wenn er tot gewesen wäre. Ich erfüllte eine Aufgabe.« Die Teilnehmer waren zu Werkzeugen der Macht geworden, sie hatten ihren moralischen Kompass verloren. Milgrams Experimente gehören mittlerweile zu den berühmtesten Versuchen der Psychologie. Von Anfang an waren sie umstritten – und gelten doch bis heute als Wegweiser. Sie zeigen, wie Autoritäten Menschen das Verantwortungsgefühl rauben können. Und sie bleiben aktuell: Im vergangenen Jahr sollten Milgrams Thesen die Verbrechen in Abu Ghraib erklären. In dem Militärgefängnis folterten amerikanische Aufseher irakische Häftlinge. Die Sozialpsychologin Susan Fiske untersuchte die Vorfälle und zog Parallelen zum Milgram-Experiment. »Menschen können unglaublich destruktiv handeln, wenn es ihnen von legitimierten Autoritäten befohlen wird«, sagt die Princeton-Professorin. Das gelte nicht nur im Krieg gegen den Terror, sondern etwa auch im Wirtschaftsleben: Das Verhalten von Führungskräften sei ausschlaggebend dafür, welche Atmosphäre in einem Unternehmen herrsche. Wer seine Autorität ausnutze, um Mißtrauen und Haß zu schüren, schaffe so den Nährboden für Mobbing. Fiskes Analyse fußt auf einer umfassenden Datenbasis: Sie prüfte 25.000 Studien und damit das Verhalten von insgesamt acht Millionen Testpersonen. Wird die Psychologin heute gefragt, ob jeder gewöhnliche Achtzehnjährige zum Folterer werden könnte, hat sie eine Antwort: »Ja, leider, so wie jeder andere auch.« Fiskes Studie zu Abu Ghraib erinnert an die Schriften Hannah Arendts. Die Philosophin hatte 1961 vom Eichmann-Prozess in Jerusalem berichtet. Der NS-Verbrecher sei kein Sadist, kein Ungeheuer, so Arendt, sondern ein korrekter Bürokrat, der blind Befehle befolgte. Ihr Konzept von der »Banalität des Bösen« erschütterte Stanley Milgram. Er war erst 30, als er seine Experimente in der Kleinstadt New Haven startete – kurz zuvor waren Arendts Schriften in den Vereinigten Staaten erschienen. Der Psychologe zweifelte zunächst an seinem Versuchsaufbau, als er feststellte, dass mehr als die Hälfte seiner Probanden bereit war, einen Menschen mit starken Elektroschocks zu quälen. Er prüfte seine Ergebnisse mehrfach und änderte den Aufbau. Die Teilnehmer sollten etwa die Hand des vor Schmerzen schreienden Opfers auf eine Metallplatte pressen, wo es angeblich noch stärkere Schocks erhielt. Selbst dieser Anweisung folgte jeder dritte. Seine Ergebnisse seien »deprimierend« und »beängstigend«, so Milgram – und die Parallelen zum NS-System unübersehbar. Er bezweifle nun nicht mehr, dass es auch in den Vereinigten Staaten möglich sei, ein »System von Todeslagern, ähnlich dem der Nazis in Deutschland«, aufzubauen, schrieb Milgram an die National Science Association. »Ich fange an zu glauben, dass sich die dafür nötigen Leute allein in New Haven rekrutieren ließen.« Der Mensch braucht offenbar kein starkes Motiv, um »seine Menschlichkeit abzustreifen«, wie Milgram es nannte. Seine Probanden waren bereit zu töten, nicht aus Notwehr, Verzweiflung oder Hass, sondern schlicht, um zu gehorchen. Besonders verstörend: Da die Rollen von Täter und Opfer vor dem Experiment vorgeblich ausgelost wurden, mussten die Probanden sogar glauben, nur der Zufall habe verhindert, dass sie selbst auf dem elektrischen Stuhl saßen. »Es gehört Mut dazu, eine einmal begonnene Handlung als falsch zu erkennen und sie abzubrechen«, erklärt Dieter Frey, Psychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wer bereits dabei ist, Stromschläge von 150 Volt zu erteilen, steigt nicht leicht aus, wenn er einfach nur die Dosis um 15 Volt erhöhen soll. »Wir reflektieren unser Handeln nicht mehr bewusst«, sagt Frey, »und verlieren schließlich das Wissen, dass wir uns frei entscheiden können.« Wie die »Macht der Situation« die Entscheidungsfreiheit einschränken kann, hat auch Philip Zimbardo untersucht. Der amerikanische Psychologe hat mit seinem Stanford-Prison-Experiment ähnliches Aufsehen erregt wie Milgram. Im Keller der Universität von Stanford hatte er einen Gefängnistrakt nachgebaut. Eine Gruppe Studenten teilte sich per Los in Wächter und Gefangene auf. Binnen weniger Tage eskalierte die Situation, die Aufseher quälten die Gefangenen, die Häftlinge fühlten sich ihnen hilflos ausgeliefert, obwohl sie das Experiment jederzeit hätten abbrechen können. Im vergangenen Jahr sagte Zimbardo als Sachverständiger im Prozess gegen die Gefängniswärter von Abu Ghraib aus. Auch Zimbardo betont, wie aktuell Milgrams Thesen seien: »Fast jeder von uns könnte den Platz mit Eichmann tauschen, wenn wir in die Macht derselben Situation geraten.« Zu den bekanntesten Kritikern solcher Thesen zählt der Autor Daniel Goldhagen, der mit seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« auch in Deutschland für eine heftige Debatte über Schuld und Verantwortung sorgte. Milgram habe eine Situation konstruiert, in der die Versuchsteilnehmer wenig Zeit hatten, darüber nachzudenken, was sie tun, sagt Goldhagen: »In der realen Welt mordeten die SS-Offiziere tagsüber und gingen abends zu ihren Familien nach Hause.« Tatsächlich hätten Menschen »jede Menge Möglichkeiten, ihr Verhalten zu überdenken und zu verändern. Wenn sie es nicht tun, so liegt das nicht daran, dass sie Angst vor den Autoritäten haben, sondern daran, dass sie sich entscheiden, es nicht zu tun.« Auch Milgrams Biograph, der amerikanische Psychologe Thomas Blass, entlässt die Probanden nicht aus ihrer Verantwortung: »Wer gehorchte, tat dies aus seinem freien Willen heraus – niemand hielt den Teilnehmern eine Pistole an den Kopf. Sie ließen die Rechte der Autorität über die Bedürfnisse der Opfer obsiegen.« Milgram dagegen erlebte in seinen Studien die Täter als gelähmt. Der Forscher betonte immer wieder: Die Probanden waren keine Sadisten. Viele von ihnen zitterten und weinten während des Experiments, einige hatten Krämpfe. Und doch brach nur jeder dritte den Versuch ab. Sie litten also an der Situation, schienen den Opfern gegenüber aber gleichgültig zu sein. Waren sie es tatsächlich? Das Phänomen der Gleichgültigkeit untersuchten einige Jahre nach Milgram die Sozialpsychologen John Darley und Bibb Latané. Ein grausamer Mord hatte das Interesse der beiden Wissenschaftler geweckt. In New York war 1964 eine junge Frau im Hof ihres Wohnblocks umgebracht worden. Eine halbe Stunde lang hatten 38 Zuschauer beobachtet, wie der Mörder die Frau mehrfach attackierte. Keiner half oder verständigte auch nur die Polizei. Die Presse berichtete damals empört über die Zuschauer. Darley und Latané aber wollten deren Beweggründe erforschen. Sie stellten dazu eine ebenfalls lebensbedrohliche Situation nach: einen schweren epileptischen Anfall. Sie sorgten dafür, dass ihre Probanden Zeugen des Anfalls waren (siehe »Hilfsbereitschaft und Beobachtung«), und stellten fest, dass die Bereitschaft zur Hilfe erheblich stieg, wenn sich die Zeugen alleinverantwortlich fühlen. Waren sie dagegen überzeugt, auch andere könnten aktiv werden, sank ihr Engagement dramatisch. »Die soziale Situation kann einen enorm hohen Druck erzeugen«, sagt Hans-Werner Bierhoff, Sozialpsychologe der Ruhr-Universität Bochum. Der Mensch sei nun mal ein soziales Wesen und wolle sich selbst im Notfall konform verhalten. »Sieht er dann, dass kein anderer reagiert, zögert er selbst auch – oft gegen seinen ursprünglichen Willen.« Dieser Effekt kann sich steigern bis zur »pluralistischen Ignoranz«, das haben Altruismusforscher wie Bierhoff in zahlreichen Studien nachgewiesen. Liegt etwa eine Person hilflos am Rand einer vielbefahrenen Straße, sinkt ihre Chance auf Hilfe dramatisch, wenn die ersten Autofahrer achtlos am Hilfsbedürftigen vorbeifahren. Die passiven Vorbilder setzen ein Signal. Doch die soziale Vorbildfunktion lässt sich auch positiv nutzen: Entschließt sich bei einem Notfall eine erste Person zum Handeln, folgen ihr andere und helfen ebenfalls. Der Bann der Situation ist gebrochen. Diesen Effekt hatte schon Milgram beobachtet. Er setzte seinen Tätern am Schockgenerator eingeweihte Mitarbeiter zur Seite. Diese befolgten zwar zunächst die Anweisungen und gaben dem »Schüler« leichte Stromschläge. Als sie die Dosis allerdings in den gefährlichen Bereich steigern sollten, protestierten sie und stiegen schließlich aus. Das moralische Vorbild beeindruckte die Probanden. Die Rate des Gehorsams fiel deutlich ab: von 63 auf 10 Prozent. Gehorsam: Foltern für die Forschung »Wir zahlen Ihnen vier Dollar für eine Stunde Ihrer Zeit.« Mit diesem Anzeigentext suchte der Psychologe Stanley Milgram 1961 nach Versuchsteilnehmern. Der Professor der Yale University gab vor, das Lernverhalten von Menschen erforschen zu wollen. Tatsächlich studierte er den Gehorsam. Die Teilnehmer des Experiments trafen paarweise im Labor ein, über die Verteilung der Rollen »Lehrer« und »Schüler« entschied das Los. Doch die Ziehung war fingiert: Ein Schauspieler übernahm stets die Rolle des Schülers. Auch der Versuchsleiter war in den Versuch eingeweiht. Er gurtete den Schüler an einen Sessel fest und befestigte Elektroden an dessen Handgelenken. Der Proband sollte nun dem Schüler Wortpaare vorlesen und das Gelernte anschließend abfragen. Unterlief dem Schüler dabei ein Fehler, sollte der Lehrer dies mit einem Stromschlag bestrafen, mit jedem weiteren Fehler stieg die Voltzahl. Tatsächlich erhielt der Schüler aber keinen Elektroschock. Doch der Schauspieler war trainiert, auf die vermeintlichen Schläge zu reagieren. Zuerst protestierte er lautstark, später schrie er qualvoll, trat verzweifelt gegen die Wand des Labors, brach schließlich zusammen und gab keine Antwort mehr. Bei Nachfragen erklärte der Versuchsleiter, das Experiment erfordere, dass der Lehrer mit den Stromschlägen fortfahre. Alle Probanden ließen sich davon zunächst leiten, die ersten Teilnehmer stoppten bei 300 Volt – der Gefahrenstufe, bei der das Opfer gegen die Wand trat. 63 Prozent setzten die Schockserie bis zur höchsten Stufe fort. Hilfsbereitschaft und Beobachtung: Darley und Latané Die Studenten dachten, sie nähmen an einer Gruppendiskussion teil: John Darley und Bibb Latané, Sozialpsychologen von der Columbia University und der New York University, setzten ihre Probanden in Einzelzimmer und sagten ihnen, sie seien über Mikrophone mit anderen verbunden. Im fingierten Gespräch hörten die Probanden dann eine Person, die einen epileptischen Anfall erlitt. Die Psychologen beobachteten die Testperson: Holt sie Hilfe? Die Wahrscheinlichkeit steigt, wenn sich die Testperson alleinverantwortlich fühlt: Probanden, die dachten, nur sie seien Zeugen, holten häufiger und schneller Hilfe. Anderen wurde vermittelt, die Gruppe bestehe aus drei oder sechs Teilnehmern. Sie kamen dem »Opfer« nur in 31 Prozent der Tests zu Hilfe. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.8.2005 Kreuzfahrt in die Arktis Kreuzfahrten eBook Umfang: ca. 230 Seiten Mit 43 Abbildungen Juni 2013 ISBN (ePub): 978-3-89843-249-8 ISBN (PDF): 978-3-89843-250-4 Preis: 12,99 € Eis mit Stil Mit beheiztem Whirlpool durch Grönlands Diskobucht: Auf dem Expeditionsschiff MS Fram reisen Abenteurer, die kein Abenteuer suchen Von Verena Mayer D ort, wo ich gleich spazieren werde, saß Alfred Wegener fest, der berühmte Polarforscher. In Uummannaq, einem winzigen Ort im Nordwesten Grönlands, im Sommer kalt, im Winter umgeben von Eis. Ich habe Turnschuhe an, Alfred Wegener trug drei Lagen Robbenfell, selbst im Gesicht. Einem der Männer, die Wegener begleiteten, musste ein abgefrorener Fuß amputiert werden. Alfred Wegener, der Entdecker der Kontinentalverschiebung, kam als Abenteurer nach Grönland, ich bin Teil einer Expedition. Eines Expeditionsschiffes, um genau zu sein. Der Unterschied sind 128 Kabinen, beheizte Whirlpools und jeden Tag Frühstücksbuffet. Alfred Wegener verbrachte seine Tage damit, zu warten, dass das Eis aufbrach und er Futter für die Islandpferde finden konnte, die er unbegreiflicherweise dabeihatte, als er 1930 über das Eis ins Landesinnere gelangen wollte. Ich sehe vom Speisesaal auf die Eisberge, die im Meer schwimmen wie Eischnee auf Vanillesauce, und lasse mir Kaffee nachschenken. Die MS Fram der norwegischen Reederei Hurtigruten, acht Decks, groß wie ein Wohnblock. In den Sommermonaten fährt das Schiff die grönländische Küste entlang, durch Fjorde und Buchten, vorbei an Eisbergen und kalbenden Gletschern. Danach ist es in der Antarktis unterwegs. An Bord: ein paar hundert Leute in leichter Kleidung und in Urlaubsstimmung, viele im Ruhestand. Abenteuer für Leute, die kein Abenteuer suchen. Das Schiff läuft in den Uummannaq-Fjord ein, Motorboote bringen uns an Land. Die meisten von uns tragen die blitzblauen Windjacken, die wir als Willkommensgeschenk auf dem Schiff erhalten haben. Die Windjackenträger bleiben dann auch immer zusammen, ein blitzblauer Klecks in der arktischen Landschaft. Als müsste man sich zusammenschmiegen gegen die Kräfte der Natur. Alles in Grönland ist hart, auch im Jahr 2009, da sich Grönland weitgehend von Dänemark unabhängig erklärt hat. Was in Grönland gebraucht wird, kommt von außerhalb. Dort, wo das Eis auf dem Meer bis ins Frühjahr so dick ist, dass man darauf Auto fahren kann, warten sie oft zehn Monate auf ein Versorgungsschiff. Selbst die Abendnachrichten mussten die längste Zeit importiert werden. Sie kamen mit zweiwöchiger Verspätung auf Videobändern aus Dänemark. Dementsprechend geschäftig geht es in den paar warmen Monaten zu, in denen es keine Nächte gibt. Arktische Weideröschen überziehen als pinkfarbener Flaum die Landschaft. In den Häfen werden Netze geflickt, in den Motorbooten liegt blutiges Fleisch, Teile von Robben oder einem Zwergwal, die Ausbeute der Jagd. Nur die Schlit- tenhunde haben Pause. Träge liegen sie an ihren Ketten, ihr gelbes Fell glänzt in der Sonne, ganze Städte voller schlafender Hunde. In Uummannaq warten sie schon auf uns. Jedes Kreuzfahrtschiff ist ein Ereignis. Der Tourismus soll, neben Rohstoffen, die Unabhängigkeit Grönlands von Dänemark finanzieren. Und es gibt vermutlich nicht viel Abwechslung außer Gruppen blitzblauer Touristen. Uummannaq ist ein einziges Durcheinander aus Schlitten, Booten, aufgespannten Fellen. Auf einer Wäscheleine trocknen die traditionellen perlenbestickten Gewänder und Hosen aus Seehundfell, daneben ist mit Wäscheklammern der Fisch aufgehängt. Eine Frau mit einer Einkaufstüte unterm Arm schreit etwas in ihr Handy. Sie hat einen frei laufenden Schlittenhund gesehen, und Schlittenhunden will keiner zu nahe kommen. Sie beißen jede Hand, die sie nicht füttert. Vor dem Museum, in dem Alfred Wegeners Pferdeschlitten ausgestellt ist, steht ein Fischer in grauer Hochwasserhose und erklärt den Touristen, wie er Heilbutt fängt. Der Fischer hat keine Zähne mehr im Mund, sein Gesicht ist zerfurcht wie der Berg im Hintergrund. Im Winter hackt er erst das Eis einen halben Meter auf, ehe er die Netze auf dem Meeresboden versenken kann. Zum Aufrollen der dünnen Schnüre muss er die bloßen Hände nehmen. Und dann sind da noch die Dinge, die man nicht sieht. Im Klassenraum der kleinen Schule erzählt ein 14-jähriges Mädchen von den Geistern. Das Mädchen heißt Awiak und ist auf den ersten Blick wie alle Teenager. Sie ist viel im Netz unterwegs und liebt ihren iPod, auf ihrem T-Shirt steht »I love Nightlife«. Doch dann spricht Awiak von den Geistern, die den Grönländern bis heute heilig sind. Sie hat selbst einen gesehen, auf dem Weg zur Schule, er trug ein Rentierfell. Neulich habe ihr Onkel einem mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. Da hat der Geist gesagt: »So etwas machst du nicht noch einmal.« Ich mache es mir in meiner Kabine, in die mindestens vier Pferdeschlitten von Alfred Wegener passen würden, vor dem Fernseher gemütlich. Die Kabine ist benannt nach Hermann Georg Simmons, auch so ein Abenteurer. Er kam als Botaniker nach Grönland, aber alle auf seinem Schiff haben sich über ihn lustig gemacht. Zwei eiskalte Winter war er depressiv, dann tat er sich mit dem Schiffskoch zusammen, der ebenfalls Pflanzen sammelte. Er wurde berühmt. Mein Blick fällt auf die zwei Bierdosen, die im Kabinenpreis inbegriffen sind. Ich nehme sie mit auf das Aussichtsdeck. Uns Touristen kann der arktische Wind dort nur recht sein: Das Bier wird so schnell kalt. Eilig spüle ich den Gedanken hinunter. Vorbei an Eisbergen und kalbenden Gletschern fährt die MS Fram der norwegischen Reederei Hurtigruten in den Sommermonaten durch Fjorde und Buchten der grönländischen Küste. Foto: MS Fram inmitten der Eislandschaft vor Ilulissat, Reinhard Utesch – Guest image / Hurtigruten Wir erreichen Ilulissat, den meistbesuchten Ort Grönlands, bekannt durch Fräulein Smilla, das war die mit dem Gespür für Schnee. Gelbe und rote Holzhäuser, ein Fjord voller Eis. Ein Ausflugsschiff bringt mich zu den Eisbergen. Winzige Eisstückchen treiben auf dem Wasser, sie glitzern im grellen Licht wie ausgestreute Diamanten. Ein Eisberg sieht aus wie ein Styroporblock, ein anderer hat so regelmäßige Rillen, als wären sie von einem Bildhauer. Es ist so still, dass man das Knarren der Eisberge hört. Als wir an einer tiefblauen Eishöhle vorbeifahren, klingelt mein Handy. Es hat schon etwas Surreales: Da ist man in einer der rauhesten Weltgegenden, und überall gibt es Handyempfang, Internet und CNN. Im klimatisierten Vortragsraum des Schiffs steht Axel Krack, der rotbärtige Schiffslektor, und hält einen Vortrag über Polarexpeditionen. Er projiziert Bilder von bärtigen und sehr dick angezogenen Männern an die Wand. Pioniere auf Powerpoint. Alfred Wegener kehrte aus Grönland nicht mehr zurück. Er kam nicht voran im Eis, die Temperatur sank auf minus fünfzig Grad, Wegener starb an Überanstrengung. Einmal, erzählt Krack, sei während seines Vortrages ein 92-jähriger Mann aufgestanden und habe gesagt, er sei ein unehelicher Sohn von Roald Amundsen, dem ersten Menschen am Südpol. Viel näher ist aber auch Axel Krack dem Abenteuer noch nicht gekommen. Selbst das Meer scheint für uns stillzuhalten. Wir können Abende lang draußen an Deck sitzen, einmal schwimmen zwei Buckelwale vorbei. Das Schiff gleitet Richtung Polarkreis, der in Grönland »Hundeäquator« heißt. Südlich davon werden Schafe gezüchtet, daher darf es dort keine Schlittenhunde geben. Der Süden Grönlands steht im Zeichen der Industrie und der Rohstoffe. In Sisimiut, der hügeligen Hafenstadt, sieht man als Erstes riesige Öltanks. Sie sollten die Stadt eigentlich ein Jahr lang versorgen, inzwischen werden sie alle zwei Monate aufgefüllt. Energie wird in Grönland mit Diesel erzeugt, und Grönland braucht sehr viel Energie. Zum Beheizen der bunten Häuser, deren Holzwände so dünn sind wie bei einem Geräteschuppen. Für die Garnelenfabriken, von denen allein jene in Sisimiut täglich 16.000 Liter Diesel benötigt. Für die Probebohrungen nach Erdöl, das Grönland einmal absichern soll. Demnächst soll es eine Aluminiumschmelze geben. Das Aluminium, das in dem aufwendigen Verfahren verarbeitet wird, muss allerdings erst aus Australien oder Brasilien importiert werden. Ausgerechnet das Land, das den Klimawandel vermutlich am unmittelbarsten erleben wird, geht mit Ressourcen um, als gäbe es kein Morgen. Während das Schiff in Sisimiut im Hafen liegt, führt ein Kajakfahrer den Passagieren die traditionellen Jagdtechniken der Inuit vor. Wir stehen oben auf dem windgeschützten Deck, unten auf dem Wasser macht ein Mann im dünnen Schutzanzug eine Eskimorolle nach der anderen. Immer wieder stürzt er sich Kopf voran ins eisige Wasser, verschwindet unter seinem Kajak, taucht mit rotem Gesicht wieder auf. Ein winziger Kajak vor einem Kreuzfahrtschiff – das sagt eigentlich alles über die Welten, die in Grönland aufeinandertreffen. Vor uns liegt Kangerlussuaq, der ehemalige amerikanische Militärflughafen mit einer Containerstadt aus den fünfziger Jahren drum herum, das Ende unserer Expedition. Das Schiff fährt durch einen schmalen, von Bergen gesäumten Fjord. Ich unterhalte mich mit einer der Kellnerinnen, Diana Jean, einer zierlichen Frau mit wippendem Pferdeschwanz. Sie stammt von den Philippinen, wie so viele, die auf dem Schiff arbeiten. Diana Jean will in zwei Jahren heiraten, aber vorher will sie die Welt sehen. Einmal, sagt Diana Jean, ist das Schiff auf einen Eisberg aufgelaufen. Es gab einen Riesenalarm, und ein anderes Schiff musste kommen und helfen. Also doch jemand, der hier ein Abenteuer erlebt hat. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.11.2009 Rundumblick von der MS Fram vor Uummannaq. Foto: Trym Ivar Bergsmo / Hurtigruten Reisetipp Die MS Fram ist das jüngste Schiff der norwegischen Linie Hurtigruten. »Fram« bedeutet »vorwärts«, und zwar mit 1 Knoten auf Expeditionsreisen durch die Polarregionen. In den Sommermonaten ist das Schiff auf verschiedenen Routen an der grönländischen Küste unterwegs. Im Winter fährt es in Gewässern der südlichen Erdhalbkugel durch die Antarktis. Weitere Informationen gibt es bei Hurtigruten im Internet unter http://www.hurtigruten.de/ Expeditions-Seereisen, per Telefon: 040/376930 oder per E-Mail: info@hurtigruten.de. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.8.2005 Aus dem Maschinenraum Technische Daten der MS Fram Länge über alles: 114 Meter \.........../ Breite: 20,20 Meter Passagierdecks: 7 Höchstgeschwindigkeit: 16 Knoten Maschinenleistung: 4620 kW Schiffsgröße: 11647 BRZ Besatzung: 70 Passagiere: 318 Stapellauf: 2006 Reederei: Hurtigruten ASA Besonderheiten: Die MS Fram wird ausschließlich auf Expeditionskreuzfahrten eingesetzt. Im Sommer fährt sie in arktischen, im Winter in antarktischen Gewässern. Grafik: Hurtigruten Den Emotionen auf der Spur Gefühle eBook Umfang: ca. 100 Seiten September 2013 ISBN (e-Pub): 978-3-89843-257-3 ISBN (PDF): 978-3-89843-258-0 Preis: 7,99 Trauertäler und Freudenhügel Werden heute wirklich weniger Emotionen geäußert als vor hundert Jahren? Eine Studie jedenfalls sieht es so. Von Ulrich Mees G ehen wir heutzutage offener und aufgeschlossener mit Emotionen um als die Menschen vor hundert Jahren? Diese und andere Fragen zum kulturellen Wandel können anhand quantitativer Analysen riesiger Mengen von Textdaten beantwortet werden. So haben amerikanische und britische Forscher mittels Computerprogrammen den digital gescannten Buchbestand von Google auf der Suche nach Höhen und Tiefen »emotionaler« Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts durchforstet und dabei vier Prozent des gesamten Buchbestandes analysiert: fünf Millionen englischsprachige Bücher (PLOS ONE, 2013, 8,3). Die Autoren verwendeten sechs »Stimmungswortlisten«. Diese bestehen aus 146 Begriffen für Ärger (anger), 92 Ausdrücken für Angst (fear), 30 für Ekel (disgust), 224 für Freude (joy), 115 für Traurigkeit/Trauer (sadness) und 41 für Überraschung (surprise). Allerdings sind diese Ausdrücke häufig nur lexikalische Variati- onen desselben Wortes (z.B. depression, depressive, depressing). Es wurden alle Buchsorten durchkämmt, also neben fiktionalen Werken auch Sachbücher wie Reparaturanleitungen oder Kochbücher. Für jeden Begriff aus den sechs Stimmungswortlisten wurde seine Auftrittshäufigkeit pro Jahr zwischen den Jahren 1900 und 2000 (jeweils einschließlich) ermittelt. Da die Anzahl der gescannten Bücher in diesen Jahren schwankte, wurde der jährliche Umfang an Wörtern standardisiert. Über das Jahrhundert hinweg lassen sich emotionale Gipfel und Täler finden, wobei das Muster offensichtlich bestimmte große historische und soziale Trends spiegelt: So gibt es drei »Glücksgipfel«, nämlich die zwanziger Jahre (»Roaring Twenties«) sowie in abgeschwächter Form die sechziger Jahre (Baby-Boom) und die Jahre gegen Ende des Jahrhunderts; dagegen bilden die vierziger und in milderer Form die achtziger Jahre ein »Traurigkeitstal«, da die Mittelung von »Trauer/Traurigkeit« die von »Freude« überwog (es wurde die Differenz zwischen »Freudewörtern« und »Traurigkeitswörtern« aus den Stimmungswortlisten als Maß verwendet). Allerdings fehlt ein entsprechendes Traurigkeitstal gegen Ende des Ersten Weltkrieges. Aber was besagen die Ergebnisse? Verwenden wir wirklich mehr emotionsbezogene Wörter als die Menschen vor hundert Jahren? Das überraschende Ergebnis der Analyse lautet: Nein, im Gegenteil. Der Gebrauch von Emotionswörtern ist im zwanzigsten Jahrhundert stetig zurückgegangen. Es gibt nur eine Abweichung: Angstbezogene Wörter nahmen in ihrer Häufigkeit bis in die sechziger Jahre ab und seit den siebziger Jahren wieder zu. Sie erreichten gegen Ende des Jahrhunderts ungefähr wieder ihr Niveau der Jahrhundertmitte. Übrigens wurde diese Analyse anhand eines Datensatzes wiederholt, der nur fiktionale englische Bücher enthielt. Auch dort fanden die Autoren der Studie eine ähnliche Abnahme im Gesamtgebrauch stimmungsbezogener Wörter. Sind wir wirklich weniger emotional in unserer veröffentlichten Sprache? Wir leben doch in einer Welt des Fernsehens – das Internet und die neuen sozialen Medien hatten im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht die heutige Bedeutung –, und Gefühle scheinen allgegenwärtig. Aber nach diesen Forschungsergebnissen irren wir uns. Sind wir also entgegen unserer eigenen Einschätzung doch eher coole Asketen, die nur selten ihre Gefühle mitteilen, sie beschreiben oder über sie schreiben? Feiert die Theorie des Soziologen Norbert Elias hier ihre empirische Bestätigung, wonach die Menschen sich im Prozess der Zivilisation aufgrund zunehmender wechselseitiger Abhängigkeiten gezwungen sehen, ihre Affekte immer mehr zu disziplinieren und zu kontrollieren? Allerdings bezieht sich die dort postulierte Zunahme an Affektkontrolle primär auf negative Emotionen wie Scham und Peinlichkeit, nicht auf positive Emotionen wie Freude. Aber wie vertrauenswürdig sind die Ergebnisse dieser Studie eigentlich? So kann als Erstes bemängelt werden, dass nur die Häufigkeit von Stimmungswörtern analysiert wurde, nicht aber ihre jeweilige Intensität. Es ist vorstellbar, dass im Laufe des vergangenen Jahrhunderts emotionsrelevante Wörter zwar seltener verwendet wurden, dann aber durch intensivere Wörter ersetzt wurden, dass etwa statt von »like« mehr von »love« die Rede ist. In diesem Fall ließe sich die These der zunehmenden Emotionskontrolle nicht mehr halten. So zeigt ein Blick auf die sechs Stimmungswortlisten, dass dort auch Begriffe aufgenommen wurden wie Freundlichkeit, Schüchternheit, Aggressivität oder Brüderlichkeit. Dies sind jedoch keine Bezeichnungen für aktuelle Emotionen, sondern für überdauernde Persönlichkeitsmerkmale. Damit sollen latente, stetige Verhaltensbereitschaften beschrieben werden. »Schüchternheit« bezeichnet das häufige Vorkommen einer sozialen Angst als aktueller Emotion, »Aggressivität« ein häufiges Manifestieren ärgeraffiner Aggressionen. Wenn jemand als »schüchtern« beschrieben wird, ist dies also viel gravierender, als wenn er einmal »Angst hat«. Auch hier wäre zu prüfen, ob der schriftliche Gebrauch solcher emotionsaffiner Persönlichkeitsmerkmale zugenommen hat, was dann die Häufigkeitsabnahme reiner Stimmungs- und Emotionswörter kompensieren würde. Und schließlich ist zu kritisieren, dass Emotionen auch anders schriftlich kommuniziert werden können als durch ausdrückliche Nennung von Stimmungs- und Emotionswörtern, nämlich durch Metaphern und Metonymien. Wenn mir jemand auf die Pelle rückt oder auf den Schlips tritt, gehe ich manchmal in die Luft und explodiere schließlich. Dies sind geläufige sprachliche Bilder zur Beschreibung unserer Wut, ohne dass dieses Wort verwendet wird. Und so ist es auch bei der Metonymie, bei der ein Ausdruck einen anderen ersetzt, wobei häufig eine Teil-Ganzes-Beziehung zwischen den beiden Begriffen besteht (»Stahl« für Dolch, »Washington« für die Vereinigten Staaten). Eine Emotion kann metonymisch durch ihre (vermeintlichen) physiologischen Effekte ersetzt werden; so steht eine Wahrnehmungsstörung wie »rotsehen« als unterstellter Effekt von Wut für diese Emotion. Auch ein aggressiver tierischer Ausdruck (»knurren«, »brüllen« oder »anschnauzen«) kann metonymisch für die Emotion Wut stehen. Vortrefflich bringt Wilhelm Busch hier die Teil-Ganzes-Beziehung im Konflikt um die gut geschützte und materiell abgesicherte Privatsphäre zum Ausdruck: »Der Privatier ganz zornentbrannt, Haut mit dem Säbel umeinand.« Wilhelm Busch: Die Diebe, Kapitel 2 Wenn man nun liest, dass ein Chef »rotsieht« und einen Untergebenen »anschnauzt«, so ist klar, dass er wütend auf den Untergebenen ist, ohne dass dieses Wort erwähnt wird. Emotionale Metaphern und Metonymien veranschaulichen insbesondere intensive Gefühle (also etwa Wut statt Ärger). Es ist daher unabdingbar, in einer Untersuchung eines möglichen Emotionswandels solche konventionalisierten Ausdruckstypen mit zu erfassen. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Rückgang der Nennung von Stimmungs- und Emotionswörtern in fiktionalen Werken kompensiert wird durch eine parallele Zunahme emotionaler Metaphern und Metonymien. Das Fazit fällt ernüchternd aus: So interessant diese große Studie auch ist, so verbesserungswürdig erscheint sie. Dies aber könnte sich durchaus lohnen. Für uns wären dabei natürlich auch interkulturelle Vergleichsstudien mit anders-, etwa deutschsprachigem Textmaterial von besonderem Interesse. Der Autor lehrte und forschte bis zu seiner Pensionierung Emotionspsychologie an der Universität Oldenburg. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.2013 Inside the Company: Die National Security Agency National Security eBook Umfang: ca. 280 Seiten Mit 8 Abbildungen Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung Februar 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-282-5 ISBN PDF: 978-3-89843-281-8 Preis: 9,99 € Totale Überwachung Die NSA will seit 2001 alles wissen Von Thomas Gutschker I m Juni 2008 besuchte Generalleutnant Keith Alexander, der Chef des amerikanischen Geheimdienstes NSA, seine Mitarbeiter in Menwith Hill. Der Stützpunkt liegt in der englischen Grafschaft North Yorkshire und wird seit den fünfziger Jahren von der NSA betrieben. Von dort wurde im Kalten Krieg der satellitengestützte Datenverkehr der Sowjetunion abgefangen, es war der wichtigste Knoten im globalen Spionageprogramm »Echelon«. Alexander hatte den Abhörprofis eine schöne »Sommer-Hausaufgabe« mitgebracht, wie er es formulierte: »Warum können wir nicht alle Signale zu jeder Zeit sammeln?« So ist es auf einem Dokument aus der Sammlung des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden überliefert. Alexanders »Hausaufgabe« mag überzogen oder gar absurd wirken – aber nur auf Leute, die nicht zur NSA gehören. Die Mitarbeiter selbst können kaum überrascht gewesen sein: Alles zu wissen und alles zu speichern war seit 2001 zum neuen Ziel der technischen Aufklärung geworden. Damit änderte sich auch das Verhältnis zu den Partnern. Es konnte keine Freunde mehr geben, deren Überwa- chung tabu war – es sei denn, sie stellten Daten freiwillig zur Verfügung wie die Briten. Nicht einmal die Privatsphäre von Amerikanern blieb verschont. So entstanden Überwachungsprogramme wie das von Snowden enthüllte »Prism«, bei dem die NSA Daten amerikanischer Internetkonzerne abzweigt. Am Anfang dieser Entwicklung stand ein Mann, dessen Name böse Erinnerungen weckt: John Poindexter. Als Sicherheitsberater Reagans war Poindexter über illegale Waffenlieferungen an Iran und nicaraguanische Rebellen gestürzt und wegen krimineller Verschwörung verurteilt worden. Anfang 2002 bekam er seine zweite Chance als Regierungsbeamter. Präsident George W. Bush machte den früheren Admiral zum Direktor eines Programms namens »Total Information Awareness«, zu Deutsch: vollständige Informationskenntnis. Das Programm war im Pentagon angesiedelt und startete mit einem Budget von 200 Millionen Dollar im Jahr. Poindexter hatte freie Hand und steckte sich ein ehrgeiziges Ziel. Ein »Manhattan Project for Counter-Terrorism« wollte er aufbauen mit den besten Informatikern des Landes – so wie einst Physiker um Edward Teller die Atombombe gebaut hatten. Nun, im digitalen Zeitalter, sollte diese vernichtende Waffe eine riesige Datensammlung sein. Poindexter wollte Terroristen aufspüren, die sich scheinbar normal verhielten – so wie die Attentäter von 9/11. Erst aus der Kombination vieler einzelner Informationen würde sich ein verdächtiges Muster ergeben, glaubte er. Einkäufe in Online-Shops, Kontobewegungen, Kreditkartenrechnungen, Telefongespräche, E-Mails, besuchte Websites: das alles sollte in einer Datei zusammengeführt und mit einer neuartigen Software analysiert werden. Ein Mitarbeiter Poindexters sagte einmal, die Aufgabe sei schwieriger als die Suche nach der Nadel im Heuhaufen: »Wir müssen viele Haufen durchsuchen, nicht bloß einen; es gibt keinen Kontrast zwischen glänzenden, harten Nadeln und mattem, weichem Heu; es gibt viele Möglichkeiten, Teile zu Nadeln zusammenzufügen und daraus Gruppen zu bilden; und wir können nicht sagen, ob eine Nadel oder eine Gruppe gefährlich ist, bevor sie nicht wenigstens zum Teil zusammengesetzt ist. Im Prinzip müssen wir alle Nadelteile über die gesamte Zeit verfolgen und alle möglichen Kombinationen in Betracht ziehen.« Es ging also um totale Überwachung, um Allwissenheit – und so sah auch das Programmsiegel aus: eine steinerne Pyramide, an deren Spitze ein Auge auf den Globus blickt. Poindexter hatte Pech. Das Programm flog auf, Abgeordnete witterten einen Angriff auf die Freiheitsrechte. Im August 2003 musste der frühere Admiral sein Amt aufgeben, der Kongress strich die Mittel. Doch damit war das Projekt nur scheinbar beerdigt. Einzelne Forschungsarbeiten liefen weiter, nun jedoch unter dem Dach der NSA. Was niemand ahnte: Erst im Nachtschatten des Geheimdienstes ging die Saat auf, die Poindexter gelegt hatte. An der Spitze der NSA stand seit 1999 Michael Hayden, ein Luftwaffen-General. Hayden erkannte rasch, dass die Satellitenspionage an Bedeutung verlor und das weltweite Datennetz keine Grenzen mehr kannte. So entstand das Projekt, Glasfasernetze anzu- zapfen – erst auf amerikanischem Boden, dann weltweit. Hayden trat an den Marktführer QWest heran und köderte dessen Vorstandschef mit lukrativen Verträgen. Der weigerte sich zwar standhaft, seine Leitungen zur NSA abzuzweigen. Doch fanden die Schnüffler andere Zugänge. Sie zapften die Anlandepunkte der großen Unterseekabel ebenso an wie Internetknoten von AT&T. Hayden ermunterte den damaligen Präsidenten Bush nach 9/11, ein Programm aufzulegen, das es der NSA ohne Auflagen erlaubte, Amerikaner auszuspähen, die Kontakt zu Terrorverdächtigen hatten. Es lief drei Jahre lang – bis sich der Justizminister weigerte, es weiter zu genehmigen. Gleichwohl wurde der Sammeltrieb der NSA kaum gebremst. Das für Auslandsüberwachung zuständige Sondergericht erlaubte der Regierung nämlich, sämtliche Verbindungsdaten von Amerikanern zu speichern, die mit Ausländern kommunizieren – selbst ohne Verdacht. Seit 2001 hat das Gericht von 21.000 Überwachungsanträgen nur zehn abgelehnt. Unter Hayden wuchs die NSA zu einer Riesenbehörde mit 35.000 Mitarbeitern. Der General ließ gewaltige Datenspeicher und Analysezentren anlegen – nicht mehr allein am Hauptstandort in Maryland, sondern über das Land verteilt. Er trieb auch die Entwicklung von Supercomputern voran, die verschlüsselte Inhalte knacken können. Im NSA-Forschungsinstitut wurde zu künstlicher Intelligenz geforscht. Ein Programm namens »Aquaint« sollte simulieren, wie Menschen denken und entscheiden. Ein Senator, dem es 2003 vorgeführt wurde, schrieb anschließend besorgt in einem Brief, er fühle sich doch sehr an Poindexters Projekt erinnert. Keith Alexander folgte 2005 auf Hayden und führte dessen Kurs fort, bis heute – mit noch mehr Geld und Personal. Als Alexander 2007 den Grundstein für ein Abhörzentrum in Georgia legte, begrüßte er Mitarbeiter mit den Worten: »Sie verrichten das Werk des Herrn.« Das war kein Scherz. Es entsprach der NSA-Religion. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.07.2013 Interessantes aus dem Internet Wir haben eine kleine Sammlung informativer Webseiten abseits des Web-Mainstream zusammen gestellt, die ein wenig Licht auf die Aktionen des amerikanischen Geheimdienstes werfen. Von Hans Peter Trötscher http://media.ccc.de/browse/congress/2013/30C3_-_5255_-_en_-_ saal_1_-_201312301400_-_through_a_prism_darkly_-_kurt_ opsahl.html Kurt Opsahl von der Electronic Frontier Foundation erklärt in diesem Video auf dem Chaos Communication Congress anschaulich das NSA-Spionageprogramm PRISM. http://tech.fortune.cnn.com/2013/12/27/nsa-snowden-2013/ CNN stellt die zehn „schockierendsten“ Offenbarungen rund um die NSA zusammen. Die Seite ist nicht zuletzt interessant für das amerikanische Empfinden rund um die Snowden-Enthüllungen. http://www.dradiowissen.de/nsa-prism-supergrundrechte-und-kryptoparty.126.de.html?dram:article_id=254564 Das Deutschlandradio präsentiert einen Radio-Talk „Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat“. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage, was man gegen die allgegenwärtige Überwachung tun kann. http://www.daten-speicherung.de/index.php/nsa-vs-bnd-warumprism-in-deutschland-undenkbar-ist/ Daten-Speicherung.de erklärt leichtverständlich, wie PRISM funktioniert und welche Möglichkeiten sind dahinter noch verbergen. https://netzpolitik.org/2013/xkeyscore-nsa-programm-sammeltbeinahe-alles-was-ein-nutzer-im-internet-tut/ Netzpolitik.org über die Datensammelsoftware xkeyscore und die von Edward Snowden zu diesem Thema vorgelegten NSA-Folien. https://www.law.upenn.edu/live/files/1718-ambinder10-things Die University of Pennsylvania stellt eine Faktensammlung um die Datensammlungder NSA ins Netz. Sehnsuchtsorte in Andalusien Andalusien eBook Umfang: ca. 230 Seiten Mit 16 Abbildungen Juni 2013 ISBN (ePub): 978-3-89843-261-0 ISBN (PDF): 978-3-89843-262-7 Preis: 9,99 € Costa de Huelva: Ja, wo hängen sie denn? Chamäleonsuche an der Costa de Huelva Von Rolf Moenikes K eines zeigt sich. Keines ist zu sehen. Nicht eines. Kein einziges Chamäleon. Machen sie sich unsichtbar? Tarnen sie sich mit ihrem Farbwechselspieltrick? Es ist zum Augenverdrehen. Nur als Plakatwesen sind sie vorhanden, die exotischen Verwandlungsechsen. Und das nun unübersehbar. An der »carretera«, der Landstraße von Isla Cristina nach La Antilla, dient ein Chamäleon zusammen mit Strand, Surfern und Golf als Symbol für die Natur der nördlichen Costa de la Luz, der Costa Huelva. Es ist überhaupt erst die wuchtige Werbetafel »Isla Cristina, un mar de luz«, die die Besucher aufmerksam macht auf das Ungewöhnliche, Besondere, das es hier geben soll. Denn Golf, Surfen, Strände, das alles ist selbstverständlich, das gibt es an fast jeder Küste Spaniens. Aber dieses Tier auf dem Bild sprengt den Rahmen. Das ist ein Hingucker. Ein Rätsel, ein Fixierbild? Doch was soll es bewirken? Einen aufmerksam, unruhig oder gar süchtig machen? Chamäleonsüchtig? Aber wo sollen diese Chamäleons sein? Nun ist ein Chamäleon kein Tiger oder Löwe, es ist eher wie ein Bernstein an der Ostseeküste. Ein Schatz, und der will gefunden werden. Durch Zufall oder durch hartnäckiges Aufspüren. So viel steht fest: Das Chamäleon auf dem Plakat kann einem den ganzen Urlaub durcheinanderbringen. Denn jetzt, ob bei Tag oder bei Nacht, am Strand oder auf dem Golfplatz oder inmitten des Lichtmeeres, regiert nur noch dieser Wahn: Ein Chamäleon muss her. Dabei wollten wir doch nur die Strände genießen, Strände, die noch nicht von Touristen überlaufen und noch unverbaut sind. Wir wollten nach Lepe, Huelva, El Rocío ... ein Chamäleon hatten wir nicht eingeplant. Aber da es nun einmal der akkreditierte Botschafter dieser Küste ist, wird es so schwer doch nicht werden, eines der Tiere herumlaufen oder herumklettern zu sehen. Auf jedem Ast, jedem Zweig, denkt man angesichts der Werbung, müsste eines sitzen. Und tatsächlich wird der Waldabschnitt zwischen Isla Cristina und Islantilla sogar »Chamäleonwald« genannt, mitten hindurch führt die »Chamäleonroute«. Sandiger Buschwald, durchzogen von einer Eukalyptusbaumallee, hier also ist es zu Hause, das schlafäugige Minimonster. Und prompt ist da schon wieder ein Bild, ein Chamäleonbild, eine Chamäleontafel, ein Chamäleonhinweis – ja, ich bin noch da, mich gibt es hier. Zwischen Wald und Strand hockt es da glotzäugig blinzelnd auf einem Ast, auf ein Opfer lauernd, das es mit seiner pfeilschnellen Zunge einfangen wird. Eine künstlerische Darstellung, sicher, oder auch nur der Versuch, aber eben etwas Ungewöhnliches, Auffallendes. Dieses putzig-schaurige Reptil mit dem Kringelschwanz und dem gelben Auge erinnert die Strand- besucher und Sonnensucher übergroß daran, dass es geschützt ist, geschützt werden will, geschützt werden muss. Wie ein Schrei wird es verkündet. Eigentlich müsste das jeder kapieren: Bitte ein Chamäleon nicht anfassen, nicht aufheben, wenn es aus dem Gezweig gefallen ist, keinen Ast schütteln, wenn es unbeweglich wie tot daran hängt, auf Lauer. Am besten, denken wir uns dazu, gar nicht hingucken, so tun, als hätte man es gar nicht gesehen. Aber das Chamäleon ist sowieso schlauer. Es wechselt seine Farbe und verschmilzt mit dem Hintergrund. So wird die Tafel auch zur Ermahnung, bloß nicht auf eines zu treten oder eines vom Zweig zu streifen, ungesehen, en passant. Blickt gleichzeitig nach vorn und zurück: Das Chamäleon passt in vielfacher Hinsicht gut nach Andalusien. Foto: fatuartetmj / Fotolia.de Aber so perfekt können die sich doch gar nicht tarnen, dass sie überhaupt nicht zu sehen sind. Zu sehen jedenfalls sind nur Wiedehopfe, was auch ein hübsches Bild ist, und diese kecken Blauelstern, die nur hier heimisch sind. Ob sie die Chamäleons vielleicht weggepickt haben? Möglich ist das schon. Oder ob Chamäleons nicht nur die Farbe, sondern auch die Form wechseln können? Als wir nicht länger an diesen Chamäleonspuk glauben wollen – an den Spuk schon, nicht aber an die Chamäleons –, fällt uns eine Ansichtskarte in die Hand, und es ergreift uns sofort stummes Entsetzen, wenn nicht gar Verzweiflung. In einem Schreibwarenladen in Isla Cristina hat sie auf uns gelauert, anders kann man es nicht nennen, auf uns, die Ungläubigen, die Chamäleonzweifler. Da ist es also wieder, dieses Reptil, diesmal grün-weiß gestreift, wie in einem Tarn-Raumanzug steckend, in Lauerstellung positioniert. Hier, auf dem Bild, ist die Tarnung ganz deutlich zu sehen. Wieso also nicht auch im Wald? Einst ein Einwanderer, ist das Chamäleon heute ein authentischer Bewohner unserer Natur: So steht es auf der Rückseite der Ansichtskarte. Also doch. Wozu sonst auch die Chamäleonbilder auf den übersichtlichen und bunten Lageplänen von Islantilla, La Antilla und Isla Cristina, die man in den Touristenbüros erhält? Chamäleons sind geradezu eine Selbstverständlichkeit hier. Wer sie nicht sieht, muss sie eben übersehen haben, oder er weiß einfach nicht, dass es sich um ein Chamäleon handelt. Lieber mit niemandem darüber sprechen. Man spricht ja auch nicht über das Licht, den Sand, die Muscheln – die sind einfach da, so wie die Chamäleons. Niemand sagt, dass er eins gesehen hat. Irgendwie beruhigt das einen, und man freut sich, an dieser schönen Küste Urlaub zu machen, ohne von Chamäleons gestört zu werden, weil man sie ja auch nicht stört. Der ältere Herr, der im portugiesischen Monte Gordo in den Shuttlebus zum Flughafen Faro einsteigt, setzt sich neben uns. »Kommen Sie von drüben?«, fragt er. Drüben? Welches Drüben meint er denn? »Na, Andalusien, auf der anderen Seite des Rio Guardiana, da, wo die Chamäleonküste ist« – und er kichert –, »wo es die Chamäleons gibt.« Das hat natürlich wieder gesessen. Chamäleons, Chamäleonküste, ja, ja, von dort kommen wir. Aha, sagt er, ich kann keine Chamäleons leiden. Deswegen mache ich immer hier Urlaub. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.2.2008 Tipps für die Reise Von Birgitta Fella Reiseführer Andalusien. Baedeker Wissen Verlag Karl Baedeker / MairDumont, 2013, 487 Seiten, ISBN 978-3829713382 Andalusien. Lonely Planet Reiseführer Lonely Planet Deutschland, 2013, 411 Seiten, ISBN 978-3-82972288-9 Andalusien. Reiseführer Von Thomas Schröder, Michael Müller Verlag, 2011, 696 Seiten, ISBN 978-3-89953-598-3 Andalusien. Zeit für das Beste Von Andrea Hoffmann, Kay Maeritz, Hans Zaglitsch, Bruckmann Verlag, 2012, 288 Seiten, ISBN 978-3-7654-5890-3 CityTrip Granada, Sevilla, Córdoba Von Hans-Jürgen Fründt, Verlag Reise Know-How, 2013, 144 Seiten, ISBN 978-3-8317-2214-3 Reise-Handbuch Andalusien DuMont Reiseverlag, 2012, 440 Seiten, ISBN 978-3-7701-7678-6 Wanderführer Andalusien Von Jürgen Paeger, DuMont-Wanderführer, MairDumont, 2012, 156 Seiten, ISBN 978-3-7701-8043-1 Reiseerzählungen und Bildbände Das Andalusienbuch. Highlights einer faszinierenden Region. Kunth Verlag, 2011, Bildband, 256 Seiten, ISBN 978-3-89944822-1 DuMont Bildatlas: Andalusien. Maurische Pracht. Lothar Schmidt, DuMont Reiseverlag, 2010, ISBN 9783770192038 Hausemer, Georges: Im Land der Mauren und Olivenhaine. Andalusische Streifzüge. Picus Verlag, 2000, 132 Seiten, ISBN 978-385452-728-2 Hintzen-Bohlen, Brigitte: Andalusien. Kunst & Architektur. h.f.ullmann publishing , 2007, 536 Seiten, ISBN 978-3833143465 Mayer, Heike S.: Unter der Sonne Andalusiens. Reiseerzählung. Wiesenburg-Verlag, 2010, 196 Seiten, ISBN 978-3-942063-52-4 Neuhaus, Rolf / Serrano, Jesús: Andalusien. Literarische Reisebilder aus dem maurischen Spanien. Klett-Cotta, 2001, 219 Seiten, ISBN 3-608-93161-9 Neuhaus, Rolf / Pasdzior, Michael: Andalusien. Eine Bilderreise. Ellert & Richter Verlag, 1998, 96 Seiten, zahlreiche Farbfotografien, eine Karte, ISBN 978-3892348207 Wissen und Unterhaltung Bossong, Georg: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur. Verlag C.H. Beck, 2010, 128 Seiten, ISBN 978-3-406-55488-9 Lehrreich und leidenschaftlich zugleich schaut der Autor zurück auf Glaube, Dichtung und Wissenschaften in al-Andalus. Bossong, Georg (Hrsg.): Das Wunder von al-Andalus. Die schönsten Gedichte aus dem Maurischen Spanien. Verlag C.H. Beck, 2005. 350 Seiten, ISBN 978-3-406-52906-1 »Die Symbiose von arabischer und hebräischer Sprachkultur, von muslimischem und jüdischem Geist bringt Wunder hervor – ihre Konfrontation kann nur Ungeheuer gebären«, urteilt Bossong in seiner Anthologie zum poetischen Erbe Andalusiens. Das Buch versammelt nicht nur viele schöne alte Gedichte, sondern es ist auch eine Kollektion faszinierender Dichterbiographien. Falcones, Ildefonso: Die Pfeiler des Glaubens. Historischer Roman. Goldmann Verlag, 2012, 928 Seiten, ISBN 978-3-442-47775-3 Der Roman handelt von dem Konflikt zwischen Morisken und Christen im 16. Jahrhundert in Andalusien. Hemingway, Ernest: Tod am Nachmittag. rororo Taschenbücher Nr.22609, Rowohlt Verlag, 2007, 477 Seiten, ISBN 978-3-49922609-0 Hemingway beschreibt und analysiert präzise und eindringlich das Ritual der Kämpfe zwischen Torero und Stier, mit zahlreichen Bildern dramatischer Momente des Stierkampfs, die Hemingway selbst kommentiert hat. Hofmann, Felix (Hrsg.): Andalusische Ansichten. Lesebuch nicht nur für Reisende, Verlag Winfried Jenior, 1996, 240 Seiten, ISBN 978-3-928172-79-0 Diese Anthologie präsentiert Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich kritisch mit der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung in Andalusien auseinandersetzen. Hottinger, Arnold: Die Mauren. Arabische Kultur in Spanien. Wilhelm Fink Verlag, München / Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 2005 (2. Auflage), 496 Seiten, ISBN 978-3-7705-3075-5 Der Arabist und Nahost-Journalist dokumentiert die arabische Geschichte Spaniens ohne Verklärung. Das fast 500 Seiten starke Werk ist eine maßvolle, bisweilen auch kritische Huldigung an die maurische Kultur. Hunke, Sigrid: Allahs Sonne über dem Abendland. Fischer Taschenbuch, 2009 (6. Auflage) 375 Seiten, ISBN 978-3-596150885 Vorurteilsfrei und detailreich führt uns Sigrid Hunke in dem 1960 erstmals erschienenen Werk die Vorreiterrolle der islamischen Welt und die arabischen Wurzeln Europas vor Augen. Irnberger, Harald: Andalusische Arabesken. Literarische Streifzüge. Artemis & Winkler, 2002, 250 Seiten, ISBN 978-3-53807147-6 Der literarische Reiseführer folgt Autoren und Büchern, Literatur und Geschichte auf einer Rundreise durch eine der ältesten Kulturlandschaften Europas. Kennedy, Alison L.: Stierkampf. Klaus Wagenbach Verlag, 2001, 160 Seiten, ISBN 978-3803131577 Der Autorin gelingt es, die Intensität des Stierkampfs in starke Worte zu fassen. Sehr persönlich schreibt sie über ihre Reise nach Spanien und über den Stierkampf, bei dem es um Menschen geht, die »ihr Leben riskieren, um davon zu leben«. Knipp, Kersten: Flamenco. Suhrkamp Verlag, 2006, 244 Seiten, ISBN 978-3-518-45824-2 Der Autor fasst 150 Jahre Flamencogeschichte unterhaltsam und informativ zusammen und belebt die Musikgeschichte mit zahlreichen Anekdoten, literarischen und politischen Zitaten. Menocal, María Rosa: Die Palme im Westen. Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien. Kindler, 2003, 383 Seiten, ISBN 978-3463404301 (gebraucht erhältlich) Die anschauliche und lebendig erzählte Geschichte der maurischen Herrschaft in al-Andalus ist ein Plädoyer für die Tugend der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Neuhaus, Rolf: Der Stierkampf. Eine Kulturgeschichte. Insel Verlag, 2007, 338 Seiten, mit zahlreichen Fotografien, ISBN 978-3458-34952-5 Spanienkenner Rolf Neuhaus hat eine sorgfältig recherchierte, mit Details zwischen harten Fakten und wirkungsmächtigen Legenden gespickte Geschichte des Stierkampfs geschrieben. Neuhaus, Rolf: Fiestas. Spanien im Festrausch. Verlag Winfried Jenior, 1999, 304 Seiten, ISBN 978-3-934377-30-1 In keinem anderen europäischen Land wird derart gerne, exzessiv und ausgefallen gefeiert wie in Spanien. Das Buch erklärt Motive, Sinn und Hintergründe der spektakulären Massenamüsements und trägt zum Verständnis der kollektiven Volksfesträusche bei. Zum Abschluss führt ein Kalender mehr als achthundert der wichtigsten spanischen Volksfeste auf. Stark, Günther: Spuren des Flamenco. Geschichte einer Afición. Akademische Verlagsgemeinschaft München, 2009, 304 Seiten, ISBN 978-3-86924-954-4 Als 19jähriger geht der Autor nach Andalusien, um den Spuren seiner „Afición flamenca“ zu folgen: in jenes „heiterste Andalusien, in seinen äußersten, vom Meerwind erfrischten Westen, wo die Epiphanie des Flamenco, der Triumph dieser strengen, hieratischen Kunst in strahlender Popularität sich zuerst ereignete“. Tietje, Ute: Andalusische Küche. Iberische Köstlichkeiten mit maurischem Erbe. Buffalo Verlag, 2010, 104 Seiten, 978-39809141-4-7 Das Buch enthält eine Sammlung von mehr als 100 Rezepten aus der andalusischen Küche. Wenn Maschinen denken: Künstliche Intelligenz Denken 3.0 eBook Umfang: ca. 204 Seiten Mit zahlreichen Tipps für die Vertiefung des Themas November 2013 ISBN (e-Pub): 978-3-89843-259-7 ISBN (PDF): 978-3-89843-260-3 Preis: 9,99 € Simulanten des Gehirns: Kann man das Denkorgan nachbauen? Unterkomplex: Was im Computer und Labor wächst Von Joachim Müller-Jung K aum einer, der vor anderthalb Jahren »Watson« in der amerikanischen Quizsendung »Jeopardy!« erlebte, konnte sich der Faszination des unsichtbaren Androiden entziehen. Der Supercomputer beantwortete mit atemberaubender Leichtigkeit und in annähernd natürlicher Sprache die gestellten Fragen und besorgte sich aus einer gewaltigen Datenbank die Fakten, die er zur Beantwortung der Fragen benötigte – erfolgreicher als die beiden bis dahin erfolgreichsten Spieler aus dem amerikanischen Kulturkreis des Homo sapiens. Watson schien das menschliche Gehirn nicht nur zu imitieren, er war in der Verarbeitung bestimmter Informationen sogar leistungsfähiger. Die meistgestellte Frage lautete deshalb auch: Wie nah sind Ingenieure und Informatiker der Simulation unseres Gehirns schon gekommen? Berichte über digitale Netzwerkintelligenz, wie sie »Blue Brain« an der École Polytechnique in Lausanne verkörpert, beeindruckten die Fachleute. Mit mehr als einer Million Nervenzellen und aufbauend auf extrem detaillierten Analysen der Architektur, Verschaltung und Signalübertragung wurde zumindest ein kleiner Ausschnitt der Großhirnrinde nachgebaut. Gerald Edelman ließ Computersimulationen von Milliarden Nervenzellen fertigen, auch Modelle mit bis zu hundert Milliarden Zellen wurden bekannt. Doch das alles Entscheidende, was man von einer Simulation erwarten darf, die Funktionalität und damit die Erledigung elementarer kognitiver Funktionen – Denken, Lernen, Gedächtnis – bis hin zur Realisierung der Verhaltensweisen, sind die Maschinenhirne schuldig geblieben. Genaugenommen ist es sogar ziemlich ernüchternd, was die programmierten Denksklaven zu leisten imstande sind. Das menschliche Gehirn mit seinen Tausenden von Zelltypen und seinen Abermilliarden Verknüpfungen, dem Netz an Leitungsbahnen und Synapsen, nachzuempfinden, ist offensichtlich eine Herkulesaufgabe, die sämtliche Kapazitäten an Soft- und Hardware noch weit übersteigt. In der Zeitschrift »Science« (Bd. 338, S. 1202) war nachzulesen, wie weit und doch primitiv die Simulationsversuche heute sind. Chris Eliasmith und seine Kollegen von der University of Waterloo in Kanada haben mit ihrem Model »Spaun« (Semantic Pointer Architecture Unified Network) »erstmals ein funktionierendes Hirn«, – bestehend aus 2,5 Millionen vernetzten Neuronen – imitiert, wie sie schreiben. Fundamentale Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Kognition und Verhalten seien realisiert worden. Was genau darunter zu verstehen ist, lässt die Beschreibung der Aufgaben erahnen, die das Computerhirn absolvierte: Es waren primitive Aufgaben wie das Erkennen von Zahlen auf einem Bildschirm, das Abrufen derselben aus dem Arbeitsspeicher und das Nachzeichnen mit Hilfe eines mechanischen Arms. Aufgaben wurden gestellt, die auch in Multiple-Choice-Intelligenztests vorkommen: »123; 567; 34?« oder »0074=74; 0024=24; 0014=?«. Spaun absolvierte alle acht unterschiedlichen Herausforderungen bravourös. Seine neuronale Hierarchie war erstaunlich komplex. Verschiedene Zentren und ihre wichtigsten Neurone im menschlichen Gehirn, etwa die visuellen und motorischen Zentren oder die Schaltstelle für Entscheidungen im Vorderhirn, der präfrontale Kortex, sowie Teile des Thalamus wurden nachempfunden. Ein digitales Konstrukt, das mit Informationen ähnlich wie sein Vorbild arbeitete. Die Nervenzellen produzierten typische elektrische Erregungen, Aktionspotentiale, und sie »feuerten« in Gruppen oder modulierten die Signale. Und auch komplexe Schaltkreise mit mehreren Zentren wurden hergestellt. Doch im Endeffekt war, das räumen die Forscher ein, die statistische Verarbeitung der ein- und ausgehenden Signale völlig anders als beim Vorbild. Mathematisch gesehen sind Gehirn und Spaun zwei verschiedene Welten. Vor allem aber ist das Modell nicht in der Lage, Neues zu erlernen. Spaun ist mehr oder weniger auf die Lösung der paar Aufgaben festgelegt, für die er konstruiert war. Damit fehlt dem Hirnnachbau etwas, das die Evolution schon bei einfachsten Organismen ins Werk gesetzt hat. In gewisser Weise ähnelt der digitale Simulationsversuch dem grobschlächtigen Ansatz von Ed Boyden vom Massachusetts Insti- tute of Technology, mit einem fünfzig Dollar teuren photolithographischen Verfahren aus der Halbleiterindustrie einen Ausschnitt der Großhirnrinde in der Petrischale nachzubauen. In der Zeitschrift »Advanced Materials« berichtet er, wie seine Gruppe aus einem Konglomerat aus Hydrogel und diversen Hirnzelltypen dreidimensionale Gewebestücke erzeugte: Das Gel wurde schichtweise aufgeklebt, die Zellen wurden eingeschlossen und durch Auflegen einer Maske mit Ultraviolettlicht bestrahlt. Das Ergebnis waren Kunsthirnwürfel, in beliebigen 3D-Formen und angereichert mit Nervenzellen, die Verknüpfungen bildeten – sofern sie ausreichend Platz zum Wachsen hatten. Der Haken: Ob diese Gewebestücke, die Boyden schon »als mögliche Transplantate für die Regeneration von Hirngewebe nach Schlaganfall, Hirntrauma oder neurodegenerativen Erkrankungen« sieht, jemals funktionstüchtig arbeiten, steht in den Sternen. Die Forscher aus Massachusetts wären nicht die Ersten, die die Komplexität des Gehirns massiv unterschätzen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.12.2012 Denkende Maschinen im Web Dass es nicht ohne Konflikte abläuft, wenn Maschinen zu denken beginnen, lässt sich anhand der hier zusammengestellten Weblinks gut nachvollziehen. Von Birgitta Fella Bitkom – der Hightech-Verband BITKOM ist das Sprachrohr der IT-, Telekommunikations- und Neue-Medien-Branche in Deutschland. Auf der Homepage sind viele Informationen aus der Branche und über neue Entwicklungen, Statistiken und Marktdaten. dasgehirn.info – Der Kosmos im Kopf Webseite mit anschaulichen Informationen über neurowissenschaftliche Forschung und Aufbau und Funktion des Gehirns, mit zahlreichen Fotos, Videos und einem 3D-Modell, das eine faszinierende Entdeckungsreise durch das Gehirn verspricht. IBM Watson IBM stellt Watson vor, ein Computerprogramm aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz. Der Super-Computer Watson gewann 2011 in der amerikanischen Quizshow »Jeopardy!« gegen zwei Quiz-Großmeister. Watson schien das menschliche Gehirn nicht nur zu imitieren, er war in der Verarbeitung bestimmter Informationen sogar leistungsfähiger. Die Technologie soll im Gesundheitswesen und in der Finanzwelt zum Einsatz kommen. Prävalenz der Internetabhängigkeit – PINTA -Studie Bericht der Drogenbeauftragen über Computerspiel- und Internetsucht, die PINTA-Studie kann in einer Kurzfassung und der kompletten Endfassung herunter geladen werden. Spaun – Videos for Spaun simulations Forscher der University of Waterloo in Kanada haben mit ihrem Model »Spaun« (Semantic Pointer Architecture Unified Network) ein funktionierendes Hirn – bestehend aus 2,5 Millionen vernetzten Neuronen – imitiert. Die Videos zeichnen unterschiedliche Herausforderungen an das künstliche Gehirn nach. www.faz.net/digitaldenken Sind der Preis für Maschinen, die denken, Menschen, die es nicht mehr tun? Der Literaturagent John Brockmann hat führenden Erforschern und Entwicklern der Netzkultur die Frage gestellt, welchen Einfluss das Internet auf ihr Denken nimmt. Die F.A.Z. hat einige der Antworten dokumentiert und eine Leserumfrage dazu ergänzt. www.futurict.eu FuturICT als ein wissenschaftliches Projekt der ETH Zürich mit dem Ziel, Wissen zu bündeln, um damit die Welt asl Computersimulation darzustellen. Durch interdisziplinäre Vernetzung soll es die Weisheit der Vielen nutzen und die kollektive Intelligenz fördern. www.turing-galaxis.de – Versuch einer Kartographie Blog und Diskussionsforum über die Digitalisierung der Gesellschaft und deren kulturelle und individuelle Auswirkungen. www.znl-ulm.de – TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Das TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) verknüpft Gehirn- und Bildungsforschung. Bildungsrelevante Erkenntnisse der Neurowissenschaften werden hier von der Theorie in die Praxis übertragen. Futurologie: Wenn Fiction Science macht Blick in die Zukunft eBook Umfang: ca. 260 Seiten Mit 17 Grafiken und Abbildungen, Lesetipps der F.A.Z.-Redaktion und Bücherliste Oktober 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-292-4 ISBN PDF: 978-3-89843-291-7 Preis: 12,99 € Ideen aus dem Weltall Sciencefiction lässt mögliche künftige Welten sichtbar werden. Aus den ausgedachten Konzepten wurde schon so manches reale Produkt. Das nutzen immer mehr Unternehmen, um auf neue Innovationen zu kommen. Von Philipp Krohn M an könnte das hier alles für furchtbar skurril halten. Ein Sciencefiction-Fan verwirklicht sich seinen Traum, baut die größte Spezialbibliothek in Europa auf und schreibt auf seine Visitenkarte »Vorstand/CEO«. In den Keller lässt er eine Leseecke bauen, in der Weltraumfans auf Perry-Rhodan-Sesseln alle StarTrek-Bände durcharbeiten können. Den Raum betreten Besucher durch einen Torbogen, der ebenfalls aus Perry-Rhodan-Romanen gestaltet ist, 250.000 Bücher findet der Nerd in der öffentlichen Bibliothek. Die Horrorabteilung ist mit Fledermausschmuck ausstaffiert, in der Märchenecke finden Lesungen auf einem Himmelbett statt. Nur ist das alles gar nicht so skurril, finden zumindest immer mehr Manager aus der deutschen Wirtschaft, die bei »CEO« Thomas Le Blanc um Hilfe bitten. Der Bibliotheksgründer und frühere Journalist aus dem hessischen Wetzlar hat sein schräg wirkendes Hobby erst zum Beruf gemacht und dann auch noch eine neuartige Unternehmensberatung darauf aufgebaut. Seine Lektüretipps reichen von Asimoff bis Benford, von Frank Herbert bis Bradbury, von Eschbach bis Herbert W. Franke. Und weil er seit fünf Jahrzehnten so ungefähr alles kennt, was in der Sciencefiction-Literatur von Relevanz ist, erkennen Innovationsmanager und Produktentwickler in ihm und seiner stiftungsfinanzierten Sammlung einen wertvollen Schatz. »Früher hat sich nur das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt für uns interessiert«, erinnert sich Le Blanc. »In diesem Jahr hat sich das ziemlich geändert: plötzlich will eine große Zahl von Institutionen einen literarischen Blick in die Zukunft wagen.« Ermüdet von den abstrakten Prognosen der Zukunftsforscher suchen sie in den fiktiven Szenarien der Romanciers nach Hinweisen, wie die Welt von morgen aussehen könnte. »Und zu meiner Überraschung sind sie nicht nur an den Szenarien interessiert, sondern auch an Kreativitätsmethoden, um auf neue Ideen zu kommen«, sagt Le Blanc. Wer in den vergangenen Jahren den öffentlichen SciencefictionDiskurs ein bisschen verfolgt hat, findet das womöglich gar nicht so ungewöhnlich. Spätestens in dem Moment, in dem der Unterhaltungselektronikkonzern Samsung vor einem kalifornischen Gericht Bilder aus Stanley Kubricks Filmmeisterwerk »2001: Odyssee im Weltraum« als Beweismaterial einsetzte, wurde klar, dass Sciencefiction für Unternehmen mehr ist als eine Spielerei. Im Plagiatsstreit mit dem Wettbewerber Apple präsentierten die Südkoreaner ein Szenenfoto, das einen flachen Computer ohne Tastatur zeigt. Damit wiesen sie den Vorwurf zurück, dem Konkurrenten eine Idee gestohlen zu haben: Wenn schon Kubrick im Jahr 1968 solche Objekte vorführte, könne es mit der Urheberschaft von Apple für den Tabletcomputer nicht weit her sein. Doch zurück nach Wetzlar: Auch Christian Küchenthal saß schon auf dem Perry-Rhodan-Sessel im zweiten Untergeschoss. Der in der Chemiesparte tätige Innovationsmanager von Merck war schnell von dem weißhaarigen und -bärtigen Bibliotheksleiter Le Blanc überzeugt. »Wir suchten nach Antworten, wie wir auf Zukunftstrends kommen könnten«, erzählt er. »Wir wollten wissen, wie die Welt in einigen Jahrzehnten aussieht und wie wir davon profitieren können, indem wir einen Mehrwert für die Kunden schaffen.« Mit knapp 20 Kollegen ließ er sich auf den Workshop in der Phantastischen Bibliothek ein. »Der Sciencefiction-Autor nimmt die aktuelle soziale und technologische Situation und versucht, sie durch Übertreibung in die Zukunft zu projizieren«, sagt Küchenthal. In Gruppenarbeit spielten er und seine Truppe zwei Szenarien durch: Wie sähe eine Welt aus, in der man nur noch laufen darf, und wie eine, in der man gar nicht mehr laufen darf? Welche technologischen und sozialen Folgen hätte ein Kometeneinschlag? Der Merck-Manager ist in seinem Urteil kaum zurückhaltend: »Durch die Frage, was das für uns heißt, kamen Ideen auf, die wir sonst nie gehabt hätten.« Werden andere Manager von ihren Vorgesetzten zum Teil noch mitleidig angeschaut, wenn sie ihnen von der Ideenschmiede in Wetzlar erzählen, unterstützen ihn seine Vorgesetzten. »Durch dieses Verfahren verstehen wir besser, was vielleicht künftig einmal wichtig werden könnte«, sagt Küchenthal. Welches innovative Potential in der phantastischen Literatur steckt, hat auch die European Space Agency in den Niederlanden schon vor mehr als einem Jahrzehnt entdeckt. Im September 2002 veröffentlichte die Behörde einen Bericht, in dem sie Technologien aus der Sciencefiction-Literatur zusammentrug – in der Hoffnung, weltraumtechnische Anwendungen weiterzuentwickeln: Antriebstechniken auf Basis der Raum-Zeit-Krümmung, Fusions- oder Ionentriebwerke, Weltraum-Laser und magnetische Schilder, verzögerungsfreie Kommunikation. »Auch hoffte man, dabei Einfälle und Anregungen für potentielle langfristige Forschungs- und Entwicklungsarbeiten der europäischen Raumfahrt zu gewinnen«, schrieb der damalige ESA-Projektleiter David Raitt in dem Bericht. Zahllose Beispiele lassen sich finden, wie fiktive Ideen eines Tages politische oder ökonomische Realität wurden. Eines der spektakulärsten stammt aus der Atomphysik: Der britische Romancier H.G. Wells sagte um 1910 eine bestimmte Kettenreaktion in der Atomtechnik voraus. Der ungarische Physiker Leo Szilárd, der an der Entwicklung der Atombombe in Amerika beteiligt war, berichtete später, diese Passage habe bei ihm den entscheidenden Impuls gesetzt, in eine bestimmte Richtung weiterzudenken. Später hat dies die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie ermöglicht. Ähnlich war es in der amerikanischen Marine, die vor dem ersten Weltkrieg einen Wettbewerb für ein U-Boot ausschrieb. Der zweitplazierte Teilnehmer orientierte sich an Jules Vernes »Nautilus«. Das Konzept einer in der Tiefsee schwimmenden Geheimwaffe war zwar ungeeignet für den damaligen Bedarf, die Küsten zu schützen. Jahre später erinnerte man sich aber des Entwurfs und baute U-Boote nach dem »Nautilus«-Vorbild. Noch wirtschaftlicher wurde es bei anderen Autoren: Der französische Schriftsteller Albert Robida erdachte sich schon vor mehr als 100 Jahren Flachbildschirme und Videokonferenzen. Teledoktoren, wie sie zum Teil in der Gesundheitsvorsorge eingesetzt werden, kommen bei dem aus Luxemburg stammenden Romanschreiber Hugo Gernsback vor. Kleine Bücher namens Opton, bei denen man die Inhalte auf eine Seite ziehen kann wie heute auf ein Tablet, beschrieb der polnische Kultautor Stanislaw Lem. Martin Cooper, der Vater des Mobiltelefons, der 1973 mit einem Motorola-Prototyp das erste schnurlose Telefonat machte, beschrieb, wie unmittelbar er für seine Idee von Sciencefiction beeinflusst wurde. Dabei war es ihm fast ein bisschen unangenehm, dass sein Modell eher einem Ziegelstein ähnelte als den coolen Handgeräten, mit denen die »Enterprise«-Besatzung von Captain Kirk, Pille und Mr. Spock kommunizierte. Die lässigen Handbewegungen, mit denen sie die Klappe ihres Utensils öffneten, habe ihn zu seinem Motorola-Handy inspiriert, sagte Cooper in der Dokumentation »Expedition Weltall«. Ähnliches könnte für die Handbewegung gelten, mit der Tom Cruise in dem Film »Minority Report« seinen Bildschirm steuert und die verdächtig an das Blätterverfahren bei Apples iPads erinnert. Besonders einflussreich scheint Kubricks »Odyssee im Weltraum« gewesen zu sein. Der Bordcomputer Hal, gegen dessen zunehmendes Eigenleben der Protagonist Dave Bowman in der Galaxie ankämpft, hat die Fähigkeit, Emotionen zu imitieren. Die Firma Affective Media stellte später ein Programm her, das Gefühle aufgrund der Stimmlage interpretieren kann. Das Filmkunstwerk sei aber weit davon entfernt, Unternehmen den Weg gewiesen zu haben, sagt der Berliner Filmwissenschaftler Rolf Giesen. »Der Film ›2001‹ war ein Werbefilm für die Zukunft«, sagt er. »Viele Firmen lieferten Designs, um in dem Film vertreten zu sein.« Der Glaube, dass Geisteswissenschaftler in Filmen und Romanen die Produktwelt der Zukunft erdächten, gehe fehl, meint Giesen und spricht von einer sublimen Propaganda: »Hier werden utopische Vorstellungen propagiert, die unterschwellig vermarktet werden.« Wenn etwa in Luc Bessons »Das fünfte Element« fliegende Autos für die Mobilität der Zukunft sorgen, sei das ein subtiler Versuch, heutige Produktwelten auf morgige Welten zu übertragen. »Das gegenwärtige Konsumverhalten wird auf die Zukunft gedrückt«, sagt Giesen. Bis heute ließen sich Science-Fiction-Filmer von Forschungslaboren der Unternehmen mit Prototypen bedienen. Auf einer cool wirkenden Plattform wie dem Film »Matrix« von den Wachowski-Geschwistern würden dann Leitgedanken und Normen vorgestellt, die in der Zukunft bestimmend sein könnten. Mit einer schrittweisen Unterwanderung der Massenkultur hätten Technologiekonzerne so die Bereitschaft dafür geweckt, Szenarien wie in George Orwells Dystopie »1984« freiwillig gut zu finden. Zurück in die Phantastische Bibliothek in Wetzlar: Für den Film träfen die Analysen Rolf Giesens zu, sagt Bibliothekar und Unternehmensberater Thomas Le Blanc. Romane indes böten einen freieren Rahmen, über die Limitierungen der echten Welt hinauszu- gehen. Warum aber suchen immer mehr Unternehmen seinen Rat? »Meine Erklärung ist die, dass Produktzyklen immer kürzer werden. Ideen müssen ganz neue Anwendungen beinhalten«, sagt Le Blanc. »Doch auf diese Ideen kommt man offenbar nicht mit herkömmlichen Kreativitätsmethoden.« Die Beschäftigung mit Sciencefiction könne möglichen Entwicklungen keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen. Ratschläge könne er den Unternehmen deshalb nicht geben. »Dadurch, dass es widersprechende Szenarien gibt, laufen wir nicht Gefahr, eine mögliche Entwicklung überzubewerten«, sagt er. Zudem habe kein einziger Sciencefiction-Autor vorhergesagt, welchen immensen Einfluss der Computer auf das Alltagsleben der Menschen in der heutigen Zeit haben würde. Immerhin aber glaubt er, dass die allzu häufig naturwissenschaftlich-technisch geprägten Geschichtenerzähler ihren Lesern noch einiges zu sagen haben: zur Cyborgisierung etwa – also der Kombination von Mensch und Maschine, zur Virtualität einer körperlosen Welt, zur erdnahen Raumfahrt und zum Megathema Umwelt/Energie/Ressourcen. Am Ende werden die technisch orientierten SciencefictionAutoren sicherlich mehr Einfluss haben als die Träumer und Märchenonkel. Das beklagte der österreichische Schriftsteller Robert Musil schon in seinem »Mann ohne Eigenschaften«. Von den romantischen Vorstellungen der Mobilität und der Kommunikation sei wenig übrig geblieben, beklagt er in einer Passage seines 2000-Seiten-Romans: »Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehen schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegung der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.2013 Lektüretipps: Gestern war Heute die Zukunft Von Birgitta Fella A. Brehmer (Hrsg.): Die Welt in 100 Jahren. Nachdruck mit einem einführenden Essay »Zukunft von gestern« von Georg Ruppelt. Georg Olms Verlag Hildesheim/Zürich 2014. Elisabeth Burgoyne Corbett: New Amazonia – A Foretaste of the Future, 1889. Nachdruck British Library, Historical Print Editions 2011. Albert Robida: Das elektrische Jahrhundert. Hillger, Berlin 1899. Antiquarisch. Ri Tokko: Das Automatenzeitalter. Amalthea-Verlag, Wien 1930. Neuausgabe mit einem Vorwort des Herausgebers Ralf Bülow, Shayol Verlag, Berlin 2004. H.G. Wells: The Shape of Things to Come, 1933. Nachdruck Penguin Classics 2010. Englischer Text online. Klassische Führungsprobleme Führung im Unternehmen eBook Umfang: ca. 116 Seiten Mit 3 Abbildungen Mai 2013 ISBN (ePub): 978-3-89843-239-9 ISBN (PDF): 978-3-89843-240-5 Preis: 12,99 € Phrasenparade Wolkig und weichgespült geht es zu im deutschenglischen Management-Kauderwelsch. Von Julia Löhr W enn Unternehmen ihre Geschäfte neu sortieren, dann sind Schlagwörter nicht weit entfernt. »Score« nennt die Lufthansa ihr jüngstes Strategieprogramm, »Turbine 2013« lautet die Losung bei Air Berlin. Daimler trimmt sich unter dem Motto »Fit for Leadership«, Thyssen-Krupp vertraut auf »Impact 2015«. Dynamik sollen diese Wortschöpfungen ausstrahlen, die Investoren beeindrucken, die Belegschaft motivieren. Doch jenseits der Chefetagen werden sie vor allem als eines gesehen: als schöne Ausdrücke für unschöne Sparmaßnahmen. Längst sprechen Lufthanseaten statt von »Score« von »Scare«. Aus dem Zukunftsmantra ist ein Sinnbild des Schreckens geworden. Es wird in Deutschland oft beklagt, wie groß die Kluft geworden ist zwischen »denen da oben« und »denen da unten«. Viele Bürger haben ein schlechtes Bild von Unternehmen im Allgemeinen und Managern im Besonderen. Doch kaum jemand spricht darüber, dass dies nicht nur mit den hohen Gehältern und dem zuweilen recht eigennützigen Verhalten von manchen Verantwortlichen zu tun hat, sondern auch damit, wie diese kommunizieren. In der Wirtschaft ist ein sprachliches Paralleluniversum entstanden, das sich vom Alltagsdeutsch immer weiter entfernt. Es ist eine Welt, in der »Spiky Leader« Wörter wie »Inspire« oder »Outperform« zum Unternehmensziel erheben, das es der Öffentlichkeit in einem »innovativen Storytelling-Ansatz über alle Erlebnisbereiche« zu vermitteln gilt. In der »Strategic Roadmap« wird sich auf »Leading-Edge-Wissen«, »Insights« und »Business Intelligence« »committed«. Und wer Arbeitsplätze abbauen will, vermeidet das böse Wort der Kündigung mit dem Begriff »Career Transition«. Wolkig und weichgespült geht es zu im deutsch-englischen Management-Kauderwelsch. Es ist ein Himmelreich für Plattitüden. Vielen »Briefings«, »Meetings« und »Proposals« ist der Inhalt abhandengekommen – oder er wird so gut versteckt, dass ihn nur Eingeweihte finden. Sätze wie »Unser bewährtes Geschäftsmodell liefert das Rüstzeug für eine nachhaltige und erfolgreiche Zukunft« oder »Die Marken-Leitidee wird zielgruppengenau über alle relevanten Touch Points hinweg auf den Punkt polymorph ausgesteuert« tun niemandem weh. Aber sie nutzen auch niemandem. Nur wenige Unternehmen gehen damit so selbstkritisch – oder zumindest so selbstironisch – um wie der Technologiekonzern IBM, der das »Buzzword Bingo« zum Thema eines Werbespots machte und all die Parolen vom »zielorientierten nachhaltigen durchschlagenden Web 3.0« persiflierte. In den meisten Fällen halten die Verantwortlichen ihre Ausdrucksweise dagegen für ganz normal. Das ist fast noch erschreckender als die Phrasenparade selbst. Ein Grund für diese Entwicklung dürfte die Angst vieler Vorstände sein, etwas Falsches zu sagen. Etwas, das die Öffentlichkeit zusammenzucken lässt. Oder, schlimmer noch, etwas, das juristisch gegen einen verwendet werden könnte. So wie jene Äußerung des früheren Deutsche-Bank-Chefs Rolf-Ernst Breuer zur zweifelhaften Kreditwürdigkeit des Medienunternehmers Leo Kirch. Der Rechtsstreit, der daraus erwuchs, beschäftigt nun schon seit elf Jahren Anwälte und Gerichte – und kostet die Bank viel Geld. Neben der Furcht vor juristischen Folgen fördert auch der tiefe Glaube an die Kraft des Apparats den Hang, mit vielen Worten wenig zu sagen. Vor allem in großen Unternehmen umgeben sich die Führungskräfte mit einem Heer von Dienstleistern, um ja alles richtig zu machen. Strategieberater, Kommunikationsberater, Imageberater, dazu noch Redenschreiber, Marketingspezialisten und Anwälte: Jeder feilt hier ein bisschen, poliert dort ein bisschen. Übrig bleiben die bekannten Allgemeinplätze. Es ist keine Option, sich statt ins Vage in die Sprache der Technokraten zu flüchten. Wenn der Chef eines Flughafenbetreibers die lärmgeplagten Anwohner mit Verweisen auf Einzelschallereignisse, qualifiziertes Monitoring sowie aktiven und passiven Schallschutz zu beruhigen versucht, mag das inhaltlich richtig und wichtig sein. Nur versteht es kaum jemand. Unvergessen auch die hölzernen Worte von Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler nach der Insolvenz der Drogeriekette Schlecker: »Jetzt gilt es, für die Beschäftigten schnellstmöglich eine Anschlussverwendung selber zu finden.« Um einen Ausweg aus der allgemeinen Sprachlosigkeit zu finden, bedarf es nicht viel. Ein wenig Mut und Achtsamkeit reichen schon aus. Wer regelmäßig innehält und die eigene Wortwahl hinterfragt, wird feststellen, dass er auf so manche liebgewonnene Floskel oder so manchen Fachausdruck getrost verzichten kann, ohne sich damit rechtlich in Gefahr zu begeben. Wer sein Umfeld ermuntert, es ihm gleichzutun: umso besser. So wie der Versandhändler Otto, der seine Mitarbeiter im Callcenter seit einiger Zeit anhält, auf jegliche Wortakrobatik zu verzichten. Statt »Die Überprüfung durch unsere Qualitätssicherung hat den von Ihnen aufgezeigten Mangel bestätigt« heißt es im Gesprächsleitfaden nun kurz und klar: »Sie haben recht, Ihr Pulli war mangelhaft. Dafür entschuldigen wir uns.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.2013 Aussichten: „Green Economies“ oder große Irreführung? Umwelt und Wachstum eBook ca. 120 Seiten September 2012 ISBN (ePub): 978-3-89843-157-6 ISBN (PDF): 978-3-89843-155-2 Preis: 12,99 € In die Biotonne Energiepflanzen schaden der Natur, verteuern das Brot und bringen fürs Klima wenig Von Winand von Petersdorff D ie Verführung liegt in der Schlichtheit des Gedankens: Die Umwandlung von Bioenergiepflanzen in Energie sei zwangsläufig klimaneutral. Bei der Verbrennung der Biomasse könne nur so viel CO2 frei werden, wie die Biomasse vorher aufgenommen hat. Dieses Argument ist die Voraussetzung für die staatliche Förderung der Bioenergie. Biomasse spielt eine zentrale Rolle im Energiewendedrama der Bundesregierung. Denn die Ökoenergiequelle hat gegenüber der Photovoltaik und der Windkraft den unschätzbaren Vorteil, zuverlässig Strom zu liefern, auch wenn gerade keine Sonne scheint und kein Wind weht. Deswegen wohnt ihr das Potential inne, die schmutzigen Energieträger Kohle, Erdgas und Öl zu verdrängen. Das ist schön ausgedacht. Doch leider ist die Ökoenergie gar keine. Das haben zahlreiche Wissenschaftler schon immer gesagt und nun mit besonderem Gewicht die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die der Bundesregierung empfiehlt, die Förderung des Ausbaus zu stoppen. Unter Bioenergie versteht man die Energie, die aus Verbrennung nichtfossiler pflanzlicher Biomasse stammt oder aus Biokraftstoffen, die aus Biomasse hergestellt wurden. Die Förderung nimmt in Deutschland grob zwei Wege. Zum einen wird die Umwandlung von Biogas in Strom und dessen Einspeisung mit einem Festpreis vergütet, der über den Marktpreisen für Strom liegt. Das ist so organisiert wie die Förderung von Windkraft und Photovoltaik. Zum anderen zwingt der Bund die Mineralölindus trie, dem Treibstoff Biokraftstoff beizumischen. Der wird aus Getreide gewonnen. Man darf sagen: Die Förderung wirkt auf eindrucksvolle Weise. In ganz Deutschland sind zum Beispiel rund 7.300 Biogasanlagen entstanden. Das hat den Ackerbau hierzulande dramatisch verändert. Für die meisten Biogasanlagen wird Mais eingesetzt, der in riesigen Bottichen von Mikroben in Gas umgewandelt wird. Rund um die Anlagen wird deshalb Mais angebaut. Allein in Niedersachsen hat sich der Maisanbau seit 2004 verdoppelt. Auf jedem dritten Hektar Ackerfläche des Agrarlandes steht inzwischen Mais. Was für eine Karriere! Als das grüne Denken noch naturverbunden war, erntete die Maispflanze größten Unmut der Ökos. Die Pflanze ist der Prototyp der intensiven Landwirtschaft, verlangt viel Stickstoffdünger, macht anderen Pflanzen und Tieren (außer Wildschweinen) das Leben schwer und begünstigt Bodenerosion. Diese Argumente mussten zurücktreten hinter dem politischen Wunsch, die Energiewende real werden zu lassen. Verdrängt oder kleingeredet wurde ferner die wissenschaftliche Erkenntnis, dass der Anbau das Klima negativ beeinflusst, weil durch die intensive Stickstoff- düngung Lachgas freigesetzt wird, dass schädlicher auf die Klimaentwicklung wirkt als CO2. Schwer wiegt, dass die Energiepflanzen jene Pflanzen verdrängen, die für Tierfutter und Brot angebaut werden. Das erzeugt Knappheiten und hohe Preise, die für reiche Europäer erträglich scheinen, für Bürger armer Länder aber bedrohlich werden können. Gerade die Produktion von Biokraftstoff ist auf Importe angewiesen. In Lateinamerika und Teilen Asiens weichen Viehhalter und Bauern für Brot- und Futtergetreide auf Flächen aus, die als ökologisch schützenswert gelten. Keine Nachhaltigkeitsverordnung der Bundesregierung kann das verhindern. Und das Schlimme ist, jeder weiß es längst. Fossile Spuren im Stadtverkehr. F.A.Z.-Foto / Frank Röth Eine Vermutung verdichtet sich zunehmend. Die Energiewende entpuppt sich als Projekt, deutschen Landwirten neue Einkommensquellen zu verschaffen ohne nennenswerten Beitrag zur Abmilderung des menschengemachten Klimawandels. Ein Großteil der Solaranlagen ist auf bäuerlichen Scheunen installiert, die meisten Windräder stehen auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, die Bioenergiepflanzen ohnehin, und die meisten Investoren für die Biogasanlagen sind ebenfalls Bauern. So ist es naheliegend, dass die konventionelle Landwirtschaft zu den tapfersten Verteidigern des Förderregimes gehört. Sie ist Nutznießer einer der größten Umverteilungen zu Gunsten der Land- und Immobilienbesitzer in Deutschland überhaupt. Milliarden Euro wandern jährlich von normalen Stromkunden zu den Ökostromern der Landwirtschaft. Allerdings gewinnen nicht alle Bauern. Biogasanlagen-Betreiber haben es inzwischen schwer, genügend Biomasse zu auskömmlichen Preisen zu erhalten. In der Regel haben sie, um ihre Anlagen zuverlässig bestücken zu können, Ländereien im Umfeld der Anlage gepachtet. Das hat die Pachtpreise nach oben gebracht und Missmut unter Landwirten erzeugt, die ebenfalls pachten müssen. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.7.2012 Lesetipps: Damit lesen Sie sich in die Umwelt-Ökonomie ein Eine Auswahl von Hans Peter Trötscher Daniel Boese: »Wir sind jung und brauchen die Welt«. Wie die Generation Facebook den Planeten rettet. Mit einem Vorwort von Harald Welzer. Oekom Verlag, München 2011. BUND et al.(Hg.): Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Fischer Verlag. Frankfurt 2008 Paul Collier: »Der hungrige Planet«. Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern. Aus dem Englischen von Martin Richter. Siedler Verlag, München 2011. Christiane Paul: »Das Leben ist eine Öko-Baustelle«. Mein Versuch, ökologisch bewusst zu leben. Ludwig Verlag, München 2011. Lutz Peters: Klima 2055. Olzog Verlag. München 2007. 176 Seiten. Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. Verlag C.H. Beck München 2010. Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon. Econ Verlag. Berlin 2008. 477 Seiten. 24,90 Euro Laurence C. Smith: Die Welt im Jahr 2050. Die Zukunft unserer Zivilisation. DVA Verlag München, 22,99 Euro. Joachim Weimann: Die Klimapolitik-Katastrophe. Metropolis-Verlag. Marburg 2008. World Bank: World Development Report 2010. World Bank. Washington 2009. 417 Seiten. (auch kostenlos als Pdf-Datei). Fahrtbericht Porsche Cayman Testbericht Porsche Cayman S Dossier (PDF) Umfang: 1 Seite Mit 1 Abbildung September 2012 Preis: 1,99 € Dem großen Bruder auf den Fersen Der Mittelmotor-Sportwagen von Porsche könnte fast der bessere Elfer sein. Zumindest für jene, die Freude an der Kurvenhatz haben und eher ein Spielzeug suchen, als nur von A nach B kommen zu wollen. Von Michael Kirchberger D ie gute Nachricht zuerst: Porsche fahren ist günstig geworden. Wer immer schon von einem 911 Carrera geträumt hat, angesichts der Preise für den Klassiker dann doch lieber Abstand genommen hat, der könnte sich von einem Cayman umstimmen lassen. Hier beginnt das Fahrvergnügen schon bei 51.385 Euro. Und die bissige S-Variante des zweitürigen Sport-Coupés für 64.118 Euro knüpft auch hinsichtlich der Motorleistung an den Elfer an. 325 PS (239 kW) liefert der 3,4-Liter-Boxer, ganze 25 PS fehlen dem kleineren Porsche zum 911. Wobei das Wort »fehlen« der Sache nicht gerecht wird. Der Cayman S ist ein Leichtgewicht, 1.320 Kilogramm wiegt er unbeladen. Er trägt seinen Sechszylinder-Boxer nicht im Heck wie der Elfer, das Triebwerk lauert gut versteckt, doch stets präsent direkt hinter den beiden Sitzen. Das führt zu einer ausgewogeneren Gewichtsverteilung als beim größeren Bruder. Das Ergebnis sind ein überaus agiles Kurvenverhalten und Fahrleistungen, die selbst hochge-schraubte Erwartungen übertreffen. Um keine Missverständnisse zuzulassen: Der Cayman S ist kein Kerl für alle Tage. Allenfalls dann, wenn sein Eigner die allein glücklich machende Fortbewegungsweise auf Rädern in maximaler Längs- und Querbeschleunigung sieht. In diesen Betriebszuständen helfen die aufpreispflichtigen, aber fein geschnittenen Sportsitze (3.617 Euro) mit großem Erfolg. Sie bleiben nach vielen Kilometern bequem und erfüllen die Funktion von Hüfthalter und Schulterstütze gleichermaßen. Der Nachteil: Ihre Rückenlehnen lassen sich nicht verstellen. Dies und die knappen Maße der lederbezogenen Schalen führen dazu, dass der CaymanPilot wie einzementiert hinter dem Lenkrad hockt. Die Sitze behindern beim Ein- und mehr noch beim Aussteigen. Auf dem Türschweller mit der linken Hand abstützen, den Körper aus dem Sitz hieven und dann irgendwie die Beine an der A-Säule vorbei ins Freie bugsieren ist noch die eleganteste Art, aus den Niederungen des Sportcoupés in eine aufrechte Haltung zu gelangen. Das ist vielleicht während einer Ausfahrt am Sonntag akzeptabel. Zum Brötchenholen empfehlen wir andere Autos. Zudem ist das Arbeitsgeräusch des Motors im gemischten Fahreinsatz auf Dauer anstrengend. Besonders in Verbindung mit der 2.165 Euro teuren Sportabgasanlage dröhnt das Triebwerk wie der Komtur in Mozarts Don Giovanni. Der bassige Klang mag beim engagierten Fahren erfreuen, auf längeren Strecken über die Autobahn erschwert er Plaudereien mit dem Beifahrer und nervt auf Dauer. Das kann einem Sportwagen nicht unbedingt angelastet werden, nur soll niemand hinterher sagen, wir hätten nicht gewarnt. Also Schluss mit den Alltagsfahrten und hinein in den natürlichen Lebensraum eines Porsche. Der beginnt am Ende der Ebene mit ihren langen Geraden in den ersten Kurven des Mittelgebirges. Mit einem Motorjauchzer stürzt sich der Cayman in die erste Biegung, das Doppelkupplungsgetriebe gibt beim Zurückschalten automatisch Zwischengas, kein Schleppmoment der Maschine soll den sauberen Strich um die Ecke stören. Die neue elektrisch unter- stützte Lenkung gibt genaue Rückmeldungen vom Traktionszustand. Der im Vergleich zum Vorgänger um sechs Zentimeter längere Radstand hat den Cayman milder gemacht, seine Zähne jedoch sind schärfer denn je. Der Übergang von Haft- zu Gleitreibung ist ein fließender Moment, der dem Fahrer bei ausgeschalteten Stabilisierungshelfern Zeit zum Handeln gibt. Das plötzliche Eindrehen des Sportwagens gehört der Vergangenheit an, nie wirkt das Heck zu leicht. Der Motor gibt den Drehzahlkönig und erlaubt sich in keinem Moment und auch nicht im Ansatz Anzeichen von Schwäche. Gasgeben im Kurvenausgang gelingt ohne zeitlichen Versatz. Die Automatik vertrödelt keinen Lidschlag mit Schaltzeiten. Manuelles Schalten ist nur etwas für Puristen, zumal die Schaltwippen am Lenkrad 417 Euro Aufpreis kosten. Wie vom Katapult geschossen, hetzt der Cayman auf die nächste Biegung zu. Kurz davor packen die gut 8.000 Euro teuren Keramikbremsen zu, und auch bei dieser Übung zeigt der kleine Porsche Biss. Die rückhaltende Wirkung des Sicherheitsgurtes ist dabei eine große Hilfe, so mächtig sind seine Verzögerungswerte. Dass die Anlage fein dosierbar bleibt, steigert das Vergnügen nochmals. Der Boxer brüllt vor Lust, wenn es in 4,7 Sekunden von 0 auf 100 km/h geht. Wer allerdings einen Blick der Bewunderung auf den Muskelmann hinter den Sitzen werfen will, wird enttäuscht. Die meisten Servicearbeiten werden von unten erledigt, erst bei größerem Aufwand entfernen die Mechaniker die Abdeckung unter der Heckklappe. Nur die beiden Einfüllöffnungen für Öl und Wasser, deren Deckel wie Stoßdämpferabdeckungen aussehen, lassen auf die Motorlage schließen. Wer den Gasfuß zügelt, erlebt den Cayman S als gezähmtes Raubtier. Sogar das Doppelkupplungsgetriebe gibt sich alle Mühe, den Treibstoffkonsum zu bändigen. Kommt der hinterradgetriebene Wagen zum Stehen, wird der Boxer in Windeseile abgestellt. Beim Lösen der Bremse erwacht er wieder zum Leben, nimmt ohne das markentypische Bellen beim Starten seine Arbeit auf. Ein sanfter Charakterzug, der jeden Straßenanwohner versöhnt. Den Durchschnittsverbrauch haben wir mit 9,7 Liter Super-Plus-Treibstoff errechnet, immerhin 1,7 Liter mehr, als die Messnorm ausweist. 64 Liter Tankinhalt ergeben akzeptable Reichweiten. Die Federung passt sich den Fahrzuständen an, verliert jedoch nie ihren angemessenen Komfort. Sie ist straff, nicht hart, und so haben wir schlechte Fahrbahnen in manch einem Kleinwagen als unangenehmer empfunden als im Cayman S. Dies steigert gemeinsam mit den gewachsenen Innenraummaßen sowie dem auf 425 Liter gestiegenen Kofferraumvolumen (150 Liter vorne, 275 Liter hinten) schließlich doch seine Alltagstauglichkeit. Beschränken muss sich der Cayman-Fahrer allerdings beim Mitnehmen von den liebgewonnenen Reiseutensilien. Die Zahl der Ablagen im Innenraum ist schnell erschöpft, und die aus dem Armaturenbrett ausfahrenden Getränkehalter stören nicht nur das Raumempfinden, sondern auch die Optik. Wer nicht vergeblich einen passenden Platz für Straßenatlas oder mobile Navigationsgeräte suchen möchte, muss 3.147 Euro für das Porsche Kommunikationsmanagement inklusive des Navigations-Moduls ausgeben. Ein Schnäppchen ist der Cayman S sicher nicht. Wer sich die feinen Zutaten wie das Doppelkupplungsgetriebe, die adaptive Fahr- werksregelung, die Keramikbremsen, das Sport-Chrono-Plus-Paket oder individuelle Sitze und Räder leistet, überweist mehr als 80.000 Euro auf das Händler-Konto. Aber dann trennen den MittelmotorSportler immer noch gut 10.000 Euro von einem 911 Carrera. Und dem fehlen dann in der Grundausstattung all die begehrenswerten Extras. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2013 Management in Umbruchzeiten Change! eBook Umfang: ca. 212 Seiten 8 Abbildungen Zahlreiche Tipps zur Lektüre und Vertiefung Oktober 2013 ISBN ePub: 978-3-89843-229-0 ISBN PDF: 978-3-89843-228-3 Preis: 12,99 € »Auch Bleiben tut weh« Wenn ein Unternehmen ein anderes schluckt, fragen sich Tausende Mitarbeiter: Bleiben oder Gehen? Nur keine Kurzschlussreaktion, lautet ein Rat. Das ist leicht gesagt. Von Thomas Reinhold H err Ripken, es tut uns fürchterlich leid, der Konzern hat eine Entscheidung getroffen: Von Ihren 150 Leuten werden 150 Leute gehen. Sie haben 6 Wochen Zeit, mit den Leuten die entsprechenden Vereinbarungen zu treffen. Unterstützung von Ihrer Personalabteilung haben Sie ja zahlreich, da sitzen zwei Leute in der Zentrale, die können Ihnen helfen.« Michael Ripken ist Anfang dreißig, Führungskraft einer Bank, als der Vorsitzende des Verwaltungsrats ihm die niederschmetternde Botschaft überbringt. »6 Wochen. 100 Prozent der Belegschaft. Alles meine Leute!« Ripken hat keine Wahl. Er ist der Boss, er will es seinen Leuten sagen, er will noch Einfluss nehmen, will es erträglicher machen. Doch eine Trennung bleibt eine Trennung. Als alles vorbei ist, kann Ripken sechs Monate lang nicht mehr richtig schlafen. Auch er arbeitet nicht mehr in dieser Bank. So passiert es immer wieder, vielleicht auch während der größten Bankübernahme in Deutschland seit zehn Jahren. Commerzbank kauft Dresdner: 9.000 der 67.000 Stellen beider Häuser sollen wegfallen. Die Filialen wird es treffen, Verwaltungsstäbe, das Investmentbanking. Details sind noch nicht bekannt. Kündigungen, so heißt es, sollen weitgehend vermieden werden. Doch was heißt das schon konkret? »Die Führungskräfte in den mittleren Ebenen haben eine riesige Not«, sagt Buchautor und Berater Laurenz Andrzejewski, der sich seit vielen Jahren mit dem steten Wandel von Unternehmen und ihrer Trennungskultur befasst und der Ripkens lebendige Erinnerungen auf seiner Internetseite zitiert. Mitarbeiter, Personalmanager, selbst Führungskräfte auf der obersten Etage können sich oft nicht von ihrer Angst lösen, beobachtet Andrzejewski immer wieder: In jeder unfreiwillig erlebten beruflichen Umbruchsituation entstünden drei grundlegende Sorgen. Die nackte Existenzangst führt zu Gerangel. Stehe ich noch auf wichtigen Mail-Verteilern, erfahre ich noch, was ich für die Arbeit brauche? Dazu die Positionsangst: Sitze ich künftig noch in einem Büro mit drei Fenstern oder im Dunkeln am Ende des Ganges? Und schließlich die Leistungsangst: Wie gehen wir mit noch mehr Arbeit und Druck um? Gerade am Anfang einer Integration leiden Motivation und Produktivität der Mitarbeiter, mithin die Wirtschaftlichkeit des gesamten Unternehmens. Tatsächlich geht es für den Einzelnen nicht darum, herauszufinden, wie stark bedroht er objektiv ist. »Das lässt sich kaum beschreiben«, sagt der Unternehmensberater Winfried Berner, der sich auf Change Management spezialisiert hat, »es geht darum, wie stark sich ein Mitarbeiter subjektiv bedroht fühlt.« Berner hat ein Buch zum Thema geschrieben. »Bleiben oder Gehen« heißt es – genau die Frage, die viele Banker jetzt in ihrem Kopf bewegen. In jeder Phase der Veränderung steht die Frage – und die mögliche Antwort – in einem neuen Licht. In Manager-Seminaren wird eine »Change-Kurve« gezeichnet: gefühlte Kraft zur Selbststeuerung in Beziehung zur Zeit. Auf den Schock einer Übernahme (Selbstwertgefühl sinkt) folgen Leugnung der Lage (Kraft scheint zu wachsen), die quälende Einsicht (Kraft sinkt nochmals stark), erste Akzeptanz (Kraft steigt jetzt wirklich wieder), Berappeln, neue Realität. Ein typischer Fall, wie zwei Unternehmen mühselig als eines laufen lernen müssen, ist der Kauf der Berliner Schering AG durch die ungleich größere Bayer AG vor zwei Jahren. »Die Frage, wer bleibt, hat uns über Monate beschäftigt«, erzählt eine IT-Projektleiterin in Berlin. Bei Schering hatten sie und ihre Kollegen lange Zeit Angst, dass das Top-Management Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg fällt – und ohne konkrete Ahnung davon, was für ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen wichtig war. »Wir hatten das Gefühl, wir könnten verlieren, was wir uns über Jahre aufgebaut hatten«, erinnert sich die 45 Jahre alte Frau. In der hellen Aufregung des Anfangs »kann man das Tagesgeschäft eigentlich erst mal vergessen«, sagt Berater Berner. Viele Leute steckten ihren Kopf in den Sand – mit einer selbstbetäubenden Hoffnung: Wenn wir nur so weitermachen wie bisher, wird auch alles so bleiben wie bisher. Das führe aber dazu, dass die Leute wertvolle Zeit vertrödelten, in der sie sich besser über ihre Lage und ihr weiteres Vorgehen klarwerden sollten. Zwar lässt sich nicht beschließen, nicht ängstlich zu sein. Aber entscheidend ist die Frage: Was ist mein Plan B? Darüber machten sich die wenigsten Gedanken, sagt Berner. Es bedeute mehr als mangelndes Selbstmarketing. Strategisches Denken in eigener Sache, daran fehle es. Manager, die Entscheidungen über Personal zu treffen haben, können nicht detailliert die Arbeitsleistung und Lebensläufe Tausender Mitarbeiter recherchieren. Sie werden ein Verfahren wählen, das auf alle angewandt wird. Darauf könne man sich einstellen, glaubt Berner. Was habe ich für das Unternehmen getan, warum sollte ich weiter dazugehören? »Seien Sie vorbereitet auf diese Fragen, reflektieren Sie das«, rät auch Andrzejewski. 5.000 Mitarbeiter zählte Schering 2006 in Berlin, Hunderte mussten gehen, die Leverkusener schickten viele ihrer Leute in die Hauptstadt. Das ging nicht ohne Konflikte: »Bei Schering gibt es eine Diskussionskultur, jeder wird gehört. Die bei Bayer ticken anders«, glaubt die Schering-Ingenieurin. Das zeige sich bis heute in Besprechungen: »Die Berliner führen das Wort, die Leverkusener sagen lieber nichts Falsches.« Ihr neues Team arbeitet seit Februar. »Natürlich haben wir alle diese Spielchen zur Teamfindung gemacht, denn es gab großes Misstrauen auf beiden Seiten. Heute ist die Situation besser geworden, aber die Harmonie und Effizienz von früher ist weg.« Der Wandel bedeute nicht nur Trennung, sondern auch Versetzung oder Qualifizierung, sagt Andrzejewski. »Da wird jemandem eine Schulung und ein neuer Posten in London angeboten. Aber der Mann hat seine Beziehungen in Groß-Gerau.« So wird der Veränderungsdruck eine echte Belastung. »Glauben Sie nicht, dass der Mann sich freut. Auch bleiben tut weh.« So weit können die Frankfurter Banker noch gar nicht sein. Oliver Maassen, Personalleiter des Geschäftskundenbereichs der italienischen Unicredit, die vor Jahren die Hypo-Vereinsbank übernommen hat, weiß von seinen Kollegen, dass sie Angst vor Kurzschlussreaktionen der Mitarbeiter haben. Denn sie haben ein Problem, etwa wenn sie mit zwölf Leuten planen, und dann entscheiden sich drei weitere, doch lieber zu kündigen. Aber jetzt bewerben? »Als Personalmanager halte ich das für die denkbar schlechteste Reaktion«, sagt Maassen. Es sei der falsche Zeitpunkt: »Versetzen Sie sich in die Situation der Firma, die eine Bewerbung von einem solchen Banker erhält. Ich würde mich fragen, warum der sich ausgerechnet jetzt anbietet. Glaubt er, er sei schon abgeschrieben? Und wenn er das heute schon weiß, dann hat er wohl auch bisher einiges falsch gemacht.« Wenn der Mann gut wäre, müsste sein Arbeitgeber alles tun, ihn zu halten. »Deshalb gibt es eine klare Maxime für die Personalarbeit: So schnell wie möglich mit den Schlüsselpersonen sprechen. Sicherheit vermitteln.« Die Mitarbeiter als wichtigste Ressource des Unternehmens? Das sei keine hohle Formel, betont Maassen. »Ich erlebe immer mehr, dass Manager sich gerade in solchen Situationen um ihre Leute bemühen. Wir reden über die obersten 15 Prozent. Denen wird früh gesagt: Wir wollen dich, wir brauchen dich, bitte bleib da.« Aber das heiße eben auch, dass 85 Prozent ein solches Zeichen – zunächst – nicht bekommen. In dieser diffusen Lage hält Berater Berner etwas Trost parat: »Die allerwenigsten Manager sind so dumm, dass sie sich schlechte Leute holen und damit ihr künftiges Ergebnis gefährden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.2008 Lese- und Internettipps Change Management ist keine einfache Angelegenheit. Mit den hier genannten Werken bekommen Sie einen guten Start ins Thema. Michael Berger, Jutta Chalupsky, Frank Hartmann: Change Management – (Über-)Leben in Organisationen. Verlag Dr. Götz Schmidt, Gießen 2008. Klaus Doppler, Christoph Lauterburg: Change Management – Den Unternehmenswandel gestalten. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008. John P. Kotter: Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt. Verlag Droemer/Knaur, München 2006. Thomas Lauer: Change Management – Grundlagen und Erfolgsfaktoren. Springer Verlag Berlin / Heidelberg 2010. Torsten Oltmanns, Daniel Nemeyer: Machtfrage Change: Warum Veränderungsprojekte meist auf Führungsebene scheitern und wie Sie es besser machen. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010. http://widawiki.wiso.uni-dortmund.de/index.php/Change_Management Kurzabriss zum Thema Change Management im wissenschaftsdidaktischen Wiki der Universität Dortmund. http://www.changemanagement.bdu.de/change-management/changemanagement-tools/ Der BDU stellt in aller Kürze die wichtigsten Change-Management-Tools vor. http://www.changemanagement.bdu.de/media/256648/whitepaper-trendsim-changemanagement.pdf Whitepaper Changemanagement Trends zum Download. http://www.change-management-toolbook.com/ Das Change-Management-Toolbook (englisch). http://www.mindtools.com/pages/article/newPPM_87.htm Change Management Werkzeuge von Mindtools (englisch). http://www.strategy-business.com/article/rr00006?pg=all Die Hauptprinzipien des Change Management auf „strategy + business“ (englisch). Elisabeth II. und die Idee der Monarchie im 21. Jahrhundert Elisabeth II. eBook Umfang: ca. 290 Seiten Mit 15 Abbildungen Literaturtipps mit Kurzrezensionen und kuriosen Internetlinks September 2013 ISBN ePub: 978-3-89843-233-7 ISBN PDF: 978-3-89843-234-4 Preis: 9,99 € Einmal Buckingham Palace Das zweite elisabethanische Zeitalter Von Bernhard Heimrich W er eine Königin besucht, kann etwas erzählen. Also fangen wir an. »Zum Palast bitte«, sagt der Fahrgast. »Buckingham?« fragt der Taxifahrer. »Zum Buckingham-Palast«, bestätigt der Fahrgast ergriffen. Der Fahrer nickt, stellt den Zähler an und macht sich auf den Weg. Der Passagier hinten lauert. Der Fahrer vorne schweigt. Das kann doch nicht alles gewesen sein? In Paris war das ganz anders gewesen. Als der Taxifahrer hörte, er möge zu »Notre Dame« fahren, hat er den Gast zuerst einmal geduldig gefragt, ob er eine Ahnung habe, wie viele Kirchen es in Paris gebe, die Notre Dame heißen. Dürfe es vielleicht Notre Dame de Lorette sein, schlug er vor, oder lieber Notre Dame de la sowieso? Oder wieder eine andere? »Notre Dame!« wiederholt der Fremde kläglich. »Kein Problem«, sagt der Fahrer munter. Es war ihm überhaupt nur um seinen Stolz auf sein Wissen und die vielen Kirchen seiner Hauptstadt gegangen. Oder war da nicht auch noch eine Ahnung von Nation, von großer Geschichte im Schatten dieser Kirchen? Ist nicht Paris einmal eine Messe wert gewesen? War sein König nicht der allerchristlichste? Gehört zur Nationalliteratur nicht auch ein Glöckner von, pardon, Notre Dame? Was für Paris die vielen leeren Kirchen sind, sind für London die vielen bewohnten Paläste. Dort leben die, die schon immer in Palästen gelebt haben. Unser Taxifahrer zählt nicht dazu, und deshalb hatte die Fahrt eigentlich auch ein kleiner Test zum Pegelstand einer englischen Seele sein sollen. Das Ergebnis ist ebenso enttäuschend wie, ein wenig früher, die Suche im Telefonbuch. Da steht »Buckingham Palace« eingestreut irgendwo zwischen »Buckingham Balti House«, offenbar einer indischen Speisegaststätte, »Buckingham Arms«, was schon wieder auf eine Kneipe schließen lässt, oder »Buckingham Dry Cleaners«; und auch die Telefonnummer macht mit ihrem kleinbürgerlichen Durcheinander beliebiger Ziffern nichts von sich her. »Wo soll ich Sie denn rauslassen?« fragt der Taxifahrer am Ziel der unergiebigen Expedition. »Die Wachablösung sehen Sie am besten von da drüben.« Es ist kurz nach zehn; um elf ist der wöchentliche Auftritt der zackigsten Ballett-Truppe dieser Erde, der königlichen Garde. »Hören Sie, ich will in den Palast hinein, nicht zum Palast!« Das gibt dem Fahrer dann doch einen Ruck. Sogar das Taxi ruckt ein bisschen, denn eben hat der Fahrer die Zentralverriegelung wieder eingeschaltet. Der Fahrer dreht sich herum, um den Gast besser studieren zu können. Aber noch immer scheint ihm der Sinn nicht nach einer Aussprache über die Monarchie zu stehen. Stattdessen steuert er den nächsten Polizisten an. »Hier ist einer, der sagt, er will in den Palast«, klagt er. Der Fahrgast fingert in den Manteltaschen nach diesem elenden Brief, vergebens natürlich. Wahrscheinlich liegt er zu Hause auf dem Schreibtisch. Der Polizist wirft einen Blick auf den Fahrgast. Wie ein Taliban sieht der heute aber nicht aus. »Wenn Sie in den Palast wollen, nehmen Sie am besten den übernächsten Eingang«, sagt er milde. Und das soll alles gewesen sein? Gott und ihr Recht. Bei aller „Britishness“ haben die Royals einen erstaunlichen und doch historisch klar nachweisbaren Hang zu ausländischen Motti. Beim Prince of Wales ist es sogar deutsch: „Ich dien“. F.A.Z.-Foto / Felix Schmitt. Eine Einbestellung Jetzt ist auch der Brief wieder da. Es ist eine Einbestellung zur Königin. Eine »Einladung« darf man so etwas nicht nennen, das wäre ungehörig; denn die Königin lädt niemanden ein, höchstens vielleicht andere Königinnen. Alle übrigen Menschen lädt sie vor. Denn Höflichkeit ist in Wahrheit gar nicht die Tugend der Gekrönten. Die Königin also hält heute in ihrem Palast eine »Investitur«. Das heißt, sie verleiht die Ehrentitel der Saison; und wer eine Einbestellung hat, darf dabei zuschauen. Manchmal wird sogar der eine oder andere Ausländer bestellt, denn man hat keine Vorurteile. Auch die Abwägung der Schicklichkeit der Person nimmt bei Fremden und Untertanen gleichermaßen einige Wochen in Anspruch, bei den Untertanen womöglich sogar noch ein bisschen länger. Mit der Vorladung kommt die Regieanweisung. Für den Zuschauer genügt dunkler Anzug; andere müssen zum Kostümverleih. Ferner flattert eine rote Karte aus dem Umschlag, die am Außentor »abgegeben werden muss«. Das ist doppelt unterstrichen. Dann tritt eine weiße Karte für drinnen in Aktion, die dem Posten »gezeigt, aber keinesfalls ausgehändigt wird!« Diese Anweisung steht in Großbuchstaben. Am Tor des Buckingham-Palastes ist immer Ferientag. Touristen posieren abwechselnd für ein Foto. Kinder werden hochgehoben, damit sie besser durch das Gitter schauen können. Die Polizisten sind von väterlicher Freundlichkeit und aufgelegt zu den ausführlichsten Auskünften. Zaungäste fixieren mit mörderischer Geduld die Posten in den Bärenfellmützen, um sie bei einer winzigen Bewegung zu ertappen. Andere stehen in unternehmungsvollem Nichtstun herum, wie es nur Ausflügler können. Für sie alle ist die Welt an diesem Tor zu Ende, heute, immer. Doch das ist diesmal nicht die Welt des Fahrgastes. Mit weichen Knien, aber dennoch festen Schrittes geht er durch das Volk hindurch zum Durchlass neben dem großen Tor mit den güldenen Zinnen. Hier wickelt er seine vielfarbigen Papiere aus, und dann ist es auch schon geschehen. Ein Schritt, und er ist auf der erdabgewandten Seite des Schilderhäuschens. Die Zuschauer schauen ihm durch den Zaun nach, wie ihm noch nie jemand nachgeschaut hat. Bei einem echten Palast ist nicht das Drinsein das Erbauende, sondern das Hineingehen. Der Königin geht das sicher jeden Tag so. Hie und da blitzt ein rasch hochgerissener Fotoapparat. Zu Hause wird es einen fruchtlosen Streit geben, wer der Unbekannte sei. Die Beziehungen zwischen drinnen und draußen sind rätselhafter, als man denkt. Im Jahr des vierzigsten Thronjubiläums der Königin 1992 wurde eine Übersicht veröffentlicht, ein Drittel der Bevölkerung des Königreichs habe angegeben, Elisabeth II. erscheine ihnen gelegentlich im Traum. Wenn es Nacht wird in ihrem Reich, besucht sie wie Harun al Raschid das Unterbewusstsein ihres Volkes in den seltsamsten Verkleidungen. In manchen Träumen tritt sie auf als ein älteres Fräulein mit einem »möblierten Zimmer« in London; als Bäuerin von einem Hof in Yorkshire; als Landfahrerin, die in einem Wohnwagen lebt. Wieder anderen erscheint sie als Tischtennis-Spielerin, als Liftboy oder als Lastwagenfahrerin, und mitunter steht sie wie Theodor im Fußballtor. Und da es britische Träume sind, gipfelt der Auftritt meistens darin, dass man das Teewasser aufsetzt. Das ist die wunderliche Ungereimtheit dieses zweiten elisabethanischen Zeitalters der Insel, das an diesem Mittwoch 50 Jahre alt wird. Am 6. Februar 1952 war Elisabeth II. ihrem Vater auf den Thron gefolgt. Im Unterschied zu allen anderen europäischen Monarchien sieht die britische ihren Sinn, ja ihre verfassungsgemäße Aufgabe immer noch im Ritual der Entrückung. Das ist ihr Schein, und das ist der Wunschtraum im Schloss, drinnen. Doch die wahren Träumer im Volk sehen die Königin offenbar nicht so weit entfernt, sondern geradezu alarmierend nahe. Die zehn Jahre seit dem »annus horribilis« 1992 waren länger als die vierzig davor. Auch ohne Umfrage darf man annehmen, dass die Königin ihren Untertanen heute nicht mehr derart fleißig im Traum erscheint. Dennoch bleibt der belebende Widerspruch. Selbst in der Altersgruppe der Sechzehn- bis Vierundzwanzigjährigen, in der vor wenigen Tagen nur noch 18 Prozent angegeben haben, sie »interessierten sich« für die Königin und all das, sind 70 Prozent der Meinung, die Monarchie solle bleiben. Zum Thronfest sucht der Palast diese Anhänglichkeit aus der Ferne zu nähren mit einer Aufstellung über »50 Dinge, die Sie nicht von Ihrer Majestät gewusst haben«. Hier haben wir natürlich eher statistisches Material für den staatsbürgerlichen Unterricht, angefangen von der Zahl der Patenkinder und Schoßhunde ihrer Herrscherzeit (jeweils 30) oder der Staatsbanketts: 80. Doch es wäre nicht England, wenn nicht von respektloser Hand sogleich eine zweite, inoffizielle Aufstellung anderer 50 Fakten aus 50 Jahren nachgereicht worden wäre. Diese Aufstellung beginnt: »Die Königin hat 1990 aufgehört, ihr Haar mit einer Tinktur namens Schokoladen-Kuss zu färben«, und endet: »Die Königin liebt Marschmusik, und ihr Fahrer hält im RollsRoyce immer ein Band bereit.« Teddybär-Picknick Diese zweite Aufstellung ist aber in Wahrheit ein GesellschaftsSpiel, und zwar in vielerlei Sinn des Begriffs. Denn der »Observer«, der die Liste veröffentlichte, hat fünf Punkte eingeschmuggelt, die erfunden sind und vom Leser ausgedeutet werden sollen. Dazu gehören Nummer 6: »Die Königin hat 1972 einmal Ukulele-Stunden genommen« und 39: »Beim Staatsbesuch in Australien 1981 wurde eine künstliche Hand am Autofenster befestigt, weil Ihre Majestät noch von einer Grippe geschwächt war und nicht dauernd selbst winken konnte.« Doch die erfundenen und die wahren Tatsachen sind einander so ähnlich, dass dieses Rätsel schier unlösbar scheint. Die wahre Lösung ist natürlich, dass Nähe und Ferne, Plausibles und Wunderliches offenbar auch heute noch miteinander unentwirrbar verflochten sind zu einer eigenen, unnachahmlichen Wirklichkeit. Ein Extra-Hotelzimmer für die Schuhe ihrer Majestät, wenn dieselbe unterwegs ist? Korrekt. Sie hat einen Dauerauftrag ergehen lassen an das Ensemble des Londoner Claridge's, »Teddybär-Picknick« zu spielen, wenn ihre Mutter den Raum zum Essen betritt? Richtig. Ehemann Philip nennt seine Frau »Würstchen«? Na klar. Über die Mätresse des Kronprinzen hat Elisabeth einmal bemerkt, Camilla »sieht gebraucht aus«? Doch hier gebietet die Höflichkeit Schweigen. Es stimmt übrigens. Altes Gepränge Alles ist kompliziert, und es ist einfach; zu einfach manchmal. Jene rote Karte, die einmal im Leben den Unterschied zwischen drinnen und draußen ausmacht, wollte der Posten am Portal des Palastes dann gar nicht sehen. Die weiße Karte mit den Großbuchstaben, ein Herzflattern später, würdigt der Höfling im Foyer nicht einmal eines Blicks, er winkt einfach in Richtung zum Treppenaufgang. Es muss am Schneider liegen, dem trefflichen Mister Rowland. Auch der äußere Ring des Alarmsystems dieses Palastes ist noch von derselben alten Schule: überreicher Kiesbelag im Innenhof, der auch dem verstohlensten Schritt ein dröhnendes Echo nachwirft. Aber beim Waten durch den Kies kann man wenigstens an Schabracken vorbei hastig in ein paar Zimmer spähen. Büros möchte man sie nicht nennen. Man sieht dunkle Paneele, edle, zierliche Tische, wohlversehen mit allerhand Schreibgerät und würdevollen Tischlampen. Es scheint aber inzwischen überall elektrisches Licht zu geben. Wer im Innenhof noch über Kies gestapft war, schreitet am Treppenaufgang schon auf Wolken. In der Vorhalle sind in schimmernden Helmen und mit blankem Schwert die Kürassiere aufgezogen. Die zahllosen Höflinge im Ornat sehen aus, als sei jeder sein eigener Generalfeldmarschall. Aber alle sind überwältigend gütig. Auf der Treppe schwingt den frohgemuten Aufsteigern von ferne leichte Musik entgegen. Die Militärkapelle in scharfgebügelten Rotröcken, der eine oder andere Solist mit schlichtem Goldgehänge, spendet ihre Weisen vom Innenbalkon des Thronsaals. Einem Stückchen aus der »Leichten Kavallerie« von Franz von Suppé folgt gerade etwas Gewagteres, eine Rumba. Sachte legt altes Gepränge seinen Zauber über die Festgemeinde. Herren zupfen an ihren geliehenen Bratenröcken, Damen betrachten die Hüte anderer Damen. Eine Stunde Warten vergeht wie im Kino. Die Flügeltür öffnet sich, und die Hausherrin kommt herein. Geschäftsmäßig, grünes Vormittagskleid mit Handtasche. Vorneweg zwei Gurkhas, das Gefolge mit dem Lordkämmerer hinterher. Und auf einmal geht alles wieder viel zu schnell, wie draußen am Tor. Siebzehn Höflinge nehmen um die Königin Aufstellung: einer kontrolliert die Liste der zu Ehrenden; einer legt den Orden vor; einer reicht ihn der Königin an; einer flüstert ihr ins Ohr; einer liest laut den Namen; einer winkt mit der Hand zum Vortreten; einer gebietet mit dem Finger Halt; einer gibt mit der Augenbraue das Signal, zur Königin vorzutreten. Die wechselt ein paar Worte mit dem Dekorierten, vielleicht, was Nummer vier ihr gerade ins Ohr gezischelt hatte. Aus der Tiefe des Saals lässt sich unmöglich ausmachen, in welchen Ehrenstand gerade »investiert« wird. Ist etwa ein neuer “Principal Dresser to the Knights of the Thistle” gekürt worden? Oder ein “Yeoman Bed Goer”? Ein “Hereditary Apothecary to the Privy Closet”? Dann benommen zwei Schritte rückwärts gehen: Verbeugung, wenn es ein »Yeoman of the Sock« ist; Hofknicks, wenn die frisch bestallte »Extra Lady of the Bedchamber« dran war; und ab nach rechts. Das ist es gewesen. Hundertsechsunddreißig Mal an diesem Vormittag. Hymne. Die Königin lässt sich beim Herrschen zusehen? Korrekt. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.2.2002 The Royal Collection: Interessantes rund um den Königshof Time-Table: Die Lebensdaten der Königin Von Hans Peter Trötscher 21. April 1926: Königin Elisabeth II. wird als Prinzessin Elizabeth Alexandra Mary im Londoner Stadthaus Bruton Street No. 12 geboren. Sie ist die älteste Tochter des Herzogs Albert, des späteren Königs Georg VI., und seiner Gemahlin Elizabeth, geborene Lady Bowes-Lyon, Tochter des Earl of Strathmore and Kingborne. Dezember 1936: König Eduard VIII., der im Januar seinem Vater Georg V. auf den Thron gefolgt war, dankt wegen seiner Beziehung zu der geschiedenen Amerikanerin Wallis Simpson ab. Sein jüngerer Bruder, Elisabeths Vater, besteigt als Georg VI. den Thron. Elisabeth, die mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Margaret aufwächst, wird damit Thronfolgerin. 21. April 1947: Elisabeth hält von Südafrika aus ihre erste Rundfunkansprache. 20. November 1947: Elisabeth heiratet Philip Mountbatten, der wenige Monate zuvor naturalisiert worden war, nachdem er als Prinz von Griechenland und Dänemark im Krieg in der englischen Marine Dienst getan hatte. Prinz Philip erhält den Titel Herzog von Edinburgh. 14. November 1948: Elisabeth bringt den Thronfolger Prinz Charles zur Welt. 15. August 1950: Prinzessin Anne wird geboren. 6. Februar 1952: In Kenia erreicht Elisabeth die Nachricht vom Tod ihres Vaters. 2. Juni 1953: Elisabeth wird in der Westminster-Abtei zur Königin gekrönt. 3. April 1956: Chruschtschow auf Staatsbesuch im BuckinghamPalast. 19. Februar 1960: Prinz Andrew wird geboren. 10. März 1964: Geburt Prinz Edwards. 20. November 1972: Das Königspaar begeht seine silberne Hochzeit. 14. November 1973: Erste Mesalliance des Hauses Windsor: Prinzessin Anne heiratet Mark Phillips. Die von Königin Elisabeth angebotene Peerswürde für Phillips lehnt Anne ab. 6. Februar 1977: Silbernes Thronjubiläum 29. Juli 1981: Prinz Charles heiratet Lady Diana Spencer, Angehörige eines alten englischen Adelsgeschlechts. 21. Juni 1982: Geburt von Charles’ Sohn William. Prince Charming. Von William versprechen sich viele Briten eine Fortführung der Monarchie im Sinne Dianas. Er symbolisiert wie kein Zweiter die Zukunft. F.A.Z.Foto / Frank Röth. 9. Juli 1982: Der Arbeitslose Michael Fagan dringt ins Schlafzimmer der Königin ein und trinkt dort eine Flasche Wein aus. Die Königin unterhält sich mit ihm, bis er von der Polizei verhaftet wird. Fagan wird schließlich wegen Diebstahls einer Flasche Wein belangt, aber nicht verurteilt. Fast die gesamten Sicherheitseinrichtungen des Palastes sind defekt oder abgeschaltet. 15. September 1984: Geburt von Charles Sohn Prinz Henry (genannt Harry). 23. Juli 1986: Heirat Prinz Andrews mit Sarah Ferguson, einer Bürgerlichen, deren Familie aber von König Karl II. abstammt. 17. Mai 1991: Als erste britische Monarchin überhaupt spricht Elisabeth vor dem amerikanischen Kongress. 24. November 1992: Königin Elisabeth II. spricht in der Londoner Guilhall von einem «Annus horribilis», einem schrecklichen Jahr. Im März war die Ehe ihres Sohnes Andrew mit Sarah Ferguson geschieden worden, im April hatte sich ihre Tochter Prinzessin Anne scheiden lassen. Im Dezember folgte die offizielle Trennung des Thronfolgerehepaars Prinz Charles und Prinzessin Diana. Der Lebensstil ihrer Schwester Margaret hatte ebenso Kritik hervorgerufen wie die Liebesaffären ihres Sohnes Andrew. In den Zeitungen wurde darüber debattiert, ob die Königin weiter von der Einkommensteuer befreit bleiben könne. Im November brannte es im Chester-Turm von Schloss Windsor, und sogleich wurde in der Presse die Frage gestellt, ob der Steuerzahler für den umfangreichen Wiederaufbau aufkommen müsse. Dennoch: Die weitaus meisten Briten sehen in der Monarchie und in der Person der Königin nach wie vor eine Gewähr für Stabilität und Kontinuität. Dezember 1995: Elisabeth empfiehlt Charles und Diana in einem Brief die Scheidung, 15. Juli 1996: Prinz Charles und Prinzessin Diana lassen sich scheiden. Ihre Söhne sind Prinz William und Prinz Henry, der Harry genannt wird. 19. Juni 1999: Prinz Edward heiratet Sophie Rhys-Jones, auch sie kommt nicht aus dem Adel. 31. August 1997: Prinzessin Diana stirbt in Paris bei einem Autounfall. Königin Elisabeth sieht sich wegen ihres Schweigens zahlreichen Angriffen der Öffentlichkeit ausgesetzt. Sie gibt ihre Zurückhaltung auf, hält eine offizielle Fernsehansprache und setzt die Trauerfeier für Prinzessin Diana auf den 6. September in der Westminster-Abtei an. 2000 Gäste sind geladen, Hunderttausende Briten bekunden in London, Millionen Menschen am Fernseher ihre Trauer um Diana. 9. Februar 2002: Elisabeths Schwester, Prinzessin Margaret stirbt im Alter von 72 Jahren nach mehreren Schlaganfällen. 30. März 2002: Die Königinmutter stirbt im Alter von 102 Jahren. 9. April 2005: Der Thronfolger Prinz Charles heiratet in zweiter Ehe Camilla Parker Bowles. 2012: Elisabeth feiert das diamantene Thronjubiläum. Vor 60 Jahren wurde sie gekrönt. 22. Juli 2013: Geburt von Prinz Williams Sohn George, Elisabeths Urenkel. Philologie des Elbischen: Die Sprachen Mittelerdes Hobbits, Elben, Zauberringe eBook Umfang: ca. 183 Seiten Mit 5 Abbildungen Februar 2013 ISBN (ePub): 978-3-89843-237-5 ISBN (PDF): 978-3-89843-238-2 Preis: 9,99 € Sag es auf Sindarin Tolkien schuf seine Sprachen nicht für sein Erzählwerk, sondern umgekehrt. Aber darf man auch jenseits von Mittelerde damit hantieren? Ein Blick auf die Philologie des Elbischen Von Ulf von Rauchhaupt S ie heißt Lucia. Die 21-jährige Italienerin studiert Deutsch und Russisch, auf ihrem Youtube-Kanal aber ist sie in einer anderen Sprache zu hören: »Átaremma i ëa han ëa, na aire esselya, aranielya na tuluva, na care indómelya, cemende tambe Erumande . . .« Lucia spricht Quenya, eine Sprache, in der die Elben in J. R. R. Tolkiens Erzählwerk alte Lieder singen. Im Elben-Alltag dagegen spricht man Sindarin, in dem sich ebenfalls prima dichten lässt, wenn vielleicht nicht so vollendet wie in Quenya. Allerdings, jene Verse auf Lucias Kanal stehen nicht im »Herrn der Ringe«. Es ist das Vaterunser. »Ich freue mich auf den Tag«, schreibt Lucia dazu, »an dem Quenya oder Sindarin auf der ganzen Welt gesprochen wird.« Kann man so – oder überhaupt – für Idiome schwärmen, die nicht einmal tot sind, weil sie nie lebendig waren? Nun ist Vitalität bei Sprachen kein ganz klarer Begriff, außer vielleicht für Gegner des Lateinunterrichts. Lucia mag eine besonders romantische Elbenfreundin sein, allein ist sie damit nicht, und das nicht erst, seit Liv Tyler in Peter Jacksons »Herr der Ringe«-Verfilmung mit elektronisch tiefer gelegter Stimme auf Sindarin parlierte. Die Elvish Linguistic Fellowship (E.L.F.) wurde 1988 gegründet und gibt gleich drei Fachjournale für Elbisch-Studien heraus. Daneben existieren viele Foren, Websites mit elbischer Lyrik und ausführlichen Sprachkursen samt Übungen. Das kann man für exzentrisch oder eskapistisch halten, doch dieses Nerdtum hat ein Vorbild: Tolkien selbst. Im Gegensatz zu anderen artistischen Kunstsprachen (siehe »Erfundene Idiome«) entsprangen Tolkiens Kreationen keinem literarischen Kalkül. Sie wurden nicht ersonnen, um Geschichten lebendiger zu machen – auch wenn sie genau diesen Effekt haben. Tolkien schuf das Elbische nicht für Mittelerde, sondern Mittelerde für das Elbische. »Die ›Geschichten‹ wurden eher gemacht, um den Sprachen eine Welt zu geben als umgekehrt«, schrieb Tolkien nach Erscheinen des »Herrn der Ringe« im Jahr 1954. »Ich hätte es vorgezogen, auf Elbisch zu schreiben.« Den 1937 erschienenen »Hobbit« hatte er noch in rein erzählerischer Absicht geschrieben, um ihn seinen Kindern vorzulesen. Dabei hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eine Liste mit rund 600 Wortwurzeln angelegt, aus denen er Tausende von Wörtern zweier Sprachen ableitete, aus denen dann im »Herrn der Ringe« Quenya und Sindarin wurden. Dem Spracheerfinden hatte Tolkien seit seiner Jugend gefrönt. Spätestens in seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg entstand das Elbische und mit ihm die Elben. Dabei ging er mit der führenden linguistischen Schule seiner Zeit, den sogenannten Junggrammatikern, davon aus, dass Sprachwandel von beschreibbaren und selbst unveränderlichen Regeln regiert wird. »Er hat neue Wörter und Namen nicht willkürlich ,erfunden«, erinnerte sich Christopher Tolkien an das Vorgehen seines Vaters. »Er entwickelte sie grundsätzlich aus der historischen Struktur heraus. Dabei ging er von den Wurzeln aus, fügte Präfixe oder Suffixe an, bildete Verbindungen, entschied (oder ›fand heraus‹, wie er es nannte), wann ein Wort in die Sprache kam, und verfolgte es durch die regelhaften Abwandlungen, denen die Form dann unterworfen gewesen wäre.« „Ash nazg durbatulûk, ash nazg Gimbatul, ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul.“ Wer die dunkle Sprache Mordors versteht, hat den meisten Bewohnern Mittelerdes etwas voraus. Selbst Gandalf muss lange forschen, bis er die Ringgravur lesen und verstehen kann. Foto: © Timo Zier / photocase.com Daher mussten mit der Sprache auch eine Sprachgeschichte und mit dieser die Geschichte und Mythologie der Sprechenden entwickelt werden. Mittelerde entstand damit, wie es der Tolkien-Forscher Helmut Pesch formuliert hat, als »eine Welt aus Sprache«. Eine solche Welt ist zwangsläufig komplexer als eine, deren Autor allein der Logik und der Psychologie seiner Figuren verpflichtet ist. Sie erlaubt ihm aber zugleich einen vergleichsweise einfachen Stil, bei dem vermeintliche Plattheiten einen tieferen Sinn haben. So kommt der Namen des Erzbösen Sauron keineswegs vom griechischen Wort für »Echse«, sondern von dem Quenya-Wort »saura«, das sich aus der Wurzel »thaw« (»abscheulich«) ergibt. Schon aufgrund dieser linguistischen Ästhetik gehört Tolkiens Werk nicht zum Fantasy-Genre, auch wenn er heute als dessen Erzvater gilt. Trotzdem hat auch seine Ästhetik ihre Quellen. So gibt es nicht allein deswegen zwei Elbensprachen, damit Sprachgeschichte interessanter wird, sondern weil Tolkien an zwei existenten Sprachen ein besonderes Hörvergnügen hatte. Das war einmal das Walisische, dem das Sindarin klanglich nachempfunden ist und mit dem es einige Eigenschaften teilt, etwa die, in bestimmten Fällen anlautende Konsonanten zu verändern. Es war eine Vorliebe, die Tolkien feststellte, als er einmal die walisische Aufschrift »Adeiladwyd 1887« (»Erbaut 1887«) sah. Und dann entdeckte er das Finnische. »Das war wie einen Keller voller Flaschen eines erstaunlichem Weins von nie gekannter Art und Geschmack zu entdecken«, schrieb er in einem Brief. »Ich war regelrecht besoffen.« Diesem sprachästhetischen Vollrausch verdankt sich der Klang des Quenya. Strukturell ist Quenya allerdings kein Pseudofinnisch, schon deswegen nicht, weil Tolkien es gleich dem walisisch (und damit indoeuropäisch) inspirierten Sindarin aus einem Urelbisch ableitet, während Finnisch nicht zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört. »Quenya-Nomina sind aber etwa so komplex wie proto-indoeuropäische«, sagt der amerikanische Linguist David Salo, der Peter Jackson bei seinen Tolkien-Verfilmungen berät, »die Konjugation der Verben dagegen ist fast schockierend simpel, verglichen mit Latein oder Altgriechisch.« Die Einflüsse des Altgriechischen auf das Quenya, die Tolkien selbst erwähnt, sind daher ebenfalls eher lautlästhetischer Natur. Daran ändert auch nichts, dass es in Quenya die Tempusform des Aorist gibt, die zwar auch das Griechische kennt, die aber im Quenya eine andere Bedeutung hat. Was hingegen geeignet ist, den Quenya-Schüler zur Verzweiflung zu treiben, sind die vielen verschiedenen Fälle bei den Pronomen. »Die pronomiale Komplexität des Quenya übersteigt die indoeuropäischer Sprachen bei weitem«, sagt Salo. »Soweit ich weiß, gibt es nur einige der Algonkin-Sprachen im Norden Nordamerikas, die da herankommen.« So viel Aufwand konnte Tolkien natürlich nicht bei jeder Sprache seines Universums treiben. So gibt es nähere Details sonst nur noch zu der Zwergensprache Khuzdul, für die eine semitische Sprache Modell stand. Ein Idiom Mittelerdes aber präsentiert Tolkien als etwas überhaupt nicht organisch und geschichtlich Gewachsenes, sondern explizit als etwas Artifizielles: die »Schwarze Sprache«, die Sauron für seine Diener entwickelt hat. Als Herrschaftsinstrument ist sie gleich George Orwells »Neusprech« kalkuliert armselig gehalten, und lautlich war Tolkien um äußerste Hässlichkeit bemüht. Das Wort »Nazg« (Ring) entnahm er dem Gälischen, das er nicht mochte, ebenso wenig übrigens wie das Französische. Über die Sprachen der übrigen Völker und Geschöpfe Mittelerdes ist aus Tolkiens Werken und Schriften viel weniger zu erfahren. Im Rahmen seiner Fiktion (seiner »sekundären Welt«, wie die Tolkien-Philologen lieber sagen) sind sie wenig bis kaum »bekannt«, jedenfalls sehr viel weniger als Quenya und Sindarin. Aber wie »bekannt« sind diese? Reicht es, damit Lucias Wunsch zumindest theoretisch wahr und ein Elbenidiom in unserer Primärwelt eine gesprochenene Sprache werden könnte? Quenya und Sindarin sind insofern echte Sprachen, als sie etwa vom Umfang des Textmaterials her der Norm ISO 639 der International Standard Organisation entsprechen – unter den artistischen Kunstsprachen gilt das sonst nur noch für das Klingonische. Beide Elbensprachen verfügen allerdings nur über einen Wortschatz von jeweils etwa 2.500 Vokabeln. Deutsch dagegen hat mindestens 300.000. Trotzdem sind bereits die ersten Kapitel des Alten und Teile des Neuen Testaments in Quenya übersetzt worden. Wie ist das möglich, angesichts des beschränkten Wortschatzes, den Tolkien hinterlassen hat? Tatsächlich ist es die synthetische Historizität der Elbenidiome – die sie von allen anderen Kunstsprachen unterscheidet –, welche hier weiterhilft. Die Wurzeln und die von Tolkien benutzten Bildungsgesetze ermöglichen es im Prinzip, die Elbensprachen weiterzuentwickeln. Doch es gibt beträchtliche Hindernisse. Mit das größte ist, dass Tolkien keine fertigen Grammatiken geschaffen hat. Und in den Aufzeichnungen zu seinen Sprachen war ihm Phonologie stets wichtiger als Morphologie, ganz zu schweigen von Syntax. Zudem änderte er die Sprachen immer wieder. »Es gibt eine Quelle, in der Tolkien ›lá‹ als Quenya für ›ja‹ identifiziert, und eine andere, in der das gleiche Wort mit ›Nein‹ übersetzt ist«, sagt Thorsten Renk, Autor elbischer Lyrik und eines Sindarin-Sprachkurses. »Da muss man dann einfach eine Auswahl treffen.« Über diese Auswahl müssten sich die Elbisch-Philologen einigen, was ihnen aber schon an anderer Stelle zuweilen schwerfällt. So hat Peter Jacksons Elbisch-Beauftragter David Salo eine Sindarin-Grammatik veröffentlicht, der vorgeworfen wird, erschlossene Formen nicht sauber genug von den bei Tolkien belegten zu unterscheiden und Belegbares zu ignorieren, wo es nicht zu Salos Ideen passt. Prominentester Kritiker Salos ist Carl Hostetter, der für Christopher Tolkien den Elbisch-Nachlass seines Vater ediert. Die Kontroverse ist damit möglicherweise nicht ganz unbelastet von den Animositäten zwischen dem Tolkien Estate und Jacksons Verfilmungen. Die Mediävistin Judith Klinger von der Universität Potsdam sieht hier aber auch eine grundsätzliche Frage unterschiedlich beantwortet: »Es ist die Frage, ob man die Elbensprachen wie historische, aber fragmentarisch überlieferte Sprachen erforschen oder ob man sie benutzbar machen will«, sagt Klinger. »Es gibt auch unter den Sprachhistorikern solche, die beispielsweise das sehr schmale Korpus des Gotischen erforschen, und solche, die gerne gotische Texte schreiben möchten und daher das überlieferte Sprachmaterial ergänzen.« Carl Hostetter hält die Entwicklung solcher neo-elbischen Sprachen für unpraktikabel. »Tolkien selbst konnte nicht fließend Quenya oder Sindarin«, schreibt Hostetter. »Und daher wird auch niemand sonst es jemals können, jedenfalls nicht das Quenya und Sindarin, das Tolkien entwickelt hat.« Allerdings ist es fraglich, ob der Schöpfer alles Elbischen von Weiterentwicklungen mehr gefordert hätte als Treue zu seiner Sprachästhetik. Gegen eine Verwendung des Elbischen für primärweltliche Zwecke war er jedenfalls gewiss nicht. Die Vaterunser-Übersetzung ins Quenya, die Lucia auf Youtube rezitiert, stammt von Tolkien selbst. Erfundene Idiome: im Dienste der Völkerverständigung, des Feminismus und der Filmindustrie 6908 Sprachen werden heute auf der Erde muttersprachlich gesprochen. Fast alle sind natürlich entstanden. Doch das reicht dem Menschen nicht. Esperanto wurde 1887 vorgestellt als leicht erlernbares Idiom für die internationale Verständigung ohne Bevorzugung eines Kulturraums. Es ist die einzige Kunstsprache mit Muttersprachlern (einige tausend). Verstanden wird es von bis zu zwei Millionen Menschen. Ido ist eine Weiterentwicklung des Esperanto, die logischer und einheitlicher sein soll. Die Angaben über die Zahl der Sprecher schwanken von wenigen hundert bis mehr als tausend. Interlingua orientiert sich näher an natürlichen (romanischen) Sprachen als Esperanto, hat dafür eine komplexere Grammatik. Kaum mehr als tausend Menschen sprechen es. Afrihili wurde 1970 mit dem Ziel einer panafrikanischen Lingua franca entwickelt, ist aber weitgehend gescheitert. Láadan ist eine 1982 als Experiment erdachte feministische Sprache. Ihre Schöpferin, die Amerikanerin Suzette Eglin, vermutete, dass natürliche Sprachen strukturell spezifisch männliche Kommunikationsbedürfnisse bedienen. Sätze in Láadan dagegen sollen etwa neben der Aussage zusätzlich das Gefühl der Sprechenden während des Sprechakts transportieren. Brithenig ist ebenfalls ein Experiment, diesmal ein Sprachhistorisches. Sein Erfinder, der Neuseeländer Andrew Smith, versuchte sich 1996 vorzustellen, was herausgekommen wäre, wenn sich im England der Völkerwanderungszeit das Latein gehalten und wie in Frankreich oder Spanien eine romanische Sprache hervorgebracht hätte. Klingonisch ist neben den Elbensprachen Tolkiens die bekannteste sogenannte artistische Kunstsprache. Sie wurde 1984 von dem Linguisten Marc Okrand für den dritten »Star-Trek«-Kinofilm erfunden. Okrand bemühte sich dabei um größtmögliche Unähnlichkeit mit jeder natürlichen irdischen Sprache, trotzdem – oder gerade deswegen – hat Klingonisch viele Fans. Es gibt ein »Klingon Language Institute« und Übersetzungen etwa des Gilgamesch-Epos oder eines Shakespeare-Stücks, eine ganze Oper auf Klingonisch und den (allerdings gescheiterten) Versuch, ein Kind muttersprach- lich klingonisch aufzuziehen. Einige Dutzend Menschen können die Sprache fließend. Na'vi, die Sprache der blauen Aliens in James Camerons »Avatar«, wurde 2009 ebenfalls von einem gelernten Linguisten entwickelt. Inzwischen gibt es eine an polynesischen Sprachen orientierte Grammatik und einen Wortschatz von 1.500 Vokabeln. Dothraki spricht das gleichnamige Barbarenvolk in der Fernsehserie »Game of Thrones«. Während die Romanvorlage nur einige Wörter Dothraki enthält, wurde für den Film wieder ein Sprachschöpfer engagiert, der 1.700 Vokabeln erfand, inzwischen sollen es mehrere Tausend sein. Der Trend ist klar: Für Filmprojekte im Bereich Science-Fiction und Fantasy wird der Linguist allmählich ähnlich wichtig wie der Komponist der Filmmusik. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.12.2012 Weltkriegs-Schauplatz: Heimatfront Der Erste Weltkrieg eBook Umfang: ca. 210 Seiten Mit 20 Abbildungen und umfangreichem Zusatzmaterial: Chronik, Statistik, Personenregister, Buchempfehlungen und Filmtipps September 2014 ISBN ePub: 978-3-89843-227-6 ISBN PDF: 978-3-89843-226-9 Preis: 7,99 € Ohrenzeugen des Ersten Weltkriegs Im Westen Deutschlands konnte man die Kanonen von Verdun und Belfort hören Von Reinhard Pabst A lfred Döblin schrieb am 29. März 1916 in einem Brief an seinen Freund Herwarth Walden: »Mit den Ohren haben wir die Schlachten von Verdun hier mitgekämpft, orientiere Dich auf der Karte, wie weit wir von Verdun sind, so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, dass wir Trommelfeuer unterschieden, Explosionen; ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am westlichen Himmel. Jetzt, seit 1 Woche, ist alles still; was das ist, wer weiß? Akustisch ist jedenfalls der Angriff auf Verdun zur Zeit eingeschlafen.« Döblin war zu dieser Zeit als Militärarzt im lothringischen Saargemünd (Sarreguemines), ungefähr 110 Kilometer von Verdun entfernt, tätig (umfassend dokumentiert in dem unlängst erschienenen Band »Alfred Döblin: ›Meine Adresse ist: Saargemünd‹. Spurensuche in einer Grenzregion«, zusammengetragen und kommentiert von Ralph Schock, Gollenstein Verlag 2010). Westfront 1914. Französische Soldaten biwakieren in der Etappe am Südlichen Frontabschnitt. Foto: Jules Gervais-Courtellemont. Der Döblin-Forschung ist zu dieser Briefpassage bisher erstaunlich wenig eingefallen. Sie wird zwar immer wieder zitiert, gleich mehrfach etwa in dem aktuellen Tagungsband »Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen«, herausgegeben von Ralf Georg Bogner (Peter Lang Verlag 2010). Aber noch nie hat man sich näher mit ihr befasst, geschweige denn sie in die »Klanglandschaft des Ersten Weltkrieges« (Axel Volmar) eingebettet. Dabei ist Döblins eindrückliches Zeugnis nur eines unter sehr vielen zur akustischen Wirkung des Einsatzes schwerer Artillerie zwischen 1914 und 1918. Tagebuch des Schülers Adorno Dies unterscheide den Ersten Weltkrieg »einzigartig« von allen früheren Kriegen, heißt es in der Schrift »Die Musik der Schlachten« des Philosophiestudenten und Infanteristen Hellmuth Falkenfeld (1916), »dass er seinen schrecklichen Inhalt ebenso sehr dem Ohr wie dem Auge mitteilt. Das Auge kann man schließen, das Ohr aber nur verstopfen; wer den Krieg nicht sehen will, muss ihn hören.« Der akustische Ausnahmezustand, den Julia Encke in ihrer Studie »Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, 1914–1934« (Wilhelm Fink Verlag 2006) eingehend untersucht hat, betraf keineswegs nur Armeeangehörige wie Döblin und Falkenfeld. Schwere französische Artillerie in der Champagne. Die Lautstärke des Kanonendonners und Gefechtslärms war noch in mehr als 100 Kilometern Entfernung zu hören. Foto: Fotograf unbekannt, aus: Der Weltkrieg im Bild. Verlag: Knaur, Leipzig 1920. Vom Raum Aachen bis in die Grenzregionen der Schweiz soll zeitweise »fast täglich« (Robert Walser) selbst über größere Distanzen hinweg das Kampfgetöse des westlichen Kriegsschauplatzes für die Zivilbevölkerung vernehmbar gewesen sein. Das belegt eine Vielzahl zeitgenössischer Dokumente, vor allem Leserbriefe und Artikel in Tageszeitungen, naturwissenschaftliche Fachaufsätze über Reichweite und Hörbarkeit des Geschützdonners sowie Notizen in Tagebüchern und Chroniken, die noch niemand systematisch gesammelt und ausgewertet hat. Das Fort Douaumont gehörte zu den Befestigungswerken von Verdun. Auf dem Foto oben sind am Beginn des unteren Bilddrittels einige Granattrichter zu sehen. Im Laufe des Jahres 1916 wurde das Fort bis auf ein paar unterirdische Kasematten fast vollständig durch Artilleriebeschuss vernichtet. Foto: Fotograf der Luftaufnahme unbekannt, Wikimedia Commons. Nur selten konnte die Herkunft des »Gewummers« so genau bestimmt werden wie im Falle Theodor W. Adornos, der als zwölfjähriger Schüler im Sommer 1916 zusammen mit seiner Mutter und seiner Tante von Hornberg aus eine Ferienwanderung durch den Schwarzwald unternahm. Über die Triberger Wasserfälle, den Stöcklewaldkopf und Furtwangen erreichte man am 23. Juli Hinterzarten, wo die drei, wie Adorno in einem unveröffentlichten Schulaufsatz schrieb, »heftig den Kanonendonner von Belfort hörten«. Die Angabe lässt sich mühelos mit dem deutschen Heeresbericht vom selben Tag in Einklang bringen, in dem von »schwerem Feuer auf die Stadt Belfort« die Rede ist. Das Feuer kam von einer sehr großen 38-cm-Kanone des Typs »Langer Max« bei Zillisheim im Elsass, südlich von Mühlhausen (Mulhouse), die zwischen Februar und Oktober 1916 Belfort unter Beschuss nahm und deren letzte Überreste noch heute zu besichtigen sind. Zumeist blieb die Geräuschkulisse jedoch eher diffus, ein dunkles Rollen und Grollen aus der Ferne, das Karl Jaspers, Gustav Heinemann, Hans Jonas und anderen Zeitzeugen selbst nach Jahrzehnten im Ohr war. Karl Korn, einer der früheren Herausgeber dieser Zeitung, schildert in seiner Autobiographie »Die Rheingauer Jahre« (1986), wie er 1916 im Alter von acht Jahren, bei einem Verwandten in Rüdesheim am Rhein zu Besuch, von diesem auf einen Spaziergang in die Weinberge mitgenommen wurde. »Dann hieß er mich eine Weile ganz still sein. Ob ich etwas höre? Ich hörte angestrengt und sagte, ja, ein leises Summen. Wir horchten zusammen, und da war es wieder deutlich zu hören, ein an- und abschwellendes Summen. Da machte der Onkel Hannes ein sehr ernstes und bekümmertes Gesicht und sagte, das seien die Kanonen von Verdun.« Denen, die während des Ersten Weltkriegs Kinder waren, vermittelte der Kanonendonner eine Ahnung »des Unheimlichen, des Grauens«. Gestörte Transzendentalphilosophie In der Universitätsstadt Marburg postierten sich 1916 wiederholt »lauschlustige und müßige Herren« zu vorgerückter Stunde auf dem Schlossberg und auf den Lahnbergen, um mit den Ohren vielleicht etwas von dem zu erhaschen, was man allgemein als »Konzert« der Haubitzen und Mörser verharmloste (den Gefechtslärm bildeten die fidelen Marburger sich nur ein, sie waren zu weit weg vom Schuss). Ein Offizier besichtigt das Ergebnis des Artilleriefeuers im Argonner Wald an der Westfront 1915. Foto: Bundesarchiv, Bild 104-00158. Dagegen wurde man andernorts in Südwestdeutschland sogar bei geschlossenen Fenstern durch Kanonendonner »stets unangenehm an den Krieg erinnert«, so der Oberlehrer Walter Brand in einem Beitrag für die »Frankfurter Zeitung«. Vom »dröhnenden Krieg« (Theodor Kramer), der einen bis in die eigenen vier Wände verfolgte, ließ sich freilich nicht jeder beirren. Im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches »Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie«, verfasst im September 1915, hoffte der Freiburger Professor Heinrich Rickert, man werde der Arbeit nicht anmerken, »dass der Kanonendonner von den Vogesen her an vielen Tagen die Konzentration auf die Welt des Unwirklichen schwermachte«. Die Front ließ uns auch zu Hause nicht los – so formulierte es Benno Reifenberg, einer der früheren Herausgeber dieser Zeitung, 1960 in Erinnerung an den Kanonendonner des Jahres 1916. Was diese »Belagerung des Ohrs« (Helmut Lethen) für die Soldaten auf Heimaturlaub bedeutete und welche Folgen sie für die Moral der Zivilbevölkerung hatte, wird die künftige Erforschung der Lautsphäre des Ersten Weltkrieges zu klären haben. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.5.2011 Weltkriegs-Chronik Von Sarajevo bis Versailles – Entscheidende politische und militärische Ereignisse Von Hans Peter Trötscher 28. Juni 1914 In Sarajevo erschießt der bosnisch-serbische Nationalist Gavrilo Princip den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau. Das Attentat löst die »Juli-Krise« aus, die in den Krieg führt. 5. Juli 1914 Kaiser Wilhelm II. trifft den österreichischen Botschafter und sichert Österreich-Ungarn die volle Unterstützung Deutschlands zu („BlankoVollmacht«) 22. Juli 1914 Der französischen Staatspräsident besucht Russland, die Entente-Staaten sichern sich ihre gegenseitige Unterstützung im Bündnisfall zu. 28. Juli 1914 Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg. 1. August 1914 Wilhelm II. erklärt Russland den Krieg und ordnet die Generalmobilmachung an. 3. August 1914 Deutschland erklärt Frankreich den Krieg und besetzt das neutrale Belgien. Tags darauf tritt Großbritannien als Schutzmacht Belgiens in den Krieg ein. 26. bis 30. August 1914 Beginn der deutschen Offensive an der Ostfront: Nachdem die russische Armee in Ostpreußen eingedrungen war, drängen deutsche Truppen unter Paul von Hindenburg sie in der Schlacht bei Tannenberg zurück. 5. bis 12. September 1914 An der Westfront stehen eine Million alliierte Soldaten 750.000 deutschen gegenüber. Die Schlachten an der Marne, an der Yser und vor Ypern enden mit dem Rückzug der Deutschen. Der Schlieffen-Plan war gescheitert. 13. bis 28. September 1914 An der Aisne in Nordfrankreich legen die Deutschen erstmals Schützengräben zur Verteidigung an und leiten damit den Übergang zum Stellungskrieg ein. 20. Oktober bis 18. November 1914 Die Erste Flandernschlacht, auch Ypern-Schlacht, im Raum der belgischen Kanalküste kostet viele Menschenleben. Den Deutschen gelingt es nicht, die das britische Korps von seinen Versorgungslinien abzuschneiden. 29. Oktober 1914 Das Osmanische Reich tritt auf der Seite der Mittelmächte in den Weltkrieg ein. 2. November 1914 Russland erklärt dem Osmanischen Reich den Krieg, Großbritannien und Frankreich folgen. Großbritannien erklärt die Nordsee zum Kriegsgebiet und errichte eine Seeblockade. 19. Januar 1915 Luftkrieg: Deutsche Zeppeline greifen London an. 4. Februar 1915 Deutschland erklärt die Nordsee um die Britischen Inseln zur Kriegszone und eröffnet einen massiven U-Boot-Krieg gegen alliierte und neutrale Handelsschiffe. 7. bis 22. Februar 1915 An der Ostfront siegen die Mittelmächte in der Winterschlacht in Masuren, die russische Armee zieht sich aus Ostpreußen zurück. 22. April 1915 In der Zweiten Flandernschlacht bei Ypern setzen die Deutschen erstmals chemische Waffen (Chlorgas) an der Westfront ein. 25. April 1915 Britische, australische, neuseeländische und französische Truppen landen auf der türkischen Halbinsel Gallipoli. 26. April 1915 Italien tritt auf Seiten der Entente in den Krieg ein. 2. Mai 1915 Erfolgreichste Offensive der Mittelmächte: deutschen und österreichischen Verbänden gelingt in der Schlacht von Gorlice-Tarnów der Durchbruch. 7. Mai 1915 Deutsche U-Boot versenken das britische Passagierschiff »Lusitania« mit 1198 Menschen an Bord, 1.200 Menschen sterben, darunter mehr als 120 Amerikaner. 23. Juni 1915 Beginn des Gebirgskriegs zwischen österreichischen und italienischen Truppen. Es wird ein breit angelegter drei Jahre andauernder Stellungskrieg vor allem in den Dolomiten, den Karnischen und den Julischen Alpen. 25. September 1915 Die Briten setzen in der Nähe der französischen Ortschaft Loos erstmals Giftgas ein. 14. Oktober 1915 Das Königreich Bulgarien tritt auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. 21. Februar 1916 Die Schlacht um Verdun beginnt und wird zu einen erbitterten Stellungskampf mit dem Ziel, die Gegner zu zermürben.. 29. Februar 1916 Deutschland nimmt den U-Boot-Krieg gegen bewaffnete Handelsschiffe wieder auf. 31. Mai 1916 Im Skagerrak in der Nordsee treffen die britische und die deutsche Flotte aufeinander. Das größte Seegefecht in der Geschichte endet unentschieden. 1. Juli bis 18. November 1916 Mit einer britisch-französischen Großoffensive beginnt die Schlacht an der Somme in Nordfrankreich. Sie gilt als verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs. Am 18. November wird sie ohne eine militärische Entscheidung abgebrochen. 24. Oktober 1916 Aufgrund der Somme-Schlacht muss Deutschland Truppen aus Verdun ab- ziehen. Die Franzosen entscheiden bis Mitte Dezember die Materialschlacht um Verdun für sich, ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs. 1. Februar 1917 Das Kaiserreich erklärt den »uneingeschränkten U-Boot-Krieg«, worauf die USA die diplomatischen Beziehungen abbrechen. 6. April 1917 Nach der Wiederaufnahme des U-Boot-Krieges treten die USA in den Krieg ein. Die Vereinigten Staaten erklären Deutschland den Krieg. 14. August 1917 China erklärt den Mittelmächten den Krieg. 6./7. November 1917 In der Oktoberrevolution übernehmen in Russland die Bolschewiken die Macht. 3. März 1918 Nach Verhandlungen über einen Separatfrieden schließen Russland und die Mittelmächte den Frieden von Brest-Litowsk. Nach dem Kampfende im Osten will Ludendorff mit einer Großoffensive im Westen eine Entscheidung erzwingen. 18. Juli 1918 Die Gegenoffensive der Alliierten an der Westfront beginnt zwischen Soissons und Reims. 9. November 1918 Kaiser Wilhelm II. dankt ab und flüchtet in die Niederlande. Friedrich Ebert (SPD) wird am 10. November zum Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten ernannt, die Republik wird ausgerufen. 11. November 1918 In einem Eisenbahnwaggon im französischen Compiègne unterzeichnet Deutschland den Waffenstillstand mit den Entente-Staaten. 18. Januar 1919 Die Friedenskonferenz in Versailles beginnt ohne Beteiligung der Mittelmächte. Der Vertrag wird Deutschland als Kriegsschuldigen benennen und die Landkarte Europas verändern. 28. Juni 1919 Das Deutsche Reich unterzeichnet unter Protest den Versailler Vertrag. Marcel-Reich-Ranicki: Ein sehr großer Mann Marcel-Reich-Ranicki und die Frankfurter Allgemeine Zeitung eBook Umfang: ca. 335 Seiten Mit 19 zum Teil unveröffentlichten F.A.Z.-Fotografien Bibliographie und Materialsammlung Oktober 2013 ISBN ePub: 978-3-89843-231-3 ISBN PDF: 978-3-89843-232-0 Preis: 9,99 € Ein Leben Goethe, Heine oder Thomas Mann – das waren Reich-Ranickis Zeitgenossen. Von Claudius Seidl E s sind die Menschen, nicht die Werke, die von uns gehen – aber wahrscheinlich gab es in jenem Deutschland, zu dem Marcel Reich-Ranicki sich so selbstbewusst bekannte, niemanden, bei dem sich das eine vom anderen schwerer trennen ließ. Sein Leben war sein Werk, sein Werk war sein Leben: Das war die Provokation des Marcel Reich-Ranicki. Und das bleibt, wenn alle Trauerreden gehalten sind, die Herausforderung: an uns Deutsche, die wir uns jetzt ohne ihn zurechtfinden müssen in der eigenen Kultur. An uns politische Wesen, Meinungsproduzenten, Teilhaber an der demokratischen Öffentlichkeit, die wir glauben, dass Kritik nicht bloß ein schönes griechisches Fremdwort ist für Nörgelei und schlechte Laune. Sondern eine produktive Kraft und die Pflicht jedes freien Menschen. Denn einerseits hat ja Reich-Ranicki ein Werk hinterlassen, das ganz sicher und ungefährdet im Kanon steht. Ausgerechnet er, der, als er jünger war, die Rolle des Kritikers mit Lust und Temperament genau so spielte, wie das ein deutsches Originalgenie nicht leiden kann, nämlich scharf, manchmal böse und immer selbstge- wiss; ausgerechnet er, der mit seiner unmissverständlichen Kritik so manchen kritisierten Autor zu der Frage provozierte, was denn, außer Meinungen und Urteilen, dieser Kritiker noch vorzuweisen habe, ausgerechnet dieser Marcel Reich-Ranicki hat 1999 auf all diese Fragen eine unwiderlegbare Antwort gegeben. Sein Buch hieß schlicht »Mein Leben«, und weil das eben dieses Leben war, das Leben eines Mannes, den die Deutschen ermorden wollten; und der sich rettete, durch seinen Mut, die Liebe zu seiner Frau und die Liebe zur deutschen Literatur, deshalb verneigten sich die Leser: vor diesem Leben. Auf die respektlose Frage, die Marcel ReichRanicki nicht dem ehrbarsten Autor und nicht dem ernstesten Thema ersparte, die Frage, ob das denn gute Literatur sei, gab es nun eine Antwort. Reich-Ranicki hatte es allen gezeigt. Dabei hatte er, andererseits, diese Legitimation gar nicht nötig – und vielleicht offenbart sich erst jetzt, da er uns zu fehlen beginnt, wie modern, wie zeitgemäß, wie richtig jene Form der Kritik war, die Reich-Ranicki immer praktiziert hat. Er schrieb nur über Bücher und sprach dabei doch immer von der menschlichen Bedingung, und genau das hat die Kritiker dieses Kritikers so oft zum Widerspruch gereizt. Er vereinfache zu stark, er spitze immer nur zu, was dem Autor gelungen sei und was nicht. Es fehle ihm das Gespür, die Texte gegen die Intentionen des Autors zu lesen, er sei nicht auf dem Stand der Theorie. Und überhaupt, sein Lieblingssatz: »Es gibt gute Bücher, und es gibt schlechte Bücher« werde dem Reichtum und der Vielfalt des literarischen Diskurses nicht gerecht. Reich-Ranicki ließ sich von solchen Einwänden nicht verunsichern. Er hatte ein existentielles Verhältnis zu Büchern, für ihn war die Literatur eine Frage von Leben und Tod gewesen. Und wie interessant auch immer die Ergebnisse anderer Lektüren waren – ReichRanicki hatte mit den Fragen, die er an die Bücher stellte, doch immer recht: Er fragte nach dem Leben in der Literatur; er wollte wissen, ob da zwischen zwei Buchdeckeln die Schönheit sei, die Wahrheit, die Kritik des schlechten Lebens und, am wichtigsten, der Vorschein eines besseren. Darunter machte er es nicht – und in den Kritiken von Marcel Reich-Ranicki kann man lesen, dass man nicht nur als Autor, sondern auch als Kritiker groß sein muss, um solchen Fragen gewachsen zu sein. Wer solche Fragen an die Bücher hat, wird sich mit den Antworten des Kanons und der Festreden nicht zufriedengeben. Die deutsche Literatur hatte ihm das Leben gerettet, er revanchierte sich, indem er die deutsche Literatur am Leben hielt. Goethe, Heine, Thomas Mann – wer Reich-Ranicki vorwarf, dass er konservativ sei, hatte das Wichtigste nicht verstanden: Das waren seine Zeitgenossen, seine Gesprächspartner. Gerade als Leser seiner Kolumne in den vergangenen zehn Jahren konnte man erfahren, wie fremd ihm aller Kulturpessimismus war und wie unverständlich die Sehnsucht nach irgendeiner guten alten Zeit. Ohne Bedauern schrieb er von Autoren, welche überholt, vergessen, dementiert waren vom Lauf der Zeit. Und umso heftiger beharrte er darauf, dass Goethe nichts sei, wenn wir Heutigen uns nicht in seinen Figuren erkennten. Und wenn seine Sätze nicht auch dazu taugten, zum Beispiel das deutsche Fernsehen zu kritisieren. Denn darum ging es, als Reich-Ranicki damit anfing, auch in die Fernsehkameras hineinzusprechen. Nicht er biederte sich dem Medium an. Das Fernsehen lag ihm zu Füßen und gab sich ihm hin. Reich-Ranicki blieb auch dort Kritiker, in einem emphatischen Sinn: Er musste nicht einmal über Bücher sprechen – schon wenn er nur auftrat, war das die Kritik der falschen Verhältnisse. Und wenn er sprach, war das schon der Vorschein des Besseren. Und das ist die Zumutung, die uns Reich-Ranicki hinterlassen hat: Kritik ist kein Luxus, den man sich leistet, wenn alles andere getan ist. Kritik ist eine Lebenspraxis. Und Kritik ist nichts, wenn sie sich nicht aus aufrichtiger Liebe speist. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.9.2013 Meilensteine einer Karriere Von Birgitta Fella Polen 1950Anstellung beim Verlag des Verteidigungsministeriums als Lektor für deutsche Literatur (Warschauer Verlag) 1951 bis 1952Freier Publizist und Übersetzer, Rezensionen und Essays für verschiedene polnische Zeitungen und Zeitschriften, literarische Übersetzungen von Kafkas Das Schloss und Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame 1953 bis 1954 Publikationsverbot 1955Das Buch Aus der Geschichte der deutschen Literatur 1871–1954 erscheint Deutschland 1958 bis 1959Freier Literaturkritiker für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und mehrere Rundfunksender 1958 bis 1967 Mitglied der Gruppe 47 1960 bis 1973 Literaturkritiker der Wochenzeitung DIE ZEIT 1964 bis 1967NDR-Rundfunkserie Das literarische Kaffeehaus (zusammen mit Hans Mayer). 1965 bis 1972 Mitarbeiter der Encyclopaedia Britannica, Literarisches Leben in Deutschland 1966Buchveröffentlichung Wer schreibt, provoziert 1967Buchveröffentlichung Literatur der kleinen Schritte 1968 Gastprofessor für Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts an der Washington University in St. Louis (USA) 1969Gastprofessor für Deutsche Literatur heute am Middlebury College (USA) 1970Buchveröffentlichung Lauter Verrisse 1971 bis 1975 Gastprofessor für Neue Deutsche Literatur an den Universitäten Stockholm und Uppsala (Schweden) 1973 bis 1988 Leiter der Redaktion für Literatur und literarisches Leben der F.A.Z. 1973 Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln 1974 Beginn der F.A.Z.-Serie »Frankfurter Anthologie« 1974 Honorarprofessor an der Universität Tübingen 1976Heine-Plakette 1977 bis 1986 Sprecher der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises, dessen Mitinitiator er war 1979 Buchveröffentlichung Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre 1982 Buchveröffentlichungen Meine Schulzeit im Dritten Reich und Betrifft Goethe 1985 Buchveröffentlichungen Lauter Lobreden und Nichts als Literatur 1986 Buchveröffentlichung Mehr als ein Dichter. Über Heinrich Böll und die Edition Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke 1987 Thomas-Mann-Preis. Buchveröffentlichung Thomas Mann und die Seinen 1988 bis 2002 Leiter der literaturkritischen Gesprächsserie Das Literarische Quartett im ZDF 1989 Bambi-Kulturpreis. Buchveröffentlichung Romane von gestern – heute gelesen 1990 Buchveröffentlichung Thomas Bernhard 1991 Heinrich Hertz-Gastprofessur an der Universität Karlsruhe 1994Buchveröffentlichung Die Anwälte der Literatur 1996 Buchveröffentlichung Ungeheuer oben. Über Bertolt Brecht 1997 Buchveröffentlichung Der Fall Heine. 1998 Buchveröffentlichung Über Hilde Spiel 1999 Die Autobiografie Mein Leben erscheint 2002 Fernsehserie Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen im ZDF 2003 Buchveröffentlichung Der Kanon. Erzählungen 2004 Buchveröffentlichung Der Kanon. Dramen 2005 Buchveröffentlichung Der Kanon. Gedichte 2006 Buchveröffentlichung Der Kanon. Essays 2008 Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises für sein Lebenswerk 2009 Verfilmung von Mein Leben 2012 Am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, spricht Reich-Ranicki vor dem Deutschen Bundestag Benedikt XVI.: Der deutsche Papst und die Deutschen Benedikt XVI. eBook Umfang: ca. 390 Seiten Mit 10 Abbildungen Mit Beiträgen von Bernard-Henri Lévy, Martin Mosebach, Juan Manuel de Prada, Karl Kardinal Lehmann u. v. a. Februar 2013 ISBN ePub: 978-3-89843-243-6 ISBN PDF: 978-3-89843-244-3 Preis: 9,99 € Wir waren Papst Günther Jauch macht zwei Talkshows über die katholische Kirche. Tags darauf tritt Benedikt XVI. zurück. Man könnte meinen, eine der bedeutendsten Institutionen der Welt sei in der Krise. Von Frank Lübberding S eine Rücktrittserklärung formulierte Papst Benedikt XVI. auf Latein. Darin kommt alles zum Ausdruck, was die katholische Kirche als Institution prägt. Sie benutzt eine Sprache, die seit mehr als tausend Jahren nicht mehr als Verkehrssprache benutzt wird. Ihr historisches Gedächtnis reicht in Zeiten zurück, da ein Ereignis im 13. Jahrhundert zum Maßstab gegenwärtigen Handelns wird. Einen vergleichbaren Rücktritt eines Papstes, wie er am Montag um 11.48 Uhr bekannt wurde, hatte es zuletzt 1294 gegeben. Beim Rücktritt von Annette Schavan reichte die Erinnerung nur bis zum Freiherrn zu Guttenberg. Wer die Kirche als Institution verstehen will, muss sich diese soziologische Einzigartigkeit bewusstmachen. Sie hat fast zweitausend Jahre lang überlebt, obwohl die Kritik an der moralischen Integrität der Kirche und ihren theologischen Positi- onen keineswegs neu ist. Der Protestantismus war der historisch wirkungsvollste Versuch, die Kirche in ihrem institutionellen Kern anzugreifen. Das ist aber auch schon bald 500 Jahre her. Natürlich konnte Günther Jauch am Sonntag nicht ahnen, was am Montag passieren würde. Er hatte sich wegen der Reaktion auf seine vorangegangene Sendung entschieden, die Debatte über die katholische Kirche nochmals zu thematisieren. »Die GlaubensFrage: Wie lebensnah ist die Kirche?« war der Titel. Die Fragestellung zeigt schon die Ambivalenz, welche die Kirche heute erschüttert. Während der Papst den Kardinälen seinen Rücktritt auf Latein erläutert, sitzen bei Jauch Gäste, die ihren Katholizismus nur noch mit pragmatischen Argumenten begründen. Oskar Lafontaine brachte zum Ausdruck, warum er bisher nicht aus der Kirche ausgetreten ist. Allein diese Frage beantworten zu müssen zeigt die Lage des gegenwärtigen Katholizismus, wenigstens in Europa. »Wir leben in einer Gesellschaft mit einem rasanten Werteverfall«, sagte der ehemalige Parteivorsitzende der SPD und der Linken. Daher wolle er Institutionen unterstützen, die diese Werte noch verträten. Für Lafontaine ist das etwa die kirchliche Soziallehre. Zudem empfinde er gegenüber der katholischen Kirche ein Loyalitätsgefühl, weil sie ihm die höhere Schulbildung als Voraussetzung seiner späteren Karriere ermöglichte. Diese Sichtweise teilten nicht nur die anderen bekennenden Katholiken bei Jauch, wie die NRW-Kultusministerin Sylvia Löhrmann, die Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist, und der Fernsehjournalist Johannes B. Kerner. Es wird die Motivation vieler Menschen sein, die bis heute beiden Kirchen die Treue halten. Der alte Begriff der Diaspora hat mittlerweile eine neue Bedeutung bekommen. War es früher ein Ausdruck für die Minderheitsposition der Katholiken in vom Protestantismus dominierten Regionen, wäre er heute lebensweltlich zu verstehen. Die katholische Kirche lebt heute nicht nur in Fragen der Sexualmoral in der Diaspora, selbst dort, wo sie noch die Mehrheit stellt. Ihr Wertegefüge wird von den eigenen Mitgliedern nicht mehr geteilt, selbst nicht von einer ihrer herausragenden Laien wie Frau Löhrmann. Ob bei der »Pille danach«, der Wiederverheiratung Geschiedener oder der Sichtweise auf Homosexualität: der Geltungsbereich der Kirche beschränkt sich zumeist auf den eigenen Apparat – und ist selbst dort nicht mehr unumstritten. Bei Jauch sprach der Hamburger Weihbischof Hans-Joachim Jaschke von der Gefahr einer »Kirche ohne Menschen« und dass es »so nicht weitergehen« könne. Die Kirche, so muss man das verstehen, spricht zwar nicht auf Latein, wird aber trotzdem von vielen nicht mehr verstanden. Benedikt XVI. verkündete seinen Rücktritt am Rosenmontag, dem Festtag der Karnevalisten. Wahrscheinlich gibt es in den Zentren des rheinischen Katholizismus unzählige Katholiken, die sich als Nonne, Mönch oder Priester verkleidet haben. Hier findet man durchaus eine Symbolik, die in Rom nicht bedacht worden ist. Die Kirche als Institution überlebte bisher wegen ihrer starren Strukturen. Vom Papst in Rom bis zum Gemeindepfarrer verkörperte die Kirche den Glauben als allein legitimierte Instanz zwischen den Menschen und Gott. Es war kein Zufall, dass der Katholizismus im 16. Jahrhundert als Reaktion auf den Protestantismus den an militärischen Ordnungsprinzipien orientierten Jesuiten-Orden hervor- brachte. Die organisationssoziologischen Grundlagen sind brüchig geworden – vom Anspruch Roms auf weltweite Verbindlichkeit seiner Lehre über den Zölibat bis zur Frage nach der Priesterweihe für Frauen. Der institutionelle Kern der katholischen Kirche wirkt heute bisweilen schon so wie eine sich als Nonne verkleidende Karnevalistin. Ernster nehmen ihn eine Frau Löhrmann, ein Lafontaine oder ein Kerner als Mitglieder ihrer Kirche nicht. Die Katholiken, die das noch anders sehen, sind zu einer Minderheit geworden. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen. So hatte Jauch in seiner ersten Sendung zum Thema den Publizisten Martin Lohmann eingeladen. Er hält unverdrossen an dem Führungsanspruch seiner Kirche als Institution fest – und erntete wütende Reaktionen. Das war einer der Gründe, warum Jauch das Thema am Sonntag abermals diskutierte. Aus Benedikt XVI. wird wieder Joseph Ratzinger. Er interpretiert damit das Amt auf höchst moderne Weise. Wo seit 1415 das Amt mit der Person verschmolz, ist es seit heute eine Funktion in einer weltweit wirkenden Institution, vergleichbar weltlichen Organisationen. Man kann sich kaum vorstellen, dass dem Papst diese historische Zäsur nicht bewusst gewesen ist, unabhängig von den persönlichen Motiven seiner Entscheidung. Die Ankündigung eines Rücktritts auf Latein und die faktische Sprachlosigkeit in einer Talkshow – die Krise der katholischen Kirche ist offenbar. Sie ist wohl nur mit den Folgen des Auftretens Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521 zu vergleichen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.02.2013 Chronik Werdegang und Pontifikat Benedikts XVI. Von Doris Kappes 16. April 1927: Joseph Ratzinger wird als Sohn eines Gendarmeriemeisters in Marktl am Inn geboren. Seine Kindheit und Jugend verbringt er überwiegend im oberbayerischen Traunstein. 1946–1951: Studium der Philosophie und Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Freising und an der Universität München. 29. Juni 1951: Priesterweihe im Freisinger Dom St. Maria und St. Korbinian. 1953: Theologische Dissertation zum Thema „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“. 1957: Habilitation an der Universität München über „Die Geschichtstheologie des Hl. Bonaventura“. 1959–1977: Joseph Ratzinger lehrt als Theologieprofessor in Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. 1962–1965: Zunächst als Berater des Kölner Kardinals Frings, später als offizieller Konzilstheologe nimmt Joseph Ratzinger am Zweiten Vatikanischen Konzil teil. Er wirkt an der Ausarbeitung bedeutender Konzilsdokumente mit und vertritt reformorientierte theologische Positionen. 25. März 1977: Berufung zum Erzbischof von München und Freising. Rund zwei Monate später folgt die Erhebung in den Kardinalsstand. 25. November 1981: Joseph Kardinal Ratzinger wird von Papst Johannes Paul II. zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt. In dieser Funktion erwirbt er sich den Ruf eines strengen Glaubenswächters. Dies zeigt sich insbesondere ab 1983 in seiner kritischen Haltung gegenüber der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. 6. August 2000: Unter der Federführung Kardinal Ratzingers veröffentlicht die Glaubenskongregation das Dokument „Dominus Jesus“, das die Einzigartigkeit Christi und der katholischen Kirche vor allen anderen Glaubensgemeinschaften betont. 19. Januar 2004: In der Katholischen Akademie in Bayern treffen sich der Philosoph Jürgen Habermas und Kardinal Ratzinger zu einer mehrstündigen Diskussion zum Thema „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“. 19. April 2005: Nach dem Tod von Johannes Paul II. am 2. April 2005 wird in einem der kürzesten Konklaves der Kirchengeschichte Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt. Er entscheidet sich für den Namen Benedikt XVI. 18.–21. August 2005: Seine erste Auslandsreise führt den Papst zum Weltjugendtag nach Köln. Mit einer Million Gläubigen feiert er dort den am stärksten besuchten Gottesdienst auf deutschem Boden. 25. Dezember 2005: Papst Benedikt XVI. veröffentlicht seine erste Enzyklika „Deus caritas est“ (Gott ist Liebe). Er betont darin die untrennbare Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe. 20. Mai 2006: Treffen mit dem russisch-orthodoxen Metropoliten Kyrill. Die Annäherung an die orthodoxe Kirche wird zum zentralen ökumenischen Bestreben von Benedikts Pontifikat. 25.–28. Mai 2006: Der zweite Auslandsbesuch führt Benedikt XVI. nach Polen. In der Heimat seines Vorgängers Johannes Paul II. feiert er mit rund einer Million Gläubigen in Krakau eine Messe. Zum Abschluss der Reise besucht er das ehemalige deutsche Konzentrationslager Auschwitz und ruft dort zu Versöhnung und Vergebung auf. 9.–14. September 2006: Benedikt XVI. besucht seine bayerische Heimat. Insbesondere die „Regensburger Rede“, eine Vorlesung in der Universität Regensburg am 12. September, stößt auf heftige Ablehnung in der islamischen Welt. Ein historisches Zitat in seiner Rede wird als Beleidigung des Propheten Mohammed aufgefasst und löst einen mehrwöchigen Disput und gewalttätige Proteste aus. 28. November–1. Dezember 2006: Der Besuch Benedikts XVI. in der Türkei findet unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Mit Gesten der Versöhnung und Gesprächen bemüht sich der Papst, das durch die „Regensburger Rede“ zerrüttete Verhältnis zur muslimischen Welt zu normalisieren. 16. April 2007: Der erste Band eines auf drei Teile angelegten theologischen Grundsatzwerkes über „Jesus von Nazareth“ erscheint am 80. Geburtstag des Papstes. 7. Juli 2007: Benedikt XVI. verfügt, dass die Messe nach dem tridentinischen Ritus, d.h. die lateinische Messe in der vorkonziliaren Form, wieder als gleichberechtigte, wenn auch „außerordentliche“ Form des Gottesdienstes gefeiert werden darf. Die Rehabilitierung der tridentinischen Messe wird als Zugeständnis an die traditionalistische Priesterbruderschaft St. Pius X. (Piusbruderschaft) gesehen. 10. Juli 2007: In einem vom Papst genehmigten Schreiben der Glaubenskongregation wird den protestantischen Gemeinschaften das Recht abgesprochen, sich als „Kirche“ zu bezeichnen. 30. November 2007: Papst Benedikt veröffentlicht die zweite Enzyklika seines Pontifikats „Spe salvi“ (Über die christliche Hoffnung). Februar/März 2008: Eine vom Papst neu formulierte Fassung der Karfreitags-Fürbitte „Für die Juden“ aus dem vorkonziliaren Messritus von 1962 sorgt für Verstimmung und Proteste in der jüdischen Welt. 6. März 2008: Benedikt XVI. empfängt erstmals das Oberhaupt der orthodoxen Christen, Patriarch Bartolomaios I. von Konstantinopel. 15.–21. April 2008: Unter dem Motto „Christ our Hope“ führt die achte Pastoralreise Benedikt XVI. in die Vereinigten Staaten. Schon auf dem Flug von Rom nach Washington äußert sich der Papst „tief beschämt“ über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs durch Priester in den dortigen Diözesen. Höhepunkte seiner Visite sind Gespräche im Weißen Haus, eine Rede vor den Vereinten Nationen und ein Besuch am Ground Zero in New York. 24. Januar 2009: Benedikt XVI. hebt die Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft auf. Unter ihnen ist auch der Holocaust-Leugner Richard Williamson. Die Entscheidung des Papstes wird weltweit und auch in Deutschland stark kritisiert. 8.–15. Mai 2009: Benedikt XVI. besucht Jordanien, Israel und die palästinensischen Gebiete. Seine allgemein gehaltenen Äußerungen beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, dass Millionen Juden „getötet“ worden seien, stoßen auf Unverständnis und Kritik. Auf die Politik der Kurie während des Holocausts geht er nicht ein. 29. Juni 2009: Benedikts dritte Enzyklika „Caritas in veritate“ (Über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit) – zugleich seine erste Sozialenzyklika – befasst sich mit ethischen Aspekten der Globalisierung und der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. 7. November 2009: Papst Benedikt unterzeichnet das Dokument „Anglicanorum coetibus“. Es ermöglicht Gruppen von Anglikanern zur katholischen Kirche überzutreten unter weitgehender Beibehaltung ihrer eigenen Tradition. März 2010: In seinem Hirtenbrief „Scham und Reue“ nimmt Benedikt XVI. Stellung zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche. Das Schreiben ist and die Gläubigen in Irland gerichtet und wirft den dortigen Bischöfen Versagen vor. 11. Juni 2010: Bei einer Messe auf dem Petersplatz bittet der Papst die Opfer von sexuellen Übergriffen öffentlich um Vergebung. 16.–19. September 2010: Die Seligsprechung des britischen Kardinals John Henry Newman ist für Benedikt XVI. Anlass für den ersten Staatsbesuch eines Papstes seit dem Bruch des Königreichs mit Rom im Jahr 1534. Nach kritischer Medienberichterstattung im Vorfeld des Besuchs gelingt ihm mit seiner Rede in Westminster Hall eine positive Resonanz in der öffentlichen Meinung. 20. November 2010: Der Papst bewertet die Verwendung von Kondomen in Zusammenhang mit Aids als „ersten Schritt der Verantwortung“. Damit setzt er einen neuen Akzent in der bisherigen Sexuallehre der katholischen Kirche. März 2011: Der zweite Band von Benedikts Trilogie „Jesus von Nazareth“ erscheint. Sie umfasst den Zeitraum „Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung“. 22.–25. September 2011: Papst Benedikt kommt zum Staatsbesuch nach Deutschland. Stationen seiner Reise sind Berlin, Erfurt, das Eichsfeld und Freiburg. Die Begegnung mit Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an einer der Wirkungsstätten Martin Luthers in Erfurt ist trotz der historischen Geste von Enttäuschung im ökumenischen Dialog geprägt. Bei seinem Abschlussvortrag in Freiburg ruft er zur „Entweltlichung“ der Kirche auf. Frühjahr 2012: Die Verhandlungen mit der Piusbruderschaft sind festgefahren. Seit 2009 wurden die Traditionalisten wiederholt erfolglos zur Annahme der „lehrmäßigen Erklärung“ als Grundlage einer Aussöhnung mit der katholischen Kirche aufgefordert. 23.–29. März 2012: Die Reise Benedikts XVI. nach Mexiko und Kuba wird als eine der wichtigsten seines Pontifikats angesehen. Während der Papst in Mexiko der Opfer von Armut und Drogenkrieg gedenkt, ist in Kuba die Religionsfreiheit sein Hauptanliegen. Ein Treffen mit Fidel Castro erfährt besondere Beachtung. 2. Juli 2012: Papst Benedikt ernennt den Bischof von Regensburg, Gerhard Ludwig Müller, zum Präfekten der Glaubenskongregation, einem der höchsten Ämter in der römischen Kurie und zugleich das Amt, das Benedikt XVI. selbst fast ein Vierteljahrhundert inne hatte. 14.–16. September 2012: Trotz muslimisch-christlicher Spannungen nach der Veröffentlichung eines Mohammed-Schmähvideos hält Benedikt XVI. an seiner apostolischen Reise in den Libanon fest. Er wirbt für den interreligiösen Dialog und die Religionsfreiheit. November 2012: Der abschließende Band von Benedikts JesusTrilogie mit dem Titel „Prolog – Die Kindheitsgeschichten“ wird veröffentlicht. 23. Dezember 2012: Der Papst begnadigt seinen ehemaligen Kammerdiener Paolo Gabriele, der wegen der Weitergabe vertraulicher Dokumente zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. In der sogenannten Vatileaks-Affäre waren ab 2011 geheime Unterlagen aus dem Umfeld des Papstes an die Öffentlichkeit gelangt. 11. Februar 2013: Benedikt XVI. erklärt in Rom vor den versammelten Kardinälen, dass er aufgrund seines vorgerückten Alters als Papst am 28. Februar 2013 um 20 Uhr zurücktreten wird. Modemacher im Porträt Modemacher eBook mit zahlreichen exklusiven F.A.Z.-Fotos ca. 180 Seiten September 2012 ISBN (ePub): 978-3-89843-246-7 ISBN (PDF): 978-3-89843-245-0 Preis: 12,99 € John Galliano: Ein Schatten seiner selbst Seine Ära bei Dior ist zu Ende. Sein Scheitern offenbart den Druck, unter dem Designer heute stehen. Von Alfons Kaiser und Anke Schipp E ine Ära ist zu Ende. Nicht nur die Epoche des Modeschöpfers John Galliano, der nach Antisemitismus-Vorwürfen am Dienstag vom Modehaus Dior entlassen wurde. Auch die Zeit der ersten großen Öffnung der Pariser Mode. Nach den Japanern (Kenzo, Yamamoto, Kawakubo, Watanabe) und den Belgiern (Margiela, van Noten, Demeulemeester, Bikkembergs) erlebte Paris Mitte der neunziger Jahre eine britische Invasion. John Gallianos Rauswurf ist der Schlusspunkt dieser Zeit. Stella McCartney, die Chloé zum Erfolg führte, kehrte 2001 nach London zurück und beschränkte sich auf ihre eigene Marke. Alexander McQueen, der als Nachfolger Gallianos von 1997 bis 2001 Givenchy einer Radikalkur unterzog, nahm sich am 11. Februar 2010 das Leben – nachdem auch Isabella Blow, die große Förderin der britischen Mode, drei Jahre zuvor Suizid begangen hatte. Und nun muss sich John Galliano auf »John Galliano« beschränken. Ohne das Geld und den Ruhm von Dior wird es aber schwierig sein, die eigene Marke zu erhalten: Die für Sonntag geplante Prêt-à-porter-Schau hat er am Mittwoch schon abgesagt. Man könnte die Galliano-Jahre als Fußnote der Modegeschichte verbuchen. Aber sie sind – in aller Demut – ein Kapitel. Die Japaner und die Belgier konnten nie die zentralen Häuser entern. Die Briten hingegen griffen nach den großen Namen Chloé, Dior, Givenchy, der Amerikaner Marc Jacobs nach Louis Vuitton, Michael Kors vorübergehend nach Céline. Die Franzosen, die sich so sehr über die Plünderung ihres kulturellen Erbes ärgerten, spürten die grundsätzlichen Änderungen: Plötzlich waren andere Modemacher, andere Modestile, andere Modeschulen (Central Saint Martins statt der École de la Chambre Syndicale) entscheidend. Schon hinter dieser tektonischen Verschiebung stand Anna Wintour, die britische Chefin der amerikanischen »Vogue«. Sie förderte die begabten angloamerikanischen Designer und gewann um so größeren Einfluss, je stärker in der Luxusindustrie fachfremde Manager wie LVMH- und Dior-Chef Bernard Arnault die Macht übernahmen, die für jeden sachdienlichen Hinweis dankbar waren. Für John Galliano wurde ein Kindheitstraum wahr. 1960 in Gibraltar geboren, woher sein Vater stammte, wuchs er in einfachen Verhältnissen als Juan Carlos Antonio Galliano auf. Die Familie zog nach London, als er sechs Jahre alt war. Seine Mutter, eine Andalusierin, stattete ihren Sohn mit Kleidern aus, »die eines kleinen Prinzen würdig gewesen wären«, wie sein Biograph Colin McDo- well schrieb. Auf dem Küchentisch brachte sie ihm Flamenco bei. Früh trug Galliano, der zunächst schlecht Englisch sprach, schüchtern war und in der Schule ein Außenseiter, exzentrische Kleidung als Schutzschild. Er blühte auf, als er in der Garderobe eines Theaters jobbte und im Fundus stöbern durfte. Seine theatralische Sendung erfüllte sich später auf dem Laufsteg, als er nicht nur die Dior-Damen in verschwenderische Kleider steckte, sondern selbst am Ende in Phantasieuniformen erschien, die viel über ihn preisgaben, weil er sich selbst in einer Rolle zu verbergen suchte. Clown, Napoleon, Pirat, Christian Dior, Humphrey Bogart: Immer war er perfekt gestylt von Klaus Stockhausen, dem Mode-Chef der deutschen »GQ«, der für den Astronautenanzug der Couture-Schau im Juli 2006 weder in Theatern noch in Filmstudios fündig wurde, weil ihm die Anzüge nach Faschingsbedarf aussahen, der schließlich in Russland einen Kosmonautenanzug fand, schwer und unbequem und umständlich und ebenfalls aus anderen Sphären. Galliano war schon früh in seiner eigenen Umlaufbahn. Anfang der Achtziger begann er sein Studium an Central Saint Martins und finanzierte es mit Schreiner-, Verkäufer-, Botenjobs. Seine Abschlusskollektion von 1984 machte ihn auf einen Schlag bekannt. Joan Burstein, Mitinhaberin der Boutique Brown's, kaufte die gesamte Kollektion: »Galliano war anders, aufregend, ein Freigeist.« Tatsächlich scherte er sich wenig um Regeln. Mit McQueen festigte er den von Vivienne Westwood etablierten Ruf des britischen Designs, das sich aus der Kostümgeschichte ebenso bediente wie bei der Straßenmode, aus dem Theaterfundus wie aus den Labors der Technostoffe – und sich damals als Antidot zum grassie- renden Minimalismus alla milanese verstand. Anna Wintour, deren »Vogue« vergleichsweise bieder ist, nannte es »eine Art kreativen Wahnsinn«. Ein Fall von Selbstversenkung: John Galliano F.A.Z.-Foto / Fricke Bernard Arnault, der mit Mode und Luxus zum reichsten Franzosen wurde, hatte mit Galliano das große Los gezogen. LVMH beherrscht das gemischte Doppel. Der Designer ist die kreative Kraft, der Manager lenkt sie in richtige Bahnen. Marc Jacobs und Yves Carcelle bei Louis Vuitton machen es glänzend vor, lange auch John Galliano und Sidney Toledano. Die Manager, charmante Gesprächspartner, kunstinteressiert und global orientiert, entwickelten das Geschäft systematisch. Doch im Dior-Doppel traten Risse auf. Gallianos Effekte verpufften, die Spannkraft ließ nach, bei aller handwerklichen Perfektion und allen geschäftlichen Erfolgen schlich sich Routine ein. Miuccia Prada, Raf Simons, Alber Elbaz, Nicolas Ghesquière – sie alle zogen an ihm vorbei. Für Galliano wuchs der Druck auch mit der wachsenden Marke. In globalisierten Märkten muss man die Produktpalette erweitern, haben Area-Manager immer mehr Spezialwünsche, kann man unmöglich alle Kundenwünsche erfüllen. Zwei Hauptkollektionen fürs Prêt-à-porter musste Galliano pro Jahr entwerfen, zwei CoutureKollektionen, Pre-Collections und Accessoires, zu schweigen von seiner eigenen Marke mit weiteren zwei Damen- und zwei Herrenkollektionen pro Jahr. Die globale Maschinerie mit gigantischem Aufwand in Marketing, Vertrieb und Verkauf, Tausenden Mitarbeitern, Hunderten Stores, die Erwartung der Chefs und der Märkte an »double digit growth«, dazu die Ansprüche an sich selbst, die konzerninterne Konkurrenz mit Überfliegern wie Marc Jacobs und Jungtalenten wie dem 36 Jahre alten Riccardo Tisci, seit fünf Jahren bei Givenchy, der nun sein Nachfolger werden könnte: Solche Einflüsse führen zu einem Druck, den nur ein Karl Lagerfeld ohne Rauschgift oder Alkohol auszuhalten in der Lage zu sein scheint. Das erklärt auch, warum heute die meisten Designer großer Häuser wie Alber Elbaz (Lanvin), Stefano Pilati (Yves Saint Laurent) oder Frida Giannini (Gucci) keine eigene Marke haben. John Galliano hatte zwar Narrenfreiheit, seine überbordende Phantasie und die theatralische Opulenz ließen sich gut kommerziell nutzen. Und in der Haute Couture konnte er sich ausleben – zuletzt im Januar mit der neben Chanel besten Kollektion. Doch wirkten seine historisierenden Entwürfe zuweilen wie aus dem spiralgebundenen Buch »Les Signes de Reconnaissance de la Maison Christian Dior«, in dem all die richtigen Farben, Gewebe und Schnitte des Hauses festgehalten sind. Der Konzern schmückte sich damit, seine Designer aufzubauen, und, anders als kurzfristig denkende Investoren ihre Kreativität zu respektieren. Aber ein Designer kann sich bei einer so großen Marke höchstens einen Flop erlauben, mehrmals darf er nicht versagen. In einem Luxuskonzern ist er nur ein Angestellter. Am Ende behalten die Manager recht. Zu Gallianos Ende gibt es eine gespenstische Parallele. 1960 hatte Yves Saint Laurent, der nach Diors Tod als blutjunger Designer die Verantwortung übernommen hatte, in seiner sechsten Saison die Kundinnen und den Dior-Chef Marcel Boussac mit einer »Beat«Kollektion schockiert. Was für ein Zufall, dass der genialische Designer daraufhin zum Militärdienst einberufen wurde und Boussac ihn nicht davor bewahrte. Nach drei Wochen Kaserne kam Saint Laurent in die Psychiatrie. Dort erfuhr er von seinem Partner Pierre Bergé, dass Dior ihn entlassen hatte. So laut wie heute hörte man das Aufatmen an der Avenue Montaigne: Er ist weg! Saint Laurent kam unter eigenem Namen wieder. Bei John Galliano, der in dem Jahr geboren wurde, in dem YSL bei Dior scheiterte, kann man sich da nicht sicher sein. Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 3.3.2011 Die Welt des schönen Scheins – museal Modemuseen in Europa Deutschland Modemuseum auf Schloss Meyenburg in Brandenburg 16945 Meyenburg Schloss 1 Telefon 033968-50 89 61 Telefax 033968-50 774 http://www.modemuseum-schloss-meyenburg.de/ Modemuseum Schloss Ludwigsburg Schloss Ludwigsburg Schlossstraße 30 71634 Ludwigsburg http://www.schloss-ludwigsburg.de/Modemuseum/232651.html Mode-Museum Feigel Von-Speth-Schülzburg-Str. 38 89584 Ehingen-Granheim http://www.modemuseum-feigel.de/mmf/ Frankreich Pariser Modemuseum Galliera 10, avenue Pierre 1er de Serbie Paris (zur Zeit geschlossen, Wiedereröffnung im Herbst 2013) Musée de la Mode et du Textile im Musée Les Arts Décoratifs http://www.lesartsdecoratifs.fr/francais/mode-et-textile/ Les Arts Décoratifs – Mode et textile 107, rue de Rivoli 75001 Paris Musée Christian Dior http://www.musee-dior-granville.com La villa “Les Rhumbs” 50400 Granville Großbritannien Fashion and Textile Museum London The Fashion and Textile Museum 83 Bermondsey Street London SE1 3XF http://www.ftmlondon.org/ The Victoria and Albert Museum London Cromwell Road London SW7 2RL http://www.vam.ac.uk/page/f/fashion/ Fashion Museum Bath Assembly Rooms Bennett Street Bath, BA1 2QH Tel: +44 (0) 1225 477789 http://www.museumofcostume.co.uk/ Gallery of Costume Manchester Platt Hall Rusholme Manchester, M14 5LL Tel: 0161 245 7245 http://www.manchestergalleries.org/our-other-venues/platt-hallgallery-of-costume/ National Museum of Costume (Schottland) http://www.nms.ac.uk/our_museums/museum_of_costume.aspx Shambellie House New Abbey, Dumfriesshire Italien Galeria del Costume http://www.uffizi.firenze.it/musei/?m=costume Joachim Gauck Joachim Gauck eBook Umfang: ca. 215 Seiten mit Abbildungen April 2012 ISBN ePub: 978-3-89843-166-8 ISBN PDF: 978-3-89843-161-3 Preis: 12,99 € Der Präsident als Seelsorger der Nation Gauck begleiten gewaltige Erwartungen. Deutschland sehnt sich nach einem Havel. Von Berthold Kohler E s schien alles endgültig entschieden zu sein, vor zwei Jahren, als Joachim Gauck sich für die Kluge-Köpfe-Serie der F.A.Z. fotografieren ließ als Bürger Gauck, mit dem Rücken zum Schloss Bellevue. Er hatte damals die Wahl zum Bundespräsidenten erwartungsgemäß, wenn auch zu allgemeinem und wohl persönlichem Bedauern verloren, die Freiheit des Pensionärs aber behalten. Fortan konnte er tun, was er am liebsten und am besten tat: als Wanderprediger der Demokratie und der Freiheit durchs Land ziehen, mit einem Ruf wie Donnerhall, jedenfalls im Westen. Er genoss das Ansehen eines »elder statesman« der Helmut-Schmidt-Klasse, ohne – die Leitung einer Behörde erhebt noch nicht in diesen Stand – jemals ein Staatsmann gewesen zu sein. Seit gestern verlangt das Schicksal diesen Vorschuss von ihm zurück. Den elften Bundespräsidenten begleiten Erwartungen, wie sie größer kaum sein könnten. Selbst einem Selbstbewusstsein wie dem seinen müssen sie Respekt abnötigen. Gauck zieht nicht nur mit einer überwältigenden Mehrheit, sondern auch mit einem umfassenden Sanierungsauftrag ins Schloss: Er soll ein Amt, dessen Würde und Ansehen gelitten haben, wieder zu alter Höhe aufrichten. Volk und politische Klasse erwarten von ihm, dass er nach einer hingeworfenen und nach einer gescheiterten Präsidentschaft dem Verfassungsorgan, das er verkörpert, so viel Glanz verleiht, dass der alte Satz, (West-)Deutschland habe Glück mit seinen Staatsoberhäuptern gehabt, in Summe wieder stimmt. Denn die Deutschen hängen an ihrem Paradoxon im Verfassungsgefüge, das Einfluss auf sie ausüben soll, ohne im herkömmlichen politischen Sinne Macht über sie zu haben. Man erwartet vom Bundespräsidenten, dass er im Fürsorgestaat – für alles hat die moderne Gesellschaft einen Dienstleister – die Versorgung mit Geist und Moral sicherstellt. Mehr als den anderen Staatsorganen wird ihm die Aufgabe politischer Sinnstiftung zugeschrieben. Er soll Hefe in die gesellschaftlichen Debatten rühren und zugleich den Kitt liefern, der die Gesellschaft zusammenhält. Ihm gibt man auf, den Stoff zu weben, aus dem die Träume von einem gerechten und friedlichen Gemeinwesen sind, in Deutschland und der ganzen Welt. Diese Jobbeschreibung hat selbst Gauck einmal eine »mission impossible« genannt. Doch wer sollte sich nach der unglücklichen Vorgeschichte noch an sie heranwagen, wenn nicht der freischaffende »Demokratielehrer«, der seit zwei Jahren auf Tournee war mit dem Stück »Wie man es besser machen könnte«? Der Pastor, der zum Bürgerrechtler wurde, ist den in ihn gesetzten Hoffnungen zufolge der deutsche Havel, nach dem sich besonders die linken Intellektuellen im Westen so sehnten – so sehr, dass sie bereitwillig übersahen, wie fern er ihnen auf manchen Feldern steht. Und dass der Ostdeutsche im Osten nicht ganz so durchgängig verehrt wird wie im Westen. Endlich den Solitär gefunden zu haben, der dem Land der Dichter und Denker gut zu Gesicht steht, hinderte die Finder freilich nicht daran, ihn noch vor der Wahl in die Schablonen pressen zu wollen, die man angeblich loswerden wollte. Denkt er auch genug ans Soziale? Hat er nicht nur ein einziges Thema, die Freiheit? Ein solcher Vorwurf kann wohl nur in Deutschland erhoben werden. Er zeigt, wie wenig Wertschätzung die liberale Idee, die es in deutschen Landen immer schon schwer hatte, in dieser Republik noch erfährt. Und wie sehr ein Bundespräsident nottut, dessen Lebensthema die Freiheit des Bürgers ist: Freiheit im klassischen Verständnis als Freiheit vom Staat, aber auch Freiheit zum Engagement, zur Verantwortung, zur »Bezogenheit«, wie Gauck sagt. Als die Wulffs ins Bellevue kamen, war von den deutschen Kennedys die Rede. Ihnen folgt jetzt ein Hausherr mit weit geringerem Glamour-Faktor, der aber den vielzitierten (und wenig beherzigten) Satz des amerikanischen Präsidenten nicht nur in eigenen Worten, sondern auch mit eigener Glaubwürdigkeit vortragen kann und wird: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern, was du für dein Land tun kannst. Es ist damit zu rechnen, dass Gauck bei der Auslegung des Kennedyschen Imperativs für das höchste Staatsamt für manche Überraschung sorgen wird. Das mag zu den Gründen der Kanzlerin gehört haben, ihn abzulehnen, bevor er ihr aufgezwungen wurde. Gauck ist ihr nicht verpflichtet, was aber auch für sie von Vorteil sein kann. In jedem Fall belegen die beiden ostdeutschen Protestanten an der Spitze des deutschen Staates, dass die Wiedervereinigung nicht nur nach dem Prinzip der Einbahnstraße verlief. Sie führen auch vor, wie bis zur Unsinnigkeit oberflächlich die Einteilung in »Ossis« und »Wessis« war und ist. Frau Merkel, die Integrierte, und Gauck, der Integrierer, könnten nicht viel unterschiedlicher sein, was Temperament, Rollenverständnis und Zugang zur Politik angeht. Das gilt auch für die Bedeutung, die sie dem Wort im politischen Prozess geben können. Das Pathos, mit dem Gauck seine Reden grundiert, mag manchem in Berlin bald als überreichlich erscheinen. Doch klagt das Volk seit Frau Merkels Amtsantritt über eine Unterversorgung mit rhetorischer Wärme und historischer Verortung. Der Deutsche lebt gerade in Zeiten der Verunsicherung nicht vom Pragmatismus allein. Der neue Seelsorger der Nation wird auch diese Lücke füllen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2012. Weiterführende Literatur: 1. Von Joachim Gauck: Freiheit: ein Plädoyer. München, 2012 (5. Auflage) Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München, 2011 In: Christoph Giesa: Bürger. Macht. Politik. Frankfurt am Main 2011 In: Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit. Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis. Göttingen, 2011. In: Ulrich Kühne (Hg.): Mutige Menschen. Frauen und Männer mit Zivilcourage. München, 2011 In: Eckart Conze u.a. (Hg.): Die demokratische Revolution 1989 in der DDR. Wien, 2009. In: Der Blaue Reiter, Journal für Philosophie. Sonderband Philosophie im Gespräch. 2007 In: Stephane Courtois u.a. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Sonderausgabe Bd. 1. München, 2004 Plädoyers für Gerechtigkeit. Rostock, 1994 Die Stasi-Akten: das unheimliche Erbe derDDR. Reinbek bei Hamburg, 1991 2. Über Joachim Gauck Norbert Robers: Joachim Gauck. Vom Pastor zum Präsidenten. Leipzig, 2012 Dieter Bub: Begegnungen mit Joachim Gauck. Halle, 2012. Albrecht Müller: Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden. Frankfurt am Main, 2012 Wer hört auf die Stimme des Volkes? Volkes Stimme eBook Umfang: ca. 130 Seiten Mit Karikaturen von Greser & Lenz Juni 2012 ISBN ePub: 978-3-89843-164-4 ISBN PDF: 978-3-89843-159-0 Preis: 7,99 € Wie soll es sein? Repräsentative Demokratie und plebiszitäre Instrumente schließen einander nicht aus. Weder in der Theorie noch in der Praxis. Allerdings macht längst nicht jede Form der Bürgerbeteiligung aus einer guten und stabilen repräsentativen Demokratie eine noch bessere und stabilere Regierungsform. Von Professor Dr. Werner J. Patzelt D ie Befürworter einer direkten Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen halten die repräsentative Demokratie nicht selten für unzulänglich oder gar falsch. Vermutlich ist sie aber die bestmögliche Weise, um in einem bevölkerungsstarken Land für gutes Regieren zu sorgen. Die parlamentarische Demokratie, in der gewählte Volksvertreter entscheiden, ließe sich aber durch weitere Formen der Bürgerbeteiligung vervollkommnen. In der Schweiz werden die dafür geeigneten plebiszitären Instrumente unter dem Begriff der »direkten Demokratie« zusammengefasst. Auch in Deutschland ist dieser Begriff populär. Allerdings ist er hierzulande ein irreführendes Etikett auf einer undurchsichtigen Flasche und deshalb wenig wünschenswert. Erstens wäre sein Gegenbegriff die »indirekte« Demokratie. Nach allgemeinem Sprachgefühl ist aber »Indirektes« weniger gut als »Direktes«. Also wertet allein schon die Rede von der »direkten Demokratie« die repräsentative Demokratie ab. Darüber hinaus bezeichnet man in Deutschland mit dem Begriff »direkte Demokratie« nicht nur die Verwendung plebiszitärer Instrumente, sondern auch die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten, von Ministerpräsidenten, des Bundespräsidenten oder bisweilen auch des Bundeskanzlers. Die Direktwahl dieser Amtsträger – oder das Recht, sie abzuwählen – hat aber nichts mit der Verbesserung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Instrumente zu tun. Es geht allein um die Frage, ob auch auf Landesund Bundesebene ein präsidentielles Regierungssystem eingeführt werden soll. Deshalb ist es nicht sinnvoll, die Entscheidung über den Typ des Regierungssystems mit der Entscheidung über plebiszitäre Verbesserungsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie zu verbinden. Wie aber ließe sich die repräsentative Demokratie durch zusätzliche plebiszitäre Instrumente verbessern? Wenn große Teile der Bevölkerung den Kurs von Parteien verändern wollen und dabei auf Widerstand der Parteiführer oder Funktionäre stoßen, können sie nur etwas erreichen, indem sie diese Parteien bei der Wahl bestrafen. Der Bürger geht nicht zur Wahl, lässt also seine eigentlich bevorzugte Partei im Stich. Oder er wird zum Wechselwähler und geht das Risiko ein, mit dem Politikangebot unberechenbar werdender Parteien sowie mit Zufallskoalitionen leben zu müssen. Er kann sich auch für eine Protestpartei entscheiden, wie damals für die Republikaner, als die politische Klasse den Wunsch nach Veränderung des Asylrechts ignorierte, oder wie später für die westdeutsche Linke zur Strafe für die SPD. Mitunter wird man dann die Geister aber nicht mehr los, die man einst herbeiwählte. Dieses Vorgehen gleicht der Krebsbehandlung durch Chemotherapie: Der ganze Körper wird mit Gift überschwemmt, weil man nirgendwo gezielt ansetzen kann. Genau das aber können plebiszitäre Instrumente leisten. Zwischen den Wahlen können öffentlichkeitswirksame Minderheiten leicht glauben machen, hinter ihnen stehe eine Mehrheit. Das bringt Mehrheitsentscheidungen nicht selten um die allgemeine Akzeptanz und erlaubt es, demokratische Legitimität gegen rechtsstaatliche Legalität auszuspielen. Wäre da nicht die Möglichkeit wünschenswert, der behaupteten oder gefühlten Mehrheit der Protestierenden auf den Zahn zu fühlen? Für plebiszitäte Elemente spricht ein Weiteres: Konflikte zwischen konkurrierenden Interessenträgern – etwa für oder gegen Stuttgart 21 – werden bislang als Konflikte wahrgenommen, in denen »der Staat«, dessen Amts- und Mandatsträger etwas entschieden haben, und aufbegehrenden »Bürger« gegenüberstehen. Bei einer solchen Frontstellung kann sich jener Teil der Bürgerschaft wegducken, der die Entscheidung der Amts- und Mandatsträger befürwortet. Man fordert dann Mut von den Politikern – und bestraft sie bei der nächsten Wahl sowohl für Übermut beim Durchhalten als auch für Wankelmut beim Nachgeben, beteiligt sich aber nicht selbst am Ringen um den Bestand einer lautstark abgelehnten Entscheidung. Solches Zuschauerverhalten ist unfair gegenüber politischen Amtsinhabern und schädlich für die Demokratie. Wie aber hält man die Befürworter einer politisch angegriffenen Entscheidung zu deren öffentlicher Unterstützung an? Am besten durch die Verfügbarkeit eines plebiszitären Instruments, das aus einem Konflikt zwischen »dem Staat« und »den protestierenden Bürgern« einen ganz normalen Konflikt zwischen Gruppen macht, die eben unterschiedliche Absichten verfolgen. Welche plebiszitären Instrumente wären nun aber geeignet, die Schwierigkeiten der repräsentativen Demokratie zu lindern? Am allerwenigsten taugt dafür das bekannteste plebiszitäre Instrument: das von Verfassungsorganen – also »von oben nach unten« – initiierte fakultative Referendum. Gehandhabt wird es meist so, dass eine Parlamentsmehrheit, eine Regierung, ein Regierungs- oder Staatschef nach eigenem Ermessen über eine politische Frage eine Volksabstimmung ansetzt. Eigentlich kann es demokratischer gar nicht zugehen: Das Volk wird schließlich gefragt, was die politische Klasse tun soll. Doch die Risiken und Nebenwirkungen sind beträchtlich. Zunächst hat dieses Instrument zwar viel mit Demokratie, aber nichts mit Repräsentation zu tun. Vielmehr verschenkt es deren Mehrwert. In einem Repräsentativsystem ist es nämlich die Pflicht der Abgeordneten beziehungsweise der von den Abgeordneten getragenen Regierung, und in einem präsidentiellen Regierungssystem auch die des Staatsoberhaupts, Lösungsmöglichkeiten für Probleme auszuarbeiten sowie – in den Grenzen des freien Mandats – eigenständige Entscheidungen zu treffen. Entsprechend hat das Volk Anspruch darauf, sich nicht selbst zu komplexen Themen eine Position erarbeiten zu müssen. Also ist es pflichtwidrig, wenn Repräsentanten sich aus Scheu vor politischen Schwierigkeiten vor einer eigenen Entscheidung drücken. Genau dazu aber neigt die politische Klasse. Sogar im Deutschen Bundestag, der gewöhnlich allen plebiszitären Instrumenten abhold ist, erwog man 1991 eine Volksabstimmung über die Frage, ob das Parlament wohl in Bonn bleiben oder seinen Sitz in Berlin nehmen solle. Man stelle sich vor, auch Entscheidungen über eine Reform des Gesundheits- oder Sozialversicherungssystems ließen sich auf diese Weise auf das Volk abschieben. Rasch erhielte man eine »Politik des geringsten Widerstandes«, die sich gar noch als »besonders demokratisch« ausgäbe. Obendrein wäre mit vielen sachlichen Fehlentscheidungen zu rechnen, da Inhalt, Tragweite und Zeitpunkt der jeweiligen Volksabstimmung vor allem von taktischen Erwägungen der Spitzenpolitiker bestimmt würden. Die Folgen einer alsbald eher schlechten Regierungsführung müsste sich – wie bei Wahlen – das Volk selbst zurechnen. Die politische Klasse hingegen könnte ihre Hände in Unschuld waschen: Sie habe ja nur den Bürgerwillen vollzogen und könne nichts dafür, wenn der bedauerlicherweise auf Nachteiliges ausgegangen sei. Auf diese Weise wäre ein elementarer Vorteil der repräsentativen Demokratie verspielt, nämlich der Leistungsdruck auf die politische Klasse durch ein Karriererisiko für Spitzenpolitiker. Außerdem wäre, wie die Geschichte lehrt, im Fall von staatlich initiierten Referenden über Sachfragen das Tor offen für eine manipulative Formulierung der Fragen. Legitimitätsgefährdende Sekundärkonflikte wären die Folge. Darüber hinaus könnte die politische Klasse durch populistische Volksabstimmungen leicht den komplizierten Interessenausgleich umgehen, der den im Parlament üblichen Ja/Nein-Abstimmungen zugrunde liegt. Vor allem gibt es aber kaum einen Schutz davor, dass mit »von oben nach unten wirkenden« plebiszitären Instrumenten taktisch verfahren wird. Was auf den ersten Blick wie Demut der Regierenden vor dem Volk anmutet, erweist sich auf den zweiten Blick als zusätzliches Instrument persönlicher Machtsicherung von Spitzenpolitikern. »Plebiszitärer Cäsarismus« oder »Bonapartismus« sind dafür die Fachbegriffe. In einer Demokratie haben gerade diese Elemente nichts zu suchen. Überflüssig und politisch riskant sind »konsultative Referenden«. Um Vorlieben der Bevölkerung herauszufinden, sind sie unnötig; demoskopische Umfragen leisten das genauer und billiger. Regierende können hingegen mit einer willkürlich entfachten Referendumskampagne von anderen politischen Themen oder von ihnen lästigen Problemen ablenken. Alles in allem ist nicht zu erkennen, welchen Vorteil »von oben nach unten« nutzbare plebiszitäre Instrumente für das Volk haben sollten. Tatsächlich sind sie auch gar nicht nötig, gibt es doch nicht weniger als sechs sinnvolle plebiszitäre Instrumente, die allesamt »von unten nach oben« wirken, wie es jeder Demokratie gut ansteht. Denn sie zwängen die Repräsentanten einesteils zur Reaktion auf die Wünsche der Repräsentierten, also dazu, sich auf deren Sichtweisen, Wünsche und Interessen selbst dann einzulassen, wenn man das lieber vermiede. Andernteils veränderten sie das politische Klima und Leben sehr, da die politische Klasse während einer Wahlperiode nicht nur das Bundesverfassungsgericht fürchten müsste, sondern gerade den handlungsfähigen Stimmbürger. Das erste sinnvolle plebiszitäre Instrument wäre – noch vor aller Volksgesetzgebung – der Volksantrag. Mit ihm würde vom Parlament oder auch nur von der Regierungsmehrheit gefordert, binnen einer vorgegebenen Frist einen Gesetzentwurf oder die Eckpunkte eines Handlungsprogramms vorzulegen. So könnte das Volk seine Repräsentanten zwingen, sich mit Problemen zu befassen, die sie bislang nicht aufgreifen wollen. Zugleich müssten sich die Initiatoren eines Volksantrags nicht selbst die Mühe machen, einen eigenen Lösungsvorschlag auszuarbeiten. Vielmehr könnten sie das, gemäß den Leitgedanken der repräsentativen Demokratie, weiterhin für die Pflicht von Abgeordneten und Regierungen halten. Das zweite Instrument wäre die – üblicherweise dreistufige, von der Volksinitiative über das Volksbegehren bis zum Volksentscheid reichende – Volksgesetzgebung. Faktisch handelte es sich um die Steigerung des Volksantrags zu einer Vorgabe der politischen Richtung. Häufiger verwendet, dürfte dieses Instrument im Voraus erhebliche Wirkungen entfalten und die Politiker antwortbereiter machen, als sie es ohne das Volk als »alternativen Gesetzgeber« wären. Das dritte Instrument wäre das fakultative Gesetzesreferendum, das vor allem aus der Schweiz bekannt ist. Man könnte dazu greifen, um ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu korrigieren oder abzuschaffen. Die Wirkung dieses Instruments ginge dahin, dass Gesetze fortan nicht nur »verfassungsgerichtssicher«, sondern auch »referendumssicher« sein müssten. Ebendas brächte das Demokratieprinzip zur Geltung und könnte die Rolle des Verfassungsgerichts als letzte, meist von der Opposition angerufene politische Instanz verringern. Viertens könnte man das Volk sehr wohl auch über Einzelfragen entscheiden lassen. In diesem Fall müsste allerdings sichergestellt sein, dass die politische Klasse keinesfalls eine Handhabe bekommt, um eigene Verantwortung auf das Volk abzuwälzen. Wie beim fakultativen Gesetzesreferendum müssten auch hier das erste Wort die Repräsentanten haben, das letzte Wort aber die Repräsentierten. Wie ließe sich ein solches Verfahren denken? Im Kern handelte es sich um eine »Vorlageninitiative« mit folgendem Ablauf: Zunächst hätte das Parlament oder die Regierung – gegebenenfalls durch Volksantrag dazu aufgefordert – einen Vorschlag zur Lösung eines Problems zu unterbreiten, etwa über die Eckpunkte einer Schulreform oder über den Beitritt eines Landes zur EU; sodann könnte das Volk begehren, dass ihm die Entscheidung über jene Eckpunkte zur Billigung unterbreitet würden; würde das Antragsquorum erreicht, fände eine Volksabstimmung statt, deren Ergebnis verbindlich wäre. Fünftens könnte man festlegen, dass über vorab festgelegte Entscheidungen ein obligatorisches Referendum abgehalten werden muss. Einesteils mögen obligatorische Verfassungsreferenden sinnvoll sein. Unterläge nämlich eine Verfassungsänderung einem Referendum, würde dieser Vorbehalt politischen Insidergeschäften und fragwürdigen Kompromissen enge Grenzen setzen. Andernteils könnte man in der Verfassung einen Katalog von Themen verankern, die dem Volk so wichtig sind, dass es vor entsprechenden Entscheidungen gefragt werden müsste. Der Parlamentspräsident – nicht aber der Regierungs- oder Staatschef – hätte dann ohne Ermessensspielraum und einmalig ein Referendum anzusetzen. Mit dieser Regelung wäre auch die Möglichkeit ausgeschlossen, dass man das Volk so lange abstimmen lässt, bis sich das politisch gewünschte Ergebnis einstellt. Das sechste plebiszitäre Instrument, das zu erwägen ist, wäre die Auflösung des Parlaments. Gäbe es diese Möglichkeit, dann könnte auch eine Parlamentsmehrheit zum Tätigwerden gezwungen werden, die vom eindeutig artikulierten Mehrheitswillen der Repräsentierten abweicht. Mit diesem Instrument – das idealerweise dank seiner erheblichen Vorauswirkung gar nicht erst in die Hand genommen werden müsste – könnte das Volk auf die unbefriedigende Behandlung eines Volksantrags reagieren oder für eine Parlamentsmehrheit, die im Volk keinen Rückhalt mehr hat, vorgezogene Wahlen ansetzen. Natürlich dürfte gerade dieses Instrument nicht vorschnell oder spielerhaft einsetzbar sein, weil doch die ganze Konfliktfähigkeit der Repräsentanten – und somit der Mehrwert von Repräsentation – von der Sicherheit des Mandats abhängt. Dieser Zielkonflikt ließe sich aber durch eine entsprechende Ausgestaltung des Antragsquorums vermeiden. Grundsätzlich nutzen plebiszitäre Instrumente nichts, wenn sie sich praktisch nicht anwenden lassen und deshalb keine politische Vorauswirkung entfalten. Sie nutzen einer repräsentativen Demokratie auch dann nichts, wenn sie parlamentarische Mehrheiten daran hindern, unter normalen Bedingungen ihre Aufgaben in der Gesetzgebung und der Kontrolle der Regierung zu erfüllen. Daher sind mehrere Vorkehrungen erforderlich, um plebiszitäre Elemente mit einer repräsentativen Demokratie systemverträglich zu verbinden. Vor allem müssten sinnvolle Antrags-, Beteiligungs- und Zustimmungsquoren festgelegt werden. Das Antragsquorum wäre der Test darauf, welcher Teil des Volkes wirklich hinter einem Volksantrag oder dem Wunsch nach einem fakultativen Gesetzesreferendum steht. Also sollten Antragsquoren einerseits sicherstellen, dass auch eine Minderheit der Bürgerschaft in einer Weise ihre Stimme erheben kann, dass sie für den politischen Prozess folgenreich ist; andererseits sollen Quoren verhindern, dass es zu einer Vielzahl unüberschaubarer, die Wählerschaft nicht mobilisierender oder rein partikularer Einzelaktionen kommt. Folglich müsste eine nur mit Anstrengungen zu nehmende Hürde aufgebaut werden. Es wäre nicht falsch, sie bei jenen fünf Prozent der Stimmberechtigten anzusetzen, die auch ausreichen, um eine Ein-Themen-Protestpartei ins Parlament zu schicken. Sinnvoll wäre der Einsatz plebiszitärer Instrumente aber nur dann, wenn ihre Ergebnisse die Politik auch bänden. Dem widerspräche eine Regelung, mit der das Parlament das unwillkommene Ergebnis einer Volksabstimmung per Gesetz gleich wieder ungeschehen machen könnte. Da freilich auch der parlamentarische Gesetzgeber sich korrigieren darf, wäre es sinnlos, derlei nicht ebenfalls für Volksabstimmungen zuzulassen. Zu diesem Zweck ließe sich einesteils vorsehen, dass Volksabstimmungen auf dem gleichen Weg korrigiert würden, wie sie einst zustande kamen: nämlich durch Überwindung eines entsprechenden Antragsquorums mit anschließender neuerlicher Volksabstimmung. Andernteils sollen in einer repräsentativen Demokratie die Repräsentanten gerade nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Deshalb wäre es angemessen, dass auch Parlamente die Ergebnisse von Volksabstimmungen korrigieren können. Freilich dürfte das nicht ohne Vetomöglichkeiten ebenjenes Volkes geschehen, das zuvor seinen Willen durchgesetzt hat. Schlüssig wäre eine Regel, dass erst das jeweils nächste Parlament das Ergebnis einer Volksabstimmung durch einen Gesetzes- beschluss korrigieren dürfte, womit derartige Absichten ein Wahlkampfthema werden könnten. In wünschenswerter Weise überflüssig würde diese Regel jedoch, falls das Instrument des fakultativen Gesetzesreferendums gegen ein solches Korrekturgesetz verfügbar wäre: Nur angesichts wirklich plausibler Gründe würde sich unter diesen Umständen eine Parlamentsmehrheit das Risiko aufbürden, in einer weiteren Volksabstimmung zu unterliegen. Im Übrigen entfalten plebiszitäre Instrumente ihre Vorzüge nicht im einmaligen Gebrauch, sondern durch die kontinuierliche Anwendung mitsamt der entstehenden Vorauswirkung. Also täte man nicht gut daran, ihre praktischen Wirkungen von seltenen Ausnahmefällen her abzuschätzen. In Ländern mit einer langen plebiszitären Tradition wie etwa der Schweiz wird mit Volksabstimmungen nicht brachial, sondern besonnen wie mit einem vertrauten Instrument umgegangen. Es ist durchaus nicht verwegen, auch in einer stabilen repräsentativen Demokratie wie der deutschen derartige demokratieund bürgerschaftskultivierende Wirkungen zu erwarten. Es trifft jedenfalls nicht zu, dass plebiszitäre Instrumente immer nur Populismus und Demagogie entfesselten oder gar nicht anders könnten, als eine inkonsistente Politik herbeizuführen. Gegen beides ist übrigens auch der Parteienwettbewerb vor und nach Parlamentswahlen nicht gefeit – ohne dass ihn deshalb jemand beseitigen wollte. Legten sich die Deutschen die vorgeschlagenen plebiszitären Instrumente zu, dann lebten sie zwar immer noch nicht in einer »vollkommenen Demokratie«. Aber die Zeiten wären vorbei, in denen man glaubwürdig über die »unvollendete Demokratie« lamentieren könnte und politische Abstinenz sich durch die angebliche Aussichtslosigkeit bürgergesellschaftlichen Engagements rechtfertigen ließe. Schon das wäre ein großer Fortschritt. Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 3.6.2011 Wie das heutige Arabien entstand Arabellion eBook Herausgegeben von Wolfgang Günter Lerch Umfang: ca. 173 Seiten August 2012 ISBN ePub: 978-3-89843-163-7 ISBN PDF: 978-3-89843-162-0 Preis: 3,99 € Arabellion und Scharia Fänden sich traditionelle Kräfte und solche eines säkularen Aufbruchs zusammen, wäre schon viel gewonnen Von Wolfgang Günter Lerch D ie Voraussagen sind eingetroffen: Bei der ersten freien Wahl in Tunesien hat die islamisch-integristische Partei Ennahda (Wiedergeburt) die meisten Stimmen erhalten. So wird sie in der Verfassunggebenden Versammlung, die eine neue Konstitution erarbeiten soll, ein gewichtiges Wort (mit)sprechen. Viele Tunesier haben dieser Gruppierung ihre Stimme gegeben, weil die Neuordnung des Landes ihrer Auffassung nach mehr den islamisch geprägten Traditionen und Werten und damit ihrer fast eineinhalb Jahrtausende alten Geschichte entsprechen soll als der Ordnung des gestürzten Regimes, die den meisten Gängelei und Repression einbrachte und die sozialen Verwerfungen sowie bedrängende Probleme wie die Arbeitslosigkeit der Jugend nicht beseitigen konnte. Für Ennahda bedeutet das Wahlergebnis eine Wiedergeburt. In den siebziger und frühen achtziger Jahren war diese Partei in Tunesien, was in den neunziger Jahren die Nationale Heilsfront (FIS) in Algerien wurde: eine radikale, doch insgesamt schon differenziertere, auch weniger gewaltgeneigte islamistische Bewegung. Unter dem im Januar gestürzten Präsidenten Ben Ali war sie verboten worden, viele ihrer Anhänger wurden inhaftiert. Ihr Vorsitzender Rachid Ghannouchi floh ins Exil nach London. Nun ist er zurück und kann den Triumph seiner Partei an der Wahlurne auskosten. Im Wahlkampf gab sich Ennahda als gemäßigt islamische Gruppierung. Jedoch ist das Misstrauen groß, insbesondere bei jenen Protagonisten der Arabellion, die der religiös geprägten Lebenswelt der Mehrzahl der Tunesier fernstehen: Verschleiern die Integristen nicht ihre wahren Ziele? Ausgeschlossen ist das nicht – trotz gegenteiliger Beteuerungen. Sein Vorbild sei die türkische Regierungspartei AKP, sagt Ghannouchi. Sie sei im Islam verwurzelt, betreibe aber eine eher pragmatische Politik, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft. Schon jetzt hat das »Abschütteln« (intifada) der arabischen Autokraten zwischen Tunis und Kairo – zuletzt traf es Gaddafi in Libyen, Salih im Jemen und Assad in Syrien könnten bald folgen – gezeigt, dass islamische Kräfte bei der Gestaltung der neuen Ordnungen überall ein erhebliches Wort mitreden werden. Schon hat der Nationale Übergangsrat in Libyen mitgeteilt, die Scharia solle Grundlage des neuen Libyen sein. In Kairo kam es schon im Sommer zu einer machtvollen Demonstration der Muslimbrüder auf dem Tahrir-Platz, bei der die ägyptischen Islamisten – auch sie sind um ein gemäßigtes Image bemüht – die Rechte des Islam einforderten. Wenn nicht alle Zeichen trügen, werden alle neuen Ordnungen geprägt sein von größeren Spannungen zwischen stark islamisch gefärbten konservativen Kräften und den Verfechtern einer weltlichen Zivilgesellschaft, die am Ursprung der Arabellion standen. Als gottgegebener religiös-gesellschaftlicher kollektiver »Heilspfad« ist die Scharia eine Ordnung, die zwar interpretiert, aber nicht verändert werden darf. Daher ist sie bis in die alltägliche Lebenswelt hinein auf weite Strecken mit der Demokratie westlicher Prägung nicht vereinbar. Dies gilt für ihre Strafpraxis, für das Familien- und Personenstandsrecht, vor allem jedoch für die individuellen Freiheitsrechte, wie sie in der westlichen Hemisphäre in Jahrhunderten erkämpft worden sind. Freilich klaffen auch in der indischen Demokratie die seit Jahrzehnten eingeübten demokratischen Usancen und das Wertesystem der Hindus auseinander – das Kastenwesen ist Beispiel genug. Auch europäische Länder waren schon demokratisch verfasst, als ihre allgemein verbindlichen Wertvorstellungen sich von den heute als selbstverständlich erachteten, unter Freiheit subsumierten Regeln noch erheblich unterschieden. Mit dem Segen des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt gestehen viele auch den Chinesen das Recht auf den eigenen Weg zu. Die islamische Welt ist in den vergangenen zweihundert Jahren von zwei großen Strömungen geprägt worden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwarf Mehmed Ali in Ägypten das Modell einer am Westen und seinem zivilisatorischen Fortschritt ausgerichteten drastischen Modernisierung von oben. Diesem Modell sind über Kemal Atatürk und den Schah von Iran bis heute viele gefolgt, nicht zuletzt jene, die nun stürzen. Die zweite Strömung begann mit dem gegen die westliche Moderne gerichteten Panislamismus des 19. Jahrhunderts und fand ihre Fortsetzung in den Richtungen des politischen Islam im 20. Jahrhundert. In ihrer äußersten Zuspitzung endete der politische Islam im Terrorismus und verfehlte auch dort, wo er an die Macht kam, weitgehend seine hochgesteckten ökonomischen und sozialen Ziele. Dass die Arabellion binnen weniger Jahre zu entwickelten demokratischen Systemen führen wird, ist schwer zu glauben; doch jene, die ihre repressiven, teilweise jahrtausendealten Ordnungen durch etwas Besseres ersetzen wollen, verdienen zunächst einmal Anerkennung und Zuspruch. Wenn sich in Tunesien, Libyen und Ägypten traditionelle Kräfte und solche eines zivilen, säkularen Aufbruchs zusammenfänden, wäre schon viel gewonnen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2011 Materialien zur Vertiefung Literatur Hamed Abdel-Samad: »Krieg oder Frieden«. Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens. Droemer Verlag, München 2011 Daron Acemoglu / James Robinson: Why Nations Fail. Crown Business, New York 2012 Seyran Ates: »Der Islam braucht eine sexuelle Revolution«. Eine Streitschrift. Ullstein Verlag, Berlin 2009 Jim al-Khalili: »Im Haus der Weisheit«. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011 Tahar Ben Jelloun: »Arabischer Frühling«. Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2011 Markus Bickel: »Der vergessene Nahost-Konflikt?« Syrien, Israel, Libanon, Hizbollah. Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag, London u. a. 2011 Rainer Hermann: Die Golfstaaten. Wohin geht das neue Arabien? Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011 Abbas Khider: »Die Orangen des Präsidenten«. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2011 Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. Verlag C.H.Beck, München 2011 Michael Lüders: »Tage des Zorns«. Die arabische Revolution verändert die Welt. Verlag C.H. Beck, München 2011 Heiner Mühlmann: »Die Natur der arabischen Kultur«. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011 Erhard Oeser: »Das Reich des Mahdi«. Aufstieg und Untergang des ersten islamischen Gottesstaates 1885–1897. Primus Verlag, Darmstadt 2012 Volker Perthes: »Der Aufstand«. Die arabische Revolution und ihre Folgen. Pantheon Verlag, München 2011 Michael Thumann: Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt. Eichborn Verlag, Die andere Bibliothek, Frankfurt/Main 2011 Aus dem Internet http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischer-fruehling/ Die Bundeszentrale für politische Bildung informiert über den Arabischen Frühling http://de.qantara.de/Arabischer-Fruehling/78b18/index.html Die Deutsche Welle mit einem Arabien-Dossier http://monde-arabe.arte.tv/de/ Reportagen, Filme, Blogs und Clips aus den arabischen Ländern auf ARTE. http://www.aljazeera.com/indepth/spotlight/2011/02/2011222121213770475.html Schwerpunktseite Arabischer Frühling auf Al Jazeera http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/ Der Arabische Frühling auf FAZ.Net http://www.arabist.net/ Englischsprachiger Politikblog aus der arabischen Welt http://www.scienceblogs.de/zoonpolitikon/2011/07/arabischer-fruhlingund-westliche-wahrnehmung.php Arabellion und westliche Wahrnehmung