Das Interview mit Großmeister Yip Man im „New Martial Hero“
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Das Interview mit Großmeister Yip Man im „New Martial Hero“
Das Interview mit Großmeister Yip Man im „New Martial Hero“ Mit Hilfe seines Schülers Leung Ting demonstrierte GGM Yip Man dem Reporter die Prinzipien des Wing Tsun auch praktisch. Eines von zwei jemals veröffentlichten Gesprächen mit dem berühmten Kung-Fu-Großmeister „New Martial Hero“ war ein Kampfkunstmagazin in Hongkong, das sich besonders in den späten 60er und frühen 70er Jahren sehr gut verkaufte. Ab Mitte der 70er traten jedoch wirtschaftliche Schwierigkeiten auf, die letztendlich Anfang der 80er zur Einstellung der Zeitschrift führten. Das folgende Interview wurde während der Blütezeit des Magazins in den frühen 70ern geführt. Großmeister Leung Ting erinnert sich noch ganz genau daran, als Mok Pui On ihn fragte, ob er seinen Lehrer zu einem Interview bewegen könnte. Es war nämlich weithin bekannt, dass Großmeister Yip Man seine ganz eigene Meinung zur Medienöffentlichkeit hatte: Er stand Interviews sehr ablehnend gegenüber und ließ sich auch nicht gerne fotografieren. Insbesondere nicht in Kung-Fu-Stellungen. Deswegen hatten es die Redakteure schon seit langer Zeit aufgegeben, Yip Man zu Gesprächen oder Fototerminen zu bewegen. Um so überraschter war Mok Pui On, als er erfuhr, dass es Großmeister Leung Ting gelungen war, ein Interview mit seinem Lehrer zu arrangieren. Das Interview fand in Großmeister Yip Mans Haus statt. Mok Pui On nahm sein Notizbuch heraus und begann mit der Frage, wann Yip Man in Fatshan begonnen hatte, Wing Chun zu erlernen. Er stellte so präzise Fragen bezüglich der frühen Jahre von Yip Mans eigenem Wing Chun-Training, dass selbst Großmeister Leung Ting gespannt auf die Antworten war. Mok wollte zum Beispiel ganz genau wissen, wieviel Geld Yip Man seinem Si-Fu Wah-Kung (Chan Wah Shun) in der traditionellen Aufnahmezeremonie in einem roten Umschlag überreicht hatte. Während Mok das Gespräch mit Großmeister Yip Man führte, fotografierte Leung Ting. Nach dem Interview in Großmeister Yip Mans Haus wurde das Gespräch im Restaurant „Sam Hei Lau“ fortgeführt, in dem Yip Man für gewöhnlich zu frühstücken pflegte. Besonders in Erinnerung blieb Großmeister Leung Ting, dass sein Lehrer, Großmeister Yip Man, Mok Pui On gegenüber betonte, dass „Wing Tsun“ nicht das gleiche ist wie „Weng Chun“. Mok Pui On erzählte Yip Man, dass er bei seinem eigenen Si-Fu Chu Chung Man dreizehn Jahre lang „Weng Chun“ gelernt hatte, es aber immer noch einige Bewegungen gab, die er nicht beherrschte. Großmeister Yip Man antwortete ihm daraufhin: „Sei nur geduldig, eines Tages wirst du alles gelernt haben.“ Als aber Mok Pui On sich verabschiedet hatte, dauerte es keine zwei Sekunden, bis der alte Großmeister sagte: „Hast du gesehen, wie dumm Mok Pui On ist? Wenn einer dreizehn lange Jahre braucht, um nichts zu lernen, dann wäre es besser, er würde Atomphysik studieren.“ Das Interview wurde später im „New Martial Hero“ veröffentlicht. Nachfolgend die wichtigsten Passagen des Artikels. (Ein bedeutender Aspekt war dabei die Unterscheidung der beiden Kung-Fu-Stile „Weng Chun“ und „Wing Tsun“. Dem heutigen (europäischen) Leser mag die besondere Betonung dieses Umstandes nebensächlich erscheinen, in der Fachwelt Hongkongs der 70er Jahre war das aber von größtem Interesse. Anm. der Redaktion). GGM Yip Man auf dem Cover der "New Martial Hero" Hier nun der Originaltext: Manche Leute glauben, dass es sich bei „Weng Chun“ und „Wing Tsun“ um den gleichen Kung-Fu-Stil handelt, für den nur zwei verschiedene Namen benutzt werden. Tatsächlich gibt es aber sehr viele Unterschiede. Zum einen ist das Oberhaupt der Wing Tsun-Familie in Hongkong Großmeister Yip Man, wogegen der Anführer der Weng Chun-Familie Großmeister Chu Chung Man ist. Sowohl die Techniken als auch die Formen weisen einige Unterschiede auf. Obwohl man in beiden Stilen eine Holzpuppen- und eine Langstockform kennt, gibt es z.B. im Weng Chun eine Form namens „Bart-Mo-Dan-Da“ oder eine, die als „Lin-Wan-Kou-Da“ bezeichnet wird, die im Wing Tsun nicht enthalten sind. Ein weiterer Grund für die Verwechslung ist, dass es zwar scheinbar ähnliche Techniken bzw. Bewegungen gibt, die aber unter völlig anderen Prinzipien angewendet werden. Großmeister Yip Man wurde in Fatshan geboren. Als Kind war er eher schwächlich, deswegen schickten seine Eltern ihn zu dem Wing Tsun-Lehrer Chan Wah Shun, dem herausragendsten Schüler des legendären Dr. Leung Jan. New Martial Hero: „Großmeister Yip Man, warum wurde Chan Wah Shun auch "Jau-Chin Wah ("Wah, der Geldwechsler") genannt?“ GGM Yip Man: „Dieser Spitznamen wird meinem Lehrer nicht gerecht. Neben „Wah der Geldwechsler“ wurde er auch „Ngau-Ching Wah“ ("Wah der Stier") genannt. Er war der Meisterschüler von Dr. Leung Jan.“ New Martial Hero: „Das heißt wohl, dass Wah der Geldwechsler, ein sehr unbeherrschter Mann war, der immer kämpfen wollte, oder? Wieviele Schüler hatte er? Wann wurden Sie aufgenommen?“ GGM Yip Man: „Einschließlich mir selbst hatte Wah nur sechzehn Schüler. Ich war gerade 11 Jahre alt, als ich sein letzter Schüler wurde.“ New Martial Hero: „Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass der letzte Sohn am meisten geliebt wird. Waren Sie demnach auch der meistgeliebte Kung Fu-Sohn?“ GGM Yip Man: „Das ist richtig. Als ich bei ihm lernte, war er bereits 70 Jahre alt. Er war zwar schon ein bisschen schwach, aber er korrigierte meine Fehler immer noch mit großer Geduld. Darüber hinaus beauftragte er seine anderen Schüler, mich zu unterrichten. So wurden meine Techniken schnell besser.“ New Martial Hero: „Großmeister Yip Man, Sie sagten, dass Wah Kung (Chan Wah Shun) während seines ganzen Lebens nur sechzehn Schüler unterrichtete. Warum hatte er nur so wenige Schüler?“ GGM Yip Man: „Das ist eine gute Frage. Ich werde Ihnen die Gründe erläutern. Früher waren die Leute, was das Lehrer-Schüler-Verhältnis anbelangt, sehr streng. Bevor einer als Schüler aufgenommen wurde, überprüfte man sehr sorgfältig dessen Charakter. Gemäß dem chinesischen Sprichwort: Den richtigen Schüler für den Unterricht auswählen. Außerdem hing es davon ab, ob der Schüler die Unterrichtsgebühren bezahlen konnte oder nicht. Es gab nämlich nicht sehr viele Leute, die sich das leisten konnten. Ein Beispiel: Ich bezahlte während der Aufnahmezeremonie in dem roten Umschlag 20 Tael Silber. Außerdem musste ich jeden Monat acht Tael Silber Schulgebühren bezahlen.“ New Martial Hero: „Wieviel waren 20 Tael Silber wert, verglichen mit dem damaligen Lebensstandard?“ GGM Yip Man: „Für 20 Tael Silber konnte man durchaus eine Frau heiraten, wenn man die Hochzeit ein wenig sparsam ausrichtete. Mit ungefähr eineinhalb Tael konnte man ungefähr 150 Pfund Reis kaufen. Deswegen lernten damals vor allem reiche Leute Kung-Fu. Nur solche Leute konnten ihren Beruf aufgeben und in den alten Tempeln in den Bergen trainieren. Es ist nicht wie heute, wo alle Leute ohne große Umstände Kung Fu lernen können.“ New Martial Hero: „Nach dem Tod von Wah dem Geldwechsler, verließen Sie Fatshan und kamen nach Hongkong, um dort am St. Stephan’s College zu studieren. Haben Sie wieder angefangen, Wing Tsun zu lernen, als Sie nach Hongkong kamen?“ GGM Yip Man: „Ja, natürlich! Dass das möglich war, habe ich einem höchst fähigen Wing Tsun-Experten zu verdanken, von dem ich die fortgeschrittensten Wing Tsun-Techniken erlernte.“ New Martial Hero: „Wer war dieser Wing Tsun-Experte?“ GGM Yip Man: „Leung Bik, der älteste Sohn von Dr. Leung Jan. Die Geschichte, wie ich meinen Lehrer Leung Bik kennenlernte, ist beinahe dramatisch. Ein wirklich lange Geschichte.“ Nach einigen weiteren Zwischenfragen des Reporters begann GGM Yip Man die Geschichte ausführlich zu erzählen: Demnach war GGM Yip Man zu der Zeit als er Fahshan verließ, um wegen des Studiums nach Hongkong zu gehen, bereits sehr erfahren in den Grundtechniken des Wing Tsun. Er kämpfte immer mit seinen Mitschülern. Obwohl Yip Man nicht sehr groß war, war er ein sehr guter Kämpfer. Er konnte alle Mitschüler besiegen, sogar jene, die viel größer und stärker waren als er. Deswegen wurde er bald überheblich und glaubte, dass niemand ihn besiegen könnte. Nach sechs Monaten in Hongkong erzählte ein Klassenkamerad namens Lai, dessen Vater eine große Seidenfabrik in der Jervois-Straße in Sheung Wan betrieb, dass in ihrem Haus ein älterer Mann wohne, der einige Kung-Fu-Techniken kenne. Dieser Mann lud Yip Man zu einem freundschaftlichen Sparring ein. Yip Man hatte bis dahin noch nie einen Kampf verloren und deswegen nahm er sofort jede Herausforderung an. Lai vereinbarte also eine Verabredung für Sonntag nachmittag. An jenem Sonntag ging Yip Man also zum Haus seines Klassenkamerades. Nachdem er diesem älteren Mann vorgestellt worden war, blickte Yip Man ihn verwundert an. In seinen Augen sah er mehr aus wie ein typischer Gentleman, nicht wie einer, der Kung Fu beherrschen würde. Nach einem kurzen Gespräch forderte Yip Man den Mann frech zu einem Sparring heraus. Mit einem Lächeln entgegnete der Mann: „Du, Yip Man, willst also mit mir einen kleinen Sparringskampf machen. Bevor wir anfangen, möchte ich dir noch sagen, dass du keine Rücksicht auf mich zu nehmen brauchst. Alles, was du tun musst, ist, mich, egal wo, mit deiner ganzen Kraft anzugreifen. Mehr nicht!“ Als er das gehört hatte, wollte der überhebliche Yip Man nichts mehr als diesen Mann niederschlagen! Kaum hatte ihm der Mann ein Zeichen zum Angriff gegeben, da stürmte Yip Man schon mit einem Hagel von Schlägen auf ihn ein. Aber der Mann bewegte sich so schnell, dass er ihn nicht ein einziges Mal treffen konnte. Im Gegenteil – mit seinen Gegenangriffen trieb er Yip Man sogar in eine Ecke. Dort stoppte er seine Attacke sofort. Nach diesem ersten Aufeinandertreffen, das er schon sogleich verloren hatte, konnte Yip Man nicht glauben, was passiert war, und bat sofort um eine Wiederholung. Aber wieder wurde Yip Man völlig von diesem Mann kontrolliert. Jetzt wusste Yip Man, dass er von einem wahren Meister des Kung-Fu besiegt worden war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ Yip Man das Haus. Nach diesem Sparring war Yip Man so enttäuscht, dass er nicht einmal daran glaubte, Kung Fu überhaupt zu kennen. Nach einer Woche erzählte Lai ihm, dass der Mann Yip Man wieder sehen wolle. Doch Yip Man hatte Angst und schämte sich zu sehr, deswegen sagte er zu Lai: „Ich fühle mich zu erniedrigt, um ihn wieder zu treffen. Ich habe nicht seine Klasse.“ Doch zu seiner Überraschung sagte ihm Lai, dass der Mann seine Kung-Fu-Techniken sehr lobte. Deswegen wolle er Yip Man wieder sehen und mit ihm sprechen. Und Lai begann, Yip Man das Geheimnis hinter diesem Mann zu erzählen. Tatsächlich war dieser Mann kein anderer als Leung Bik, der Sohn von Dr. Leung Jan! Nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, dachte Yip Man: „Aha! Deswegen sind seine Kung-Fu-Techniken so brillant. Diesmal habe ich also mit einem wirklichen Wing Tsun-Meister gekämpft!“ Sofort realisierte Yip Man, welche großartige Gelegenheit das war. Die Kung-Fu-Techniken, die er bei Wah, dem Geldwechsler gelernt hatte, waren noch nicht sehr fortgeschritten. Das würde die beste Gelegenheit für ihn sein, viel ausgereifteres Wing Tsun zu erlernen. Deswegen verlor er keine Zeit, Lai zu bitten, ihn mit zur Seidenfabrik zu nehmen, um Leung Bik zu treffen. Weil Yip Man ein außerordentlich begabter Kung-Fu-Schüler war, war Leung Bik sehr erfreut, sein Wissen an ihn weitergeben zu können. Nach einigen Jahren ging Leung Bik nach Fatshan zurück, doch zu diesem Zeitpunkt hatte Yip Man bereits die höchsten Wing Chun-Techniken gelernt. Wing Chun Weng Chun Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview mit GGM Yip Man ist aus mehreren Gründen sehr interessant: 1. weil es eines der ganz seltenen Interviews war, zu denen ihn nur sein Privatschüler Leung Ting bewegen konnte. 2. weil es aus erster Hand über GGM Yip Mans Zeit als Schüler bei Chan Wah Shun und Leung Bik berichtet. 3. weil GGM Yip Man im Interview selbst sagt, dass er im Alter von elf Jahren von seinem Si-Fu Chan Wah Shun zu lernen begann. GGM Yip Mans Söhne hatten nämlich behauptet, dass ihr Vater schon mit neun Jahren begonnen hatte. 4. weil es über die Unterschiede von Wing Tsun und Weng Chun spricht. Mehr über diese Unterschiede kann man im Buch „Roots of WingTsun“ erfahren.