Weniger Zweittumoren als erwartet

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Weniger Zweittumoren als erwartet
Quelle: Theresa Patzschke
Die Heilungschancen von Krebserkrankungen
im Kindesalter sind eine unbestrittene Erfolgsstory. 1960 betrugen die Langzeitüberlebenschancen noch 30 Prozent, 2004 lagen sie im
Mittel bereits bei 79 Prozent, bei manchen malignen Erkrankungen wie beim Morbus Hodgkin werden Heilungsraten von 95 Prozent
erzielt. Die immer präziseren Daten zu langfristigen Auswirkungen der onkologischen
Therapien lassen aber erkennen, dass diese
jungen Patienten ohne eine intensive Nachsorge die Bürde der Spätfolgen kaum schultern
können.
Die vielfältigen Organschäden (Tabelle Seite
14) sowie die Wachstums- und Fertilitätsstörungen stehen zwar quantitativ im Vordergrund,
wenn es um Spätfolgen geht. Die sekundären Malignome sind indes am bedrohlichsten,
gleichsam ein Damoklesschwert, das über jenen Kindern schwebt, die schon einmal um ihr
Überleben kämpfen mussten.
Da Zweitmalignome vergleichsweise früh
nach einer erfolgreichen Therapie, allerdings
auch Jahrzehnte später auftreten können, kennt
man das ganze Ausmaß der Problematik noch
nicht. Umso wichtiger sind Studien, die für die
Aufklärung – und gegebenenfalls Beruhigung
– der Betroffenen und ihrer Angehörigen belastbare Daten liefern.
Pädiatrix 6/2008
Weniger Zweittumoren als erwartet
Das Deutsche Kinderkrebsregister enthält Informationen über mindestens 95 Prozent aller pädiatrisch-onkologischen Patienten in
Deutschland. Es zählt neben dem Register in
Großbritannien zu den beiden wichtigsten Registern der Kinderonkologie weltweit. Einer
der Schwerpunkte ist das Langzeit-Follow-up,
das neben Überlebenswahrscheinlichkeiten
und Spätfolgen auch das Auftreten von Zweittumoren untersucht. Der Begriff „Tumor“ steht
hier gleichsam stellvertretend auch für andere
Malignome, die infolge einer Krebstherapie
vorkommen, eben nicht nur für solide Tumoren. „Mehr als 40 000 Betroffene, die als Kind an
einem Krebs erkrankten, sind derzeit bei uns registriert“, erläutert die Privatdozentin Claudia
Spix, die als Statistikerin zu dem Team um Dr.
Peter Kaatsch gehört, der das Kinderkrebsregister verantwortlich führt. „Was die Erfassung
der Zweittumoren angeht, so überblicken wir
inzwischen über 600 Patienten, das ist einer der
weltweit größten Datensätze zu Zweittumoren.
Deshalb sind die Ergebnisse unserer jüngsten
Analyse so verlässlich“, führt sie weiter aus.
Die Rede ist von dem überraschenden und
für die Betroffenen entlastenden Befund, dass
die Krebstherapien zu einem deutlich gerin-
von
Dr. Martina Lenzen-Schulte
Das Deutsche
Kinderkrebsregister
in Mainz zählt
weltweit zu den
wichtigsten
kinderonkologischen
Registern.
Krebsnachsorge
14
Tabelle:
Nicht onkologische
Spätfolgen
Quelle: Journal of
Clinical Oncology
2009, 27: 2339-2355
Obwohl die Zweittumoren die bedrohlichsten Spätfolgen nach pädiatrischen Malignomen
darstellen, manifestieren sich Spätfolgen rein quantitativ häufiger in zahlreichen Organschäden (die untenstehenden Prozentzahlen spiegeln die Verteilung auf unterschiedliche Funktionssysteme).
ca. 20 % – endokrines System
Wachstumsstörungen durch Mangel an Wachstumshormon (Somatotropin) nach ZNS-Bestrahlung; die Wachstumsretardierung kann wieder aufgeholt werden; Osteonekrosen; verspätete oder verfrühte Pubertät; beschleunigter Ablauf der Pubertät; Beeinträchtigung von
Spermatogenese und Ovarfunktion; Amenorrhö; Infertilität; Hypo- (seltener Hyper-) thyreosen nach lokalen Bestrahlungen der Kopf-/Hals-/Mediastinalregion
ca. 13,5 % – kardiale Spätfolgen
akut, innerhalb von einer Woche: als Herzinsuffizienz und EKG-Abnormalitäten, wie z. B. STStreckensenkung und Rhythmusstörungen; reversibel bei vorzeitigem Therapieabbruch; chronisch: ein Jahr nach Therapieende oder noch später: Kardiomyopathien, Herzinsuffizienz; koronare Herzkrankheit, Perikarderkrankungen
je ca. 10 % – renale und pulmonale Spätfolgen
Nierenfunktionsstörungen (glomerulär und tubulär); Fanconi-Syndrom; Verminderung der
Nierendurchblutung und glomerulären Filtrationsrate; Fibrosen des Lungengerüstes; vermehrte Neigung zu Pneumonien, Bronchitiden
ca. 40 % – neurologische Spätfolgen/Gehörschäden
kognititve Defizite, Aufmerksamkeitsstörungen, IQ-Minderungen vor allem nach Medulloblastom-Bestrahlung und -Chemotherapie; bilaterale Hörminderungen im Hochfrequenzbereich
geren Anteil das Risiko für Zweittumoren erhöhen, als bisher aufgrund anderer Studien
angenommen worden war. Verglichen wurden
die bis Mitte 2002 erfassten 328 Fälle von Zweittumoren mit 639 Kontrollen (Betroffene, die
ebenfalls an Krebs erkrankt waren und im gleichen Beobachtungszeitraum an keiner zweiten
Krebserkrankung litten), um Risikofaktoren herauszudestillieren.
Chemotherapeutika, Radiotherapie
und Zweittumoren
Im Mittel wurden die ehemaligen Patienten
fünfeinhalb Jahre beobachtet, im längsten Fall
waren es 18 Jahre. Dabei zeigte sich, dass eine
Bestrahlung das Risiko für eine zweite Krebserkrankung um das 2,1-fache im Vergleich zu
Kinderkrebspatienten ohne Bestrahlung erhöht,
eine Chemotherapie gleich welcher Art um das
1,8-fache [1]. Dazu muss erwähnt werden, dass
nur wenige Patienten ohne jedwede Chemothe-
rapie behandelt werden können.
In früheren Studien waren diese Risiken viel
höher beziffert worden. Das liegt darin begründet, dass die einschlägigen Studien aus den
Vereinigten Staaten, Großbritannien und Skandinavien das Schicksal von Kindern verfolgt
haben, die bereits vor mehr als 20 Jahren Therapien erhielten, die weniger risikoadaptiert
waren. „Unsere Studie belegt damit indirekt,
dass die Anpassung an die individuelle Tumoraggressivität Früchte trägt“, resümiert Spix die
bereits Jahrzehnte währenden Bemühungen, in
der pädiatrischen Onkologie das Prinzip „so
wenig wie möglich, so viel wie nötig“ konsequent umzusetzen.
Eine weitere Besonderheit der Mainzer Studie liegt darin, dass erstmals Chemotherapeutika im Hinblick auf ihr Sekundärmalignomrisiko unabhängig von der Ersterkrankung
betrachtet werden. Dabei zeigte sich, dass alkylierende Substanzen besonders problematisch
sind. Nach soliden Tumoren erhöht vor allem
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Zweittumorrate nimmt mit den
Jahren zu
Die Bedeutung der Zweittumoren für die Mortalität wird erst mit der Zeit der Nachbeobachtung erkennbar. Dr. Anna T. Meadows vom
Children’s Hospital in Philadelphia macht darauf in einem Review der Zeitschrift Journal of
Clinical Oncology aufmerksam, die im Frühsommer ein ganzes Heft den gesundheitlichen,
psychischen und sozialen Spätfolgen nach
Krebserkrankung gewidmet hatte [2]. Noch zu
Beginn der Beobachtungszeit – fünf Jahre nach
Diagnosestellung – war ein Rückfall, und damit die Ersterkrankung für 67 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Die Mortalität durch
Zweittumoren betrug zu diesem Zeitpunkt 18,6
Prozent. Nach 20 Jahren Follow-up übertraf die
Sterblichkeit durch Zweittumoren die jeder anderen Ursache. Betrachtet man die Entwicklung
der Zweittumorrate von 2000 bis 2006, so zeigt
sich, dass sie in dieser Zeit um das 2,3-fache angestiegen ist.
Diese Zahlen zeigen zudem, dass Zweittumoren immerhin schon zu einem nicht unerheblichen Teil sehr früh auftreten und die Kinder noch im Kindesalter treffen können. Nach
Allgemeines und therapiebedingtes
Zweittumorrisiko
Nur ein Teil des Risikos, ein Sekundärmalignom zu entwickeln, geht auf die Therapie
zurück. Kinderkrebspatienten können vor
der Erkrankung und im Laufe ihres weiteren Lebens – wie die Normalbevölkerung
auch – anderen onkogenen Noxen ausgesetzt sein, etwa wenn sie rauchen. Zudem
bringen sie ein genetisches Risiko mit, dessen Anteil ebenfalls unterschiedlich zu Buche schlägt. Internationalen Studien zufolge
ist das allgemeine Zweittumorrisiko eines
Kinderkrebspatienten sechs- bis zwölfmal
so hoch wie das Risiko der Normalbevölkerung, in einem vergleichbaren Alter einen
ersten Tumor zu bekommen.
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Morbus Hodgkin sind Sekundärtumoren fast
dreimal so häufig wie nach anderen Malignomdiagnosen, hauptsächlich, weil durch die
Bestrahlung des Thorax Mammakarzinome
induziert werden. 94 Prozent aller sekundären
Brusttumoren der amerikanischen Kohorte der
Childhood Cancer Survivor Study (CCSS, siehe
Kasten) traten bei Hodgkin-Patienten auf [2].
Krebsnachsorge
die Behandlung mit Platinderivaten die Rate
der Zweittumoren. Nach Leukämien sind insbesondere Antimetabolite und Asparaginase
problematisch, während Anthrazykline sogar
mit einer geringeren Inzidenz von Zweittumoren einhergehen.
CCSS – die Childhood Cancer Survivor
Study
Es handelt sich um die größte US-amerikanische Studie zur Untersuchung von
Spätfolgen nach einer Krebsbehandlung
im Kindesalter. Erfasst wurden über 14 000
Langzeitüberlebende, die zwischen 1970
und 1986 als Kinder an Krebs litten, erfolgreich behandelt worden waren und mindestens fünf Jahre überlebt hatten. Weitere
Auswertungen sind noch im Gange.
Risiken differenziert betrachten
Nach Medulloblastomen kommt es am häufigsten zu Zweittumoren, das Risiko ist um mehr
als das 18-fache erhöht. Das liegt daran, dass
hier immer noch eine kraniospinale Bestrahlung
notwendig ist und eine Strahlentherapie das Risiko deutlich steigert. Umgekehrt lässt sich dies
auch daran ablesen, dass nach Osteosarkomen,
die kaum bestrahlt werden, die niedrigsten Sekundärmalignomraten beobachtet werden.
Nicht immer halten sich die Langzeitfolgen
an die Formel „je höher die therapeutische Dosis, desto größer das Schadenspotenzial“. Denn
bei einer Bestrahlung von 20 bis 29 Gy (Gray)
im Kopf-Hals-Bereich nimmt zwar das Risiko
für ein Schilddrüsenkarzinom zu, jedoch sinkt
es deutlich ab einem Wert von 30 Gy, also bei
der höheren Dosis. Das wird damit erklärt, dass
die niedrigere Dosis stark genug ist, Krebszellen zu induzieren, aber wiederum nicht hoch
genug, um diese abzutöten. Wichtig ist für Patienten und Familien, zu wissen, wann sie aufatmen können, weil die bedrohlichste Phase
vorüber ist. So beobachtet man, dass nach der
Bestrahlung von Gliomen sekundäre Malignome in den ersten fünf bis zehn Jahren häufiger
vorkommen, dass indes 15 bis 20 Jahre später
kein höheres Risiko hierfür mehr besteht als in
der Normalbevölkerung gleichen Alters [3].
Nicht immer gilt in
der Krebstherapie:
„Je höher die therapeutische Dosis,
desto größer das
Schadenspotenzial.“
Krebsnachsorge
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Bisher haben die nicht melanomischen
Hautkrebsarten, sogenannte Non-MelanomaSkin-Cancer oder NMSC wenig Beachtung gefunden, weil sie nicht lebensbedrohlich sind.
Diese Hauttumoren, dazu zählen etwa Basalzellkarzinome, sind jedoch rein quantitativ eine
bedeutsame Gruppe unter den Zweittumoren,
sie machen fast zwei Drittel aller (übrigen)
Zweittumoren aus. Nach Bestrahlung ist das
Risiko für NMSC um das Sechsfache erhöht,
deshalb sind Hodgkin-Patienten häufiger als
andere betroffen, die NMSC liegen dabei so gut
wie immer im Bestrahlungsfeld.
Verdrängung statt Prävention?
Um die Bedrohung durch Zweittumore zu senken, werden einerseits präventive Screeningmaßnahmen, andererseits ein gesunder Lebensstil empfohlen, der auch bei der sonst gesunden
Bevölkerung das Krebsrisiko senkt. Wie sehr
dies bei den ehemals krebskranken Kindern zu
Buche schlägt, zeigt das Beispiel Rauchen: Ist
für Morbus-Hodgkin-Patienten, deren Thorax
bestrahlt wurde, das Lungenkrebsrisiko ohnehin schon deutlich erhöht, so vervielfachen
jene, die rauchen, diese Zweittumorrate noch
einmal um den Faktor 20 [4].
Es zeigt sich indes, dass selbst Patienten mit
hohem Zweitmalignomrisiko ihr Rauchverhalten wenig zu ändern geneigt sind. Daher
testet man intensive Programme zur Raucherentwöhnung, um diesen belastenden Risikofaktor zu senken. Das gilt auch für andere
gesundheitsschädliche Verhaltensweisen. So
berichten etwa 70 Prozent von befragten Langzeitüberlebenden über zwei oder mehr risky
behaviours, zu denen Alkoholkonsum, falsche
Ernährung oder mangelnde Inanspruchnahme
von medizinischen (Nachsorge-)Untersuchungen gehören [4].
Auch werden wichtige Screeningmaßnahmen zur Früherkennung von Zweittumoren
nicht ausreichend genutzt: So ist laut CCSSAnalyse das Brustkrebsrisiko nach einer Reihe
von Primärmalignomen wie Morbus Hodgkin,
Non-Hodgkin-Lymphomen, Sarkomen und
Wilmstumor im Unterschied zur altersgleichen
Normalbevölkerung um fast das 25-fache erhöht. Dennoch hatten in einer Befragung weniger als die Hälfte von Langzeitüberlebenden
ein Mammografiescreening wahrgenommen,
in den letzten zwei Jahren vor der Befragung
hatte sich nur ein Fünftel dieser Vorsorgeuntersuchung unterzogen [5].
Ältere und erwachsen gewordene Langzeitüberlebende sind deshalb in zweifacher Hinsicht gefährdet: Sie kommen einerseits in die
Jahre, in denen der Zweittumor immer wahrscheinlicher wird. Sie entwachsen andererseits
der Kontrolle durch die behandelnden pädiatrisch-onkologischen Zentren. „Nahezu alle
pädiatrischen Krebspatienten kommen in den
ersten fünf Jahren nach der Behandlung weiter
zur Nachsorge in diese Zentren“, betont Spix.
„Spätestens mit dem Erwachsenwerden ‚bröckeln’ jedoch die Kontakte zur Pädiatrie, eine
geordnete Übernahme, etwa von onkologischen
Nachsorgeeinrichtungen für Erwachsene gibt
es leider noch nicht für alle Patienten.“ Unmöglich wäre das nicht, auch dank des hervorragenden Registers in Mainz, wie die Datenfachfrau hervorhebt: „Wir haben von den meisten
ehemaligen Patienten Adressen und könnten
zu ihnen Kontakt aufnehmen.“ Eine im letzten
Jahr gegründete Leitgruppe der Gesellschaft
der Pädiatrischen Onkologen und Hämatologen (GPOH) beschäftigt sich intensiv mit der
Planung von Strukturen, sodass in den nächsten Jahren mehr ehemaligen pädiatrischen Patienten eine systematische, längerfristige Nachsorge angeboten werden kann.
Links
• www.kinderkrebsinfo.de
• www.kinderkrebsregister.de
• www.GPOH.de
Literatur
1. Kaatsch P et al.: Case-control study on the therapy of
childhood cancer and the occurrence of second malignant neoplasms in Germany. Cancer Causes Control.
2009 Aug; 20(6): 965-980
2. Meadows AT et al: Second neoplasms in survivors of
childhood cancer: findings from the Childhood Cancer Survivor Study Cohort. J Clin Oncol. 2009 May 10;
27(14): 2356-2362
3. Armstrong GT et al.: Late mortality among 5-year
survivors of childhood cancer: a summary from the
Childhood Cancer Survivor Study. J Clin Oncol. 2009
May 10; 27(14): 2328-2338
4. Nathan PC et al.: Health behaviors, medical care, and
interventions to promote healthy living in the Childhood Cancer Survivor Study cohort. J Clin Oncol.
2009 May 10; 27(14): 2363-2373
5. Cox CL et al.: Medical screening participation in the
childhood cancer survivor study. Arch Intern Med.
2009 Mar 9; 169(5): 454-462
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